Verfassung und Rechtspolitik: 70 Jahre Grundgesetz [1 ed.] 9783428559527, 9783428159529

70 Jahre – das Grundgesetz ist schon gemessen an der deutschen Verfassungsgeschichte mehr als eine bloß erfolgreiche Ver

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Verfassung und Rechtspolitik: 70 Jahre Grundgesetz [1 ed.]
 9783428559527, 9783428159529

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Recht und Politik

Beiheft 4

Zeitschrift für deutsche und europäische Rechtspolitik

Verfassung und Rechtspolitik: 70 Jahre Grundgesetz Herausgegeben von Oliver Lepsius, Robert Chr. van Ooyen und Hendrik Wassermann

Duncker & Humblot · Berlin

Verfassung und Rechtspolitik: 70 Jahre Grundgesetz

Recht und Politik Zeitschrift für deutsche und europäische Rechtspolitik

Begründet von Dr. jur. h. c. Rudolf Wassermann (1925–2008) Redaktion: Hendrik Wassermann (verantwortlich) Ernst R. Zivier † Heiko Holste Robert Chr. van Ooyen

Beiheft 4

Verfassung und Rechtspolitik: 70 Jahre Grundgesetz Herausgegeben von Oliver Lepsius, Robert Chr. van Ooyen und Hendrik Wassermann

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 2567-0603 ISBN 978-3-428-15952-9 (Print) ISBN 978-3-428-55952-7 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Grußwort Woran misst man den Erfolg unserer Verfassung? Vielleicht danach: Wer nach den Werten fragt, die das Land einen, wer eine Sinnstiftung des Gemeinwesens sucht, wird mehr denn je auf das Grundgesetz verwiesen. Es wird als Text verehrt. Es ersetzt als Säkularreligion die ethischen Gewissheiten des Glaubens. Es ersetzt als Institutionenarrangement die Staatsbeschwörungen vergangener Tage. Seine größte Leistung ist wahrscheinlich, in den Herzen der Menschen angekommen zu sein. Man vergegenwärtige sich, wie präsent die Verfassung im zivilgesellschaftlichen Diskurs ist. Sie ist nicht nur ein Rechtstext, über dessen Auslegung Juristen debattieren und entscheiden, vor allem die zivilgesellschaftliche Diskursgemeinschaft hat sich das Grundgesetz angeeignet. Primär dort lebt es heute. Zwei Beispiele: Am Tag der deutschen Einheit, dem 3. Oktober 1990, predigte der Erzbischof von München und Freising, Friedrich Kardinal Wetter, in der Münchener Michaelskirche. Mit den donnernden Worten, es läuteten nicht nur die Freudenglocken, heute läuteten auch die Totenglocken, prangerte er den Umstand an, dass in einem Teil des wiedervereinigten Vaterlandes die Abtreibung straflos ist. Eine Reihe von religiösen Argumenten schloss sich an. Die Predigt kulminierte dann aber in der triumphierenden Aussage: „Und außerdem ist die Abtreibung verfassungswidrig.“ Auf einer legendären Pressekonferenz des FC Bayern München im Oktober 2018, mit der sich der Verein gegen negative Presseberichterstattung wehren wollte, klagte der Vorstandsvorsitzende, Karl-Heinz Rummenigge, man werde sich die herabwürdigende Berichterstattung nicht mehr bieten lassen. Er zitierte Art. 1 und stellte fest, die Kritik an einzelnen Spielern verletze die Menschenwürde. Wenn in so unterschiedlichen Sphären wie Kirche und Sport die Verfassung in Anspruch genommen wird, um die Überzeugungskraft der eigenen Position zu verbessern, dann ist eine Verfassung wirklich in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ist man sich unsicher über moralische Standards oder verunsichert der Pluralismus der Sitten, dann bietet die Verfassung Halt. Sie markiert das positiv und negativ Einende. Die Grenze des Zumutbaren heißt heute: verfassungswidrig! Deshalb sind wir alle Verfassungsinterpreten geworden, weil wir im Diskurs über und mit unserer Verfassung uns gemeinsam der Grundlagen des Gemeinwesens versichern. Deshalb richten sich auf das Grundgesetz auch so viele Aspirationen. Denn die Verfassung erteilt den Respekt, den Minderheiten vermissen, den aber auch die Mehrheit für sich einfordert. Bleiben wir also Verfassungspatrioten! Wer mit der Verfassung respektvoll umgeht, kann die pluralistischen Freiheitsräume behalten, an die wir uns als Gesellschaft gewöhnt haben. Oliver Lepsius Recht und Politik, Beiheft 4 (2020), 5

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Inhalt I. ESSAY Ein Verfassungszentrum für Deutschland Hans Vorländer

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II. 70 JAHRE GRUNDGESETZ 70 Jahre Grundgesetz – 70 Jahre Bundesrepublik Deutschland Jörn Ipsen

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Dynamik, Legitimität, Differenz, Interpretation: Das Grundgesetz wird 70 Oliver Lepsius

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70 Jahre Grundgesetz im Spiegel der Neuauflage eines Grundgesetzkommentars Hermann Weber

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III. NEUE STAATSZIELE UND ENTWICKLUNG DES GRUNDGESETZES Eine CO2-Bremse in das Grundgesetz? Claudio Franzius

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Staatsziel Kultur und kulturelles Erbe Ernst-Rainer Hönes

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70 Jahre Grundgesetz – 25 Jahre Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG: Gleichstellung umgesetzt? Maria Wersig

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Menschenwürde, Bürgerfreiheit, Zeitgeist und Staatsräson. Verfassungswandel der Grundrechte unter dem Grundgesetz Martin H. W. Möllers Art. 15 GG – Wiederkehr eines Totgeglaubten Ernst R. Zivier

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IV. GRUNDGESETZ UND STAND DER DEMOKRATIE Minderheitsregierung, Auflösung oder Große Koalition? Die kritische Regierungsbildung im Parlamentarischen Rat 1948/49 und in den Jahren 2017/18 100 Karlheinz Niclauß Bürgerbeteiligung in der parlamentarischen Parteiendemokratie. Welche Reformen sind notwendig? Frank Decker

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Ausländerwahlrecht, Losverfahren und Demokratieprinzip – zwei Vorschläge für Art. 20 GG 129 Robert Chr. van Ooyen

Inhalt Über Patriotismus in populistischen Zeiten. Zur Unvereinbarkeit zweier häufig verwendeter Topoi unserer Zeit 143 Volker Kronenberg / Manuel Becker Die AfD und der Verfassungsschutz – Ein deutsches Extremistenspiel oder Der lange Abschied von der fdGO Horst Meier

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Autoren dieses Heftes

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I. ESSAY Ein Verfassungszentrum für Deutschland Von Hans Vorländer Vor gar nicht langer Zeit, im März 2019, fragte der Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, warum unser Land nicht mehr tue für die Erinnerung an seine demokratische Tradition. Die Freiheits- und Demokratiegeschichte hätten wir in unserem Denken über die Zukunft zu lange vernachlässigt. Dabei gebe es doch authentische Erinnerungsorte wie das Hambacher Schloss oder die Frankfurter Paulskirche, in denen diese Demokratiegeschichte lebendig werde. Sie könnten zu Lernorten der Demokratie werden und helfen, einen „demokratischen Patriotismus“ auszubilden.1 Nun ist diese Intervention eines Bundespräsidenten keineswegs neu. Einer seiner Vorgänger, ebenfalls ein Sozialdemokrat, Gustav Heinemann, hatte sich schon in seiner Amtszeit (1969 – 1974) für die Förderung der deutschen Demokratiegeschichte stark gemacht und die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen im pfälzischen Rastatt aus der Taufe gehoben. Aber darüber hinaus geriet das Anliegen schnell wieder in Vergessenheit. Zuerst stand dem die Absicht des Kanzlers Helmut Kohl im Wege, Bonn zur repräsentativen Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland zu machen, ein Haus der Geschichte wie auch eine Bundeskunsthalle zu etablieren. Sodann setzte die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, erst recht der Umzug von Bonn nach Berlin, die memorialkulturellen Prioritäten anders, nämlich vor allem als kritische Auseinandersetzung mit den architektonischen Erbschaften des Nationalsozialismus. Als dann das Regierungsviertel im Berliner Spreebogen weitgehend nach Ideen der Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank geplant und gebaut wurde, da hatte das „Band des Bundes“ genannte Vorhaben auch ein von Säulen umstandenes, atriumgleiches Gebäude vorgesehen, welches dem Bundeskanzleramt vis-à-vis platziert werden und ihm als „Bürgerforum“ Paroli bieten sollte. Es ist bis auf den heutigen Tag jedoch nicht gebaut worden, ein leerer, großer Platz, ein architektonisches Void ist zurückgeblieben – Platz also eigentlich für einen zentralen Lernort der Demokratie, konzipiert als Zentrum lebendiger Auseinandersetzung mit den demokratischen Traditionen der jüngsten Geschichte, ein Ort, an dem sich deutsche Verfassungsgeschichte erzählen und erleben ließe. 70 Jahre Grundgesetz stehen für „geglückte Demokratie“ (Edgar Wolfrum) – warum also nicht ein Verfassungszentrum errichten, das Deutschlands schwierigen Weg zu einer offenen und streitbaren Demokratie nacherleben lässt und als 1

Steinmeier, Deutsch und frei. Mehr Geld für die Paulskirche, der 18. März ein Gedenktag: Warum tut unser Land nicht mehr für die Erinnerung an seine demokratische Tradition?, Die Zeit, 14.03. 2019, S. 7.

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Hans Vorländer

bürgerschaftliches Forum Raum schafft, neue Ideen zur Sicherung einer demokratischen Zukunft zu entwickeln? Denn das Grundgesetz selbst war und ist das Forum demokratischer Selbstverständigung – in der alten Bundesrepublik und im vereinigten Deutschland. Demokratien tun sich generell schwer, eine ihnen eigentümliche politisch-kulturelle Repräsentationsform zu finden.2 Oft stehen sie im Schatten monarchisch, auch diktatorisch-autokratischer Bilder- und Formensprache. Mächtige Architekturen, altertümlich wirkende Symbole und militärisch anmutende Rituale überleben ihren ursprünglichen Verweisungszusammenhang und stehen einer genuin demokratischen Repräsentationsfindung im Wege. Und dort, wo es zu Brüchen, Kriegen, Umwälzungen oder Revolutionen gekommen ist, steht zumeist die Aufarbeitung der Geschichte im Vordergrund, bevor die eigene Demokratiegeschichte zu einem Narrativ und zu einer memorialkulturellen Praxis geformt wird. Das alles gilt cum grano salis auch für die Bundesrepublik Deutschland. So war die „alte“ Bundesrepublik sehr zurückhaltend, was ihre eigene Selbstdarstellung anging. Zu großen Gesten schien sie nicht geschaffen, die Repräsentation beschränkte sich auf das Unvermeidliche: nüchterne Zeremonien bei Staatsbesuchen, protokollmäßig vollzogen, und Rituale, die der politisch-parlamentarische Prozess so mit sich brachte. Das war gewiss nicht wenig, zumal sich der 1949 gegründete Weststaat als Transitorium verstand und es zunächst darum ging, die Bundesrepublik sicher für die Demokratie zu machen. Die Symbolarmut war aber auch Absicht. Faschismus und Nationalsozialismus hatten die Inszenierung von Parteitagen, Aufmärschen, Fackelzügen, Nationalgeschichten, Symbolen und Mythen zu einem konstitutiven Element ihrer Politik der Massenbewegung gemacht. Gerade das sinnlich-berauschende Erlebnis von – direkter oder medial-mediatisierter – Teilhabe an der Inszenierung hatte die Masse zu einer Gemeinschaft Gleichgesinnter und dadurch zu einer politischen Bewegung geformt. Der Marsch auf Rom durch Mussolini gehörte genauso zu diesen Stilmitteln totalitärer Repräsentationskultur des Politischen wie die Lichtdome auf dem Nürnberger Reichsparteitag 1936 und die zahlreichen Auftritte des „Führers“ in der Pose des Messias vor der ihm ergebenen Menschenmenge. Die symbolische Askese der jungen Bundesrepublik war also auch Antidot gegen das, was Walter Benjamin die „Ästhetisierung der Politik“ im Faschismus bezeichnet hatte. Und sie sollte auch einen Kontrapunkt zum zweiten deutschen Staat setzen, der sich zwar als antifaschistisch verstand, aber an bestimmten Repräsentationsformen des Totalitarismus, beispielsweise den Massenorganisationen und den öffentlichen Inszenierungen von Aufmärschen, festhielt. 2

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In den folgenden Passagen greife ich immer wieder – zum Teil wörtlich – auf an anderer Stelle gemachte Ausführungen zurück: Vgl. Vorländer, Demokratie und Ästhetik. Zur Rehabilitierung eines problematischen Zusammenhangs, in: Ders. (Hrsg.), Zur Ästhetik der Demokratie. Formen der politischen Selbstdarstellung. Stuttgart 2003, S. 11 – 26. Recht und Politik, Beiheft 4

Ein Verfassungszentrum für Deutschland

Bescheiden blieben deshalb die Versuche beispielsweise des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss. Dieser war zwar der festen Auffassung, dass der „tiefe Einschnitt in unsere Volks- und Staatengeschichte einer neuen Staatssymbolik bedürftig“ sei.3 Deshalb hatte er schon die Einführung staatlicher Orden, wie beispielsweise des Bundesverdienstkreuzes, betrieben. Vor allem aber in der Hymnenfrage hatte er auf eine neue Symbolik gedrungen. Die Weiterverwendung der Hymne von Hoffmann von Fallersleben, ursprünglich aus der deutschen Freiheitsbewegung stammend und vom ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert, 1922 zur offiziellen Nationalhymne erklärt, hatte Heuss abgelehnt, weil sie bei den Deutschen mit dem Pathos des Nationalsozialismus verbunden, auch regelmäßig im Zusammenhang mit dem Horst-Wessel-Lied gespielt worden war und deshalb fatale Assoziationen wecken musste. Heuss hatte dann bei dem Dichter Rudolf Alexander Schröder eigens eine neue Hymne in Auftrag gegeben, selber Textvorschläge gemacht und den Entwurf von dem Komponisten Hermann Reutter mit einer getragenen Melodie, einem „Pathos der Nüchternheit“ vertonen lassen.4 Heuss’ Versuch endete jedoch als Humoreske. Das Bundeskabinett testete die Singbarkeit der Hymne, das Lied wurde über Rundfunk und Schallplatten verbreitet, konnte sich aber nicht durchsetzen. Als Kurt Schumacher Schröders „Hymne an Deutschland“ öffentlich als „pietistischen Nationalchoral“ verspottete und Gottfried Benn höhnte: „Der nächste Schritt wäre dann ein Kaninchenfell als Reichskriegsflagge“, da kam die Episode zu einem Ende.5 Heuss akzeptierte die dritte Strophe des „Deutschlandliedes“ als Hymne, verzichtete aber auf eine offizielle Proklamation. Die neue Symbolgebung war gescheitert. Je länger sich die Bundesrepublik jedoch im Provisorium mit ihrer Bundeshauptstadt Bonn eingerichtet hatte, desto stärker machte sich das Bedürfnis nach identitätsstiftender Formensprache bemerkbar. Auch wenn sie nach wie vor auf machtvolle Gesten verzichtete, wurde die formasketische Symbolisierung der zweiten deutschen Demokratie zu einem ästhetischen Programm erhoben. An die Stelle des funktionalen Schwippert-Baus, der ehemaligen Pädagogischen Akademie, die lange Zeit den Bundestag beheimatet hatte, trat nun ein Bundestagsgebäude, das in seiner konsequenten Formensprache keinen Zweifel an einer genuin demokratischen Ästhetik zuließ. Das

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So Theodor Heuss in einem Brief an Konrad Adenauer, abgedruckt in Theodor Heuss/Konrad Adenauer: Unserem Vaterlande zugute. Der Briefwechsel 1948 – 1963, hrsg. v. Hans Peter Mensing, Berlin 1998, S. 112. Theodor Heuss in einem Brief an Konrad Adenauer vom 19. 6. 1951: „Es gibt eben nur die eine Melodie, die notwendigerweise die traditionalen Wortassoziationen weckt, von denen ich bei allem Respekt vor der Geschichte die Deutschen wegbringen möchte, um sie an das Pathos der Nüchternheit, das auch seine innere Größe und Würde haben kann und wird, heranzuführen.“ Theodor Heuss/Konrad Adenauer, Unserem Vaterlande zugute (Fn. 3), S. 73. Vgl. auch die Darstellung bei Maier, Politische Selbstdarstellung – ein deutsches Problem, in: Vorländer, Ästhetik der Demokratie (Fn. 2), S. 95 – 110, hier S. 99 – 101.

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Hans Vorländer

wiederum war sowohl von der „Demokratie als Bauherrn“6 wie von Günter Behnisch, dem Architekten, so gewollt, es wurde aber auch vom Publikum so verstanden. Allein die Ironie der Geschichte ließ die Bonner Demokratie erst in dem Moment auch symbolisch zu sich kommen, als sie selbst Geschichte geworden war. Das war mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik nicht anders. Von „Verfassungspatriotismus“, wie ihn Dolf Sternberger zum 30. Jahrestag begrifflich erfand, konnte in den 1950er und 1960er Jahren keineswegs die Rede sein, zumal sich das Grundgesetz auch als Übergangsverfassung verstehen sollte. Im Vordergrund stand zunächst der ökonomische Wiederaufbau. Das „Wirtschaftswunder“, dann auch die Etablierung des Sozialstaates mit den kollektiven Sicherungssystemen gaben der zweiten deutschen Demokratie Rückhalt und ein soziales Fundament. Zugleich machte der „Systemkonflikt“ mit dem Sozialismus des anderen deutschen Teilstaates den Antikommunismus zur Staatsräson. Das wurde 1952 deutlich, als das Bundesverfassungsgericht eine Nachfolgepartei der Nationalsozialisten, die Sozialistische Reichspartei, ebenso verbot wie vier Jahre später die Kommunistische Partei Deutschlands. Damit war aus dem Grundgesetz eine Verfassung des Anti-Totalitarismus geworden, welche einen Kontrapunkt zu dem sich in der DDR zur gleichen Zeit verfestigendem System des Kommunismus setzte. Zum zentralen Bezugspunkt wurde das Grundgesetz erst in den 1970er Jahren, in einer Phase starker parteipolitischer Polarisierung, als nahezu alle großen gesellschaftlichen Reformvorhaben der Koalition aus SPD und FDP in den Strudel verfassungspolitischer Auseinandersetzungen gerieten. Die Reform des Abtreibungsverbotes, des Ehe- und Scheidungsrechts, die Novelle zum Kriegsdienstverweigerungsrecht, die Neufassung unternehmerischer Mitbestimmung sowie die Neugestaltung der Deutschlandpolitik durch den Grundlagenvertrag mit der DDR waren nicht nur politisch umkämpft, sondern sie landeten vor dem Bundesverfassungsgericht.7 Das Grundgesetz war zu einer Konfliktverfassung geworden. In diesem „Kampf um das Grundgesetz“, in dem politische Kontroversen zur Alternative von Verfassungsvollzug oder Verfassungswidrigkeit stilisiert wurden, zeigte sich aber zugleich das Bestreben aller politischen Kräfte, „auf dem Boden des Grundgesetzes“ zu agieren. Dieses – nur auf den 6

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Die „Demokratie als Bauherr“ – das war die einprägsame Formel, die Adolf Arndt in einem gleichlautenden Vortrag (Berlin 1984) prägte. Darin hieß es: „Sollte es nicht einen Zusammenhang geben zwischen dem Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie und einer äußeren wie inneren Durchsichtigkeit und Durchgängigkeit der öffentlichen Bauwerke?“. Ähnlich Behnisch, Bauen für die Demokratie, in: Ingeborg Flagge/Wolfgang Jean Stock (Hg.), Architektur und Demokratie, Stuttgart 1992. Vgl. auch Kil, Das sympathische Experiment. Der Bonner Plenarsaal nach 40 Jahren Streit über das Bauen für die Demokratie und Heinrich Wefing: Abschied vom Glashaus. Die architektonische Selbstdarstellung der Bundesrepublik im Wandel, beide in: Heinrich Wefing (Hg.), „Dem Deutschen Volke“. Der Bundestag im Berliner Reichstagsgebäude Bonn 1999, S. 100 ff., 136 ff. Diese und die folgende Darstellung finden sich auch in Vorländer, Die Deutschen und ihre Verfassung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 18 – 19/2009, S. 8 – 18. Recht und Politik, Beiheft 4

Ein Verfassungszentrum für Deutschland

ersten Blick – paradoxe Verhalten ließ den Eindruck entstehen, als seien die Bundesdeutschen ein „Volk von Grundgesetzbekennern“, wie seinerzeit Peter Graf Kielmansegg formulierte. Dass damit der Konflikt um das Grundgesetz das Grundgesetz selbst stärkte, weil es zum Bezugspunkt aller politischen Akteure geworden war, konnte während der zum Teil erbittert geführten Auseinandersetzungen der 1970er Jahre kaum erwartet werden, gehörte aber, gleichsam einer List der Konfliktvernunft gehorchend, zu den die Verfassungskultur der westdeutschen Demokratie nachhaltig bestimmenden Begleiteffekten. Das Grundgesetz war damit stärker als frühere Verfassungen der deutschen Geschichte zu einem Identifikationspunkt, letztlich zu einer integrierenden Verfassung geworden – was auch in Befragungen der bundesdeutschen Bevölkerung zum Ausdruck kam. Die Verfassung war symbolisch in die Leerstelle eines unbesetzt gebliebenen identitätsstiftenden Zentrums der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft eingerückt. Wie stark sich die (alte) Bundesrepublik in ihrem Grundgesetz und dem damit verbundenen Verfassungspatriotismus wiederfand, konnte auch beobachtet werden, als im Prozess der staatlichen Vereinigung von DDR und Bundesrepublik über eine neue, von einer verfassunggebenden Versammlung nach Artikel 146 zu beschließenden Verfassung diskutiert und bis auf wenige Ausnahmen von allen politischen und wissenschaftlichen Seiten der alten westdeutschen Bundesrepublik am „bewährten“ Grundgesetz festgehalten wurde. Aus dem Provisorium war ein Definitivum geworden – just in dem Moment, als das Grundgesetz seine Funktion eigentlich erfüllt hatte und einer neuen, gesamtdeutschen Verfassung hätte Platz machen müssen. Der Umzug der Bundeshauptstadt nach Berlin schien das Ende der politischen Symbolarmut einzuleiten. Der „Wiederholungswunsch“ nach Bonner Verhältnissen war nur schwach ausgeprägt. Dagegen wurden jetzt in Berlin die architektonisch und städtebaulich eingefrorenen Brüche der deutschen Geschichte, auch die doppelte Nachkriegsgeschichte der beiden deutschen Staaten zu einem vorrangigen Problem repräsentationskultureller Gestaltung. Die politische Ikonographie der Berliner Republik war in einem gewissen Sinne neu zu erfinden. Dabei zeigte es sich, dass weder ein Anschluss an die preußisch-wilhelminische noch an die nationalsozialistische Formensprache in der politischen Architektur möglich war – sie war aber eben, aufgrund der noch vorhandenen Bauten, auch nicht gänzlich zu umgehen. Erst die Rekonstruktion und partielle – innere – Neugestaltung machte den Altbestand nicht nur neuen Funktionen gefügig, sondern ließ sie auch erst für die Demokratie adaptionsfähig werden. Nicht immer gelang der Übergang in die Berliner Republik so beeindruckend wie die Passage des Reichstags zum Bundestag. Christos Verhüllung und die anschließende Entkernung wirkten wie eine „rituelle Reinigung“8, bevor sich die neue Demokratie des alten Wallot-Baus bemächtigte. So einfach war mit dem Palast der

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Dörner, Der Bundestag im Reichstag. Zur Inszenierung einer politischen Institution in der „Berliner Republik“, in ZParl 2000, 245.

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Hans Vorländer

Republik, einem Symbol der DDR, nicht umzugehen.9 Auch die Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses hätte eine Anknüpfung an eine vordemokratische Formensprache signalisiert und war deshalb in rein historistischer Rekonstruktion nicht durchsetzbar. Die Umbettung der Gebeine Friedrichs des Großen schien hier schon das falsche symbolische Zeichen zu setzen. Das Stelenfeld von Peter Eisenman als Mahnmal an die deutsche Vernichtung des europäischen Judentums war als Bekenntnis zur deutschen historischen Verantwortung im Grundsatz letztlich weniger strittig als seine ästhetische Umsetzung. Und Hans Haackes Kunstprojekt, den Innenhof des Reichstagsgebäudes „Der Bevölkerung“ zu widmen und ihn mit „Muttererde“ aus den Regionen der Republik zu füllen, blieb bis zuletzt, wegen der multikulturellen Umdeutung der Reichstags-Inschrift „Dem deutschen Volke“ und dem ironischen Spiel mit der Blut-und-Boden-Metaphorik, heftig umstritten.10 1989/90 wurde nicht zu einem konstitutionellen Schlüsselmoment – was vielfach, bis auf den heutigen Tag, 30 Jahre nach der friedlichen Revolution, beklagt worden ist.11 Das Bedauern über die verpasste Gelegenheit betraf dabei weniger die technische Seite der durch die nationalstaatliche Einheit notwendig gewordenen Verfassungsänderungen, sondern es war grundsätzlicher Natur und beruhte auf einem Verfassungsverständnis, welches in Verfassungen mehr als nur Organisationsstatute, vielmehr auch Foren gesellschaftlicher Selbstverständigung sieht. In dieser sich aus der republikanischen Tradition des politischen Denkens begründenden Sicht konnte die von der Macht der historischen Entwicklung abgeschnittene Verfassungsdiskussion keinen Beitrag leisten zur Integration aller, auch und vor allem der ostdeutschen Bürger in den neuen gesamtdeutschen Staat. Wenn es darum hätte gehen sollen, in einer möglichst breiten Verfassungsdiskussion auch Anfragen und Erfahrungen aus dem Bereich der DDR aufzunehmen, dann musste der Modus der Herstellung der Einheit Deutschlands über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik als verpasste Chance gesamtgesellschaftlicher Verständigungs- und Integrationsmöglichkeiten gesehen werden. Die Absicht von Bürgerrechtsgruppen und reformorientierten Kräften, über eine gesamtdeutsche Konstituante eine neue Republik zu gründen, lief ins Leere. Dieses Scheitern war nicht dramatisch. Der ausdrückliche Wunsch und die schnelle Umsetzung, dem Grundgesetz „beitreten“ zu wollen, erleichterte die Akzeptanz, ebenso eine Reihe von vereinigungsbedingten Änderungen. Und auch die sensible Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, welche Belange der Ostdeutschen zu berücksichtigen verstand (Wahlrecht, Bestand der Bodenreform, Abtreibungsregelung), trug entscheidend mit dazu bei, dem Grundgesetz auch im Osten Geltung und An-

9 Vgl. etwa Dieckmann, Der sterbende Schwan. Berlins Palast der Republik, Symbol des deutschen Umgangs mit Geschichte, wird 25 Jahre alt, in: Die Zeit, Nr. 17, 19. 04. 2001, S. 72. 10 Vgl. etwa Kipphoff, Das Volk und die Krümel, in: Die Zeit, Nr. 13, 23. 03. 2000, S. 45. 11 Zum folgenden auch Vorländer, Die Verfassung. Idee und Geschichte, 3. Aufl., München 2009, S. 95 ff. 14

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Ein Verfassungszentrum für Deutschland

erkennung zu verschaffen – obwohl es keine neue gesamtdeutsche Verfassung gegeben hatte. Das Grundgesetz hat in den 70 Jahren seiner Existenz politische und gesellschaftliche Integrationskraft entwickeln können. Aber die Umstände waren auch günstig, die politischen Kräfte haben es respektiert (wenngleich nicht immer die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes akzeptiert), die Gesellschaft hat mit ihm die grundlegenden Werte einer an Menschenwürde, Grundrechten, Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit orientierten politischen Ordnung verbunden. In Zeiten starker gesellschaftlicher Spaltungen und politischer Polarisierungen wachsen jedoch Zweifel – weniger am Grundgesetz, sondern am gesellschaftlichen Zusammenhalt. Doch kann das Grundgesetz hier nur bedingt Abhilfe schaffen. Verfassungen sind Regelwerke, die helfen, Konflikte in einer zivilisierten und demokratischen Weise auszutragen. Sie helfen dabei, sie sind aber keine Garantien, dass das immer gelingt. Letztlich hängen Geltung und Stärke einer Verfassung davon ab, ob die Bürger und Bürgerinnen an die Verfassung „glauben“, sich mit ihr identifizieren, sie auch nutzen, um sie damit lebendig werden zu lassen. Gefährlich wird es, wenn sich politische Kräfte, wie derzeit in und außerhalb Europas beobachtbar, die konstitutionelle Ordnung gefügig machen wollen, indem sie die Unabhängigkeit der Justiz und der Verfassungsgerichtsbarkeit sowie die Freiheit der Medien, der Wissenschaft oder der Kunst und den Schutz von Minderheiten einzuschränken versuchen. Die Räson von Verfassungen besteht immer auch in der Hemmung von Machtausübung, in der Einhegung von Souveränitätsbehauptungen, auch wenn diese sich als vermeintlicher „Wille des Volkes“ verkleiden. Der populistische Modus der Unmittelbarkeit, des direkten, ungehemmten, von keiner institutionellen Gegenmacht kontrollierten Form des Regierens aber zerstört den Kern dessen, was Verfassungen bezwecken: die Vereinbarkeit von kollektiver Selbstregierung und individueller Freiheit. Was lässt sich tun, wie kann eine lebende Verfassung gefestigt und von ihren Bürgern und Bürgerinnen dauerhaft, auch über momentane Krisenphänomene hinweg, wertgeschätzt werden?12 Die Antwort mag paradox erscheinen, ist es aber nicht: durch Verlebendigung ihrer Geschichte. Verfassungen sind Speicher politischer Wert- und Ordnungsvorstellungen – solcher, die tradiert, solcher, die als Lektion aus der Geschichte erlernt und solcher, die erkämpft und errungen worden sind. Das war in Deutschland nach 1945 so, ebenso nach 1989, und auch solche großen gesellschaftlichen Konflikte, wie sie in den 1970er Jahren in Westdeutschland auf dem Boden der Verfassung ausgetragen wurden, graben sich in das kollektive Gedächtnis ein. Sie zu erinnern und zu erzählen wäre Aufgabe kultureller Verfassungssicherung. Dazu braucht es Orte, Rituale und Erlebnisse. Gedenktage sind Anlass zum Innehalten, aber auch zur 12 Die nächsten Passagen folgen meinen Ausführungen (dort erstmalig auch die Idee eines Verfassungszentrums) in Vorländer, Speicher der Freiheit. Integration durch Verfassung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 70 Jahre Grundgesetz, 23. 05. 2019, S. B4. Recht und Politik, Beiheft 4

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Hans Vorländer

Selbstvergewisserung. Ein offizieller Verfassungstag – der 23. Mai als republikanischer Feiertag – wäre eine solche Möglichkeit. Die Etappen der Freiheits- und Verfassungskämpfe lassen sich an Erinnerungsorten vergegenwärtigen. Deutschland übt sich hier weitgehend in Memorialaskese. Das war auch das Thema des Bundespräsidenten Steinmeier. Das Freiheits- und Einheitsdenkmal ist bis heute, 30 Jahre nach Mauerfall und deutscher Vereinigung, nicht errichtet. In Karlsruhe, der „Residenz des Rechts“, und später auch in Leipzig, Sitz des Bundesverwaltungsgerichtes und des 5. Strafsenates des Bundesgerichtshofs, soll ein „Forum Recht“ das Verständnis für die freiheitssichernde Funktion des Rechts stärken – eine gute Absicht, die aber eher der Eigenlogik des Rechts und seiner Institutionen sowie der spezifisch deutschen Tradition des Rechtsstaates huldigt. Ein Verfassungszentrum aber, ein Forum, in dem deutsche Verfassungsgeschichte, die Kämpfe, die Konflikte, die großen, herausragenden Momente der demokratischen Entwicklung sicht- und erlebbar gemacht werden, wo die institutionelle und bürgergesellschaftliche Praxis der Demokratie und ihrer verfassungsund grundrechtlichen Fundamente als Teil des Diskurses einer Gesellschaft über sich selbst zum Thema gemacht wird – das wäre mehr, nämlich ein entscheidender Beitrag zur Stärkung des politischen und gesellschaftlichen Zusammenhaltes. Das National Constitution Center in Philadelphia, der Ort, an dem die heute noch gültige Verfassung der USA von 1787/88 geschrieben wurde, könnte als Modell dienen. Dort wird Verfassungsgeschichte lebendig und erlebbar. Ein deutsches Verfassungszentrum – konzipiert als „Forum Verfassung“ – würde zum symbolischen Ort der Vergegenwärtigung der konstitutionellen Grundlagen erkämpfter und gelebter demokratischer Ordnung. Und es gibt einen Platz dafür: an der Stelle in Berlin, wo ursprünglich einmal das „Bürgerforum“ geplant war, im Zentrum des Spreebogens, zwischen Kanzleramt und Bundestag und nicht weit entfernt von dem Ort, wo die Berliner Mauer zu Fall kam, um dann den Bürgerinnen und Bürgern der DDR den Weg in die demokratische Ordnung des Grundgesetzes zu ebnen.

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II. 70 JAHRE GRUNDGESETZ 70 Jahre Grundgesetz – 70 Jahre Bundesrepublik Deutschland* Von Jörn Ipsen

I. Der 23. Mai 1949 Das Grundgesetz ist am 23. Mai 1949 in Kraft getreten, nachdem es der Parlamentarische Rat am 8. Mai verabschiedet hatte und die Alliierten Militärgouverneure am 12. Mai ihre Genehmigung erteilt hatten. Die Landtage der Länder hatten es in den folgenden Tagen – mit Ausnahme Bayerns – angenommen, sodass die im Grundgesetz selber für sein Inkrafttreten genannten Voraussetzungen (Art. 144 Abs. 1 GG) erfüllt waren. Der Parlamentarische Rat stellte die Annahme des Grundgesetzes in öffentlicher Sitzung fest, fertigte es aus und verkündete es. Das Grundgesetz trat mit Ablauf des Tages der Verkündung in Kraft (Art. 145 Abs. 2 GG). Es wurde im Bundesgesetzblatt veröffentlicht.1 Es waren die Besten des Volkes, deren Unterschriften sich unter dem Grundgesetz finden und die die Geschicke der neu gegründeten Bundesrepublik in unterschiedlichen Funktionen bestimmen sollten. Konrad Adenauer, der Präsident des Parlamentarischen Rates, wurde am 15. September 1949 zum ersten deutschen Bundeskanzler gewählt. Theodor Heuss war bereits zwei Tage vorher zum Bundespräsidenten gewählt worden, Hermann Höpker-Aschoff wurde nach der Errichtung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1951 dessen erster Präsident. Carlo Schmid, der als Vorsitzender des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates das Grundgesetz geprägt hat wie kein anderer, übernahm später wechselnde parlamentarische Funktionen. Ernst Reuter – nicht stimmberechtigter Abgeordneter Berlins – hatte das schwere Jahr der Blockade Berlins durch die sowjetischen Truppen überstanden und wurde später Regierender Bürgermeister der Stadt. Thomas Dehler wurde erster Justizminister der Bundesrepublik, Erich Ollenhauer trat die Nachfolge Kurt Schumachers als Vorsitzender der SPDFraktion im Deutschen Bundestag an. Wenn in den nächsten Tagen und Wochen von den „Vätern und Müttern“ des Grundgesetzes die Rede sein wird, fällt die Aufzählung letzterer allerdings bescheiden aus. Unter den 65 Mitgliedern des Parlamentarischen Rates fanden sich gerade vier Frauen, nämlich Friederike Nadig, Elisabeth Selbert, Helene * 1

Zuerst in: RuP 1/2019, 1 – 10. BGBl. 1949, S. 1.

Recht und Politik, Beiheft 4 (2020), 17 – 26

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Weber und Helene Wessel. Sie waren sich untereinander über die Formulierung des Gleichberechtigungsgrundsatzes keineswegs einig. Letztlich ist es Elisabeth Selber zu verdanken, dass das Wort „grundsätzlich“ hinsichtlich der Gleichberechtigung gestrichen worden ist.2 Wirft man einen Blick auf das Grundgesetz in seiner Ursprungsfassung, so vermittelt es den Eindruck, als werde aus eigenem Entschluss des deutschen Volkes ein souveräner Staat – bestehend aus den in Art. 23 aufgeführten Ländern – gegründet. Hiervon konnte keine Rede sein, denn Deutschland war in Besatzungszonen aufgeteilt, und das Besatzungsregime wurde durch das Inkrafttreten des Grundgesetzes keineswegs beendet. Die westlichen Besatzungsmächte erließen zwei Wochen nach der konstituierenden Sitzung des Bundestages und des Bundesrates immerhin ein „Besatzungsstatut“, nach dem die Besatzungsgewalt in Zukunft ausgeübt werden sollte. Das Besatzungsstatut stellte einen – völkerrechtlichen – Vertrag zwischen den Drei Mächten dar, der der Bundesregierung am 21. September 1949 auf dem Petersberg überreicht wurde, an dessen Zustandekommen oder Inhalt sie aber nicht beteiligt war.3 Der noch unter Besatzungsherrschaft stehende neue Staat sah sich vor Herausforderungen gestellt, die 70 Jahre später kaum noch vorstellbar sind. Die Städte Deutschlands waren zu einem großen Teil zerstört, ein Millionenheer von Flüchtlingen aus dem Osten war zu integrieren und die Kriegsopfer mussten versorgt werden. Das wirtschaftliche Leben kam nach der Währungsreform von 1948 erst langsam in Gang, das spätere „Wirtschaftswunder“ war kaum zu erahnen. Allerdings unterschied sich die Verfassungsgebung des Jahres 1949 prinzipiell von der des Jahres 1919. Die Weimarer Verfassung stand unter dem Unstern der „Dolchstoßlegende“, mit der sich die ehemaligen Eliten in Militär und politischer Führung aus der Verantwortung für Krieg und Niederlage herauszustehlen versuchten. Einen vergleichbaren Versuch der Geschichtsverfälschung hat es 1949 nicht gegeben; dazu war die militärische, wirtschaftliche und – nicht zuletzt – moralische Katastrophe den Zeitgenossen zu gegenwärtig. Der 23. Mai 1949 gehört deshalb zu den „constitutional moments“, in denen die Geschichte gewissermaßen einen Moment innehält, um eine andere – bessere – Richtung einzuschlagen.

II. Die Identitätsfrage Die neu gegründete Bundesrepublik war mit dem Deutschen Reich in mehrfacher Hinsicht nicht identisch. Zwar vertrat die Bundesregierung die Identitätstheorie und wurde hierin – nach kurzem Zögern – durch die Rechtsprechung des Bundesverfas-

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Art. 109 Abs. 2 WRV lautete: „Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Vgl. J. Ipsen, Der Staat der Mitte. Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, 2009, S. 64 f. Recht und Politik, Beiheft 4

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sungsgerichts bestätigt.4 Keine Identität bestand fraglos in territorialer Hinsicht, denn die Gebiete jenseits von Oder und Neiße waren unwiederbringlich verloren und die Sowjetische Besatzungszone – die spätere DDR – war kein Teil der Bundesrepublik.5 Es gab zwar nur eine deutsche Staatsangehörigkeit, deren Rechte – etwa das Wahlrecht – setzte aber den Aufenthalt auf dem Territorium der Bundesrepublik voraus. Der von der Bundesregierung über viele Jahre erhobene „Alleinvertretungsanspruch“ für das ganze deutsche Volk – auch für die Bevölkerung der DDR – war deshalb eine politische Position und bedeutete nicht, dass das Grundgesetz sich auf den anderen Teil Deutschlands erstreckt hätte. Der neue Staat war unverkennbar in einer Identitätskrise, weil die Anknüpfung an die deutsche Geschichte in mehrfacher Hinsicht problematisch war. Die Weimarer Republik – eine Republik ohne Republikaner – konnte wegen ihrer inneren Zerstrittenheit kein Vorbild sein und wurde im öffentlichen Diskurs stets nur als warnendes Beispiel berufen. Eine viel zitierte Publikation aus den 1950er Jahren trägt den bezeichnenden Titel „Bonn ist nicht Weimar“.6 Das Kaiserreich und die Bismarck’sche Reichsverfassung waren als historische Vorbilder ebenfalls ungeeignet, weil im monarchischen Untertanenstaat viele der Bedingungen gesetzt worden waren, die in die deutsche Katastrophe führen sollten. Am ehesten wäre die Paulskirchenverfassung als Anknüpfungspunkt geeignet gewesen, die ein Jahrhundert vor dem Grundgesetz verkündet worden war7, dann aber am Widerstand Preußens scheiterte. Es sollte noch Jahre dauern, bis Vormärz und Märzrevolution in ihren Grundgedanken und der prägenden Kraft für die Zukunft, die sie in der Paulskirchenverfassung gefunden hatten, einer breiteren Öffentlichkeit bewusst wurden. Aus eigener Kraft hatte das deutsche Volk die Freiheit nie zu erobern vermocht. Dass mit dem Grundgesetz gleichwohl die freiheitlichste Verfassung, die Deutschland jemals gesehen hat, in Kraft trat und mit Leben erfüllt wurde, darf zu den bemerkenswertesten Vorgängen der deutschen Geschichte gezählt werden. Der neu errichtete Staat suchte einen Ausweg aus der Identitätskrise durch eine Hinwendung zu Europa. An die Stelle des als zerstörerisch erkannten Nationalismus trat ein entschiedener Supranationalismus, der bereits in der Präambel des Grundgesetzes und der Ermächtigung, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen, zum Ausdruck gelangte (Art. 24 Abs. 1 GG). Die Bundesrepublik strebte damit eine Art europäischer Identität an, die sich in der parteiübergreifenden Zustimmung zu ferneren Integrationsakten äußerte.8 Die Einbuße an Souveränität durch die stetig wachsenden Kompetenzen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und späteren Europäischen 4 5 6 7 8

Vgl. BVerfGE 3, 288 (319 f.); 6, 309 (388); 77, 137 (150); st. Rspr. Die Inanspruchnahme „Großberlins“ für die Geltung des Grundgesetzes (Art. 23 GG a.F.) ist durch das Genehmigungsschreiben der Alliierten Militärgouverneure verhindert worden. F. R. Allemann, Bonn ist nicht Weimar, Köln/Berlin 1956. Verfassung des Deutschen Reiches v. 28. März 1849 (RGBl. S. 101). Vgl. J. Ipsen, Der Staat der Mitte (Fn. 3), S. 92 ff.

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Union sind deshalb der Verfassung nicht von außen aufgezwungen, sondern durch das Grundgesetz selber antizipiert worden, indem es für den neu gegründeten Staat eine Zukunft als „gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“ entwarf. Zur Identität der Bundesrepublik gehörte auch das Bekenntnis zu Menschenrechten, wie es im Grundrechtskatalog zum Ausdruck gelangt ist. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), die unmittelbare Geltung der Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) und die Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) spiegelten nicht nur Lehren aus der Vergangenheit wider, sondern wiesen entschieden in die Zukunft. Der Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention, der bereits am 4. November 1950 erfolgte9, und die Ratifizierung der UN-Menschenrechtspakte10 kurz nach der Aufnahme in die Vereinten Nationen11 waren weitere Schritte auf dem Weg zu einem umfassenden nationalen und völkerrechtlichen Schutz des Individuums. Für die Entfaltung der Grundrechte kann die Leistung des Bundesverfassungsgerichts, das vielfach in Verfassungsbeschwerdeverfahren entschied, nicht hoch genug veranschlagt werden. Es ist kein Zufall, dass die Ausarbeitung der Europäischen Grundrechtecharta unter Vorsitz des früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts und späteren Bundespräsidenten Roman Herzog erfolgte und die Charta unverkennbare Anleihen beim Grundgesetz macht.12 Mit der Menschenwürde wird jedem Menschen die Rechtssubjektivität zugewiesen, die der Staat zu achten hat. Damit ist eine prinzipielle Absage an ein vorverfassungsrechtliches Verhältnis von Untertan und Obrigkeit und damit an jede obrigkeitsstaatliche Attitüde verbunden. Schon die im Entwurf von Herrenchiemsee enthaltene Formulierung des Art. 1 Abs. 1, der „Staat ist um des Menschen willen dar, nicht der Mensch um des Staates willen“13, kündigte einen in der deutschen Verfassungsgeschichte beispiellosen Paradigmenwechsel an. Dieses Bewusstsein hat sich in der Geschichte der Bundesrepublik – nicht zuletzt begünstigt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – kontinuierlich entwickelt und zum Entstehen einer Bürgergesellschaft beigetragen, die den Vergleich mit traditionell demokratischen Gesellschaften nicht zu scheuen braucht. Die Befreiung von der Herrschaft des Nationalsozialismus und die Chance zum Aufbau eines freiheitlichen Gemeinwesens war zwar den Westalliierten zu verdanken; allerdings musste die durch das Grundgesetz gewährleistete Freiheit auch „täglich erobert“ werden.14

9 BGBl. II 1952, S. 685, Ber. S. 953. 10 BGBl. II 1973, S. 15133, 15069; die Pakte traten für die Bundesrepublik am 03.03. bzw. 03. 01. 1976 in Kraft. 11 BGBl. II 1973, S. 430. 12 Vgl. dazu J. Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 21. Auflage 2018, Rdnr. 49 f. 13 Vgl. P. Häberle (Hrsg.), Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR Band 1, 2. Auflage 2010, S. 48. 14 Vgl. J. W. Goethe, Faust, Der Tragödie Zweiter Teil, V. Akt (Z 11574 ff.): „Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß.“ 20

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III. „Ubi bene, ibi patria“ Nach 70jähriger Geltung des Grundgesetzes gilt es, daran zu erinnern, dass 1949 nicht ein bestehender Staat neu verfasst wurde, sondern aus den und auf den Trümmern des Deutschen Reiches ein Gemeinwesen zu errichten war. Eine erste große Leistung des Staates bestand darin, die Millionen von Flüchtlingen zu integrieren, die Versorgung der Kriegsopfer und ihrer Hinterbliebenen zu gewährleisten und einen Ausgleich der Lasten zwischen den so unterschiedlich von den Kriegsfolgen betroffenen Bevölkerungsgruppen herbeizuführen. Der schon Mitte der 1950er Jahre sich ankündigende wirtschaftliche Aufstieg, der bald als „Wohlstand für alle“ nicht nur Wahlkampfparole, sondern für weite Bevölkerungskreise als steigender Lebensstandard erfahrbar war, hat zur tatsächlichen Akzeptanz der Bundesrepublik als Staat mehr beigetragen als es das Grundgesetz als Normenkomplex je vermocht hätte. Die Integrationsleistung der Bundesrepublik wurde entscheidend dadurch geprägt, dass sich staatlicher Aufbau mit wirtschaftlichem Aufschwung verband und sich die politischen Akteure letzteren als eigene Leistung zurechneten. Wie fragil das Vertrauen des Staates in seine eigene Stabilität war, zeigen indes die aufgeregten Maßnahmen, die während der Zeit der Großen Koalition in den Jahren 1966 bis 1969 ergriffen worden sind. Eine aus heutiger Sicht zu vernachlässigende Zahl von Arbeitslosen und eine verlangsamte konjunkturelle Aufwärtsentwicklung versetzten Regierung und Parlament in eine Alarmstimmung, die schließlich zur Ergänzung des Grundgesetzes und zum Erlass des Stabilitätsgesetzes führte, das mittlerweile – obwohl noch in Geltung – nahezu vergessen ist.15 Schon seinerzeit war absehbar, dass konjunkturelle Zyklen durch staatliche Maßnahmen nur begrenzt beeinflusst werden können und die bestimmenden politischen Kräfte schlecht beraten sind, wenn sie einen wirtschaftlichen Aufschwung als eigene Leistung ausgeben, weil der Staat dann notwendig auch für steigende Arbeitslosigkeit bei nachlassender Konjunktur verantwortlich gemacht wird. Die inzwischen gewachsene Einsicht in die nur begrenzten Möglichkeiten des Staates, eine fortdauernde wirtschaftliche Prosperität zu erzeugen, schließt notwendig die Erkenntnis ein, dass eine Verfassung in Gestalt von Grundrechten oder anderen Bestimmungen zwar günstige Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Betätigung setzen kann, im Übrigen aber rasch an die Grenzen ihrer normativen Kraft gerät. Das Grundgesetz verbindet die Strukturprinzipien des Rechtsstaats und des Sozialstaats zum „sozialen Rechtsstaat“ (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG). Die Geschichte der Bundesrepublik hat bewiesen, dass das Rechtsstaatsprinzip mit der Sozialstaatlichkeit eine Synthese eingehen kann und hierin die Zukunft moderner Staatlichkeit nach den wirtschaftlichen Verwüstungen und gesellschaftlichen Umwälzungen des Weltkriegs lag. Die Bewältigung der Kriegsfolgen stellt ebenso wie die Rentenreform 1957 eine epochale Leistung dar, die breiten Bevölkerungsschichten bewies, dass der durch das 15 Vgl. das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft v. 08. 06. 1967, BGBl. I, S. 582. Recht und Politik, Beiheft 4

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Grundgesetz verheißene Sozialstaat nicht bloße Proklamation war.16 Allerdings zeigte sich in der Sozialstaatlichkeit eine Dynamik, die für das junge Staatswesen zwar integrativ wirkte, auf Dauer aber nicht finanzierbar gewesen wäre. Der Sozialstaat ist notwendig Verteilungs- und Umverteilungsstaat. Die gewaltigen Finanzmassen, die der moderne Sozialstaat benötigt, müssen zunächst durch Steuern und andere Abgaben erhoben werden. Der Leistungsstaat, der den einen begünstigt, erscheint dem anderen als klassischer Eingriffsstaat, der um seiner Sozialleistungen willen Abgaben und Steuern ständig erhöhen muss. Die Politik – gleich welcher Richtung – ist gut beraten, nicht jeweils in einen wahlkampforientierten Klientelismus zu verfallen, der notwendig Enttäuschungen mit sich bringen muss. Sie steht fortwährend vor der Herausforderung, die Akzeptanz des Gemeinwesens in Zukunft nicht allein auf eine fortdauernde Prosperität der Wirtschaft – im Sinne eines „ubi bene, ibi patria“ – gründen zu können.

IV. Föderalismus in der Bewährung Erheblichen Wandlungen ist das Verhältnis zwischen Bund und Ländern unterworfen gewesen, die in einer Reihe von Grundgesetznovellen – aber auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – ihren Niederschlag gefunden haben. Die Unitarisierung, von der bereits die Weimarer Republik gekennzeichnet war, setzte sich in der Bundesrepublik ungehemmt fort und fand ihren literarischen Ausdruck in ihrer Kennzeichnung als „unitarischer“ Bundesstaat (Konrad Hesse).17 Die Länder drohten wegen der ständig zunehmenden Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und der sich ausdehnenden Bundesbehörden zu Verwaltungsprovinzen des Bundes zu verkümmern. Eine vorsichtige Gegenbewegung setzte erst nach der Vereinigung durch die Vorschläge der Verfassungskommission ein und wurde durch die Föderalismusreform I des Jahres 2006 verstärkt.18 Der Bund verzichtete auf eine Reihe von Gesetzgebungskompetenzen. Im Gegenzug ist die Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen drastisch verringert worden; dafür können die Länder in einzelnen Gebieten von der (früheren Rahmen‐)Gesetzgebung des Bundes abweichende Regelungen treffen (Art. 72 Abs. 3 Satz 1 GG). Zur Reform gehört ebenfalls die Bestimmung, dass durch Bundesgesetz Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden dürfen (Art. 84 Abs. 1 Satz 7, 85 Abs. 1 Satz GG). Allerdings gilt das bisherige Bundesrecht fort (Art. 125 a Abs. 1 Satz 1 GG), so dass die Grundgesetzänderung ihre Sicherungsfunktion in Verbindung mit den Konnexitätsklauseln der Landesverfassungen erst in Zukunft entfalten kann.19 Konnten die Bestimmungen der Föderalismusreform I in ihrer Zielsetzung noch als Stärkung der Länder begriffen werden, so deutet die Föderalismusreform II in ihren 16 17 18 19 22

Vgl. J. Ipsen, Der Staat der Mitte (Fn. 3), S. 216 ff. K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962. 52. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. 8. 2006 (BGBl. I, S. 2034). Vgl. J. Ipsen, Nds. VBl. 2009, S. 156. Recht und Politik, Beiheft 4

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Auswirkungen in die entgegengesetzte Richtung.20 Durch Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG haben Bund und Länder ihre Haushalte grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Erstmals ist damit den Ländern durch die Bundesverfassung ein Kreditaufnahmeverbot auferlegt worden.21 Abgesehen von möglichen – ebenfalls in Art. 109 Abs. 2 enthaltenen – Ausnahmen und der näheren Ausgestaltung durch Verfassungsrecht der Länder (Art. 109 Abs. 3 Satz 5 GG), liegt hierin der bislang nachhaltigste Eingriff in die Eigenstaatlichkeit und damit Finanzhoheit der Länder. Wenige Jahre später folgte eine Grundgesetzänderung mit entgegengesetzter Tendenz, aufgrund derer der Bund den Ländern Finanzhilfen für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen der finanzschwachen Gemeinden im Bereich der kommunalen Bildungsinfrastruktur gewähren kann (Art. 104 c Satz 1 GG). Gewissermaßen auf dem Fuße folgte der Entwurf eines sogenannten „Digitalpakts“, demzufolge Art. 104 c GG überhaupt „Finanzhilfen für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen sowie mit diesen verbundene unmittelbare Kosten der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) im Bereich der kommunalen Bildungsinfrastruktur“ ermöglichen soll.22 Während die Grundgesetzänderung vom Bundestag mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde, hat der Bundesrat den Vermittlungsausschuss angerufen, so dass das Schicksal der Grundgesetzänderung ungewiss ist. Insbesondere die durch Änderung des Art. 104 b GG vorgesehene Beteiligung der Länder an den Finanzhilfen des Bundes stößt auf Widerstand. Die jüngsten Grundgesetzänderungen weisen die Tendenz auf, die Länder aufgrund ihrer Finanznot zu „Kostgängern“ des Bundes werden zu lassen. Statt vermehrter Einflussnahme des Bundes auf ihm bislang verschlossenen Gebieten, ist eine stärkere Beteiligung der Länder am Steueraufkommen geboten.

V. Fortdauernde Teilung? In diesem Jahr wird auch des 30. Jahrestages zu gedenken sein, an dem die Mauer fiel und die Grenze zur DDR durchlässig wurde. Die Fokussierung auf Gedenktage darf allerdings nicht vergessen machen, dass der 9. November 1989 als historisches Datum nur vor dem Hintergrund der friedlichen Revolution in der DDR zu verstehen ist, die bereits Monate vorher begann und zu einer unübersehbaren Erosion des Staates und seines Repressionsapparates führte, deren sichtbarster Ausdruck der Fall der Mauer war. Ihr Ziel erreichte die Bewegung aber erst mit den Wahlen zur Volkskammer vom 18. März 1990, die zur Umwandlung der DDR in eine demokratische Republik führten. Niemand hat seinerzeit vorausgesehen, wie schnell sich der Einigungsprozess vollziehen würde, und niemand hat in der Euphorie jener Tage damit gerechnet, welche Schwierigkeiten sich im Prozess der „inneren Einigung“ auftürmen würden. Festzu20 57. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29. 7. 2009 (BGBl. I, S. 2248). 21 Vgl. hierzu H. Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 8. Auflage 2018, Art. 109 Rdnr. 64. 22 BT-Drucks. 19/3440. Recht und Politik, Beiheft 4

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halten ist aber nach wie vor, dass die überwältigende Mehrheit der DDR-Bevölkerung am 18. März für die „Allianz für Deutschland“ und die von ihr vertretene Einigungspolitik gestimmt hat. Der Einigungsprozess mit der Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Juli und dem am 3. Oktober 1990 erfolgten Beitritt der neu geschaffenen Länder zur Bundesrepublik ist nicht zu verstehen ohne den immensen Druck, den die Bevölkerung der DDR auf die politische Führung der beiden deutschen Staaten ausgeübt hat. Bundeskanzler Helmut Kohl, der mit seinem Zehn-PunkteProgramm in der Regierungserklärung vom 28. November 1989 gewissermaßen das Drehbuch für die Vereinigung lieferte, veranschlagte seinerzeit den Zeitraum hierfür noch auf Jahre.23 Unzutreffend ist deshalb der gelegentlich erhobene Vorwurf, die Bundesrepublik habe die DDR gewissermaßen annektiert. Dem „Beitrittsartikel“ des Grundgesetzes (Art. 23 GG a.F.) hätte ein vom Bundestag erlassenes (einfaches) Beitrittsgesetz genügt, dem ein von der Volkskammer beschlossenes Beitrittsgesuch der DDR hätte vorausgehen müssen.24 Gewählt wurde stattdessen ein konsensuales Verfahren, in dem die Bedingungen des Beitritts ausgehandelt und Gegenstand eines Vertrags – des Einigungsvertrags – wurden. Das „Gesetz“ im Sinne des Beitrittsartikels war die Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften der Bundesrepublik zu dem Vertrag – also das „Vertragsgesetz“. Bestandteile des Vertrags waren auch Änderungen des Grundgesetzes, so dass das in der Verfassungsgeschichte einzigartige Phänomen entstand, dass eine Verfassungsänderung durch völkerrechtlichen Vertrag vereinbart wurde und nach Zustimmung durch Bundestag und Bundesrat mit verfassungsändernder Mehrheit in Kraft trat.25 Trotz nicht zu übersehender Enttäuschungen auf beiden Seiten der früheren Grenzen gilt es, an die gewaltige Aufbauleistung zu erinnern, die in den letzten drei Jahrzehnten erbracht worden ist. Es waren eben nicht nur die viel kritisierten habgierigen Kapitalisten, die sich einer – vorgeblich funktionsfähigen – Wirtschaft bemächtigten und die Unternehmen von der Treuhand zu einem Spottpreis erwarben, sondern viele Unternehmer, die in den neuen Bundesländern Tochterunternehmen gründeten und Niederlassungen errichteten. Auch an das persönliche Engagement vieler westdeutscher Bürger sei erinnert, die in Gemeinden und Kreisen der neuen Bundesländer und – nicht zu vergessen – den Universitäten bei ihrem Aufbau wichtige Hilfestellung leisteten. Vor allem gilt es daran zu erinnern, dass die Vereinigung außenpolitisch keineswegs eine Selbstverständlichkeit war und aufgrund des gesamtdeutschen Vorbehalts der Zustimmung der Vier Mächte bedurfte. Der Zwei-Plus-Vier-Vertrag, der die Vereinigung außenpolitisch abgesichert hat, ist bekanntlich erst gegen den energischen Widerstand der britischen Premierministerin Margaret Thatcher zustande gekommen. 23 Verh. BT, 11. WP, S. 13510 ff. 24 Vgl. BVerfGE 36, 1 (29). 25 Siehe dazu den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) v. 31. 08. 1990 (BGBl. II, S. 889); zum Verfahren ausdrücklich zustimmend BVerfGE 82, 316 (320). 24

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70 Jahre Grundgesetz – 70 Jahre Bundesrepublik Deutschland

VI. Europäische Perspektiven In unmittelbarem sachlichem und zeitlichem Zusammenhang mit der deutschen Einigung steht der Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992, der eine „neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ darstellt (Art. 1 Abs. 2 EUV). Die Wirtschafts- und Währungsunion, die zur Einführung einer gemeinsamen Währung in Gestalt des Euro führte, wurde von den gesetzgebenden Organen der Bundesrepublik nahezu einhellig begrüßt.26 Es entbehrt nicht der Ironie, dass die Verfassung des 1949 gegründeten deutschen Teilstaats, der seine Identität und Zukunft im vereinten Europa sah, nach der Erlangung der Einigung über eine gewagte Interpretation des Art. 79 Abs. 3 GG nunmehr gegen eine Vereinigung Europas in Stellung gebracht wurde.27 Das Bundesverfassungsgericht stand – und steht – der von der Bundesregierung verfolgten Integrationspolitik mit einer gewissen Zurückhaltung gegenüber und stellte im „Maastricht-Urteil“ verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Zukunft auf.28 Der Zweite Senat beanspruchte in diesem Urteil und den folgenden Entscheidungen zur europäischen Integration die Rolle eines Akteurs im Prozess der europäischen Integration, die angesichts der jüngsten zentrifugalen Tendenzen in der Union allerdings zunehmend an Gewicht verloren haben dürfte.

VII. Ausblick: Verfassung oder Staat? Die 70. Wiederkehr des Tages, an dem das Grundgesetz in Kraft getreten und die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden ist, bietet auch Anlass zu einer Reflexion über den deutschen Staat und seine Verfassung. Es sei deshalb abschließend die Frage aufgeworfen, was an diesem Tag zu feiern ist – die Verfassung oder der Staat? Das Grundgesetz ist eine Staatsverfassung, verfasst mithin einen Verfassungsstaat. Die Verfassung ist die rechtliche Grundordnung eines Staates, mit diesem aber nicht identisch oder auch nur zu verwechseln. Der Staat ist das durch die Verfassung geordnete – „verfasste“ – Gemeinwesen, das nach außen als Bundesrepublik Deutschland und nach innen in Gestalt des Bundes, der Länder und der kommunalen Gebietskörperschaften in Erscheinung tritt. Eine noch so klug und aufgrund reicher historischer Erfahrung konzipierte Verfassung – wie sie das Grundgesetz darstellt – vollzieht sich nicht von selbst und gewinnt keine eigenständige Existenz, sondern ist begreifbar nur in der Realität des Gemeinwesens, das sie verfasst, im Wirken der Staatsorgane, deren Kompetenzen sie untereinander abgrenzt, und im Bewusstsein der Menschen, deren Rechte sie gewährleistet. Insofern konnte und kann es keinen „Verfassungspa26 Das Zustimmungsgesetz (BGBl. II, S. 1251) ist am 09. 12. 1992 im Bundestag mit 543 von 568 abgegebenen Stimmen angenommen worden; der Bundesrat nahm das Zustimmungsgesetz einstimmig an. 27 So die Begründung der Beschwerdeführer in BVerfGE 89, 155 (169 ff.). 28 So BVerfGE 89, 155. Recht und Politik, Beiheft 4

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triotismus“ (Dolf Sternberger) geben, möge man auch den Wert des Grundgesetzes noch so hoch einschätzen. Die Hypostasierung der Verfassung und ihr zugeschriebene konkrete Wirkungen verstellen den Blick dafür, dass Verfassungen nur den rechtlichen Rahmen eines Gemeinwesens bilden, nicht aber an dessen Stelle treten können. Wenn am 23. Mai 2019 des Tages gedacht wird, an dem das Grundgesetz in Kraft getreten ist, so ist zugleich der großen Leistung des Staates Bundesrepublik zu gedenken, der sich an diesem Tag konstituiert und sich in den folgenden Jahrzehnten zunehmend stabilisiert hat. Deutschland ist – mit einem Wort von Heinrich August Winkler – einen „langen Weg nach Westen“ gegangen29, bis es – mit dem Titel des Werkes von Edgar Wolfrum – zu einer „geglückten Demokratie“ geworden ist.30 Der 23. Mai 2019 ist also Anlass, das 70jährige Bestehen des Grundgesetzes – und damit der deutschen Verfassung mit der längsten Geltungsdauer – zu begehen, aber auch des Umstandes zu gedenken, dass in Gestalt der Bundesrepublik aus Deutschland nicht nur geographisch, sondern auch politisch ein „Staat der Mitte“ geworden ist.31

29 Vgl. H. A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, Band I, 2. Auflage 2001, Bd. II, 2000. 30 Vgl. E. Wolfrum, Die geglückte Demokratie, 2006. 31 Vgl. J. Ipsen, Der Staat der Mitte (Fn. 3), S. XIII. 26

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Dynamik, Legitimität, Differenz, Interpretation: Das Grundgesetz wird 70* Von Oliver Lepsius

I. Die dynamisierte Verfassung Warum darf das Grundgesetz auf ein so langes Leben zurückblicken? Was 1949 als Provisorium für eine Übergangszeit gedacht war, hat sich zur dauerhaftesten deutschen Verfassung seit langem entwickelt. Eine siebzigjährige Verfassung ist in der neueren deutschen Verfassungsgeschichte schon ziemlich rekordverdächtig. Typischerweise zwangen Kriege, Revolutionen oder Systemumbrüche in Deutschland mit einer Regelhaftigkeit zu neuen Verfassungen. 1849, 1871, 1919, 1949: grosso modo alle dreißig Jahre stellte sich die Frage der Verfassung neu. Insofern wird niemand nach siebzig Jahren den Zeitpunkt gekommen sehen, an dem es einer neuen Verfassung bedürfte, denn der Zeitpunkt dafür ist längst verstrichen. Wenn, dann wäre er 1990 gewesen, doch die Logik des Vereinigungsprozesses (Auflösung der Sowjetunion) sowie die Erwartung einer zügigen Vereinigung durch die Bürger der DDR ließen diesen Zeitpunkt verstreichen. Und auch der Gemeinsamen Verfassungsreformkommission von 1994 fiel nichts ein, was sich nicht mit einer Verfassungsänderung bewerkstelligen ließ. Überhaupt stellt sich die Frage nach einer neuen Verfassung nicht, wenn man die Verfassung ändern kann. Jenseits der Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat stellt das Grundgesetz dafür keine besonderen Hürden. Es lässt sich verhältnismäßig leicht ändern, und davon wurde in den siebzig Jahren seiner Existenz reichlich Gebrauch gemacht: 62 verfassungsändernde Gesetze hat die Bundesrepublik erlebt, und viele von ihnen änderten gleich mehrere Bestimmungen. In der Summe haben wir es mit hunderten Änderungen einzelner Artikel zu tun. Das Grundgesetz ist also eine äußerst dynamische Verfassung. Sie institutionalisiert ihre Reform, so dass die Änderung der Verfassung zwar nicht zum politischen Alltag gehört, aber doch ein von der Verfassung vorgesehenes Standardverfahren ist. Man vergleiche das Grundgesetz insofern mit der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1787, an deren (überfällige) Reform sich niemand traut, weil die Zustimmungshürden inzwischen als schier un-

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Zuerst in: RuP 2/2019, 118 – 126.

