20 Jahre Sächsische Verfassung [1 ed.] 9783428537938, 9783428137930

Der Sammelband vereint Vorträge, die im Rahmen eines Symposiums aus Anlass des 20. Jahrestages des Inkrafttretens der Sä

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20 Jahre Sächsische Verfassung [1 ed.]
 9783428537938, 9783428137930

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1245

20 Jahre Sächsische Verfassung Herausgegeben von

Arnd Uhle

Duncker & Humblot · Berlin

ARND UHLE (Hrsg.)

20 Jahre Sächsische Verfassung

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1245

20 Jahre Sächsische Verfassung

Herausgegeben von

Arnd Uhle

Duncker & Humblot · Berlin

gefördert durch die

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-13793-0 (Print) ISBN 978-3-428-53793-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-83793-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 6. Juni 1992 trat als erste Verfassung der neuen Bundesländer die Verfassung des Freistaates Sachsen in Kraft. Mit ihr hat der sächsische pouvoir constituant nicht nur die staatsrechtlichen Grundlagen für den nach dem historischen Umbruch von 1989/1990 wiederbegründeten Freistaat geschaffen, sondern zugleich die Möglichkeit genutzt, im Rahmen der grundgesetzlich vorgezeichneten Strukturentscheidungen eigene gestalterische Akzente zu setzen. Das zeigt sich zunächst etwa bei den Bestimmungen über die Grundlagen des Staates und bei der Formulierung der Staatsziele. So ist der Freistaat nicht nur als ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat verfasst, sondern auch auf den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Kultur verpflichtet. Zudem treffen ihn besondere Pflichten gegenüber den Bürgern sorbischer Volkszugehörigkeit. Eigenständigkeit gegenüber dem Grundgesetz beweist die Sächsische Verfassung indessen nicht nur bei der Abfassung entsprechender Grundlagen- und Staatszielbestimmungen, sondern auch mit der Aufnahme einer expliziten Bestimmung über die Bindungswirkung der von ihr statuierten Staatsziele. So normiert sie die Pflicht des Freistaates, die verfassungsrechtlich niedergelegten Staatsziele „nach seinen Kräften“ anzustreben – eine Formulierung, die verdeutlicht, dass diese Verpflichtung nur im Rahmen des Möglichen besteht. Eigenes Profil gewinnt die Sächsische Verfassung darüber hinaus auch in ihrem Grundrechtskatalog. Denn die Grundrechtsverbürgungen, die die Verfassung zugleich als Vollverfassung ausweisen, lehnen sich nicht nur an die Grundrechte des Grundgesetzes an, sondern ergänzen diese zum Teil auch. Das zeigt sich etwa an der Positivierung eines eigenständigen Grundrechts auf Datenschutz, aber auch an der Normierung eines expliziten Rechts auf zügige Gerichtsverfahren. Eigenständige Regelungen enthält die Verfassung des Freistaates Sachsen schließlich auch im Hinblick auf die Beteiligung der Bürger an der Gesetzgebung. Das belegen die detaillierten Bestimmungen zur Volksgesetzgebung, die eine unmittelbare Mitsprache der Bürger ermöglichen und Ausdruck des historisch gewachsenen Selbstbewusstseins der Sachsen sind, das in der friedlichen Revolution von 1989 bestärkt worden ist. Mit den hier skizzierten Charakteristika prägt die am 27. Mai 1992 beschlossene Sächsische Verfassung seit nunmehr zwei Jahrzehnten die Entwicklung des staatlichen Lebens in Sachsen. In dieser Zeitspanne hat sie sich vielfältig bewährt. Sie hat sich als ebenso entwicklungsoffene wie stabile rechtliche Grundordnung des sächsischen Freistaates und als tragfähiges Fundament für das gesellschaftliche Zusammenleben etabliert. Nicht zuletzt deshalb ist sie bis zum 20. Jahrestag ihres Inkrafttretens unverändert geblieben. Das sagt viel über ihre gelungene Grundanlage aus, aber auch viel über ein in Sachsen lebendiges Bewusstsein von Rang, Würde und Eigenart einer Verfassung. Gleichwohl steht die Sächsische Verfassung, wie jede Ver-