Recht und Politik, Beiheft 4 (2020), 27 – 35

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überwindlich gelten (obwohl 27 Zusatzartikel sie überwunden haben).1 Man denke an die Schweiz, die 2000 eine Totalrevision der Verfassung von 1848 in Gestalt der letzten Totalrevision von 1874 hinter sich brachte2 oder Österreich, das 2003 einen Konvent zur Verfassungsreform einberief, dessen Ergebnisse weiter diskutiert werden.3 Was man ändern will, kann man, auch mit aller Symbolik und Rhetorik, auf dem Wege der Verfassungsänderung umsetzen, sei es in kleinen Häppchen step by step oder als großer Wurf nach konventartiger Beratung. Eine neue Verfassung braucht nur, wer die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG umgehen will, die bestimmte Änderungen untersagt, nämlich solche, die die Grundsätze der Artikel 1 und 20 berühren oder die die Gliederung des Bundesgebietes in Länder oder die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes abschaffen. Doch wer will das schon? Und selbst im Rahmen der Ewigkeitsgarantie geht sehr viel, wenn auch nicht alles. Nie scheiterte eine Verfassungsänderung an Art. 79 Abs. 3 GG, nicht als das G10-Gesetz 1968 die Kommunikationsfreiheiten einschränkte,4 nicht beim Asylkompromiss um Art. 16a GG 1993,5 nicht die Einführung des großen Lauschangriffs nach Art. 13 Abs. 3 – 6 GG 1998.6 2009 jedoch hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen erinnert, dass eine Integration der Bundesrepublik in einen europäischen Bundesstaat nicht mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar wäre und nur auf dem Wege einer neuen Verfassungsgebung (Art. 146 GG) möglich sei, über die wiederum das Bundesverfassungsgericht „wache“.7 Das ist aus zweierlei Gründen merkwürdig, zum einen weil der klare Tatbestand des Art. 79 Abs. 3 GG durch eine schwammige Interpretation ersetzt wird („Verfassungsidentität“),8 zum anderen weil 1

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Art. V US-Verf. errichtet schon 2/3-Hürden für einen Änderungsvorschlag; die Annahme setzt dann eine Zustimmung in ¾ der Staaten voraus. Die Ratifikationsverläufe sind sehr unterschiedlich: Der jüngste, 27. Zusatzartikel (Erhöhung der Abgeordnetenbezüge wird erst nach der nächsten Wahl wirksam), zählt zu den ältesten: Er wurde 1789 vorgeschlagen und erreichte erst 1992 das Zustimmungsquorum, also nach 203 Jahren. Der 26. Zusatzartikel (Senkung des Wahlalters auf 18 Jahre) erreichte die Zustimmung 1971 hingegen schon nach drei Monaten. Vier Änderungsvorschläge aus den Jahren 1789 – 1924 können noch ratifiziert werden. Vorschläge für Verfassungsänderungen wurden seit rund 40 Jahren nicht mehr eingebracht. Vgl. konzeptionell Giovanni Biaggini, Die Idee der Verfassung: Neuausrichtung im Zeitalter der Globalisierung?, in: Zeitschrift für schweizerisches Recht 2000, S. 445 – 476; ders., Erfahrungen mit Projekten der Verfassungsrevision, in: Journal für Rechtspolitik 11 (2003), S. 29 – 38. Vgl. konzeptionell Ewald Wiederin, Gesamtänderung, Totalrevision, Verfassungsänderung, in: FS Heinz Schäfer, 2006, S. 961 – 980. BVerfGE 30,1 (1970). BVerfGE 94, 49 (1995). BVerfGE 109, 279 (2004). BVerfGE 123, 267, 343 f. (2009). Vgl. Christoph Schönberger, Identitäterä. Verfassungsidentität zwischen Widerstandsformel und Musealisierung des Grundgesetzes, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts 63 (2015), S. 41 – 62; Oliver Lepsius, Souveränität und Identität als Frage des Institutionen-Settings, ebd., S. 63 – 90. Recht und Politik, Beiheft 4

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das Gericht seine Stellung natürlich nur aus dem Grundgesetz bezieht und bei einer neuen Verfassung notgedrungen in seiner momentanen Stellung und Zusammensetzung entfallen müsste. Wenn der Karlsruher Zweite Senat gleichwohl meint, über den Prozess der Verfassungsgebung „zu wachen“, dann interpretiert er den Art. 146 GG als eine Ermächtigung zur Totalrevision der Verfassung nach Schweizer Vorbild. In der Tat erschiene eine Verfassungsbestimmung wie Art. 146 GG überflüssig, wenn sie nur regelte, was ohnehin und ohne Recht bereits gilt, nämlich, dass sich das Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt jederzeit eine neue Verfassung geben kann, im Zweifel mit dem Mittel der Revolution. Art. 146 GG ist eine rätselhafte Verfassungsbestimmung, die sich jedenfalls grundsätzlich auch als Auftrag zur Totalrevision verstehen lässt, mithin als Hebel, der die Ewigkeitsgarantie außer Kraft setzt. Denkt man Art. 146 GG als eine Ermächtigung zur Totalrevision mit Volksabstimmung weiter, dann gilt das Grundgesetz in der Tat ewig. Warum sollten Revolutionen ausbrechen, wenn die verschiedenen Änderungsformen (Art. 79 GG, Art. 146 GG) Flexibilität ermöglichen?

II. Die legitimierte Verfassung Manche meinen, das Grundgesetz leide unter einem Geburtsmakel, nämlich dass es 1949 keiner Volksabstimmung unterzogen wurde. Doch das ist typischerweise bei Verfassungen nicht der Fall. Weder die amerikanische Verfassung noch die Weimarer Reichsverfassung wurden einer Volksabstimmung unterzogen. Die Abstimmung durch eine Repräsentativkörperschaft (Nationalversammlung) oder ein Ratifikationsprozess in den Gliedstaaten reicht vollkommen. Manche vermissen gleichwohl den legitimatorischen Mehrwert einer Volksabstimmung. Doch welchen Mehrwert sollte sie erbringen? Volksabstimmungen folgen der Logik der Demokratie, d. h. es entscheidet die Mehrheit, und deren Entscheidung besitzt weder eine Richtigkeitsgewähr noch darf sie immerwährende Gültigkeit beanspruchen.9 Mehrheitsentscheidungen haben nur einen zeitlich begrenzten Bindungsanspruch. 1949 konnte man das Grundgesetz keiner Volksabstimmung unterziehen, weil aufgrund der Sektorengrenze und der Deutschen in den Ostgebieten einem Teil des deutschen Volkes die Mitwirkung versagt war. Der Appell ans Wahlvolk hätte den legitimatorischen Mehrwert also nicht erbracht. Wer sich auf den Gedanken einer Volksabstimmung einlässt, muss außerdem die Frage zulassen, wann eine solche Abstimmung wiederholt werden muss. Denn warum sollten sich die Deutschen im Jahr 2019 eine Abstimmung des Jahres 1949 entgegenhalten lassen müssen? Hat nicht jeder Anspruch darauf, der Verfassung zustimmen zu dürfen? Aber wann? Alle dreißig Jahre, also wenn die Stimmberechtigten mehrheitlich andere geworden sind? Wer heute eine Volksabstimmung über die Verfassung fordert, muss sich klar darüber sein, damit langfristig zur Entlegitimierung der Verfassung beizutragen.

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Zuvor schon die Aufsätze in: Der Staat 48 (2009), Heft 4, und in: Armin Hatje/Jörg Philipp Terhechte (Hrsg.), Grundgesetz und Europäische Union, Europarecht Beiheft 1, 2010. Vgl. Werner Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983; Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 322 – 327.

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Denn spätestens 2049 könnte ein erneuter Abstimmungswunsch nicht verwehrt werden. Und unterstellt, er würde stattfinden: Was ist dann? Wie verhält sich die Abstimmung zur Verfassungsänderung? Ist die Verfassung nach einer Volksabstimmung besonders legitimiert und nur schwerer änderbar? Ist sie kurz vor einer Abstimmung schon besonders wenig legitimiert, eine Änderung aber sinnlos angesichts der bevorstehenden neuen Abstimmung? Oder müssen Änderungen aufgespart werden, bis sie mit der Abstimmung vom Volk notifiziert werden? Mit einer Abstimmung verdoppelt man die Zuständigkeiten für die Dynamik des Verfassungstextes: Zuständig ist zum einen das Wahlvolk, zum anderen der verfassungsändernde Gesetzgeber. Aus dieser Verdoppelung entsteht eine kompetentielle Verantwortungsdiffusion. Abgesehen davon, wie man eine 55 %ige Zustimmung zu einer Verfassung bewerten sollte – was sagt eine unter Umständen knappe mehrheitliche Zustimmung? Der Gedanke einer Volksabstimmung über die Verfassung führt folglich in die Irre, denn er leistet nicht, was man sich von ihm verspricht. Die Abstimmung würde dem Volk in seiner verfassunggebenden Gewalt zugeschrieben, also dem pouvoir constituant, abgestimmt aber hätte das Wahlvolk, also der pouvoir constitué. Die Abstimmung eines Wahlvolkes aber kennt Mehrheit und Minderheit. Die Minderheit wird sich der Mehrheitsentscheidung nur fügen, wenn sie die Chance hat, selbst zur Mehrheit zu werden, das heißt, wenn der Wahlakt regelmäßig wiederholt wird. Nur dann kann auch die Mehrheit die Umsetzung der mit der Wahl verbundenen Richtungsentscheidung kontrollieren und sanktionieren. Sowohl die Minderheit als auch die Mehrheit haben also ein elementares Interesse an der zeitlichen Befristung der Abstimmungsfolgen und der Wiederholung der Abstimmung. Für ein Verfassungsreferendum sind diese Logiken der Abstimmung geradezu hinderlich, denn die Verfassung soll ja beständig sein und den Rahmen für das politische Handeln abstecken, nicht auf vorübergehende Geltung und institutionalisierte Revisibilität ausgerichtet sein. Man kann das Dilemma nach dem Brexit-Referendum verfolgen: Die Exekution eines Votums von 51,9 % spaltet das Land. Es spaltet Schottland und Nordirland vom Rest des Vereinigten Königreichs, es spaltet die politischen Parteien, es spaltet bis in die Familien. 51,9 % haben weder recht, weil sie 51,9 % sind, noch verkörpern sie den Willen des Volkes. Wie kann man mit einem solchen Ergebnis umgehen? Setzt diese Abstimmung einen Schlusspunkt unter die Debatte, dann unterdrückt man die Minderheit der 48,1 %. Wiederholt man die Abstimmung, um der Minderheit die Chance zu geben, zur Mehrheit zu werden, begänne ein endloser Prozess, es begänne eine demokratische Willensbildung, die zu temporär gültigen Entscheidungen führt. Dafür aber dient der Rhythmus von Wahlen, Legislaturperioden und Organen, die auf Zeit legitimiert werden und sich vor dem Wähler verantworten müssen. Dafür braucht man kein Referendum. Bei einem Abstimmungsverhalten von 51,9 % zu 48,1 % bleibt einem politischen System sinnvollerweise also nur ein Kompromiss. Doch die Abstimmungsfrage ermöglicht keinen Kompromiss; sie lautete nicht: mehr oder weniger, sondern: ja oder nein. Sie war auf ein Ziel gerichtet, für das Kompromisse ungeeignet sind, weil es nicht zu

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einem Ausgleich mit dem Ziel der Mehrheitsbeschaffung kommen kann.10 Das Referendum führt in eine Lage, in der die Kompromissparameter ausgeschaltet sind, und damit führt es in die politische Handlungsunfähigkeit. Volksabstimmungen können daher nur sinnvoll sein, wenn es um statische Fragen geht, die nur im Jetzt entschieden werden (soll das Einkaufszentrum gebaut werden oder nicht) oder wenn die Verantwortung für das Endergebnis vom abstimmenden Volk auf ein politisches Organ verlagert wird (Gesetzesreferendum, das normaler Änderung durch die gesetzgebenden Körperschaften unterliegt). Dasselbe Problem stellt sich übrigens auch bei der Personenwahl, wenn am Ende zwischen A und B zu entscheiden ist. Mit gutem Grund hat das Grundgesetz auf die Wahl eines Staatsoberhauptes durch die Wähler verzichtet, weil eine Personenwahl gerade keinen integrativen Effekt haben kann, sondern spalten muss. Blicken wir für ein Beispiel auf Frankreich: Obwohl Emanuel Macron die Stichwahl bei der Präsidentschaftswahl 2017 mit 66,1 % gewonnen hat, hat er das Volk, wie man sieht, nicht hinter sich. Im 1. Wahlgang, als der Wähler noch zwischen verschiedenen Richtungen wählen konnte, erzielte Macron nur 24 % der Stimmen. Das heißt: Bei einer Stichwahl müssen sich die meisten Wähler für ein geringeres Übel entscheiden; die Gestaltbarkeit von politischen Richtungsentscheidungen ist im Vergleich zu einem proportional zusammengesetzten Parlament deutlich reduziert. Generell gesprochen: Je unmittelbarer das Volk seine Stimme abgeben will, desto geringer ist sein tatsächlicher inhaltlicher Einfluss – auch wenn sich nominell seine Beteiligung am Entscheidungsprozess erhöht. Das kann nur zu enttäuschten Erwartungen und zu Handlungsblockaden führen. Insofern ist es weise, wenn die Legitimität einer Verfassung nicht von einer Abstimmung abhängt, die formell nur einmal ergehen kann und doch materiell immer wiederholt werden müsste. Die Legitimität hängt von der Betätigung der Verfassung ab: Vom Funktionieren der Verfassungsorgane, von der Beteiligung an der Wahl, von Verfassungsänderungen und nicht zuletzt von der (zivilgesellschaftlichen) Interpretation der Verfassung als einem perpetuierten Aneignungsakt der Bürger („Verfassungspatriotismus“). Alles andere wäre früher oder später nur eine Legitimation der toten Hand.

III. Die ausdifferenzierte Verfassung Wie weise ist das Institutionenarrangement des Grundgesetzes, das die Volkswahl auf die Repräsentativkörperschaft bezieht und damit dem Wähler ermöglicht, politisch handeln zu können und nicht in der Unmittelbarkeit der Einzelstimme zu bleiben. Die Wahl der Repräsentativkörperschaft vollbringt das Wunder, wie sich Wähler zu einem politisch handlungsfähigen Organ aggregieren, während das Volk als Volk nicht politisch handeln könnte. Die demokratische Legitimation in Repräsentativkörperschaften 10 Vgl. Eduard Baumgarten, Von der Kunst des Kompromisses, 1949; Verena Büchler-Tschudin, Demokratie und Kompromiss, 1980; Martin Greiffenhagen, Kulturen des Kompromisses, 1999; Avishai Margalit, On Compromise and Rotten Compromise, 2010. Recht und Politik, Beiheft 4

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zu zentrieren (und nicht in direkt gewählten Personen oder Themenstellungen [Brexit]) ist deshalb kein demokratisches Minus. Der Föderalismus sichert diese repräsentative Organisation eines politischen Willens zusätzlich ab, indem der Wahlakt verdoppelt wird (Wahl von Bundestag und Landtag). Wenn Europawahl und Kommunalwahl hinzutreten, wird praktisch jedes Jahr gewählt. An der quantitativen Beteiligung der Wähler jedenfalls besteht kein Mangel und auch die qualitative Berücksichtigung der politischen Richtungsentscheidung des Wählers wird auf diesem Wege besser sichergestellt. Man trifft jedoch gelegentlich auf Ansichten, die dem Wähler einen unmittelbaren Einfluss auf Entscheidungen zubilligen möchten. Das will sehr sorgfältig überlegt sein, um nicht einer fata morgana aufzusitzen, nämlich im Ergebnis zwar öfter abstimmen aber weniger entscheiden zu können. Man muss sich immer vor Augen führen, dass man bei einer Abstimmung mit der Minderheit unterliegen kann, und man bedenke, wie viel höher der Einfluss auf die Zusammensetzung einer Repräsentativkörperschaft ist, die einen mehrjährigen und themenunspezifischen Handlungsauftrag hat. Das wird gerne übersehen, weil heutiges politisches Engagement oft von konkreten Missständen ausgeht, aktuell und punktuell motiviert ist, sich themen- und projektbezogen äußert. Solches Engagement lässt sich zwar mit dem individuellen Erfahrungshorizont konkret verbinden. Das Grundgesetz freilich organisiert politisches Handeln nicht projektbezogen oder themenspezifisch. Es gestaltet Kompetenzbereiche verschiedener Gewalten aus und verteilt Zuständigkeiten an Verbandskörperschaften. Im Grundgesetz handelt nicht der Staat, sondern es handeln Bund, Land, Gemeinde oder Legislative, Exekutive, Judikative. Insofern mag es so scheinen, als ob die individuellen politischen Erfahrungshorizonte mit der ausdifferenzierten Zuständigkeitsorganisation nicht übereinstimmen, was dann zu Enttäuschungen oder Entfremdung führen kann, wenn Bürger vom „Staat“ eine rasche Behandlung ihrer lebensweltlichen Interessen erwarten. In der kompetentiellen Ausdifferenzierung der (politischen) Handlungsaufträge liegt jedoch eine besondere Leistung gerade des Grundgesetzes.11 Bereits die Vervielfachung der Verwaltungshoheit durch den Föderalismus (die Verwaltungshoheit liegt bei den Ländern, der Bund hat kaum Verwaltungszuständigkeiten) führt zu effektiver Freiheitssicherung gegenüber dem Bund wie auch zur Erweiterung des Pluralismus und Regionalismus beim Gesetzesvollzug. Viele Menschen empfinden Föderalismus indes als störend, wenn er Schulferien zerreißt oder Abschlüsse erschwert. Welch stabilisierender Faktor die Bundesstaatlichkeit ist, zeigte sich jedoch etwa als sich die Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2017 in die Länge zog. In anderen Ländern hätte das eine Staatskrise ausgelöst; der „Staat des Grundgesetzes“ aber funktionierte, weil die Verwaltung bei den Ländern ressortiert und von der Regierungsbildung in Berlin nicht betroffen war. Man bedenke auch die aktivierende Kraft der Bundesstaatlichkeit für das politische System: Länder sind nicht nur Probenräume für politi11 Zur Bedeutung der institutionellen Differenzierung für die Demokratie auch Oliver Lepsius, Rechtswissenschaft und Demokratie, in: Der Staat 52 (2013), S. 157 (173 ff.). 32

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sche Talente. Die Opposition im Bund ist immer in einem der Länder in Regierungsverantwortung, trägt folglich Verantwortung und genießt Präsenz. Insofern bildet das politische System Minderheiten auf Bundesebene als Majoritäten auf Landesebene ab und umgekehrt. Zugleich erschwert die Bundesstaatlichkeit die Anfälligkeit für populistische Mehrheiten: Landeswahlsiege radikaler Parteien sind bundesstaatlich relevant (Bundesrat), lösen aber keine Krise aus; Bundeswahlsiege radikaler Parteien werden durch die Vervielfachung der Gewalten in den Ländern in ihrer Durchschlagskraft gehemmt. Ein Durchregieren (wie aktuell etwa in Polen) ist mit dem Grundgesetz nicht möglich, zumal auch die Legislaturperioden von Bund und Ländern nicht überlappen und insofern die ständigen Wahlen eine kollektive Willensbildung mit Wahlreaktionen ermöglichen. Das Grundgesetz vertraut überdies nicht alleine der demokratischen Legitimation von Repräsentativkörperschaften. Es kennt die institutionelle Legitimation der Expertokratie (Geld- und Währungspolitik, Art. 88 GG; Rechts- und Verfassungskontrolle, Art. 92 – 100 GG) oder setzt korporatistische Modelle ein (Tarifparteien und Koalitionen nach Art. 9 Abs. 3 GG; berufsständische/funktionale Selbstverwaltung; Selbstverwaltung des Sozialstaats durch bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts, Art. 86 Abs. 2 GG). Zentrale Konfliktfelder, die in anderen Staaten dem politischen System im engeren Sinne zugewiesen werden (man denke an Frankreich), werden im Grundgesetz organisatorisch und legitimatorisch verselbständigt. In Gestalt spezieller grundrechtlicher Freiheitsgewährleistungen vertraut das Grundgesetz in Gebieten, die potentiell mit der politischen Selbstbestimmung rivalisieren, überdies unabhängigen Institutionen: den Kirchen im Bereich der Kultusfreiheit und der Organisation religiös geprägten Verhaltens; den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (Gebot der Staatsferne) oder den Universitäten (Lehrfreiheit). Nimmt man alles zusammen, so sind breite Themenfelder der demokratischen Legitimation und Kontrolle weitgehend entzogen. Solche counter-majoritarian institutions zu etablieren dient wiederum der Förderung einer pluralistischen Gesellschaft. Der freiheitliche Mehrwert dieser ausdifferenzierten Institutionenordnung liegt von der organisatorischen und legitimatorischen Vervielfachung abgesehen darin, wie man eine Mehrheitsherrschaft oder die Illusion einer „Herrschaft des Volkswillens“ durch Gegenöffentlichkeiten verhindert. Diese institutionelle Ausdifferenzierung gerät jedoch zunehmend unter Druck: Intermediäre Organisationen (Parteien, Kirchen, Gewerkschaften) verlieren Mitglieder und Glaubwürdigkeit; die Koalitionsfreiheit wird durch nachlassende Tarifbindung ausgehöhlt und durch Spartengewerkschaften aus einer gesellschaftlichen Gesamtverantwortung für die Lohnverteilung entlassen; die Presse wird als Gatekeeper der Information durch soziale Netzwerke relativiert, die größere Unmittelbarkeit versprechen aber auch Echoblasen und Egozentrik fördern;12 der Föderalismus gilt als ineffizient. 12 Erhellend: Jakob Schemmel, Soziale Netzwerke in der Demokratie des Grundgesetzes, in: Der Staat 57 (2018), S. 501 – 527. Recht und Politik, Beiheft 4

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Eine anti-institutionalistische Rhetorik sollte aber bedenken, welche Gestaltungsräume für Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten sie beschädigt und damit langfristig einer pluralistischen Gesellschaft Schaden zufügt.13 Das Grundgesetz konnte 70 werden, weil es Monismen vernichtete: keine statische Texttektur, keine einheitliche Legitimationsquelle, keine Zentralisierung von Entscheidungen, keine Deutungshoheiten des letzten Wortes. Im Grundgesetz kann die Souveränitätsfrage nicht mehr gestellt werden – und das ist ein verfassungszivilisatorischer Fortschritt, den es zu erkennen und zu bewahren gilt.

IV. Die interpretierte Verfassung Das Grundgesetz ist überdies eine Verfassung, die interpretiert werden will und interpretiert werden muss. Die Errichtung eines ausdifferenzierten Institutionensettings gibt nur Sinn, wenn diese Institutionen auch eigene Gestaltungs- und Interpretationsspielräume haben und nicht auf das Gleiche verpflichtet sind. Insofern errichtet das Grundgesetz ein auf den ersten Blick konfliktorientiert erscheinendes Interpretationsregime, dessen Sinn es ist, unterschiedliche Organe in die Verfassungskonkretisierung einzubeziehen und über diese wiederum unterschiedlichen Interessen und Ideen zu Relevanz zu verhelfen. Im Grundgesetz ist Verfassungsinterpretation kein Expertendiskurs von Juristen im Rahmen der Verfahrensarten des Art. 93 GG. Der Bundestag interpretiert das Grundgesetz über die Gesetzgebung genauso wie auch die Kirchen oder andere Grundrechtsträger ihre Freiheitsräume zunächst einmal selbst bestimmen. Diese Interpretationsvielalt hat das Bundesverfassungsgericht immer anerkannt und gestärkt, auch wenn es im einzelnen Rechtsstreit das letzte Wort hat – aber eben nur hier und jetzt und nicht für die Auslegung der Verfassung in Ewigkeit.14 Die konkrete Verfassungsauslegung durch das Bundesverfassungsgericht aus Anlass eines Rechtsstreits wiederum ermöglicht die breite zivilgesellschaftliche Interpretation der Verfassung. Denn nur in der Doppelung von Urteil und Diskurs kann die Verfassung tatsächlich ihre normative Kraft erbringen: einerseits autoritativ durch Gerichtsentscheidung im einzelnen Fall und andererseits ideell durch die Selbstbindung der Bürger und Organe.15 Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten16 konkurriert nicht 13 Ein Verfassungsdiskurs braucht deswegen aufgeklärte Bürger, Citoyens, die die Postulate der Aufklärung ernst nehmen und sich weder als souveränen Konsumenten noch als Interessenverfolger verstehen, wie sie bei Marktprozessen funktionieren. Als pädagogische Lektüre für die Gegenwart empfehle ich: John Dewey, Democracy and Education, 1923. 14 Vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Beharrung oder Innovation: zur Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: Der Staat 13 (1974), S. 335 – 364; Peter Lerche, Stil und Methode verfassungsgerichtlicher Entscheidungspraxis, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band I, 2001, S. 333 – 361; Oliver Lepsius, Zur Bindungswirkung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, in: Rupert Scholz u. a., Realitätsprägung durch Verfassungsrecht, 2008, S. 103 – 117. 15 Vgl. Rainer Wahl, Die normative Kraft der Verfassung, in: Der Staat 58 (2019), S. 195 – 221. 16 Vgl. Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975, 297 – 305. 34

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mit der Zuständigkeit des BVerfG, sondern komplettiert die Wirkmächtigkeit der Verfassung als ideeller Rahmen. Es will daher wohl überlegt sein, das juristisch-gesellschaftliche Interpretationsgefüge dadurch zu verändern, dass bestimmte Themen der Verfassung überantwortet werden (Kinderrechte, Sportförderung und vieles mehr). Je mehr Themen sich im Grundgesetz verankert finden, desto größer wird der judikative Interpretationsspielraum und desto geringer werden politische Handlungsspielräume. Man spricht dann von der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung. Es steigt die Herrschaft der Experten (hier: der Richter), und diese können nicht anders als durch ihre Entscheidungen den gesellschaftlichen Interpretationsspielraum einzuengen. Was ist also der richtige Rahmen für die interpretierte Verfassung: die Juridifizierung, die Politisierung oder die Pluralisierung der Interpretation? Vielleicht ist es die allergrößte Leistung des Grundgesetzes, darauf mehrere gleichberechtigte Antworten zu geben, nämlich ein Dreigestirn aus Urteil, Wahl und Diskurs. Solche Interpretationsspannungen zu erzeugen und zu verarbeiten, ist verfassungsrechtlich gewollt gerade auch vor dem Hintergrund einer Maximierung der Wirkung einer Verfassung. Die Verfassung lebt nicht nur durch Entscheidungen des BVerfG, sondern genauso durch Gesetzgebung des Bundestages oder die Inanspruchnahme und Selbstbestimmung von Freiheitsrechten durch die Bürger. Sehen wir zu, dass wir weiterhin in der Lage sind, diese Interpretationsspannungen auszuhalten und nicht der Versuchung verfallen, sie in eine Richtung aufzulösen, sei es als Wille des Volkes, sei es als Jurisdiktionsstaat, sei es als algorithmisch gesteuerte Posts. Die normative Kraft der Verfassung, ihre Breitenwirkung, verdankt das Grundgesetz dem Zusammenwirken unterschiedlicher Interpretationsquellen und -verfahren. Es sind diese Eigenschaften, die dem Grundgesetz sein langes Leben sichern. Verfassungsreform und Verfassungssinterpretation sind vom Grundgesetz gewollt – aber man muss sich vor einem Übereifer hüten, der diese Strukturen verändert. Es geht nicht darum, ob das Grundgesetz noch fit ist für das 21. Jahrhundert. Es geht darum, ob die Menschen in der Lage bleiben, seinen zivilisatorischen Fortschritt zu erkennen und zu bewahren.

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70 Jahre Grundgesetz im Spiegel der Neuauflage eines Grundgesetzkommentars* Von Hermann Weber Wer – wie der Verfasser dieser Zeilen – Mitte der Fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sein juristisches Studium begonnen hat und wenig später in der öffentlichrechtlichen Übung mit einer ersten Hausarbeit aus dem Staatsrecht konfrontiert worden ist, hat heute noch ein nicht allzu umfangreiches, in schwarzgrünes Leinen gebundenes, mit Buchrücken und Buchdeckelecken aus schwarzem Kunststoff an einen edlen Halblederband erinnerndes Buch vor Augen – neben dem schon 1949 erschienenen Kleinkommentar von Friedrich Giese damals der einzige Kommentar zum Grundgesetz. Verfasser war Hermann von Mangoldt, Staatsrechtslehrer in Kiel, 1946 einige Monate Innenminister in Schleswig-Holstein und später – für die CDU – einflussreiches Mitglied des Parlamentarischen Rates in Bonn, der dort im Museum Koenig vom Herbst 1948 bis zum Frühsommer 1949 das Grundgesetz beraten hat, das nach Genehmigung der Alliierten und Verkündung im Bundesgesetzblatt am 24. Mai 1949, also vor nunmehr rund 70 Jahren, in Kraft getreten ist. Von Mangoldt hatte sich nach dem Ende der Beratungen des Parlamentarischen Rats ganz aus dem Politikbetrieb zurückgezogen, um sich wieder voll seiner Tätigkeit als Hochschullehrer und Wissenschaftler – und hier vor allem der Arbeit an dem anspruchsvollen Vorhaben eines von ihm allein zu verfassenden Grundgesetzkommentars – zu widmen. Bereits 1950 konnte er im traditionsreichen – damals vorübergehend noch als „Verlag für Rechtswissenschaft, vormals Franz Vahlen GmbH“ firmierenden – Verlag Franz Vahlen in Berlin die erste, die Art. 1 – 19 (also den gesamten Grundrechtsteil) umfassende Lieferung seines Kommentars vorlegen. Ihr sind bis 1953 vier weitere gefolgt. Als im Spätsommer 1953 die letzte Folge des Werks (mit den Erläuterungen zu Art. 108 – 146) auf den Buchmarkt kam, mit der den Beziehern auch Titelei, Einbanddecke und die Register für den Gesamtband zugestellt wurden, fehlte das in solchen Werken übliche Vorwort des Autors: Hermann von Mangoldt war am 24. Februar 1953 unmittelbar nach Fertigstellung seiner Kommentierung, an die er *

Zuerst in: RuP 1/2019, 76 – 81; zugleich Besprechung von: Grundgesetz. Kommentar. Begründet von Hermann v. Mangoldt, fortgeführt von Friedrich Klein und Christian Starck, herausgegeben von Peter M. Huber und Andreas Vosskuhle, 7. Aufl., 3 Bde., München, C. H. Beck 2018. Bd. 1 XXVII, 2005 S., Bd. 2 XLVIII, 2472 S., Bd. 3 LVIII, 2597 S., geb. zusammen € 799,00. ISBN 978-3-406-71201-2, 978-3-406-71202-9 bzw. 978-3-40671203-6.

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Duncker & Humblot, Berlin

70 Jahre Grundgesetz im Spiegel der Neuauflage eines Grundgesetzkommentars

noch auf dem Krankenbett letzte Hand angelegt hatte, an den Folgen eines Unfalls verstorben. Gerhard Leibholz, seit 1951 Richter des neu gegründeten Bundesverfassungsgerichts, hatte an seiner Stelle dem Buch ein Geleitwort vorangestellt. Die spätere Entwicklung des – von der Praxis gern aufgenommenen – Kommentars ist nicht ohne Brüche verlaufen. Die zweite, nun schon drei stattliche Bände umfassende Auflage stammte nochmals aus der Feder eines einzigen Autors, des Münsteraner Staats- und Völkerrechtlers Friedrich Klein. Auch hier hat der Autor die Vollendung des Werks nicht mehr erlebt: Der letzte der drei – in den Jahren von 1957 bis 1974 publizierten – Bände ist wiederum posthum, diesmal nach dem Tode von Friedrich Klein im Frühjahr 1974, erschienen. Schon die überlange Bearbeitungsdauer der zweiten Auflage hatte dem Verlag deutlich gemacht, dass die Zeit, in der ein Einzelautor einen umfangreichen Grundgesetzkommentar allein verantworten konnte, endgültig abgelaufen war. Die Bearbeitung der dritten Auflage wurde daher 11 Einzelautoren anvertraut, die als Verfasser die Arbeit an jeweils einem oder zweien der nunmehr geplanten 14 Bände übernehmen sollten. Von diesen Bänden sind in den Jahren von 1985 bis 1991 freilich nur vier erschienen. Damit wäre das Schicksal des Kommentars wohl endgültig besiegelt gewesen, wenn es dem – inzwischen in die Verlagsgruppe C. H. Beck in München gewechselten und von deren Lektorat mitbetreuten – Vahlen Verlag nicht gelungen wäre, durch einen Gewaltakt das Blatt zu wenden und dem Werk zu neuem Leben zu verhelfen: Nach dem Scheitern der dritten Auflage wurde der Göttinger Staatsrechtslehrer Christian Starck mit der Herausgabe einer völlig neu konzipierten vierten Auflage betraut. Mit der ihm eigenen Energie gelang es Starck rasch, als Verfasser des Kommentars ein Team meist jüngerer Autoren anzuwerben. Unter der straffen Führung des Herausgebers, der selbst die Kommentierung einiger zentraler Artikel übernommen hatte, haben die neuen Autoren in kurzer Zeit eine völlige Neukommentierung erarbeitet und in bisher unbekannter Schnelligkeit innerhalb nur zweier Jahre (1999 und 2000) die runderneuerte vierte Auflage, auch diese in drei umfangreichen Bänden, auf den Markt gebracht. Die fünfte und die sechste Auflage, beide wieder dreibändig und erneut von Christian Starck als Alleinherausgeber verantwortet, sind ohne grundsätzliche Änderungen der Konzeption noch einmal schneller – jeweils innerhalb eines Jahres – 2005 bzw. 2010 publiziert worden. Mit der pünktlich zum 70jährigen Jubiläum des Grundgesetzes – nun nicht mehr unter dem Imprint „Verlag Franz Vahlen“, sondern in neuer Ausstattung im Hauptprogramm von C. H. Beck – vorgelegten siebten Auflage beginnt für den Kommentar wieder eine neue Ära. Christian Starck, dem die Rückkehr des Werks unter die führenden Kommentare zum Grundgesetz in erster Linie zu verdanken ist, hat sich als Herausgeber zurückgezogen, kommentiert aber nach wie vor die Präambel und die Art. 1, 2 und 4. An seine Stelle als Herausgeber sind Peter M. Huber und Andreas Voßkuhle getreten, beide schon in der Vorauflage Kommentatoren einiger Artikel des Grundgesetzes (Huber vor allem des Art. 19, Voßkuhle der Art. 93 – 96) und beide von Herkunft her Hochschullehrer und heute Richter des Bundesverfassungsgerichts, Voßkuhle darüber hinaus – wie allgemein bekannt – dessen derzeitiger Präsident. Auch im Mitar-

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beiterkreis haben sich erhebliche Änderungen ergeben: Sieben Autorinnen und Autoren (unter ihnen Johannes Masing, auch er Hochschullehrer und Richter des Bundesverfassungsgerichts) sind ausgeschieden; 23 neue sind hinzugetreten – unter ihnen nicht weniger als sieben Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts (von denen einer – der bisherige Vizepräsident des Gerichts Ferdinand Kirchhof – nach Erscheinen der Neuauflage Karlsruhe freilich schon wieder verlassen hat). Zu nennen sind aber auch Horst Risse, Direktor beim Deutschen Bundestag, und Utz Schliesky, Direktor beim Schleswig-Holsteinischen Landtag, als Praktiker aus der Parlamentsverwaltung und Max Vogel, Richter am VG Kassel, als einsamer Repräsentant der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Im Übrigen handelt es sich bei den Neuen im Autorenkreis durchweg um Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer. Auch unter den Verbliebenen bilden diese die große Mehrheit; als Vertreter der Praxis sind hier nur Monika Jachmann-Michel, Vorsitzende Richterin am Bundesfinanzhof, Michael Kemper, Ministerialrat im Bundesministerium der Finanzen, Klaus-Georg Meyer-Teschendorf, Ministerialrat a. D., und Peter Unruh, Präsident des Kirchenamts der Nordkirche – als Kommentator des Art. 140 und damit auch der in das Grundgesetz inkorporierten Weimarer Kirchenartikel – zu nennen. Wie schon Thomas von Dannwitz, Richter am Europäischen Gerichtshof im Luxemburg und dort zugleich Kammerpräsident, könnte man Unruh und Frau Jachmann-Michel angesichts ihrer Universitätslaufbahn und ihrer nach wie vor bestehenden Hochschulzugehörigkeit mit gleichem Recht aber auch der Gruppe der Hochschullehrer zurechnen. Die genannten Zahlen zeigen, dass sich Befürchtungen (oder Erwartungen?), der Kommentar könne sich angesichts der neuen Herausgeber und zahlreicher neuer Autoren aus dem Bundesverfassungsgericht – in Parallele zum längst Geschichte gewordenen Reichsgerichtsrätekommentar zum BGB – zu einer Art „Verfassungsgerichtsrätekommentar“ zum Grundgesetz entwickeln, auch in Zukunft wohl doch als unbegründet erweisen werden. Den neuen Herausgebern und ihrem neu formierten Autorenteam ist das Kunststück gelungen, alle drei Bände der Neuauflage gleichzeitig herauszubringen und so die Kommentierungen durchweg auf einheitlichen Stand zu bringen: Gesetzgebung, Literatur und Rechtsprechung konnten generell bis September 2017, zu einem Teil noch darüber hinaus berücksichtigt werden. An der Konzeption und inhaltlichen Ausrichtung des Kommentars hat sich wenig geändert: Sein Ziel ist es weiterhin – so die Herausgeber in ihrem Vorwort (Bd. I, S. VII) – „in kompakter und zugleich vertiefter Form übersichtlich, präzise und verständlich über die Rechtsprechung und Literatur zu den einzelnen Grundgesetzbestimmungen zu informieren und neu auftretende Fragen ersten rechtlichen Lösungen zuzuführen. Gleichzeitig sollen die Strukturen und Bauprinzipien sowie die Querbezüge zwischen den einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes offengelegt werden.“ Nach ersten Stichproben wird man dem Kommentar bescheinigen können, dass diese Ziele auch in der Neuauflage weithin erreicht worden sind. Einzelheiten können hier schon aus Raumgründen nicht diskutiert werden. So sei nur noch erwähnt, dass bereits alle fünf Grundgesetzänderungen der Jahre von 2010 bis 2017 berücksichtigt sind. Von besonderer Bedeutung sind hier die beiden Gesetze zur

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70 Jahre Grundgesetz im Spiegel der Neuauflage eines Grundgesetzkommentars

Änderung des Grundgesetzes vom 13. Juli 2017 (Ausschluss verfassungsfeindlicher Parteien von der staatlichen Parteienfinanzierung und Neuordnung des föderalen Finanzausgleichs, gelegentlich auch als dritte Föderalismusreform bezeichnet, BGBl. I, 2346 bzw. 2347). Eingearbeitet ist selbstverständlich auch die neuere Rechtsprechung, vor allem die des Bundesverfassungsgerichts in den Bänden 124 – 143 der Amtlichen Sammlung. Das in allen Bereichen ständig anwachsende Material hat auch diesmal wieder unausweichlich zu einem Anwachsen des Umfangs der Kommentierungen (und damit der Kommentarbände) geführt. Vergleicht man nur die Seitenzahlen der sechsten und der siebten Auflage, dann scheint sich der Zuwachs auf den ersten Blick mit knapp 100 Seiten in einem relativ bescheidenen Rahmen zu bewegen. Sieht man genauer hin, stellt man freilich fest, dass der Verlag durch Wahl einer deutlich kleineren, trotzdem noch gut lesbaren Schrift bei einem im Wesentlichen unveränderten Satzspiegel viel zusätzlichen Raum für die Erweiterung der Erläuterungen gewonnen hat. Ob es den Herausgebern und dem Verlag angesichts des sich mit Sicherheit auch in kommenden Jahren rasch vermehrenden Materials gelingen wird, den Kommentar auf Dauer in drei im Umfang eben noch handlichen Bänden herauszubringen, muss man schon heute mit einem nicht ganz kleinen Fragezeichen versehen. In ihrem Vorwort kündigen die Herausgeber an, dass der – in der jetzt vorgelegten siebten Auflage noch unter v. Mangoldt/Klein/Starck firmierende – Kommentar von der achten Auflage an wieder – wie in der ersten Auflage – allein den Namen v. Mangoldt tragen wird. Auch das – und das 70jährige Jubiläum des Grundgesetzes, das Hermann von Mangoldt seinerzeit noch im Wesentlichen in seiner ursprünglichen Fassung kommentiert hat – legen es nahe, noch einmal auf den schwarzgrünen Band der ersten Auflage und dessen bereits erwähntes, von Gerhard Leibholz formuliertes Geleitwort zurückzukommen: Vergleicht man die erste mit der jetzt vorgelegten siebten Auflage, fällt natürlich primär der Umfang ins Auge: 702 eher locker bedruckten Seiten bei von Mangoldt mit wenigen Fußnoten stehen in der Neuauflage 7074 sehr viel enger bedruckte Seiten mit einem umfassenden Anmerkungsapparat gegenüber. In der Ausweitung des Textes und der Fußnoten spiegelt sich die verfassungsrechtliche Entwicklung in den sieben Jahrzehnten der Geltung des Grundgesetzes – mit insgesamt 62, zum Teil bedeutenden Änderungen der Verfassung, mit einer ständig anschwellenden Rechtsprechung (vor allem des Bundesverfassungsgerichts in bis heute 143 Bänden der amtlichen Sammlung, 20 Bänden der Sammlung von Kammerentscheidungen sowie vielen weiteren in der Fachpresse veröffentlichten Kammerbeschlüssen) und mit einer immer unüberschaubareren Zahl von Stellungnahmen der Fachliteratur in Kommentaren, Lehrbüchern, Monographien und unzähligen Aufsätzen in Zeit- und Festschriften und anderen Sammelbänden. In dieser Ausweitung des Materials spiegelt sich nicht zuletzt die gegenüber der Weimarer Zeit unvergleichlich größere Bedeutung der Verfassung für die tägliche Rechtspraxis unter dem Grundgesetz. Nur ein extremes Beispiel für die rasanten Entwicklungen in den Jahren nach von Mangoldts Kommentierung des Grundgesetzes sei noch angefügt: Die Gewährleistung Recht und Politik, Beiheft 4

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des Asylrechts, dessen knappe Formulierung in vier Worten in Art. 16 Abs. 2 S. 2 a. F. („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) maßgeblich auch auf Hermann von Mangoldt zurückgeht, wird in den Erläuterungen zu Art. 16 in der Erstauflage noch in einem einzigen kurzen Absatz in zwölf Zeilen behandelt. In der Neuauflage benötigt Ulrich Becker für seine Kommentierung der – inzwischen schon im reinen Verfassungstext auf mehr als eine halbe Druckseite in Kleindruck angewachsenen – Asylrechtsgewährleistung in dem 1993 in das Grundgesetz eingefügten neuen Art. 16a nicht weniger als 102 Kommentarseiten. Gerhard Leibholz hat in seinem Geleitwort zur Erstauflage – nicht ganz ohne kritischen Ton – ein gewisses Übergewicht der Entstehungsgeschichte der Bestimmungen des Grundgesetzes in den Kommentierungen von Mangoldts hervorgehoben. Darüber hinaus hat er – in weitgehender Übereinstimmung mit Äußerungen des Autors vor dessen Tode – zwei Desiderate an den Bearbeiter künftiger Neuauflagen formuliert: eine zeitlich möglichst einheitliche Verarbeitung der Literatur zum Grundgesetz im gesamten Kommentar und eine deutlich stärkere Berücksichtigung der älteren Literatur, vor allem der Literatur der Weimarer Zeit in allen Kommentierungen. Die Neuauflage trägt dem weitgehend Rechnung: Die Entstehungsgeschichte, die Hermann von Mangoldt als maßgeblichem Mitglied des Parlamentarischen Rats natürlich in allen Einzelheiten bestens vertraut war und bei ihm schon deswegen – aber auch wegen des damals noch bestehenden Mangels an einschlägiger Rechtsprechung und Literatur – eine besondere Rolle gespielt hat, wird in der siebten wie schon in früheren Auflagen zu Beginn der Kommentierung jeden Artikels kurz dargestellt. Ihre Bedeutung für die Auslegung ist gegenüber der Zeit von Mangoldts aber doch deutlich zurückgegangen. Dass Literatur und Rechtsprechung jetzt – wie von Leibholz gefordert – in allen drei Bänden (und damit im gesamten, heute sehr viel umfangreicheren Kommentar) zeitnah und zeitgleich berücksichtigt sind, ist oben bereits erwähnt worden. Die Bedeutung der älteren Literatur, namentlich der Literatur der Weimarer Zeit, für die Interpretation des Grundgesetzes hat sich gegenüber der Zeit von Mangoldts naturgemäß ebenso vermindert wie die der Entstehungsgeschichte. Nichtsdestoweniger wird auch in der Neuauflage überall dort auf diese Literatur zurückgegriffen, wo sie heute noch – wie etwa die nach wie vor maßgebliche Definition der Religionsgesellschaft in Art. 137 WRV durch Gerhard Anschütz – auslegungswichtig ist oder aber ihr – wie etwa bei der sehr begrenzten Zulässigkeit von Volksabstimmungen, bei den Befugnissen des Bundespräsidenten oder aber beim konstruktiven Misstrauensvotum gegenüber dem Bundeskanzler – Bedeutung für das Verständnis der von den Regelungen der Weimarer Verfassung abweichenden Regelungen des Grundgesetzes zukommt. Einen Wunsch freilich konnte Leibholz im Jahre 1953 noch nicht äußern: den – von Herausgebern und Autoren durchweg erfüllten – Wunsch nach einer intensiven Berücksichtigung des Rechts der Europäischen Union und der für Deutschland maßgeblichen internationalen Verträge, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention (und damit auch der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR).

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70 Jahre Grundgesetz im Spiegel der Neuauflage eines Grundgesetzkommentars

Obwohl die Neuauflage kaum noch eine Zeile von Hermann von Mangoldt enthält, bleibt es nach alledem bei der abschließenden Feststellung von Gerhard Leibholz: „Theorie und Praxis werden noch lange von diesem Kommentar zehren. Mit ihm wird von Mangoldts Name für die Zukunft verbunden bleiben. Er wird ihn lange Jahre überleben.“ Eine Frage – die in gleicher Weise freilich an alle Grundgesetzkommentare zu stellen ist (und eher die dort wiedergegebene Verfassungspraxis selbst und weniger deren Kommentierung betrifft) – drängt sich zum Abschluss noch auf: Vor kurzem hat Christian Waldhoff in einem Artikel in der FAZ gefragt „Was gehört ins Grundgesetz?“ und sich im Ergebnis zu Recht gegen die Aufladung der Verfassung mit immer neuen, immer detaillierteren (und so den politischen Prozess immer stärker beschränkenden) Regelungen gewandt. Blickt man auf die – einen Kommentar dieses Umfangs benötigende – Fülle der Bindungen, die ein jahrzehntelanger Interpretationsprozess und hier federführend die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts aus dem Grundgesetz abgeleitet haben, mag man sich fragen, ob über eine allzu intensive Verfassungsgebung hinaus auf Dauer nicht auch eine allzu intensive Verfassungsinterpretation droht, die – in erster Linie als Rahmenordnung für den politischen Prozess zu begreifende – Verfassung zu überfordern und dem Gesetzgeber gleich Gulliver bei den Liliputanern allzu viele auf den ersten Blick vielleicht nur kleine Fesseln anzulegen, die in ihrer Gesamtheit aber geeignet sein könnten, ihn auf Dauer in seiner für die Entwicklung des Gemeinwesens notwendigen Gestaltungsfreiheit über Gebühr zu lähmen – eine Frage, die hier nur gestellt, nicht beantwortet werden soll und kann.

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III. NEUE STAATSZIELE UND ENTWICKLUNG DES GRUNDGESETZES Eine CO2-Bremse in das Grundgesetz?* Von Claudio Franzius Dass der Klimaschutz zu stärken ist, wird heute nicht mehr bestritten. Umstritten sind aber die Wege zu einem verbesserten Klimaschutz. Das gilt auch für die Frage, wie der Klimaschutz in das Grundgesetz aufgenommen werden sollte. Vorliegend wird der Vorschlag einer neuen Staatszielbestimmung skeptisch beurteilt. Anders fällt die Beurteilung einer „CO2-Bremse“ aus, die als verfassungsrechtliche Prüfpflicht des Gesetzgebers, sich der zu erwartenden Treibhausgasemissionen eines Gesetzesvorhabens bewusst zu werden, in Art. 76 GG verankert werden könnte. Verstanden als verfahrensrechtliche Anforderung greifen die Bedenken einer „Überkonstitutionalisierung“ nicht.

I. Einführung Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat jüngst beantragt, die Klimabilanz in die Gesetzesfolgenabschätzung aufzunehmen und eine CO2-Bremse einzuführen. Alle Gesetzgebungsentwürfe der Bundesregierung sollen auf zu erwartende Treibhausgasemissionen hin geprüft und die Vereinbarkeit der quantifizierten Emissionen mit den deutschen Klimazielen dargestellt werden, wobei insbesondere im Zusammenhang mit dem angekündigten Klimaschutzgesetz „dargestellt“ werden soll, was getan werden müsse, um das jeweilige Sektorziel bei den einzelnen Regelungen zu erreichen. Der Vorschlag ist nicht neu. Schon 2016 hatte die Fraktion beantragt, eine solche „Bremse“ im Gesetzgebungsverfahren zu verankern. Um internationale und nationale Klimaschutzziele zu erreichen, müsse „die Klimawirkung von Gesetzen notwendigerweise geprüft und in Einklang mit den Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen gebracht“ werden. Gesetzentwürfe aus den Bereichen Energiewirtschaft, Bauen und Wohnen, Mobilität, Industrie und Wirtschaft, Landwirtschaft sowie Landnutzung und Forstwirtschaft sollen „auf zu erwartende Treibhausgasemissionen hin geprüft sowie die quantifizierten Emissionen auf ihre Vereinbarkeit mit den deutschen Klimazielen dargestellt werden“ müssen. Das wurde damals mit der Mehrheit im Bundestag abgelehnt.

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Zuerst in: RuP 3/2019, 230 – 240.

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Duncker & Humblot, Berlin

Eine CO-Bremse in das Grundgesetz?

Warum sollte es heute anders sein? Vor allem aber hatte es zwischenzeitlich die Forderung gegeben, diesen Prüf- und Darstellungsauftrag nicht bloß in die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) aufzunehmen, sondern im Grundgesetz zu verankern. Analog der Schuldenbremse soll die CO2-Bremse in die Verfassung.1 Damit wäre der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet, jedes neue Gesetzesvorhaben auf seine CO2-Auswirkungen zu prüfen. Wie das genau aussehen soll, bleibt jedoch unklar, zumal es einen Unterschied macht, ob die Geschäftsordnung oder die Verfassung geändert werden soll.2 Möglicherweise hat sich die Fraktion von der Idee verabschiedet, insoweit das Grundgesetz ändern zu wollen, ist für eine Änderung der Verfassung doch eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Deutschen Bundestag erforderlich, die noch weniger erwartet werden kann als für einen Vorschlag zur Änderung der Geschäftsordnung.3 Es bleibt aber die Frage, ob es nicht wünschenswert ist, den Klimaschutz in der Verfassung zu stärken.4 Von der politischen Realisierbarkeit – die Zeiten könnten sich mit „Fridays for Future“ und dem Höhenflug der Grünen geändert haben – zu unterscheiden ist die verfassungspolitische Sinnhaftigkeit des Vorschlags. Könnte das, was für die eher technische Gesetzesfolgenabschätzung gefordert wird, nicht auch einen Ort in der Verfassung finden? Das mag auf dem ersten Blick irritieren, aber dieser Vorschlag ist von dem verfassungspolitisch anders zu beurteilenden Vorschlag zu unterscheiden, das Grundgesetz nicht bloß verfahrensrechtlich, sondern materiell-rechtlich stärker auf den Klimaschutz auszurichten, wie es mit einer Anreicherung der Staatszielbestimmung in Art. 20a GG der Fall wäre.5 Gerade die Kontrastierung mit diesem weitergehenden Antrag, zu dem im Februar 2019 eine öffentliche Anhörung im Ausschuss für Inneres und Heimat stattgefunden hat6, wird vorliegend für die verfassungspolitische Bewertung als zielführend betrachtet.

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So die Parteivorsitzende Annalena Baerbock, Der Tagesspiegel v. 08. 05. 2019. Auch dieser Vorschlag ist nicht ganz neu, vgl. https://www.welt.de/print/die_welt/politik/artic le141464799/Klimastreit-entzweit-Regierung.html. Angestoßen wurde die Debatte von der Grünen Jugend. Zu den (nivellierten) Besonderheiten des Verfassungsänderungsverfahrens D. Grimm, Wir haben das Recht auf Leben mit einem einfachen Gesetzesvorbehalt, https://verfassungsblog.de/ wir-haben-das-recht-auf-leben-mit-einem-einfachen-gesetzesvorbehalt. Zur Bedeutung von Geschäftsordnungen F. Meinel, Selbstorganisation des parlamentarischen Regierungssystems, 2019. Zum Stand von Klimaschutzrecht und Klimaschutzpolitik U. Stäsche, EnWZ 2019, 248 ff. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 20a, 74, 106, 143 h – Stärkung des Klimaschutzes), BT-Drs 19/4522 v. 25. 09. 2018. In der französischen Verfassung soll Art. 1 ergänzt werden, wonach die Republik für den Schutz der Umwelt und der Biodiversität und gegen Klimaveränderungen handelt. Deutscher Bundestag, Ausschuss für Inneres und Heimat, Protokoll-Nr. 19/36; https://www. bundestag.de/ausschuesse/a04_innenausschuss/anhoerungen/08 - 11 - 02 - 2019 - 591368.

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Claudio Franzius

II. Was gehört in die Verfassung? Das wirft die Frage auf, was in die Verfassung gehört. Es fehlt nicht an Vorschlägen, die Verfassung mit neuen Inhalten auszustatten. So heißt es, es sollten Kinderrechte, das Internet oder die soziale Marktwirtschaft – um nur einige der Forderungen aus jüngerer Zeit zu nennen7 – in das Grundgesetz aufgenommen werden. Wird etwas politisch für wichtig gehalten, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Öffentlichkeit mitgeteilt wird, es sollte in die Verfassung aufgenommen werden. Wer möchte nicht Kinder unter dem besonderen Schutz der Verfassung sehen? Es könne doch nicht sein, dass sich das Grundgesetz nicht zum Internet äußere. Und kaum ist von Enteignungen die Rede, heißt es, die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes möge zugunsten einer textlich dokumentierten Verpflichtung auf die soziale Marktwirtschaft aufgegeben werden. Warum sollte das beim Klimaschutz anders sein? Geht es hier um eine sinnvolle Erneuerung des Grundgesetzes oder lediglich um politischen Wettbewerb, in dem derjenige gewinnt, dem es gelingt, seine politische Forderung in geltendes Verfassungsrecht zu gießen? Wenn es der Bundeskanzlerin wichtig war, die Schuldenbremse im Grundgesetz zu verankern, warum sollte es dann nicht möglich sein, den Klimaschutz im Sinne einer CO2-Bremse in der Verfassung sichtbarer zu machen? Es mag immer sachliche Gründe geben, aber sind es auch Gründe, die für eine verfassungsrechtliche Perpetuierung sprechen? Zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes kann man sich sicherlich vieles wünschen.8 Aber die Verfassung ist kein Wunschbuch, in dem alles aufgenommen werden könnte, was politisch irgendwie für wichtig gehalten wird, zumal die alte Einsicht nicht in Vergessenheit geraten sollte, dass der, der Verfassungsrecht sät, am Ende Verfassungsrechtsprechung erntet.9 Abstrakt mag das keine Gefahr darstellen, genießt das Bundesverfassungsgericht doch ein hohes Ansehen.10 Aber konkret könnten Hoffnungen enttäuscht werden, wenn der politisch gefeierte Gewinn an neuem Verfassungsrecht vom Gericht in die Entwicklungszusammenhänge der Gesamtverfassung gestellt und eingeebnet werden sollte.11 Gegen die Aufnahme neuer Inhalte in das Grundgesetz lässt 7 Für die Einfügung von Kinderrechten C. Hohmann-Dennhardt, Kinderrechte einfügen, FAZ v. 23. 05. 2019, S. 10. Für eine Regelung zum Internet die FDP, vgl. https://rsw.beck.de/aktuell/ meldung/fdp-will-internet-freiheit-im-grundgesetz-verankern. Für die Ersetzung des Art. 15 GG durch die Festschreibung der sozialen Marktwirtschaft eine Reihe von Ökonomen, vgl. https://www.openpetition.de/petition/online/soziale-markt-wirtschaft-ins-grundgesetz; krit. D. Grimm, Karlsruher Wirtschaftspolitik?, FAZ v. 09. 05. 2019, S. 6. 8 Vgl. die „Wünsche an das Grundgesetz“ in FAZ v. 23. 05. 2019, S. 10. 9 U. Steiner, Neuere Entwicklungen im Kulturverfassungsrecht, in: FS Starck, 2007, S. 449, 460. 10 Das BVerfG ist nicht Erst-, aber Letztinterpret der Verfassung, vgl. zur Verfassungsrechtsprechung zwischen dem Wandel der Verfassung und seinen Grenzen A. Voßkuhle, JuS 2019, 417. 11 Die Grünen scheinen die letzten „Verfassungspatrioten“ zu sein, die sich nicht hinter der Verfassung verstecken, sondern ihre politischen Forderungen über die Verfassung durchzusetzen versuchen. Ob die Verfassung eine solche gesellschaftliche Bindekraft zu entfalten vermag, wird aber nicht ohne Grund bezweifelt, vgl. E. R. Lautsch, DÖV 2019, 441. 44

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sich nicht anführen, es handele sich um bloße Symbolik, ist die Verfassung doch mehr als ein Rechtstext, der nur einklagbare Rechte enthält. So ist in jüngerer Zeit deutlich geworden, wie wichtig Leitbilder für eine Verfassung sind, versteht man sie als das Grunddokument einer politischen Gemeinschaft.12 Warum also nicht eine Exemplifizierung des Klimaschutzes in einer Staatszielbestimmung? Warum sollte der Gesetzgeber nicht verfassungsrechtlich verpflichtet werden, die Klimaauswirkungen vorgeschlagener Gesetzesvorhaben zu prüfen? Die Verfassung ist eine Rahmenordnung, ohne damit in einen schroffen Gegensatz zu einer Wertordnung gestellt werden zu können.13 Gegen eine weitere „Hochzonung“ wichtiger politischer Anliegen auf die Verfassungsebene spricht, dass damit der demokratische Prozess über Gebühr eingeengt zu werden droht. Was in die Verfassung aufgenommen worden ist, kann nicht mehr mit einfachen Mehrheiten geändert werden und ist damit dem politischen Prozess entzogen. Deshalb ist eine demokratische Rechtswissenschaft mit den Worten von Oliver Lepsius skeptisch „gegenüber materiellen Festlegungen, wenn sie eine objektive Richtigkeit oder erschwerte Abänderbarkeit beanspruchen“ und das heiße: „Materielle Entscheidungen gehören auf die Ebene des Gesetzes, nicht der Verfassung.“14 Die Verfassung ist mit guten Gründen fragmentarisch und will Politik nicht ersetzen, sondern ermöglichen. Gerade dieser Ermöglichungsfunktion wird eine Verfassung nicht gerecht, die Entscheidungsspielräume einengt und den Gesetzgeber zu einem Vollzugsorgan der Verfassung degradiert. Aus dem Vorrang der Verfassung gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht lässt sich kein Anspruch ableiten, alles staatliche Handeln auch inhaltlich vorherbestimmen zu sollen. Was also gehört in das Grundgesetz? Und was sollte nicht dort geregelt werden? Über die Reichweite des Verfassungsvorbehalts15 lässt sich natürlich streiten. Aber auf einige Irrtümer kann hingewiesen werden. So sind verfassungstheoretisch die Regelungen zum Staatsorganisationsrecht unerlässlich, während der Grundrechtekatalog erst später hinzutrat und heute politisch, aber nicht rechtlich zwingend in die Verfassung gehört. Zu den zwingenden Inhalten einer Verfassung gehören die Vorschriften über die Rechtserzeugung, namentlich die Gesetzgebung, nicht aber Inhalte, an denen sich die Gesetzgebung zu orientieren hat.16 Ob es vor díesem Hintergrund ratsam ist, den gesellschaftlichen Konsens zum Ausstieg aus der Atomenergie verfassungsrechtlich

12 Vgl. U. Volkmann, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, VVDStRL 67 (2008), 57, 68 ff.; ders., AöR 134 (2009), 157; J. Braun, Leitbilder im Recht, 2015. 13 Vgl. M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 72 ff. Gute Rekonstruktion: S.-P. Hwang, Verfassungsordnung als Rahmenordnung, 2018. 14 Lepsius, Der Staat 52 (2013), 157, 178. 15 Vgl. C. Waldhoff, Der positive und der negaltive Verfassungsvorbehalt, 2016. 16 Was die Verfassungsrechtsprechung angeht, liegt es umgekehrt: Die Grundrechte mögen einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit bedürfen, was für das Staatsorganisationsrecht so nicht gilt. Recht und Politik, Beiheft 4

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abzusichern, kann bezweifelt werden. Ein Verbot der Stromerzeugung aus Kernenergie gehört nicht in die Verfassung, sondern in das parlamentarisch verantwortete Gesetz.17 Es gibt ohne Zweifel einige Ungereimtheiten des Grundgesetzes, die einer Änderung bedürfen. So ist im Grundgesetz noch immer vielfach von den „Europäischen Gemeinschaften“18 oder der „Europäischen Gemeinschaft“19 die Rede, obwohl diese mit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags 2009 in der Europäischen Union aufgegangen sind.20 Um dieses textliche Ärgernis zu beseitigen, bedarf es freilich nur einer Rechtsbereinigung, aber keiner inhaltlichen Änderungen. Gleichwohl sind es häufig internationale Verpflichtungen, die eine Änderung der Verfassung gebieten oder eine „konstitutionelle“ Antwort verlangen. Mit dem Europarecht ließ sich der 1993 eingeführte Art. 23 GG als neuer „Europa-Artikel“ rechtfertigen21 und mit dem Völkerrecht ließe sich die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung plausibel machen. Kann man aber auch mit dem Pariser Klima-Abkommen argumentieren, um den Klimaschutz im Grundgesetz explizit zu machen? Zwar ist es überdenkenswert, einen neuen Art. 20a Abs. 1 S. 2 GG zu schaffen, wonach „für die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich verbindliche Ziele und Verpflichtungen des Klimaschutzes alle staatliche Gewalt unmittelbar binden“ sollen.22 Jedoch wirft eine inhaltliche Bindung manche Frage auf. Nicht richtig ist es, diesem Vorschlag ein Missverständnis über die Rechtsnatur und -struktur des Paris-Abkommens vorzuhalten.23 Völkerrechtlich wird zwar keine Erfolgspflicht, sondern nur eine Handlungspflicht statuiert.24 Auch ist richtig, dass die verbindliche Zielvorgabe des 2 Grad Ziels völkerrechtlich nicht einfach auf die einzelnen Vertragsparteien heruntergebrochen werden kann. Das hindert aber nicht den verfassungsändernden Gesetzgeber, völkerrechtliche Vorgaben verfassungsrechtlich zu schärfen und damit auch als Prüfungsmaßstab für die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers zu etablieren. Ob man sich das wünschen soll, steht auf einem anderen Blatt und wird angesichts der Kritik an einer „ÜberKonstitutionalisierung“ skeptisch beurteilt. Zwar wird häufig gesehen, dass materielle Aufladungen der Verfassung demokratietheoretischen Bedenken ausgesetzt sind. So ist der Vorschlag, die Vorgaben des inter17 J. Saurer, Stellungnahme für die öffentliche Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages am 11. 02. 2019, https://www.bundestag.de/resource/blob/ 592666/d993e4e296 93799bcc1b699c3353410e/A-Drs-19 – 4 – 214-E-data.pdf. 18 Art. 16a, 106 Abs. 1 Nr. 7, 108 Abs. 1 S. 1 GG. 19 Art. 28, 87d, 109 Abs. 5 GG (anders Art. 109a Abs. 2 GG). 20 Siehe auch J. Hoffmann, ZRP 2019, 89. 21 Dazu C. Franzius, EuR 2019, 365, 366 ff. 22 Dazu W. Cremer, ZUR 2019, 278. 23 So aber A. Proelß, Sachverstä ndige Stellungnahme fü r die ö ffentliche Anhö rung des Ausschusses fü r Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages am 11. 02. 2019, https://www.bundestag. de/resource/blob/592480/9e41606ef8bf3a5432732c669022869 f/A-Drs-19 - 4 - 214-B-data. pdf. 24 Zum Paris-Abkommen C. Franzius, EurUP 2017, 166; ders., ZUR 2017, 515. 46

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nationalen Klimaschutzrechts an die Rechtswirkungen des Art. 25 GG anzulehnen, nicht so zu verstehen, dass die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“, wozu das Völkergewohnheitsrecht gehört, ohne hinreichende Abstützung in einem deutschen Zustimmungsgesetz, wie es Art. 59 Abs. 2 GG für das Völkervertragsrecht fordert, mit einem normhierarchischen Vorrang vor dem Gesetzesrecht ausgestattet werden. Sollen „völkerrechtlich verbindliche“ Ziele und Verpflichtungen des Klimaschutzes die Staatsgewalt verfassungsrechtlich binden, kann das nur als Verweis auf das Erfordernis eines Zustimmungsgesetzes verstanden werden. So entsteht aber im Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Erweiterung des Art. 20a GG mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Verantwortung für die künftigen Generationen, wozu das Bundesverfassungsgericht auch das globale Klima zählt, eine problematische Mischform zwischen universellem Völkerrecht im Sinne des Art. 25 GG, transformiertem Völkerrecht im Gesetzesrang gemäß Art. 59 Abs. 2 GG sowie einer eigenen Kategorie von Völkerrecht mit Verfassungsrang, die sich normhierarchisch nur schwer abbilden lässt.25 Erneut zeigt sich, dass es ungeachtet aller Ausgestaltungsfragen im Detail schwer fällt, eine materielle Aufladung der Verfassung verfassungstheoretisch überzeugend zu begründen. Mein zentraler Punkt – und zugleich die These – ist, dass es bei der CO2-Bremse gerade nicht um inhaltliche Festlegungen, sondern um prozedurale Fragen der Rechtserzeugung geht, zu denen die Verfassung auch Aussagen treffen muss, die schärfer gefasst werden könnten. Hilfreich ist der Vergleich mit dem hier kritisch betrachteten Vorschlag für den Klimaschutz als Staatszielbestimmung. Die CO2-Bremse ist als Prüfauftrag konkreter gefasst, im Grunde ähnlich wie die Umweltverträglichkeitsprüfung. Wir sollten es als ein verfahrensrechtliches Instrument begreifen, das europäische und internationale Entwicklungen aufgreift, aber unserer Tradition in der Fokussierung auf das materielle Recht widerspricht, weil es gerade nicht um eine neue Staatszielbestimmung geht. Denn es macht einen Unterschied, ob die Verfassung inhaltlich oder prozedural „aufgeladen“ werden soll. Inhaltliche Bindungen des Gesetzgebers drohen den politischen Prozess zu ersetzen, verfahrensrechtliche Bindungen dagegen stukturieren den politischen Prozess. Weil nicht nur die bürokratischen Auswirkungen und Kosten, sondern auch die CO2-Auswirkungen eines Gesetzesvorhabens ermittelt werden sollen, ließe sich das freilich auch in der Geschäftsordnung regeln. Warum sollte diese Prüfung in die Verfassung aufgenommen und damit einer gewissen Statik unterworfen werden? Dass der Vorschlag in Zeiten der Klimakrise eine erhöhte Aufmerksamkeit erhält, mag ein Überdenken der Klimapolitik anregen. Ist es aber sinnvoll, dafür das Grundgesetz zu ändern?

25 Saurer, Stellungnahme (Fn. 11). Recht und Politik, Beiheft 4

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III. CO2-Bremse? Unklar ist zunächst, was sich hinter der plakativen Forderung einer CO2-Bremse verbirgt. Soll nur ein bestimmtes Treibhausgas – eben CO2 – erfasst werden? Klimaschädlich sind auch andere Treibhausgasemissionen wie zum Beispiel Methan. Wenn von einer CO2-Bremse die Rede ist, kann nicht nur ein Treibhausgas (und auch nicht nur ein Sektor) in den Blick genommen werden, so bedeutsam eine CO2-Reduzierung für die Bekämpfung des Klimawandels auch sein mag. Was genau zu untersuchen sein soll, bedarf jedoch der Konkretisierung. Missverständlich ist es, von einer „Bremse“ zu sprechen. Vorbild soll die 2009 in das Grundgesetz eingeführte „Schuldenbremse“ sein. Mit der Schuldenbremse im Grundgesetz wird die strukturelle, also von der Konjunktur unabhängige, staatliche Neuverschuldung für die Länder verboten und für den Bund auf maximal 0,35 % des Bruttoinlandsprodukts beschränkt. Wie übermäßige Schulden belastet auch eine durch den Menschen verursachte Erhöhung der CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre nachfolgende Generationen. So unbestreitbar die Folgen der Klimakrise auch sind, fragt sich doch, ob neben dem Bund auch die Länder und Kommunen analog der Schuldenbremse verpflichtet werden sollten, gehen letztere doch häufig mit gutem Beispiel voran.26 Anders als der Bund haben die Länder bereits Klimaschutzgesetze erlassen und es sprechen nicht nur politische Gründe der vereinfachten Realisierbarkeit dafür, die Regelung auf Bundesgesetze zu beschränken. Der verfassungsändernde Gesetzgeber ist jedenfalls gut beraten, die klimapolitische Verantwortung des Bundes nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Forderung, dass sich alle Entscheidungen am Klimaschutz messen lassen müssen, darf nicht verdecken, dass die Aufnahme einer CO2-Bremse in das Grundgesetz keine Verpflichtung privater Emittenten begründen, aber auch nicht als allgemeiner Klimavorbehalt alle Gliederungen des Staates adressieren dürfte, sondern als Prüfpflicht des Bundesgesetzgebers statuiert werden sollte.

IV. Prozedurale Antwort auf ein materielles Problem Dass CO2 ein zentrales Klimaproblem darstellt, wird nicht bestritten.27 Und die Reduktion von Treibhausgasemissionen wird befördert, wenn man in der Verfassung deutlich macht, dass die CO2-Bilanz von Gesetzesvorhaben zu prüfen ist. Der Vorschlag verbietet keine Gesetze, die negative Auswirkungen auf die CO2-Bilanz haben, will aber wie die Umweltverträglichkeitsprüfung ein Bewusstwerden des Problems sicherstellen, 26 So sieht in Bremen der rot-grün-rote Koalitionsvertrag v. 01. 07. 2019 einen Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2023 vor, vgl. http://spd-land-bremen.de/Binaries/Binary_6296/ Entwurf-Koalitionsvertrag-2019 – 07 – 01.pdf. 27 Anders lässt sich der beschlossene Kohleausstieg nicht erklären, mag über den Weg auch noch gerungen werden, vgl. zu den Empfehlungen der Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung O. Däuper, EnWZ 2019, 153; S. Klinski, ER 2019, 104. 48

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um die Klimaziele nicht zu verfehlen. Ob das einer dauerhaften Verankerung auf Verfassungsebene bedarf, kann bezweifelt werden, soll doch eine Treibhausgasneutralität bis 2050 erreicht werden. Es könnte sich also um eine vorübergehende und damit entbehrliche Regelung handeln, die überflüssig zu werden scheint, wenn kein klimaschädliches CO2 mehr emittiert wird. Spricht das gegen die Aufnahme einer CO2-Bremse in das Grundgesetz? Immerhin haben wir noch 30 Jahre bis zur zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts. Zu bedenken ist jedoch, dass die volkswirtschaftlichen Kosten immer höher werden, je länger mit einer beherzten Reduktion von CO2-Emissionen gewartet wird.28 Zu erwarten, die erforderlichen Maßnahmen ließen sich über den Markt gewissermaßen von allein erreichen, wird der Brisanz des Klimawandels nicht gerecht. Und dass sich die Regelung überflüssig machen soll, spricht nicht gegen eine verfassungsrechtliche Verankerung. Denn eine solche Regelung bliebe auch nach 2050 sinnvoll, um eine Treibhausgasneutralität auf Dauer sicherzustellen. Auf das materielle Problem des Klimawandels gibt der Vorschlag eine prozedurale Antwort, die sich von anderen Vorschlägen, den Klimaschutz verfassungsrechtlich zu stärken, unterscheidet. Es geht nicht unmittelbar darum, den CO2-Ausstoß verfassungsrechtlich zu reduzieren, sondern um eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Wissensgenerierung. Der Gesetzgeber soll sich durch einen Prüfauftrag der CO2Auswirkungen von Gesetzesvorhaben bewusst werden. Das dürfte Kompensationen einschließen, um CO2-Emissionen vor dem Hintergrund der beschlossenen Klimaziele rechtfertigen zu können. Sicherlich wird stets darüber gestritten werden können, ob ein Vorhaben als „klimaneutral“ ausgewiesen werden kann und die Reichweite des Prüfauftrags – und der Prüfdichte – bleibt unsicher. Wie auch immer die konkrete Ausgestaltung aussehen mag – erhöht wird die politische Rechtfertigungslast für treibhausgasschädliche Gesetzesvorhaben.29 Es gibt eine Reihe an Vorschlägen, die Politik stärker auf den Klimaschutz zu verpflichten und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein existenzielles Problem eine materiell-rechtliche Antwort verlangt. Weil der Klimawandel in erster Line nachfolgende Generationen betrifft, ist seine explizite Aufnahme in der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG mit der Bezugnahme auf die völkerrechtliche Verpflichtungen aus dem Paris-Abkommen nicht unplausibel, trifft in der vorgeschlagenen Ausgestaltung aber auf demokratietheoretische Bedenken. Das gilt auch für den Vorschlag des Sachverständigenrates für Umweltfragen, das Bundesumweltministerium mit einem aufschiebenden Veto in der Bundesregierung auszustatten, um klimaschädliche Geset28 Darauf gibt es noch keine verfassungstheoretisch überzeugende Antwort. Das Zeitproblem bekommt im Klimawandel angesichts der drohenden „Kipp-Punkte“ ein neues Gewicht. 29 Das ist erkennbar das Ziel der Regelung. Politisch wird von einer Beweislastumkehr gesprochen, vgl. C. Schröpf, Feuer aus knallgrünen Wahlkampfrohren, https://www.mittelbayerische. de/politik/europawahl-nachrichten/feuer-aus-knallgruenen-wahlkampfrohren-24394art1782118.html. Recht und Politik, Beiheft 4

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zesvorhaben zumindest verzögern zu können. Die Möglichkeit, solche Gesetze zu bremsen, soll auch ein neu zu schaffender „Rat für Generationsgerechtigkeit“ erhalten, was in ein Spannungsverhältnis zum Prinzip der parlamentarischen Demokratie treten würde, sich aber in den Trend einfügt, parteipolitisch für neutral gehaltenen Sachverstand in die legislative Steuerung einzubauen.30 Den bekannten, aber mit dem Klimawandel an Bedeutung gewinnenden Antagonismus zwischen Kurzzeitlegitimation und Langzeitverantwortung31 einer überzeugenden Lösung zuzuführen, fällt nicht leicht, ließe sich aber mit einer CO2-Bremse als Prüf- und Darstellungspflicht der Legislative demokratieverträglich abmildern. Orientierung liefert die Umweltverträglichkeitsprüfung, die zwar von der Exekutive durchzuführen ist, aber für den Gesetzgeber nicht irrelevant ist. Auch in der Geschäftsordnung bliebe eine solche Bremse nicht völlig wirkungslos, ließe sich aber nicht gerichtlich kontrollieren. Nimmt man eine solche CO2-Bremse dagegen im Grundgesetz auf, könnte die Einhaltung im Wege der abstrakten Normenkontrolle einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterzogen werden. Zwar mag die Bezugnahme auf das ungeliebte Instrument der Umweltverträglichkeitsprüfung manche Frage aufwerfen, wird sie doch als verfahrensrechtliches Instrument für schwach gehalten. Schmerzhaft waren in Deutschland aber die Erfahrungen hinsichtlich ihrer gerichtlichen Kontrolle, die vor allem der EuGH durchsetzte.32 Und gegenüber einer Einhaltung von Verfahrensvorschriften des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht lässt sich wenig sagen, ginge es dabei doch nicht um eine problematische Ersetzung, sondern um die Strukturierung des politischen Prozesses. Das wird vorliegend für entscheidend gehalten und weist den Weg für die richtige Verortung im Grundgesetz.

V. Wo ist der richtige Ort im Grundgesetz? Wo aber ist der richtige Ort im Grundgesetz? Sicherlich mag eine Anknüpfung an der Nachhaltigkeit sinnvoll sein. So könnte die CO2-Bremse entbehrlich sein, käme auch die Nachhaltigkeit in die Verfassung. Manche fordern sogar eine Aufnahme in Art. 20 GG statt in Art. 20a GG, um sie dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers zu entziehen.33 Könnte man sich damit nicht begnügen? Eine Prüfung der CO2-Bilanz

30 SRU, Demokratisch regieren in ökologischen Grenzen – Zur Legitimation von Umweltpolitik, Sondergutachten 2019, S. 143 ff. 31 M. Kloepfer, in: Gethmann/Kloepfer/Nutzinger, Langzeitverantwortung im Umweltstaat, 1993, S. 22, 26 ff. 32 EuGH, Urt. v. 11. 08. 1995, C-431/92 Großkrotzenburg, ECLI:EU:C:1995:260; Urt. v. 21. 07. 2016, C-387/15 u. C-388/15 Orleans u. a., ECLI:EU:C:2016:583; dazu C. Franzius, NVwZ 2016, 1552; Urt. v. 20. 12.2017, C-664/17 Protect, ECLI:EU:C:2017:987; dazu C. Franzius, NVwZ 2018, 219. 33 H.-J. Papier, Nachhaltigkeit als Verfassungsprinzip. Gutachten erstattet im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), Mai 2018. 50

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Eine CO-Bremse in das Grundgesetz?

eines Gesetzesvorhabens würde darüber aber nicht erreicht. Es bedürfte der Konkretisierung und Ausgestaltung, vorzugsweise im Gesetz. Würde man Art. 20a GG um einen weiteren Absatz einer CO2-Bremse erweitern, hätte man ein neues Staatsziel, was die Frage aufwirft, ob es über die Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Art. 20a GG als Staatszielbestimmung gelungen ist, dem Ziel eines verbesserten Schutzes näher zu kommen. Man könnte an einen neuen Art. 1 Abs. 4 GG denken, der sicherlich die stärkste Kraft entfalten würde. Aber als verfassungsrechtliche Verpflichtung, jedes Gesetzesvorhaben auf seine CO2-Auswirkungen zu prüfen, wäre dies abgesehen von Zweifeln der Verortung bei oder vor den Grundrechten kaum der richtige Ort. Wo also ist der systematisch richtige Ort für eine CO2-Bremse? Orientierung sollte nicht im materiellen Verfassungsrecht – wie in Art. 20a GG oder in den Grundrechten – gesucht werden, sondern im Verfahrensrecht, das mit Blick auf das Gesetzgebungsverfahren zu den unbestrittenen Bestandteilen einer Verfassung gehört.34 Das gilt auch für Verfassungen, die nicht so stark grundrechtlich dominiert sind wie das Grundgesetz, also solchen Verfassungen, die politischen Entscheidungen mehr Raum geben. Verortet man die Regelung beim Gesetzgebungsverfahren, würde deutlich werden, dass der politische Prozess nicht ersetzt, sondern verfahrensrechtlich struktuiert würde. Hierüber würde lediglich der Bund, nicht aber die Länder und Gemeinden verpflichtet werden. Die berechtigten Einwände, die eine „Überkonstitutionalisierung“ des Rechts beklagen, greifen hier nicht. Freilich ist auch die allgemeine Gesetzesfolgenabschätzung nicht verfassungsrechtlich fundiert. Insoweit wäre schon eine neue Konstitutionalisierungsstufe erreicht, die keineswegs völlig bedenkenfrei ist. Allerdings geht es nicht um eine inhaltliche Aufladung der Verfassung, sondern um eine prozedurale Spezifizierung: Art. 76 GG könnte um einen Absatz 4 dergestalt ergänzt werden, dass ein Prüfauftrag auf Verfassungsebene normiert wird. Anders als das vorgeschlagene Verbot der Stromerzeugung aus Kernenergie würde CO2 nicht verboten, sondern eine verfahrensrechtliche Verpflichtung normiert, sich der klimaschädlichen Auswirkungen eines Gesetzesvorhabens bewusst zu werden. Verfassungspolitisch spricht nichts dagegen, einen neuen Art. 76 Abs. 4 GG zu schaffen, wonach in den Bundestag eingebrachte Gesetzesvorhaben auf ihre CO2-Auswirkungen zu prüfen sind. Es bleibt die Frage, ob es sinnvoll ist, die Zielsetzung der Prüfpflicht dahingehend zu schärfen, dass es um die Einhaltung der völkerrechtlichen Zielvorgaben geht. Nicht, weil es mit der Normenhierarchie nicht zu vereinbaren sei. Völkerrecht gilt im Rang eines Bundesgesetzes in Deutschland, kann den Gesetzgeber also pauschal nicht binden, mag ein „democratic override“ auch Fragen aufwerfen.35 Hier droht übersehen zu werden, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber frei ist, sich einer stärkeren Bindung an das Umweltvölkerrecht zu unterwerfen. Aber eine dynamische Verweisung ist abzulehnen. Was heute Sinn machen mag, weil das Paris-Abkommen den Weg der 34 C. Waldhoff, Was gehört ins Grundgesetz?, FAZ v. 20. 12. 2018, S. 6. 35 BVerfGE 141, 1 mit Sondervotum D. König. Recht und Politik, Beiheft 4

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Zielerreichung den Vertragsstaaten belässt, kann schon morgen Fragen aufwerfen, weil sich das Völkerrecht weiterentwickelt.36 Anders sieht es aus, wenn man den Gedanken aus dem weitergehenden Vorschlag aufgreift und nur solche Zielvorgaben in ihrer Verbindlichkeit für maßgeblich erklärt, denen der Gesetzgeber zugestimmt hat. Das wäre kein Schuss ins Blaue, sondern eine Stärkung des Zustimmungsgesetzes. Es kann nicht sein, dass Deutschland sich zum Ziel bekennt, den Temperaturanstieg auf deutlich unter 2 Grad zu begrenzen, aber die Verfehlung der eigenen Ziele in Kauf nimmt, weil es an koordinierten Reduktionsmaßnahmen für Treibhausgasemissionen fehlt. Das angekündigte Bundesklimaschutzgesetz37 erhielte durch die CO2-Bremse eine verbesserte Effektivität, mag eine Einklagbarkeit auch an Grenzen stoßen.

VI. Ausblick Ob die Bundestagsfraktion der Grünen an der CO2-Bremse im Grundgesetz festhält, ist unsicher, wurde dieses Anliegen im jüngsten Antrag doch nicht aufgegriffen. Versteht man die „CO2-Bremse“ als verfahrensrechtliches Instrument, spricht aber weder ein negativer Verfassungsvorbehalt noch die Funktion der Verfassung, demokratische Politik zu ermöglichen, gegen ihre Aufnahme in das Grundgesetz. Gewiss wäre es ein Novum, vielleicht aber auch ein trojanisches Pferd. Das hier vorgeschlagene verfahrensrechtliche Verständnis erleichtert die Gewinnung der erforderlichen Mehrheiten für eine Verfassungsänderung, verbietet sie doch nicht den Ausstoß von CO2 oder anderen Treibhausgasen. Als Prüfpflicht verlagert sich aber die Rechtfertigungslast zum Gesetzgeber, der in der Ausgestaltung im Detail selbst zu verantworten hat, wie „scharf“ diese Pflicht wahrgenommen wird. Das unterliegt der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, das dafür Sorge zu tragen hätte, dass eine tatsächliche Prüfung auch stattfindet. Floskelhaften Beteuerungen, dass ein Gesetzesvorhaben keine klimaschädlichen Auswirkungen habe, könnte so Einhalt geboten werden. Weil die CO2-Bremse nicht materiell-rechtlich, sondern „nur“ verfahrensrechtlich einklagbar ist, greifen die Bedenken gegenüber einer solchen „konstitutionellen“ Antwort nicht. Eine große Lösung des Klimaproblems wäre eine Ergänzung des Art. 76 GG sicherlich nicht, aber der Druck, sich der eigenen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Klimawandel bewusst zu werden, würde nicht unmaßgeblich erhöht. Das ist nicht viel, wäre aber auch nicht wenig.

36 Das Umweltvölkerrecht nähert sich mit den COP-Entscheidungen zum Paris-Abkommen dem Europarecht an, dessen Sekundärrecht nur mittelbar an die Zustimmung der Mitgliedstaaten zum Primärrecht zurückgebunden ist. Inwieweit völkerrechtliche „Sekundärnormen“ rechtsverbindliche Pflichten schaffen können, ist häufig unklar; dafür C. F. Germelmann, AVR 52 (2014), 325, 341 ff.; dagegen S. Boysen, AVR 50 (2012), 377, 400, 403. 37 Zum Entwurf eines Klimaschutzgesetzes siehe den BMU-Referentenentwurf v. 18. 02. 2019, vgl. https://www.klimareporter.de/images/dokumente/2019/02/ksg.pdf. 52

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Staatsziel Kultur und kulturelles Erbe* Von Ernst-Rainer Hönes

I. Einführung Zahlreiche Staaten Europas haben in ihren Verfassungen Aussagen zum Schutz und zur Pflege der Kultur und des kulturellen Erbes aufgenommen.1 Das „Europarecht“ bildet das begriffliche Dach nicht nur für die rechtliche Ordnung der Staaten des Europarats, sondern auch für die institutionalisierte Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU). Nach Art. 151 Abs. 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) leistet seit 1993 die Gemeinschaft einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes. Deshalb fördert die Gemeinschaft nach Art. 151 Abs. 2 EGV Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung. Folglich ist der Begriff des kulturellen Erbes bereits durch Art. 151 (ex-Artikel 128) in der EU vorgegeben. Mit der Einfügung eines neuen Titels „Kultur“ in den Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 19922 war der Streit um eine Kulturkompetenz der EG/EU entschieden.3 Da die EU bei der Förderung des gemeinsamen kulturellen Erbes meist nur subsidiär tätig werden darf,4 bedarf es einer glaubwürdigen Umsetzung dieses kulturellen Auftrags im Grundgesetz, denn dem Grundgesetz ist bisher ein Bekenntnis zum Kulturstaat oder zum Schutz des kulturellen Erbes nicht zu entnehmen.5 Nachdem die EU nun das Europäische Kulturerbejahr 2018 ausgerufen und Deutschland dabei aktiv mitgewirkt hatte,6 ist ein weiterer Verzicht auf eine Kulturstaatsklausel im Grundgesetz nicht mehr zu rechtfertigen. Schließlich haben sich in Deutschland im Unterschied zum Bund fast

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Zuerst in: RuP 3/2019, 241 – 256. Sommermann, VVDStRL 65 (2006), S. 17; Hammer, DÖV 1999, S. 1037. ABlEG Nr. C 191/1 vom 29. 7. 1992. Hönes, Handbuch Städtebaulicher Denkmalschutz, Teilband 1, 2015, S. 89; Odendahl, Kulturgüterschutz, 2005, S. 219. Radloff, Kulturgüterrecht, 2013, S. 264; Hönes, VR 2012, 361 (370). Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, BT-Drks. 16/7000, S. 69 f. Hönes, Entstehung des städtebaulichen Denkmalschutzes, 2018, Erl. 19, S. 749.

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Ernst-Rainer Hönes

alle Länder zum Schutz und zur Pflege der Kultur und der Denkmäler der Natur und Kultur bekannt.7 Also muss zum 70-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes von 19498 und zugleich dem 100-jährigen Jubiläum der Weimarer Reichsverfassung von 19199 und dem 30-jährigen Jubiläum des Beginns der deutschen Einigung der Frage nachgegangen werden, warum ergänzend zu dem 1994 mit Art. 20a GG eingeführten „Umweltstaat“ nicht auch der „Kulturstaat“ in geeigneter Weise im Grundgesetz berücksichtigt wird. Schließlich besteht nach Feststellung der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ im Vergleich zur Weimarer Reichsverfasssung eine verfassungsrechtliche Lücke.10 Diese Lücke wurde auch nicht durch das Bekenntnis des Bundesverfassungsgerichts zum Kulturstaat geschlossen, zumal sich diese Entscheidungen mit Bezug zu Art. 5 Abs. 3 GG auf andere Bereiche der Kultur (z. B. Hochschulen)11 beschränkten. Da die gesetzlich formulierten Ziele zum Schutz der Natur und Kultur seit dem hessischen Gesetz, den Denkmalschutz betreffend, vom 16. Juli 190212 als Teil des damaligen Kulturverwaltungsrechts verschwistert sind,13 war es folgerichtig, dass die von der Bundesregierung eingesetzte Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen/ Gesetzgebungsaufträge“ 1983 sich für die Aufnahme einer Staatszielbestimmung, die gleichermaßen die kulturellen und natürlichen Lebensgrundlagen schützt, ausgesprochen hat.14 Nach Art. 5 Einigungsvertrag (EVertr.) vom 31. August 199015 haben die damaligen beiden Vertragsparteien den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands empfohlen, sich mit den Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz zu befassen, wobei Art. 35 Abs. 1 Satz 1 EVertr. festhielt, dass in den Jahren der Teilung Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation waren. Auf dem Weg zur deutschen Einigung wurde in Art. 35 Abs. 1 Satz 2 EVertr. die Bedeutung Deutschlands als Kulturstaat gewürdigt. Das hinderte die zur Vorbereitung dieser Aufgabe eingerichtete gemeinsame Verfassungskommission 7 8 9 10 11

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Hönes, VR 2019, S. 109. J. Ipsen, RuP 2019, S. 1 und die Beiträge in RuP 2/2019. Gusy, RuP 2009, S. 74. BT-Drucks. 16/7000, S. 69. BVerfGE 35, 79 (114); BVerfGE 111, 333 (353); a. A. Die gemeinsame Verfassungskommission in BT-Drks. 12/6000, S. 82. Reg.-Bl. S. 275; Wagner, Die Denkmalpflege in Hessen, 1905; Hönes, Zum hessischen Denkmalschutzgesetz vom 16. Juli 1902, in: Landesamt für Denkmalpflege Hessen (Hrsg.), 100 Jahre Denkmalschutzgesetz in Hessen, 2003, S. 48; ders., NuR 1986, S. 225. Hönes, NuR 1986, S. 225. BT-Drucks. 16/7000, S. 70; zur Diskussion siehe Stern, Staatsziele und Staatsaufgaben in verfasssungsrechtlicher Sicht, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1984, S. 9 f. BGBl. II S. 889.

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(GVK) nicht daran, am 28. Oktober 1993 u. a. lediglich die Staatsziele „Umweltschutz“ und „Rechte ethnischer Minderheiten“ als neue Art. 20a und b GG zu empfehlen, so dass andere Verfassungsergänzungen wie Arbeit, Wohnung, soziale Sicherheit, Bildung und Kultur nicht befürwortet wurden. Folglich schützt nun der Staat nach Art. 20a GG auch in Verantwortung für die künftigen Generationen nur die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.16 Eine Definition der „natürlichen Lebensgrundlagen“ fehlt in der 1994 eingefügten Regelung bislang. Da das deutsche Umweltrecht immer stärker durch das europäische Umweltrecht geprägt wird, engen diese Bindungen die Gestaltungsfreiheit, die dem Gesetzgeber im Rahmen des Art. 20a GG bleibt, wesentlich ein.17 Da der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen nun in Art. 20a GG verankert ist, braucht eine Ableitung von Umweltschutzaspekten aus Art. 2 Abs. 2 GG hier nicht mehr diskutiert werden.18 Obwohl man zu den natürlichen Lebensgrundlagen auch die Tierwelt zählt,19 wurde zusätzlich mit dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 26. Juli 200220 der Schutz der Tiere aufgenommen. Somit ist der Tierschutz gleichrangig mit sonstigen Verfassungsprinzipien, während der verfassungsrechtlich Schutz der Kultur und des kulturellen Erbes von der parlamentarischen Mehrheit nicht gewollt war. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands ist der Kulturstaat des Grundgesetzes zwar nominell derselbe geblieben, „in Wahrheit jedoch substantiell ein anderer geworden“,21 wie Werner Maihofer zutreffend betont hat. Zugleich hat der damals neue Art. 20a GG die Gesamtbalance der bisherigen Verfassung verändert.

II. Initiativen zum Staatsziel Kultur In der alten Bundesrepublik ebenso wie der wiedervereinigten Republik hat es an parlamentarischen Initiativen zur Einfügung eines Staatsziels „Kultur“ ins Grundgesetz nicht gefehlt. Zentrale Bedeutung kommt der Tätigkeit der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ mit ihrem Zwischenbericht „Kultur als Staatsziel“ vom 1. Juni

16 Vgl. für den Vorranganspruch des Gemeinschaftsrechts Prelle, Die Umsetzung der UVPRichtlinie in internationales Recht und ihre Koordination mit dem allgemeinen Verwaltungsrecht, 2001, S. 24 f; und Dederer, Genzüberschreitender Umweltschutz, in: IsenseeKirchhof (Hrsg.), HStR XI, 3. Aufl. 2013, S. 857/882, Rn. 67 f. 17 Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 20a Rn. 55a. 18 Siehe Katalyse-Umweltgruppe (Hrsg.), Umwelt-Lexikon, 1985, S. 419 f. „Umweltgrundrecht“; Rupp, JZ 1971, 401 f.; ders., DVBl. 1985, 990 f. 19 Klöpfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 3 Rn. 13. 20 BGBl. II S. 2826. 21 Maihofer, Kulturelle Aufgaben des Staates, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 25, Rn. 98, S. 1250. Recht und Politik, Beiheft 4

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200522 und dem Schlussbericht vom 11. Dezember 200723 zu. Einstimmig wurde von der Kommission im Deutschen Bundestag als Staatsziel ein neuer Art. 20b GG mit folgender Formulierung empfohlen: „Der Staat schützt und fördert die Kultur.“ Von den Abgeordneten und der Fraktion der FDP wurde als wichtiges rechtliches und politisches Signal unter Bezug auf die Arbeit der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ deren Formulierung für einen Art. 20b GG „Der Staat schützt und fördert die Kultur“ im Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Staatsziel Kultur) übernommen.24 Dem folgte der Gesetzesantrag des Landes Berlin im Bundesrat vom 29. August 2008 unter Bezug auf Art. 35 EVertr. zur Änderung des GG ebenfalls mit der Formulierung „Der Staat schütz und fördert die Kultur.“25 Die Fraktion der SPD brachte am 11. September 2012 den Entwurf eines Gesetzes zur Aufnahme von Kultur und Sport in das Grundgesetz ein, der von Frank Walter Steinmeier und Fraktion unterzeichnet wurde.26 Damit sollte der bisherige Art. 20a GG um folgenden Satz erweitert werden: „Er schützt und fördert ebenso die Kultur und den Sport.“ Somit ging es neben den natürlichen Lebensgrundlagen auch um die geistigideellen Lebensgrundlagen.27 Die Fraktion DIE LINKE, die schon am 6. Juni 2015 die Förderung des Sports zur Aufgabe des Staates machen wollte,28 forderte mit Antrag vom 25. September 2012 den Bundestag auf bei der Bundesregierung „darauf hinzuwirken, Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern, auf der Grundlage der Empfehlung der Enquete-Kommission ,Kultur in Deutschland‘.“ In der Wochenzeitung Das Parlament hat sich die Kulturstaatsministerin Monika Grütters am 15. Oktober 2018 weiterhin für die Aufnahme eines Staatsziels Kultur ins Grundgesetz ausgesprochen, so dass diese Frage nach einer Selbstverpflichtung des Staates weiterhin aktuell bleibt. Zum 70-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes ist somit festzuhalten, dass die Anträge zur Aufnahme eines Staatsziels Kultur bisher die notwendige Zweidrittelmehrheit im Bundestag verfehlten.

III. Positionen der Staatsrechtslehrer Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer befasste sich 1983 mit dem „Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen“.29 Udo Steiner kam damals zu folgendem Ergebnis: „Die Aufnahme einer Kulturklausel (Kulturstaatsklausel oder Kulturschutz-

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BT-Drks. 15/5566. BT-Drks. 16/7000, S. 68 f. BT-Drks. 16/387. BR 646/08. BT-Drks. 17/10644. Begründung BT-Drks. 17/10644, S. 3. BT-Drks. 17/6152. VVDStRL 42, S. 7 – 146. Recht und Politik, Beiheft 4

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und Kulturpflegeklausel) in das Grundgesetz wird nicht empfohlen.30 Dieter Grimm kam unter Bezug auf Art. 1 und 2 Abs. 1 GG zu dem Ergebnis, dass eine ausdrückliche Kulturstaatsklausel, wie sie die Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge“ in Ergänzung zu Art. 20 und 28 GG vorgeschlagen hat, keine konstitutive Bedeutung hätte.31 In seinem historischen Rückblick stellte er einen Bezugspunkt von Mensch und Staat im 18. Jahrhundert dar, der dann ohne Würdigung der Weimarer Verfassung mit dem Hinweis endet, dass es dem Nationalsozialismus vorbehalten blieb, „der alle kulturellen Lebensbereiche wieder politischen Zielen unterordnete, wenn schon nicht durchgehend verstaatlichte“.32 Auch wenn es auf der Tagung in der Aussprache Stimmen gab, die ein Staatsziel Kultur befürworteten, war die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer nicht Motor der Kulturstaatsidee. Kultur blieb mit dem Thema „Kultur im Verfassungsstaat“ auf der 65. Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 2005 weiter ein Beratungsgegenstand. Ertragreich war der Beitrag von Karl-Peter Sommermann, der nicht nur zum nationalen Kulturverfassungsrecht in Europa referierte, sondern auch die Pflege des kulturellen Erbes vom Kriegsvölkerrecht bis zum Unesco-Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt von 1972 einbezog.33 Einer der wichtigsten Leitsätze seines Beitrags lautet: „Zu empfehlen ist, das Grundgesetz nicht durch eine globale Staatszielbestimmung ,Kultur‘, sondern durch eine konkreter und damit enger auf den Schutz des kulturellen Erbes abhebende Klausel zu ergänzen. Durch die Hinzufügung der Worte ,das kulturelle Erbe‘ könnte der Art. 20a GG wie folgt lauten: ,Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen das kulturelle Erbe, die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere‘.“34 Dieser Vorschlag soll auch aus verwaltungspraktischen Gründen hier im Mittelpunkt stehen.

IV. Die Kunstfreiheitsgarantie Wenn es um Kunst und Kultur geht, wird die in Nachfolge des Art 142 WRV in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG verankerte Kunstfreiheitsgarantie genannt, die in fast allen Landesverfassungen ihre Entsprechung findet. Während Martin Heckel zu dem Ergebnis kommt, dass die Garantie der Kunstfreiheit (i. V. mit dem Denkmalschutzartikel der Landesverfassung) den Schutz gegen eine zerstörende oder verfälschende Behandlung der Kunstdenkmäler sowohl durch den Staat als auch die Mächte der Gesellschaft gewährt,35 geht Udo Steiner davon aus, dass von Verfassung wegen zwar die Freiheit der 30 Steiner, VVDStRL 42, S. 45. 31 Grimm, VVDStRL 42, S. 67 und 81. 32 Grimm, VVDStRL 42, S. 58; zur Reichskulturkammer siehe Hönes, Entstehung (Fn. 6), Erl. 12.1.2, S. 365 f. 33 Sommermann, VVDStRL 65, S. 30. 34 Sommermann, VVDStRL 65, Leitsatz 21, S. 49. 35 Heckel, Staat, Kirche, Kunst, 1968, S. 95; Hönes, Entstehung (Fn. 6), Erl. 18.6.2, S. 725. Recht und Politik, Beiheft 4

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Kunst „geschützt“, nicht aber in ihrer realen Entfaltung allgemein „gestützt“ wird.36 Dagegen spricht, dass auch der Wirkbereich vorhandener baulicher Anlagen mit besonders erhaltenswerter äußerer Gestalt von der Kunstfreiheitsgarantie profitieren kann, falls andere hinzutretende bauliche Anlagen die künstlerische Aussage beeinträchtigen, selbst wenn diese Neubauten als Baukunst ebenfalls von Art. 5 Abs. 3 GG profitieren wollen. „Solche Beschränkungen muss sich die Ausübung der Kunstfreiheit um so eher gefallen lassen, je mehr sie – wie hier die Baukunst – sich in besonderer Weise im Rahmen der Öffentlichkeit abspielt und von dort allgemeine Aufmerksamkeit erfährt und zugleich als Eigentumsausübung starken sozialen Bindungen unterliegt“.37 Dieser Fall (neue Baukunst gegen historische Baukunst) betraf eine um 1910 erbaute Doppelhaushälfte mit reich gegliederter Fassade, die als Teil eines Ensembles (Villenkolonie) in Bayern nach dem Denkmalschutzgesetz geschützte war.38 Somit fügte sich die Gestaltung des Neubaues mit rasterförmig gegliederter Metall-Glasfassade nicht ein,39 so dass der bestehende denkmalgeschützte Bau von der Kunstfreiheitsgarantie profitieren konnte.40

V. Unzureichende Berücksichtigung von Kultur und kulturellem Erbe im Bundesrecht Manche Landesverfassungen beschränken die Adressaten beim Bekenntnis zur Kulturstaatlichkeit. So beschränkt sich die erst nach dem Grundgesetz von 1949 erlassene Verfassung von Nordrhein-Westfalen in der Kultur auf das Land und die Gemeinden. Nach Art. 18 Abs. 1 LV NRW sind Kultur, Kunst und Wissenschaft durch das Land und die Gemeinden zu pflegen und zu fördern.41 Nach Art. 18 Abs. 2 LV NRW stehen die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Kultur, die Landschaft und die Naturdenkmale unter dem Schutz des Landes, der gemeinden und Gemeindeverbände.42 Rechtsgrundlage hierzu ist das Denkmalschutzgesetz von 1980.43 1. Der ehemalige Plenarsaal in Bonn Da sich das Kultur- und Geschichtsverständnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages auch in seinen Parlamentsgebäuden spiegelt, muss vorab der Umgang mit dem ersten Plenarsaal des Deutschen Bundestages erwähnt werden.44 Viele haben wohl 36 37 38 39 40 41 42 43 44

VVDStRL 42 (1984), S. 15. BVerwG, Beschl. v. 27.06. 1991 – 4 B 138.90 – EzD 1.1 Nr. 16. Hönes, Entstehung (Fn. 6), Erl. 13.5.1, S. 554. Sachverhalt bei der Vorinstanz BayVGH, Urt. v. 21.12. 1989 – 2 B 88.3470 – EzD 1.1 Nr. 15. Zum Problem Knies, Schranken der Kunstfreiheit, 1967, S. 229. Grawert, Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen, 3. Aufl. 2012, Art. 18 Rn. 1. Dästner, Die Verfasssung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl. 2002, Art. 18 Rn. 5. Davydov/Hönes/Otten/Ringbeck, Denkmalschutzgesetz Nordrhein-Westfalen, 5. Aufl. 2016. Hönes, Entstehung (Fn. 6), Erl. 1.6, S. 31.

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schon vergessen, dass das von dem Parlamentarischen Rat 1948/49 und danach 1949 für den Deutschen Bundestag in Bonn (Bundeshaus) umgebaute und als Plenarsaal genutzte Gebäude trotz des Widerstandes des Denkmalschutzes Mitte Oktober 1987 abgerissen wurde, obwohl es nach dem Denkmalschutzgesetz NRW von 1980 förmlich geschützt war. In diesem Falle beanspruchte aber nach einem verfassungsrechtlichen Gutachten45 der Bundestag wegen der ihm eigenen Verwaltungsautonomie das Recht darüber zu entscheiden, so dass der Abbruch des alten zugunsten des neuen Plenarsaals erlaubt werden musste.46 Der Münchner Kunsthistoriker Norbert Huse (1941 – 2013) betonte im Vorwort seiner Textsammlung zur Denkmalpflege von 1984 nicht ohne Grund, dass sich eine wirkliche Geschichte der Denkmalpflege den Denkmälern widmen muss und folgert daraus: „Eine wirkliche Geschichte der Denkmalpflege etwa müsste ja von den Denkmalen und ihren Schicksalen ausgehen, nicht von den Absichtserklärungen derer, die sich mit ihr befassten. Parlamentsdebatten sind zwar Teil der Geschichte eines Landes, aber keineswegs die ganze.“47

2. Bundeseigene Bauten Bei bundeseigenen Bauten kommen der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) und dem Haushaltsgesetzgeber besondere Verantwortung zu.48 Hier nimmt die BImA als bundesunmittelbare rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts die ihr vom Bund übertragenen liegenschaftsbezogenen sowie sonstigen Aufgaben eigenverantwortlich wahr.49 Sie ist damit der Immobiliendienstleister des Bundes. Sie hat das Ziel, eine einheitliche Verwaltung des Liegenschaftsvermögens des Bundes nach kaufmännischen Gesichtspunkten vorzunehmen und nicht betriebsnotwendiges Vermögen wirtschaftlich zu veräußern.50 Dabei kann nach der Literatur der Fiskus (BImA) gehalten sein, bei der Verwertung des nicht mehr benötigten Vermögens Denkmäler und sonstige erhaltenswerte Bausubstanz nur an erhaltungswillige Käufer zu veräußern und bei der Bemessung des Kaufpreises die der Denkmaleigenschaft folgenden Erhaltungsverpflichtungen zu berücksichtigen.51 45 Salzwedel, Verfassungsrechtliches Gutachten zu den Rechtsstandpunkten, die vom Deutschen Bundestag und von der Landesregierung NW in einem denkmalschutzrechtlichen Verfahren wegen des Abrisses des alten Plenarsaals vertreten werden, September 1987. 46 Nachweise bei Spiegelhauer, 100 Jahre „Konservieren, nicht restaurieren“?, in: Mainzer (Hrsg.), Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Rheinischen Amtes für Denkmalpflege, 1993, S. 207/234 f.; Mainzer, Bundeshaus. Das Ende des Plenarsaals. Vom Untergang eines einmaligen Baudenkmals, in: Denkmalpflege im Rheinland Bd. 5 1/1988, S. 1 – 7. 47 Huse, Denkmalpflege. Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten, 1984, S. 9. 48 Hönes, DÖV 2019, S. 175 f. 49 § 1 Abs. 1 Satz 3 BImAG (BGBl. 2004 I S. 3235). 50 § 1 Abs. 1 Satz 5 BImAG. 51 Spennemann, in: Martin/Krautzberger (Hrsg.), Handbuch Denkmalschutz und Denkmalpflege, 4. Aufl. 2017, Teil D, Rn. 127, S. 244. Recht und Politik, Beiheft 4

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Gemäß der politischen Entwicklung des durch Art. 20a GG begründeten „Umweltstaats“52 stellt sich die BImA den Herausforderungen, bei ihren Liegenschaften ein systematisches Umweltmanagement zu betreiben. Schließlich gehören „die forstlichen Dienstleistungen einschließlich forstlicher Bewirtschaftung und naturschutzfachlicher Betreuung des Liegenschaftsvermögens des Bundes“ zu ihren Aufgaben.53 Der Umweltschutzgedanke gewinnt bei der Bewirtschaftung und Verwaltung von Liegenschaften zunehmend an Bedeutung.54 Nach der aktualisierten Umwelterklärung 2017 der BImA betreibt sie im „grünen Facility Management“ forstliche und naturschutzfachliche Betreuung auf rund 360.000 Hektar Wald sowie 210.000 Hektar Offenland und Wasserflächen vom Bund sowie von Dritten.55 Also darf es bei der Vorgabe des Art. 20a GG nicht verwundern, wenn die BImA bisher durch Bundesrecht meist nur zur naturschutzfachlichen Betreuung der einschlägigen Liegenschaften verpflichtet wird und nicht zur Betreuung erhaltenswerter Bausubstanz, da dort die Verwaltung des Liegenschaftsvermögens nach kaufmännischen Grundsätzen vorzunehmen ist, wobei das nicht betriebsnotwendige Vermögen wirtschaftlich zu veräußern ist.56 Um die wirtschaftliche Ausgangslage zu verbessern, hat die BImA schon mehrfach vergeblich gegen die Unterschutzstellung von erhaltenswerten Wohnanlagen geklagt.57 Auch andere Dienststellen des Bundes wie die Wehrbereichsverwaltung Nord, Außenstelle Kiel, haben schon gegen die denkmalrechtliche Unterschutzstellung (hier Marseille-Kaserne in Appen) geklagt, weil sie glaubte, dass das Denkmalschutzgesetz auf Liegenschaften mit Sondernutzungsrechten des Bundes keine Anwendung finden dürfe.58 Dabei sollte unstreitig sein, dass der Bund und seine Behörden grundsätzlich an die Landesgesetze gebunden sind, die in der Gesetzgebungskompetenz des Landes erlassen wurden.59 Dies folgt auch aus dem Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens.60 Zu diesen Regelungen gehören auch die Landesdenkmalschutzgesetze, die zumindest beachtet werden müssen.

52 Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 3 Rn. 34, S. 128. 53 § 2 Abs. 1 Satz 2 BImAG. 54 Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, Nebenstelle Trier (Hrsg.) Umwelterklärung 2010, S. 4. 55 EMAS-Umwelterklärung 2017, herausgegeben von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, Zentrale Bonn, Sparte Facility Management, 2017, S. 5. 56 § 1 Abs. 1 Satz 5 BImAG. 57 Z. B. VG Münster, Urt. v. 23.06. 2016 – 2 K 1825/14 – juris; VG Minden, Urt. v. 15.03. 2008 – 1 K 4075/18 – n. v.; Nachweis bei Hönes, DÖV 2019, S. 175 (180). 58 VG Schleswig, Urt. v. 25.01. 2005 – 2 A 137/03 – Amtl. Umdruck S. 4 und 11. 59 BVerwGE 44, 351 (357); BVerfG 21, 312 (327). 60 Spennemann, in: Martin/Krautzberger (Hrsg.) Handbuch, 4. Aufl. 2017, Teil D Rn. 126. 60

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Staatsziel Kultur und kulturelles Erbe

3. Das Gesetz zur Berücksichtigung des Denkmalschutzes im Bundesrecht von 1980 Da nach dem europäischen Denkmalschutzjahr 1975 eine Berücksichtigung des kulturellen Erbes entsprechend dem Vorbild des Art. 150 WRV nicht zu erreichen war, bemühte man sich um eine bessere Berücksichtigung in einzelnen einschlägigen Bundesgesetzen.61 Deshalb hatte die Arbeitsgruppe Recht und Steuerfragen des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz auf ihrer 11. Sitzung am 13./ 14. November 1975 in Hamburg Forderungen zur Änderung des Bundesrechts zur Berücksichtigung in Raumordnung, Baurecht, Städtebauförderungsgesetz, Flurbereinigungsrecht, Modernisierungsgesetz, Wasserrecht, Straßenrecht, Telegrafenwegerecht und Steuerrecht formuliert.62 Teile davon wurden schon im BBauG 197663 und im Steuerrecht 197764 umgesetzt, so dass diese Bereiche bei dem angestrebten Artikelgesetz zur Berücksichtigung des Denkmalschutzgesetzes im Bundesrecht entfielen. Um die Länder zu unterstützen, wurde aus der Mitte des Deutschen Bundestages von den Abgeordneten aller drei Fraktionen am 9. August 1979 der Entwurf eines Gesetzes zur Berücksichtigung des Denkmalschutzes im Bundesrecht eingebracht.65 Dies geschah auch im Andenken an den Motor dieser Gesetzesänderung, den gerade am 2. August 1979 verstorbenen Abgeordneten Schmitt-Vockenhausen.66 Unter Bezug auf die Zusammenstellung der Gesetze im Entwurf vom 9. August 1977 und den Beschlüssen der 4 Ausschüsse wurden in den 5 Änderungsartikeln zur Raumordnung (Art. 1), zum Bundesfernstraßengesetz (Art. 2), zum Bundeswasserstraßengesetz (Art. 3), zum Flurbereinigungsgesetz (Art. 4) und zum Telegraphenwegegesetz (Art. 5) noch die Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes (Art. 4a) und die Änderung des Bundesbahngesetzes (Art. 5a) eingefügt. Diese Bereitschaft zur Berücksichtigung des Denkmalschutzes wurde trotz später gemachter Vorschläge leider bis heute nicht mehr erreicht.67

61 Hönes, Entstehung (Fn. 6), Erl. 15.5, S. 645 f. 62 Vorlage der AG Recht und Steuerfragen, Bearbeitungsstand 13./14. November 1975, 11. Sitzung in Hamburg; Umdruck im Privatarchiv des Verfassers. 63 Hönes, Entstehung (Fn. 6), Erl. 15.2. 64 Hönes, Entstehung (Fn. 6), Erl. 15.4. 65 BT-Drucks. 8/3105. 66 Bericht der Abgeordneten Broll, Schwencke (Nienburg) und Wendig, BT-Drks. 8/3716 vom 27.02. 1980, S. 6. 67 Z. B. Entwurf eine Zweiten Gesetzes zur Berücksichtigung des Denkmalschutzes im Bundesrecht, in: Hönes, Internationaler Denkmal-, Kulturgüter- und Welterbeschutz, 2009, Anhang; ders., Entstehung (Fn. 6), Erl. 20. Recht und Politik, Beiheft 4

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Von den damaligen Neuregelungen des Gesetzes zur Berücksichtigung des Denkmalschutzes im Bundesrecht vom 1. Juni 198068 zum Raumordnungsgesetz (§ 2 ROG), Bundesfernstraßengesetz (§ 4 FernStG), Bundeswasserstraßengesetz (§ 7 WaStrG), Flurbereinigungsgesetz (§ 37 FlurbG), Bundesnaturschutzgesetz (§ 2 BNatSchG), Telegraphenwegegesetz (§ 7 TWG) und Bundesbahngesetz (§ 36 BBahnG) sollen vier Beispiele zum besseren Verständnis der Problemlage erwähnt werden. a) Das Bundeswasserstraßengesetz (WaStrG) Bei der Verwaltung, dem Ausbau und dem Neubau von Bundeswasserstraßen sind die Bedürfnisse der Landeskultur und der Wasserwirtschaft im Einvernehmen mit den Länden zu wahren. Somit entspricht § 4 WaStrG wörtlich Art. 89 Abs. 3 GG. Damit knüpft der Begriff der Landeskultur in § 4 WaStrG an den Begriff der Landeskultur in Art. 89 Abs. 3 GG an.69 Die Regelung normiert einen der wenigen nach dem GG zulässigen Fälle der Mischverwaltung.70 Es bedarf somit des Einvernehmens zwischen Bund und Land. Einvernehmen ist die völlige Willensübereinstimmung zwischen zwei oder mehreren Beteiligten.71 Unter dem Begriff Landeskultur fallen die Maßnahmen zur Bodenerhaltung, Bodenverbesserung (Melioration), Neulandgewinnung und Flurbereinigung.72 Eine erweiternde Auslegung des Begriffs Landeskultur auf Fischerei, Denkmalpflege, Naturschutz und andere ökologische Belange ist wegen des Ausnahmecharakters der verfassungsmäßigen Mischverwaltung unzulässig.73 Wasserwirtschaft ist die zielbewusste Ordnung aller menschlichen Eingriffe in das ober- und unterirdische Wasser. Bei der Unterhaltung der Bundeswasserstraßen sowie Einrichtung und Betrieb der bundeseigenen Schifffahrtsanlagen sind die Erfordernisse des Denkmalschutzes zu berücksichtigen. Diese Regelung wurde durch das Gesetz zur Berücksichtigung des Denkmalschutzes im Bundesrecht vom 1. Juli 1980 eingefügt. Damit hat § 7 Abs. 4 WaStrG klarstellende Funktion, hebt aber zugleich hervor, dass der Denkmalschutz zu berücksichtigen ist. Diese Vorschrift fordert von den Behörden der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, die Erfordernisse des Denkmalschutzes zu beachten, bindet sie mithin materiell an das Landesdenkmalrecht.

68 BGBl. I S. 649; siehe Moench, NJW 1980, 2343 f. oder Hammer, Die geschichtliche Entwicklung des Denkmalrechts in Deutschland, 1995, S. 344 f. 69 Hönes, NuR 2005, S. 279. 70 Hönes, Handbuch (Fn. 3), Erl. 12.6, S. 797. 71 BVerwGE 11, 195/200. 72 Überwiegende Meinung: Kowallik, NuR 1987, 116 ff.; Friesecke, Bundeswasserstraßengesetz, 6. Aufl. 2009 § 4 Anm. 2. 73 BVerwGE 116, 175 f. Überwiegende Meinung: Kowallik, NuR 1987, 116 ff.; Friesecke (Fn. 72), § 4 Anm. 2. 62

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Staatsziel Kultur und kulturelles Erbe

Die Festlegung der Denkmaleigenschaft einer Anlage belässt § 7 Abs. 4 WaStrG bei den dafür zuständigen und entsprechend fachlich ausgestatteten Landesbehörden (z. B. Landesämter für Denkmalpflege). Deren Entscheidung macht die Vorschrift des § 7 Abs. 4 WaStrG für die Wasser- und Schifffahrtsbehörden erst handhabbar. Bundesrecht hindert die für den Vollzug der Landesdenkmalschutzgesetze zuständigen Landesbehörden nicht, Schifffahrtsanlagen und wasserbauliche Anlagen des Bundes unter Denkmalschutz zu stellen.74 Auslöser des Rechtsstreits war eine Entscheidung des Wasser- und Schifffahrtsamtes Brunsbüttel, einen markanten knapp 18 m hohen Pegelturm aus dem Jahr 1914 und weitere denkmalwerte Gegenstände (ehemaliges Maschinenhaus) im Bereich des Nord-Ostsee-Kanals gegen das Votum der staatlichen Denkmalpflege abzureißen. Dabei war die Wasser- und Schifffahrtsdirektion fälschlich der Auffassung, dass die (einstweilige) Unterschutzstellung (§§ 5, 7 DSchG S-H) auf die in ihrem Eigentum stehenden Sachen nicht anwendbar sei. Dabei ergibt sich weder aus § 5 DSchG S-H noch aus anderen Vorschriften des Denkmalschutzgesetzes, dass von einer Eintragung in das Denkmalbuch Sachen ausgenommen sind, die im Eigentum eines Hoheitsträgers stehen und ihm zur Erfüllung seiner hoheitlichen Aufgaben dienen. Daher ist auch eine vorläufige Unterschutzstellung solcher Sachen zulässig.75 Somit gilt materielles Denkmalrecht auch für Anlagen des Bundes. Der Gesetzgeber hat sich jedoch damit begnügt, das materielle Denkmalrecht der Länder nur zu betonen und zu verstärken. Folglich bestand bezüglich dieser denkmalgeschützten Anlagen leider keine Genehmigungspflicht nach § 9 DSchG S-H. Die Eigentümerin war somit lediglich verpflichtet, bei Arbeiten an diesen Objekten die materiellen Anforderungen des Denkmalschutzgesetzes zu berücksichtigen. Dies ist aber bei manchen Bundesbehörden ohne die Gewichtsvorgabe eines Staatsziels Kultur und kulturelles Erbe keinesfalls gesichert. Das Staatsziel „Umweltschutz“ ist dagegen beim Umfang der Unterhaltung der Binnenwasserstraßen nach § 8 Abs. 1 Satz 4 WaStrG wie folgt gesichert: „Die natürlichen Lebensgrundlagen sind zu bewahren.“ b) Allgemeines Eisenbahngesetz Ausgangspunkt für die Berücksichtigung des Denkmalschutzes beim Betrieb von Eisenbahnen war das Bundesbahngesetz vom 13. Dezember 195176 mit Änderungen bis 1970. Damals verwaltete die Bundesrepublik Deutschland unter dem Namen „Deutsche Bundesbahn“ das Bundeseisenbahnvermögen als nicht rechtsfähiges Sondervermögen des Bundes mit eigener Wirtschafts- und Rechnungsführung (§ 1 BBahnG). Mit Art. 7 des bereits zitierten Gesetz zur Berücksichtigung des Denkmalschutzes im Bundesrecht von 1980 wurde eine Ergänzung des § 36 Abs. 1 BahnG erreicht, wonach in einem neuen Satz 2 die Belange des Denkmalschutzes zu berücksichtigen waren. Als mit dem Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens (ENeuOG) vom 27. Dezember

74 BVerwG, Urt. v. 25. 9. 2008 – 7 A 4.07 – NuR 2009, 42 = EzD 2.2.4 Nr. 41. 75 BVerwG, Urt. v. 25. 9. 2008 – 7 A 4.07 – NuR 2009, 42 = EzD 2.2.4 Nr. 41. 76 BGBl. I S. 955. Recht und Politik, Beiheft 4

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199377 eine grundlegende Änderung erfolgte, ist dieses Anliegen zur ausdrücklichen Berücksichtigung des Denkmalschutzes entfallen. Nach dem Allgemeinen Eisenbahngesetz (AEG) vom 27. Dezember 1993 dürfen gemäß § 18 Satz 1 AEG Betriebsanlagen einer Eisenbahn nur gebaut oder geändert werden, wenn der Plan vorher festgestellt ist. Im Planfeststellungs- und Plangenehmigungs für Vorhaben der Eisenbahnen nach § 18 AEG entscheidet das Eisenbahn-Bundesamt allein und abschließend auch über die Belange des Denkmalschutzes (§ 3 Abs. 2 Satz 2 Gesetz über die Eisenbahnverkehrsverwaltung des Bundes – BEVVG).78 Das Eisenbahnbundesamt ist nach § 18 Satz 2 AEG bei der Planfeststellung auch an das Denkmalschutzrecht und Bauordnungsrecht gebunden, denn bei der Planfeststellung sind die von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange einschließlich der Umweltverträglichkeit im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen. Bekanntes Beispiel einer Nichtberücksichtigung ist der Teilabbruch des Stuttgarter Bahnhofs.79 c) Klimaschutz und Denkmalschutz Durch die bereits zitierte verfassungsrechtliche Vorgabe des Art. 20a GG als höherrangiges Recht bleibt es trotzdem bei der Abwägung eigentlich beim Einzelfall.80 Aus Raumgründen kann hier leider nicht das ganze Normenspektrum der durch den Klimaschutz provozierten Rechtsgrundlagen dargestellt werden. Einige Gerichtsentscheidungen belegen jedoch, dass eine verfassungsrechtliche Verankerung des Schutzes der Kultur und des kulturellen Erbes auf Bundesebene hilfreich wäre, da im Einzelfall heute schon wenigstens auf eine landesrechtliche Gewährleistung zurückgegriffen werden kann.81 Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht in einer grundlegenden Entscheidungen den Denkmalschutzartikel der Landesverfassung z. B. für RheinlandPfalz herangezogen. In seinem Beschluss vom 2. März 199982 betonte es, dass Denkmalpflege ein Gemeinwohlanliegen von hohem Rang ist, zudem die Verfassung von Rheinland-Pfalz in Art. 40 Abs. 3 das Land verpflichtet, die Denkmäler der Kunst und der Geschichte in seine Obhut und Pflege zu nehmen.83 Ergänzend hierzu nahm es in seinem Beschluss vom 14. April 201084 diese Formulierung wörtlich wieder auf.85

77 BGBl. I S. 2378. 78 Strobl/Sieche/Kemper/Rothemund, Denkmalschutzgesetz für Baden-Württemberg, 4. Aufl. 2019, Einl. Rn. 23. 79 Zum Urheberrecht OLG Stuttgart, Kunst und Recht 2010, S. 195; Hönes, BauR 2014 S. 477 (488). 80 BayVGH. Beschl. V. 30. 3. 2016 – 22 ZB 15.1760 – juris; Mast, in: Marin/Krautzberger, Handbuch (Fn. 60) Teil H, Rn. 285; Mast/Göhner, BayVBl. 2013, S. 193 f. 81 Beispiele bei Hönes, VR 2019, S. 109 f. 82 BVerfGE 100, 226. 83 BVerfGE 100, 226/242. 84 BVerfG, Beschl. v. 14.04. 2010 – 1 BvR 2140/08, BauR 2010, 1574. 85 BVerfG, BauR 2010, 1574 (1575) Rn. 14. 64

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Staatsziel Kultur und kulturelles Erbe

Der BayVGH hat in seinem Urteil vom 25. Juni 201386 bei der Erteilung einer denkmalrechtlichen Erlaubnis nach Art. 6 BayDSchG im Spannungsfeld mit dem Klimaschutz (Art. 20a GG) und dem Schutz des Eigentums (Art. 14 GG) klare Aussagen gemacht. Entscheidend ist nach dem BayVGH, „dass das Staatsziel Umwelt- bzw. Klimaschutz, das auch in der Bayerischen Verfassung (Art. 141 Abs. 1) verankert ist, mit der Gemeinwohlaufgabe der Denkmalpflege abgewogen und das Ergebnis nachvollziehbar begründet wird“.87 Dazu bestätigt der BayVGH mit Urteil vom 19. Dezember 201388 bezüglich der Erteilung einer denkmalrechtlichen Erlaubnis nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayDSchG wegen einer Photovoltaikanlage, dass der Beklagte in nicht zu beanstandender Weise „den öffentlichen Belang des Denkmalschutzes (Art. 141 Abs. 2 BV) mit dem des Klimaschutzes (Art. 20a GG), die beide als Staatszielbestimmungen bindendes objektives Verfassungsrecht sind, gegeneinander abgewogen (habe), ohne von vornherein einen der beiden Belange einen absoluten Vorrang einzuräumen“.89 Schon hier wird bei den wenigen Beispielen deutlich, wie wichtig der landesverfassungsrechtliche Denkmalschutzartikel für die Durchsetzung denkmalpflegerischer Belange ist und wie wichtig das Staatsziel Kultur und kulturelle Lebensgrundlage werden könnte. d) Naturschutz und Denkmalschutz In der Einleitung wurde schon betont, dass rechtlich geregelter Kultur- und Naturdenkmalschutz seit seiner Entstehung verschwistert ist. Auch in Art. 150 WRV und vielen Verfassungen der Länder kommt dies zum Ausdruck. Gleichwohl gibt es auch unter ehemals verschwisterten Bereichen insbesondere seit dem höherrangigen Ziel des Art. 20a GG zunehmend Konflikte,90 obwohl mit der Ratifizierung des Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt von 197291 das Anliegen auch wegen der Erhaltung der Parks der Schlösser von Augustusburg und Falkenlust in Brühl, der Parks von Potsdam und Berlin einschließlich Museumsinsel in Berlin, dem Dessau-Wörlitzer Gartenreich92, dem Muskauer Park oder dem Bergpark Wilhelmshöhe bei Kassel eine andere Dimension bekommen hat.93

86 87 88 89 90 91 92 93

BayVGH, BayVBl. 2014, 502. BayVGH, Beschl. v. 29.07. 2013 – 14 ZB 11.398 – amtlicher Umdruck Rn. 8, S. 6. BayVGH, Urt. v. 19.12. 2013 – 1 B 12.2596, BayVBl. 2014, 506 = EzD 2.2.6.2 Nr. 93. BayVGH, Urt. v. 19.12. 2013 – 1 B 12.2596, BayVBl. 2014, 506/507 = EzD 2.2.6.2 Nr. 93, S. 3. Hönes, Konflikte zwischen Naturschutz und Denkmalschutz, in: Konold/Böcker/Hampicke (Hrsg.), Handbuch Naturschutz und Landschaftspflege, Lfg. 2014, III-5.12. Hönes, DÖV 2008, S. 54; VR 2008. S. 145. Hönes, LKV 2001, S. 438. Hönes, Gutachten „Förderung und Finanzierung der UNESCO-Welterbestätten in Deutschland, 2004, K.-Drs. 15/211a.