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Vorwort

fassung, in ihrer Zeit – und damit immer wieder auch vor neuen Herausforderungen. Das belegt nicht zuletzt die just in ihrem Jubiläumsjahr in Gang gekommene Diskussion um die Aufnahme eines Neuverschuldungsverbots, das nun den Anlass für die erste Verfassungsänderung seit 1992 bilden dürfte. Vor diesem Hintergrund bietet der 20. Jahrestag des Inkrafttretens der Sächsischen Verfassung Anlass, gleichermaßen ihre Herkunft wie ihren Gehalt, ihre Wirkung wie ihre Zukunftsfähigkeit neu zu bedenken. Aus diesem Grunde haben der an der Juristischen Fakultät der TU Dresden bestehende Stiftungslehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere für Staatsrecht und Staatswissenschaften und die Sächsische Staatskanzlei am 6. Juni 2012 – dem Tage des Verfassungsjubiläums – ein Symposium mit dem Titel „20 Jahre Sächsische Verfassung“ durchgeführt. Dieses bildete zugleich den Auftakt der neuen Veranstaltungsreihe der „Dresdner Symposien zum Staatsrecht“. Gefördert wurde es von der Landeshauptstadt Dresden sowie von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Inhaltlich spannte es den Bogen von der Entstehung der Sächsischen Verfassung bis zu ihren Charakteristika und von ihrer sich in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen widerspiegelnden Prägekraft bis hin zu ihren Zukunftsperspektiven. Der vorliegende Sammelband vereint auf vielfachen Wunsch die im Rahmen des Symposiums gehaltenen Vorträge, teilweise in erweiterter und vertiefter Form. Ergänzt werden diese um zwei weitere Abhandlungen zur Sächsischen Verfassung, die ebenfalls aus Anlass des Verfassungsjubiläums entstanden sind. Gemeinsam werden sie hiermit der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Für die vertrauensvolle Kooperation bei der Organisation des Symposiums danke ich dem Chef der Sächsischen Staatskanzlei, Herrn Staatsminister Dr. iur. Johannes Beermann, für die großzügige finanzielle Unterstützung – nicht zuletzt auch bei der Veröffentlichung des vorliegenden Tagungsbandes – der Oberbürgermeisterin der Landeshauptstadt Dresden, Frau Helma Orosz, und für die fruchtbare Zusammenarbeit dem Landesbeauftragten der Konrad-Adenauer-Stiftung für Sachsen, Herrn Dr. Joachim Klose. Vielfältigen Dank für die Unterstützung bei der Durchführung des Symposiums und der Erarbeitung der hier vorgelegten Publikation schulde ich ferner den wissenschaftlichen und studentischen Mitarbeitern meines Lehrstuhls, namentlich Herrn Thomas Wolf, Frau Alexandra Brückner und Frau Sophie Schurowski sowie meiner Sekretärin, Frau Katrin Börner. Den Geschäftsführern des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Dr. Florian Simon (LL.M.) und Prof. Dr. iur. h.c. Norbert Simon, danke ich für die freundliche Aufnahme des Bandes in die Reihe der „Schriften zum Öffentlichen Recht“ sowie für die hervorragende verlegerische Betreuung. Dresden, im Frühjahr 2013

Arnd Uhle

Inhaltsverzeichnis Johannes Beermann Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil A Vom Werden der Verfassung Steffen Heitmann Zur Entstehung der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992 . . . . . . . . . . . . .

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Teil B Vom Gehalt der Verfassung Thilo Rensmann Die Grundlagen- und Staatszielbestimmungen sowie die Grundrechte der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Fetzer Die staatsorganisationsrechtlichen Bestimmungen der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992 unter besonderer Berücksichtigung des Demokratieprinzips und seiner Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jochen Rozek Die Staatsorgane in der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992 . . . . . . . . . .

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Helmut Goerlich und Torsten Schmidt Das Staatskirchenrecht der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992 . . . . . . . 111

Teil C Vom Wirken der Verfassung Birgit Munz Die Sächsische Verfassung vom 27. Mai 1992 im Spiegel der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