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Während z. B. ein Zeugnis der Gartenkunst gemäß dem jeweiligen Denkmalschutzgesetz als Kulturdenkmal ungeschmälert erhalten und gepflegt werden muss,94 sind beim Naturschutz neue Bereiche wie der Biotopschutz (§ 30 BNatSchG) und der besondere Artenschutz (§ 45 f. BNatSchG) als neue Instrumente hinzugekommen, die z. B. beim allgemeinen Schutz von Natur und Landschaft (§ 13 f. BNatSchG) mit einer naturschutzrechtliche Eingriffsregelung (§ 14 BNatSchG) durchgesetzt werden können.95 Während bei der Berücksichtigung kultureller Belange im historischen Garten als Zeugnis der Gartenkunst die Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG helfen soll,96 führen neue Ziele des Naturschutzes wie das Ideal der Wildnis dazu, dass die notwendige Pflege dieser gepflanzten Kunstwerke wie der Rückschnitt von Gehölzen aus gestalterischen Gründen von den Naturschutzbehörden als Eingriff gewertet und damit oftmals verboten wird. Um in solchen Fällen den Missbrauch der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung zu verhindern, haben wenige Länder wie MecklenburgVorpommern in seinem Naturschutzausführungsgesetz (NatSchAG M-V) vom 23. Februar 2010 in § 12 Abs. 1 über Eingriffe in Natur und Landschaft geregelt, dass nach § 12 Abs. 2 Nr. 3 NatSchAG M-V diese Regelung nicht gilt für die Pflege und die Rekultivierung vorhandener Garten- und Parkanlagen entsprechend dem Denkmalschutzrecht. Außerdem regelt bei gesetzlich geschützten Bäumen § 18 Abs. 1 Nr. 6 NatSchAG M-V, dass Bäume in denkmalgeschützten Parkanlagen, sofern zwischen der unteren Naturschutzbehörde und der zuständigen Denkmalschutzbehörde einvernehmlich ein Konzept zur Pflege, Erhaltung und Entwicklung des Parkbaumbestandes erstellt wurde, das Verbot nicht gilt. Da solche vorbildlichen Landesregelungen leider die Ausnahme sind und der Bund bisher nicht bereit war, bei der Eingriffsregelung nach § 14 Abs. 3 BNatSchG zu regeln, dass die Erhaltung, Pflege und Wiederherstellung von Kultur-, Bau-, Garten- und Bodendenkmälern nicht als Eingriff anzusehen ist,97 muss künftig ein Staatsziel Kultur und kulturelles Erbe dazu beitragen, dass diese Zeugnisse der Gartenkunst durch naturschutzrechtlich gebotene Verwilderung nicht „friedlich“ liquidiert werden. Das abweichende Landesrecht ist unter der Vorgabe des Art. 20a GG und des Bundesnaturschutzgesetzes als Ausführungsgesetz dazu zu schwach, zumal die vom Grundgesetz den Ländern eingeräumte Abweichungsmöglichkeit gemäß Art. 74 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG teilweise bestritten wird, da von einigen Autoren die Eingriffsregelung als Schlüsselbegriff angesehen wird, der zu den Grundsätzen des Naturschutzes gehören soll.98 Also will der Naturschutz über das auf der Basis des Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG erlassene Bundesgesetz das Landesrecht über die verbindliche Eingriffsdefinition bevormunden. 94 95 96 97 98

Rohde, Pflege historischer Gärten, 2008. Guckelberger, in: Frenz/Müggenborg (Hrsg.), BNatSchG, 2. Aufl. 2016, § 14 Rn. 10. Hönes, DÖV 1998, S. 491; ders., NuR 2003, S. 257. So Hönes, Erhaltung (Fn. 6), Erl. 20.2.4, S. 762. Guckelberger (Fn. 96), § 14 Rn. 6; zur Negativliste Fischer-Hüftle/Czybulka, in: BNatSchG, 2. Aufl. 2011, § 14 Rn. 73.

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Staatsziel Kultur und kulturelles Erbe

Das Staatsziel Kultur und kulturelles Erbe könnte dem entgegenwirken, so dass der Bund vergleichbar § 29 Abs. 2 BauGB99 auch am Ende von § 14 BNatSchG regeln könnte, das die landesrechtlichen Vorschriften, insbesondere über den Schutz und die Erhaltung der Kulturdenkmäler, unberührt bleiben.100 Schließlich hat im Laufe der Geschichte keine Kunst- und Denkmalkategorie immer wieder so große Verluste erlitten wie die Gartenkunst.101 Verursacht wurden und werden diese Verluste nicht zuletzt durch eine gewisse, unbewusst eingebürgerte Ignoranz gegenüber der Gartenkunst.102 Gerade bei dem „Grün“ möchte heute fast jeder mitreden, obwohl eine fundierte Meinung ein fundiertes Wissen voraussetzt. Eine zielorientierte Kulturpolitik des langen Atems gibt es derzeit leider nicht. So beansprucht der Natur- und Umweltschutz zunehmend eine höhere und moralischere Legitimation, die die Politik und Verwaltung oftmals zur Durchsetzung dieser Belange „zwingen“. Das Recht ist, wie am Beispiel Kunstfreiheit und Naturschutz aufgezeigt, teilweise fehlerhaft, teilweise wird es zudem aus welchen Gründen auch immer fehlerhaft angewendet.103

VI. Fazit Die kulturellen Lebensgrundlagen werden z. B. durch Literatur, Kunst, Musik, die darstellenden Künste, Museen, Bibliotheken, Archive und in einem weiteren Sinne bei Bildung und Erziehung, Wissenschaft und Forschung sowie bei den kommunikativen Medien berührt, wobei es für religiöse Fragen seit der Weimarer Verfassung Sonderregelungen gibt.104 Nun ist noch der Sport hinzugekommen. Für viele dieser Bereiche steht die Förderpflicht des Staates im Vordergrund. Udo Steiner hat schon 1983 diese Forderungen nach einer Verbesserung der Lebensqualität durch Kultur im verfassungsrechtlichen Rang als „kulturrechtliche Wohltätigkeitsliteratur“ kritisiert.105 Da sich der Staat gegenüber kulturellen Leistungen auch im berechtigten Interesse seiner Bürger nicht indifferent verhalten kann, besteht ein Kulturauftrag, „unabhängig davon, ob ihn der Verfassungstext ausdrücklich formuliert oder nicht“.106 Also darf der Schutz der kulturellen Lebensgrundlagen verfassungsrechtlich nicht schlechter gestellt werden als der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere.

99 Dürr, in: Brügelmann (Hrsg.), BauGB, 100. Lfg. 2016, § 29 Rn. 61. 100 Hönes, Erhaltung (Fn. 6), Erl. 20.2.4, S. 762; ebenso schon Hönes, Internationaler Denkmal-, Kulturgüter- und Welterbeschutz, 2009, S. 190. 101 Hennebo, in: Hennebo (Hrsg.), Gartendenkmalpflege, 1985, S. 11. 102 Hennebo (Fn. 101), S. 11 unter Bezug auf Nehring, in: Historische Freiräume und Denkmalpflege, 1980. 103 Hönes (Fn. 90), S. 24. 104 Scheuner, Die Bundesrepublik als Kulturstaat, in: Bitburger Gespräche 1977/78, S. 112 (116). 105 Steiner, VVDStRL 42, S. 24. 106 Grimm, VVStRL 42, S. 46 (64). Recht und Politik, Beiheft 4

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Aus verwaltungspraktischer Sicht erschien es geboten, im Anschluss an die Ausführungen von Karl-Peter Sommermann von 2005107 aus der Fülle der kulturellen Belange das kulturelle Erbe herauszustellen, denn das Anliegen bedarf der Konkretisierung, zumal das gebaute und gepflanzte kulturelle Erbe in seinem Gebrauch z. B. durch Art. 14 GG mehr eingeschränkt ist als andere Schutzgüter, bei denen der Freiheitsschutz im Vordergrund steht. Außerdem ist der Bund durch die Ratifizierung der internationalen und europäischen Übereinkommen zum Denkmal-, Kulturgüter und Welterbeschutz in der Pflicht.108 Ein weiteres Artikelgesetz zur Berücksichtigung des kulturellen Erbes im Bundesrecht reicht bei der kulturstaatlichen Verantwortung des Bundes nach den bisherigen Erfahrungen leider nicht aus. Zu leicht können diese Regelungen bei der nächsten Novellierung des einschlägigen Gesetzes wieder verwässert oder ganz gestrichen werden. Dabei handelt es sich beim Schutz der Kultur und des kulturellen Erbes ebenso wie beim Umweltschutz um ein existenzielles langfristiges Interesse des Menschen,109 um ein Gemeinwohlanliegen von hohem Rang.110 Anderen Bereichen mit kulturellem Bezug konnte teilweise durch Änderung der Finanzverfassung geholfen werden, denn auch die Finanzen sind die Realität der Verfassung.111 Dies gilt für den städtebaulichen Denkmalschutz durch den finanziellen Beitrag zur Städtebauförderung dank der Finanzreform von 1969 (Art. 104a GG)112 oder nun die Änderung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen113 durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 104b, 104c, 104d, 125c, 143e) vom 28. März 2019.114 Bezüglich des notwendigen Schutzes der Kultur und des kulturellen Erbes muss man mit Blick auf die Finanzströme wegen der kulturellen Vielfalt festhalten, dass mehrere Bettler unter dem Dach der Finanzverfassung noch keine wohlhabende Familie sind.115 Auch wenn das kulturelle Erbe im Vergleich zu anderen Bereichen der Kultur selbst im mehrfach zitierten Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ von 2007 den Erbeschutz teils ausklammert oder nur am Rande erwähnt,116 weist das Vorwort schon darauf hin, dass die Pfeiler unserer Kultur einer verfassungsrechtlichen Verankerung bedürfen:

107 Sommermann (Fn. 1) S. 108. 108 Hönes, 2009 (Fn. 67). 109 Gemeinsame Verfassungskommission BT-Drucks. 12/6000, S. 65. 110 BVerfGE 100, 226 (242). 111 Waldhoff, in: HStR V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 1. 112 Hönes, Entstehung (Fn. 6), Erl. 14.6, S. 605 (607). 113 Renzsch, Zparl, 4/2017, S. 764. 114 BGBl. I S. 404. 115 BT-Drucks. 16/7000, S. 125 unter Bezug auf ein Zitat von Kurt Winkler. 116 Z. B. BT-Drucks. 16/7000, S. 40, 147, 204 (Welterbestätten) oder 225 (Das kulturelle Erbe) sowie Hönes, K-Drs. 15/211a. 68

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Staatsziel Kultur und kulturelles Erbe „Kultur ist kein Ornament. Sie ist das Fundament, auf dem unsere Gesellschaft steht und auf das sie baut. Es ist Aufgabe der Politik, dieses zu sichern und zu stärken.“117

117 BT-Drucks. 16/7000, S. 4. Recht und Politik, Beiheft 4

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70 Jahre Grundgesetz – 25 Jahre Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG: Gleichstellung umgesetzt? Von Maria Wersig „‚Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung‘, soll gegenüber anderen, schwächeren Formulierungen einen verbindlichen Auftrag deutlich machen und klarstellen, dass es darum geht, eine faktische Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern zu erreichen.“ 1

Im Jahr 2019 feiert die Bundesrepublik zwei wichtige Jubiläen: 70 Jahre Grundgesetz und 25 Jahre Ergänzung des Satz 2 in Art. 3 Abs. 2 GG, also die Verpflichtung des Staates zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und das Hinwirken auf die Beseitigung bestehender Nachteile. Grund genug, sich zu fragen, wie es um die Umsetzung der genannten Pflichten in unserer heutigen Gesellschaft steht. Dieser Beitrag wirft einen Blick zurück auf die Rechtskämpfe der Frauenbewegung und reißt die Frage an, was noch zu tun ist, bis der Verfassungsauftrag Gleichstellung tatsächlich umgesetzt ist.

I. Rückblick – Die Frauenfrage im Recht Die Frauenfrage im Recht hat lange Tradition und Auseinandersetzungen um Frauenrechte gab es seit Bestehen einer Rechtsordnung.2 In Deutschland war das Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) um 1900 ein wichtiges Ereignis für die Frauenrechtsbewegung, weil das Bürgerliche Gesetzbuch mit seinem patriarchalen Familienrecht die Rechtlosigkeit von Frauen für die Zukunft festschrieb und dem Ehemann Vormachtstellung in der Familie einräumte – Regelungen3, die bis in die 1950er Jahre bestehen blieben. Ende des 19. Jahrhunderts entbrannte außerdem der 1 2

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Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission vom 05. 11. 1993, BT-Drs. 12/6000, 50. Wapler, Frauen in der Geschichte des Rechts, in: Lena Foljanty/ Ulrike Lembke (Hg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Auflage, Baden-Baden 2012, S. 33 – 51, vgl. Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997. So legte das BGB eine rechtliche Vormachtstellung des Ehemannes fest – ihm stand die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche Leben betreffenden Angelegenheiten, insbesondere Wohnung und Wohnort zu. Zwar galt die Ehefrau als prinzipiell rechtsgeschäftsfähig (also in der Lage, Verträge in eigener Sache zu schließen), der Ehemann hatte aber diverse Interventionsrechte. Ein weiteres Beispiel für die klar definierten Geschlechterrollen war das Recht und die Pflicht der Frau zur Leitung des gemeinschaftlichen Hauswesens.

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70 Jahre Grundgesetz – 25 Jahre Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG

Kampf um den Zugang zu den juristischen Berufen für Frauen – zunächst war das Studium der Rechtswissenschaft nur im Ausland möglich und auch nach Öffnung der Fakultäten in Deutschland waren der Zugang zum juristischen Staatsexamen und dem juristischen Vorbereitungsdienst nicht automatisch möglich.4 Der im Jahr 1914 gegründete Deutsche Juristinnen Verein erkämpfte die Zulassung von Frauen zu den juristischen Berufen, die ab 1922 möglich wurde, stellte aber nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten seine Arbeit ein.5 Nachdem im Grundgesetz der Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz Gleichberechtigung für Frauen und Männer trotz Widerständen in der parlamentarischen Versammlung dank des Einsatzes von Elisabeth Selbert festgeschrieben wurde6, ging es in den 1950er Jahren zunächst um die formale Umsetzung dieses Anspruchs im einfachen Recht.7 Dieser Weg war weit. Zunächst blieb der Gesetzgeber untätig und behielt das Familienrecht mit seinen benachteiligenden Regelungen für Frauen bei. Noch das Gleichberechtigungsgesetz von 1957 enthielt mit dem sogenannten Stichentscheid8 eine Regelung, die dem Vater bei Meinungsverschiedenheiten ein letztes Wort zubilligte. Das Bundesverfassungsgericht kippte diese Regelung im Jahr 19579. Die Frage, ob formale Gleichberechtigung ausreicht und was tatsächliche Gleichheit darüber hinaus erfordert, beschäftigt das Bundesverfassungsgericht seit den 1950er Jahren bis heute.10 Während es zunächst darum ging, formale Gleichheit umzusetzen, steht heute das Verbot der faktischen Benachteiligung bzw. mittelbaren Diskriminierung im Zentrum, wenn scheinbar neutral formulierte Regelungen unterschiedliche Auswirkungen auf Frauen und Männer aufgrund von Unterschieden in der Lebensrealität oder sozialer Geschlechterrollen haben. Rechtskämpfe der zweiten 4 Vgl. Röwekamp, Juristinnen. Lexikon zu Leben und Werk. Baden-Baden 2005. 5 Zu den Biographien der Juristinnen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft in der ersten Juristinnengeneration hat der Deutsche Juristinnenbund e.V. im Jahr 2019 seine Wanderausstellung „Jüdische Juristinnen“ vorgestellt, die 17 Biographien enthält. 6 Böttcher, Das Recht auf Gleichheit und Differenz. Elisabeth Selbert und der Kampf der Frauen um Art. 3 II Grundgesetz, Münster 1990. 7 Also zum Beispiel um ein Familienrecht, das dem Grundsatz der Gleichberechtigung entsprach. 8 § 1628 BGB sah vor, dass in Erziehungsfragen der Vater das letzte Wort habe, und § 1629 bestimmte, dass die Vertretung des minderjährigen Kindes allein ihm zustehe. 9 BVerfGE 10, 59 – 89. Vgl. zur Rolle der ersten Richterin des Bundesverfassungsgerichts Dr. Erna Scheffler bei dieser Entscheidung van Rahden, Demokratie und väterliche Autorität. Das Karlsruher ,Stichentscheid‘-Urteil von 1959 in der politischen Kultur der frühen Bundesrepublik, in: Zeithistorische Forschungen Online-Ausgabe, http://www.zeithistorische-forschun gen.de/16126041-Rahden-2 - 2005. 10 Vgl. zum Grundrecht auf Gleichberechtigung: Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung. Eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, 2. Auflage, Baden-Baden 1996; zum rechtspolitischen Fortschritt: Berghahn, Der Ritt auf der Schnecke – Rechtliche Gleichstellung in der Bundesrepublik (2004, Aktualisierung 2011), http://www.fu-berlin.de/sites/gpo/pol_sys/gleichstellung/Der_Ritt_auf_der_Schnecke/RittSchnecke-Vollstaendig.pdf ?1361541637. Recht und Politik, Beiheft 4

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Frauenbewegung in der Bundesrepublik entzündeten sich unter anderem am restriktiven Abtreibungsrecht und den patriarchalen Regelungen des Strafrechts zu Sexualdelikten, die Vergewaltigung in der Ehe nicht unter Strafe stellten. In der DDR gehörte die Erwerbstätigkeit von Frauen zur Gesellschaftsordnung, ein liberales Familienrecht, die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs und öffentliche Kinderbetreuung bildeten die Rahmenbedingungen dieses Modells. Nach der friedlichen Revolution 1989 war das Aufeinandertreffen des unterschiedlichen Umgangs beider deutschen Staaten mit den Geschlechterverhältnissen ein wesentlicher Diskussionspunkt, der sich auch im Einigungsvertrag11 und in Folge in der Gemeinsamen Verfassungskommission abbildete.

II. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG: Gleichstellungsauftrag Ähnlich wie die historischen Überlieferungen zu den Auseinandersetzungen um Art. 3 Abs. 2 GG zeigen, war auch die Ergänzung um einen Satz 2 keine Selbstverständlichkeit und wurde durch parteiübergreifende gemeinsamen Einsatz von Politikerinnen und die Unterstützung der Frauenverbände möglich.12 Während die konkrete Formulierung umstritten war, sollte die Ergänzung die Verwirklichung der Gleichberechtigung in der sozialen Wirklichkeit in den Fokus setzen. Somit hatte die Formulierung juristisch eher klarstellende Funktion, weil das Bundesverfassungsgericht diesen Auftrag bereits in Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG erkannt hat.13 In seiner Nachtarbeitsentscheidung 1992 führte das Bundesverfassungsgericht aus: „Der über Art. 3 Abs. 3 hinausreichende Regelungsgehalt von Art. 3 Abs. 2 GG besteht darin, daß er ein Gleichberechtigungsgebot aufstellt und dieses auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt. Der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ will nicht nur Rechtsnormen beseitigen, die Vor- oder Nachteile an Geschlechtsmerkmale anknüpfen, sondern für die Zukunft die Gleichberechtigung der Geschlechter durchsetzen. Er zielt auf die Angleichung der Lebensverhältnisse. So müssen Frauen die gleichen Erwerbschancen haben wie Männer. Überkommene Rollenverteilungen, die zu einer höheren Belastung oder sonstigen Nachteilen für Frauen führen, dürfen durch staatliche Maßnahmen nicht verfestigt werden. Faktische Nachteile, die typischerweise Frauen treffen, dürfen wegen des Gleichberechtigungsgebots des Art. 3

11 Art. 31 Abs. 1 EinigVtr sah die Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers, „die Gesetzgebung zur Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen weiterzuentwickeln.“; Art. 31 Abs. 2 „angesichts unterschiedlicher rechtlicher und institutioneller Ausgangssituationen bei der Erwerbstätigkeit von Müttern und Vätern die Rechtslage unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gestalten.“ 12 Vgl. Limbach/Eckertz-Höfer (Hrsg.), Frauenrechte im Grundgesetz des geeinten Deutschland, Baden-Baden 1993. 13 So nimmt die Gemeinsame Verfassungskommission in ihrem Bericht Bezug auf BVerfGE 74, 163 (179 f.); 85, 191 (207), BT-Drs. 12/6000, 49. 72

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70 Jahre Grundgesetz – 25 Jahre Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG

Abs. 2 GG durch begünstigende Regelungen ausgeglichen werden.“14 Diesem Auftrag für die gesellschaftliche Wirklichkeit ist der Gesetzgeber in den letzten 25 Jahren durchaus mit vielen wichtigen Maßnahmen nachgekommen: Zu nennen ist (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) der Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz, die Einführung des Elterngeldes, die Quote für die Aufsichtsräte, der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung im Sexualstrafrecht (bekannt durch die Kampagne „Nein heißt nein“), das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Entgelttransparenzgesetz. Die Wiedervereinigung und die Erfahrungen der Frauen und Männer in Ostdeutschland haben einen Modernisierungsschub bewirkt, jedenfalls was die Selbstverständlichkeit der Erwerbstätigkeit von Frauen angeht.

III. Gleichstellung in allen Lebensbereichen – Was heute zu tun ist Trotz aller Errungenschaften, auch im Jahr 2019 ist Geschlecht immer noch eine zentrale Ungleichheitskategorie in unserer Gesellschaft. Die ungleiche Verteilung von Ressourcen wie Macht und Geld, die unterschiedlichen Lebensrealitäten bezogen auf die Verantwortlichkeit für unbezahlte Care-Arbeit und die immer noch existente Bedrohung von Frauen durch (sexualisierte) Gewalt sind Beispiele dafür, dass es für die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen nach wie vor viel – auch gesetzgeberischen – Handlungsbedarf gibt. Auch mit den Mitteln des Rechts kann und muss die Gleichstellung von Frauen und Männern immer noch vorangetrieben werden. Leider fehlt es weniger an Wissen oder Vorschlägen, was zu tun wäre. Es fehlt an einer kontinuierlichen Gleichstellungspolitik, die ihren Verfassungsauftrag als Querschittsaufgabe in allen Politikfeldern verfolgt und mit den entsprechenden Ressourcen ausgestattet ist, diese Ziele auch zu erreichen. Auch im Jahr 2019 fehlt es an einer in allen Ressorts verankerten Gleichstellungspolitik. Zwar ist die Gleichstellung von Frauen und Männern in § 2 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien als „durchgängiges Leitprinzip“ vorgegeben, leider fehlt es an der entsprechenden Aufstellung in Organisationsstrukturen und Ressourcenausstattung der Bundesministerien. Ganz praktisch lassen sich diese Defizite nachvollziehen, wenn in Gesetzentwürfen die Ausführungen über die Auswirkungen der geplanten Maßnahmen auf die Gleichstellung der Geschlechter in Oberflächlichkeit verharren (wie die Aussage: Das Gesetz richtet sich an Frauen und Männer gleichermaßen) und die mittelbaren Auswirkungen geplanter Maßnahmen aufgrund der unterschiedlichen Lebenssituationen von Frauen und Männern keine Rolle spielen. Eine professionalisierte Gleichstellungspolitik muss über klare Ziele, angemessen ausgestattete Akteure (zum Beispiel ein Bundesinstitut für Gleichstellung) und kontinuierliches Monitoring (mit geschlechterdifferenzierten Daten) der Zielerreichung erfolgen. Hierfür bedarf es allerdings auch der Anerkennung der Tatsache, dass die Gleichstellung von Frauen und 14 BVerfGE 85, 191 – 214. Recht und Politik, Beiheft 4

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Männern auf dem Arbeitsmarkt, bei Führungspositionen in unserer Gesellschaft, bei der Verteilung der unbezahlten Arbeit, bei der Entgeltgleichheit oder der angemessenen Altersversorgung kein Selbstläufer ist. Wo die gewählten gesetzgeberischen Instrumente zu keinen Ergebnissen führen, müssen geeignetere Maßnahmen zur Zielerreichung auf den Weg gebracht werden. Ein aktuelles Beispiel ist das Entgelttransparenzgesetz. Das Prinzip des gleichen Entgelts für gleiche und gleichwertige Arbeit ist seit Jahrzehnten ein Prinzip ohne Praxis. Die im Juli 2019 vorgelegte Evaluation des Entgelttransparenzgesetzes15 zeigt, was Verbände wie der Deutsche Juristinnenbund von Anfang an moniert haben: Das Gesetz leistet keinen bemerkenswerten Beitrag zur Durchsetzung der Entgeltgleichheit zwischen Frauen und Männern. Der individuelle Auskunftsanspruch wurde kaum genutzt und das Wissen in Unternehmen darüber, wie man diskriminierende Entgeltstrukturen erkennt, ist immer noch extrem gering.16 Der aktuelle Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD hatte vorgesehen, diese Evaluation zunächst abzuwarten. Die Erfahrung zeigt, dass jeder gleichstellungspolitische Fortschritt durch überparteiliche Aktivitäten und die Zusammenarbeit von Frauen in Politik und Zivilgesellschaft durchgesetzt werden muss. Es wird Zeit, diese Anstrengungen durch strukturelle Maßnahmen zu unterstützen und das Politikfeld und die Querschnittsaufgabe Gleichstellung so aufzustellen, dass eine wissensbasierte und zielorientierte Politik möglich wird.

15 Bericht der Bundesregierung zur Wirksamkeit des Gesetzes zur Förderung der Entgelttransparenz zwischen Frauen und Männern sowie zum Stand der Umsetzung des Entgeltgleichheitsgebots in Betrieben mit weniger als 200 Beschäftigten, https://www.bmfsfj.de/entge lttransparenzbericht. 16 Schlussfolgerungen des Deutschen Juristinnenbundes e.V. aus der Evaluation des Entgelttransparenzgesetzes. Stellungnahme vom 07. 08. 2019, https://www.djb.de/verein/Kom-u-AS/ K1/st19 – 18/. 74

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Menschenwürde, Bürgerfreiheit, Zeitgeist und Staatsräson Verfassungswandel der Grundrechte unter dem Grundgesetz Von Martin H. W. Möllers

I. Einleitung zur Menschenwürde und Vorgehensweise Die fünfte Bayerische Verfassung vom 2. Dezember 19461 regelt in Art. 100 Verf BY: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Damit ist ihr Wortlaut mit Art. 1 Abs. 1 GG identisch. Die Verfassung Bayerns baute vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat die Kompetenzen der bayerischen Landesverfassungsgerichtsbarkeit zum Eigenschutz weit aus. Es entsprach dem Zeitgeist, den neuen „Bayerischen Verfassungsgerichtshof“ (BayVerfGH) durch Gesetz vom 22. Juli 19472 zu errichten. Zu seinen ersten Aufgaben gehörte es, die in Art. 100 Verf BY geregelte Würde des Menschen – noch vor dem erst später gegründeten Bundesverfassungsgericht3 – so zu definieren: „Der Mensch als Person ist Träger höchster geistig-sittlicher Werte und verkörpert einen sittlichen Eigenwert, der unverlierbar und auch jedem Anspruch der Gemeinschaft, insbesondere allen rechtlichen und politischen Zugriffen des Staates und der Gesellschaft gegenüber eigenständig und unantastbar ist.“4

Dagegen wiegelte das erst 1951 errichtete BVerfG in einer seiner ersten Entscheidungen eher ab: „Wenn Art. 1 Abs. 1 GG sagt: ,Die Würde des Menschen ist unantastbar‘, so will er sie nur negativ gegen Angriffe abschirmen. Der zweite Satz: ,… Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt‘ verpflichtet den Staat zwar zu dem positiven Tun des ,Schützens‘, doch ist dabei nicht Schutz vor materieller Not, sondern Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. gemeint.“5 1 2 3 4 5

BayRS 100 – 1-S, BY GVBl 1946, S. 333. BY GVBl 1947, S. 147. Nach Inkrafttreten des BVerfGG am 17. 4. 1951. BayVerfGHE n. F. 1, 29, 32; 2, 85, 91. Beschluss des Ersten Senats vom 19. 12. 1951 – 1 BvR 220/51 = BVerfGE 1, 97, 104.

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Martin H. W. Möllers

Diese Interpretation hielt aber nicht lange stand. Das BVerfG erweiterte sie in späteren Entscheidungen6, indem es deutlich machte, dass es nach der Vorstellung des Grundgesetzgebers zum Wesen des Menschen gehöre, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden.7 Daher schließe die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen.8 Jede Behandlung des Menschen sei damit durch die öffentliche Gewalt verboten, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stelle9, indem der Staat die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukomme.10 Damit konstatiert das BVerfG, dass eine dem Selbstzweck dienende Überhöhung des staatlichen Herrschaftsverbands jedenfalls ausscheidet. Vielmehr garantiert es den Eigenwert des Menschen gegenüber Eingriffen und Rücksichtslosigkeiten von Staat und Gesellschaft, die immer wieder in seinen Entscheidungen zum Tragen kommen.11 Unter dieser Prämisse des Wandels der Konkretisierung der Menschenwürde, die den Kern eines jeden Grundrechts ausmacht12, findet der Verfassungswandel der Grundrechte unter dem Grundgesetz statt. Dieses wurde seit seinem Inkrafttreten über 60 Mal geändert, darunter waren Grundrechte direkt aber nur siebenmal betroffen. Im Einzelnen war treibende Kraft der sich aus den gesellschaftlichen Ereignissen rekrutierte Zeitgeist. Der aufkommende „Kalte Krieg“ führte 1956 zur Wiederbewaffnung13, bei der u. a. Art. 12 GG geändert wurde (II.), zunehmende Unruhe einer „Außerparlamentarischen Opposition“ brachten 1968 die Notstandsregelungen14, die u. a. Art. 9, 10, 11, 12 und 19 GG änderten (III.). Nach der deutschen Wiedervereinigung und dem Fall des sog. Eisernen Vorhangs erlebte Deutschland seine erste große Flüchtlingswelle, welche 1993 die Neuregelungen des Asylrechts forcierte15 und Art. 16 GG komplett neu gestalteten (IV.) und die Zunahme der Organisierten Kriminalität führte

6 Z. B. Urteil des Ersten Senats zum Luftsicherheitsgesetz vom 15. 2. 2006 – 1 BvR 357/05 = BVerfGE 115, 118, 151. 7 Vgl. BVerfGE 45, 187, 227 f. 8 Vgl. BVerfGE 27, 1, 6; 45, 187, 228; 96, 375, 399. 9 Vgl. BVerfGE 30, 1, 26; 87, 209, 228; 96, 375, 399). 10 Vgl. BVerfGE 30, 1, 26; 109, 279, 312 f. 11 Vgl. Herdegen, in: Herdegen / Klein (Hrsg.), Maunz – Dürig Grundgesetz Kommentar, 7 Loseblattbände, 87. EL, März 2019, Art. 1 Abs. 1, Rn. 1. 12 Vgl. Möllers / Lemke, Grundrechte bei der Polizei, 4. Aufl., 2019, Rn. 256 ff. 13 Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 19. 3. 1956 (BGBl I 1956, 111). 14 Siebzehntes Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. 6. 1968 (BGBl I 1968, 709). 15 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 16 und 18) vom 28. 6. 1993 (BGBl I 1993, 1002). 76

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Menschenwürde, Bürgerfreiheit, Zeitgeist und Staatsräson

199816 schließlich zur um die Absätze 3 – 6 ergänzenden Neufassung des Art. 13 GG, der seitdem Lauschangriffe absichert (V.). Darüber hinaus sind weitere Grundrechte durch Änderungsgesetze betroffen worden, z. B. bescherte das Änderungsgesetz von 200017 dem Auslieferungsverbot einen doppelt qualifizierten Schrankenvorbehalt und das Änderungsgesetz von 199418 fügte den zweiten Satz in Art. 3 Abs. 2 GG ein: Nach 45 Jahren GG wollte der Staat endlich ernst machen mit der „tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung“ von Frauen und Männern. Nach 70 Jahren GG ist dieses Ziel aber noch nicht erreicht19 und scheint derzeit auch zu stagnieren.20 Weitere Änderungen oder Ergänzungen der Grundrechte sind nicht durch den verfassungsändernden Gesetzgeber unmittelbar erfolgt, aber das BVerfG hat in seinen Entscheidungen den Wandel der Grundrechte mit beschlossen (VI.).

II. Grundrechtseinschränkungen durch die Wiederbewaffnung 1956 War an eine nationale Wiederbewaffnung Deutschlands nach Inkrafttreten des GG nicht zu denken gewesen, wurden angesichts des sich verstärkenden Ost-West-Konflikts die Stimmen für eine deutsche Wiederbewaffnung immer zahlreicher. Auch die Alliierten forderten von Deutschland einen Beitrag zur europäischen Verteidigung. So führten Zeitgeist und Staatsräson trotz heftiger Proteste von Opposition und Öffentlichkeit gegen eine Wiederbewaffnung dazu, dass die Regierungskoalition von CDU/ CSU und FDP unter Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) und fast alle Stimmen der SPD das Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 19. März 1956 verabschiedeten. Es änderte die sieben Art. 1, 12, 36, 49, 60, 96, 137 GG und fügte neu die Art. 17a, 45a, 45b, 59a, 65a, 87a, 87b, 96a, 14321 GG ein. Während die Änderung in Art. 1 Abs. 3 GG in Berücksichtigung des Art. 79 Abs. 3 GG lediglich eine Begriffsangleichung war, indem aus „Verwaltung“ „vollziehende Gewalt“ wurde, bedeuteten die Ergänzungen des Art. 12 GG und die Einfügung des Art. 17a GG erhebliche Grundrechtseinschränkungen, die wiederum weitere Grundrechtsbeschränkungen betrafen.

16 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 13) vom 26. 3. 1998 (BGBl I 1998, 610). 17 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 16) vom 29. 11. 2000 (BGBl I 2000, 1633). 18 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 3, 20a, 28, 29, 72, 74, 75, 76, 77, 80, 87, 93, 118a und 125a) vom 27. 10. 1994 (BGBl I 1994, 3146). 19 Deutschland nimmt Platz 14 ein, Länder wie Nicaragua, Ruanda, Philippinen und Namibia liegen auf besseren Plätzen: World Economic Forum (Hrsg.), The Global Gender Gap Report 2018, 2018, S. 9. 20 World Economic Forum (Fn. 19), S. 28. 21 Art. 143 war in der ersten Grundgesetzänderung am 30. 8. 1951 durch Art. 7 Strafrechtsänderungsgesetz aufgehoben worden. Recht und Politik, Beiheft 4

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Die Ergänzungen des Art. 12 GG setzten die politische Entscheidung um, eine Wehrpflicht nur für Männer einzuführen. Der zweite Absatz ließ dabei die Möglichkeit offen, aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern und stattdessen eine Ersatzdienstpflicht abzuleisten, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte steht und nicht länger als der Wehrdienst sein durfte. Frauen wurden in einem neu geschaffenen Abs. 3 von der Wehrpflicht ausgenommen und ihnen sogar der Dienst mit der Waffe im Verband der Streitkräfte verboten. Damit stand Art. 12 Abs. 3 GG im Gegensatz zum Diskriminierungsverbot gemäß Art. 3 Abs. 3 GG. Dass die allgemeine Wehrpflicht nur Männer betraf und im Notstandsfall immer noch betrifft, steht nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG22 aber nicht im Widerspruch zum Gleichberechtigungsgrundsatz des Art. 3 GG. Dass Frauen keinen Dienst mit der Waffe leisten durften, wurde jedoch am 11. Januar 2000 durch eine Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union23 gekippt. Das Urteil des EuGH führte zur Verfassungsänderung des Art. 12a GG:24 Aus „auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten“ wurde nunmehr „auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden“, sodass seit 1. Januar 2001 in Deutschland alle Laufbahnen der Bundeswehr uneingeschränkt für Frauen geöffnet sind. Die allgemeine Wehrpflicht betrifft sie aber nach wie vor nicht. Art. 17a Abs. 1 GG schränkt fü r die Angehörigen der Bundeswehr und des Ersatzdienstes während ihrer aktiven Zeit Grundrechte ein: die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbs. GG, die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG und das Petitionsrecht gem. Art. 17 GG. Darüber hinaus bestimmt Art. 17a Abs. 2 GG, dass Zivilschutzgesetze die Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG und die Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 GG einschränken konnten. Die Beschränkungen wurden dem Sozialstaatsprinzip zugeschrieben, das dem Einzelnen freiheitsbegrenzende Einbindung in die Gemeinschaft auferlegt.25 Um die Grundrechte zu schützen, wurde eigens das Amt des Wehrbeauftragten – als erster Ombudsmann im deutschen Recht26 – durch Einfügung von Art. 45b GG errichtet.27 Durch die Beschränkung der Wehrpflicht auf den Spannungs- und Verteidigungsfall (§ 2 WpflG) sind die genannten Grundrechtsbeschränkungen eher ohne Bedeutung. 22 Vgl. BVerfGE 12, 45, 49 ff.; 12, 311, 316; 28, 243, 261; 38, 154, 167; 48, 127, 159 ff.; 69, 1, 21 f. 23 Urteil des EuGH in der Rechtssache C-285/98 – Tanja Kreil / Bundesrepublik Deutschland vom 11. 1. 2000. 24 Durch Art. 1 des Änderungsgesetzes vom 19. 12. 2000 (BGBl I 2000, 1755). 25 Vgl. Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, 1961, S. 125; Erichsen, Wolfgang Martens zum Gedächtnis; in: Selmer / von Münch (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, S. 5 – 18, hier S. 17. 26 Klein, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 45b, Rn. 7. 27 Vgl. Klein, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 45b, Rn. 1 u. 13; Lerche, Grundrechte der Soldaten; in: Bettermann / Nipperdey / Neumann / Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 4, 1. Hbd., 2. Aufl. 1972, S. 447 ff. 78

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Menschenwürde, Bürgerfreiheit, Zeitgeist und Staatsräson

III. Grundrechtseinschränkungen durch die Notstandsregelungen von 1968 Die schon länger im Bundestag geplanten Notstandsgesetze28, die verfassungspolitisch sehr umstritten waren29, sollten die Handlungsfähigkeit des Staats in Krisensituationen unter Billigung von Grundrechtseinschränkungen absichern. Gegen ihre Verabschiedung wandte sich nicht nur die einzige Oppositionspartei FDP, sondern es hatte sich in der Öffentlichkeit die sog. „Außerparlamentarische Opposition“ (APO) entwickelt, die insbesondere aus Studierenden, Intellektuellen und Gewerkschaftsmitgliedern bestand und gegen die Pläne der aus CDU/CSU und SPD zusammengesetzten Großen Koalition Widerstand in Form von Demonstrationen leisteten. Denn sie fürchteten mit Blick auf die Erfahrungen mit dem Notverordnungsrecht nach Art. 48 WRV eine Gefährdung der jungen Demokratie. Nachdem am 11. April 1968 der Studentenführer Rudi Dutschke (1940 – 1979) auf offener Straße angeschossen worden war, nahmen die Auseinandersetzungen der APO mit der Staatsmacht – und der Springer-Presse, die Staatsräson forderte, – immer mehr gewaltsame Züge an und bestärkten dadurch vor allem die konservativen Abgeordneten darin, eine Grundgesetzänderung herbeizuführen. Da 1968 die Große Koalition dafür die notwendige Zweidrittelmehrheit im Bundestag besaß, konnten die Notstandsgesetze durch das Siebzehnte Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 196830 verabschiedet werden. Die Modifizierung der Verfassung betraf insgesamt 29 geänderte, aufgehobene oder eingefügte Grundgesetzartikel. Geändert wurden Art. 10, 11 Abs. 2, 12, 73 Nr. 1, 87a und 91 GG; aufgehoben wurden Art. 59a, 65a Abs. 2, 142a und 143 GG; neu eingefügt wurden Art. 9 Abs. 3 Satz 3, 12a, 19 Abs. 4 Satz 3, 20 Abs. 4, 35 Abs. 2 u. 3, 53a, 80a sowie Art. 115a bis 115 l GG. Diese Veränderungen der Verfassung in den Notstandsregelungen waren nach dem Deutschlandvertrag von 195231 Voraussetzung, um der Bundesrepublik Deutschland von den westlichen Alliierten die volle Souveränität zurück zu erhalten. Denn diese hatten sich u. a. das Recht vorbehalten, „im Bundesgebiet den Post- und Fernmeldeverkehr zu überwachen und nach eigenem Ermessen Telefonate abzuhören und Briefe zu öffnen“.32 Außerdem wollten sie sicherstellen, dass ihre in der Bundesrepublik stationierten Truppen vor Angriffen und Putschversuchen geschützt 28 Zur Entstehungsgeschichte der Notstandsgesetze vgl. die Einführung bei Sterzel (Hrsg.), Kritik der Notstandsgesetze, 1968. 29 Vgl. Evers, AöR 91 (1966), 193, 199 f.; Hall, JZ 1968, 159 – 167; Hoffmann, Innerer Notstand, Naturkatastrophen und Einsatz der Bundeswehr; in: Sterzel (Fn. 28), S. 86 – 117, hier 115 f.; Sterzel, Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses; Ausschluß des Rechtsweges; in: Ders. (Fn. 28), S. 24 – 42, hier 35. Vgl. auch Hofmann, Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis 1990; in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2003, S. 355 – 422, Rn. 52 ff. 30 BGBl. I 1968, 709. 31 BGBl. II 1955, 305. 32 Durner, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 10, Rn. 21. Recht und Politik, Beiheft 4

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würden. Mithilfe der nunmehr im Grundgesetz verankerten Notstandsverfassung sollen die neuen Regelungen die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und das Funktionieren von Gesetzgebung und Verwaltung bei Krieg, Bürgerkrieg, politischem Streik und anderen Krisenfällen gewährleisten.33 1. Die wichtigsten Streitpunkte Streitpunkte bei der Notstandsgesetzgebung waren die Einführung von Dienstpflichten, Arbeitszwang und Arbeitskampf 34, das Widerstandsrecht in Art. 20 Abs. 4 GG35, der Innere Notstand, die Beendigung des Notstandsfalls und der Einsatz der Bundeswehr36, die Errichtung des Gemeinsamen Ausschusses37, der Spannungsfall und der Bündnisfall38 sowie die einfachen Notstandsgesetze.39 Vor allem aber und sehr heftig umstritten waren die Beschränkungen der Grundrechte, insbesondere die Änderungen von Art. 10 Abs. 2 GG und Art. 19 Abs. 4 Satz 3 GG. Dadurch wurde das Fernmeldegeheimnis zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestands oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes mit einem Ausschluss des Rechtswegs beschränkt. Anstelle des Rechtswegs wurde ein vom Parlament eingesetzter Ausschuss als politisches Überwachungsgremium zuständig (Art. 10 GG-Gesetz a. F.): 5 Mitglieder des Bundestags bildeten den Art. 10 GG-Ausschuss. Sie wurden jedes halbe Jahr vom Verfassungsschutz über den Bundesinnenminister informiert. Diese 5 Parlamentarier wählten ein 3-er-Gremium (Art. 10 GG-Kommission) aus unbescholtenen Bürgern (der Vorsitzende der Kommission musste die Befähigung zum Richteramt haben), die im Vorhinein über den Einzelfall befanden. Diese Verfahren waren streng geheim, nichts war bekannt über die Zahl der Anträge, auch nicht ob und wie viele abgelehnt wurden. Das Gesetz bedeutete eine Ausnahmeregelung zum Grundrecht Rechtswegegarantie. Denn es konnte auch bestimmen, dass die Abhörmaßnahme den Betroffenen nicht mitgeteilt wird. Dies wurde entsprechend als 3. Satz in Art. 19 Abs. 4 GG ergänzt. Der Streit entbrannte zum einen an der Frage, ob die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips und daher unter den unveränderlichen Schutz des Art. 20 GG zu stellen ist. Bei Zustimmung läge eine verfassungswidrige Verfassungsänderung vor, die gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen würde, der u. a. festlegt, dass Bestimmungen, durch welche die in Art. 20 GG niedergelegten Grund33 Häberle / Koch / Hakenberg / König / Winkler, Model / Creifelds: Staatsbürger-Taschenbuch, 34. Aufl., 2018, S. 213 f. 34 Vgl. dazu Wahsner, Dienstpflicht, Arbeitszwang, Arbeitskampf; in: Sterzel (Fn. 28), S. 43 – 64. 35 Vgl. Kempen, Widerstandsrecht; in: Sterzel (Fn. 28), S. 65 – 85. 36 Vgl. Hoffmann (Fn. 29), S. 86 – 117; Perels, Die Beendigung des Notstandsfalls; in: Sterzel (Fn. 28), S. 181 – 186. 37 Vgl. Emmelius, Der Gemeinsame Ausschuss; in: Sterzel (Fn. 28), S. 118 – 160. 38 Vgl. Seifert, Spannungsfall und Bündnisfall; in: Sterzel (Fn. 28), S. 161 – 180. 39 Vgl. Römer, Die „einfachen“ Notstandsgesetze; in: Sterzel (Fn. 28), S. 161 – 180. 80

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sätze berührt werden, unzulässig sind. Zum anderen wurde kritisiert, dass die Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses „dem Betroffenen nicht mitgeteilt“ zu werden brauchten. Dadurch behandelt der Staat den Bürger als Objekt und nicht mehr als Subjekt, worin ein Verstoß gegen die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG zu sehen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dieser Sache aber nur kurz (½ Satz) beschäftigt und den Gesetzgeber verpflichtet, in Art. 10 GG aufzunehmen, dass bei ergebnisloser Abhörung der Betroffene im Nachhinein informiert werden muss. Diese Pflicht erlischt jedoch nach fünf Jahren, sodass diese Regelung den Nachrichtendiensten ermöglicht, dass nach ergebnisloser Abhörung ein „Rest-Verdacht“ festgehalten wird, bis die fünf Jahre um sind. Dass diese parlamentarischen Gremien-Kontrollen der Nachrichtendienste selbst nach späteren Gesetzesüberarbeitungen nicht funktionierten, wurde dann in den verschiedenen NSU-Untersuchungsausschüssen ans Tageslicht befördert.40 Nach bis 1968 herrschender Meinung waren auch die anderen Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips unveränderlich. Als Bestätigung dieser Auffassung wurde Art. 28 Abs. 1 GG herangeführt, der bestimmt, dass die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern u. a. dem Grundsatz des Rechtsstaats entsprechen muss. Da die Fundamente des Staats für Bund und Länder gleich sein müssen und Art. 20 GG das für den Bund ist, was Art. 28 Abs. 1 GG für die Länder, unterstehen alle Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips – damit also auch die Rechtsweggarantie – dem unveränderlichen Schutz des Art. 20 GG. Die Verfassungsänderung wurde damit während der parlamentarischen Debatten als verfassungswidrig angesehen41 und führten zur Klage vor dem BVerfG. 2. Entscheidungen des Zweiten Senats des BVerfG zu den Streitpunkten Im Urteil des Zweiten Senats zur verfassungsrechtlichen Überprüfung des Grundrechtsergänzungsgesetzes vom 15. Dezember 197042 hat das BVerfG mit 5 gegen 3 Stimmen entschieden, dass Art. 79 Abs. 3 GG eng auszulegen ist: Art. 19 Abs. 4 GG sei nicht Art. 20 GG, d. h. wenn der Gesetzgeber es gewollt hätte, hätte er den Rechtsschutz direkt in Art. 20 GG aufgenommen. „Grundsätze werden ,als Grundsätze‘ von vornherein nicht ,berührt‘, wenn ihnen im allgemeinen Rechnung getragen wird und sie nur für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus evident sachgerechten Gründen

40 Z. B. fordert die SPD „eine signifikante Verbesserung der Personal- und Sachausstattung des Parlamentarischen Kontrollgremiums durch die Einrichtung eines schlagkräftigen Arbeitsstabes mit einem Leitenden Beamten, damit endlich eine effektive und systematische Kontrolle ausgeübt werden kann.“ Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode: Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes; in: Möllers / van Ooyen, NSU-Terrorismus, 2. Aufl. 2018, S. 74. 41 Nachweise bei Evers, in: Dürig / Ders., Zur verfassungsändernden Beschränkung des Post-, Telefon- und Fernmeldegeheimnisses, 1969, S. 35 ff.; vgl. auch Durner, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 10, Rn. 22. 42 BVerfGE, 30, 1 – 33 – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68, 2 BvR 308/69 – „Abhörurteil“. Recht und Politik, Beiheft 4

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modifiziert werden.“43 Außerdem sei Art. 19 Abs. 4 Satz 3 GG die einzige Ausnahme, im Prinzip gelte ja die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. Ein gewisser Rechtswegschutz sei auch weiterhin vorhanden, allerdings nicht als Gerichtsrechtsschutz, sondern durch besondere Organe. Dass nicht ein Mitglied der rechtsprechenden Gewalt, also ein Richter, zuständig sein muss – analog zu den Bestimmungen der StPO bei Haftbefehlen, Hausdurchsuchungen etc. –, wurde mit dem Argument des Geheimschutzes begründet. Das Verfassungsgericht entschied staatsräsonistisch: „Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG verlangt, daß das Gesetz zu Artikel 10 GG eine Nachprüfung vorsehen muß, die materiell und verfahrensmäßig der gerichtlichen Kontrolle gleichwertig ist, auch wenn der Betroffene keine Gelegenheit hat, in diesem ,Ersatzverfahren‘ mitzuwirken.“44 In Bezug auf die Frage, unter welchen Umständen die Menschenwürde verletzt sein kann, urteilte der Senat, dass sich dies nicht generell, sondern nur in Ansehung des konkreten Falles sagen lasse. Eine Verletzung der Menschenwürde könne nicht allein darin gefunden werden, dass der Mensch bloßes Objekt des Rechts ist und sich ohne Rücksicht auf seine Interessen fügen muss. „Hinzukommen muß, daß er einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt, oder daß in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Mißachtung der Würde des Menschen liegt.“45 Die Ersetzung des Rechtswegs durch eine andere Rechtskontrolle „kränke“ nicht die Menschenwürde. Denn Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG fordere eine zwar andersartige, aber gleichwertige Rechtskontrolle, die verhindere, dass „Betroffene der Willkür der Behörden ausgeliefert“ wären.46 Da die Notstandsgesetze ja den Zweck verfolgten, eine drohende Gefahr fü r den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes abzuwehren, wurden der Rechts- und Amtshilfe-Artikel 35 GG, Art. 11 Abs. 2 GG und Art. 12a GG entsprechend erweitert. Durch die Schaffung der einfachen Gesetze sah der verfassungsändernde Gesetzgeber für diese die Notwenigkeit, Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG um „oder auf Grund eines Gesetzes“ zu ergänzen. Art. 9 Abs. 3 GG musste um Satz 3 ergänzt werden, damit die Exekutive die Rechts- und Amtshilfe nicht gegen Arbeitskämpfe einsetzt.

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BVerfGE 30, 1, 24. 4. Leitsatz in BVerfGE 30, 1. BVerfGE 30, 1, 26. BVerfGE 30, 1, 27. Recht und Politik, Beiheft 4

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IV. Grundrechtsaushöhlung durch die Asylgesetzgebung von 1993 Das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 16 und 18) vom 28. 06. 199347 hob Art. 16 Abs. 2 GG auf und versetzte ihn als Abs. 1 zum neu geschaffenen Art. 16a GG, der seitdem aus insgesamt 5 Absätzen besteht. Diese Änderung und Ergänzung erforderten auch die Änderung des Art. 18 Satz 1 GG, indem aus „(Art. 16 Abs. 2)“ jetzt „(Art. 16a)“ wurde. Durch diese GG-Umbildung wurde das Asylgrundrecht nahezu abgeschafft.48 Die Regelungen zielten eher auf Flüchtlingsabwehr als auf Flüchtlingsschutz. Sie waren dem Zeitgeist geschuldet. Denn mit dem Bau der Mauer im August 1961 und der Errichtung des sog. „Eisernen Vorhangs“ war der bis dahin kontinuierlichen Flucht aus Ostdeutschland abrupt ein Ende bereitet worden, sodass es keine großen Flüchtlingsströme in die Bundesrepublik mehr gab.49 Erst nach Öffnung der Berliner Mauer ab 1989 als Folge der russischen Perestroika- und Glasnost-Politik Gorbatschows stieg die Zahl der Flüchtlinge wieder an.50 Es waren Asylbewerber aus dem asiatischen Raum, wo Stellvertreterkriege geführt wurden51, Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, Übersiedler aus der DDR und vor allem Spätaussiedler aus dem Ostblock und den GUS-Staaten.52 Dieser Anstieg führte zwischen 1991 und 1993 zu einer „Pogromstimmung“ in Teilen der deutschen Bevölkerung, die eine Welle rassistischer und ausländerfeindlicher gewaltsamer Ausschreitungen insbesondere gegen Asylbewerber losbrachen: Brandanschläge in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, Mordanschläge in Mölln und Solingen.53 Die Medien machten zudem mächtigen Druck, sodass es schließlich zu diesem Asylkompromiss kam, den alle Fraktionen des Bundestages als Entwurf einbrachten.54 Das gegenseitige Misstrauen der beteiligten Parteien führte allerdings dazu, dass alle Details des politischen Kompromisses in Art. 16a GG seinen Niederschlag fanden, um sie nicht dem einfachen Gesetzgeber für spätere Änderungen zu überlassen.55 Damit wurde der Rahmencharakter der Verfassung verlassen.56 47 BGBl I 1993, 1002 (sog. „Asylkompromiss“). 48 Gärditz, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 16a, Rn. 38 m. w. N. 49 Vgl. Oltmer, Globale Migration, 2012, S. 111. Schätzungsweise 3,7 Mio. Menschen kamen zwischen 1949 und 1961 aus der DDR nach Westdeutschland, in den 30 Mauerjahren um die 600 Tausend: Jung / Niehr / Böke, Ausländer und Migranten im Spiegel der Presse, 2000, S. 19. 50 Gärditz, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 16a, Rn. 32; Ther, Die Außenseiter, 2. Aufl. 2017, S. 284. 51 Vgl. Oltmer, Globale Migration (Fn. 48), S. 106 f. 52 Vgl. Jung / Niehr / Böke (Fn. 48), S. 19 f.; Haberland, ZAR 1/1994, 3 – 9; 2/1994, 51 – 59. 53 Vgl. Quent, Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus, 2. Aufl. 2019, S. 173 ff. 54 BT-Drs. 12/4152. Bündnis 90/Die Grünen und die damalige PDS hatten keinen Fraktionsstatus. 55 Voßkuhle, DÖV 1994, 53 ff., 58; Gärditz, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 16a, Rn. 34. Recht und Politik, Beiheft 4

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1. Der wichtigste Streitpunkt: „sichere Drittstaaten“ Die Änderung des Grundgesetzes garantierte zwar immer noch das Recht der Flüchtlinge als Individualgrundrecht, es wurde aber durch drei verfassungsrechtliche Qualifizierungen eingeschränkt: „sichere Drittstaaten“, „sichere Herkunftsstaaten“ und die Verkürzung des Rechtswegs durch die sog. „Flughafenregelung“ nach Art. 16a Abs. 4 GG.57 Vor allem das Konzept der sicheren Drittstaaten (Art. 16a Abs. 2 GG), von denen Deutschland komplett umgeben ist, weil die damaligen Staaten, die (noch) nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörten, umgehend per Gesetz zu sicheren Drittstaaten erklärt wurden, nimmt Flüchtenden die bisher bestandene individuelle Chance, tatsächlich Schutz zu erlangen. Bis zur Neuregelung des GG waren Zwischenaufenthalte, Durchreise oder Reiseunterbrechungen, um faktische Einreisehindernisse in die Bundesrepublik zu beseitigen, nach einem Urteil des BVerwG58 grundsätzlich unschädlich. Nunmehr wird jeder Gebietskontakt zu einem sicheren Drittstaat Ausschlusskriterium für Asyl. Nur noch Luft- und Seeweg bleiben seitdem für Flüchtende geeignet, Asyl zu erlangen. Das bedeutet faktisch die Aufgabe des Asylrechts als grundrechtliches Schutzversprechen. Insofern ist der sog. Asylkompromiss ein erstes Abwehrinstrument für politisch unerwünschte Folgen der Globalisierung.59 2. Die Entscheidung des BVerfG zur GG-Änderung Das BVerfG hat den Asylkompromiss für verfassungskonform anerkannt.60 Unter anderem hat es folgende Einwände zurückgewiesen: Es wies den Einwand, die Aushöhlung des Asylgrundrechts verletze die Menschenwürde und sei daher mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht vereinbar, ebenso zurück wie die Kritik, die Rechtsschutzverkürzungen, die keinen effektiven lückenlosen Rechtsschutz mehr böten, verstießen gegen das Rechtstaatsprinzip. Völlig überraschend geht das Gericht sogar davon aus, dass es verfassungsgemäß sei, das Asylgrundrecht generell aufzuheben, sodass erst recht Beschränkungen zulässig wären.61

56 Vgl. Becker, in: Huber / Voßkuhle (Hrsg.), MKS-Kommentar zum Grundgesetz in 3 Bänden, 7. Aufl. 2018, Art. 16a, Rn. 15; Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013, S. 67; Voßkuhle, DÖV 1994, 53 f., 64. 57 Vgl. van Ooyen, Politik und Verfassung. Beiträge zu einer politikwissenschaftlichen Verfassungslehre, 2006, S. 159. 58 BVerwGE 78, 332, 343 ff.; zum Beispiel Warten auf Reisepapiere und Beschaffung von Geld: BVerwGE 79, 347 ff. 59 Vgl. Gärditz, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 16a, Rn. 37. 60 BVerfGE 94, 49, 102 ff. 61 BVerfGE 94, 49, 103 f.; vgl. Gärditz, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 16a, Rn. 36; Gusy, Jura 1993, 505 – 513; besonders kritisch van Ooyen (Fn. 57), S. 159 f.; vgl. auch van Ooyen, Staatliche, quasi-staatliche und nichtstaatliche Verfolgung?; in: Möllers / van Ooyen, Bundesverfassungsgericht und Öffentliche Sicherheit 2, 5. Aufl. 2019, S. 19 – 53. 84

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V. Grundrechtsbeschränkung durch das Änderungsgesetz von 1998 Aufgrund der Kriminalitätszunahme und neuer Erscheinungsformen der Kriminalität, wurde nach langjähriger intensiver politischer Diskussion62 Art. 13 GG schließlich im Jahre 1998 völlig neu gefasst und in seiner Schrankensystematik so verändert, dass er fortan neben präventiven auch einen „repressiven“ großen „Lauschangriff“ verfassungsrechtlich zulässt. Denn akustische und optische Wohnraumüberwachungen, die heimlich erfolgen sollten, konnten nicht unter den Begriff der Wohnungsdurchsuchung subsumiert werden, weil Wesensmerkmal von Durchsuchungen ihre Offenheit war.63 Das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 13) vom 26. März 199864 machte Art. 13 Abs. 3 GG zu Abs. 7 und fügte die Abs. 3 bis 6 neu ein. Dadurch wurde die Schutzfunktion des Art. 13 GG gegen akustische und optische Wohnraumüberwachung weiter beschränkt.65 Unmittelbar nach dieser Verfassungsänderung führte das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität vom 4. Mai 199866 das Abhören von Wohnungen auch in das Strafprozessrecht ein. Und in der Folgezeit wurden die einfachen Gesetze immer weiter zugunsten von Lauschangriffen reformiert.67 1. Die wichtigsten Streitpunkte Art. 13 GG beinhaltet eine Wertentscheidung, die sich aus der Bedeutung der Wohnung als Mittelpunkt der menschlichen Existenz ergibt. Daher ist bei jedem Eindringen der öffentlichen Gewalt in die Wohnung der hohe Achtungswert der Privatheit der räumlichen Sphäre zu berücksichtigen.68 In der Einführung von akustischen Wohnraumüberwachungsmaßnahmen zur Strafverfolgung sahen Kritiker die Menschenwürde missachtende Eingriffe in den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung, sodass Betroffene zum Objekt staatlichen Handelns gemacht würden69, keine Rückzugsmöglichkeit mehr hätten70 und eine freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2

62 Zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP vgl. BT-Drs. 13/8650. 63 Davon ging auch der Gesetzgeber aus: BT-Drs. 13/8650, S. 4; vgl. Gornig, in: Huber / Voßkuhle (Hrsg.), MKS-Kommentar zum Grundgesetz (Fn. 56), Art. 13 Abs. 2, Rn. 66; Papier, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 13, Rn. 49. 64 BGBl I 1998, 610. 65 Zur Diskussion vgl. Müller, Der sogenannte „Große Lauschangriff“, 2000, S. 56 ff. 66 BGBl I 1998, 845. 67 Vgl. Kastner, Abhören von Wohnungen, in: Möllers (Hrsg.), Wörterbuch der Polizei, 3. Aufl., München 2018, S. 9 f. 68 BVerfGE 18, 121, 123. Vgl. Gornig, in: MKS-Kommentar zum Grundgesetz (Fn. 56), Art. 13 Abs. 1, Rn. 11; Papier, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 13, Rn. 8. 69 de Lazzer / Rohlf, NJW 1977, 207, 211; Eisenberg, NJW 1993, 1033, 1037. 70 Hassemer, DRiZ 1992, 357, 358; Leutheusser-Schnarrenberger, ZRP 1998, 87, 88. Recht und Politik, Beiheft 4

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Abs. 1 GG) nicht mehr möglich sei.71 Damit sei der Wesensgehalt des Art. 13 GG i.S.d. Art. 19 Abs. 2 GG angetastet und die GG-Änderung verfassungswidrig.72 Tatsächlich weist der Zusammenhang der Unverletzlichkeit der Wohnung in der EMRK mit dem „Privat- und Familienleben“ sowie dem privaten „Briefverkehr“ auf die besondere Bedeutung dieses Grundrechts hin, das unverletzlich ist und deshalb in unmittelbarem Sinn- und Konkretisierungszusammenhang mit der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG steht.73 Ein menschenwürdiges Leben ist nämlich nur dann gewährleistet, wenn dem Menschen ein unantastbarer Persönlichkeitsbereich verbleibt, in dem er sich selbst besitzt und in Ruhe gelassen wird. 2. Die Entscheidung des BVerfG zur GG-Änderung Diesen unantastbaren Persönlichkeitsbereich hatte das BVerfG schon 1969 in seinem „Mikrozensus-Urteil“ festgestellt, in dem es ausführte, dass jeder Mensch „ein Recht auf Einsamkeit genießt“.74 Eine entsprechende Verbindung der Menschenwürde zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG wurde vom BVerfG bereits im sog. „Volkszählungs-Urteil“ bestätigt.75 Daher stellte der Erste Senat des Verfassungsgerichts in seinem Urteil vom 3. März 200476 fest: „Zur Unantastbarkeit der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG gehört die Anerkennung eines absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung. In diesen Bereich darf die akustische Überwachung von Wohnraum zu Zwecken der Strafverfolgung (Art. 13 Abs. 3 GG) nicht eingreifen. Eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zwischen der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Strafverfolgungsinteresse findet insoweit nicht statt.“77 Im Gesamtergebnis entschied der Erste Senat des BVerfG mit fünf zu zwei Richterstimmen, dass die in Art. 13 Abs. 3 GG im Jahr 1998 vorgenommene Verfassungsänderung nicht ihrerseits verfassungswidrig, sondern mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar ist78, sodass die bis dahin umstrittene Einführung der Abs. 3 – 6 in Art. 13 GG nunmehr als mit der Ewigkeitsklausel vereinbar gilt. Sie erklärten aber eine Reihe von Vorschriften 71 de Lazzer / Rohlf, NJW 1977, 207, 211; Eisenberg, NJW 1993, 1033, 1037. 72 Leutheusser-Schnarrenberger, ZRP 1998, 87, 88. 73 Vgl. Papier, in Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 13, Rn. 56; van Ooyen (Fn. 57), S. 159 f.; Möllers, Der Einfluss der Staatsrechtslehre auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Abwägung der Menschenwürde, in: van Ooyen / Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, S. 587, 598 f. 74 BVerfGE 27, 1, 6. 75 BVerfGE 65, 1 ff. 76 BVerfGE 109, 279 ff. = BVerfG, Erster Senat, U. v. 3. 3. 2004, 1 BvR 2378/98, https://www. bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20040303_1bvr237898.html (letzter Abruf 15. 10. 2019). 77 Zweiter Leitsatz des Urteils. Bestätigt im Urteil vom 27. 7. 2005: BVerfGE 113, 348 ff. 78 BVerfGE 109, 279, erster Leitsatz. 86

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der StPO zur Durchführung der akustischen Überwachung von Wohnraum zu Zwecken der Strafverfolgung für verfassungswidrig und definierten einen Kernbereich der Unverletzlichkeit der Wohnung, der ausnahmslos dem staatlichen Zugriff entzogen ist. Dem Staat wurde eine absolute Grenze bei seinen Abhörmaßnahmen gezogen, die der Gesetzgeber so nicht vorgesehen hatte. Denn in den für verfassungswidrig erklärten Rechtsnormen der StPO waren weder Vorkehrungen getroffen worden, die dem Schutz der Intimsphäre dienen sollten, noch wurden die Abhörmaßnahmen auf besonders schwerwiegende Straftaten beschränkt.79 Das Gericht stellte zum einen fest, dass auch schwerwiegende Belange der Allgemeinheit Eingriffe in diesen engeren Bereich der Privatsphäre, die für eine „ausschließlich private – eine ,höchstpersönliche’ – Entfaltung“80 dient, nicht rechtfertigen könnten.81 Außerdem entschied das BVerfG zum anderen, dass die akustische Wohnraumüberwachung generell nur zulässig ist bei Straftatbeständen, die als Höchststrafe mehr als fünf Jahre vorsehen.82 Darüber hinaus setzte das BVerfG hohe Anforderungen an den Gesetzgeber bezüglich rechtswidrig erlangter Informationen aus derartigen Abhörmaßnahmen und verlangte umfassende Verwertungsverbote.83 Neben den unmittelbaren Entscheidungen zu den Änderungen des Grundgesetzes trat durch das BVerfG aber auch durch andere Entscheidungen ein Grundrechtewandel ein.

VI. Grundrechtewandel durch Entscheidungen des BverfG (ausgewählte Beispiele) Das BVerfG hat im Laufe der letzten 70 Jahre nicht nur durch juristische Auslegung einen Grundrechtewandel herbeigeführt, sondern trat auch als „Neuschöpfer“ von Grundrechten auf, die das Gericht aus der freien Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG ableitete. 1. Abgeleitete „Neuschöpfung“ von Grundrechten durch das BVerfG a) Die freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG erfordert den Schutz des Menschen u. a. gegen eine unbegrenzte Erhebung, schlichte Kenntnisnahme, Speicherung, Verwendung, Weitergabe und Veröffentlichung seiner persönlichen Daten.84 Aufbauend auf eine frühere Entscheidung im Jahr 196985, in der der Schutz der engeren Persönlichkeitssphäre herausgehoben wurde86, entwickelte das BVerfG im sog. 79 80 81 82 83 84 85 86

Vgl. dazu Roggan, Handbuch zum Recht der Inneren Sicherheit, 2003, S. 35 – 57. BVerfG, Erster Senat, U. v. 3. 3. 2004 (Fn. 76), Rn. 118. Vgl. Roggan, CILIP 1/2004, S. 65. BVerfG, Erster Senat, U. v. 3. 3. 2004 (Fn. 76), Rn. 240. Vgl. dazu Möllers (Fn. 73), S. 602 – 606. BVerfGE 65, 1, 43. BVerfGE 27, 1, 6 und 27, 344, 351. Vgl. Starck, MKS-Kommentar zum Grundgesetz (Fn. 56), Art. 2 Abs. 1, Rn. 14.

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„Volkszählungsurteil“ vom 15. Dezember 198387 das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Denn freie Entfaltung der Persönlichkeit setze, so das Gericht, unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Das Grundrecht gewährleiste „insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen“.88 Dieser Schutz erstreckt sich zwar in erster Linie auf die Daten der automatischen Datenerhebung89, erfasst aber auch Daten, die auf andere Art Dritten bekannt werden können.90 Mit diesem Urteil wirkt das BVerfG gegen die Gefährdungen der individuellen Selbstbestimmung durch die massenhafte Erfassung und Nutzung personenbezogener Daten, wie sie heute durch Staat und Wirtschaft in noch weit größeren Dimensionen als im Urteilsjahr 1983 betrieben wird.91 Anlass der Entscheidung war der Plan der Bundesregierung, in der Bundesrepublik eine Volkszählung als Totalerhebung durchzuführen, indem es ein entsprechendes Gesetz verabschiedete. Das BVerfG urteilte, dass zahlreiche Vorschriften des Volkszählungsgesetzes erheblich und ohne Rechtfertigung in Grundrechte des Einzelnen eingriffen und erklärte diese für nichtig und das gesamte Bundesgesetz für verfassungswidrig. Unmittelbare Auswirkungen hatte das Urteil auf die Datenschutzgesetze des Bundes und der Länder. Das BVerfG anerkannte, dass Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten für die Aufgabenerfüllung der Verwaltung unverzichtbar sind. Es stellte daher fest, dass dem Einzelnen als Mitglied der sozialen Gemeinschaft kein Recht im Sinne einer absoluten, uneinschränkbaren Herrschaft über „seine“ Daten zuerkannt werden kann, sondern er Einschränkungen im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen müsse. Diese Beschränkungen bedürften aber „einer (verfassungsmäßigen) gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht […].“92 Daher stünden Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung unter einem strikten Vorbehalt des Gesetzes. Weitere verfassungsrechtliche Vorgaben des BVerfG sind verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen wie Aufklärungs-, Auskunfts- und Löschungspflichten sowie der Schutz

87 Az. 1 BvR 209, 269, 362, 420, 440, 484/83: BVerfGE 65, 1 ff. 88 BVerfGE 65, 1, 43. Vgl. auch BVerfGE 113, 29, 46; 115, 166, 188; 118, 168, 184; 120, 274, 312; vgl. Schoch, Jura 2008, 352 ff. 89 BVerfGE 65, 1, 45. Vgl. auch Di Fabio, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 2 Abs. 1, Rn. 174. 90 Di Fabio, in: Maunz / Dürig (Fn. 11), Art. 2 Abs. 1, Rn. 176; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl. 2018, Art. 2, Rn. 44. 91 Kutscha, Recht auf informationelle Selbstbestimmung; in: Möllers, Wörterbuch der Polizei (Fn. 67), S. 1821. 92 BVerfGE 65, 1, 44. 88

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gegen Zweckentfremdung durch Weitergabe- und Verwertungsverbote93, auch in Form der Amtshilfe, da im Verhältnis zwischen den Behörden das Prinzip „informationeller Gewaltenteilung“ gelte.94 Auch der „Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken“ erteilte das Gericht eine Absage.95 „Dies soll den Bürger in den Stand versetzen, anhand der gesetzlichen Eingriffsgrundlagen wenigstens in etwa überschauen zu können, bei welchen Anlässen und unter welchen Voraussetzungen sein Verhalten das Risiko staatlicher Überwachung erzeugt.“96 Von Realitätsnähe in dieser Entscheidung kann angesichts der in den letzten Jahren geschaffenen und kaum noch nachvollziehbaren Vielzahl an Datenerhebungsund Datenverarbeitungstatbeständen nicht mehr gesprochen werden. Denn das „Übermaß der generalklauselartig formulierten Eingriffsnormen mit ihren zahlreichen Querverweisungen und Schachtelkonstruktionen hat […] keine Normenklarheit geschaffen, sondern eher die Entgrenzung des Handlungsrahmens insbesondere für die Sicherheitsbehörden bewirkt“.97 b) Die fortschreitende technische Entwicklung führte 2008 zur Neuschöpfung des Grundrechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Es wurde durch das BVerfG-Urteil zur „Online-Durchsuchung“ vom 27. Februar 200898 aus der verfassungsrechtlichen Taufe gehoben und versteht sich als eine weitere Ausprägung des aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Als subsidiäres Grundrecht steht es hinter dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, der Unverletzlichkeit der Wohnung und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Es greift, wenn die jeweilige Rechtsgrundlage zum Eingriff „Systeme umfasst, die allein oder in ihren technischen Vernetzungen personenbezogene Daten der Betroffenen in einem Umfang und in einer Vielfalt enthalten können, dass ein Zugriff auf das System es ermöglicht, einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung einer Person zu gewinnen oder gar ein aussagekräftiges Bild der Persönlichkeit zu erhalten“.99 Diese Umschreibung lässt die Ungenauigkeit des Schutzbereichs dieses umgangssprachlich als „Computergrundrecht“ bezeichneten Grundrechts erahnen. Zudem wird bezweifelt, dass diese Neuschöpfung überhaupt angesichts des bereits anerkannten 93 BVerfGE 65, 1, 46. 94 BVerfGE 65, 1, 69. In späteren Entscheidungen hat das BVerfG aber die Zweckentfremdung personenbezogener Daten unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen: „Der neue Verwendungszweck muss sich auf die Aufgaben und Befugnisse der Behörde beziehen, der die Daten übermittelt werden, und hinreichend normenklar geregelt sein. Ferner dürfen der Verwendungszweck, zu dem die Erhebung erfolgt ist, und der veränderte Verwendungszweck nicht miteinander unvereinbar sein“ (BVerfGE 100, 313, 360). 95 BVerfGE 65, 1, 46. 96 Kutscha (Fn. 91), S. 1822; Vgl. Petri, DuD 2008, 729 – 732. 97 Kutscha (Fn. 91), S. 1822. Vgl. auch Simitis, KritV 1994, 121, 127. 98 BVerfGE 120, 274 – 350. 99 BVerfGE 120, 313, 314. Recht und Politik, Beiheft 4

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Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, dessen Schutzbereich überflüssigerweise verengt werde, notwendig war.100 Das Gericht sieht allerdings die Notwendigkeit dieses Computergrundrechts darin, dass ein Schutzbedarf gegenüber der Infiltration eines eigengenutzten informationstechnischen Systems, durch die Persönlichkeitsbilder einer bisher unbekannten Breite und Dichte geschaffen werden könnten, bestehe, bevor ein Zugriff auf bestimmte Daten erfolgt.101 Gegen solcher Art Infiltration könnten Betroffene das Gefahrenpotential nicht abschätzen und sich dagegen nicht wirkungsvoll wehren. „Die auf das informationstechnische System bezogene Schutzlücke ließe sich jedenfalls auf der Ebene des Schutzes gegen konkrete Datenerhebungen nicht effektiv schließen.“102 Daher stützt sich das BVerfG seitdem auch auf dieses neue Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme.103 Neben der „Neuschöpfung“ von Grundrechten führte das BVerfG in seinen Entscheidungen zum Grundrechtswandel durch juristische Interpretation. 2. Grundrechtswandel durch juristische Interpretation des BverfG am Beispiel der Meinungsfreiheit Einen Tabubruch bei der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG beging das BVerfG in seinem sog. Wunsiedel-Beschluss vom 4. November 2009104: Seit dem Lüth-Urteil gilt, dass „allgemeine Gesetze“ i.S.d. Art. 5 Abs. 2, 1. Alt. GG Normen sind, „die ,nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten‘, die vielmehr ,dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen‘, dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit Vorrang hat“.105 Die Allgemeinheit des Gesetzes ist damit Ausdruck des Verbots der Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.106 Dagegen sind Gesetze, die sich gegen eine 100 Kutscha, Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme; in: Möllers, Wörterbuch der Polizei (Fn. 67), S. 1820; Brenneisen / Rogosch / Martins, DP 2008, 245, 247; Britz, DÖV 2008, 411, 413; Eifert, NVwZ 2008, 521; Lepsius, Das Computer-Grundrecht, in: Roggan (Hrsg.), Online-Durchsuchungen, 2008, S. 21 – 56, 31; Volkmann, DVBl. 2008, 590, 591. 101 So der Berichterstatter des Urteils: Hoffmann-Riem, JZ 2008, 1009, 1016; vgl. auch Kutscha (Fn. 99), S. 1821. 102 Hoffmann-Riem, JZ 2008, 1009, 1017. 103 Z. B. beim Urteil des BVerfG zum BKA-Gesetz vom 20. April 2016: BVerfGE 141, 220 – 378; vgl. dazu Möllers, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum BKA-Gesetz – Hintergrund und Bewertung, JBÖS 2016/17, S. 546 – 554; zu weiterer Kritik des Urteils BVerfGE 120, 274 – 350 vgl. Kutscha (Fn. 99), S. 1821. 104 BVerfGE 124, 300 – 347 = BVerfG-Wunsiedel, 1 BvR 2150/08 vom 4. 11. 2009, http:// www.bverf g.de/e/rs20091104_1bvr 215008.html (letzter Abruf 15. 10. 2019). 105 BVerfGE 7, 198, 209 f. 106 Schaefer, DÖV 2010, 379, 383. 90

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bestimmte Meinung als solche richten und ignorieren, dass niemand wegen seiner politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf, Sondergesetze.107 § 130 Abs. 4 StGB stellt ein solches Sonderrecht dar, indem es die Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung lediglich der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft, nicht aber anderer totalitärer Gewalt- und Willkürherrschaften unter Strafe stellt. So sieht es auch das BVerfG und stellt im 1. Leitsatz heraus, dass es sich um eine „Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze“ handelt. Diese sei jedoch gerechtfertigt, da die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt sich allgemeinen Kategorien entziehendes Unrecht und Schrecken gebracht hat, sodass das Grundgesetz als Gegenentwurf hierzu verstanden werden müsse. Art. 5 Abs. 1 und 2 GG setzten daher für Bestimmungen, die der propagandistischen Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft Grenzen setzen, eine immanente Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze.108 Mit dieser Interpretation beschreitet das BVerfG einen neuen Weg und kehrt von seiner bisherigen Rechtsprechung ab, bei der Karlsruhe es vehement109 ablehnte, in das Grundgesetz ein Meinungssonderrecht in Form eines Verfassungsvorbehalts „gegen neonazistische Anschauungen“ hineinzuinterpretieren.110 Die Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze als Ausdruck einer verfassungsimmanenten Schranke „gegen Nazis“ begründen die acht Richter zusätzlich damit: „…die propagandistische Gutheißung der historischen nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft mit all dem schrecklichen tatsächlich Geschehenen, das sie zu verantworten hat, […] ist […] mit anderen Meinungsäußerungen nicht vergleichbar und kann nicht zuletzt auch im Ausland tiefgreifende Beunruhigung auslösen.“111 Der Wunsiedel-Beschluss markiert daher eine Zäsur, die ihre Kritiker gefunden hat.112 Denn durch diese Entscheidung wird ausdrücklich Sonderrecht gegen rechtsextreme Ansichten gerechtfertigt. Das BVerfG trat mit der Wunsiedel-Entscheidung durch Bruch mit dem herkömmlichen Verständnis der Meinungsfreiheit für eine strafgesetzliche Gesinnungskontrolle ein.113 107 So schon Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. 08. 1919, 14. Aufl. 1933, unveränderter Nachdruck 1960, Art. 118 WRV Nr. 3, S. 554. 108 BVerfG-Wunsiedel, 1 BvR 2150/08 vom 4. 11. 2009 (Fn. 104), 1. Leitsatz. 109 S. dazu BVerfG, NJW 2001, 2076, 2077; a. A. OVG NRW, NJW 2001, 2111, 2112; vgl. Möllers, „Rechtsverletzende“ oder „rein geistige Wirkungen“ von rechtspopulistischen Demonstrationen, in: Schwier (Hrsg.), Zum aktuellen Stand des Versammlungsrechts, 2017, S. 105 – 126; Rühl, NVwZ 2003, 531 – 537. 110 Für Schaefer, DÖV 2010, 379, 383, steht diese Meinungsänderung mit dem Richterwechsel von Wolfgang Hoffmann-Riem zu Johannes Masing in Verbindung: er sieht das BVerfG „durch das ständige Trommelfeuer aus Münster mürbe geschossen“: Schaefer, DÖV 2010, 379, 384. 111 BVerfG-Wunsiedel, 1 BvR 2150/08 vom 04. 11. 2009 (Fn. 43), Rn. 66. 112 Vgl. Schaefer, DÖV 2010, 379 – 387; Volkmann, NJW 2010, 417 – 420. 113 Vgl. Schaefer, DÖV 2010, 379, 380 f. Recht und Politik, Beiheft 4

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Art. 15 GG – Wiederkehr eines Totgeglaubten* Von Ernst R. Zivier

I. Berufung auf Art. 15 GG – eine Teufelsbeschwörung? Die Explosion der Mietpreise in den europäischen Großstädten unterscheidet sich von anderen Fehlentwicklungen der Wirtschaftsordnung, weil schon jetzt ein unübersehbarer Personenkreis – bis tief hinein in die gehobene Mittelschicht – von ihr betroffen ist. Die Maßnahmen, die dagegen auf politischer Ebene erwogen oder versuchsweise angewandt werden, haben sich bis jetzt weitgehend als undurchsetzbar oder wirkungslos erwiesen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass unmittelbar-demokratische Verfahren eingeleitet werden um diese Entwicklung zu beeinflussen. Großes Aufsehen über die Grenzen Berlins und sogar Deutschlands hinaus hat ein Antrag auf Durchführung eines Volksbegehren gemäß Art. 62 der Berliner Verfassung ausgelöst. Es enthält keinen Gesetzentwurf sondern eine Aufforderung an den Berliner Senat zur „Erarbeitung und Verabschiedung“ eines Gesetzes; dies ist auf Landesebene nach Art. 62 Abs. 1 Satz 2 der Berliner Verfassung zulässig, wenn der Gegenstand in den Zuständigkeitsbereich des Abgeordnetenhauses fällt.1 Das zu erarbeitende Gesetz soll – verkürzt ausgedrückt – darauf gerichtet sein, dass Wohnungsgesellschaften mit mehr als 3000 Wohnungen nach Art. 15 GG enteignet und in Gemeineigentum überführt werden. Der enteignete Wohnungsbestand soll von einer Anstalt des öffentlichen Rechts unter mehrheitlicher Beteiligung von Stadtgesellschaft und Mietern verwaltet werden. Eine spätere Privatisierung soll ausgeschlossen sein. Tatsächlich hat der Berliner Senat laut Pressemitteilung der Senatskanzlei vom 15. 07. 20192 versucht, das Problem zu entschärfen, indem er plante, die betroffenen Wohnblöcke – soweit sie nicht von bisherigen Eigentümern übernommen würden – wieder in * 1

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Zuerst in: RuP 3/2019, 257 – 264. In Berlin besteht (anders als in vielen anderen Bundesländern) für Volksbegehren und Volksentscheid ein dreistufiges Verfahren: 1. Antrag auf Volksbegehren, unterstützt von (grds.) mindestens 20000 Wahlberechtigten, 2. Volksbegehren, das (grundsätzlich) wirksam wird, wenn es von 7 % der Wahlberechtigten unterstützt wird, 3. Volksentscheid, der wirksam wird, wenn sich mindestens ¼ der Wahlberechtigten daran beteiligt haben und die Mehrheit zustimmt. Vgl. https://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/2019/pressemitteilung. 829074.php.

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Duncker & Humblot, Berlin

Art. 15 GG – Wiederkehr eines Totgeglaubten

das Eigentum des Landes Berlin zu überführen. Ob dieser Schritt erfolgreich und finanzierbar sein wird, kann hier offen bleiben. Auch bei günstigster Entwicklung zeigt sich damit aber, dass auf diesem Wege höchstens ein Teilproblem entschärft werden kann. Das große Problem – die Geltung und Anwendbarkeit des Art 15 GG – wird damit eher in seiner ganzen Schärfe herausgearbeitet und wird Gegenstand der rechtswissenschaftlichen und rechtspolitischen Diskussion bleiben. Hier soll nicht untersucht werden, ob ein mögliches Volksbegehren rechtlich und politisch Erfolg haben wird, und ob es im Erfolgsfall sein wirtschaftspolitisches Ziel (die Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl bezahlbarer Wohnungen) erreichen würde. Das entscheidende Novum – man kann sagen, der revolutionäre Akt – besteht darin, dass beide Seiten – sowohl die Betreiber wie auch die Gegner des Antragsverfahrens – wohl eher bewusst als zufällig – eine Auseinandersetzung über eine verfassungspolitische und auch wirtschaftspolitische Grundsatzfrage begonnen haben. Es geht um den Bestand und die Anwendbarkeit des Art. 15 GG, d. h. die Zulässigkeit von Enteignungen mit dem Ziel, Privateigentum in Gemeineigentum zu verwandeln und es geht auch um die vom Bundesverfassungsgericht in einer ständigen – wenn auch zeitlich zurückliegenden – Rechtsprechung konstatierte wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes. Die Diskussion lässt Begeisterung und Nervosität auf beiden Seiten erkennen und wohl auch den Wunsch, sich bei diesem – bis jetzt ungewöhnlichen -Thema mit ungewohnten Argumenten Publizität zu verschaffen. Die Auseinandersetzung hat sich inzwischen von ihrem konkreten Anlass gelöst und erstreckt sich auf generelle Fragen3; Politiker der nachwachsenden und der alternden Generation sind daran beteiligt.4 Dies ist einerseits zu begrüßen, könnte allerdings dazu führen, dass die Diskussion die Bodenhaftung verliert – dass man auf der einen Seite Traumbilder von einem postmarxistischen Sozialismus entwirft, während man sich auf der anderen darauf beschränkt, das Schreckgespenst der Ostblockwirtschaft zu beschwören. In der konkreten rechtlich – politischen Auseinandersetzung, um die es jetzt geht, scheinen die traditionellen Argumentationsmuster vertauscht zu sein. Die Antragsteller, die eine Änderung der gängigen wirtschaftlichen und rechtlichen Praxis fordern, berufen sich auf eine Bestimmung, die zum Grundbestand der Verfassung gehört und die etablierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts5. Auf der entgegengesetzten 3

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Hier sei nur auf die Forderung des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner hingewiesen, den Art. 15 GG schlechthin aufzuheben und auf der anderen Seite auf die Äußerung des JUSOVorsitzenden Kevin Kühnert in der ZEIT vom 2. Mai 2019 (S. 8), der erklärte, dass er sich eine genossenschaftliche Organisation der BMW-Werke vorstellen könnte. Bemerkenswert ist, dass ihm dies keineswegs politisch geschadet, sondern seine Aufstiegschancen innerhalb seiner Partei anscheinend erheblich gefördert hat. Man beachte etwa die Äußerungen des JUSO-Vorsitzenden Kevin Künert (Fn. 2) und die Äußerungen von Grgor Gysi im Spiegel Nr. 24 / 2019 v. 08.06. 2019 (S. 14). Vgl. den Artikel des ehemaligen Präsidenten des Berliner Verfassungsgerichtshofs Helge Sodan im Tagesspiegel vom 05. 05. 2019, S. 4.

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Seite wird bezweifelt, ob beides noch zeitgemäß ist und eine Verfassungsänderung gefordert. Die Rechtsprechung des BVerfG über die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes wird z. T. als „mindestens missverständlich“ bezeichnet.

II. Art. 15 GG – Geltendes Verfassungsrecht Art. 15 GG gehört zum ursprünglichen Bestand des Grundgesetzes; er sieht vor, dass Grund, Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden können. Es dürfte zutreffen, dass Art. 15 GG seinerzeit in den Verfassungstext aufgenommen wurde, um eine schnelle Zustimmung der SPD zur Verabschiedung des Grundgesetzes zu erreichen. Dies mag historisch interessant sein, ist aber für die praktische Rechtsanwendung bedeutungslos. Gesetze, die sich unmittelbar auf Art. 15 GG stützen, sind in der Bundesrepublik bisher allerdings nicht verabschiedet worden. Der Bestand des Art.15 GG als geltendes Verfassungsrecht wird dadurch aber nicht berührt und ist in Rechtslehre und Rechtsprechung einhellig anerkannt; die Annahme, dass die Vorschrift durch Nichtanwendung obsolet geworden sei, wird praktisch einhellig abgelehnt.6 Der Geltung des Art 15 GG als Verfassungsrecht steht auch nicht entgegen, dass bei seiner Anwendung bestimmte Grenzen zu beachten wären – diese ergeben sich aus dem Grundgesetz selbst (z. B. der Entschädigungspflicht und den Grundrechten), den supranationalen Bestimmungen der Europäischen Union und möglicherweise auch aus anderen (multilateralen und bilateralen) völkerrechtlichen Bindungen der Bundesrepublik. Kurz Stellung genommen werden soll hier noch zu dem Argument, dass ein Rückgriff auf Art. 15 GG – jedenfalls im Zusammenhang mit der Mietpreisentwicklung in Berlin – gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstoße. Dieses Prinzip verlangt, dass der Staat (Gesetzgebung und Exekutive) auf einen an sich zulässigen Eingriff in die Grundrechtssphäre verzichtet,wenn das gleiche Ziel ohne Eingriff oder durch einen milderen Eingriff erreicht werden kann. Gerade dies hat sich aber angesichts der Mietpreisexplosion trotz der verzweifelten Versuche der Politik als unmöglich erwiesen.

III. Aufhebung des Art 15 GG? Art. 15 GG könnte durch verfassungsänderndes Gesetz gemäß Art. 79 Abs. 1 und 2 GG mit einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat aufgehoben werden; Hindernisse aus Art. 79 Abs. 3 GG bestehen dagegen nicht, solange das Änderungsgesetz nicht mit anderen Vorschriften verbunden wird, die gegen Art 1 oder 20 GG verstoßen. 6

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Vgl. Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. (2013), Art. 15 GG, Rdnr. 19, a.A wohl nur Ridder, VVDStL. 10, S. 124 (134), der dies eher als Möglichkeit und weniger als Behauptung erwähnt. Recht und Politik, Beiheft 4

Art. 15 GG – Wiederkehr eines Totgeglaubten

Politisch sind die darauf gerichteten Forderungen – mit denen die FDP im Lauf der Geschichte schon zweimal gescheitert ist7– allerdings aussichtslos, weil nicht nur in der gegenwärtigen Wahlperiode, sondern auf absehbare Zeit noch nicht einmal eine einfache Mehrheit in Sicht wäre. Im übrigen wäre auch nach Aufhebung des Art. 15 GG das Ziel einer Überführung bestimmter Vermögensgegenstände in Gemeineigentum keineswegs ausgeschlossen. Die Frage wäre danach nicht negativ entschieden – sie bliebe in der Schwebe. Auch bei einer Enteignung nach Art. 14 GG wird das enteignete Eigentum – nicht notwendig aber doch oft – dem Staat oder anderen öffentlich-rechtlichen Trägern übertragen. Auch im vorliegenden Fall war der Antrag nach Überschrift und Text auf die Enteignung eines bestimmte Bestandes von Wohnungen mit dem Ziel der Vergesellschaftung auf Art. 14 GG und nicht nach Art. 15 GG gerichtet. Dass die Träger, nachdem diese Fassung zurückgewiesen worden war, die Vergesellschaftung fordern, zeigt genauso wie die Reaktion der Gegenseite, dass hier um eine weitreichende (und wohl auch notwendige) Grundsatzentscheidung über das Rechts- und Wirtschaftssystems handelt. Ausgeschlossen wäre das Ziel einer Vergesellschaftung nur, wenn Art. 15 GG nicht nur aufgehoben sondern jede Form von Vergesellschaftung explizit verboten würde. Dies wäre schon aus praktischen Gründen – etwa mit Blick auf den Bau von Autobahnen – nicht tragbar, es könnten auch Hindernisse aus Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 GG zutage treten.

IV. Die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes Eine wesentlich empfindlichere Angriffsfläche bieten die Argumente der Antragsteller, soweit sie sich auf die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konstatierte wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes berufen. Hier handelt es sich nicht um eine Verfassungsvorschrift mit recht eindeutigem Wortlaut, sondern um ein Verfassungsprinzip, das das Bundesverfassungsgericht aus dem Text und der Gesamtstruktur des Grundgesetzes und auch seiner Entstehungsgeschichte hergeleitet hat. Das Gericht hat klargestellt, dass das Grundgesetz weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs – und Gesetzgebungsgewalt noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde „soziale Marktwirtschaft garantiert“.8 Diese Kompetenzuweisung ist trotz der etwas komplizierten doppelten Verneinung klar. Demgegenüber wendet sich der ehemalige Präsident des Berliner Verfassungsgerichtshofs Helge Sodan9 gegen eine Bezugnahme dieser verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, weil es sich um eine „zumindest missverständliche Formulierung“ handele, auf die sich das Bundesverfassungsgericht soweit ersichtlich seit mindestens 40 Jahren nicht mehr berufen habe. 7 8 9

Zu den Jahren 2001 und 2006 vgl. Dreier (Fn. 5), Art. 15 GG, Rdnr. 11. BVerfGE 4, S. 7 (14); Dreier (Fn. 5), Art. 15, Rdnr. 18. Sodan (Fn. 4).

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Der Zeitablauf (ohne ausdrückliche Wiederholung oder den Verweis auf eine frühere Rechtsprechung durch das Gericht) spricht – jedenfalls allein – nicht gegen ihre Geltung. Dies gilt für die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes genauso, wie für viele andere Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Die ca. 40 Jahre seiner Nichtanwendung erklären sich daraus, dass der wirtschaftspolitische Wind in dieser Zeit aus einer entgegengesetzten Richtung wehte. Das Gericht hatte auf den Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Neutralität des Grundgesetzes vor allem dann zurückgegriffen, wenn geltend gemacht wurde, dass ein Gesetz in die Marktfreiheit oder die Freiheit des Eigentums eingriff. Die letzte Bezugnahme10 betraf die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Kapitalgesellschaften, deren Grundzüge noch heute gelten.11 In der darauf folgenden Zeit (zunächst seit den 1970er Jahren in den westlichen Staaten und dann ab 1989 weltweit) war die staatliche Wirtschaftspolitik radikal auf Privatisierung gerichtet. Die politischen Staatsorgane machten von ihrer Befugnis zur Gestaltung des Wirtschaftsleben durchaus umfassend Gebrauch – aber mit einer Tendenz, die für eine Bezugnahme auf die wirtschaftspolitische Neutralität durch das Bundesverfassungsgericht keinen Raum bot. Die Annahme, dass man die frühere Festlegung des Gerichts als „missverständlich“ ansehen könne, hängt aber mehr von dem wirtschaftspolitischen als von dem verfassungsrechtlichen Vorverständnis des jeweiligen Betrachters ab; sie setzt letztlich voraus, dass man die auf Privatisierung und Deregulierung gerichtete Wirtschaftspolitik (etwa ab 1979) gewissermaßen als Einbahnstraße ansieht. Im Übrigen gilt auch hier, was oben zu einer Streichung des Art. 15 GG gesagt wurde: Mit einem Verzicht des Bundesverfassungsgerichts auf eine ausdrückliche Feststellung, dass das Grundgesetz wirtschaftspolitisch neutral ist, wäre diese Frage noch keineswegs negativ entschieden; sie bliebe in der Schwebe. Richtig ist allerdings, dass die staatliche Befugnis zur Regelung des Wirtschaftssystems vom Bundesverfassungsgericht nicht als Monolith in den Raum gestellt worden ist. Die Wirtschaftsordnung hat sich im Rahmen der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Kulturstaatlichkeit zu halten.12 Sie ist im Gesamt-Zusammenhang der Verfassung zu verstehen – insbesondere also zu den Grundrechten, zu denen auch die freie Verfügungsbefugnis über das Eigentum gehört.13 Diese wird allerdings bis zu einem gewissen Grade durch die verfassungsrechtliche Zielvorgabe aus Art. 14 Abs. 2 GG relativiert.

10 Aus dem Jahre 1997. 11 Dies wird vor allem in der Kommentierung bei Schmidt-Bleibtreu, GG, 13. Aufl., Rdnr. 3 ff. deutlich. Man könnte sagen, dass es ich bei den frühen Hinweisen des BVerfG auf die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes um eine Abwehr der Versuche handelt, die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft – so, wie dieser Begriff in frühen Jahren der Bundesrepublik verstanden wurde – in das Grundgesetz hinein zu interpretieren. 12 BVerfGE (Fn. 8), vgl. auch Schmidt-Bleibtreu, GG, 13. Aufl., Rdnr. 7 ff. 13 Sodan (Fn. 4). 96

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In seiner letzten Bezugnahme auf seine Rechtsprechung zur wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes aus dem Jahr 1979 hat das Bundesverfassungsgericht einige Anhaltspunkte dafür zu erkennen gegeben, dass es im Laufe der Entwicklung seinen Standpunkt nicht aufgeben, aber modifizieren könnte. Sodan weist darauf hin, dass es von der staatlichen Gesetzgebung vor allem eine intensive Abwägung zwischen dem Gemeinnutz und dem Eigennutz für den privaten Eigentümer fordert (die im Eigentumsrecht wohl im Vordergrund steht). Auch die zukünftige Entwicklung müsse insoweit beobachtet und berücksichtigt werden. Zu bedenken ist insoweit aber auch, dass es sich bei den 1979 entschiedenen Fällen nicht um Enteignungen (weder nach Art. 14 GG noch nach Art. 15 GG) handelt, sondern um die Inhaltsbestimmung des Eigentums im Rahmen des heute noch geltenden Mitbestimmungsrechts. Begrenzungen für die staatliche Befugnis zur Regulierung des Wirtschaftslebens können sich schließlich nicht nur aus den Normen des Grundgesetzes selbst ergeben. Die rechtlichen Bindungen der Bundesrepublik (gerade im Bereich der Wirtschaft) – haben sich auf europäischer und globaler Ebene – seit dem Mitbestimmungsurteil von 1979 fundamental erweitert. Damit sind hier nicht die Begrenzungen und Verpflichtungen gemeint, die sich etwa aus Europäischen Recht unmittelbar ergeben (vgl. dazu unten IV.), sondern die allgemeine Pflicht des Gesetzgebers, bei seinen Entscheidungen von der politischen und wirtschaftlichen Realität auszugehen. Das Bundesverfassungsgericht in seiner heutigen personellen Besetzung könnte mit Blick darauf die wirtschaftspolitische Neutralität der Verfassung – ohne sie im Grundsatz aufzugeben – weiter eingrenzen etwa durch einen Hinweis, dass die politischen Staatsorgane bei der Ausübung ihrer Gestaltungsfreiheit diese zwischenstaatlichen Bindungen stärker berücksichtigen müssten. Ob und mit welchen Vorgaben das Bundesverfassungsgericht und (falls es zu einer Vorlage kommt) möglicherweise der EuGH derartige Beschränkungen für den deutschen Gesetzgeber näher definieren wird, lässt sich allerdings nicht voraussagen.

V. Beschränkungen durch das Recht der EU Nach Art. 345 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) lässt das Unionsrecht das Eigentumsrecht der Mitgliedstaaten unberührt. Diese Vorschrift begründet nach herrschender Lehre eine klare Zuständigkeitsregelung zugunsten der Mitgliedstaaten. Nach der bei Callies/Ruffert vertretenen Auffassung ist sie sogar eher überflüssig, weil den Unionsorganen nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ohnehin keine Eingriffszuständigkeit in das innere Eigentumsrecht der Mitgliedstaaten zusteht14. Es handelt sich demnach um eine Zuständigkeitsausübungs- und nicht um eine Zuständigkeitsbegründungsvorschrift. Die Reichweite des Art. 345 AEUV ist in der Literatur z. T. umstritten. Aber auch die engere Auslegung leite aus ihr das Recht der Mitgliedstaaten zur Eigentumsordnung im öf14 Callies/Ruffert, AEUV, 6. Aufl. (2016), Rdnr. 5 zu Art. 345 AEUV. Recht und Politik, Beiheft 4

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fentlichen und privaten Bereich her.15 Die Geltung des Art. 15 GG als deutsches Verfassungsrecht bleibt also ebenso wie die Enteignungsmöglichkeit nach Art. 14 GG vom Europäischen Recht unberührt. Allerdings wird die Gesetzgebung der Staaten dadurch nicht ermächtigt, sich unter Ausnutzung des des Eigentumsrechts über andere verbindliche Rechtsnormen oder Zielvorgaben des Unionsrechts hinweg zu setzen.16 Dies gilt für das Unionsrecht – mindestens soweit es eindeutig anwendbare Rechtsvorschriften (etwa den Grundrechtskatalog) enthält – genauso wie etwa die Grundrechte des deutschen Verfassungsrechts. Als komplizierter erweist sich die Abwägung, wenn der klaren Kompetenzabgrenzung des primären Unionsrechtsrechts Zielvorgaben gegenübergestellt werden, die in den zugrundeliegenden Verträgen fixiert sind, keine eindeutigen Gebote oder Verbote enthalten, aber Unionsziele, die von der Gesetzgebung der Staaten berücksichtigt werden müssen, nicht unterlaufen werden dürfen. Die Kritiker der Berliner Volksinitiative berufen sich in diesem Zusammenhang bemerkenswerter Weise kaum auf das große Ziel der Europäischen Einigung selbst, sondern vor allem auf die Bestimmungen, in denen – wenn auch mit unterschiedlichen Schattierungen – die Prinzipien der Marktwirtschaft im primären Unionsrecht verankert sind: die „wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ (Art. 3 EUV) und die Grundsätze der „offenen Marktwirtschaft“ (Art. 120 AEUV). Dies erklärt sich zunächst daraus, dass eine Vergesellschaftung nach Art. 15 GG (anders als eine Enteignung nach Art. 1417) explizit das Ziel verfolgt, bestimmte Vermögensgegenstände dem Marktmechanismus zu entziehen; es zeigt, dass die Kritik weniger das Eigentumsrecht und die privaten Vertragsfreiheit schützen will, als die Prinzipien der Marktwirtschaft. Als rechtlich und politisch hoch problematisch dürfte sich dies aber wohl erst erweisen, wenn es nicht – wie in Berlin – um die Vergesellschaftung bestimmter abgrenzbarer Vermögensmassen, sondern um ganze Wirtschaftszweige geht. Die Fragen, inwieweit die Zielvorgaben für die staatliche und europäische Gesetzgebung unmittelbar verpflichtend sind, welche Bedeutung den Termini „sozial“ und „wettbewerbsfähig“ im Zusammenhang mit dem übrigen Text zukommt, dürfte auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene umstritten sein. Über den Verlauf und das Ergebnis der Auseinandersetzung (einschließlich denkbarer Kompetenzkonflikte) lassen sich jetzt noch keine Voraussagen abgeben. Berücksichtigt werden müsste auch (was dem Juristen klar ist, aber in der politischen Diskussion nicht immer wahrgenommen wird), dass ein Konflikt zwischen staatlichem und EU-Recht nicht eine Ungültigkeit des staatlichen Rechts, sondern (nur) einen Anwendungsvorrang des EU-Rechts begründet. 15 Callies/Ruffert (Fn. 13), Rdnr. 9. 16 Callies/Ruffert (Fn. 13), Rdnr. 8. 17 Bei der die Frage, ob die enteigneten Vermögensgegenstände in Gemeineigentum oder auf einen anderen privaten Nutzer übertragen werden sollte, von Zweckmäßigkeitserwägungen oder Tradition bestimmt werden. 98

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Die Debatte über die Berliner Volksinitiative dürfte sich insoweit in relativ engen Grenzen halten. Es ist denkbar (wenn auch unwahrscheinlich), dass die finanziellen Kräfte, die den Wohnungsmarkt dominieren, ihr Gewinnstreben geringfügig begrenzen (oder die staatlichen Institutionen mit Hilfe eines „Mietendeckels“ zu Hilfe eilen), um den Geist des Art. 15 GG wieder in die magische Flasche zu bannen. Dass dies auf Dauer möglich ist, erscheint angesichts der Begeisterung, mit der man sich auf der einen Seite und der Nervosität, mit der man sich auf der anderen Seite diesem Thema widmet, höchst unwahrscheinlich. Es geht darum, inwieweit sich die Politik dem Mythos des „schlanken Staates“ und den Axiomen des Marktes entziehen kann – nicht durch eine Revolution, sondern legal im Rahmen der der Freiheitlichen Demokratischen Grundordnung und des Europäischen Rechts.

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IV. GRUNDGESETZ UND STAND DER DEMOKRATIE Minderheitsregierung, Auflösung oder Große Koalition?* Die kritische Regierungsbildung im Parlamentarischen Rat 1948/49 und in den Jahren 2017/181 Von Karlheinz Niclauß Die Regierungsbildung nach der Bundestagswahl vom 24. September 2017 war ein außergewöhnliches Schauspiel: Zwei Monate dauerten die Überlegungen und Sondierungsgespräche zur Bildung einer sogenannten Jamaika-Koalition, bestehend aus CDU/CSU, der FDP und den Grünen / Bündnis 90. Als dieser Versuch scheiterte, wurde erneut eine Große Koalition gebildet – mit einem Partner, der dies nach der Wahl ursprünglich abgelehnt hatte. Insgesamt vergingen nahezu sechs Monate, bis Angela Merkel am 14. März 2018 erneut zur Bundeskanzlerin gewählt wurde. Das Thema Regierungsbildung verlor anschließend in den Medien schnell an Aktualität. Dies gilt aber nicht für die wissenschaftliche Analyse des Vorgangs, denn nach der Regierungsbildung ist immer auch vor der nächsten Regierungsbildung, die schneller vor der Tür stehen kann als man denkt. Schwierige Regierungsbildungen hat es in der Geschichte der Bundesrepublik bereits öfter gegeben. Ein Beispiel hierfür ist die Situation nach der Bundestagswahl 1961: Die Koalition zwischen den Unionsparteien und der FDP kam damals erst zustande, nachdem Konrad Adenauer seinen Rücktritt als Kanzler im Verlauf der anschließenden Legislaturperiode zugesagt hatte. Nach der Bundestagswahl von 2017 gewannen die Schwierigkeiten jedoch eine neue Qualität. Das betrifft nicht nur die außergewöhnliche Dauer des Regierungsbildungsprozesses, sondern auch das Scheitern der bereits vor der Bundestagswahl in Aussicht genommenen Koalition. Man kann deshalb durchaus von einer kritischen Regierungsbildung sprechen, bei der in Frage steht, ob überhaupt eine absolute Mehrheit für einen Bundeskanzler und für eine Regierungskoalition zustande kommt. „Wenn nicht – was dann?“ – so könnte man in Kurzform das Thema dieses Beitrags beschreiben. Angesichts der kritischen Regierungsbildung von 2017/18 ist es sinnvoll, den Prozess der Regierungsbildung unabhängig von der tagespolitischen Situation zu untersuchen * 1

Zuerst in: RuP 4/2019, 424 – 441. Erweiterte Fassung eines Vortrags zum Dies Academicus der Universität Bonn vom 5. Dezember 2018.

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und hierbei auch die Überlegungen der Autoren des Grundgesetzes zu berücksichtigen. Eine vergleichende Betrachtung über einen so langen Zeitraum hinweg widerspricht zwar der vorherrschenden kurzfristigen Denkweise in politischen Angelegenheiten. Sie scheint aber vor allem aus drei Gründen berechtigt zu sein: Erstens können wir auf 70 Jahre seit der Entstehung des Grundgesetzes in den Jahren 1948/49 zurückblicken. 70 Jahre sind zwar keine außergewöhnliche Jubiläumszahl, stehen aber für Kontinuität, während das hundertjährige Jubiläum der Weimarer Republik von schmerzhaften Unterbrechungen getrübt ist. Ein zweiter Grund für den zeitlichen Rückgriff ist handfesterer Art: Der Grundgesetzartikel zur Kanzlerwahl (Art. 63 GG) wurde im Gegensatz zu zahlreichen anderen Artikeln nicht verändert. Die übrigen Artikel des Grundgesetzabschnitts „Die Bundesregierung“ blieben ebenfalls unversehrt. Sie wurden lediglich durch den Art. 65a GG ergänzt, der seit 1956 die Befehls- und Kommandogewalt über die Bundeswehr regelt. Die Regierungsbildung erfolgt damit auch heute noch nach den gleichen Regeln, die der Parlamentarische Rat in den Jahren 1948/ 49 formulierte. Der dritte Grund liegt in der Entwicklung der Parteienlandschaft: Seit der letzten Bundestagswahl sind im Bundestag sieben Parteien vertreten. Im Parlamentarischen Rat waren ebenfalls sieben Parteien präsent. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes mussten demnach mit einem Vielparteiensystem rechnen. Sie konnten eine kritische Regierungsbildung nicht ausschließen, wie sie dann 70 Jahre später auch eintrat. Beim Blick ins Grundgesetz fallen die zahlreichen Bestimmungen auf, mit deren Hilfe die Arbeitsfähigkeit der Bundesregierung gesichert wird, sobald diese sich im Amt befindet. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das konstruktive Misstrauensvotum. Es scheint die Regierungsstabilität zu garantieren, weil der Bundeskanzler nur durch einen mit absoluter Mehrheit gewählten Nachfolger gestürzt werden kann. Hinzu kommen eine Reihe weiterer Bestimmungen: die Vorschrift, dass das konstruktive Misstrauensvotum nur gegen den Kanzler selbst gerichtet werden kann und nicht gegen einzelne Kabinettsmitglieder, die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers mit der Möglichkeit der Bundestagsauflösung sowie der bisher noch nicht praktizierte Gesetzgebungsnotstand. Für die Bildung der Regierung und die Wahl des Bundeskanzlers fehlt dagegen ein entsprechendes Instrumentarium. Haben die Autoren des GG dem Prozess der Regierungsbildung nicht die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt wie der Gefahr, dass eine bestehende Regierung ihre Mehrheit verliert? Hätten sie nicht auch für die Bildung der Regierung Sicherheitsvorkehrungen formulieren müssen? Vielleicht wäre eine mit dem konstruktiven Misstrauensvotum vergleichbare Patentlösung möglich gewesen, die eine schnelle Regierungsbildung zwingend vorschreibt?

I. „Legalitätsreserve“ und Parlamentsauflösung Wie ein Blick in die Protokolle der Grundgesetzberatungen zeigt, haben sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes ausführlich mit der Regierungsbildung befasst. Bereits der vorbereitende Verfassungskonvent von Herrenchiemsee (10. bis 23. August 1948)

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formulierte nicht nur das konstruktive Misstrauensvotum als „Sicherung der Regierungsexistenz“, sondern sah auch für die „Sicherung der Regierungsbildung“ eine Korrektur des parlamentarischen Systems vor, die er als „Legalitätsreserve“ bezeichnete. Der Grundgedanke dieser Konstruktion war, dass die Länderkammer als „Reserve“ einspringen sollte, falls der Bundestag bei der Regierungsbildung versagt. Nach den Artikeln 87 und 88 des Herrenchiemsee-Entwurfs hatte der Bundestag dem Bundespräsidenten den Kanzlerkandidaten vorzuschlagen („zu benennen“). Falls das Parlament innerhalb eines Monats keinen Vorschlag vorlegt, sollte das Vorschlagsrecht auf den Bundesrat übergehen. Wurde der Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundesrates ernannt, so hatte der Bundespräsident anschließend für die gesamte Legislaturperiode das Recht, den Bundestag aufzulösen. Die zweite Variante des Herrenchiemsee-Entwurfs sah sogar die automatische Auflösung des Bundestages vor, falls dieser innerhalb eines Monats keinen Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers benennt2. Der Gedanke der „Legalitätsreserve“ beinhaltete eine Regierungsbildung am Parlament vorbei und widersprach dem Grundgedanken des parlamentarischen Regierungssystems. Trotzdem wurde er im Parlamentarischen Rat vor allem von Vertretern der CDU und der Deutschen Partei unterstützt. Adolf Süsterhenn (CDU) sprach sich am 8. September 1948 in seiner Grundsatzrede vor dem Plenum dafür aus, dass das Recht zur Regierungsbildung beim Versagen des Parlaments „auf die zweite Kammer im Zusammenwirken mit dem Bundespräsidenten übergeht“. Er erwartete von dieser Lösung eine heilsame Wirkung auf die Abgeordneten des zukünftigen Parlaments. Sie würden hierdurch gezwungen alle Kräfte für eine Mehrheitsbildung zu mobilisieren, da sie andernfalls das „höchste Recht“ der Regierungsbildung verlieren würden. Eine mögliche Kanzlerwahl durch den Bundesrat entsprach auch den föderalistischen Interessen und dem von Süsterhenn vertretenen konstitutionell-demokratischen Demokratieverständnis. Er berief sich in seiner Rede auf die Gewaltenteilung Montesquieus und warnte vor „parlamentarische(n) Diktaturen“3. Im Organisationsausschuss des Parlamentarisschen Rates, der den ersten Entwurf für den Aufbau und das Zusammenwirken der Verfassungsorgane vorlegen sollte, entwickelte sich am 29. und 30. September1948 eine etwas chaotische Diskussion über die Wahl des Bundeskanzlers und die Regierungsbildung. Dies hing damit zusammen, dass wichtige Fragen zur Verfassungsstruktur noch ungeklärt waren: Ob das Amt des Bundespräsidenten eingerichtet würde oder nicht, war zwischen den Fraktionen noch umstritten. Auch die Frage, ob die zweite Kammer ein Bundesrat, Senat oder ein 2 3

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Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Band 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, bearb. von Peter Bucher, 1981, S. 405 und 597. Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Band 9: Plenum, bearb. von Wolfram Werner, 1996, S. 55, 57 und 60; Uetz, Adolf Süsterhenn (1905 – 1974), in: Buchstab / Kleinmann (Hrsg.): In Verantwortung vor Gott und den Menschen. Christliche Demokraten im Parlamentarischen Rat 1948/49, 2008, S. 355 – 364; zur Verfassungskonzeption der „konstitutionellen Demokratie“: Niclauß, Der Weg zum Grundgesetz. Demokratiegründung in Westdeutschland, 1998, S. 73 ff. Recht und Politik, Beiheft 4

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gemischt zusammengesetztes Gremium sein sollte, war noch offen. Außerdem stand die Einführung einer für die gesamte Legislaturperiode nicht ablösbaren Regierung zur Diskussion, die vor allem von den Liberalen befürwortet wurde. Schließlich einigte man sich im Organisationsausschuss auf eine Redaktionskommission, bestehend aus Elisabeth Selbert (SPD), Hermann Fecht (CDU) und Wilhelm Heile (Deutsche Partei), die während der Ausschusssitzung vom 29. Oktober einen Vorschlag für die Wahl des Bundeskanzlers erarbeitete. Ihr Vorschlag orientierte sich am Entwurf von Herrenchiemsee und hielt an der „Legalitätsreserve“ des Bundesrates fest: Der Bundespräsident konnte demnach dem Bundestag zweimal einen Kanzlerkandidaten vorschlagen. Falls beide Kandidaten nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags erreichen und auch der Bundestag selbst keinen Kandidaten mit absoluter Mehrheit vorschlägt, sollte der Bundespräsident den Kanzler auf Vorschlag des Bundesrates ernennen. In diesem Fall gab die Redaktionskommission dem Präsidenten während der gesamten Legislaturperiode das Recht, den Bundestag aufzulösen. Später wurde diese Frist auf drei Monate begrenzt. Der Vorsitzende des Organisationsausschusses, Robert Lehr (CDU), bezeichnete den Vorschlag der Redaktionskommission als eine „sehr glückliche Lösung“. Er stelle sicher, „dass in einer ganz kurzen Frist so oder so ein Kanzler an der Spitze der Regierung stehen wird“4. Die vielen kritischen Diskussionsbeiträge der Mitglieder des Organisationsausschusses zeigten jedoch, dass man mit dieser Fassung des späteren Artikels 63 GG wenig glücklich war und sie als Provisorium betrachtete. Bemerkenswert ist die Selbstverständlichkeit, mit der die Mitglieder des Herrenchiemseekonvents und des Organisationsausschusses trotz der negativen Erfahrungen mit den Reichstagsauflösungen der Weimarer Republik die Auflösung des Bundestages als letzten Schritt vorsahen. Sie verstanden diese als eine an das Parlament gerichtete Drohung. Elisabeth Selbert (SPD) argumentierte im Organisationsausschuss, dem Bundestag müsse immer vor Augen stehen: „Wenn du versagst kommt der Bundesrat, bzw. Senat und schlägt dir dein Vorschlagrecht aus der Hand, und obendrein besteht die Gefahr, dass dich der Bundespräsident nach Hause schickt; also sei vorsichtig und sieh zu, dass du eine Regierung mit Mehrheit zustande bringst!“5. Der Ausweg Neuwahlen bildete auch in den folgenden Vorschlägen des Parlamentarischen Rates zur Regierungsbildung immer das letzte Glied in der Kette der Möglichkeiten. Der Gedanke an die drohende Auflösung des Bundestags hat bis heute seine Wirkung nicht verloren und war 2018 ein wichtiges Motiv für die Bildung der Großen Koalition.

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Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Band 13: Ausschuß für Organisation des Bundes / Ausschuß für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, Teilband 1, bearb. von Edgar Büttner und Michael Wettengel, 2002, S. 219, 239 ff. und 24. Ebenda, S. 241.

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II. Die Minderheitsregierung als Ausweg Im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates, der am 16. und 17. November 1948 in erster Lesung über die Regierungsbildung beriet, kam es zu einer Grundsatzdebatte, die den Vorschlag des Organisationsausschusses und den sich abzeichnenden Konsensus der beiden größten Fraktionen in Frage stellte. Anlass hierfür war die Intervention des Allgemeinen Redaktionsausschusses (ARA), der zu dieser Zeit aus den drei Abgeordneten Heinrich von Brentano (CDU), Thomas Dehler (FDP) und Georg August Zinn (SPD) bestand. Der ARA legte einen Alternativentwurf vor, der in entscheidenden Punkten von den bisherigen Vorschlägen abwich: Seine Fassung sah zum ersten Mal in der deutschen Verfassungsgeschichte die Wahl des Regierungschefs durch das Parlament vor und verzichtete auf das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten. Thomas Dehler begründete dies mit dem Argument, durch einen Vorschlag für das Amt des Regierungschefs würde der Präsident „viel zu sehr in die politische Arena heruntergezogen“. Der ARA verzichtete außerdem auf die „Legalitätsreserve“ des Bundesrates, falls bei der Kanzlerwahl die absolute Mehrheit verfehlt wird. Dehler erklärte vor dem Hauptausschuss, eine Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundesrat sei aus Sicht des Redaktionsausschusses „nicht zweckmäßig“, denn vor der Legalitätsreserve des Bundesrats stehe „immer noch die Legalitätsreserve des Bundestags selber“ zur Verfügung. Falls sich die Mehrheit der Bundestagsmitglieder nicht auf einen Bundeskanzler einigen könne, „dann soll eine Minderheitsregierung gebildet werden, dann soll einfach die relative Mehrheit entscheiden: derjenige, der die meisten Stimmen erhält, soll gewählt sein“6. Mit diesem Vorschlag des ARA fand der Gedanke der Minderheitsregierung Eingang in die Grundgesetzberatungen. Eine automatische Auflösung des Bundestags lehnte Dehler für den Fall, dass nur ein Minderheitskanzler gewählt wird, ab. Vielmehr sollte hierüber der Bundespräsident entscheiden, so dass die „Drohung der Auflösung“ bestehen bleibe. Der Vorschlag des ARA wahre „vor allem das Prinzip des parlamentarischen Systems“, weil der Bundestag allein über die Regierungsbildung entscheide7. Falls keine absolute Mehrheit für den Bundeskanzler zu erreichen ist, bestanden demnach zwei Auswege: Die Auflösung des Bundestages mit anschließender Neuwahl oder die Bildung einer Minderheitsregierung. Der Ausweg der Legalitätsreserve über den Bundesrat fiel weg. Das energische Eintreten Dehlers für das parlamentarische Regierungssystem kam überraschend, weil er sich noch am 30. September 1948 im Organisationsausschuss für eine „Regierung auf Zeit“ ausgesprochen hatte, die für zwei oder vier Jahre nicht vom Parlament abgelöst werden kann8. Gegen Ende der Grundgesetzberatungen wieder6 7 8 104

Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Band 14: Hauptausschuß, Teilband 1, bearb. von Michael F. Feldkamp, 2009, S. 71 f. Ebenda. Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949 (a.a.O. [Fn. 4]), S. 256 – 275 und 449 f. Recht und Politik, Beiheft 4

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holte Dehler zusammen mit seinem Fraktionskollegen Max Becker diesen Vorschlag, für den im Parlamentarischen Rat jedoch keine Aussicht auf Verwirklichung bestand. Das Schwanken Dehlers zwischen einem Präsidialsystem nach amerikanischem Muster und dem britischen Parlamentarismus lässt sich bis in die bayrischen Verfassungsberatungen des Jahres 1946 zurückverfolgen. Damals hatte er das parlamentarische Prinzip vertreten und eine „Regierung auf Zeit“ abgelehnt. Sein Biograph Udo Wengst führt Dehlers wechselnde Positionen im Parlamentarischen Rat auf die parallel laufende Diskussion über das zukünftige Wahlrecht zurück. Im Hauptausschuss begründete Dehler seinen Sinneswandel gegen Ende der Grundgesetzberatungen mit dem Argument, ein parlamentarisches System nach britischem Muster sei nur bei gleichzeitiger Einführung des relativen Mehrheitswahlrechts möglich9. Die Möglichkeit einer Regierung ohne parlamentarische Mehrheit und der Verzicht auf das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten stiessen jedoch nicht nur bei der CDU/ CSU, sondern auch bei den Sozialdemokraten auf Widerstand. Der sozialdemokratische Verfassungsexperte Rudolf Katz sprach sich für die Fassung des Organisationsausschusses mit dem doppelten Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten und dem Ausweg über die „Legalitätsreserve“ des Bundesrates aus. Seine Argumente glichen denjenigen, die nahezu 70 Jahre später in der Debatte über die Bildung der vierten Großen Koalition vorgebracht wurden: Der Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses spiele mit dem Gedanken der „Auflösung eines neugewählten Bundestages“, die er für gefährlich halte. Die Erfahrungen aus den Jahren 1930 bis 1933 hätten gezeigt, dass sich „bei so schnell aufeinanderfolgenden Wahlen“ an der politischen Lage kaum etwas ändere. Man käme auf diese Weise „von der Kanzlerkrise oder der Regierungskrise zu einer Staatskrise“10. Heinrich von Brentano (CDU), Mitglied des ARA, entgegnete, auch in der Fassung des Organisationsausschusses werde nach einer vergeblichen Kanzlerwahl durch die Länderkammer „mit dem Gedanken der Auflösung gespielt“. Eine Minderheitsregierung bedeute jedoch keineswegs, dass der Bundestag automatisch aufgelöst werde. Man dürfe den Vorschlag des ARA nicht isoliert sehen, sondern im Zusammenhang mit der bereits im Grundgesetzentwurf vorgesehenen Vertrauensfrage. Diese könne auch der Minderheitenkanzler „zu einem ihm genehmen Zeitpunkt … stelllen“ und damit den Termin der Neuwahl selbst bestimmen. Bundeskanzler und Bundestag würden in diesem Fall „das Volk an(rufen), weil sie sich über eine Gesetzesvorlage von erheblicher grundsätzlicher Bedeutung nicht einigen konnten“. Die erneute Wahl erhalte damit für 9 Wengst, Thomas Dehler 1897 – 1967. Eine politische Biographie, 1997, S. 124 – 125 sowie: Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Band 14: Hauptausschuß, Teilband 2, bearb. von Michael F. Feldkamp, 2009, S. 1541 – 1551. Am 04. 12. 1948 schrieb Dehler im Informationsdienst seiner Partei: „Die Verhandlungen über die Wahlrechtsfrage sind auf ein totes Gleis geraten…“ und am 15. 01. 1949 veröffentlichte er an gleicher Stelle einen Beitrag „FDP fordert Präsidialregierung“ (Streit um das Staatsfragment. Theodor Heuss und Thomas Dehler berichten über die Entstehung des Grundgesetzes, 1999, S. 87 und 100 – 103). 10 Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, (a.a.O. [Fn. 6]), S. 72. Recht und Politik, Beiheft 4

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den Wähler eine konkrete inhaltliche Begründung und werde nicht mit dem Versagen des Bundestags bei der Regierungsbildung in Verbindung gebracht11. Brentano vertrat damit eine dynamische Sicht der Minderheitsregierung, die gegebenenfalls durch eine Neuwahl zur Mehrheitsregierung werden könnte. Walter Menzel (SPD) versuchte zu vermitteln, indem er die Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag ohne Mitwirkung des Bundespräsidenten konzidierte, aber an der Legalitätsreserve des Bundesrates festhielt12. Thomas Dehler (FDP) widersprach mit dem Argument, bei einer Regierungsbildung durch den Bundesrat habe das Parlament „überhaupt nicht mehr seine Hand im Spiel“. Er bezeichnete dies als „Stilbruch“, der viel schlimmer sei als eine Minderheitsregierung. Eine relative Mehrheit sei als „Zwischenstadium“ durchaus ausreichend. „Man soll sich nicht von dieser Vorstellung schrecken lassen. Warum soll eine Minderheitsregierung, die von Fall zu Fall genötigt ist, sich Mehrheiten zu suchen, nicht funktionsfähig zu sein?“ Dehler verwies damit auf die Möglichkeit, mit wechselnden Mehrheiten zu regieren. Der Hauptausschuss beschloß angesichts der unterschiedlichen Positionen, auf eine Abstimmung zu verzichten und die Frage der Kanzlerwahl bis zur nächsten Sitzung zu vertagen13. Auf dieser Sitzung am 17. November 1948 vollzog der Hauptausschuss eine Wende: Die SPD gab ihre bisherige Position auf und legte einen Antrag zur Regierungsbildung vor, der weitgehend identisch war mit dem Vorschlag des ARA. Falls eine Wahl des Bundeskanzlers mit absoluter Mehrheit scheitert, wird hier die Wahl eines Minderheitskanzlers oder die Auflösung des Bundestages vorgesehen – ganz so, wie es im aktuellen GG in Art. 63 steht. Der Ausweg, den Bundeskanzler durch den Bundesrat wählen zu lassen, fiel weg. Rudolf Katz erklärte hierzu: „Wir haben uns entschlossen, unsere frühere Auffassung zu korrigieren und dem Vorschlag des Redaktionsausschusses im wesentlichen beizutreten“. Die Vertreter der CDU und der Deutschen Partei verwiesen auf die schlechten Erfahrungen mit den Minderheitsregierungen in der Weimarer Republik sowie auf das fehlende Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten und forderten weiterhin die Beteiligung des Bundesrates. Thomas Dehler erklärte jedoch für die FDP die Zustimmung zum sozialdemokratischen Antrag, der daraufhin mit 12 zu 8 Stimmen vom Hauptausschuss angenommen wurde. Für den Verzicht auf die Kanzlerwahl durch den Bundesrat stimmten offenbar SPD, FDP sowie die beiden Abgeordneten des Zentrums und der KPD, dagegen die CDU/CSU und der Vertreter der Deutschen Partei. Während bis dahin die Wahl des Bundeskanzlers durch die Län11 Ebenda, S. 72 – 74; Agethen, Heinrich von Brentano (1904 – 1946), in: Buchstab / Kleinmann (Anm. 3), S. 123 – 133. Zur Rolle Brentanos bei den hessischen Verfassungsberatungen und im Parlamentarischen Rat: Sindejev, Genrich fon Brentano, in: Voprosy Istorii 2010, Heft 12, S. 52 – 73. 12 Zur Bedeutung Menzels für die Verbindung zwischen SPD-Fraktion und Parteizentrale der SPD in Hannover: Hirscher, Sozialdemokratische Verfassungspolitik und die Entstehung des Grundgesetzes. Eine biographietheoretische Untersuchung zur Bedeutung Walter Menzels, 1989, S. 157 – 179. 13 Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949 (a.a.O. [Fn. 6]), S. 80 – 82. 106

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derkammer oder die Auflösung mit anschließender Neuwahl die beiden Auswege aus der Regierungsbildungskrise bildeten, lautet seitdem die Alternative zur Wahl des Bundeskanzlers mit absoluter Mehrheit: Bildung einer Minderheitsregierung oder Auflösung des Bundestags14. Diese Entscheidung gegen die Legalitätsreserve des Bundesrates und für die Auswege Minderheitsregierung oder Neuwahl blieb bis zum Abschluss der Grundgesetzberatungen bestehen. In der zweiten Lesung des Grundgesetzes im Hauptausschuss versuchte Christoph Seebohm (Deutsche Partei) vergeblich, mit einem erneuten Antrag die Beteiligung des Bundesrates bei der Kanzlerwahl durchzusetzen. Carlo Schmid (SPD), der Vorsitzende des Hauptausschusses, entgegnete, falls kein Kandidat eine absolute Mehrheit finde, bestehe „mehr Aussicht auf Stabilität … wenn man einen Minderheitskanzler entstehen lässt und ihm sagt: Nimm das Steuer in die Hand und versuche zu fahren!“. Bei dieser Gelegenheit strich der Hauptausschuss das bis dahin vorgesehene Vertrauensvotum des Bundestages für jeden einzelnen Minister. Rudolf Katz (SPD) begründete dies mit den eingeschränkten Möglichkeiten einer Minderheitsregierung: Eine destruktive Opposition könne das Regieren für den Minderheitskanzler unmöglich machen, indem „sie keinem seiner Minister das erforderliche Vertrauen gibt“15.