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Inhaltsverzeichnis

Teil D Von der Zukunft der Verfassung Kurt Biedenkopf Von der Zukunft der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992 . . . . . . . . . . . . 167 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Grußwort Von Johannes Beermann Ich darf Ihnen die allerherzlichsten Grüße unseres Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich übermitteln. Er sprach im Sächsischen Landtag vor den Verfassungsvätern und -müttern anlässlich des 20. Geburtstages der Sächsischen Verfassung. Ich bin der Juristischen Fakultät mit Herrn Professor Uhle an der Spitze für den Gedanken und die Organisation des Symposiums außerordentlich dankbar, dass er sich diesem noch jungen historischen Ereignis mit hochkarätigen Referenten widmet. Das Symposium ermöglicht einen Rückblick auf 20 Jahre Geltung der Verfassung für den Freistaat Sachsen, bietet aber zugleich auch Anlass für grundsätzliche staatsund verfassungsrechtliche Betrachtungen. Es gibt Gelegenheit für eine politische Bewertung der Entwicklung des mit der Deutschen Einheit wieder gegründeten Freistaates Sachsen. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Ausgangslage: Die Abgeordneten des im Oktober 1990 gewählten ersten Sächsischen Landtages hatten vielfältige Aufgaben zu bewältigen. Ein Staatswesen musste völlig neu aufgebaut und organisiert werden. Die Infrastruktur war marode. Die Bevölkerung erwartete von der Politik vor allem schnelle Lösungen zum Wiederaufbau der Wirtschaft. Das wichtigste Problem für die Menschen hieß Arbeit. Vor diesem Hintergrund mag damals die Beratung über eine Landesverfassung manchen eher abstrakt angemutet haben. Trotzdem war es notwendig, dem wiedererstandenen Freistaat Sachsen ein Herz, nämlich eine Verfassung zu geben. Mit einer Verfassung konnten die Grundlagen des sächsischen Staates aufgrund der erlebten Geschichte grundlegend neu geschaffen werden. Es herrschte eine einmalige Aufbruchstimmung. Die Erfahrungen mit dem Unrecht der Diktatur waren den Menschen präsent und beeinflussten die Meinungsbildung sehr stark. Ihre Freiheit hatten sich mutige Frauen und Männer in der Friedlichen Revolution erstritten. So wurde der erste Entwurf einer Verfassung – der sogenannte Gohrischer Entwurf – zu einem freiheitlichen Gegenentwurf zum Unrechtsstaat DDR. Zwar hatten 1990 ehemalige Eliten der SED auch an Vorschlägen gebastelt, an einem erneuerten Sozialismus mit demokratischen Elementen. Derartige rückwärtsgewandte Vorstellungen wurden aber schnell verworfen.

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Johannes Beermann

Sachsen knüpfte mit der Verfassung von 1992 bewusst an seine prägende Historie an. Die Verfassung zeugt vom Selbstbewusstsein der Sachsen – vom Stolz auf eine Kulturgeschichte, die die Zeiten der Diktatur weit überstrahlt. Ausdruck des Anspruches an einen neu gestalteten Freistaat Sachsen war die Ausgestaltung als Vollverfassung. Ebenso konsequent ist die klare Anwendung des Prinzips der Subsidiarität. Der Freistaat Sachsen regelt seine Angelegenheiten zunächst selbst, solange es nicht um übergeordnete Interessen geht, wie etwa die Landesverteidigung. Auf kommunaler Ebene zu lösende Aufgaben sind den Gemeinden zugewiesen. Sie haben einen Anspruch auf ausreichende Finanzausstattung. Soweit ihnen vom Freistaat zusätzliche Aufgaben übertragen werden, garantiert die Verfassung den Kommunen die Erstattung der zusätzlichen Kosten. Kurz: Die Ausgabenlast folgt der Aufgabenlast, bekannt als sog. Konnexitätsprinzip. Ein selbstbewusstes Volk ist an den Entscheidungen beteiligt. Landtag und Volk ergänzen einander als Gesetzgeber. Die wichtigsten Akteure der Beratungen in den Jahren 1991 und 1992 sind heute beim Symposium vertreten. Ministerpräsident Professor Kurt Biedenkopf spricht zur Zukunft der Verfassung. Auch ein wesentlicher Zeitzeuge, Justizminister Steffen Heitmann, wird das Werden der Verfassung bis zum historischen Beschluss des Landtages am 26. Mai 1992 beschreiben. Zwanzig Jahre Sächsische Verfassung waren aus Sicht der Staatsregierung zwanzig gute Jahre für die Entwicklung eines freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens. Das ist neben der wissenschaftlichen Erörterung auch ein Grund, das Jubiläum würdig zu begehen. Ich denke, wir können eine sehr positive Bilanz ziehen. Und ich will den Frauen und Männern im ersten Landtag danken, die in sehr intensiver Diskussion über einzelne Artikel lange gerungen haben. Der federführende Verfassungs- und Rechtsausschuss hat sehr viel Arbeit investiert. Das Ergebnis hat sich für uns alle gelohnt. In den zwanzig Jahren seit Verabschiedung hat es keine Veränderung der verfassungsrechtlichen Bestimmungen gegeben. Die Sächsische Verfassung vom 27. Mai 1992 hat den Praxistest bestanden. Dazu hat auch das Verfassungsgericht mit gelegentlich klarstellenden Entscheidungen beigetragen. Es kennzeichnet gerade einen funktionierenden Rechtsstaat, dass im Zweifel eine unabhängige juristische Instanz über strittige Auslegung der Regelungen entscheidet. Erstmals seit 1992 gibt es nun Sondierungsgespräche im Landtag über Veränderungen. Der Vorschlag zur Einführung eines verbindlichen Verbots neuer Schulden wird beraten. Die Staatsregierung betreibt schon bisher eine Haushaltspolitik, die ohne neue Schulden auskommt. Ein Verbot neuer Schulden mit Verfassungsrang bände dann auch zukünftige Landtage und Regierungen. Vor dem Hintergrund der Schuldenkrise vieler Volkswirtschaften in Europa ist die Diskussion im Landtag über eine nachhaltige Finanzpolitik nachvollziehbar.