III. Die Rolle des Bundespräsidenten Bei der Darstellung der Beratungen zu Legalitätsreserve, Auflösung und Minderheitsregierung wurde die Rolle des Bundespräsidenten bisher nur am Rande erwähnt. Die Frage, ob und in welcher Form der Präsident an der Regierungsbildung beteiligt werden sollte, war jedoch im Parlamentarischen Rat ebenfalls umstritten. Nach dem Verfassungsentwurf des Herrenchiemsee-Konvents sollte der Bundestag dem Präsidenten den zukünftigen Kanzler „benennen“. Das Parlament besaß also das Vorschlagsrecht16. Zu Beginn der Bonner Grundgesetzberatungen blieb zunächst offen, ob überhaupt ein Präsisdentenamt eingerichtet werden sollte. In der Grundsatzdebatte des Plenums sprachen sich die Vertreter der CDU (Adolf Süsterhenn), der FDP (Theodor Heuss) und der Deutschen Partei (Christoph Seebohm) für das Amt des Bundespräsidenten aus. Die Sozialdemokraten äußerten Bedenken angesichts der beschränkten Souveränität des westdeutsches „Staatsfragments“ (Carlo Schmid). Walter Menzel (SPD) verwies allerdings auf die symbolische Bedeutung des Präsidentenamts gegenüber den Besatzungsmächten und im Hinblick auf die Einheit Deutschlands. Zur

14 Ebenda, S. 105 – 108. 15 Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949 (a.a.O. [Fn. 9]), S. 1011 – 1014; zur Rolle Carlo Schmids im Parlamentarischen Rat: Petra Weber, Carlo Schmid. Eine Biographie, 1996, S. 330 – 390. 16 Der Parlamentarische Rat 1948 – 1948 (a.a.O. [Fn. 2]), S. 5. Recht und Politik, Beiheft 4

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Diskussion stand auch, das Amt des Bundespräsidenten vorerst unbesetzt zu lassen oder seine Funktionen einem als Präsidium bezeichneten Dreiergremium zu übertragen17. Bei den Beratungen im Organisationsausschuss des Parlamentarischen Rates ging es zunächst um die Frage, ob der Präsident (oder ein Präsidium) den vom Bundestag vorgeschlagenen Bundeskanzler lediglich in einem rein formalen Akt ernennen oder ob er selbst das Vorschlagsrecht haben sollte. Wilhelm Heile (Deutsche Partei), Paul de Chapeaurouge (CDU), Hermann Fecht (CDU) und der frühere Reichstagspräsident Paul Löbe (SPD) sahen die Gefahr, ohne das Vorschlagsrecht des Präsidenten seien „ tagelange Debatten“ notwendig, bis das vielköpfige Parlament sich auf einen Kanzlerkandidaten einigt. Sie plädierten dafür, „irgendeine neutrale Stelle“ (Löbe) solle den ersten Vorschlag machen. Der Organisationsausschuss beschloss daraufhin mit elf zu vier Stimmen, dass der Bundespräsident „in einer aktiveren Weise bei der Regierungsbildung … eingeschaltet werden muß“. In der bereits oben geschilderten Variante des Organisationsausschusses vom 29. September 1948 erhielt dem entsprechend der Bundespräsident ein zweimaliges Vorschlagsrecht für den Bundeskanzler18. Der Vorschlag des ARA zur Kanzlerwahl vom 16. November 1948 und die nahezu deckungsgleiche Variante der SPD-Fraktion gingen wieder in die entgegengesetzte Richtung: Sie verzichteten nicht nur auf die „Legalitätsreserve“ des Bundesrats, sondern auch auf das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten. Die Vertreter der CDU monierten, dass hiermit „die Initiative des Bundespräsidenten weitgehend ausgeschaltet ist“. Hermann von Mangoldt (CDU) argumentierte, wenn man die Nominierung den im Parlament vertretenen Parteien überlasse, müsse man – wie in anderen parlamentarischen Systemen – mit großen Schwierigkeiten rechnen. Die CDU/CSU-Fraktion wolle diese Schwierigkeiten durch die Vermittlung des Bundespräsidenten umgehen. Mit der „Autorität seiner Persönlichkeit“ könne er notfalls zwischen den streitenden Gruppen vermitteln19. Auf Insistieren der Unionsfraktion und mit Unterstützung von Deutscher Partei und FDP wurde im weiteren Verlauf der Grundgesetzberatungen das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten wieder in das Grundgesetz aufgenommen: Der ARA korrigierte am 16. Dezember 1948 seine frühere Version und gab dem Bundespräsidenten im ersten Wahlgang das Vorschlagsrecht für den Kanzlerkandidaten20. Diese Regelung wurde anschließend sowohl vom Organisationsausschuss als auch vom Hauptausschuss übernommen21.

17 Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949 (Anm. 3), S. 32, 65 f., 76, 109, 128 f.; Niclauß, Das Amt des Bundespräsidenten im Parlamentarischen Rat, in: van Ooyen / Möllers (Hrsg.), Der Bundespräsident im politischen System, 2012, S. 35 – 45, S. 36 ff. 18 Der Parlementarische Rat 1948 – 1949 (Anm. 4), S. 213 – 217 und S. 229. 19 Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949 (Anm. 6), S. 105 f. 20 Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Band 7: Entwürfe zum Grundgesetz, bearb. von Michael Hollmann, 1995, S. 161 – 163. 21 Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949 (Anm. 9), S. 1013 f. 108

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IV. Die Lehren von Weimar Wie sich aus dem Beratungsverlauf im Parlamentarischen Rat ergibt, bewerteten die Autoren des Grundgesetzes die Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik differenzierter als viele Journalisten und Politiker in der Diskussion von 2017/18. Bereits der Entwurf von Herrenchiemsee und die ersten Formulierungen des Parlamentarischen Rates hatten den Ausweg der Parlamentsauflösung zugelassen, falls kein Kanzlerkandidat die absolute Mehrheit erreicht. Sie schlossen vorzeitige Neuwahlen nicht aus, obwohl in der Weimarer Republik nur ein Reichstag die volle Legislaturperiode erreichte (1924 – 1928). Mit der Möglichkeit einer Minderheitsregierung kündigte sich eine zweite Abweichung von den vermeintlichen „Lehren der Weimarer Republik“ an. Trotz der negativen Erfahrungen mit den damaligen Minderheitsregierungen sahen die Autoren des Grundgesetzes in dieser Regierungsvariante einen Ausweg für den Fall, dass keine absolute Mehrheit zustande kommt22. Nach den Ausführungen von Thomas Dehler (FDP) und Heinrich von Brentano (CDU) zu urteilen war ihr Hauptmotiv die Absicherung des parlamentarischen Regierungssystems. Der Bundestag allein sollte für die Bildung der Regierung verantwortlich sein und diese Verantwortung nicht an andere Institutionen abgeben können, falls die Regierungsbildung schwierig wird. Deswegen verzichtete ihr Vorschlag auch auf die Mitwirkung des Bundespräsidenten. Eine Mehrheit für ihre Konzeption ergab sich durch den Kurswechsel der sozialdemokratischen Fraktion, die zwischen dem 16. und 17. November 1948 den Ausweg der „Legalitätsreserve“ Bundesrat bei der Regierungsbildung aufgab23. Fest zu halten ist, dass der Parlamentarische Rat ungeachtet der Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik die Minderheitsregierung und die vorzeitige Neuwahl des Bundestages als Elemente des parlamentarischen Regierungssstems in das Grundgesetz aufnahm. Beide waren aus seiner Sicht Bestandteile eines flexiblen Parlamentarismus, der auf die gesellschaftlichen Veränderungen angemessen reagieren kann. Die Position des Bundespräsidenten wurde trotz der Vorbehalte gegen den Weimarer Reichspräsidenten im Verlauf der Grundgesetzberatungen aufgewertet: Nachdem sein Amt anfangs zur Disposition stand, erhielt er das Nominierungsrecht für den ersten Wahlgang bei der Kanzlerwahl. Falls die Kanzlerwahl ohne absolute Mehrheit bleibt, entscheidet er zwischen einer Minderheitsregierung und der Neuwahl des Bundestages. Diese Wahl hat er auch bei einer abgelehnten Vertrauensfrage nach Art. 68 Abs. 1 GG. In diesem Fall muss allerdings der Bundekanzler vorher die Auflösung beantragen.

22 Wenn man die Präsidialregierungen und die Fachleute-Regierung Cuno hinzurechnet, erlebte die Republik zwölf Minderheitsregierungen. Die erste Regierung Adolf Hitlers war ebenfalls ine Minderheitsregierung. 23 Vgl. Bericht Walter Menzels an Erich Ollenhauer und Fritz Heine vom 19. 11. 1948 im Nachlass Carlo Schmid Nr. 1162 im AsD, Bonn. Recht und Politik, Beiheft 4

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Offen bleibt die Frage nach der Option des Parlamentarischen Rates selbst. Hielten die Mütter und Väter des Grundgesetzes Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung für das geringere Übel? Die Position der Minderheitsregierung wurde jedenfalls im Verlauf der Grundgesetzberatungen durch die Einführung des Gesetzgebungsnotstands gestärkt. Hierbei ging es um die Situation, in der dem amtierenden Bundeskanzler eine oppositionelle Mehrheit des Bundestages gegenübersteht, die jedoch zu einer gemeinsamen Politik und zum konstruktiven Misstrauensvotum nicht in der Lage ist. Die Regierung kann unter diesen Bedingungen im Bundestag für ihre Gesetzgebung möglicherweise keine Mehrheit finden. Hier bestand offenbar eine Lücke in der Regierungskonstruktion, die vom ARA erkannt wurde. Er legte hierzu bereits am 26. November 1948 den Entwurf eines neuen Artikels vor. Dessen Grundgedanke war, die Gesetzgebung dem Bundesrat zu übertragen, falls die Minderheitsregierung mit ihren Vorlagen im Bundestag scheitert24. Mit diesem Vorschlag führte das gleiche Dreimännergremium, das die sogenannte Legalitätsreserve für die Regierungsbildung zu Fall gebracht hatte, für den Bereich der Gesetzgebung die Legalitätsreserve wieder ein. Obwohl die Notwendigkeit des Artikels über den Gesetzgebungsnotstand zwischen den drei größten Fraktionen des Parlamentarischen Rates unumstritten war, zogen sich die Beratungen über die Begrenzung dieser Notgesetzgebung lange hin. Einerseits wollte man alle Anklänge an die Notverordnungspolitik der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus vermeiden, andererseits einer Minderheitsregierung eine gewisse Lebensdauer garantieren, um überstürzte und kurz aufeinander folgende Neuwahlen zu vermeiden. Rudolf Katz (SPD) erinnerte erneut an die aus demokratischer Sicht wenig erfolgreichen Neuwahlen in der Schlussphase der Weimarer Republik. Sechs Monate hätten damals nicht ausgereicht, um die Blockade der Gesetzgebung zu beheben. Er forderte deshalb, die maximale Dauer des Gesetzgebungsnotstands auf ein Jahr auszudehnen und fügte hinzu: „Es hat keinen Sinn, in unserer Verfassung eine Minderheitsregierung anzuerkennen, wenn wir ihr gleichzeitig den Boden entziehen, Gesetzentwürfe durchzubringen“. Die CDU/CSU-Fraktion bestand jedoch auf der kürzeren Frist von sechs Monaten. Wenn diese abgelaufen ist, sollte es einen Kanzlerwechsel oder Neuwahlen geben25. Die Bemühungen um Präzisierung und Begrenzung der Notgesetzgebung führten schließlich zum umfangreichen Art. 81 GG. Die Diskussion über den Gesetzgebungsnotstand lässt erkennen, dass der Parlamentarische Rat hinsichtlich der Parlamentsauflösung skeptischer geworden war als zu Beginn seiner Beratungen. Neuwahlen bilden nach wie vor den letzten Ausweg aus einer Regierungsbildungskrise. Die Minderheitsregierung wurde jedoch von den Autoren des Grundgesetzes mit zusätzlichen 24 Drks. Nr. 318 vom 26. November 1948 in: Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949 (a.a.O. [Fn. 20]), S. 67 – 69. 25 Vgl. die Diskussion in der 34. Sitzung des Hauptausschusses am 11. Januar 1949 in: Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949 (a.a.O. [Fn. 9]), S. 1032 – 1041. 110

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Sicherungen und Kompetenzen ausgestattet und im Vergleich zur Auflösung des Bundestages deutlich favorisiert.

V. Der gescheiterte Versuch eines Viererbündnisses 2017 Wenn wir den Blick auf die jüngste Regierungsbildung richten, interessieren vor allem die beiden Fragen, ob sich die Bestimmungen des Parlamentarischen Rates in der politischen Praxis bewährt haben und ob sie überhaupt angewandt wurden. Bereits vor der Bundestagswahl vom 24. September 2017 war ein Regierungsbündnis zwischen den Unionsparteien, den Grünen und der FDP im Gespräch. Eine Verständigung der CDU mit den Grünen schien nach der im Mai 2016 geschlossenen schwarz-grünen Koalition in Baden-Württemberg auch auf Bundesebene möglich zu sein und für die FDP bildeten CDU und CSU ohnehin die bevorzugten Koalitionspartner. Die Bildung einer schwarz-gelb-grünen Regierung in Schleswig-Holstein im Mai 2017 war ein eindeutiger Hinweis auf eine entsprechende Koalition nach der bevorstehenden Bundestagswahl. Aufgrund des Wahlergebnisses vom 24. September 2017 bildete diese als JamaikaKoalition bezeichnete Variante eine der wenigen Möglichkeiten, eine Mehrheitsregierung auf Bundesebene zu erreichen. Die Fraktion der Bundeskanzlerin konnte in diesem Fall trotz ihrer Verluste eine neue Regierung mit zwei Wahlsiegern der Bundestagswahl, den Grünen und der FDP, bilden. Das geplante Viererbündnis bestärkte die Führung der SPD, am Wahlabend den Weg in die Opposition zu proklamieren. Das weitere Prozedere zeigte jedoch, dass die potentiellen Regierungspartner keine Eile mit der Konkretisierung ihres Vorhabens hatten: CDU und CSU mussten zunächst ihre Differenzen über eine Höchstgrenze für Flüchtlinge beilegen, die man im Wahlkampf bewusst in den Hintergrund hatte treten lassen. Am 9. Oktober 2018 einigten sich Angela Merkel und Horst Seehofer auf die Maximalzahl von 200 000 pro Jahr. Ein weiterer Grund für die Verzögerung der Koalitionsgespräche war die Rücksichtnahme auf die Landtagswahl in Niedersachsen am 15. Oktober, die dort zu einer Großen Koalition führte. Aufgrund dieser Verzögerung begannen die offiziellen Sondierungen der JamaikaPartner erst am 20. Oktober und damit fast vier Wochen nach der Bundestagswahl. Die Größe der Verhandlungsdelegationen deutete darauf hin, dass es sich bei den sogenannten Sondierungen in Wirklichkeit um Koalitionsgespräche handelte: Die „große Sondierungsrunde“ bestand aus 52 Politikern, die nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in der Landes- und Kommunalpolitik tätig waren. Es wurden mehrere Arbeitsgruppen eingerichtet. Die oberste Ebene bildete die Runde der Parteivorsitzenden26. Obwohl der Verlauf der Sondierungen nach außen immer positiv dargestellt wurde, lassen die Kommentare einzelner Verhandlungsteilnehmer den Dissenz in wichtigen 26 Vgl. die ausführliche Darstellung von Siefken, Regierungsbildung „wider Willen“ – der mühsame Weg zur Koalition nach der Bundestagswahl 2017 (ZParl, Heft 2/2018, S. 407 – 436). Recht und Politik, Beiheft 4

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Politikbereichen erkennen. Christian Lindner, der die Sondierungen für die FDP führte, sprach nach dem Scheitern von 237 ungeklärten Differenzpunkten. Sie betrafen so wichtige Bereiche wie die Klimapolitik, die Finanzen, die Flüchtlingsfrage sowie die Energie- und Verkehrspolitik. Nach Darstellung von Lindner waren die unterschiedlichen Auffassungen über die zukünftige europäische Finanzpolitik der unmittelbare Anlass für den Ausstieg der FDP am Abend des 19. November 201727. In den Verhandlungen habe man „keine gemeinsame Vertrauensbasis entwickeln“ können. Es sei besser, „nicht zu regieren, als falsch zu regieren“28. Ob man bei den Gesprächen zwischen CDU, CSU, Grünen und FDP überhaupt einer Einigung näher kam, scheint auch nach den Ausführungen des schleswig-holsteinischen Umweltministers Robert Habeck fraglich zu sein. Er nannte den Familiennachzug für subsidiär schutzberechtigte Flüchtlinge, den Kohleausstieg, die Rüstungskontrolle sowie die Europapolitik als wichtigste Konfliktpunkte. Habeck erklärte, auch die Grünen hätten „mehr als ein Dutzend Mal an Abbruch gedacht“. und fügte hinzu: „Es war kaum auszuhalten, dass sich nichts bewegt hat, obwohl wir über Wochen permanent geredet haben …“.29 Im Parlamentarischen Rat hatte man ursprünglich die Vorstellung, die Regierungsbildung sollte im kurzen Abstand nach der Bundestagswahl stattfinden. Der oben beschriebene Vorschlag des ARA zur Kanzlerwahl, der auf die Mitwirkung des Bundespräsidenten verzichtete, sah folgenden Zeitplan vor: Falls es dem neuen Bundestag in einem Zeitraum von 14 Tagen nach seinem Zusammentritt nicht gelang, einen Kanzler mit absoluter Mehrheit zu wählen, sollte bereits ein neuer Wahlgang stattfinden, in welchem der Kandidat mit den meisten Stimmen gewählt ist. Da der neue Bundestag spätestens vier Wochen nach der Wahl zusammentreten muß, wäre auf diese Weise spätestens sechs Wochen nach der Bundestagswahl ein neuer Bundeskanzler gewählt worden. Diese enge Terminierung der Kanzlerwahl wurde mit der Wiedereinführung des Bundespräsidenten in den Regierungsbildungsprozess in der zweiten Lesung des Hauptausschusses rückgängig gemacht30.

VI. Der Verzicht auf Neuwahl und Minderheitsregierung Als die Jamaika-Sondierungen scheiterten erlangten die beiden Optionen des Parlamentarischen Rates – Neuwahlen oder Minderheitsregierung –, nicht nur theoretische, sondern tagespolitische Bedeutung. Gleichzeitig wurde die geschäftsführende Bundesregierung zunehmend kritischer bewertet. Sie hat nach den Regeln des Grundgesetzes allerdings kaum geringere Kompetenzen als eine normale Regierung. Ihre Arbeitsfähigkeit wurde vor allem in der Europapolitik in Frage gestellt, obwohl in den 27 So geht es nicht – FDP-Chef Lindner über das Jamaika-Aus (Spiegel-Online vom 23. 11. 2017, abgerufen am 17. 08. 2018). 28 Spiegel-Online vom 20. 11. 2017, abgerufen am 28. 12. 2018. 29 Wie Grünen-Minister Habeck die Jamaika Gespräche erlebte (Spiegel-Online vom 22. 11. 2017, abgerufen am 17. 08. 2018). 30 Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949 (a.a.O. [Fn. 20]), S. 60 und S. 246. 112

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Ministerräten kein Unterschied gemacht wird zwischen geschäftsführenden und nicht geschäftsführenden Ministern oder Regierungschefs.31 Die amtierende Kanzlerin bestärkte diese Bedenken in ihrer Neujahrsrede mit den Worten: „Die Welt wartet nicht auf uns“32. Die zurückhaltende Reaktion in Berlin auf die Reformpläne des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für Europa lag allerdings nicht an der lediglich geschäftsführenden deutschen Regierung, sondern an der kritischen Haltung zu seinen Finanzplänen. Die Bild-Zeitung kommentierte zu Beginn des neuen Jahres 2018 unter dem Titel „100 Tage ohne neue Regierung“: „Die Älteren erinnern sich vielleicht noch … vor 100 Tagen hat Deutschland gewählt – auf eine neue Regierung wartet das Wahlvolk immer noch vergebens“33. Die festgefahrene Regierungsbildung geriet unter dem Eindruck derartiger Kommentare in Zeitdruck und wurde zur Regierungskrise hochgestuft. Eine Neuwahl des Bundestages wurde von den Medien und von einzelnen Politikern zunächst nicht ausgeschlossen. Christian Lindner erklärte bereits während der laufenden Jamaika-Sondierungen, die FDP habe keine Angst vor Neuwahlen34. Das SPDPräsidium beschloss am 20. November 2017 einstimmig, man lehne eine Große Koalition ab und scheue keine Neuwahlen. Auch die amtierende Bundeskanzlerin erklärte sich zwei Tage später zur erneuten Kandidatur bei Neuwahlen bereit35. In den Medien wurden bereits die zu beachtenden Fristen berechnet und der 22. April 2018 als möglicher Wahltermin genannt36. Der Mut zum Risiko hatte aber nur kurze Zeit Bestand: Die Sozialdemokraten rückten bereits zwei Tage später von Neuwahlen ab und erklärten, sie würden gegebenenfalls eine von Angela Merkel geführte Minderheitsregierung tolerieren37. Der damalige Vorsitzende Martin Schulz warnte die Sozialdemokraten schließlich vor einem „Neuwahlfiasko“38. Merkel selbst erklärte am 25. November auf dem Landesparteitag der CDU von Mecklenburg-Vorpommern: „Neuwahlen halte ich für ganz falsch“39. Neuwahlen fanden auch in der Presse kaum Un31 Wie das Jamaika-Aus die EU bremst (Spiegel-Online vom 20. 11. 2017, abgerufen am 05. 08. 2018). 32 www.faz.net vom 30. 12. 2017, abgerufen am 16. 11. 2018. 33 Bild-Zeitung vom 02. 01. 2018. 34 Keine Angst vor Neuwahlen (www.tagesschau.de vom 05. 11. 2017, abgerufen am 19. 08. 2018). 35 Merkel zur erneuten Kandidatur bei Neuwahlen bereit (Spiegel-Online vom vom 22. 11. 2017, abgerufen am 19. 8. 2018). 36 Termin für mögliche Neuwahlen kursiert bereits (www.welt.de vom 21. 11. 2017, abgerufen am 19. 08. 2018). 37 SPD könnte Merkel als Kanzlerin tolerieren (www.t-online.de vom 22. 11. 2017, abgerufen am 19. 08. 2018). 38 Schulz warnt SPD vor Neuwahl-Fiasko (Spiegel Online vom 19. 01. 2018, abgerufen am 22. 08. 2018). 39 Merkel auf CDU-Landesparteitag gegen Neuwahlen (www.br.de vom 25. 11. 2017, abgerufen am 19. 08. 2018). Recht und Politik, Beiheft 4

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terstützung. Bernd Ulrich bezeichnet sie bereits vor dem offiziellen Scheitern der Jamaika-Sondierungen in der „Zeit“ als extrem gefährlich40. Der Rückblick auf die Weimarer Republik diente in dieser Diskussion zwar als Argument, war aber kein ausschlaggebendes Motiv für die Ablehnung von Neuwahlen. Größeres Gewicht hatte der mögliche Mandatsverlust, denn „die da rufen ,Wir haben keine Angst vor Neuwahlen‘, sind in allen Parteien die Spitzenpolitiker mit sicherem Listenplatz und die Abgeordneten mit sicheren Wahlkreisen“41. Eine ebenso große Bedeutung spielte die Furcht vor einem Wahlerfolg der AfD, die bei der Bundestagswahl vom 24. September 2017 auf Anhieb 12,6 Prozent der Zweitstimmen erreichte. Das Thema Minderheitsregierung wurde nach dem Scheitern der Jamaika Gespräche ebenfalls ausführlich diskutiert: Die Sozialdemokraten konnten sich nach den Aussagen ihrer neuen Fraktionsvorsitzenden Andrea Nahles die Tolerierung einer CDU/CSUMinderheitsregierung durchaus vorstellen42. Der SPD-Landesvorsitzende von Rheinland-Pfalz, Roger Lewentz, schlug sogar eine SPD-geführte Minderheitsregierung zusammen mit den Grünen und der FDP vor, die in Mainz gemeinsam regieren43. Dieser innovative und taktisch geschickte Plan wurde aber von der Parteiführung nicht weiter verfolgt, weil man dort davon ausging, dass Angela Merkel weiterhin Bundeskanzlerin bleibt. Die Bild-Zeitung glaubte bereits am 23. November zu wissen, die geschäftsführende Kanzlerin wolle keine Minderheitsregierung44. Die Unionsparteien lehnten in der Tat kurze Zeit später eine Regierung mit wechselnden Mehrheiten ab45. Merkel hielt sich aber eine Hintertür offen: Im ZDF-Interview „Berlin-Direkt“ vom 11. Februar 2018 erklärte sie, falls das SPD-Mitgliedervotum scheitere, müsse der Bundespräsident einen Kanzlerkandidaten vorschlagen und in diesem Fall stehe sie zur Verfügung. Dies kann nur als Bereitschaft gedeutet werden, das Amt auch ohne ausführliche Koalitionsverhandlungen als Minderheitenkanzlerin zu übernehmen46.

40 Sie haben es in der Hand (Zeit Online vom 15. 11. 2017, abgerufen am 04. 08. 2018). 41 Hugo Müller-Voss, Neuwahlen – Die Angst geht um (Cicero Online vom 23. 11. 2017, abgerufen am 19. 08. 2018). 42 www.rp-online.de vom 21. 11. 2017 (abgerufen am 23. 08. 2018). 43 Lewentz schlägt Minderheitsregierung unter SPD-Führung vor (www.süddeutschezeitung.de vom 22. 11. 2017, abgerufem am 25. 08. 2018). 44 Kann funktionieren, was Merkel nicht will? (www.bild.de vom 23. 11. 2017, abgerufen am 23. 08. 2018). 45 Die Union will keine Minderheitsregierung (www.tagesspiegel.de vom 11. 12. 2017, abgerufen am 24. 08. 2018). 46 Merkels Verwirrspiel um eine Minderheitsregierung (www.t-online.de vom 12. 02. 2018, abgerufen am 25. 08. 2018). 114

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VII. Die Große Koalition als beste Lösung? Die vom Parlamentarischen Rat vorgesehenen Auswege bei der Regierungsbildung wurden 2017/18 nicht begangen, weil mit der Großen Koalition die Bildung einer parlamentarischen Mehrheit gelang. Aus der Regierungsbildung 2017/18 ergeben sich allerdings offene Fragen, die beim schnellen Übergang zum Regierungsgeschäft der erneuerten Großen Koalition unbeantwortet blieben: In der Diskussion über die Auflösung des Bundestages spielte das Argument aus dem Parlamentarischen Rat eine Rolle, eine Neuwahl kurz nach einer regulären Bundestagswahl würde kaum zu anderen Mehrheiten führen. Diese These läßt sich kaum widerlegen, weil es hierfür in der Bundesrepublik noch keine Beispiele gibt. Die Parteien hätten jedoch 2018 mindestens sechs Monate Zeit gehabt, den Wahlkampf mit neuen Programmpunkten und neuen Kandidaten zu bestreiten. Auch neue Koalitionsmöglichkeiten können in dieser Zeit Gestalt gewinnen. In den Parteiführungen bestand jedoch nicht die hierzu erforderliche Risikobereitschaft und Flexibilität. Der Vergleich mit den letzten Wahlen der Weimarer Republik unterschätzt die politische Stabilität und die wirtschaftliche Prosperität der Bundesrepublik sowie ihre vertragsmäßige Vernetzung auf internationaler Ebene. Zudem erscheinen die rechten und linken Ränder ihres Parteiensystems bisher eher harmlos verglichen mit dem offenen Kampf der aus Moskau gesteuerten KPD und der Nationalsozialisten gegen die Republik von Weimar. Die Ablehnung einer Minderheitsregierung in der Diskussion von 2017/18 war ebenfalls von der Erinnerung an das Weimarer Muster geprägt: Man ging davon aus, dass die Parteien auf dem linken und rechten Flügel des Spektrums jede Kooperation mit der Regierung ablehnen. Die Minderheitsregierung wurde statisch betrachtet und fast immer mit angeblich unvermeidbaren Neuwahlen verbunden. Dass eine Minderheitsregierung über einen längeren Zeitraum mit wechselnden Mehrheiten regieren oder sogar wieder zu einer Mehrheitsregierung werden kann, schien unvorstellbar. Die weitgehenden verfassungsrechtlichen Möglichkeiten des Minderheitskanzlers wurden ausgeblendet. Der von Heinrich von Brentano (CDU) im Parlamentarischen Rat entwickelte Gedanke, der Minderheitskanzler könne über die Vertrauensfrage Neuwahlen zu einem für ihn günstigen Zeitpunkt erreichen, fand keinen Eingang in die Diskussion. Die Erfahrungen mit Minderheitsregierungen in anderen Ländern, wie in Skandinavien oder Portugal, wurden ebenfalls nicht aufgegriffen. Auch in diesen Fragen fehlte auf allen Seiten der Mut zum Risiko und die Bereitschaft neue Wege zu gehen. Beim Weg in die vierte Große Koalition spielte der Bundespräsident eine wichtige Rolle, weil er die Dispositionsfreiheit über den zeitlichen Ablauf der Kanzlerwahl besitzt. Er kann nach dem GG nicht nur entscheiden, wen er als Kanzlerkandidaten für den ersten Wahlgang vorschlägt, sondern auch den Zeitpunkt seines Vorschlags selbst bestimmen. Bundespräsident Steinmeier hätte während der lange andauernden und offenbar ergebnislosen Jamaika-Sondierungen die Möglichkeit gehabt, eine Kanzlerkandidatin oder eine Kanzlerkandidaten vorzuschlagen. Damit hätte er die verhan-

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delnden Parteien unter Druck gesetzt, wäre aber das Risiko eingegangen, am Ende vor der Entscheidung zwischen Minderheitsregierung oder Neuwahl zu stehen. Da im Grundgesetz ein verbindlicher Zeitplan für die Regierungsbildung fehlt, wird dieser vom Bundespräsidenten bestimmt. Der Präsident gerät so in eine Vermittlerrolle, die es ihm ermöglicht, die Kanzlerwahl und die Koalitionsbildung zu beeinflussen47. In der Woche nach dem 20. November 2017 sprach Bundespräsident Steinmeier mit der amtierenden Bundeskanzlerin und den Vorsitzenden der anderen im Bundestag vertretenen Parteien. Er machte deutlich, dass er Neuwahlen ablehne, und forderte alle Parteien auf, ihrer „Verpflichtung zum Gemeinwohl“ gerecht zu werden. Seine Skepsis gegenüber einer Minderheitsregierung begründete Steinmeier mit ihrer angeblich mangelnden Handlungsfähigkeit auf internationaler Ebene, insbesondere in der Europapolitik48. Als sich der Bundespräsident am Abend des 30. November mit den Vorsitzenden von CDU,CSU und SPD traf, wurde deutlich, dass er die Bildung einer Großen Koalition favorisierte. Diese einzige noch verbleibende Option zur Mehrheitsbildung kam auch Angela Merkel entgegen, weil sie ihre Wiederwahl zur Kanzlerin und ihre Führungsrolle in der CDU/CSU sicherte. Offen blieb noch die Zustimmung der Sozialdemokraten zu einer erneuten Großen Koalition. Bereits unmittelbar nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen hatte der Sprecher des „Seeheimer Kreises“, Johannes Kahrs, argumentiert: „Nach dem Aus von Jamaika haben wir eine neue Situation“. Man müsse deshalb offen in die Gespräche mit dem Bundespräsidenten gehen. Aus den Landesverbänden in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt kamen ebenfalls Stimmen, man solle sich Gesprächen über eine Große Koalition nicht verweigern49. Anschließend steuerten die Sozialdemokraten zielstrebig die Erneuerung der Großen Koalition an: Ein Bundesparteitag beschloss zunächst am 6. Dezember „ergebnisoffene Sondierungen“. Ein weiterer Parteitag am 21. Januar 2018 sprach sich für Koalitionsverhandlungen mit den Unionsparteien aus. Das Mitgliedervotum wurde in sieben Regionalkonferenzen vorbereitet, bei denen die Parteiprominenz geschlossen für die Große Koalition auftrat – einschließlich derjenigen, die vorher anderer Meinung waren. Die Auszählung des Mitgliedervotums ergab am 4. März 2018 bei einer Beteiligung von 78 Prozent eine Zustimmung von 66 Prozent der Mitglieder für das Verhandlungsergebnis mit den Unionsparteien. Da CDU und CSU bereits durch ihre Parteigremien zugestimmt hatten, war der Weg frei zur Wie-

47 Unter Verfassungsrechtlern ist die Auffassung vorherrschend, falls der Bundespräsident keinen Vorschlag macht, könne der Bundestag nach Art. 63, Abs. 3 GG den Kanzler wählen. Wann die Frist für den Vorschlag des Präsidenten abläuft, bleibt jedoch offen. Vgl. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, München 2010 (6. Aufl.), S. 1624 f. sowie Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Tübingen 2006 (2. Aufl.), S. 1428 f. 48 Steinmeier wird zum Anwalt der Demokratie (www.tagesspiegel.de vom 22. 11. 2017, abgerufen am 07. 05. 2018). 49 SPD könnte Merkel als Kanzlerin tolerieren (www.t-online.de vom 22. 11. 2017, abgerufen am 19. 08. 2018). 116

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derwahl Angela Merkels zur Bundkanzlerin am 14. März und zur anschließenden Ernennung der Kabinettsmitglieder50. Ob CDU/CSU und SPD ihr Bündnis nach einem Jahr noch als glückliche Lösung betrachten, scheint fraglich. Der Verlust der Volksparteien an Stimmen und Mitgliedern ist unverkennbar. Er mag zu einem großen Teil auf unumkehrbare gesellschaftliche Entwicklungen zurückzuführen sein, ist aber auch das Ergebnis des großen Regierungsbündnisses. Diese Allianz besteht inzwischen seit nahezu 14 Jahren, denn in der Zeit der Koalition von CDU/CSU und FDP zwischen 2009 und 2013 mussten die Sozialdemokraten der Kanzlerin in der Euro- und Griechenlandkrise beispringen. Große Koalitionen sind auch keineswegs gleichbedeutend mit starken Regierungen, obwohl dies von Union und SPD bei ihrer Bildung immer behauptet wird. Die Realität sieht anders aus: Auf vielen Politikfeldern führen diese Bündnisse vielmehr zum Verschieben und Ausklammern notwendiger Entscheidungen. Gleichzeitig stabilisierten sich die in Opposition zur Großen Koalition stehenden kleineren Parteien: Die Grünen, die FDP, die Linke und die AfD liegen bei Wahlen und Umfragen deutlich über der Fünf-Prozent-Hürde. Eine geschlossen auftretende Opposition ist von ihnen allerdings nicht zu erwarten. Die ergebnislosen JamaikaSondierungen machten vielmehr die programmatischen Unterschiede zwischen ihnen deutlich. Auf diese Weise etablierte sich ein alternativloser Parlamentarismus. Der personelle und programmatische Wechsel, ein Grundelement parlamentarischer Regierungsweise, geriet ausser Sichtweite. Angesichts der Aufgliederung des deutschen Parteiensystems ist mit weiteren kritischen Regierungsbildungen zu rechnen. In Zukunft könnten nicht nur drei Parteien (einschließlich der CSU) notwendig sein, um eine Mehrheitskoalition zu bilden, sondern vier oder fünf. Man sollte sich deshalb mit dem Gedanken einer Minderheitsregierung vertraut machen und ihre Vor- und Nachteile nüchtern abwägen. Bei einem Bruch der Großen Koalition würde sie automatisch entstehen. Auch die gegenwärtige Regierung wird zur Minderheitsregierung, falls sie für grundlegende Entscheidungen die Zustimmung des Bundesrates benötigt, denn dort kontrollieren Union und SPD allein nicht die Mehrheit der Stimmen51. Den Gedanken an eine Neuwahl des Bundestages sollte man nicht weiterhin durch den Rückblick auf Weimar stigmatisieren. Wahlen sind schließlich ein durchaus demokratisches Element. Auf Bundesebene bilden sie für die Wähler die einzige Gelegenheit, unmittelbar in den politischen Willensbildungsprozess einzugreifen. Eine Fahrt zum Wahllokal dauert in der Regel nicht länger als zwanzig Minuten.

50 Hierzu die Darstellung von Siefken (Anm. 24). 51 Niclauß, Der diskrete Charme einer Minderheitsregierung, in: ZParl H. 1 / 2017, S. 211 – 215, S. 214. Recht und Politik, Beiheft 4

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Bürgerbeteiligung in der parlamentarischen Parteiendemokratie. Welche Reformen sind notwendig? Von Frank Decker, Bonn

I. Das Bedürfnis nach mehr und nach anderer Partizipation Die Legitimität demokratisch verfasster politischer Systeme speist sich aus zwei Quellen: der Zustimmung, die die Herrschaftsform im Allgemeinen und die Ausübung der Herrschaft im Speziellen von Seiten der Regierten erfährt, und der Regierungsfähigkeit. Die erste Quelle wird in der Demokratietheorie als Input-Legitimation, die zweite als Output-Legitimation bezeichnet. Input- und Output-Legitimation stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, bleiben aber im Kern aufeinander bezogen. Denn inhaltlich richtige Entscheidungen, die zur Problemlösung beitragen, nützen wenig, wenn sie nicht zugleich bei den Adressaten auf Akzeptanz stoßen. Diese Akzeptanz kann nur über geeignete Input-Strukturen hergestellt werden, die denen, die von der Entscheidung betroffen sind, die Möglichkeit geben, durch eigene Beteiligung auf die politischen Inhalte einzuwirken und sie in die von ihnen gewünschte Richtung zu lenken. Mangelt es an der Akzeptanz, verfehlen die Entscheidungen entweder ihre Wirkung oder sie rufen Protest und Widerstand hervor, die sich im schlimmsten Fall zu einem anhaltenden Loyalitätsentzug gegenüber der Politik und dem politischen System auswachsen.1 Output- und Input-Legitimation dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Weder sind die von der repräsentativen Demokratie bereit gehaltenen Beteiligungsangebote in der Lage, automatisch eine gute Politik im Sinne des Gemeinwohls hervorzubringen, noch können die politischen Inhalte aus sich selbst heraus eine hinreichende Legitimation erzeugen. Deshalb muss man darüber nachdenken, ob und in welcher Form die Qualität und Akzeptanz der von den repräsentativen Institutionen getroffenen Entscheidungen durch Reformen der bestehenden und durch zusätzliche Beteiligungsverfahren jenseits der Wahlen verbessert werden können. Diese Frage stellt sich sowohl für die direktdemokratischen Verfahren, mit denen die Bürger selbst unmittelbare Entscheidungsrechte ausüben, als auch für die nicht verbindlichen, deliberativen bzw. dialogorientierten Verfahren. Letztere weisen eine große Bandbreite von – zu1

Vgl. Heidrun Abromeit, Wozu braucht man Demokratie? Die postnationale Herausforderung der Demokratietheorie, Opladen 2002.

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Duncker & Humblot, Berlin

Bürgerbeteiligung in der parlamentarischen Parteiendemokratie

nehmend auch online- und internetgestützten – Formen auf, die von großteiligen Townhall-Meetings bis hin zu kleinteiligeren Formaten wie Bürgerhaushalten, Bürgerräten, Bürgergutachten oder Planungszellen reichen.2 Beide Verfahren unterscheiden sich in ihrem Institutionalisierungsgrad. Während die direktdemokratischen Verfahren rechtlich festgeschrieben sind, werden die deliberativen Verfahren in Abhängigkeit von der konkreten Entscheidungsmaterie eher ad hoc eingesetzt. Ein weiterer Unterschied besteht in der Einflussrichtung. Die direktdemokratischen Instrumente sind auf kommunaler und Länderebene in der Bundesrepublik traditionell als Initiativrechte ausgestaltet, die bei Bedarf von Bürgern selbst gegen die Regierenden eingesetzt werden können. In dieser Konfliktorientierung treffen sie sich mit anderen nicht verfassten, protestorientierten Partizipationsformen wie Demonstrationen oder Bürgerinitiativen. Bei den deliberativen Verfahren handelt es sich dagegen um konsensorientierte Beteiligungsangebote, die „von oben“, also von der Politik und/oder Verwaltung bereitgestellt werden, um möglichst alle relevanten Meinungen und Interessen schon vorab in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Empirische Untersuchungen belegen die soziale Ungleichheit der politischen Partizipation. Angefangen von den Wahlen und der Mitgliedschaft in den Parteien über die „von oben“ eingerichteten deliberativen Beteiligungsformen bis hin zu den direktdemokratischen und sonstigen nicht institutionalisierten Partizipationsformen, die „von unten“ ausgehen, werden sie vor allem von Bürgern mit höherem Bildungsabschluss und höherem Einkommen wahrgenommen. Darüber hinaus gibt es zum Teil deutliche Unterschiede beim Geschlecht oder beim Alter.3 Die soziale Ungleichheit stellt insbesondere bei den Wahlen einen wachsendes Problem dar, sind diese doch mit der Idee der politischen Gleichheit untrennbar verwoben. Normativ kommt dies einerseits darin zum Ausdruck, dass keine Gruppe vom Wahlrecht ausgeschlossen wird – lediglich mit Blick auf das Alter und die Staatsangehörigkeit sind Einschränkungen erlaubt. Zum anderen wiegt jede Stimme gleich viel (auch wenn das Wahlsystem das nicht immer hundertprozentig verbürgt). Die faktische Entwicklung hat sich vor allem von dem erstgenannten Prinzip wegbewegt. Neuere Untersuchungen zeigen, wie stark die Schere der Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik seit den 2000er Jahren auseinandergegangen ist. Gerade die Wähler aus den unteren sozialen Schichten bleiben der Urne immer öfter fern.4 Dies hat naturgemäß Folgen für ihre Repräsentation, können diese Wähler doch nicht damit rechnen, dass Parteien und

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Vgl. Bertelsmann Stiftung / Staatsministerium Baden-Württemberg (Hg.), Partizipation im Wandel. Unsere Demokratie zwischen, Wählen, Mitmachen und Entscheiden, Gütersloh 2014. Vgl. Wolfgang Merkel, Nur schöner Schein? Demokratische Innovationen in Theorie und Praxis, Frankfurt a. M. 2015. Vgl. Armin Schäfer, Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung die Demokratie gefährdet, Frankfurt a. M. / New York 2015.

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Frank Decker

Politiker ihre Interessen dann noch vertreten. Und vertreten Parteien und Politiker ihre Interessen nicht, haben sie noch weniger Grund, an den Wahlen teilzunehmen. Bei den problem- und protestorientierten Formen der Partizipation liegt die Ungleichheit dagegen in der Natur der Sache, nämlich den unterschiedlich intensiven Präferenzen.5 Von der Schließung eines Schwimmbads oder dem Bau eines Flughafens sind nun einmal die unmittelbaren Nutzer oder Anrainer stärker betroffen als die Allgemeinheit. Demokratietheoretisch geht es hier um das Verhältnis von Mehrheitsentscheidung und Minderheitenrechten. So legitim die von den Protestierenden artikulierten Interessen auch sein mögen, müssen sie doch mit anderen Interessen und Meinungen zu einem Ausgleich gebracht werden. Diese Funktion kann – zumindest der Idee nach – am besten von den repräsentativen Institutionen geleistet werden, das heißt von Parteien und Parlamenten. Das Problem der ungleichen Repräsentation stellt sich in den real existierenden Demokratien vor allem in zweierlei Hinsicht. Zum einen können sich erwerbsbezogene (wirtschaftliche) gegenüber nicht-erwerbsbezogenen Interessen leichter durchsetzen, zum anderen werden die gegenwärtigen gegenüber den künftigen Interessen bevorzugt. Das Zukunftsproblem ist dabei insoweit gravierender, als die nachgeborenen Generationen per se keine Möglichkeit haben, ihre Interessen zu artikulieren oder über das Stimmrecht zur Geltung zu bringen.6 Seine Brisanz lässt sich heute besonders an zwei Bereichen festmachen: der überbordenden staatlichen und privaten Verschuldung und den ökologischen Gefährdungen im Zuge der Erderwärmung.

II. Alte und neue Formen der Bürgerbeteiligung in der Praxis Fasst man die aus dieser Problemdiagnose erwachsenden Herausforderungen der heutigen Demokratien zusammen, so müsste die Hauptaufgabe einer „Demokratiepolitik“7 darin bestehen, die Repräsentationsbasis von Parteien und Parlamenten im Sinne einer gemeinwohlorientierten, an den Interessen der gesamten Bevölkerung orientierten und zukunftsgerichteten Entscheidungsverantwortung zu stärken. Die daraus ableitbaren Handlungsempfehlungen lassen sich nach folgenden Gesichtspunkten differenzieren: – Auf welche Institutionen und Phasen des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses beziehen sie sich? Hier ist vor allem die Unterscheidung zwischen dem vorstaatlichen und staatlichen Bereich anzusprechen, wobei die Parteien beide Bereiche verklammern.

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Vgl. Willmoore Kendall / John W. Carey, The „Intensity“ Problem and Democratic Theory, in: American Political Science Review 62 (1968) H. 1, S. 5 – 24. Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Können Demokratien zukunftsverantwortlich handeln?, in: Merkur 57 (2003) H. 7, S. 584 – 594. Zum Begriff vgl. Ludger Helms, Demokratiereformen: Herausforderungen und Agenden, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 61 (2011) H. 44 – 45, S. 12. Recht und Politik, Beiheft 4

Bürgerbeteiligung in der parlamentarischen Parteiendemokratie

– Auf welche Ebene des politischen Systems sind sie gerichtet? Unterhalb der beiden staatlichen Ebenen (Bund und Länder) spielen hier die Kommunen eine Schlüsselrolle, wo die Demokratie unmittelbar vor Ort stattfindet. Oberhalb der nationalstaatlichen Politik werden die europäische und die transnationale Ebene adressiert. – Für welche Politikbereiche sind die Empfehlungen gedacht? Je nach Macht-, Interessenund Akteurskonstellation und dem zeitlichen Horizont der Entscheidungen gibt es hier ganz unterschiedliche Anforderungen und Bedarfe. Die ergänzenden Verfahren der Bürgerbeteiligung, die als Angebote „von oben“ bereitgestellt werden, haben ihre Bedeutung vor allem auf der Landes- und kommunalen Ebene, wo die politischen und Verwaltungsentscheidungen orts- und betroffenennah erfolgen. Im Bereich der Infrastrukturpolitik ist es vor allem wichtig, dass die Bürger an der Entscheidung über die Vorhaben selbst beteiligt werden, also nicht erst bei deren Umsetzung. Eine Schlüsselbedeutung gewinnen die Kommunen für die Erlebbarkeit des sozialen und zivilgesellschaftlichen Zusammenhalts. Wenn die sich nicht mehr verstanden und respektiert fühlenden Bürger für die Demokratie zurückgewonnen werden sollen, müssen die Maßnahmen primär hier ansetzen, bei der Gestaltung des unmittelbaren Lebensumfeldes. Gemeinschaftliches Engagement und politische Partizipation gehen hier ineinander über. Weil Demokratie nicht nur eine Staatsform, sondern zugleich eine Lebensform ist, ein allgemeines Gestaltungsprinzip sozialer Beziehungen, müssen demokratische Prinzipien und Verhaltensweisen den Menschen frühzeitig vermittelt werden. Partizipation wird damit zu einem Thema der politischen Bildung. Die Erfahrung politischer Selbstwirksamkeit ist auch für diejenigen wichtig, die selbst noch nicht über das Wahlrecht verfügen. Dazu könnte z. B. die Ausweitung von Kinder- und Jugendparlamenten dienen, zumal wenn diese mit Antragsrechten zu den Vertretungskörperschaften und eigenen Etatmitteln verknüpft werden.8 Deliberative Verfahren im vorstaatlichen Raum sind in den Bereichen sinnvoll und geboten, in denen es eine starke Dominanz unternehmerischer und gegenwartsbezogener Interessen gibt. Durch die Einbeziehung gesellschaftlicher Gruppen können hier Gemeinwohlaspekte im Sinne einer nachhaltigen Politik in die Entscheidungsvorbereitung eingespeist werden. Geeignet dafür sind z. B. Multi-Stakeholder-Trialoge, die staatliche, wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteure anhalten, sich in bestimmten Fragen auf Konsenslösungen zu verständigen.9 Einen noch weiter gehenden

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Vgl. Tanja Betz / Wolfgang Gaiser / Liane Pluto (Hg.), Partizipation von Kindern und Jugendlichen, Schwalbach/Ts. 2011. Vgl. Gesine Schwan, „Multiperspectivity“ as Contribution to „Good Governance“, in: Günter Abel / Martina Plümacher (Hg.), Berlin Studies in Knowledge Research, Band 10: The Power of Distributed Perspectives, Berlin 2016, S. 267 – 288.

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Ansatz stellen fest institutionalisierte „Zukunftsräte“ dar, die als „konsultative“ vierte Gewalt neben Parlament, Regierung und Gerichte treten würden.10 Eine Möglichkeit, der sozialen Schlagseite zu begegnen, die sich bei den deliberativen Verfahren einstellen kann, liegt in einer Zufallsauswahl der Teilnehmer. Als Ergänzung bzw. Erweiterung bestehender Entscheidungsstrukturen hat sich diese Form der Bürgerbeteiligung z. B. bei Infrastrukturvorhaben (insbesondere auf der kommunalen und Länderebene) bewährt; darüber hinaus ist sie – wie Beispiele aus dem Ausland und vereinzelte inländische Pilotprojekte (Mainzer Bürgerkonferenz zur Gesundheitspolitik, Leipziger Bürgerrat Demokratie) belegen – für Verfahrensfragen und institutionenpolitische Themen geeignet. Ihr Hauptanwendungsfeld sind funktional verselbständigte Entscheidungsbereiche und -gremien oder Bereiche, in denen Parteien oder Parlamente „in eigener Sache“ entscheiden wie das Wahlrecht und die Politikfinanzierung. Sind die politischen Akteure bereit, die Verfahren hier für „unparteiische“ Bürger stärker zu öffnen, steigt die Wahrscheinlichkeit sachgerechter und demokratisch akzeptabler Lösungen.11 Zum Prinzip der demokratischen Öffentlichkeit gehört, dass die Entscheidungsprozesse transparent sind. Organisierte Interessen unterscheiden sich deutlich in ihrem Einfluss und ihrer Durchsetzungsfähigkeit. Dies offenzulegen ist nicht nur eine Aufgabe der Medien und der Zivilgesellschaft, sondern muss auch durch regulatorische Maßnahmen sichergestellt werden. Vergleichende Untersuchungen bestätigen, dass dort, wo mehr Transparenz herrscht, auch die Qualität der Entscheidungen und das Vertrauen der Bürger in Staat und Regierung zunimmt. Mithilfe der digitalen Medien lässt sich die Qualität der demokratischen Strukturen heute leichter messen und bewerten („Demokratie-Audit“). Gleichzeitig bietet das Netz die Möglichkeit, bisher verschlossen gehaltene öffentliche Datenbestände aus Politik und Verwaltung umfassend offenzulegen. Welche Bereiche des „Herrschaftswissens“ dabei aus welchen Gründen ausgenommen bleiben müssen, bedarf einer intensiven Debatte. Informationsfreiheit und Transparenz im Sinne von open government kann es nicht grenzenlos geben. Dasselbe gilt für den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess in Parteien, Parlamenten und Regierung, der ohne „geschützte Räume“ nicht funktionieren würde.12

10 Vgl. Patrizia Nanz / Claus Leggewie, Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung, Berlin 2016. 11 Als erfolgreicher Anwendungsfall auf der nationalen Ebene wird in der Literatur häufig die 2015 beschlossene Verfassungsreform in Irland genannt, die von einem Konvent aus ausgelosten Bürgern erarbeitet wurde. Vgl. David Van Reybrouck, Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist, Göttingen 2016, S. 132 ff. 12 Vgl. Göttrik Wewer, Transparenz und Vertrauen in der repräsentativen Demokratie: ein komplexes und kompliziertes Verhältnis, in: Veith Mehde / Margrit Seckelmann (Hg.), Zum Zustand der repräsentativen Demokratie, Tübingen 2018, S. 177 – 203. 122

Recht und Politik, Beiheft 4

Bürgerbeteiligung in der parlamentarischen Parteiendemokratie

III. Revitalisierung der repräsentativen Institutionen Neben die Einführung und Nutzung neuer Beteiligungsformen muss eine (Re)vitalisierung der bestehenden repräsentativen Institutionen treten, das heißt von Parteien, Parlamenten und Wahlen. Für die Parteien kommt es vor allem darauf an, dass sie sich als Organisation gegenüber potenziellen Neumitgliedern öffnen und die Beteiligungsmöglichkeiten der vorhandenen Mitglieder verbessern. Alle Parteien in der Bundesrepublik haben entsprechende Organisationsreformen eingeleitet13, die aber nur ein Anfang sein können und sich in der Praxis erst bewähren müssen. Wichtig ist, dass die Verfahren in den Satzungen rechtlich verankert sind. Werden sie auf ad hoc-Basis im Schnellschuss verabredet, könnten die Effektivität und Wirksamkeit der Entscheidungen Schaden nehmen.14 Notwendig sind Partizipationsangebote von unterschiedlicher Intensität und Dauer jenseits der formalen Mitgliedschaft, die die Schwelle für eine Mitarbeit herabsetzen. Dies müsste einerseits mit einer Stärkung der lokalen Gliederungen einhergehen, die der wichtigste Adressat für mehr Bürgernähe der Politik bleiben – gerade hier wird es heute durch den fehlenden Nachwuchs immer schwieriger, genügend Kandidaten für die Stadt- und Gemeinderäte zu rekrutieren. Andererseits sollte man die langwierigen Prozesse programmatischer Mitarbeit entschlacken, indem man die Programmentwicklung stärker in die Hand inhaltlicher Arbeitsgruppen legt (deren Stimmgewicht auf den Parteitagen erhöht werden könnte). Änderungsbedarf ergibt sich nicht zuletzt durch die Digitalisierung. Dies betrifft die neuen Formen der öffentlichen wie internen Kommunikation und Wahlkampfführung, aber auch den Organisationsaufbau im klassischen Sinne. Die Regelungen des Parteiengesetzes, die sich am Top-Down-Modell demokratischer Legitimierung und am Territorialprinzip ausrichten, gehen an den neuen Organisationsformen, die durch das Netz ermöglicht werden, heute noch vollkommen vorbei. Um z. B. die von der SPD geplanten „digitalen Ortsvereine“ einführen und mit Leben erfüllen zu können, müssten sie für die dazu erforderlichen Satzungsänderungen geöffnet werden. Dringend notwendig wäre eine Belebung des Parlamentarismus. Der Bundestag und die 16 Landtage sind selbst mit daran schuld, dass sie als Forum öffentlicher Debatten an Bedeutung erheblich eingebüßt haben. Um diese Bedeutung zurückzugewinnen, müssten sie in ihrer Kontroll- und Öffentlichkeitsfunktion gestärkt werden. So könnten z. B. regelmäßige Befragungen des Regierungschefs und der Minister die heutige Unterrichtung des Parlaments durch die Regierungen ersetzen. Auch die Ausschusssitzungen sollten häufiger öffentlich stattfinden (Prinzip der „Regelöffentlichkeit“). Eine Stärkung der parlamentarischen Demokratie wird jedoch nicht allein durch institu-

13 Vgl. Frank Decker, Parteiendemokratie im Wandel, 2. Aufl., Baden-Baden 2018, S. 271 ff. 14 Ein Beispiel ist das in vielerlei Hinsicht „suboptimale“ Verfahren zur Bestimmung eines neuen Vorsitzenden-Gespanns bei der SPD nach dem plötzlichen Rücktritt von Andrea Nahles. Recht und Politik, Beiheft 4

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tionelle Reformen gelingen. Sie setzt vor allem voraus, dass begründete politische Alternativen wieder stärker herausgearbeitet und sichtbar gemacht werden. Im Bereich der Wahlen gibt es Reformbedarfe bei der Wahlberechtigung, beim Wahlsystem, den Formen der Stimmabgabe und den Wahlterminen. – Bei der Wahlberechtigung wäre die Einführung eines kommunalen Wahlrechts für Nichtdeutsche und die Absenkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre zu erwägen. Kurzfristig würden beide Maßnahmen zwar auf die Gesamtwahlbeteiligung drücken, weil beide Gruppen eine unterdurchschnittliche Wahlneigung aufweisen. Mittel- und langfristig könnte sich dagegen die Absenkung des Wahlalters positiv auswirken, wenn die Erstwahl einen Kohorteneffekt erzeugt, der durch das weitere Leben des Wahlbürgers/der Wahlbürgerin „durchträgt“. Die Absenkung des Wahlalters hätte den Vorteil, dass die Vorbereitung auf den staatsbürgerlichen „Ernstfall“ in den Schulen lebens- und praxisnäher gestaltet werden könnte.15 – Wenig Belege gibt es dafür, dass sich durch Veränderungen im Wahlsystem zusätzliche Beteiligungsanreize vermitteln ließen. Die von Demokratielobbyisten gelegentlich geäußerte These, die Fünfprozent-Sperrklausel oder fehlende Möglichkeiten der Personenwahl schreckten die Bürger von der Teilnahme ab, ist reines Wunschdenken. Gutgemeinte Demokratisierungsvorschläge wie Kumulieren und Panaschieren, die Einführung einer Ersatzstimme oder die Ermöglichung einer Stimmenthaltung könnten hier sogar kontraproduktiv wirken, indem sie das Wahlsystem verkomplizieren. Auch das bestehende Zweistimmensystem wird von einem erheblichen Teil der Wähler nicht verstanden. Sinnvoller wäre eine Rückkehr zum System mit nur einer Stimme, die gleichzeitig als Wahlkreis- und Parteienstimme gewertet wird.16 – Mit Blick auf die wachsende soziale Kluft der Wahlbeteiligung ist von Wissenschaftlern (aber noch nicht von Politikern), die der Sozialdemokratie nahestehen, in den letzten Jahren vermehrt die Einführung einer Wahlpflicht ins Spiel gebracht worden.17 Die „bürgerlichen“ Parteien, die von der geringeren Wahlbeteiligung der unteren Schichten profitieren, dürften dazu allerdings wohl kaum ihre Hand reichen. Auch die Bevölkerung lehnt die Maßnahme zu 60 Prozent ab.18 Die – international wenig verbreitete – Wahlpflicht wäre in der Bundesrepublik zudem ein verfassungsrechtlicher und -politischer „Fremdkörper“. Ob sie sich mit dem Grundsatz der freien Wahl in Einklang bringen ließe, ist zweifelhaft. 15 Vgl. Robert Vehrkamp / Niklas Im Winkel / Laura Konzelmann, Wählen ab 16. Ein Beitrag zur nachhaltigen Steigerung der Wahlbeteiligung, Gütersloh 2015. 16 Vgl. Frank Decker, Reformen der Stimmgebung. Rückkehr zum Einstimmensystem von 1949 und Einführung einer Ersatzstimme, in: Joachim Behnke u. a., Reform des Bundestagswahlsystems, Gütersloh 2017, S. 97 – 136. 17 Vgl. Thorsten Faas, Wahlpflicht – warum eigentlich nicht?, in: Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 62 (2015) H. 10, S. 17 – 19. 18 Vgl. Frank Decker u. a., Vertrauen in Demokratie. Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik?, Bonn 2019, S. 51 f. 124

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Bürgerbeteiligung in der parlamentarischen Parteiendemokratie

– Vielversprechender erscheinen Überlegungen, die bei der Technik des Wählens ansetzen, das heißt den Orten und Zeitpunkten der Stimmabgabe. Hier könnte man nahtlos an die bestehenden Formen anknüpfen, indem man z. B. die Öffnungszeiten der Wahllokale und / oder die Fristen der Briefwahl ausweitet.19 Keine grundsätzlichen Bedenken bestehen gegen die Einführung einer universellen Briefwahl. Diese sollte sich – in einem ersten Schritt – auf Volksabstimmungen (wenn diese nicht zeitgleich mit einer regulären Wahl stattfinden) und die „Nebenwahlen“ auf kommunaler, Landes- und Europaebene erstrecken, wo sie nach den vorliegenden ausländischen Befunden ihre größten Effekte erzielt. Die Einführung von Wahlwochen bzw. das „Wählen im Supermarkt“ empfiehlt sich nicht, da der finanzielle und administrative Mehraufwand in keiner vernünftigen Relation zu den wahrscheinlich nur minimalen Zuwächsen bei der Wahlbeteiligung steht. Darüber hinaus entwerten die unkonventionellen Orte den Wahlakt in seiner staatsbürgerschaftlichen „Sakralität“, die neben einem würdigen Rahmen auch eine gewisse Bringschuld des Wählers verlangt. – Für die Stimmabgabe über das Internet, die eine moderne Form der Briefwahl darstellt, ist die Zeit heute noch nicht reif. Gegen Onlinewahlen sprechen nicht nur die nach wie vor bestehenden technischen Sicherheitsmängel, sondern auch die digitale Spaltung der Gesellschaft, die sich vor allem in der geringeren bis nicht vorhandenen Netzaffinität der älteren Wählergruppen ausdrückt. Beide Probleme könnten in etwa zehn bis zwanzig Jahren überwunden sein. Bis dahin würde es sich auch in der Bundesrepublik anbieten, die elektronische Form auf der kommunalen und regionalen Ebene zu erproben, um in diesem Bereich international nicht den Anschluss zu verlieren. – Eine weitere Möglichkeit, der rückläufigen Wahlbeteiligung institutionell entgegenzuwirken, bestünde in der Zusammenlegung von Wahlen. Dies könnte zum einen durch Veränderungen im Regierungs- und Wahlsystem erreicht werden, indem man z. B. die Wahlperioden von Bürgermeistern und Räten synchronisiert oder anstelle einer Stichwahl ein Präferenzstimmensystem einführt. Damit ließen sich gleich zwei Urnengänge einsparen. Zum anderen könnten Wahlen auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig stattfinden. Dabei muss aber beachtet werden, dass nicht alle Wahlen zusammenlegungsfähig sind. So ist es z. B. unter Föderalismusgesichtspunkten wenig zweckmäßig, die ohnehin stark von der Bundespolitik überlagerten Landtagswahlen zeitgleich mit einer Bundestagswahl anzusetzen. Auch die Abhaltung von Volksentscheiden an Wahlterminen erscheint aus demokratiepolitischer Sicht prekär, wenn sie dazu beiträgt, Beteiligungs- oder Zustimmungsquoren künstlich auszuhebeln.

19 Vgl. Frank Decker / Anne Küppers, Formen der Stimmabgabe: Höhere Beteiligungsraten durch bequemeres Wählen?, in: Tobias Mörschel (Hg.), Wahlen und Demokratie, Baden-Baden 2016, S. 141 – 163. Recht und Politik, Beiheft 4

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IV. Mehr Demokratie durch mehr direkte Demokratie? Die demokratiepolitische Debatte fokussiert sich in der Bundesrepublik sehr stark auf die direktdemokratischen Verfahren. Das hat mehrere Gründe: Erstens sind diese Verfahren heute auf der Landes- und kommunalen Ebene flächendeckend eingerichtet. Zweitens erfreuen sie sich die bei den Bürgern einer großen Wertschätzung und werden laut Umfragen von einer deutlichen Mehrheit befürwortet.20 Dass die Verfahren dort, wo sie bereits existieren, häufig nur von einer Minderheit genutzt werden, steht dem nicht entgegen. Der Umstand lässt sich relativ leicht erklären, wenn man sie auf der einen Seite mit den nicht-verfassten Formen der politischen Partizipation und auf der anderen Seite mit Wahlen und Parteien vergleicht. Gegenüber den nicht-verfassten Partizipationsformen haben die direktdemokratischen Verfahren aus der Sicht der Bürger den Vorzug, dass mit ihnen nicht nur Einfluss auf politische Entscheidungen genommen werden kann, sondern sie selbst diese Entscheidungen unmittelbar und verbindlich herbeiführen. Darüber hinaus handelt es sich wie bei den Wahlen um ein niedrigschwelliges, einfach zu nutzendes Instrument. Im Vergleich zu Wahlen und Parteien rührt die Wertschätzung der direkten Demokratie daher, dass sie die repräsentativen Institutionen als Entscheidungsorgane umgeht. Das Attribut „direkt“ soll dabei zugleich suggerieren, dass es sich um eine höherwertige, ja die eigentliche Form der Demokratie handelt. Die letztgenannte Annahme ist falsch und in ihrer Konsequenz gefährlich, erweckt sie doch den Eindruck, dass die direkte der repräsentativen Demokratie überlegen sei, indem sie zu einer besseren Entscheidungsqualität (Output-Legitimation) und zu einem höheren Maß der Interessenberücksichtigung (Input-Legitimation) beitrage. Dies lässt sich aber weder normativ begründen, noch gibt es dafür – aus der Praxis der direkten Demokratie hierzulande – belastbare empirische Belege. Direkte Demokratie ist nur dort sinnvoll, wo sie sich mit der Funktionslogik des vorhandenen Regierungssystems verträgt und dessen Repräsentationsbasis verbreitert. Diese Verträglichkeit steht freilich gerade bei den in der deutschen Verfassungsgebung dominierenden, „von unten“ ausgelösten Verfahren in Frage.21 Der Primat der parlamentarischen Repräsentation (im Sinne einer bloß „ergänzenden“ Funktion der Plebiszite) kann bei diesen Verfahren nur gesichert werden, wenn deren Inanspruchnahme durch thematische Ausschlussgegenstände, hohe Quoren, sonstige Verfahrensvorschriften und die parlamentarische Konterlegislatur (also die nachträgliche Aufhebung oder Korrektur von Volksbeschlüssen) so stark eingeschränkt wird, dass die direkte Demokratie in der Praxis kaum zum Tragen kommt. Wie die Erfahrungen in Ländern und Kommunen zeigen, ist damit ein Dauerstreit um die Öffnung oder Schließung der Verfahren programmiert, der der Idee der Beständigkeit der Verfassung widerspricht und die Beschäftigung mit der direkten Demokratie zum politischen Selbstzweck macht. 20 Vgl. Frank Decker u. a. (Anm. 18), S. 51 ff. 21 Vgl. Frank Decker, Der Irrweg der Volksgesetzgebung. Eine Streitschrift, Bonn 2016. 126

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Bürgerbeteiligung in der parlamentarischen Parteiendemokratie

Dies soll kein Plädoyer dafür sein, die bestehenden Volksrechte abzuschaffen oder zurückzuschneiden; auf der kommunalen und Länderebene, wo es die Verfahren bereits gibt, wird den Verfassungsgebern keine andere Wahl bleiben, als bei deren Ausgestaltung mit den beschriebenen Problemen so gut es geht zurechtzukommen. Am sinnvollsten erscheint dabei eine institutionelle Verknüpfung mit den deliberativen Formen der Bürgerbeteiligung. Denn bewähren sich diese in ihrer Konsensorientierung, sinkt auch die Wahrscheinlichkeit, dass es zur Einleitung eines Bürger- oder Volksbegehrens gegen bereits beschlossene oder geplante Vorhaben kommt. Insofern wäre es falsch, direktdemokratische und deliberative Verfahren gegeneinander oder beide zusammen gegen die repräsentativen Demokratie in Stellung zu bringen. Stattdessen sollte man darüber nachdenken, wie sie als parallel existierende Stränge der Input-Legitimation miteinander verknüpft und in eine tragfähige Balance gebracht werden können. Länder und Kommunen gewinnen dabei aufgrund ihrer Betroffenennähe und ihres Aufgabenprofils eine Schlüsselfunktion, die zugleich als Vorbild für demokratische Innovationen auf der Bundes- und transnationalen Ebene dienen könnte. Auf der Bundesebene stellt sich die Lage anders dar. Hier wird man einer Ergänzung des Grundgesetzes um förmliche plebiszitäre Elemente erst näher kommen, wenn man sich von der Fixierung auf die Volksgesetzgebung befreit, deren Einführung nicht nur mit Blick auf die parlamentarische Regierungsform, sondern auch mit Blick auf die föderative Mitregierung nahezu unlösbare Probleme birgt.22 Nur so kann der Weg für systemverträglichere Alternativen frei werden, zu denen einerseits das obligatorische oder – von Regierung bzw. Parlament auszulösende – einfache Referendum gehören (deren Einführung allerdings wohl überlegt sein sollte), und andererseits die unverbindliche und insofern für den Gesetz- und Verfassungsgeber weniger risikoreiche Agenda-Initiative, mit der die Bürger das Parlament auffordern könnten, sich mit einer bestimmten Angelegenheit zu befassen.

V. Schlussbemerkung Wirklich vorangekommen ist man mit den demokratiepolitischen Vorhaben seit der Bundestagswahl 2017 nicht. Nachdem die bereits sehr zurückhaltend formulierte Passage im Sondierungspapier der Jamaika-Parteien, wonach man „die parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkten Demokratie ergänzen“ wolle – erweitert um den Zusatz, die „Rechte von Minderheiten und Grundrechte stehen dabei nicht zur Disposition“ – von der CDU streitig gestellt worden war, hatte sich die – nach dem Scheitern von Jamaika – neu aufgelegte Große Koalition in ihrem Koalitionsvertrag immerhin darauf verständigt, Vorschläge für eine plebiszitäre Ergänzung des Grundgesetzes von einer Expertenkommission erarbeiten zu lassen. Wie wenig Bedeutung die Koalitionäre dem 22 Zu letzterem vgl. Denise Estel, Bundesstaatsprinzip und direkte Demokratie im Grundgesetz, Baden-Baden 2006. Recht und Politik, Beiheft 4

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Thema tatsächlich beimaßen, lässt sich allerdings daran ablesen, dass die Kommission zur Halbzeit der Legislaturperiode (Oktober 2019) immer noch nicht eingerichtet war. Diese Nachlässigkeit könnte sich rächen23, wenn man bedenkt, dass gerade beim jetzt mit Macht auf die Agenda drängenden Klimaschutzthema eine demokratiepolitische Begleitung eigentlich das Gebot der Stunde sein müsste. Denn nahezu alle Aspekte, die eine bessere Repräsentation und Übersetzung demokratischer Zustimmungserfordernisse verlangen, kommen hier zusammen: die Gegenwartsfixierung der Politik, die Dominanz erwerbsbezogener Interessen, die soziale Frage und die Notwendigkeit großer Infrastrukturvorhaben. Das von Kritikern als zu halbherzig bezeichnete Klimaschutzpaket der Bundesregierung wäre wahrscheinlich mutiger ausgefallen, wenn man die politischen Institutionen für die Jahrhundertaufgabe rechtzeitig gerüstet hätte. So müssen jetzt beide Reformprozesse gleichzeitig angegangen werden.

23 Vgl. Fedor Ruhose / Hans-Jörg Schmedes, Expertenkommission oder Demokratie-Enquete? Anmerkungen zum Stand der Demokratiepolitik auf Bundesebene, in: Thomas Hartmann / Jochen Dahm / Frank Decker (Hg.), Die Zukunft der Demokratie, Bonn 2019, S. 219 – 231. 128

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Ausländerwahlrecht, Losverfahren und Demokratieprinzip – zwei Vorschläge für Art. 20 GG Von Robert Chr. van Ooyen Zwei aktuelle Herausforderungen der Legitimation demokratischer Gesellschaften sind: 1. das Auseinanderfallen von Wahlberechtigten und Herrschaftsunterworfenen angesichts steigender Zuwanderung und 2. die Krise der Repräsentation angesichts des zunehmenden Populismus. Im Folgenden werden Vorschläge gemacht, um die Legitimation durch Partizipation zu erhöhen durch: die Einführung des allgemeinen „Ausländerwahlrechts“, das aus Sicht einer liberalen, normativen Staatstheorie ohnehin ein Menschenrecht ist; die ergänzende Einführung des Losverfahrens, das ein (vergessenes) urdemokratisches Instrument ist und zugleich gegenüber den „Ja/Nein-Entscheidungen“ und punktuellen politischen Mobilisierungen bei Wahlen auf die dauerhafte demokratische Zivilisierung zielt. Beides ist mit dem Demokratieprinzip nicht nur vereinbar, sondern würde ihm nach 70 Jahren Grundgesetz besser gerecht.

I. „Ausländerwahlrecht“ und Demokratieprinzip Die historischen Kämpfe um das Wahlrecht zeigen, dass erhebliche Diskrepanzen zwischen der Zahl der Wahlberechtigten und der der Herrschaftsunterworfenen in demokratischen Gesellschaften auf Dauer rechtspolitisch nicht durchzuhalten sind. Ob Beschränkung auf steuerzahlende Besitzbürger oder Diskriminierung wegen des Geschlechts – selbst in den ostschweizerischen Kantonen des Appenzeller Lands setzte sich 1989/90 das Frauenwahlrecht durch, obwohl bei den Abstimmungen nur das männliche Stimmvolk berechtigt war. Auch eine aktuelle – schließlich gescheiterte – Volksbefragung von 2015 in Luxemburg zur Einführung eines allgemeinen Ausländerwahlrechts bei nationalen Parlamentswahlen folgte dieser, für eine Demokratie paradoxen, weil „undemokratischen“ Verfahrensweise. Denn bei einem „Ausländeranteil“ von fast 50 % entschied nur das „halbe“, nämlich stimmberechtigte Staatsbürger-Volk darüber, wer stimmberechtigt ist, also zum Volk gehört.1 Das macht aus demokratischer 1

Vgl. van Ooyen, Kein Ausländerwahlrecht, RuP 3/2015, S. 129 ff.; Demokratische Partizipation statt „Integration“, ZPol 2/2003, S. 601 ff.; Ausländerwahlrecht, 2. Aufl., 2018; auch zu den frühen Diskussionen m.w.N.: Hanschmann, Der verfassungs-, europa- und völkerrechtliche

Recht und Politik, Beiheft 4 (2020), 129 – 142

Duncker & Humblot, Berlin

Robert Chr. van Ooyen

Sicht so viel Sinn, wie seinerzeit in der Schweiz nur Männer über das Frauenwahlrecht entscheiden zu lassen. Dieses Demokratiedefizit lässt sich aber auflösen, wenn man sich vom tradierten Begriff des „Volks“ verabschiedet und das Wahlrecht nicht als Bürger-, sondern Menschenrecht begreift.2 Dann erweist sich auch der in Deutschland nicht zuletzt wegen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verfolgte Weg als „unsinnig“, das Legitimationsdefizit über den Umweg einer Reform des Staatsbürgerschaftsrechts im Sinne einer „Integration“ von „Ausländern“ in das „Volk“ zu schließen. 1. „Integration“ von Ausländern – Volk als geschlossene „Gemeinschaft“? Gegner eines allgemeinen Ausländerwahlrechts kritisieren, dass man nicht „Diener zweier Herren“ sein könne, Loyalitäts- und Identitätskonflikte seien vorprogrammiert, vor allem aber würde dieses zentrale Bürgerrecht ohne die Gegenleistung der Integration, ohne die Garantie dauerhafter Zuwendung einfach verschenkt. Das dabei geführte Verständnis von „Staatsvolk“ postuliert im Akzent der Silbe „-volk“ die Existenz einer vorgegebenen politischen Einheit als Gemeinschaft und – anders als in den USA, wo der Begriff „people“ immer Vielheit transportiert – als identitären Körper aus einem Guss, beseelt mit einem kollektiven, unteilbaren und homogenen Volkswillen.3 Selbst wenn man nicht die Konstituierung von politischer Einheit i. S. Carl Schmitts unterstellt, bleibt man hier aber eine Antwort schuldig, wodurch denn gerade das „Volk“ konstituiert wird. Was begründet substanzielle Gleichheit, die die einen gleich – im Sinne von zum Volk zugehörig – , die anderen jedoch ungleich macht und ausschließt? Zu Recht wird festgestellt, dass es angesichts der Bevölkerungsvielfalt kaum möglich sein wird „Niveau und Intensität der ›Homogenität’ (des Volkes, RvO) so zu bestimmen, dass der Begriff nicht zur rhetorischen Floskel oder zum Gefäß einer Staatsideologie oder zum metarechtlichen Maßstab für Ein- und Ausgrenzungen degradiert wird“.4 Und insoweit ist auch die von Gegnern wie Befürwortern seit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts (2000 bzw. 2014) immer wieder bemühte Argumentation der „Integration“ von „Ausländern“, unsinnig. Denn der Begriff der Integration setzt in diesem Verständnis

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Rahmen der Einführung des kommunalen Wahlrechts für Drittstaatsangehörige insbesondere durch den Landesgesetzgeber, Stellungnahme Landtag NRW, 2013, S. 4 (https://www. landtag.nrw.de/Dokumentenservice/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/ MMST16 - 1225.pdf;jsessionid=4C91EF6 A397F695 A98FA0 A5E0679 A7AD); Wallrabenstein, Ausweitung des Kommunalwahlrechts auf Drittstaatsangehörige im Freistaat Sachsen, Gutachten, 2017 (https://www.gruene-fraktion-sachsen.de/fileadmin/user_upload/ua/2017 11 - 03_Auslwahlrecht_Gutachten_endfassung.pdf). Ein aktives Ausländerwahlrecht zum Nationalparlament gibt es in Neuseeland für permanent residents ab einjährigem Aufenthalt; vgl. Waldrauch, Wahlrechte ausländischer Staatsangehöriger in europäischen und klassischen Einwanderungsstaaten, 2003 (www.demokratiezentrum. org/fileadmin/media/pdf/waldrauch_wahlrechte.pdf). Vgl. schon Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887. Grawert: Deutsche und Ausländer, in: Badura/Dreier (Hg.), FS 50 Jahre BVerfG, Bd. 1, 2001, S. 329. Recht und Politik, Beiheft 4

Ausländerwahlrecht, Losverfahren und Demokratieprinzip

den der politischen Einheit schon als gegeben voraus. „Integration“ ist daher nicht nur ein untaugliches Mittel zur Bekämpfung von Ausländerfeindlichkeit – sie ist vielmehr als Mittel der Konstitution von Gemeinschaft geradezu Ausdruck ihrer Ursache. Denn typisch hierfür ist die Konzeption einer geschlossenen Gesellschaft, die sich gegenüber dem Fremden, dem Anderen schließt. Dabei ist der Grund, der die vermeintliche Homogenität politisch konstituiert, im Ergebnis unerheblich – ob links als „Klassengemeinschaft“ im „Klassenkampf“, rechts als „Volksgemeinschaft“ im „Daseinskampf“ oder als „Kulturgemeinschaft“ im „Clash of Civilizations“.5 In der deutschen politischen Kultur ist die Versuchung der antipluralistischen Gemeinschaft oft erheblich stärker gewesen als ihr liberaler Gegenentwurf der offenen Gesellschaft6 – und vielleicht auch einer der Gründe dafür, dass mit jeglicher Form von Sozialismus so radikal experimentiert worden ist.7 Selbst in der Bundesrepublik ist sprachlich verräterisch noch vom Mitbürger (oder auch vom Mitarbeiter, Mitbewohner in der Hausgemeinschaft, vom Mitstudierenden, usw.) die Rede; als ob „Bürger“ einfach nicht ausreichte. In der Staatstheorie ist der Begriff der Integration mit Rudolf Smend verbunden, dessen bis heute wirkmächtige Integrationslehre8 sich in antiliberaler und antipluralistischer Weise gegen die Weimarer Republik positionierte – und offen die faschistische Gemeinschaftsbildung in Mussolinis Italien bewunderte.9 „Integration“ ist – bewusst oder unbewusst – selbst immer schon Ausdruck einer fremdenfeindlichen Haltung, da sie die Differenz des Fremden nicht zulassen kann, sondern vielmehr durch Integration aus ihm das Identische, das vermeintlich Homogene machen und das „Fremde“ austreiben will. Wer „integrieren“ will, hat den Fremden daher längst definiert und ausgeschlossen. Und er bestätigt sogar die Fremdenfeindlichkeit der Rechtspopulisten, indem er ihnen gegenüber eingesteht, dass dieser als „Fremder“ nicht zu ertragen sei, sondern eben integriert werden müsse. In der Praxis zeigt sich das u. a. daran, dass Ausländerfeindlichkeit dort hoch ist, wo es kaum „Ausländer“ gibt. Es zeigt sich weiter daran, dass man glaubt, Integrationspolitik ohne Partizipation machen zu können. So waren z. B. Migrationsbeauftragte und Integrationsminister lange Jahre in der Regel „native“ Deutsche. Auch in der 2001 von der rotgrünen Bundesregierung eingesetzten Zuwanderungskommission war mit Verbandsfunktionären, Fachleuten usw. so ziemlich alles vertreten – nur eben kein Migrant10. 5 6 7 8

Huntington, The Clash of Civilizations?, Foreign Affairs 3/1993, S. 22 ff. Vgl. Popper, The Open Society and Its Enemies, 1945. Vgl. schon von Hayek, The Road to Serfdom, London 1944. Vgl. Günther, Denken vom Staat her, München 2004; van Ooyen, Integration, 2015; van Ooyen, „Integration“ in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Pickel u. a. (Hg.), HB Integration, 2020 (i.E.). 9 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 1955, S. 141. 10 Vgl. Bericht der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung“, 2001. In letzter Minute realisierte man diese Peinlichkeit und nominierte – polemisch formuliert – mit einem bekannten Reiseunternehmer noch den „Alibi-Türken“. Recht und Politik, Beiheft 4

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Und es zeigt sich schließlich am sog. „Integrationsparadox“, wonach in einer offenen Gesellschaft die Zunahme von Migrationskonflikten nicht Zeichen einer fehlgeschlagenen „Integration“, sondern vielmehr genau umkehrt ihres Gelingens ist.11 Daher: Es gibt nichts zu „integrieren“ – weder Juden, Ausländer, Moslems oder Behinderte – in diesem Sinne noch nicht einmal die Deutschen zu Europäern. 2. Demokratie ist nicht nationale Gleichheit, sondern gleiche politische Freiheit Bleibt zu fragen, welches gemeinsame Band die Individuen in ihrer Vielheit von politischen, wirtschaftlichen, religiösen, kulturellen usw. Interessen und Meinungen dann überhaupt verbindet. Die USA fanden gegenüber den englischen Kolonialherren den kleinsten gemeinsamen Nenner im Motto „no taxation without representation“ der „Boston Tea Party“. Dieses Kriterium taugt freilich heute kaum, wären doch die politischen Rechte – wie es im 19. Jahrhundert auch üblich war – dem Steuer zahlenden Besitzbürger vorbehalten. Zur Bestimmung des Staatsvolks ist vielmehr auf Hans Kelsen zu rekurrieren, (sozial‐)demokratischer Verfassungsrechtler und Begründer der Wiener Schule, der mit seinen Arbeiten in den 20er Jahren bis heute viel zur Entzauberung des Staatsbegriffs beigetragen hat. Kelsen hatte – seinerzeit in der Staatslehre keineswegs selbstverständlich – den Pluralismus eben nicht als Gefahr der Auflösung einer vermeintlich existierenden politischen Einheit „Volk“, sondern in diesem gerade das konstitutive Element der Demokratie gesehen: „Eben darum muß man sich von der üblichen Vorstellung emanzipieren, derzufolge das Staatsvolk ein räumliches Zusammensein, ein seelisch-körperliches Konglomerat und als solches eine unabhängig von aller Rechtsordnung existente Einheit einer Vielheit von Menschen ist“.12

Wenn sich überhaupt das Staatsvolk als Einheit begreifen lasse, dann nur als die „…Einheit der das Verhalten der normunterworfenen Menschen regelnden staatlichen Rechtsordnung (…). Als solche Einheit ist das ›Volk’ gar nicht – wie die naive Vorstellung vermeint – ein Inbegriff, ein Konglomerat gleichsam von Menschen, sondern nur ein System von einzelmenschlichen Akten, die durch die staatliche Rechtsordnung bestimmt sind“13.

So ist „die Einheit des Volkes nur durch die Einheit der Rechtsordnung begründet“.14 Das die „Einheit“ in der gesellschaftlichen Vielheit menschlicher Handlungen begründende gemeinsame Band ist also das Gesetz, d. h. als Fundamentalnorm die Verfassung. „Staat“, „Staatsangehörigkeit“ und „Staatsvolk“ sind nichts Naturgegebenes oder, wie in organischen Staatslehren immer noch vertreten wird, „Gewachsenes“ – in das man dann als Ausländer „hineinwachsen“ müsste – sondern nur etwas normativ Gesolltes. Das ist nicht neu, sondern nur unser uraltes europäisches Erbe: Vor rund 2.000 Jahren hieß es schon in Ciceros „Republik“: 11 12 13 14 132

Vgl. El-Mafaalani, Das Integrationsparadox, 3. Aufl., 2018. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Neudruck, 1993, S. 150. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., 2. Neudr., 1981, S. 15. Kelsen, Staatslehre (Fn. 12), S. 149. Recht und Politik, Beiheft 4

Ausländerwahlrecht, Losverfahren und Demokratieprinzip „Was ist denn die Bürgerschaft, wenn nicht die Rechtsgemeinschaft der Bürger?“15

Noch der deutsche Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant definierte daher den „Staat (civitas)“ als „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“.16 Der politische Status des Bürgers in der Gesellschaft wird folglich durch die „Normunterwerfung“ konstituiert: Muss man dauerhaft die Gesetze eines Gemeinwesens befolgen, dann ist man nach dieser normativen Staatstheorie natürlich auch Bürger/in, also „Inländer“. Das gilt selbst für den Neonazi, der sich nicht integrieren will und dem man – würde man das Integrationsmodell nur konsequent zum Maßstab machen – die Staatsbürgerschaft aberkennen müsste. Sogar gleichzeitig verschiedenen Rechtsordnungen dauerhaft unterworfen und „Bürger/in“ mehrerer Gemeinwesen zu sein, ist schon heute für jeden Realität – z. B. als Berliner/in der Kommunal- und Landesverfassung, als „Deutsche(r)“ dem Grundgesetz, als „Unionsbürger/in“ dem EU-Recht, schließlich bisweilen sogar unmittelbar als Rechtssubjekt dem Völkerrecht. Hier ist jedes Mal politisch ein „Volk“ entstanden. Daher führt auch die vom Bundesverfassungsgericht seit „Maastricht“ bemühte Frage nach der Existenz eines „echten“ europäischen Staatsvolks in die Irre. Soweit man an einer „Gemeinschaftsdiktion“ festhalten möchte, ließe sich also formulieren: Bürgerschaft entsteht durch und ist Rechtsgenossenschaft. Und soll dieses Land nicht autokratisch, sondern demokratisch regiert sein, folgt hieraus – in Anlehnung an eine altmodische Formulierung von Aristoteles – die gemeinsame Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an der Verfassung,17 also in modernen Massendemokratien: das Wahlrecht. Wahlrecht bzw. Demokratie sind daher nicht wie häufig missverstanden Ausdruck einer national gedachten substanziellen Gleichheit des Volkes, schon gar nicht im ethno-kulturellen Sinne. Das Wahlrecht ist vielmehr Ausdruck der politischen Freiheit: Gleich sind die Bürger/innen nur in ihrer Freiheit, nämlich in ihrem gleichen Recht, unter der von ihnen ausgehandelten guten Ordnung (= Verfassung), also unter selbst bestimmten Gesetzen frei zu leben. Insofern muss hier auch nichts mehr „integriert“ noch irgendeine Loyalitätsbekundung erbracht werden. 3. Wahlrecht ist Menschenrecht – die Offenheit des Grundgesetzes So betrachtet ist das Wahlrecht ein Menschenrecht. Es erwächst aus dem Recht des Individuums, nicht unter Fremdgesetzgebung als bloßes Objekt von Herrschaft zu leben, sondern als Subjekt diese mitzubestimmen. Das Wahlrecht ist daher genuiner Ausdruck des Autonomiegedankens, um den überhaupt das gesamte Verständnis der Menschenrechte seit der Aufklärung und damit auch das der Menschenwürde des Grundgesetzes rotiert. Wem das auf den ersten Blick komisch erscheint, werfe einen Blick auf Art. 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948:

15 Cicero, De Re Pubilca, S. 66 (Artemis & Winkler). 16 Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 169 (Reclam). 17 Aristoteles, Politik, S. 155 (1275a) (Reclam). Recht und Politik, Beiheft 4

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Robert Chr. van Ooyen „Everyone has the right to take part in the government of his country, directly or through freely chosen representatives“18.

Obwohl das Bundesverfassungsgericht auf den Autonomiegedanken der Objektformel Kants zur Beschreibung der Menschenwürde gerne zurückgreift,19 konnte es sich 1990 in seinen Urteilen zur Frage der Einführung eines kommunalen Ausländerwahlrechts in Schleswig-Holstein und Hamburg20 zu dieser Auffassung eines Menschenrechts auf Demokratie allerdings nicht durchringen:21 „Es trifft nicht zu, daß wegen der erheblichen Zunahme des Anteils der Ausländer an der Gesamtbevölkerung des Bundesgebietes der verfassungsrechtliche Begriff des Volkes einen Bedeutungswandel erfahren habe. Hinter dieser Auffassung steht ersichtlich die Vorstellung, es entspreche der demokratischen Idee, insbesondere dem in ihr enthaltenen Freiheitsgedanken, eine Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft Unterworfenen herzustellen. Das ist im Ausgangspunkt zutreffend, kann jedoch nicht zu einer Auflösung des Junktims zwischen der Eigenschaft als Deutscher und der Zugehörigkeit zum Staatsvolk als dem Inhaber der Staatsgewalt führen. Ein solcher Weg ist durch das Grundgesetz versperrt“.22

Bezug nehmend auf Art. 20 II Satz 1 GG („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“) und Art. 116 GG („Deutscher im Sinne des Grundgesetzes“) betrachtete das Gericht die Einführung eines kommunalen Ausländerwahlrechts durch bloßes Landesgesetz als verfassungswidrig. Verfassungsrechtlich wäre es jedoch auch schon damals ohne weiteres möglich gewesen, das Wahlrecht als Jedermann-Recht zu begreifen und damit von der Staatsbürgerschaft abzulösen, zumindest für diejenigen, die ein längerfristiges Aufenthaltsrecht besitzen. Denn in Art. 20 GG ist ja nur von „Volk“, vom „deutschen Volk“ aber – und schon gar im Sinne der Staatsangehörigen – überhaupt nicht die Rede; und in den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 38 (bzw. Art. 28 I) GG bloß von „allgemein“, „frei“ bzw. „gleich“; auch die Wahlberechtigung sieht lediglich eine Altersschranke vor. Dagegen steht selbst nicht die systematische Auslegung i.V.m. der Präambel und den Art. 56, 64 sowie 146 GG, auch wenn sie alle die Formulierung „deutsches Volk“ – eben nicht aber auch eine Definition des Begriffs – enthalten. Zum „deutschen Volk“ könnten bei Bedarf ohne weiteres auch Marsmenschen gezählt werden, weil alle Artikel gar nichts darüber aussagen, wer zum „deutschen Volk“ gehört. Nicht einmal der dann herangezogene 18 Vgl. Lang, Menschenrecht auf Demokratie, VN 6/1998, S. 195 ff.; Rensmann: Karl Loewenstein, Ernst Rabel und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Der Staat 1/2007, S. 129 ff.; rechtsphilosophisch Keil: Kants Demokratieverständnis und Ausländerwalrecht heute, 2006; verfassungstheoretisch Häberle: Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl., 2011. 19 Vgl. zuletzt etwa BVerfGE 115, 118 – Luftsicherheitsgesetz. 20 Vgl. Menzel, BVerfGE 83, 37/60 – Ausländerwahlrecht, in: Ders./Müller-Terpitz (Hg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl., 2011, S. 455 ff. 21 Vgl. van Ooyen: Homogenes Staatsvolk statt europäische Bürgerschaft, in: Llanque, Souveräne Demokratie und soziale Homogenität, 2010, S. 261 ff. 22 BVerfGE 83, 37 – Ausländerwahlrecht I, Rdnr. 56 (Internetfassung). 134

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Art. 116 GG ist zwingend, weil er zwar den Begriff des „Deutschen“ bestimmt, aber auch hier keine Definition des „Volks“ im Sinne des Demokratieprinzips bezweckt, sondern einfach ein rechtlicher Staatsbürgerschaftsstatus mit Blick auf die besondere Lage der Flüchtlinge und Vertriebenen infolge der Kriegsereignisse konzipiert worden ist – und genau deshalb steht er systematisch ja „irgendwo“ in den Übergangs- und Schlussbestimmungen des Grundgesetzes. Auch als bloße „Untergrenze“ verstanden schließt er wie die anderen Artikel nicht aus, dass „Volk“ i.S. von Art. 20 GG weiter, nämlich unter Einbezug der „Ausländer“ verstanden werden kann. Sonst hätte der Verfassungsgeber in Art. 20, 28 bzw. 38 GG, mindestens bei der Regelung zur Wahlberechtigung in 38 II GG diesen Bezug selbst einmal herstellen müssen. Anderes ergibt sich eben nur, wenn man der traditionellen Auslegung folgt, die „Volk“ mit „nativen Deutschen“ bzw. traditionellen Staatsangehörigen schon identisch (und damit als vorgegebene politische Einheit voraus‐)setzt. Das mag historisch eine Berechtigung gehabt haben bzw. seinerzeit erst gar nicht als Problem erkannt worden sein, solange in der Bevölkerung beide Gruppen auch tatsächlich so gut wie deckungsgleich waren. All das spricht für die Offenheit des Grundgesetzes und die gestalterische Freiheit des einfachen Gesetzgebers hinsichtlich des Kreises der Wahlberechtigten. Das Bundesverfassungsgericht aber wollte diesen demokratietheoretischen Weg (bisher) nicht gehen23 und verwies den Gesetzgeber auf den politischen Umweg einer Reform via „Integration“ der „Ausländer“ durch Neuregelungen zum erleichterten Erwerb der Staatsangehörigkeit24. Und diesen Weg, bei dem durch einen staatlichen Akt der „Ausländer“ erst zum „Inländer“ gemacht werden muss, hat dann der Gesetzgeber in zwei Etappen – langwierig und mühsam gegen konservative politische Widerstände25 – beschreiten müssen: mit dem erleichterten Erwerb der Staatsbürgerschaft durch die Öffnung hin zum Geburtsortprinzip (2000) und der späteren grundsätzlichen Beseitigung der zunächst hieran gekoppelten sog. „Optionspflicht“ (2014). Für eine demokratische Konzeption von „Volk“, bei der das Wahlrecht im oben entwickelten Sinne ein Menschenrecht ist, ist das allerdings keine akzeptable Lösung. Alternativ bleibt bisher nur der direkte Weg der Verfassungsänderung, wie er mit der Neufassung der Art. 28 I GG im Rahmen des Maastricht-Vertrags zumindest für das kommunale und Europaparlaments-Wahlrecht der EU-Bürger/innen beschritten wurde. Offen ist dabei, ob das Verfassungsgericht angesichts seiner über Jahrzehnte vertretenen Verfassungstheorie eines harten „nationalliberalen Etatismus“26 ein Ausländerwahlrecht auch zu

23 Von Verfassungsrichtern/innen selbst auch vereinzelt kritisiert; vgl. Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, SuS 3/1994, S. 305 ff.; LübbeWolff, Homogenes Volk – Über Homogenitätspostulate und Integration, ZAR 4/2007, S. 121 ff. 24 Vgl. BVerfGE 83, 37 – Ausländerwahlrecht I, Rdnr. 56. 25 Erinnert sei nur an den hessischen Landtagswahlkampf von Roland Koch (CDU). 26 van Ooyen, „Volksdemokratie“ und nationalliberaler Etatismus, in: Ders., Bundesverfassungsgericht und politische Theorie, 2015, S. 9 ff. Recht und Politik, Beiheft 4

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nationalen Parlamentswahlen überhaupt mit dem Volksbegriff des Art. 20 GG für vereinbar halten würde. In dieser zu Beginn der 90er Jahre vorgezeichneten Spur blieb auch der Staatsgerichtshof Bremen in seiner neueren Entscheidung von 2014.27 Er kassierte beide im Gesetzentwurf auf Initiative von SPD und Grünen (mit Unterstützung der Linken) vorgesehenen Neuerungen, obwohl diese kaum avantgardistisch waren. Denn für die Landtagswahl zur Bürgerschaft sollte das Wahlrecht „bloß“ auf die Unionsbürger/innen ausgedehnt werden.28 Und nur beim Wahlrecht zu den Beiräten der Stadt Bremen – hierbei handelt es sich um kommunale Stadtteilparlamente – wären jetzt auch Angehörige aus Drittstatten berechtigt. Solche Regelungen eines kommunalen Ausländerwahlrechts finden sich inzwischen in einer Reihe von EU-Staaten, z. T. differenziert nach aktivem und passivem Wahlrecht29 sowie nach Dauer des Aufenthalts.30 Zwar enthalte, so das Gericht, die Verfassung Bremens in Art. 66 keine explizite Definition des „Volks“ und auch keine Verweise auf das „deutsche Volk“ oder die Staatsangehörigkeit, sodass sie „auf den ersten Blick einem weiter gefassten Volksbegriff zuzuneigen (scheint)“.31 Doch dann folgt die vom Bundesverfassungsgericht vertretene Auslegung, die wegen der „speziellen und strengeren Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG“ hier keinen „Regelungsspielraum“ zugunsten einer abweichenden Landesgesetzgebung gebe.32 Und das gelte ebenso für die kommunale Ebene der Beiräte, da auch diese – so schon früher das Bundesverfassungsgericht – Staatsgewalt im Sinne von Art. 20 II 1 GG ausübten.33 So kam der Staatsgerichtshof zwar zu der Einschätzung, dass „aus demokratietheoretischer Sicht alternative Modelle denkbar“ seien und zu erwägen sei, dass „die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Menschenwürde dazu verpflichtet, eine Kongruenz zwischen dem Wahlvolk und den dauerhaft von Staatsgewalt Betroffenen herzustellen“ – aber das Grundgesetz lasse dann doch durchgängig erkennen, „dass die Zugehörigkeit zum Staatsvolk an die Staatsangehörigkeit geknüpft ist“.34 Es 27 Vgl. BremStGHE vom 31. 01. 2014 – Ausweitung des Wahlrechts; Eickenjäger/Franco, Ausweitung des Wahlrechts für Migranten?, ZAR 2/2015, S. 52 ff. 28 Eine vergleichbare Regelung gibt es in EU-Staaten bisher nur bei den Wahlen zu den mit Legislativgewalt ausgestatteten Regionalparlamenten in Schottland, Wales und Nordirland. 29 So z. B. in Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Großbritannien, Irland, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Schweden und Spanien. 30 Pionier war Schweden mit einem kommunalen und regionalen (Provinziallandtage) Ausländerwahlrecht (aktiv und passiv) seit 1975 bei dreijährigem Aufenthalt; vgl. Bauer: Das kommunale Ausländerwahlrecht im europäischen Vergleich, 2008, S. 4 (http://www.fes.de/wiso/ pdf/integration/2008/160208/beitrag_bauer.pdf). 31 BremStGHE 2014 (Fn. 27), S. 10 (Internetfassung); vgl. auch die Formulierung „Gesamtheit der stimmberechtigten Bewohner“ in Art. 66 bzw. „ganzen bremischen Bevölkerung“ in Art. 83 VerfBrem. 32 Ebd., S. 11 f. 33 Ebd., S. 17 f. 34 Ebd., S. 13. 136

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gab jedoch ein Sondervotum der Richterin Sacksofsky, die darauf bestand, dass die seinerzeit umstrittene, alte Auffassung des Bundesverfassungsgerichts überholt sei; und zwar dies schon seit 1992 allein durch die Erweiterung des Volksbegriffs infolge der Neufassung des Art. 28 I GG.35 Ganz im Sinne der Argumentation normativer Staatstheorie heißt es weiter: „Ausgangspunkt des Demokratieprinzips ist der die demokratische Ordnung tragende Gedanke der Selbstbestimmung. Diejenigen, die der Staatsgewalt unterworfen sind, sollen als Gleiche und Freie mitbestimmen dürfen, wie diese Staatsgewalt ausgeübt wird. Es entspricht dem Ideal des Demokratieprinzips, möglichst alle, die von der Staatsgewalt betroffen sind, an der Konstituierung dieser Staatsgewalt zu beteiligen“.36

Schließlich wird im Sondervotum auf eine der bemerkenswertesten Stellen des Lissabon-Urteils hingewiesen, die zu dem nationalstaatlich und souveränitätsfixierten Duktus der gesamten Begründung deutlich in Kontrast steht.37 Denn beiläufig stellte das Bundesverfassungsgericht hier ausgerechnet den Zusammenhang zwischen Wahlrecht und Menschenrechten her, den es in seiner Rechtsprechung zum Wahlrecht als reinem Staatsbürgerrecht so hartnäckig zurückgewiesen hatte: „Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, ist der elementare Bestandteil des Demokratieprinzips. Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert“.38

II. Losverfahren und Demokratieprinzip 1. Ein „latenter Verfassungskonflikt“ Die deutsche „Parteiverdrossenheit“ wurzelt tief im Scheitern der liberalen 1848er „Paulskirchen-Bewegung“, den Freund-Feind-Kämpfen Bismarcks gegen das Zentrum und die SPD sowie einer bis zum Ende des Ersten Weltkriegs nie gelungenen Parlamentarisierung der konstitutionellen Monarchie. Die antidemokratischen, antipluralistischen Attitüden steigerten sich schließlich im nationalistisch-militaristischen Wilhelminismus und wurden dann zur schlimmen Hypothek der Weimarer Republik, verschärft durch eine deutschnationale, konservative Staatslehre, die politische Parteien und Parlamentarismus als „wesensfremd“ sahen. Die bundesdeutsche „Parteiverdrossenheit“ wurzelt auch in andauernden Fehlverständnissen über die Funktionsweise des parlamentarischen Regierungssystems. Nur so lässt sich das Paradox erklären, warum beim sog. Institutionenvertrauen die Bürger/innen ausgerechnet denjenigen am wenigstens vertrauen, die sie wie Parlament und Parteien immerhin durch Wahl oder Mitgliedschaft am ehesten selbst beeinflussen können und die auch permanent öf35 36 37 38

Abw. Meinung Richterin Sacksofsky, ebd., S. 21 bzw. S. 23. Ebd., S. 23 f. Vgl. van Ooyen: Die Staatstheorie des Bundesverfassungsgerichts und Europa, 7. Aufl., 2018. BVerfGE 123, 267 – Lissabon, Rdnr. 211 (Internetfassung).

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fentlich Rechenschaft ablegen müssen. Höchstes Vertrauen genießen dagegen Einrichtungen, die nicht für offene Entscheidungsprozesse und direkte demokratische Verantwortlichkeit stehen, sondern relativ weit weg vom Bürger eher autoritativ „von oben“ entscheiden: nämlich Gerichte und die Polizei (!). Fast scheint es, dass in der Demokratie die Bürger/innen sich selbst misstrauten. Und nur so lässt sich aktuell erklären, dass bei Populisten trotz zunehmender Pluralisierung der Gesellschaft vom „Volkswillen“ im Sinne eines identitären, einheitlichen „Willens“ einer „homogenen Einheit“ die Rede ist. In der Wissenschaft ist das Auseinanderklaffen von Wirklichkeit und Wahrnehmung der Arbeitsweise der parlamentarischen Demokratie schon vor Jahren als ernst zu nehmender „latenter Verfassungskonflikt“ bezeichnet worden.39 Colin Crouch diagnostizierte sogar ein Zeitalter der „Postdemokratie“40 und ein neueres Themenheft der Bundeszentrale für politische Bildung titelte mit „Repräsentation in der Krise?“.41 Das Instrument des Volksentscheids wiederum, in den 70er Jahren von „links“ als demokratisches Allheilmittel proklamiert und längst nach „rechts“ ausgewandert, bleibt gerade angesichts des Populismus heikel – auch wenn es auf regionaler Ebene in den letzten Jahrzehnten breiter und bisweilen erfolgreich eingeführt worden ist. Fehlende politische Verantwortlichkeit der Abstimmenden, Ja-Nein-Entscheidungsdichotomie, Stimmungsschwankungen bei massenmedialer Mobilisierung sind hier die berechtigten Kritikpunkte ebenso wie eine zentrale Erfahrung: Denn es gibt – siehe etwa schweizerisches Stimmverhalten – kaum etwas, das so konservativ ist wie die Bürger/innen selbst: „Referenden über komplexe Reformvorschläge bevorteilen möglicherweise immer das NeinLager. If you don’t know, say no, heißt es dann“.42

2. Das Los als urdemokratisches Verfahren der Partizipation David Van Reybrouck hat eine andere, radikaldemokratische Lösung parat, bei der es sich um die aufregendste Reformoption zur „Revitalisierung“ der Demokratie handelt. Er empfiehlt die Einführung eines Verfahrens, das wir heute fast nur noch aus dem Samstagslotto kennen, dessen „Ziehung“ intuitiv aber auch als urdemokratisch empfunden wird: Das Losverfahren. Denn, so Van Reybrouck, Wahlen seien überhaupt nicht genuin demokratisch.43 Er bündelt die verschiedenen Diskussionsstränge aus 39 Patzelt, Ein latenter Verfassungskonflikt?, PVS 4/1998, S. 725 ff.; Warum lieben die Deutschen den Bundespräsidenten und verachten ihr Parlamente?, in: van Ooyen/Möllers (Hg.): Der Bundespräsident im politischen System, 2012, S. 14 3 ff. 40 Crouch, Postdemokratie, 2008. 41 Vgl. APuZ 40 – 42/2016. 42 Van Reybrouck, Gegen Wahlen, 2016, S. 128. 43 Politik- sowie Rechtswissenschaft haben hierzulande diese Debatte verschlafen; Ausnahme: Röcke, Losverfahren und Demokratie, 2005; Buchstein, Demokratie und Lotterie, 2009, sowie vereinzelte Aufsätze: wiederum Buchstein, insb. in Leviathan 3/2009 bzw. ZParl 2/2013, eine Entgegnung von Lhotta, Gehen Sie nicht über Los!, ZParl 2/2013, S. 404 ff.; sowie: Weyh, 138

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geschichtswissenschaftlichen Arbeiten zur griechischen Antike, politikwissenschaftlichen Theoriedebatten seit Ende der 80er Jahre vor allem in den USA und konkreten Projekten der Bürgerbeteiligung in Kanada, den Niederlanden, Island und Irland, die seit 2004 auch mit Losverfahren experimentieren.44 Die These ist einfach und bestechend; sie wird zudem durch harte empirische Befunde gestützt, die schon der Soziologe Robert Michels vor rund 100 Jahren bei der wissenschaftlichen Betrachtung der Organisation und Entscheidungsabläufe in Parteien anhand der SPD feststellte45: das Problem der Herausbildung oligarchischer Strukturen. Van Reybrouck nämlich sieht einen demokratie- und auch machttheoretischen kolossalen „Fehlschluss“ bei der Organisation der „Volksherrschaft“ der letzten Jahrhunderte, der dazu geführt habe, dass Demokratie und Wahlen automatisch als synonym gesetzt und darüber andere Formen verdrängt worden seien. Das, obwohl Wahlen in der Antike und noch in den Stadtrepubliken der italienischen Renaissance (Florenz und Venedig), die auch das Losverfahren ausübten, als aristokratisch-oligarchisches Instrument im Sinne einer „Herrschaft der (wenigen) Besten“ galten. Bei Aristoteles schon finde sich ausdrücklich die Unterscheidung zwischen demokratischen Verfahren („Los“) und oligarchischen Verfahren („Wahl“) und das Plädoyer, beide bei der Ämtervergabe klug zu kombinieren.46 Auch Vordenkern wie Montesquieu und Rousseau habe das noch klar vor Augen gestanden47, ebenso amerikanischen Gründervätern wie James Madison und John Adams.48 Aus heutiger Sicht läge daher eine fundamentale „Verwechslung“ von Republik und Demokratie vor: Denn die Akteure der amerikanischen und französischen Revolution hätten nicht ein demokratisches System, sondern eine republikanische Elitenherrschaft (ge)schaffen (wollen). Sie hätten vielmehr Angst vor zu viel Demokratie gehabt. Die schrittweise Ausdehnung des Wahlrechts habe an diesem Befund nichts grundlegend geändert, weil Wahlen, verschärft durch den plutokratischen Einfluss des Sponsorings, durch den ihnen eigenen Mechanismus der „Auswahl“ überhaupt zu Oligar-

44

45 46 47 48

Losen statt wählen, Kursbuch 174, 2013, S. 54 ff.; Bender/Graßl, Losverfahren, APuZ 38 – 39/ 2014, S. 31 ff.; Göhler, Controlling politics by sortition, in: Delannoi (Ed.): Sortition, 2010, S. 91 ff.; Masser, Demokratische Bürgerbeteiligung durch Losverfahren, in: Hill (Hg.), E-Transformation, 2014, S. 1089 ff.; zuletzt: Baron, Das schwere Los der Demokratie, 2014; Sintomer, Das demokratische Experiment, 2016. Vgl. Van Reybrouck (Fn 42), S. 121 ff. In Deutschland bisher nur in Wuppertal: Anlässlich eines verhärteten Seilbahn-Streits wurde eine Bürgerbeteiligung durch Zufallsziehung aus dem Melderegister initiiert. Knapp 50 Bürger/innen tagten mehrere Tage in wechselnden Arbeitsgruppen zum Planungsvorhaben und erstellten eine Beschlussempfehlung; vgl. Nexus-Institut/ Stadt Wuppertal (Hg.), Bürgergutachten zum möglichen Bau einer Seilbahn in Wuppertal, 2016 (https://www.nexusinstitut.de/wp-content/uploads/2019/03/Seilbahn-Wuppertal161026web.pdf). Vgl. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, 1911. Vgl. Van Reybrouck (Fn. 42), S. 74; Aristoteles (Fn. 17), S. 221 (1294b); so auch Reybrouck. Vgl. Van Reybrouck, ebd., S. 83. Vgl. ebd., S. 86 ff.

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chien neigten – wenn vielleicht auch nicht im Sinne eines automatischen „ehernen Gesetzes“, wie es Michels gar am Werke sah. Karl Loewenstein, „Schüler“ Max Webers, prominenter deutsch-amerikanischer Politikwissenschaftler und Staatsrechtler der Nachkriegszeit, hat diesen Hang pluralistischer Demokratien zu Elitenherrschaften und den Einfluss von noch nicht einmal mehr durch Wahlen kontrollierten Wirtschaftseliten, die sich bloß selbst kooptierten, Anfang der 70er erneut beschrieben.49 Auch die viel beschworene Zivilgesellschaft allein kann das mit ihren Gegen-Öffentlichkeiten demokratisch nicht vollständig kompensieren. Hier zeigt sich regelmäßig derselbe soziologische Befund, dass diese sich wiederum selbst aus den bürgerlichen Eliten rekrutieren. So gesehen mag der rechte Anti-Establishment-Protest von TrumpAnhängern, Pegida und Co. verständlich sein, der sich – ob Politiker, Verbände, Parteien, Presse, Kultur usw. – schließlich gegen alles richtet, was nicht als Spiegelung seiner selbst, also des „kleinen Mannes“, als „normal“ erscheint; aber auch gefährlich, weil mit verquasten, z. T. völkischen Vorstellungen von „Volkssouveränität“ und dem autoritären Ruf nach dem „starken Mann“ in der Form des antiparlamentarischen „Volkstribuns“ verbunden. Das Problem der „Pöbelherrschaft“ als entgleister, „dunkler“ Seite war gerade der Antike bekannt: In der ursprünglichen Terminologie der griechischen Regierungstypologie, die nach der Anzahl der Herrschenden und der sittlichen Qualität der Herrschaft in „gute“ und „schlechte“ Formen unterschied, wurde sie als „Demokratie“ bezeichnet, während ihre „gute“ Herrschaftsform „Politie“ hieß.50 Alexis de Tocqueville, darauf macht auch Van Reybrouck aufmerksam,51 war bei seinen berühmten Betrachtungen über Amerika (1835/40) daher fasziniert von dem letzten Überbleibsel des demokratisch-egalitären Losverfahrens, das sich ausgerechnet im Bereich der Judikative erhalten hatte: der Institution des Geschworenengerichts als einer Schule der Bürger/innen, die diese das demokratische Regieren mäßigend lehre.52 Wie Aristoteles es schon beschrieben habe, zwinge es nämlich dazu, die demokratische Freiheit auch in der (gelegentlichen) Übernahme von Verantwortung zu erlernen. Im Unterschied zu den emotionalisiert-punktuellen Ja-Nein-Volksentscheiden ist mit der Übernahme einer zeitlich befristeten Aufgabe per Losentscheid das eigene Reinfuchsen auch in komplizierte Materien verbunden und der Zwang, sich an einer konkreten Sache mit Gegenpositionen handlungs- und entscheidungsorientiert konstruktiv auseinanderzusetzen. Diese Form der Partizipation „zivilisiert“ also – und sie ist das, was schon Aristoteles als das Politische bezeichnete, nämlich die Konstituierung eines Gemeinwesens durch gemeinsame Teilhabe an der Verfassung.53

49 50 51 52 53 140

Vgl. Loewenstein, Kooptation und Zuwahl, 1973. Vgl. Aristoteles (Fn. 17), S. 169 f. (1279b). Vgl. Van Reybrouck (Fn. 42), S. 103 f. Vgl. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 172 ff. (Reclam). Vgl. Aristoteles (Fn. 17), S. 154 ff. (1274b-1276b). Recht und Politik, Beiheft 4

Ausländerwahlrecht, Losverfahren und Demokratieprinzip

Viele Fragen bleiben beim aktuellen Stand der Diskussion um die Einführung von Losverfahren natürlich noch offen, deren Lösung aber auch nicht für alle Fälle gleich aussehen müsste, etwa: Ist das Losverfahren auf große politische Einheiten, sogar die EU übertragbar? Müssen Bürger/innen zwangsverpflichtet werden, da sich sonst keine „echte“ Repräsentation durch Zufall einstellt? Kann man sich als „Härtefall“ von der Bürger-Pflicht befreien lassen (z. B. als Selbständiger in der Gründungsphase)? Wie lange soll welches „Bürgeramt“ dauern und welche Diäten muss es geben? Lässt sich das Los auch für einfachere und fairere Verfahren der Beförderung in der Verwaltung oder bei Berufungen an Hochschulen nutzen, indem aus einer größeren Gruppe von Qualifizierten bloß „gezogen“ wird? Wie steht es mit Berufsrichtern/innen oder gar denen des Bundesverfassungsgerichts? (In der „urdemokratischen“ Schweiz etwa wird aktuell, ausgehend von einer „Justiz-Initiative“, das Losverfahren für Richter/innen am (obersten) Bundesgericht diskutiert).54 Vor allem aber: Sollen durch Los bestimmte Institutionen der Bürgerbeteiligung nur beratend tätig oder aber mit harten Kompetenzen ausgestattet werden?

III. Vorschläge zum Demokratieprinzip des Art. 20 II GG Aus verfassungsrechtlicher Sicht ergibt sich dann noch das Problem, dass im Falle echter (Mit‐)Entscheidungskompetenzen von gelosten Kammern eine Grundgesetzänderung erforderlich sein könnte, soweit man Losverfahren nicht einfach in weiter Auslegung unter den Wortlaut der „Abstimmungen“ des Art. 20 II „quetschen“ möchte. Diese wiederum liefe Gefahr, vom Bundesverfassungsgericht wegen Art. 79 III GG kassiert zu werden. Ulrich K. Preuß, im Vorfeld des Bremer Streits um das Ausländerwahlrecht mit einem Gutachten betraut, führte zur richterlichen Selbstgewissheit in puncto „Demokratieprinzip“ treffend aus: „Der Begriff der Demokratie gehört zu den ihrem Wesen nach umstrittenen Begriffen, über deren Inhalt und Bedeutung es in einer freien Gesellschaft niemals dauerhaft eine Übereinstimmung gibt… Daher sind seine Auslegung und praktische Ausgestaltung… Aufgabe des politischen Prozesses. Gerichtliche Subsumtionslogik verfehlt methodisch die Bedeutung des demokratischen Prinzips“.55

Soweit man nicht schon diesem Argument folgen möchte, ergibt sich aber die Zulässigkeit einer solchen Änderung aus dem Zweck dieser Bestimmungen: Denn Art. 79 III i.V.m. Art. 20 I und II GG will keine zeittypische Form der Demokratie der Gründerzeit „auf alle Ewigkeit“ wie in einer Momentaufnahme einfrieren.56 Es handelt sich 54 Vgl. Glaser, Die Justiz-Initiative, AJP 10/2018, S. 1251 ff. 55 Preuß, Rechtsgutachten ü ber die rechtlichen Mö glichkeiten der Freien Hansestadt Bremen, durch Entscheidung der Bremischen Bü rgerschaft ein Wahlrecht fü r Drittstaatler zu den Beirä ten der Stadtgemeinde Bremen und ein Wahlrecht der EU-Bü rger zur Bü rgerschaft (Landtag) einzufü hren, 2012, S. 3 f. (www.bremische-buergerschaft.de/uploads/media/Gut achten_Prof_Dr_Dr_hc_Ulrich_K_Preuss_vom_182012.pdf). 56 Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?, 2009. Recht und Politik, Beiheft 4

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vielmehr um eine auf die Erfahrung des „Ermächtigungsgesetzes“ der Nationalsozialisten bezogene „Anti-Diktatur-Klausel“, die vor Abschaffung demokratischer (Mindest‐)Standards schützen will. D. h.: Ein „Unterschreiten“ des Demokratieprinzips des Art. 20 GG ist damit selbst durch Verfassungsänderung seitens Bundestag und Bundesrat unzulässig – „mehr“ Demokratie dagegen geht im Grundgesetz immer. Daher könnte die Formulierung dann lauten: Art. 20 II Satz 2 (neu) – Alternative 1: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen, Abstimmungen und Losverfahren und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

Und soweit man nicht der vorgeschlagenen Argumentation einer schon beim geltenden Wortlaut vorliegenden Vereinbarkeit des „Ausländerwahlrechts“ mit Art. 20 („Volk“) folgen möchte, ließe sich analog zur Formulierung in der Verfassung Bremens von 1947 (!) noch klarstellend erweitern: Art. 20 II Satz 2 (neu): – Alternative 2: „Alle Staatsgewalt geht von der Bevölkerung aus. Sie wird von der Bevölkerung in Wahlen, Abstimmungen und Losverfahren und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

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Über Patriotismus in populistischen Zeiten Zur Unvereinbarkeit zweier häufig verwendeter Topoi unserer Zeit Von Volker Kronenberg / Manuel Becker

I. Definition, Begriffsgenese und Problematisierung des Populismusbegriffs Der Begriff Populismus leitet sich etymologisch vom lateinischen populus (= das Volk) ab. Das Suffix -ismus steht im politischen Sprachgebrauch zumeist für die Übersteigerung einer politischen Grundeinstellung bzw. Geisteshaltung. Als populistisch werden üblicherweise solche politischen Bewegungen, Parteien oder Personen bezeichnet, die sich gegen die „herrschende Lehre“ bzw. die etablierten politischen und/oder gesellschaftlichen Eliten wenden, sich als Vertreter des vorgeblich „wahren“ Volkswillens gerieren und die prima facie einfache Lösungen für komplexe politische Probleme anbieten.1 Der Begriff ist meist negativ konnotiert und wird zur Abwertung des politischen Gegners verwendet. Populismuskritiker unterstellen, dass im politischen Diskurs zwischen rationalen und irrationalen Komponenten unterschieden werden könne2 – wobei Populisten zumeist ein irrationales Politikverständnis attestiert wird. Diese scharfe Trennung erschwert es jedoch, das Phänomen des Populismus zu verstehen und konterkariert die Formulierung von Gegenstrategien. Populistische Argumente, die für Teile der Bevölkerung dem Common Sense entsprechen, lassen sich schwerlich allein dadurch entkräften, sie als „affektiv“ oder „irrational“ zu deklarieren. Im Übrigen hat Politik grundsätzlich stets Emotionen, Leidenschaften und Ängste als konstitutive Dimensionen menschlichen Handelns zu berücksichtigen. Die mit dem Populismus beschriebenen Attribute sind vom Inhalt her so alt wie die Demokratie selbst. Als Begriff hingegen kam Populismus Ende des 19. Jahrhunderts auf, um eine situativ aus dem Volk hervorgehende politische oder soziale Bewegung zu beschreiben. Begriffsprägend für den westlichen Kontext wirkte die kurzlebige Farmerpartei „Populist Party“, die sich zwischen 1891 und 1908 im Westen der USA 1 2

Vgl. Kronenberg/Becker, Populismus, in: https://www.bibelwissenschaft.de/wirelex/wirelex/ (im Erscheinen). Vgl. Dubiel, Populismus und Aufklärung, 1986, S. 44.

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insbesondere gegen die Einführung des Goldstandards wehrte. Im lateinamerikanischen Zusammenhang waren die im Zuge der Bewältigung der Weltwirtschaftskrise entstandenen nationalistisch-protektionistischen Tendenzen unter Juan Péron in Argentinien und Getúlio Vargas in Brasilien einflussreich. Im deutschen Sprachraum ist der Begriff hingegen erst seit den 1960er Jahren etabliert. Charakteristischerweise fand er auf beiden Seiten des politischen Spektrums in pejorativer Konnotation als politischer Kampfbegriff Anwendung: So diffamierten etwa konservative Denker wie Daniel Bell oder Nathan Glazer die Studierendenbewegung der 1960er Jahre als „Linkspopulismus“, während Neomarxisten wie Ernesto Laclau und Stuart Hall Margaret Thatchers Wahlkampfstrategie Ende der 1970er Jahre als Rechtspopulismus bezeichneten.3 In der Bundesrepublik hat der Begriff Populismus im Zusammenhang der Flüchtlingsherausforderung der Jahre 2015 ff. und dem Aufschwung der durch weite Teile der Politikwissenschaft als rechtspopulistisch eingestuften Partei Alternative für Deutschland (AfD) noch einmal zusätzlich an Rezeptionskraft gewonnen. Interessant ist auch die Konnotation des Begriffs in verschiedenen Weltteilen: Während in der europäischen Forschungslandschaft überwiegend ein negatives Begriffsverständnis vorherrscht, gilt der Populismus aus US- und lateinamerikanischer Perspektive oft wertfrei als ein Politikstil unter anderen.4 Versucht man, die vielfältigen Erscheinungsphänomene von Populismus auf ein verbindliches Kriterium zurückführen, so wäre dies der konstruierte Gegensatz zwischen Volk und Elite.5 Diese Minimaldefinition scheint mittlerweile Konsens in der Forschung zu sein; die Debatte entspinnt sich eher entlang der Frage, ob dies schon ein hinreichendes oder nur notwendiges Kriterium für einen allgemeinen Populismusbegriff darstellt. So argumentiert beispielsweise Jan-Werner Müller, dass Populismus neben seiner antielitären Ausrichtung auch stets antipluralistisch sei.6 Ein Großteil der wissenschaftlichen Literatur zur Kategorie des Populismus beschäftigt sich mit der Frage, ob mit dem Begriff ein politikinhaltlich ideologischer Eigenwert verbunden ist oder ob es sich (nur) um einen politischen Stil handelt. Man kann demzufolge in der Forschungsliteratur eine Ideologieschule von einer Strategieschule unterscheiden. Vertreter der Ideologieschule wie Cas Mudde, Daniele Albertazzi und Duncan McDonnel unterstellen, der Populismus sei eine konkrete politische Richtung, deren ideologischer Kern in einer moralischen Aufladung des konstruierten Gegensatzes zwischen „Volk“ und „Elite“ liege.7 Da dies jedoch im Vergleich zu den „klassi3 4 5 6 7

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Vgl. Scherrer, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1989, S. 1100 – 1104. Vgl. Kazin, The Populist Persuasion, 1995; Barr, PP 2009, S. 29 – 48. Vgl. Spier, Modernisierungsverlierer, 2010, S. 19; Jan-Werner Müller, Was ist Populismus?, 2016, S. 42. Vgl. Müller (Fn 5), S. 46. Vgl. Mudde, GaO 2004, S. 543; Albertazzi/McDonnel, Twenty-First Century Populism, 2008, S. 3. Recht und Politik, Beiheft 4

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schen“ Großideologien des 20. Jahrhunderts wie Faschismus, Sozialismus und Kommunismus eine nur sehr vage inhaltliche Füllung darstellt, berufen sich die Vertreter der Ideologieschule auf das vom Ideentheoretiker Michael Freeden entwickelte Konzept einer „thin centered ideology“, das im Deutschen nur sehr sperrig als „dünne Ideologie“ zu übersetzten ist. Eine Ideologie ist demzufolge als „dünn“ zu bezeichnen, wenn sie ein spezifisches Ziel verfolgt, an das sich andere komplexere Ideologiebausteine aus anderen Politikfeldern anpassen lassen.8 Der „Volk-Elite-Gegensatz“ fungiert insofern als ein feststehendes, grundsätzliches Raster, das nach Belieben mit inhaltlichen Versatzstücken aus anderen, ausgefeilteren Ideologien gefüllt werden kann. Die Vertreter der Strategieschule hingegen argumentieren, dass die empirische Vielfalt beobachtbarer Phänomene von Populismus es nicht zulasse, ein gemeinsames inhaltliches Definitionskriterium zu entwickeln. Sie konzentrieren sich stärker auf Parallelen im öffentlichen Erscheinungsbild verschiedener populistischer Vertreter, auf Ähnlichkeiten in der äußeren Performanz und auf deren Mobilisierungsstrategien. Eine Liste solcher Ähnlichkeiten im äußeren Auftreten haben Frank Decker und Marcel Lewandowsky aufgestellt: Rückgriff auf Common-Sense-Argumente, Vorliebe für radikale Lösungen, Verschwörungstheorien und Denken in Feindbildern, Provokation und Tabubruch, Emotionalisierung und „Angstmache“, Verwendung von biologistischen und Gewaltmetaphern.9 Neben den beiden in Opposition zueinander stehenden großen theoretischen Ansätzen existiert die von Autoren wie Ernesto Laclau vertretene postmarxistische Auffassung, der zufolge Populismus als politische Praxis verstanden wird, die auf eine ideologieschaffende Diskurspraxis abzielt.10 Chantal Mouffe hat, daran anknüpfend, den Populismus als logische Folge einer zu konsensuell und zu wenig agonal, d. h. konfrontativ agierenden Politik der etablierten Parteien in den vergangenen Jahren gedeutet.11 Eine weitere Position, die zwischen den beiden Ansätzen der Ideologie- und Strategieschule angesiedelt ist, vertritt Karin Priester, die Populismus weder als Ideologie noch als Strategie, sondern vielmehr als politischen Prozess versteht: Sie geht von der Prämisse aus, dass in modernen Gesellschaften generell ein latentes Potenzial elitenkritischer Mentalität vorhanden ist, das mobilisiert und zu einem handlungsfähigen Akteur verdichtet werden kann.12

8 9 10 11 12

Vgl. Freeden, Ideologies and Political Theory, 1996, S. 485. Vgl. Decker/Lewandowsky, ZfP 2017, S. 35. Laclau, On populist reason, 2005. Vgl. Mouffe, On the Political, 2005, S. 2018. Vgl. Priester, Rechter und Linker Populismus, 2012, S. 48.