Grußwort

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Ich will diese Diskussion hier nicht vertiefen. Es ist nicht an der Staatsregierung dem Landtag vorzugreifen. Ich freue mich vielmehr auf eine substanzielle Bewertung der Verfassungswirklichkeit in unserem Freistaat Sachsen durch die nachfolgenden Referenten.

Teil A Vom Werden der Verfassung

Zur Entstehung der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992 Von Steffen Heitmann I. Einleitung Das heutige Symposium reiht sich ein in den Reigen von Gedenkveranstaltungen und Veröffentlichungen zum 20. Jahrestag der Verabschiedung der Sächsischen Verfassung. Erst gestern fand eine würdige Veranstaltung im Sächsischen Landtag statt. Ich freue mich darüber, denn wir haben allen Grund, uns dankbar zurück- und hoffnungsvoll vorausschauend des Werdens und Wirkens dieses Grundtextes unserer neuen sächsischen Staatlichkeit zu erinnern. Denn nicht nur sein Inhalt sondern auch seine Entstehungsgeschichte und der zwanzigjährige Umgang mit ihm haben ganz wesentlich zur Integration und zur Stabilität unseres Freistaates beigetragen und unterscheiden sich von dem der anderen ostdeutschen Landesverfassungen. So ist es allein in Sachsen gelungen, den Prozess der Verfassungsgebung in einer kontinuierlichen, bruchlosen Linie von den Tagen der friedlichen Revolution über die ersten freien Wahlen, die Wiedervereinigung, die Wiedererrichtung des Freistaates und die Konstituierung seines Landtages bis zur Beschlussfassung durch den Landtag durchzuhalten. Bei der erneuten Beschäftigung mit dem Thema, das ich seit vielen Jahren beiseitegelegt hatte, wurde mir bewusst, wie viel ich auch persönlich diesem Verfassungsgebungsprozess verdanke. Dem Kirchenjuristen, dem der Dienst in der evangelischen Kirchenverwaltung nicht nur eine Schule der Demokratie, sondern auch der Rechtsstaatlichkeit gewesen war, tat sich einerseits selbstverständlich, andererseits zwingend ein neues Aufgabenfeld auf. Wem wird es schon geschenkt, die Neuverfassung des eigenen geliebten Gemeinwesens in einem revolutionären Aufbruch von Anfang bis Ende mitzugestalten und mitzubestimmen? Ohne Zweifel sind diese zweieinhalb Jahre auch ein Höhepunkt meines beruflichen Wirkens. Bewusst wurde mir allerdings auch, wie fern uns heute angesichts einer gänzlich veränderten weltpolitischen Lage und einer dramatischen Krise der Europäischen Union die damaligen Ereignisse gerückt sind. Die vielen kleinen unerwarteten revolutionären Aufbrüche verdichteten sich damals zu einem Strom und mischten sich mit welthistorischen Vorgängen wie dem Bruch des Eisernen Vorhanges und der Auflösung des Ost-West-Konfliktes. Das führte zu einem rauschhaften Erleben eines Umbruchprozesses, in dem alles möglich schien, und zu einem unbändigen demokratischen Gestaltungswillen. Wie exorbitant die damaligen Geschehnisse auch außer-

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Steffen Heitmann

halb Deutschlands empfunden wurden, zeigt zum Beispiel die These vom „Ende der Geschichte“,1 die damals auf den Markt geworfen und durchaus nicht allenthalben gleich verworfen wurde. Wie mental so gänzlich anders die Situation nach 20 Jahren war und ist, mag auch ein Beispiel illustrieren: Einer der Großhistoriker der westdeutschen Bundesrepublik klassifiziert die DDR als „Fußnote der Geschichte“.2 Man darf vermuten, dass HansUlrich Wehler diese Einordnung vor allem deshalb vornimmt, um sich am Ende seines Historikerlebens nicht korrigieren zu müssen. Der Überhöhung der zwölfjährigen Herrschaft des Nationalsozialismus und ihres schrecklichen Endes als zentrales Ereignis deutscher Geschichte korrespondiert die Marginalisierung der vierzigjährigen zweiten Diktatur auf deutschem Boden und ihres friedlichen Endes. Deshalb verwundert es auch nicht, wie gering das Wissen heutiger Schülergenerationen über die jüngste europäische Geschichte ist. Über 70 Prozent der Schüler in Nordrhein-Westfalen wissen nicht, wann die Mauer gebaut wurde. Noch mehr wissen nicht, wann die DDR gegründet wurde und dass es sich um eine Diktatur handelte.3 Es ist also gut, sich zu erinnern. Denn die sächsische Verfassung versteht sich nicht als neutraler Rechtstext, sondern bekennt sich klar zum historischen Ort ihres Entstehens nach der Überwindung zweier Diktaturen.4 Wilhelm von Humboldt hat in seiner Denkschrift über die deutsche Verfassung geschrieben: „Verfassungen gehören zu den Dingen, deren es einige im Leben gibt, deren Dasein man sieht, aber deren Ursprung man nie ganz begreift und daher noch weniger nachbilden kann. Jede Verfassung, auch als ein bloßes theoretisches Gewebe betrachtet, muss einen materiellen Kern ihrer Lebenskraft in der Zeit, den Umständen, dem Nationalcharakter vorfinden, der nur der Entwicklung bedarf. Sie rein nach den Prinzipien der Vernunft und Erfahrung gründen zu wollen, ist in hohem Maße misslich…“.5 Die sächsische Verfassung zeigt den „materiellen Keim ihrer Lebenskraft“ und versucht, ihn fruchtbar zu machen für die Zukunft. Erstaunlich und erfreulich ist, dass die Neuentstehung des Freistaates Sachsen und die Entstehung seiner Verfassung nach 22 bzw. 20 Jahren bereits zeit- und rechtsgeschichtlich weitgehend aufgearbeitet sind. Ich nenne hier nur die von großer Empa1 Vgl. Francis Fukuyama, The end of history?, The National Interest, Summer 1989. Ausführlich in: The End of History and the Last Man, 1992. 2 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bundesrepublik und DDR 1949 – 1990, Bd. 5, 2008, S. 361. Wehler nimmt mit dieser Formulierung ein fragendes Diktum des Schriftstellers Stefan Heym auf. 3 Vera Lengsfeldt, in ihrer Besprechung des Buches von Assmann/Graf v. Kalmein (Hrsg.): Erinnerung und Gesellschaft. Formen der Aufarbeitung von Diktaturen in Europa, 2011, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Mai 2012, S. 6. 4 Vgl. Präambel, Art. 116, 117, 118, 119 der Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992, SächsGVBl. S. 243. 5 Wilhelm von Humboldt, Denkschrift über die deutsche Verfassung vom Dezember 1813, in: Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Gesammelte Schriften, Bd. 11, 1903, S. 99.

Zur Entstehung der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992

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thie und tiefgründiger Sachkenntnis getragenen Arbeiten von Hans von Mangoldt, einem wahren Vater unserer Verfassung.6 Ich verweise auf die geradezu epische, detailreiche Darstellung der Bildung des Freistaates Sachsen von Michael Richter.7 Ich denke an die jüngsten Arbeiten von Bernd Kunzmann, einem anderen Urgestein der sächsischen Verfassungsgebung, in denen er mit bewundernswerter, seziererischer Akribie die Machtverhältnisse in einer Zeit hektischer Veränderungen klärt und Wurzeln des Gohrischer Entwurfs der Verfassung freilegt. Er schließt damit die wohl letzte Lücke der Entstehungsgeschichte.8 Auf zwei der Aufsätze komme ich am Schluss noch einmal zurück. Zu verweisen ist auch auf die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses, die seit 1997 öffentlich zugänglich sind.9 Schließlich habe ich selbst mich im Verlaufe der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mehrfach zur Entstehung und zum Inhalt unserer Verfassung geäußert.10 Das kann man alles nachlesen. Was also, habe ich mich jetzt bei der Vorbereitung auf diesen leichtfertig vor fast einem Jahr zugesagten Vortrag gefragt, was soll ich Ihnen vortragen, ohne mich der Gefahr auszusetzen, als Plagiator entlarvt zu werden? Ich habe mich entschieden,