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II. Definition, Begriffsgenese und Problematisierung des (Verfassungs‐)Patriotismusbegriffs Nach diesen Einordnungen zum zumeist pejorativ besetzten Populismusbegriff rückt nun der eher positiv konnotierbare Patriotismusbegriff in den Mittelpunkt der Untersuchung. Patriotismus bezeichnet als politische Tugend ein sozialpolitisches Verhalten, in dem nicht vorrangig die eigenen Interessen handlungsleitend sind, sondern das Wohl aller Mitglieder einer politischen Gemeinschaft. Patriotismus, dem neben der rationalen auch stets eine emotionale Dimension zu eigen ist, ist damit auf die Gesamtheit des politischen Gemeinwesens fokussiert und bildet sich historisch als ein persönlicher Einsatz für die Kommune, für die Heimat und das „Vaterland“ heraus.13 Vom Wortstamm her rekurriert der Begriff auf das lateinische patria, was mit dem Wort „Vaterland“ zwar linguistisch und historisch korrekt, aber vor dem Assoziations- und Konnotationshorizont unserer Zeit möglicherweise nicht ganz adäquat übersetzt ist. „Vaterland“ klingt für „moderne Ohren“ möglicherweise etwas antiquiert und ist mit gender-theoretischen Perspektiven nur schwer in Einklang zu bringen. Die unterschiedlichen soziomoralischen Kontexte aus der Prägezeit in der Antike und von heute in Rechnung stellend, lässt sich der Begriff patria aber ebenso gut – ohne damit Begriffsinhalte zu verstellen – mit „Gemeinwesen“ übersetzen. Diese Translation stützt auch der Blick in die Begriffsgeschichte. Während in der Antike der sokratisch-platonische Patriotismus auf das seit früher Jugend Vertraute, auf die überschaubare polis Athen gerichtet war, so unterschied Cicero zweierlei patriae eines jeden Römers: die patria naturae als den heimatlichen Raum des Privaten, zu dem neben Vaterhaus, Muttersprache, Andenken an die Vorfahren, der Kult der Haus- und Lokalgottheiten gehörte, von der patria civitatis. Letztere stand für jene politische Idee, die alle Individuen, die das römische Bürgerrecht besaßen, zu einer Gemeinschaft, dem römischen Staat, verband.14 Eben dieses abstraktere Konzept ermöglichte es, den zunächst auf das Regionale bezogenen Patriotismus sukzessive zu erweitern und schließlich in der Neuzeit auf den modernen Nationalstaat zu beziehen.15 In der deutschen Diskussion trat der Begriff des Patriotismus seit etwa 1750 verstärkt hervor. Er wurde zum Schlüsselbegriff der deutschen Aufklärung in ihrem Ringen um Emanzipation im partikularistischen Deutschen Reich. Auch wenn der weltoffene Patriotismus, den Fichte, Schiller oder Hölderlin in ihren Schriften postulieren, sich 1832 beim Hambacher Fest noch auf ein „konföderiertes, republikanisches Europa“ hin geöffnet zeigte, so mündete er keineswegs zwangsläufig in den Nationalismus der 13 Vgl. Kronenberg, Patriotismus in Deutschland, 3. Aufl., 2013, S. 33 – 36; Kronenberg, in: Grotz/ Nohlen (Hrsg.), Kleines Lexikon der Politik, 2015, S. 461 ff. 14 Vgl. Cicero, in: Ziegler (Hrsg.), Staatstheoretische Schriften, 1979, S. 21 – 342; Fuhrmann, Cicero und die römische Republik, 1989. 15 Eichenberger, Patria. Studien zur Bedeutung des Wortes im Mittelalter (6.–12. Jahrhundert), 1991. 146

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Reichsgründung 1871 bzw. Jahrzehnte später in den Nationalsozialismus.16 Letzterer pervertierte das Ethos des Patriotismus fundamental, insofern er universalistische Menschen- und nationale Bürgerrechte mittels einer rassenfixierten Freund-FeindIdeologie negierte. Die Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur zeigt, dass Patriotismus keineswegs die Affirmation der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse bedeuten muss, sondern sich – eingedenk des Naturrechts und des sich auch auf ihn berufenden Widerstands – an übergeordneten moralischen Prinzipien des Zusammenlebens orientiert. International weithin als selbstverständlich und notwendig angesehen, wurde Patriotismus in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs über die Jahrzehnte der staatlichen Teilung hinweg vielfach als historisches Relikt negiert und allenfalls als „Verfassungspatriotismus“ akzeptiert bzw. gleich in der Zielperspektive des europäischen Einigungsprozesses transzendiert.17 Doch infolge der Wiedervereinigung 1990, aber auch im Zuge der fortschreitenden Globalisierung, setzte in Deutschland eine Wiederannäherung an den Patriotismus als wesentliche politische Tugend über Parteigrenzen hinweg ein. Dies einerseits im Bewusstsein, dass Nationen, Republiken und Staaten auch in einem vereinten Europa und in einer vernetzten Welt nach wie vor eine fundamentale Rolle spielen, andererseits in Erinnerung an das seit der Antike bekannte und insbesondere von Ernst-Wolfgang Böckenförde plausibilisierte Paradoxon, dass eine Republik ohne republikanische Gesinnung und Handlung ihrer Bürgerschaft ihre Existenz auf Dauer nicht zu sichern vermag.18 Spezifische Abhandlungen zur historischen Entwicklung des Patriotismus in Deutschland finden sich nur sehr wenige. Neben einer von Irmtraud Sahmland 1990 vorgelegten Abhandlung über Christoph Martin Wieland19 ist vor allem die Untersuchung von Christoph Prignitz20 zu nennen. Von Bedeutung für die moderneren politiktheoretischen Debatten um eine angemessene Form von Patriotismus sind vor allem die Schriften zum Verfassungspatriotismus von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas. Auch Josef Isensee hat sich mit den Themen Verfassungspatriotismus, Globalisierung und der Zukunft des Nationalstaates im Spannungsverhältnis von Partikularismus und Universalismus in prononcierter Form auseinandergesetzt.21 Eine gewisse publizistische Blüte hat sich im Umfeld des so genannten „Sommermärchens“ der Fußballweltmeisterschaft entwickelt, dem verschiedene in erster Linie essayistische 16 Vgl. Kronenberg, Patriotismus in Deutschland, 3. Aufl., 2012, S. 109 – 141; Prignitz, Vaterlandsliebe und Freiheit, 1981; Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770 – 1990, 1996. 17 Sternberger, Verfassungspatriotismus (Schriften X), 1990; Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 632 – 660. 18 Böckenförde, Recht, Freiheit, Staat, 1992. Vgl. Kronenberg, Patriotismus 2.0, 2010. 19 Sahmland, Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation, 1990. 20 Pringnitz (Fn 16). 21 Isensee, in: Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 11 – 35. Recht und Politik, Beiheft 4

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Abhandlungen gewidmet sind.22 Insgesamt wird man konstatieren können, dass der Begriff „Patriotismus“ verglichen mit den geschichtspolitisch polarisierteren Zeiten der „Bonner Republik“ spätestens seit Mitte der 2000er Jahre sowohl in der öffentlichen wie der veröffentlichten Meinung als weitestgehend rehabilitiert gelten kann. Darüber darf jedoch nicht übersehen werden, dass der Begriff durch Bewegungen mit dezidiert fremdenfeindlichem Hintergrund wie PEGIDA, zusätzlich befeuert im Kontext der Flüchtlingsherausforderung der Jahre 2015 ff.23, aufgegriffen und instrumentalisiert worden ist.

III. Zur Unvereinbarkeit von Populismus und Patriotismus Auf der Grundlage dieser aus der Etymologie und aus aktuellen Forschungsdiskursen gespeisten Betrachtungen zu Patriotismus und Populismus lässt sich aufzeigen, warum Patriotismus und Populismus nicht miteinander vereinbar sind – mehr noch: warum sie gar in einander entgegen gesetzte Richtungen weisen. Um diesen Zusammenhang zu erhellen, werden die Begriffskonzepte in einen Bezug zur Demokratie und zum Extremismus gestellt. 1. Bezugspunkt Demokratie Patriotismus ist als politische Grundhaltung mit der Demokratie in hohem Maße kompatibel bzw. man könnte sogar so weit gehen, zu behaupten, dass Patriotismus eine notwendige Bedingung für eine gelingende Demokratie darstellt. Nur wer sich mit seinem demokratischen Gemeinwesen nicht nur rational, sondern auch emotional verbunden fühlt, wird motiviert sein, sich für dieses Gemeinwesen einzusetzen, sei es im Großen in mandatierter politischer Verantwortung, sei es im Kleinen in der Lokalpolitik, im Sportverein oder im Musikverein. Die Demokratie lebt nicht allein von institutionalisierter Rechtsstaatlichkeit. Wie kaum eine andere Staatsform ist sie ebenso auf das nicht erzwingbare Engagement ihrer Bürger angewiesen; daraus erst bezieht sie die Luft zum Atmen. Ohne ehrenamtliche Unterstützung und das freiwillige Mittun ihrer Bürger wäre die Demokratie eine ausgesprochen blasse Veranstaltung, die nur durch den Staatsapparat und eine perpetuierte Bürokratie am Laufen gehalten würde und letztlich in der Gefahr stünde, in ihrem gesellschaftlichen Fundament auszubluten. Ob man diese Zusammenhänge nun mit dem Label „Patriotismus“ überschreiben möchte, ist letzten Endes eine Frage des persönlichen Geschmacks – der Sachzusammenhang hingegen dürfte unstrittig sein.

22 Hebeker/Hildmann, Fröhlicher Patriotismus?, 2007; Hessel, Sport und Patriotismus in Deutschland am Beispiel der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, 2007; Laetsch, Sind wir Deutschland?, 2008; Schediwy, Sommermärchen im Blätterwald, 2008. 23 Kronenberg, APuZ 2016, S. 22 – 27. 148

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Gänzlich anders verhält es sich mit dem Populismus. Populismus und Demokratie stehen in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander. Interessant ist, dass beide Begriffe auf das Volk verweisen, die Demokratie auf die altgriechische Antike (demos), der Populismus auf die römische Antike (populus). Die Demokratie beruft sich in ihrer Herrschaftslegitimation auf das Volk. Da der Populismus auf die umfassende Verwirklichung dieses Prinzips abhebt, ist es aus demokratischer Perspektive sehr fordernd, gegen Populismus zu argumentieren, da stets der eigene Geltungs- und Legitimationsanspruch ein Stück weit eingeschränkt werden muss. In den meisten modernen Demokratietheorien bezeichnet der Begriff Volk deutlich mehr als nur eine schlichte Schicht- oder Standesbezeichnung. Der Begriff umfasst mehr als das durch ihn adressierte Kollektiv im Sinne einer Summe seiner Individuen, sondern es wird ein politisches Abstraktum konstruiert, welches über das Repräsentationsprinzip abgebildet wird.24 Das so verstandene Volk liegt auch dem anspruchsvollen Begriff des Volkswillens zugrunde, der nicht einfach vorhanden ist, sondern durch Praktiken, Verfahren und Zuschreibungen in der politischen Willensbildung erst gebildet werden muss.25 Zudem setzt die moderne Demokratie nicht nur auf das sie konstituierende Mehrheitsprinzip, sondern hegt dieses zusätzlich mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ein. Die Freiheit des Individuums wird heute vor allem durch Abwehrrechte gegen die Staatsgewalt und Verfügungsrechte über Privateigentum abgesichert. Heutige liberale Demokratien entsprechen dem strengen Ideal der Volkssouveränität aus guten Gründen nur eingeschränkt und lassen sich eher als Mischform aus demokratischer Volkssouveränität und liberaler Rechtsstaatlichkeit verstehen.26 Die moderne Demokratie basiert insofern offenkundig auf einem recht abstrakten, voraussetzungsreichen und anspruchsvollen Konzept von Volk und Volkswillen, das der Populismus in dieser Form nicht teilt. Populisten unterstellen in der Regel einen theoretisch unterbestimmten Begriff von Volk und Volkswillen, bei dem es keinerlei Unterscheidungen gibt und in dem das Prinzip der Gleichheit herrscht. Der Volkswille muss dieser Lesart zufolge nicht erst aufwändig konstruiert werden, sondern existiert unmittelbar. Die Mehrheitsentscheidung und der Gemeinwille werden als deckungsgleich betrachtet. Aus diesen Gründen wird ersichtlich, warum der Populismus aus demokratietheoretischer Perspektive ein ausgesprochen problematisches und sogar latent demokratiefeindliches Phänomen darstellt, da er wesentliche Grundlagen moderner Demokratien schlicht nicht zur Kenntnis nimmt bzw. zum Teil sogar aktiv negiert.

24 Vgl. Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995, S. 21 – 42. 25 Vgl. Jörke/Selk, Theorien des Populismus, 2017, S. 58. 26 Vgl. Priester (Fn 12), S. 54. Recht und Politik, Beiheft 4

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2. Bezugspunkt Extremismus Doch nicht nur anhand der Demokratietheorie, auch anhand der Extremismustheorie lässt sich verdeutlichen, warum Populismus und Patriotismus unvereinbar sind. Wesensmerkmal von rechtsextremistischer Ideologie ist der Nationalismus, der leider noch immer allzu leicht mit Patriotismus verwechselt wird. Patriotismus ist einem Ethos des Helfens und der Hilfe verpflichtet und verweist zugleich auf die Bedingungsvoraussetzungen sowie auf das Recht und das soziomoralische Fundament, das seinerseits integrieren will. Patriotismus bedeutet nicht, sich von den „Anderen“ abzuschließen, das Fremde abzulehnen, sich im Eigenen einzumauern – dafür stehen Xenophobie, Nationalismus und Rassismus. Im Gegenteil, Patriotismus steht für das Willkommenheißen des Neuen, des Anderen, auch des Fremden aus anderen Weltregionen und Kulturen – gepaart mit dem klaren Anspruch und der Verpflichtung, das Bestehende nicht statisch als unveränderlich-assimilativ übernehmen zu müssen, aber doch den vorhandenen soziomoralischen Konsens, vor allem die auf diesem gründende Rechtsordnung anzuerkennen, sich mithin an die bestehenden „Spielregeln“ zu halten. Wesentlich komplexer stellt sich das Verhältnis von Populismus und Extremismus dar. Ein beliebtes Missverständnis in diesem Zusammenhang besagt, beim Populismus handele sich um eine Art „weichen“ oder graduellen Extremismus bzw. um eine Vorstufe zum Extremismus. Aus Sicht der vergleichenden Extremismusforschung ist es die aktive Verfassungsfeindschaft, d. h. der konkrete Wille und das darauf bezogene aktive Handeln zur Abschaffung bzw. Überwindung des politischen Systems, die den Extremismus kennzeichnet.27 Populisten erheben den Anspruch, den „wahren“ Volkswillen zu vertreten, verstehen sich jedoch in der Regel nicht als Anti-System-Bewegung. Dies bedeutet aber zugleich, dass populistische Parteien und Bewegungen durchaus dazu in der Lage sind, extremistisch zu werden, und zwar in dem Moment, in dem sie die Schwelle zur offenen Systemfeindlichkeit überschreiten. Insofern kann der Populismus zwar in Einzelfällen die Vorstufe zum Extremismus sein, ein notwendiger kausaler Zusammenhang besteht hier aber nicht. Während Extremismus die Antithese zum demokratischen Verfassungsstaat in seiner demokratischen wie in seiner konstitutionellen Säule darstellt, kann Populismus durchaus demokratische Spielregeln beachten, und zwar dann, wenn Populismus einen Politikstil im politischen Willensbildungsprozess einer Gesellschaft bezeichnet. Die Verwirrung im öffentlichen Diskurs ist eine Folge davon, dass die Begriffe Populismus und Extremismus analytisch auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Tom Thieme fasst den Kernunterschied prägnant zusammen: „Populismus kann in demokratischer und extremistischer Ausprägung auftreten; zugleich gibt es demokratische und extremistische Phänomene, die ohne Populismus auskommen.“28 Für die Klassifizierung als extremistisch ist die Frage nach der Verfassungsfeindlichkeit we27 Jesse/Panreck, ZfP 2017, S. 60. 28 Thieme, in: Backes (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus und Demokratie, 2018, S. 20. 150

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sentlich. Wenn diese ausgeklammert wird, trägt das Verständnis von Populismus als „Extremismus-light“ mehr zur Unschärfe als zur analytischen Klarheit bei.29 Kurzum: Populismus schließt Extremismus nicht aus, Patriotismus hingegen schon.

IV. Schlussbemerkung So lässt sich unter dem Strich festhalten, dass es vielleicht gerade in Zeiten des Aufschwungs populistischer Bewegungen mit ihrer Vereinnahmung von Patriotismus umso wichtiger ist, den Unterschied, ja die Gegensätzlichkeit von Patriotismus und Populismus zu verdeutlichen. In der Forschung ist umstritten, ob Populismus eine Bedrohung für die Demokratie darstellt oder ob es sich um ein gleichsam natürliches und nützliches Korrektiv handelt, von dem auch konstruktive und positive Wirkungen für die Demokratie erwartet werden dürfen.30 Verkürzt lässt sich diese Debatte auf die einprägsame Formel bringen: Populisten stellen durchaus zumeist die richtigen Fragen, wenngleich sie selten bis nie adäquate Antworten formulieren und Lösungen unterbreiten. Aktuell scheinen sich die populistischen Bewegungen in Deutschland und Europa – ungeachtet aller dialektischen Überlegungen zu potentiell demokratieförderlichen Aspekten – eher negativ auf den öffentlichen Diskurs auszuwirken. Es liegt beim viel gescholtenen politischen „Establishment“, mit der populistischen Herausforderung souverän umzugehen, diese sachlich konstruktiv aufzunehmen und ebenso vernünftige wie mehrheitlich überzeugende Antworten zu geben. Eine patriotische Grundhaltung, die, mit Navid Kermani, „Liebe zum Eigenen, zur eigenen Kultur wie zum eigenen Land (…), die sich in der Selbstkritik“31 erweist, ohne, so ist hinzuzufügen, dem „Anderen“ nach Innen wie nach Außen mit Verachtung zu begegnen, mag für dieses Unterfangen nicht die schlechteste Voraussetzung sein.

29 Thieme (Fn. 28), S. 19. 30 Canovan, PS 1999, S. 2 – 16; Decker, Populismus, 2006; Kaltwasser/Mudde, Populism in Europe and the Americas, 2012. 31 Kermani, in: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (Hrsg.), Reden anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, 2015, S. 10. Recht und Politik, Beiheft 4

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Die AfD und der Verfassungsschutz – Ein deutsches Extremistenspiel oder Der lange Abschied von der fdGO* Von Horst Meier

I. Wenn sich der Verfassungsschutz mit Parteipolitik beschäftigt, dann sind ihm Schlagzeilen sicher. Im Januar 2019 erklärte er die gesamte AfD zum „Prüffall“ und stufte Teile der Partei konkret als „Verdachtsfall“ ein – so den Flügel um Björn Höcke, den Fraktionsvorsitzenden im Thüringer Landtag, und die Jugendorganisation. Denn letztere verfolgten sogenannte „verfassungsfeindliche Bestrebungen“. Die AfD sah sich hoheitlich in Verruf gebracht, klagte und bekam beim Verwaltungsgericht Köln recht – jedenfalls vorläufig, im Eilverfahren. „Dem Verfassungsschutz wird untersagt“, so der Tenor des Urteils, „in Bezug auf die AfD zu äußern oder zu verbreiten, diese werde als ›Prüffall‘ bearbeitet.“1 Die Begründung des Urteils, das vielfach auf Unverständnis stieß, sich indes u. a. auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts2 stützen kann, liest sich so: Der öffentlich geäußerte Verdacht, eine Partei betreibe eine gegen die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ gerichtete Politik, komme einem Eingriff in die Parteienfreiheit gleich. Denn er schrecke potenzielle Wähler ab und beeinträchtige damit die Chancengleichheit im politischen Wettbewerb. Die Öffentlichkeit dürfe erst gewarnt werden, wenn ein Verdachtsfall wirklich vorliegt. Dies sei aber bei der AfD offenbar nicht der Fall, so die Kölner Richter. Denn das Bundesamt selbst habe eingeräumt, gewisse „Verdachtssplitter“ seien „nicht hinreichend verdichtet, um eine systematische Beobachtung“ der Gesamtpartei einzuleiten. Mithin stelle die öffentliche Rede von einem bloßen Prüffall, so das Verwaltungsgericht, einen rechtswidrigen Eingriff dar. Die daraus folgende Wettbewerbsverzerrung müsse abgewendet werden, gerade auch mit Blick auf die Wahlen zu drei ostdeutschen Landtagen im Herbst. * 1 2

Zuerst in: RuP 4/2019, 375 – 386. VG Köln, Beschluss vom 26. 02. 2019 = Az. 13 L 202/19 – juris. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24. 05. 2005 („Junge Freiheit“ darf im nordrheinwestfälischen Verfassungsschutzbericht nicht als Verdachtsfall bezeichnet werden) = BVerfGE 113, 63.

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Die AfD und der Verfassungsschutz

Was aber die AfD triumphierend als großen Sieg verkauft, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein Prozesserfolg, der keiner ist. Denn das Verwaltungsgericht Köln stellte klar, dass es nicht darüber entschieden habe, ob der Partei zu Unrecht „verfassungsfeindliche Bestrebungen“ nachgesagt werden. Das heißt: Aus dem Verbot, öffentlich von einem „Prüffall“ zu reden, folgt keineswegs das Verbot, die politischen Ziele der AfD amtsintern zu prüfen. Wie das?

II. Um diesen feinen Unterschied zu verstehen, hilft ein Blick ins Gesetz über den Bundesverfassungsschutz. Dort heißt es, dieser sammle Informationen über „Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind“ – und zwar dann, wenn dafür „tatsächliche Anhaltspunkte“ vorlägen. Gemeint sind damit keine Beweise, sondern bloße Indizien, die einen Anfangsverdacht stützen. Und „Bestrebungen“? Das sind nicht etwa rechtswidrige oder strafbare Handlungen, sondern bloße öffentliche Äußerungen – also Parteipolitik, die sich allgemein erlaubter Mittel bedient. Und „freiheitliche demokratische Grundord-nung“? Diesen Begriff, der im Grundgesetz steht, definierte das Verfassungsgericht in den fünfziger Jahren: in seinen Verbotsurteilen gegen die (National‐)Sozialistische Reichspartei und die Kommunistische Partei Deutschlands. Der Begriff umfasst demnach die wichtigsten Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaats: nämlich vor allem Menschenwürde, Gewaltenteilung, Parlamentarismus, Rechtsstaat und übrigens auch das Recht auf Opposition. Und was folgt daraus? Immer dann, wenn der Verfassungsschutz von „extremistischen“ oder „verfassungsfeindlichen“ Bestrebungen spricht, ist verdächtige Politik an den rechten oder linken Rändern des politischen Spektrums gemeint: Legale Politik, wohlgemerkt, die zwar unter dem Schutz der Meinungsfreiheit steht, die aber nach Ansicht der Geheimdienstler wider den Geist der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ sündigt. Man muss sich klarmachen, wie einschneidend die Folgen für die Freiheit von Opposition sind: Die Mehrheitsparteien, die die Regierung stellen – also auch den Innenminister, der wiederum den Verfassungsschutz führt –, diese Mehrheitsparteien definieren letztlich, ob die Politik einer Minderheitspartei „verfassungsfeindlich“ ist – und folglich von einem Geheimdienst überwacht und später womöglich mit einem Verbotsverfahren überzogen wird. Im Klartext: Diese Praxis ist nichts anderes als die Fortsetzung der Politik mit geheimdienstlichen Mitteln. Was einschüchtert und stigmatisiert, verzerrt den Wettbewerb der Parteien. Am Ende wird das Verfassungsgericht zur letzten Instanz der Politikkontrolle – wenn es denn zum Verbotsantrag kommt. Bis dahin aber definieren die Innenminister freihändig, wer „Verfassungsfeind“ ist. Demokraten sollte zu denken geben, dass im Zentrum des Verdachts regelmäßig anstößige Meinungsäußerungen stehen. Das hat schon beim Unternehmen NPD-Verbot, das in Karlsruhe scheiterte, zu nichts geführt. Aber leider ist das Dossier, das Verfassungsschützer bundesweit über die AfD zusammentrugen, genau von dieser Machart. Recht und Politik, Beiheft 4

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Horst Meier

Die Redaktion von „Netzpolitik.org“ veröffentlichte das als „Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch“ eingestufte Papier3 – so dass jede und jeder nachlesen kann, was da auf über vierhundert Seiten zusammengeschustert wurde: Es sind die sattsam bekannten AfD-Sprüche, allerlei Zitate aus Programmen, Reden und Facebook-Verlautbarungen. Die Vorwürfe hören sich so an: rechtsradikale „Rhetorik“, fragwürdige „Wortwahl“, verdächtige „Thesen“, fremdenfeindliche „Aussagen“, völkische „Agitation“, „zweideutige Äußerungen“ zur Vergangenheitsbewältigung, „Infragestellen“ von Teilen des Grundgesetzes und „Systemsturz“. Es geht also, in einem Wort, um „Gedankengut“. Der Rest erschöpft sich im Vorwurf der Kontaktschuld, ein bewährtes Institut der Kommunistenverfolgung aus den fünfziger Jahren.4 Es kann ja nicht ausbleiben, dass gewisse verdächtige Rechte mit noch verdächtigeren Rechten (z. B. den „Identitä-ren“) in Verbindung treten. Ein kritischer Blick in das Dossier des Kölner Bundesamtes über die AfD sei dringend em-pfohlen. Denn dort zeigt sich im Einzelnen, wie ideologischer Verfassungsschutz bis heute funktioniert. Zahllose inhaltliche Aussagen werden gemessen an einem idealisierten Verfassungskern, eben jener vielbeschworenen „fdGO“. Wo gibt es Vergleichbares in anderen westlichen Demokratien? Ich kenne keine, in der ein Inlandsgeheimdienst die politischen Ziele einer radikalen Flügelpartei auf ihre „Verfassungstreue“ überprüft.5

III. Warum nur, um Himmelswillen, findet diese Art von „Verfassungsschutz“ gegen rechts so viel Beifall – selbst unter jenen, die den Inlandsgeheimdienst im Zuge des NSUSkandals am liebsten abschaffen wollten? Ein Grund dafür ist wohl die ambivalente Haltung zur „Freiheit des Andersdenkenden“. Kaum jemand kann es lassen, sich an dem landesüblichen Ausgrenzungssport zu beteiligen: nämlich den politischen Gegner, sobald er die Zone der gemäßigten Kritik verlässt, zum dringenden Fall für den Verfassungsschutz zu erklären. So befördern Rechte und Linke, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, ein autoritäres Freund-Feind-Denken.

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Bundesamt für Verfassungsschutz, Gutachten zu tatsächlichen Anhaltspunkten für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung in der „Alternative für Deutschland“ (AfD) und ihren Teilorganisationen (15. 01. 2019) – geleakt von Netzpolitik.org am 28. 01. 2019: https://netzpolitik.org/2019/wir-veroeffentlichen-das-verfassungsschutz-gut achten-zur-afd/. Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1968. Frankfurt 1978. Zur Kritik der deutschen Extremistenfibel Horst Meier, Das amtliche Gedächtnis der letzten Internationale. Der Verfassungsschutzbericht 1993, in: FR vom 05. 07. 1994; zur Beobachtung politischer Parteien vgl. Claus Leggewie/Horst Meier, Nach dem Verfassungsschutz. Berlin. 2. Aufl. 2019, S. 85 ff. Recht und Politik, Beiheft 4

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Wo ein Geheimdienst praktisch zur Instanz von Politikkontrolle wird, ist nicht nur die Freiheit gefährdet, sondern auch die Rechtssicherheit. Denn das Urteil, irgendein Ziel einer Partei verstoße inhaltlich gegen die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ und sei daher „extremistisch“ – ein solches Urteil ist kaum objektivierbar: weil es auf genuin politische Maßstäbe zurückgreift, die im Grunde nicht justiziabel sind. Beispiel Fremdenfeindlichkeit: Ob bloß eine restriktive Einwanderungspolitik gefordert wird oder hässliche Vorurteile gegen sogenannte „Asylbetrüger“ geschürt werden oder gar bösartig die Menschenwürde von Flüchtlingen in Frage gestellt wird – darüber lässt sich ohne Ende politisch streiten. Ob hingegen zum Beispiel eine strafbare Volksverhetzung vorliegt, lässt sich ungleich präziser bestimmen. Anders gesagt: Der Rechtsbegriff der „Bestrebungen“ gegen die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ ist eine juristische Hohlformel, die praktisch so gefüllt werden kann, wie man es gerade braucht. Ein kleines Gedankenexperiment macht das deutlich: Stellen wir uns vor, irgendwo in Ostdeutschland würde die CDU – entgegen aller Beteuerungen – mit der AfD zusammenarbeiten. Ob der dann dort amtierende Innenminister die AfD ins Visier nähme? Wohl kaum. Die Bewertung von Parteizielen bleibt also, wie sollte es anders sein, umstritten. Und damit auch die Antwort auf die Frage, ob nicht zumindest der völkisch-nationale Flügel der AfD Parolen verbreitet, die tendenziell fremdenfeindlich, antisemitisch und revisionistisch sind.6 Gewiss, der völkische Nationalismus kann politisch sehr gefährlich werden – erst recht an der Regierungsmacht. Trotzdem müssen Demokraten strikt unterscheiden zwischen anstößigen, „falschen“, schädlichen, kurz: hart zu diskutierenden Ansichten einerseits und dem unverbrüchlichen Recht des politische Gegners andererseits, diese Ansichten frei äußern zu dürfen. Stephan Kramer, oberster Verfassungsschützer in Thüringen, der inzwischen den ganzen Landesverband der AfD ins Visier nimmt, erklärte 2016: „Was sollen wir denn noch ans Licht bringen bei dieser Partei? Ihre Methoden und Ziele sind doch nun wirklich für jeden, der es sehen will, durchschaubar.“7 Das trifft es. Dass nun aber das Offenkundige durch einen Geheimdienst ans Licht gebracht werden soll, ist eine Eigenart hiesigen Verfassungsschutzes, die ihm so leicht keiner nachmacht. Wer einen Inlandsgeheimdienst braucht, um zu erkennen, dass die Ziele dieser „Alternative für Deutschland“ höchst fragwürdig sind, dem ist auch sonst nicht zu helfen. Es liegt im Übrigen auf der Hand, dass die vom Verfassungsgericht postulierte Suche nach den „wirklichen“ Zielen einer Partei ein Einfallstor ist für politische Unterstellungen jeg-

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Vgl. z. B. Eckhard Jesse/Isabelle-Christine Panreck, Populismus und Extremismus. Terminologische Abgrenzung – das Beispiel der AfD, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 2017, S. 59 ff. und Armin Pfahl-Traughber, Die AfD und der Rechtsextremismus. Wiesbaden 2019. Claus Leggewie/Horst Meier, Interview mit Stephan J. Kramer: „Wir sind keine Gedankenpolizei“, in: FR vom 18. 02. 2016.

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licher Art.8 All das findet auf dem spiegelglatten Parkett der Tagespolitik statt und ist hoch ideologieanfällig. So viel zu den offenen Fragen, die sich unweigerlich stellen, sobald der Inlandsgeheimdienst sich auf das Gebiet der Parteipolitik begibt und eine Organisation verdächtigt, nicht „auf dem Boden des Grundgesetzes“ zu stehen. Die wichtigste Frage aber wurde gar nicht gestellt: Ist es eigentlich demokratisch, dass ein Geheimdienst die Ziele unbequemer politischer Opposition bewertet – sei sie nun rechts oder links? „Die Beobachtung (…) einer Partei durch eine staatliche Behörde ist ein Bruch im System“ – kommentierte Helene Bubrowski, Redakteurin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, im Deutschlandfunk. Und weiter: „Im Meinungskampf müssen Parteien dieselben Chancen haben. Daher ist es anderen Rechtsordnungen fremd, dass der Staat hier eingreifen kann.“ Aber hierzulande, stellte die FAZ-Redakteurin fest, „ist das anders, historisch bedingt“.9 – Ja, so ist es! Aber, möchte man hinzusetzen, muss das eigentlich immer so bleiben? Wer heute den Verfassungsschutz gegen die AfD instrumentalisieren will, möge einen Augenblick innehalten. In den achtziger Jahren war es nicht etwa die „Aufklärung“ der Ämter für Verfassungsschutz, es waren die Wählerinnen und Wähler, die den Republikanern das verdiente Ende bescherten. Wem das nicht genügt, der entsinne sich an die jahrelange, fruchtlose Debatte um die Beobachtung von Teilen der PDS/Linkspartei. Nicht zu vergessen die bizarren Verbotsforderungen gegen die Grün-Alternativen, als diese noch als „junge Wilde“ auftraten.10 Wer heute AfD-Leuten die Chance verweigert, sich im parlamentarischen Prozess zu häuten, verschafft ihnen nur neue Vorwände, sich als Opfer zu stilisieren und riskiert ihre Radikalisierung. Ob es einem gefällt oder nicht: Eine Gesellschaft ohne „Extremisten“ und Radikale, ohne linke und rechte Flügelparteien ist ebenso wenig denkbar wie eine Gesellschaft ohne Kriminalität. Der Marktplatz der Ideen, der free flow of discussion darf nicht unter geheimdienstliche Aufsicht gestellt werden. Anstatt rechtspopulistische Maulhelden mit einem Gesinnungs-TÜV zu überziehen, sollte man besser die eigene Urteilskraft schärfen und den politischen Kampf mit ihnen führen.11 Eine liberale Demokratie ist permanente Diskussion aller, ist freier Wettbewerb der Parteien. Dass darüber ein Geheimdienst wacht, vergiftet die politische Kultur – und bleibt ein deutsches Kuriosum, über das man gar nicht genug staunen kann.

8 Vgl. NPD-Urteil (online bverfg.de) Rn. 559 und Horst Meier/Claus Leggewie/Johannes Lichdi, Das zweite Verbotsverfahren gegen die NPD = Recht und Politik, Beiheft 1. Berlin 2017, S. 65. 9 Helene Bubrowski, AfD wird zum Prüffall – Verfassungsschutz macht sich unnötig angreifbar, in: Deutschlandfunk, Kommentar vom 19. 01. 2019 (online). 10 Richard Stöss: Sollen die Grünen verboten werden?, in: Politische Vierteljahresschrift. Heft 4/ 1984. 11 Vorbildlich in diesem Sinne die Kritik von Heinrich Detering, Was heißt hier „wir“? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten. Stuttgart 2019. 156

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IV. Wenn nicht alles täuscht, markiert der Aufstieg der AfD einen Wendepunkt, an dem sich abzeichnet, dass die alte Erzählung von der „streitbaren Demokratie“ praktisch nichts taugt. Die Gründe und Hintergründe seien hier skizziert. Im Kern geht es um verschiedene Aspekte der entscheidenden Frage: Soll und darf man den Verbalradikalismus, den friedlich-legalen „Extremismus“ sanktionieren? Oder soll und darf man Toleranz üben bis zur Grenze des Rechtsbruchs? Bislang hatte es das extrem ausgedehnte Präventivkonzept der fdGO-Verteidigung nur mit bedeutungslosen politischen Sekten zu tun, deren Einfluss auf die Gesellschaft denkbar gering war – und deren Verbot oder Nichtverbot daher keinen nennenswerten Unterschied machte. Jetzt aber hat sich mit der „Alternative für Deutschland“ eine politische Kraft etabliert, die sich schon allein wegen ihrer Stärke kaum verbieten lässt. Das treibt den Grundwiderspruch, in dem sich die vorbeugende Ausgrenzung des legalen „Extremismus“ von Anbeginn befand, zur vollen Blüte: Die denkbar niedrige Eingriffsschwelle erlaubt es zwar, Kleinstorganisationen und Miniaturparteien wegen anstößiger Ziele zu verbieten – indes besteht dafür keine praktische Notwendigkeit. Größere Parteien hingegen, die für die Demokratie politisch wirklich gefährlich werden können, lassen sich nicht verbieten, ohne eben jener Demokratie schweren Schaden zuzufügen. Wie soll man auch zehn bis zwanzig Prozent der Wählerinnen und Wähler erklären, dass ihre Wahl auf die „falsche“ Partei, die „falschen“ Inhalte, die „falsche“ Politik fiel? Und dass sie sich, bitte schön! eine den Etablierten genehmere Partei suchen sollen? Nicht einmal die das Grundgesetz verschandelnde neue Möglichkeit, einer Partei vom Verfassungsgericht den Geldhahn zudrehen zu lassen, scheint durchsetzbar.12 Denn selbst diese mildere Verzerrung des Parteienwettbewerbs lässt sich politisch kaum vermitteln. Schon der Fall der NPD verhieß nichts Gutes. Wie kam es eigentlich dazu, dass die ganze Republik nahezu zwanzig Jahre über das Verbot einer Miniaturpartei diskutierte, der das Verfassungsgericht schließlich im zweiten Anlauf bescheinigte, sie habe keinerlei Einfluss auf die Politik in Deutschland? Statt nun aber diese eklatante Fehleinschätzung aufzuarbeiten, stolpert man in die nächste Extremistendebatte. Eine mangelnde „Potentialität“, die die einflusslose NPD vor einem Verbot schützte, kann man der AfD wahrlich nicht bescheinigen. Aber wird man sie deswegen etwa verbieten können? Nein, im Gegenteil, mögen ihre Inhalte als noch so extremistisch eingestuft werden! Denn das ist ja die Pointe: Gerade ein hohes Maß an „Potentialität“, das rechtlich in die Verbotszone führt, schützt politisch vor der präventiven Ausschaltung aus dem Wettbewerb.13 12 Ein entsprechender Antrag gegen die NPD wurde im Juli 2019 gestellt: Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung wollen der Partei für zunächst sechs Jahre alle staatlichen Gelder aberkennen lassen. 13 Vgl. Horst Meier, Kritik der [im NPD-Urteil kreierten] „Potentialität“, in: Merkur 819 (August 2017). Dagegen Heribert Prantl, der Verbotsforderungen, die jahrelang der NPD galten, Recht und Politik, Beiheft 4

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Dieses Dilemma ist angelegt im weit vorverlegten Verfassungsschutz, der in den Meinungskampf eingreift.14 Davon weiß indes die herrschende Meinung nichts. Das kommt davon, wenn man – so wie das Verfassungsgericht in einer der fragwürdigsten Passagen seines NPD-Urteils –, unter Berufung auf den Präventivcharakter des Art. 21 II GG erklärt: „Daher kann auch die Inanspruchnahme grundrechtlich geschützter Freiheiten verbotsrelevant sein.“15 Aber wie ist das möglich? Nach herkömmlichem rechtsstaatlichen Verständnis sind legale politische Aktivitäten schlicht legal – und bleiben es auch. Dass sie nachträglich, unter Berufung auf die Legitimität einer fdGO, für „verbotsrelevant“ erklärt werden können, charakterisiert das deutsche Parteiverbot als „notständischen Fremdkörper“ (Helmut Ridder).16 Alle Bemühungen um eine inhaltlich „richtige“ Definition der fdGO-Formel verkennen dieses Strukturproblem. Es ist kein Zufall, dass das Verfassungsgericht im Kontext seiner „restriktiven“ fdGO-Variante im NPD-Urteil gerade arglos erklärt: Ein Parteiverbot „kommt erst [!] in Betracht, wenn dasjenige in Frage gestellt und abgelehnt wird, was… außerhalb jedes Streits stehen muss.“17 Gegen die höchstrichterliche Statuierung politischer Tabus sei mit Hans Kelsen erinnert: „Demokratie ist Diskussion“.18 Dass vor Kritik nichts und niemand sicher ist, sollte sich allmählich herumgesprochen haben. Nun mag man die ganze fdGO-Veranstaltung mit dem hiesigen Mainstream gut und richtig finden, ja, zum nach wie vor unverzichtbaren Rettungsanker der deutschen Demokratie erklären. Man sollte dann allerdings eingestehen, dass eine Rechtsordnung, die Meinungen und politische Absichten sanktioniert, insoweit illiberal ist. Und dass eine Verfassung, die die Möglichkeit eröffnet, den legalen Gebrauch der Freiheit bei Bedarf als „verbotsrelevanten“ Missbrauch zu entwerten, nicht volldemokratisch ist.19 Im Rückblick auf siebzig Jahre lässt sich bilanzieren, dass in Sachen „streitbare Demokratie“ zwar erstaunlich viel Ideologie wiedergekäut wurde, ja dass die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ zu einer Art (west‐)deutschen Staatsreligion avancierte.

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neuerdings auf die AfD umlenkt: AfD driftet nach rechts draußen, in: SZ online vom 27. 07. 2019. Vgl. die Beiträge in dem „Lesebuch“ von Horst Meier, Verbot der NPD – ein deutsches Staatstheater in zwei Akten. Analysen und Kritik 2001 – 2014. Berlin 2015. NPD-Urteil, Rn. 578/579 und Recht und Politik. Beiheft 1 (Fn. 8), S. 45. Helmut Ridder, Zur Ideologie der „streitbaren Demokratie“. Berlin 1979; Kritik des Verwirkungsdenkens bei Sebastian Cobler, Grundrechtsterror (1979), in: Horst Meier, Protestfreie Zonen? Berlin 2012, S. 79 ff. NPD-Urteil Rn. 535 und Recht und Politik. Beiheft 1 (Fn. 8), S. 41. Zur Genese und Kritik der fdGO-Formel Horst Meier, Parteiverbote und demokratische Republik. Baden-Baden 1993, S. 288 ff. Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie. Hrsg. von Matthias Jestaedt und Oliver Lepsius. Tübingen 2006, S. 241. Horst Meier, Freiheit für die Feinde der Freiheit. Kritik des Grundgesetzes (1999), in: ders., Protestfreie Zonen? Berlin 2012, S. 88 ff.; Karl Loewenstein, Verfassungslehre. 3. Aufl. Tübingen 1975, S. 351. Recht und Politik, Beiheft 4

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Nichtsdestotrotz ist das Konzept der „streitbaren“ oder „wehrhaften“ Demokratie, auf das viele so stolz sind, praktisch gescheitert. Einige Stichworte mögen genügen. Artikel 18, Grundrechteverwirkung gegen einzelne: zwar vier Anträge, aber im Ergebnis Fehlanzeige. Artikel 21, Parteiverbot, ganze zwei Verbotsurteile gegen kleine Parteien in den fünfziger Jahren, die nicht das Potenzial hatten, die Bundesrepublik zu gefährden – und in Sachen NPD gleich zwei gescheiterte Verfahren. Aber die Verbote nach Artikel 9, zerschlugen die nicht immerhin etliche Dutzend kleine bis kleinste politische Vereinigungen von der „Wiking Jugend“ bis zur „Braunen Hilfe“? Ja, durchaus. Weil sie aber regelmäßig nur Ziele sanktionierten, konnten sie verfassungswidriges Denken nicht wirklich abstellen. So blieb das Anknüpfen an Aktivitäten, die sich gegen die „verfassungsmäßige Ordnung“ richten, ein leerlaufender staatspädagogischer Exorzismus, dessen Symbolgehalt hoch, dessen praktischer Nutzen aber denkbar gering ausfiel.20 Es ist bezeichnend für die heute mit Händen zu greifende Rat- und Hilflosigkeit, dass angesichts eines offenbar politisch motivierten Mordanschlags, der Erschießung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, ein ehemaliger CDU-Generalsekretär die Grundrechteverwirkung nach Artikel 18 ins Spiel brachte.21 Als sei ein Mordanschlag umstandslos auf den „Missbrauch“ von Grundrechten zurückzuführen; als sei ein kausaler Kurzschluss zwischen allgemeiner, hasserfüllter „Hetze“ und einer konkreten Gewalttat möglich. Das Problem von hate speech ist komplexer, als simple Alltagstheorien nahelegen.22 Natürlich kann man gewisse Kräfte für eine „Verrohung“ des gesellschaftlichen Klimas, für den vielbesagten „Nährboden“ politisch dingfest machen. Sie aber vorbeugend vom öffentlichen Diskurs auszuschließen, indem man ihnen pauschal die Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit aberkennen lässt, kommt einer Bankrotterklärung gleich.

V. Das westdeutsch geprägte Konzept des präventiven Demokratieschutzes ist nicht nur praktisch gescheitert, bereits seine historische Prämisse war nicht schlüssig. Die Beratungen des Grundgesetzes standen 1948/49 unter dem Eindruck des Scheiterns der ersten deutschen Demkratie, für das man die vermeintlich „selbstmörderische“ Weimarer Reichsverfassung verantwortlich machte. Man glaubte, die Lektion gelernt zu haben und erfand eine „Grundordnung“. Von diesem selbstgewissen Läuterungseifer ist nicht viel geblieben – nur ein versteinertes Dogma, das man heute ohne rechte Idee von 20 Zur ganzen Problematik Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung (2010), in: ders., Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates. Tübingen 2014, S. 459 ff., 480 und Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat (1994), in: a.a.O., S. 249 ff., 278 ff. 21 Peter Tauber, Dieser Feind steht rechts. Müssen endlich Artikel 18 des Grundgesetzes anwenden, in: Die Welt online vom 19. Juni 2019. 22 Eine kritische Bestandsaufnahme bei Timothy Garton Ash, Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt. München 2016, S. 326 – 349. Recht und Politik, Beiheft 4

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seinem ursprünglichen Sinn routiniert verwaltet. Unterdessen wird die vielgescholtene Weimarer Reichsverfassung rehabilitiert. Diese konstituierte keine „wehrlose Republik“, sondern scheiterte aus einer ganzen Reihe politisch-wirtschaftlicher Faktoren. Was mit der bahnbrechenden Studie von Christoph Gusy begann, setzt sich zum 100. Jubiläum der Weimarer Reichsverfassung fort. Horst Dreier, der die „drei gängigsten Irrtümer“ über die Weimarer Verfassung auf den Punkt brachte, hat unlängst die Frage gestellt, ob das Grundgesetz sich im schwierigen Umfeld der „Weimarer Verhältnisse“ wohl behauptet hätte.23 Auch die angebliche „Legalität der Machtergreifung“ ist längst ins Reich der Legenden verwiesen. Kurz und gut: „Weimar“ trägt nicht mehr als Argument, und so wird es Zeit für ein neues demokratisches Selbstverständnis. Die ersten Gehversuche der damals westdeutschen Demokratie waren vom Kalten Krieg und von Angst geprägt: der Angst vor dem erneuten Scheitern der Demokratie, zugleich aber auch der Angst vor dem Wagnis der Freiheit. Die Instrumente der „streitbaren“ Demokratie wurden in dem feierlich-ernsten Bemühen erfunden, dieses Mal die Freiheit wirksam zu sichern: wenn nur jeder einzelne und jede politische Organisation auf die Treue zur Verfassung verpflichtet wird. Dieses Sicherheitsdenken erscheint im Rückblick nur allzu verständlich, es hat sich indes als Illusion einer in sich ruhenden, überzeitlich zu stabilisierenden „Grundordnung“ erwiesen. Die siebzigjährige Vergangenheit dieser Illusion zeigt, dass sie keine Zukunft hat. „Es rettet uns kein höh’res Wesen…“, verkündete die Internationale. Und man möchte dieses stolze Bewusstsein der Volkssouveränität, diesen frohen Mut der Selbstregierung heute so ergänzen: … und auch nicht der gute Geist einer fdGO. Demokratische Herrschaft ist nicht ein für alle Mal zu bewahren, auch nicht von den Deutschen, die diese Sicherheit offenbar so nötig haben. Wo immer eine „freiheitliche demokratische Grundordnung“ als höhere Legitimität gegen eine „bloß“ formale Legalität ausgespielt wird, ist die Freiheit in Gefahr. Eben deshalb ist die Frage nach dem Umgang mit dem legalen Radikalismus so wichtig. Nun kann und sollte man aber, was das Grundgesetz betrifft, zwischen seinen obsoleten Ausnahmetatbeständen und seiner bewährten Normalverfassung unterscheiden. Auf dem Boden der demokratischen Spielregeln des Grundgesetzes schulden die Bürgerinnen und Bürger dem Staat nicht etwa gesinnungsmäßige Loyalität, sondern nur äußerlichen Gesetzesgehorsam. Eine „ethisierte“, moralisch aufgeladene Verfassung ist ein „Danaergeschenk“ (Ulrich K. Preuß).24 Bürgerliche Freiheit, die sich vom Staat vorschreiben 23 Vgl. Christoph Gusy, Weimar – die wehrlose Republik? Tübingen 1991; Horst Dreier, Die drei gängigsten Irrtümer über die Weimarer Reichsverfassung (2009), in: ders., Staatsrecht in Demokratie und Diktatur. Tübingen 2016, S. 49 ff.; Horst Dreier, Revolution und Recht, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 69 (2014), S. 805 ff. (u. a. zur vermeintlichen Legalität der Machtergreifung) sowie die Sammelbände Horst Dreier/Christian Waldhoff (Hrsg.), Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung. München 2018 und Christoph Gusy/Robert Christian van Ooyen/Hendrik Wassermann (Hrsg.), 100 Jahre Weimarer und Wiener Republik – Avantgarde der Pluralismustheorie. Recht und Politik. Beiheft 3 (2018). 24 Ulrich K. Preuß, Legalität – Loyalität – Legitimität, in: Leviathan 5 (1977), S. 450 ff. 160

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lässt, ob sie „richtig“ oder „falsch“ ausgeübt, ob sie gebraucht oder „missbraucht“ wird, ist keine. Der demokratische Verfassungsstaat bleibt ein Wagnis, eine „riskante Ordnung“ (Horst Dreier). Es geht darum, realistisch mit jenem „Betriebsrisiko“ zu rechnen, das jede Ordnung der Freiheit mit sich bringt und im Übrigen sorgfältig zwischen systemimmanenten und systemsprengenden Gefahren zu unterscheiden.25 Eine offene Gesellschaft lebt mit den Gefahren, die aus kollektiver Selbstbestimmung und individueller Meinungsfreiheit erwachsen. Friedrich Karl Fromme, der langjährige rechtspolitische Redakteur der FAZ, entwickelte früh schon ein Gespür für die Hinfälligkeit der (von ihm geschätzten) streitbaren Demokratie: Dass in den sechziger Jahren eine faktische Nachfolgepartei der KPD als „DKP“ legalisiert wurde; dass es in den neunziger Jahren politisch nicht opportun erschien, die Nachfolgepartei der SED, die PDS, zu verbieten, – und dass 2003 das erste Verbotsverfahren gegen die NPD an den V-Leuten des Verfassungsschutzes scheiterte – all dies beklagte er als Schwäche, ja als Niedergang der „streitbaren Demokratie“. Und er vermutete, dass diese sich davon nicht mehr erholen werde. Zu Recht, wie man heute weiß. Frommes hellsichtige Diagnose lautete, dass die Konzeption der streitbaren Demokratie „zeitbezogen und zeitgebunden war, und dass sich auch die zweite deutsche Demokratie letzten Endes ohne dieses Verfassungsprinzip behelfen muss (…).“26 Im Kern steht eine Revitalisierung der Demokratie zur Debatte. Der Meinungskampf über alle Fragen von öffentlichem Interesse wird im Modus der Konfliktbereitschaft ausgetragen – und des wechselseitigen Respekts. Wer politische Fragen moralisiert, läuft Gefahr, Andersdenkenden ihre Meinung übel zu nehmen, ja sie als unanständige Subjekte zu verachten.27 „Schrille Töne, persönliche Angriffe, vermeintliche Tabubrüche – wo die Grenze zwischen lebhafter Auseinandersetzung und Verrohung der politischen Sitten verläuft“, erklärte Andreas Voßkuhle in einer Rede über den Populismus, „wird immer umstritten sein. (…) Die Demokratie des Grundgesetzes ist keine ,Kuschel-Demokratie‘. Sie lebt von der leidenschaftlichen Auseinandersetzung, zu der auch eine kraftvolle Rhetorik und prägnante Zuspitzungen gehören.“28

25 Claus Leggewie/Horst Meier, Vom Betriebsrisiko der Demokratie. Versuch, die deutsche Extremismusdebatte vom Kopf auf die Füße zu stellen, in: Eckhard Jesse (Hrsg.), Wie gefährlich ist Extremismus? Baden-Baden 2015, S. 163 ff. 26 Zitiert nach Eckhard Jesse, Streitbare Demokratie und politischer Extremismus von 1949 bis 1999, in: ders., Demokratie in Deutschland. Diagnosen und Analysen. Hrsg. von Uwe Backes und Alexander Gallus. Köln 2008, S. 317 ff., 325. 27 Dazu pointiert Horst Dreier, Vom Schwinden der Demokratie, in: Friedrich Wilhelm Graf/ Heinrich Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie. München 2018, S. 29 ff., 78 f. 28 Demokratie und Populismus. In: FAZ vom 23. 11. 2017. Recht und Politik, Beiheft 4

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VI. Was tun? Die rechtlich und politisch angemessene Lösung wäre zweifellos eine Verfassungsreform in radikaldemokratischer Absicht: ersatzlose Streichung der Grundrechteverwirkung (Art. 18), Rückführung des Verbots von Parteien (Art. 21) und Vereinigungen (Art. 9) auf ein Instrument der rationalen Gefahrenabwehr: auf die Grenze von Rechtsbruch und Gewalt.29 Das käme einem Befreiungsschlag gleich. Freilich ist dafür eine Zweidrittelmehrheit nicht in Sicht. Nach wie vor gilt die fdGO vielen als sakrosankt – und wer wollte schon am Allerheiligsten Hand anlegen? Bleibt politischer Pragmatismus, und das ist nicht gerade wenig. Immerhin ist die Aufgabe gestellt, in Deutschland den Geist der liberalen Demokratie zu stärken. Das heißt, sich der politischen Auseinandersetzung mit dem Verbalradikalismus ohne Wenn und Aber zu stellen: sich also insoweit aller Anträge auf Grundrechteverwirkung oder Organisationsverbot strikt zu enthalten. Denn es gibt hier keine juristische Antragsautomatik, sondern nur ein „pflichtmäßiges Ermessen“, das die Antragsberechtigten politisch verantworten.30 Die Waffen der „streitbaren Demokratie“ sind eine juristische Versuchung des Grundgesetzes, der politisch zu widerstehen ist. Schließlich korrumpiert bereits das Wissen um ihre bloße Existenz das demokratische Bewusstsein: Man schielt nach der „streitbaren“ Hintertür, statt den eigentlich fälligen Streit zu führen. Es geht auch anders: Wer nur will, kann schon heute volle, unverkürzte Demokratie praktizieren – und damit staatliche Eingriffe in die Offenheit des politischen Prozesses, in die Parteien- und Meinungsfreiheit auf Fälle beschränken, in denen Gefahr im Verzug ist.31 So verstanden bietet das Grundgesetz einen weiten Rahmen für den politischen Wettbewerb. Ob eine Position radikal oder „extremistisch“ ist, ob einer Verfassungsfreund oder womöglich Gegner der Demokratie ist, das zu klären bleibt der öffentlichen Debatte vorbehalten. Anders gesagt: Es ist einzig und allein eine Frage der Politik, ob diese auf die präventiven Eingriffsreserven verzichtet oder nicht. Eine solche Abstinenz, man könnte auch von demokratischer Reife sprechen, ermöglichte den mentalen Übergang von einer streitbaren zu einer liberalen Demokratie.32 Ob dieser Perspektivwechsel vom Verfassungsschutz zum Republikschutz, der sich bereits in Ansätzen vollzieht, wirklich gelingt, steht in den Sternen.

29 Klassisch rechtsstaatlich die Verbotsvariante in Art. 9 II GG gegen Vereinigungen, „deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen“. 30 So das KPD-Verbotsurteil, BVerfGE 5, 85, 113 – dazu Horst Meier, Parteiverbote und demokratische Republik. Baden-Baden 1993, S. 222 ff. 31 Dagegen lässt das BVerfG die bloße Gefahr einer Gefahr genügen, vgl. Recht und Politik, Beiheft 1 (Fn. 8), S. 45 f., 70 ff. 32 Vgl. Horst Meier, „Streitbare“ oder liberale Demokratie? Wie man in Deutschland und den USA mit „nichtgewalttätigen Extremisten“ umgeht, in: Recht und Politik 2015, S. 193 ff. und Claus Leggewie/Horst Meier, Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie. Reinbek 1995. 162

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Der Abschied, oder besser gesagt die Emanzipation von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wird lange, ziemlich lange dauern.33 Sagte ich Emanzipation? Ja, Emanzipation von der fdGO! Das mag für viele empörend verantwortungslos, gar schmerzlich abwegig klingen; es mag grob fahrlässig anmuten angesichts antidemokratischer Umtriebe. Und doch könnte dieser Abschied am Ende befreiend und belebend wirken. Befreiend, weil endlich der Ballast einer so schädlichen wie nutzlosen deutschen Ideologie abgeworfen wird. Belebend, weil unverkürzte liberale Demokratie die „Blessings of Liberty“ sichert: für uns selbst und unsere Nachkommen. Ein freies Volk ist ein Volk, in dem eine genügende Proportion an aufrechten Menschen vorhanden ist. An stolzen Bürgerinnen und Bürgern, die ihre eigene Urteilskraft schärfen; an eigensinnigen Leuten, die sich nicht gängeln lassen – auch nicht im Namen einer verblasenen Grundordnung. Auf diese kritische Masse kommt es an.

33 Dazu 1992 Claus Leggewie/Horst Meier, Die Berliner Republik als streitbare Demokratie? Vorgezogener Nachruf auf die freiheitliche demokratische Grundordnung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1992, S. 598 ff. Recht und Politik, Beiheft 4

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AUTOREN DIESES HEFTES Becker, Manuel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am und Geschäftsführer des Instituts für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Selbstständige Publikationen (in Auswahl): Geschichtspolitik in der „Berliner Republik“. Konzeptionen und Kontroversen, Wiesbaden 2013. Ideologiegeleitete Diktaturen in Deutschland. Zu den weltanschaulichen Grundlagen im „Dritten Reich“ und in der DDR, Bonn 2009. Manuel Becker/Volker Kronenberg/Hedwig Pompe (Hrsg.): Fluchtpunkt Integration. Panorama eines Problemfeldes, Wiesbaden 2017. Manuel Becker/ Christioph Studt (Hrsg.): Die Ämter und ihre Vergangenheit im „Dritten Reich“. „Horte des Widerstands“ oder „verbrecherische Organisationen“, Augsburg 2013. Manuel Becker/Stephanie Bongartz (Hrsg.): Die weltanschaulichen Grundlagen des NS-Regimes. Ursprünge, Gegenentwürfe, Nachwirkungen, Münster 2011. Decker, Frank, Prof. Dr. rer. pol., seit 2001 Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn. Veröffentlichungen zuletzt: Die Zukunft der Demokratie, Bonn 2019 (hgg. mit Jochen Dahm und Thomas Hartmann); Ausstieg, Souveränität, Integration. Der Brexit und seine Folgen für die Zukunft Europas, Bonn (hgg. mit Philipp Adorf und Ursula Bitzegeio); Parteiendemokratie im Wandel, 2. Aufl., BadenBaden 2018; Die USA – eine scheiternde Demokratie, Frankfurt a.M. 2018 (hgg. mit Patrick Horst und Philipp Adorf); Handbuch der deutschen Parteien, 3. Aufl, Wiesbaden 2018 (hgg. mit Viola Neu). Franzius, Claudio, Prof. Dr. jur., Universitätsprofessor, Selbstständige Publikationen: Recht und Politik in der transnationalen Konstellation, Frankfurt/M. 2014. Hönes, Ernst-Rainer, Prof. Dr. jur., Dr. rer. publ. Ministerialrat a.D.. Selbständige Publikationen: Kommentare zum DSchG Rheinland-Pfalz, Handbuch städtebaulicher Denkmalschutz, 2005, 993 S., Entstehung des städtebaulichen Denkmalschutzes, 2003, 901 S. Ipsen, Jörn, Prof. Dr. jur. (Niedersachsenprofessur), Universität Osnabrück, Präsident des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs a.D. Kronenberg, Volker, Prof. Dr., Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn, Akademischer Direktor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Selbstständige Publikationen (in Auswahl): Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation. 3., überarbeitete und aktualisierte Auflage, Wiesbaden 2013. Jürgen Rüttgers. Eine politische Biographie, München 2008. Patriotismus 2.0. Gemeinwohl und Bürgersinn in der Bundesrepublik Deutschland, München 2010. (Hrsg.): Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik. Der „Historikerstreit“. 20 Jahre danach, Wiesbaden 2008. Lepsius, Oliver, Prof. Dr. jur., LL.M., Lehrstuhl für Öffentl. Recht und Verfassungstheorie, Universität Münster. Neuere Publikationen: Relationen. Plädoyer für eine bessere Rechtswissenschaft, Tübingen 2016. Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen 2015 (mit A. Doering-Manteuffel und B. Greiner). Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, Berlin 2011 (mit M. Jestaedt/C. Möllers/C. Schönberger) sowie Interviewbuch mit Dieter Grimm, „Ich bin ein Freund der Verfassung“, Tübingen 2017 (gemeinsam mit C. Waldhoff und M. Roßbach). Meier, Horst, Dr. jur., Autor & Jurist (www.horst-meier-autor.de). 2017 Pressepreis des Deutschen Anwaltvereins für den DLF-Radioessay „Über die Parteienfreiheit“. 2017 erschien Horst Meier/

Recht und Politik, Beiheft 4 (2020), 164 – 165

Duncker & Humblot, Berlin

Autoren dieses Heftes Claus Leggewie/Johannes Lichdi, Das zweite Verbotsverfahren gegen die NPD. Analyse – Prozessreportage – Urteilskritik (Beiheft 1 von Recht und Politik). Berlin: Duncker & Humblot. 2019 sind erschienen die 2. Aufl. von Claus Leggewie/ Horst Meier, Nach dem Verfassungsschutz. Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik. Berlin: Hirnkost und Ralf Dreier, Die Mitte zwischen Holz und Theologie. Eine Art Bilanz (zusammengestellt & hrsg. von Horst Meier). Baden-Baden: Nomos. Möllers, Martin H. W., Prof. Dr., Dipl. Soz. Wiss., Studienassessor, Politikwissenschaftler und Jurist. Niclauß, Karlheinz, Prof. Dr. rer. pol. em. an der Universität Bonn (Politische Wissenschaft). Dr. phil. Selbständige Publikationen: Der Weg zum Grundgesetz, Paderborn 1998; Kanzlerdemokratie, Wiesbaden 2015 (3. Auflage); Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Paderborn 2002 (2. Auflage). Ooyen, Robert Chr. van, Prof. Dr. phil., RD, Honorarprofessor für Politikwissenschaft an der TU Dresden, lehrt Staats- und Gesellschaftswissenschaften an der Hochschule des Bundes, Lübeck, und ist Mitglied der RuP-Redaktion, Berlin. Vorländer, Hans, Prof. Dr. phil., Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte, Institut für Politikwissenschaft, sowie Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung und des Mercator Forums Migration und Demokratie, TU Dresden; Mit-Herausgeber der Zeitschrift für Politikwissenschaft. Buchveröffentlichungen u. a.: Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, Wiesbaden 2006; Demokratie, 3. Aufl., München 2019. Weber, Hermann, Prof. Dr., Honorarprofessor für Öffentliches Recht an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und Schriftleiter der Neuen Juristischen Wochenschrift a. D. Wersig, Maria, Prof. Dr. phil., Professorin für Rechtliche Grundlagen der Sozialen Arbeit am FB Angewandte Sozialwissenschaften der FHS Dortmund und Präsidentin des Deutschen Juristinnenbunds. Zivier, Ernst R. †, Dr. jur. (1933 – 2019), Regierungsdirektor a. D. Langjähriger Redakteur von Recht und Politik.

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