6 Vgl. u. a. Hans von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer. Einführung und synoptische Darstellung, 2. erw. Aufl. 1997; ders., Entstehung und Grundgedanken der Verfassung des Freistaates Sachsen, Juristische Vorträge, Heft 20, 1996; ders., 20 Jahre Sächsische Verfassung, SächsVBI. 2012, S. 146. 7 Michael Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen. Friedliche Revolution, Föderalisierung, deutsche Einheit 1989/90, 2004. 8 Bernd Kunzmann, Z Bozˇej pomocu. Vor 20 Jahren wurde der Freistaat Sachsen wieder gegründet, Neues Archiv für sächsische Geschichte 82 (2011), S. 191; ders., Im Reagenzglas der Ideen. Eine Spektralanalyse zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung, JöR 60 (2012), S. 131; ders., Wie in Stein gehauen – Die letzten 20 Jahre sächsischer Verfassungsgeschichte im Vergleich, SächsVBI. 2012, S. 152. 9 Schimpff/Rühmann (Hrsg.): Die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen. Materialien und Studien des Sächsischen Landtages, Bd. 1, 1997. 10 Steffen Heitmann/Arnold Vaatz, Nachbemerkung, in: Koordinierungsausschuss für die Bildung des Landes Sachsen (Hrsg.): Verfassung des Landes Sachsen. Gohrischer Entwurf, 1990, S. 51 ff.; dies., Verfassung des Freistaats Sachsen. Gohrischer Entwurf – Überarbeitete Fassung –, 1990, Nachbemerkung S. 45 ff.; Steffen Heitmann, Entstehung und Grundgedanken der Verfassung des Freistaates Sachsen, in Caesar/Heitmann/Lehmann-Grube/Limbach (Hrsg.): Die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in den neuen Bundesländern. Rechtsstaat in der Bewährung, Bd. 27, 1992, S. 11; ders., Die neue sächsische Verfassung – zwischen Aufbruch und Bewahrung, SächsVBI. 1993, S. 2; ders., Verfassung des Freistaates Sachsen, 1993, Einführung S. 5 ff.; ders., Zur Entstehung des „Gohrischer Entwurfs“ der Sächsischen Verfassung, in: Sächsischer Landtag (Hrsg.): Reden zum 4. Jahrestag der Gründung des Koordinierungsausschusses zur Bildung des Landes Sachsen am 6. Mai 1994, 1994, S. 17, erneut abgedruckt in: ders., Die Revolution in der Spur des Rechts, 1996, S. 33 ff., überarbeitet und erweitert unter dem Titel: Der Gohrischer Entwurf einer neuen sächsischen Verfassung, in: Dresdner Hefte, Heft 59, 2. Aufl. 2009, S. 79 ff.; ders., Geschichtliche Entwicklung, in: Degenhart/Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 1.

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Steffen Heitmann

eine den Ereignissen noch nahe Rede von 1994,11 gekürzt und verdichtet sowie angereichert mit Erkenntnissen aus zwei Jahrzehnten, zum Geländer meiner Ausführungen zu machen. Ich denke, dass durch solch einen persönlich gefärbten Bericht die Zeit des revolutionären Aufbruchs am lebendigsten vor Augen tritt. Die Entstehungsgeschichte unserer Verfassung lässt sich klar gliedern in drei Phasen: - Von der Revolution zum Entwurf der Gruppe der Zwanzig (3. Oktober. 1989 bis 23. März 1990), - Vom Entwurf der Gruppe der Zwanzig zum Gohrischer Entwurf (4. April bis 27. Oktober 1990), - Vom Gohrischer Entwurf zur Sächsischen Verfassung (15. November 1990 bis 6. Juni 1992). Was folgt, ist „nur noch“ Auslegungsgeschichte, denn die Verfassung ist bisher nicht geändert worden. II. Von der Revolution zum Entwurf der Gruppe der Zwanzig Gustav Radbruch, der große deutsche Rechtsdenker, hat einmal gesagt: „Nicht Scharfsinn oder Weisheit einzelner schafft eine Verfassung, sie sind nur ihre Geburtshelfer, – erschaffen wird sie von der allmächtigen Geschichte.“12 Dass uns der Atem der „allmächtigen Geschichte“ ergriffen hatte, ist uns erst später bewusst geworden. Das Leben wird vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden, soll sinngemäß Sören Kierkegaard gesagt haben. In Dresden und damit in Sachsen begann die friedliche Revolution gar nicht so friedlich am 3. Oktober 1989 mit den Unruhen am Hauptbahnhof. Die DDR hatte die Grenze zur Tschechoslowakei geschlossen und es versammelten sich hunderte Ausreisewillige in Erwartung der Züge mit den Prager Botschaftsflüchtlingen. Vielleicht hat ja gerade dieser unfriedliche Beginn des Umbruchs die danach konsequente Friedlichkeit der Revolution beflügelt. Jedenfalls ist es eine schöne Pointe der Geschichte, dass das viel gescholtene „zufällige Verwaltungsdatum“ für die Wahl des Tages der deutschen Einheit, das Inkrafttreten des Einigungsvertrages am 3. Oktober 1990, tatsächlich den Jahrestag des Revolutionsbeginns in Sachsen trifft. Nun war es ganz gewiss im Herbst 1989 nicht unser erster Gedanke, Sachsen neu zu verfassen. Aber es ist doch erstaunlich, wie rasch die revolutionäre Entwicklung auch in diese Richtung führte. Es war eben eine „Revolution in der Spur des

11 Steffen Heitmann, Der Gohrischer Entwurf einer neuen sächsischen Verfassung, in: Dresdner Hefte, Heft 59, 2. Aufl. 2009, S. 79 ff. 12 Gustav Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.): Aphorismen zur Rechtsweisheit, 1963, S. 51.

Zur Entstehung der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992

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Rechts“.13 Dass Dresden hierbei eine maßgebliche Rolle gespielt hat, mag einerseits mit seiner traditionellen Rolle als Landeshauptstadt zusammenhängen. Andererseits war von Vorteil, dass es in der Stadt Dresden nie einen sogenannten Runden Tisch gegeben hat. Die „Runden Tische“ wurden ja im Herbst 1989 von der SED als eine Art Domestizierungsinstrument für die revolutionären Bestrebungen benutzt. In Dresden aber gab es die unmittelbar aus der ersten gewaltfrei beendeten Demonstration durch Akklamation wie in der antiken Volksversammlung bestätigte, bald so genannte Gruppe der Zwanzig.14 Die hat sich immer gewehrt gegen das Ansinnen, auch auf der Ebene der Stadt einen „Runden Tisch“ zu bilden. In ihr, die in ihrem ersten Positionspapier vom 15. Oktober 1989 situationsbedingt noch den Begriff der Opposition für sich abgelehnt hatte, war Schritt für Schritt ein oppositionelles Selbstbewusstsein gewachsen und Sachverstand außerhalb der etablierten Eliten konzentriert worden. Die Wurzeln des Gohrischer Entwurfs für eine sächsische Verfassung liegen in der Gruppe der Zwanzig. 1. Die Gruppe der Zwanzig und das Recht Schon die ersten Forderungen der Gruppe der Zwanzig, die sie spontan aus der Volksversammlung mitbekommen hatte, waren rechtsstaatliche Forderungen, die sich in den Dialogthemen für die Gespräche mit dem Rat der Stadt niederschlugen. Die Gruppe der Zwanzig hatte ihr heikles zweites Rathausgespräch, in dem die Dialogthemen ausgehandelt werden sollten, am 16. Oktober 1989. Als wir mit dem Rat der Stadt unter dem damaligen Oberbürgermeister Berghofer verhandelten, mitten in den schwierigsten Gesprächen, wurde plötzlich ein Zettel hereingereicht und dem Oberbürgermeister vorgelegt. Er las ihn und sagte dann beiläufig, er lehne nunmehr das weitere Gespräch ab, denn vor dem Rathaus stünden etwa 10.000 Menschen; das sei Erpressung, und das ließe er sich nicht gefallen. Freilich hatte das niemand organisiert, sondern die Menschen waren spontan zusammengekommen. Sie wollten wissen, was denn erreicht worden sei. Für beide Seiten wurde schlagartig sichtbar, wie sich die Machtverhältnisse in den wenigen Tagen verändert hatten. Es ist nicht zum Abbruch der Gespräche gekommen. Berghofer hat sich der Auseinandersetzung mit der Masse von Menschen vor dem Rathaus weitgehend entzogen und dies den Mitgliedern und Begleitern der Gruppe der Zwanzig überlassen. Einen der später ausgehandelten Themenbereiche für den Dialog haben wir „Recht und Sicherheit“ genannt. Folgende Schwerpunkte hatte ich aufgeführt: 13 Vgl. Steffen Heitmann, Die Revolution in der Spur des Rechts, 1996, S. 11. Der Titel folgt einer Überschrift in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die Friedrich Karl Fromme formuliert hat. 14 Die Gruppe der Zwanzig ist am 8. Oktober 1989 aus der Demonstration auf der Prager Straße entstanden. Vom 9. Oktober an bis zu ihrer Auflösung im Mai 1990 fungierte ich als ihr juristischer Berater. Vgl. Michael Richter/Erich Sobeslavsky, Die Gruppe der 20. Gesellschaftlicher Aufbruch und politische Opposition in Dresden 1989/90, 1999; Karin Urich, Die Bürgerbewegung in Dresden 1989/90, 2001.

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Steffen Heitmann

- Stellung des Rechts in der Gesellschaft der DDR - Willkürliche Auslegbarkeit bestimmter Straftatbestände (bes. 2. und 8. Kapitel des StGB, z. B. § 217) und anderer Rechtsvorschriften (z. B. § 4 OWVO, VAVO) - Kontrolle der Sicherheitsorgane (bes. der Staatssicherheit) - Durchführung der Rechtsmittel in Ordnungsstrafverfahren - Recht auf Verteidigung bei polizeilichen Maßnahmen in Ermittlungs- und Strafverfahren - Fehlende Verwaltungsgerichtsbarkeit bzw. unzureichende Anfänge - Entzug der Beweismittel des Bürgers für Übergriffe der Sicherheitsorgane (Behindern des Fotografierens und Wegnahme von Filmen) - Kontrolle der Untersuchungshaftanstalten und der Strafvollzugsanstalten - Datenschutz des Bürgers - Öffentlichkeit der Rechtsprechung in politischen Verfahren.15 Es war vereinbart worden, dass sogenannte zeitweilige Arbeitsgruppen am Rande der Stadtverordnetenversammlung zu den einzelnen Themenbereichen gebildet werden sollten. Ziel dieser Gruppenbildung war aus staatlicher Sicht die Kanalisierung des Dialogs in die von der SED dominierten Gremien. In der Vorlage für die Stadtverordnetenversammlung vom 26. Oktober 1989 war deshalb aus unserem Dialogthema „Recht und Sicherheit“ Folgendes geworden: „7. Zeitweilige Arbeitsgruppe ,Entwicklung des sozialistischen Rechts‘. Die Arbeitsgruppe erhält den Auftrag, Vorschläge zu unterbreiten zur Erhöhung der Rechtssicherheit der Bürger, zur öffentlichen Kontrolle der Durchsetzung bestehender Gesetze und Rechtsvorschriften sowie zur Vervollkommnung des sozialistischen Rechts um den Grundsatz, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind und ihre Sicherheit und Geborgenheit uneingeschränkt zu wahren (sic!).“16

Erst im dritten Rathausgespräch am 30. Oktober 1989 konnten die Forderungen der Gruppe der Zwanzig durchgesetzt werden: paritätische Besetzung der Arbeitsgruppen, selbstständige Entscheidung der Arbeitsgruppen über ihre Bezeichnung und Aufgabenstellung. Die Arbeitsgruppe, deren Kovorsitzender ich wurde, erhielt – nach schwieriger Debatte – schließlich die Bezeichnung „Recht in der DDR“. Diese Arbeitsgruppe hat in nicht einmal vier Wochen einen umfangreichen Bericht erarbeitet, der fast alle Rechtsgebiete der damaligen DDR berührte. Er wurde bereits am 23. November 1989 der Stadtverordnetenversammlung vorgelegt. Das war für damalige Verhältnisse ein erstaunlicher Erfolg. Damit war der weite Rahmen rechtsstaatlicher Probleme – noch unter der Annahme des Fortbestehens 15

Das von mir formulierte Original-Typoskript „Zum Gespräch am 16. Oktober 1989“ befindet sich im Hauptstaatsarchiv Dresden. 16 Beschlussentwurf für die 3. Tagung der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Dresden am 26. Oktober 1989.

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der DDR – bereits abgesteckt. In einem Passus aber wurde bereits auch schon die Wiederaufnahme föderaler Strukturen in der DDR gefordert. Die besondere Bedeutung dieser Zeitweiligen Arbeitsgruppen für die Opposition lag darin, dass sie durch Sektionen der Gruppe der Zwanzig, also reinen Oppositionsgruppen flankiert wurden. So entstand eine breit angelegte Arbeitsstruktur, an der viele Bürger beteiligt waren und die auch in den langsam sich öffnenden Printmedien ihren Niederschlag fand. Die durch Sacharbeit gewachsene Legitimation erhielt einen gewaltigen Schub durch die sogenannte Eine-Mark-Aktion, der ich zunächst kritisch gegenüber gestanden hatte, die sich jedoch als ein großer Erfolg erwies. Einem Aufruf der Gruppe der Zwanzig, als Zeichen der Unterstützung eine Mark auf ein bestimmtes Konto zu überweisen, kamen innerhalb weniger Wochen rund 100.000 Menschen nach. Uwe Thaysen hat das als „eine der eindrucksvollsten Aktionen der deutschen Demokratiegeschichte“ und den „Dresdner Pfad der Demokratiefindung“ genannt.17 Konstruktive, breit angelegt Sacharbeit und Suche nach größtmöglicher demokratischer Legitimation kennzeichnen den „Dresdner Weg zum Übergang von der Diktatur zur Demokratie“,18 aus dem auch die Arbeit an der Verfassung gewachsen ist. Als sich in den ersten Monaten des Jahres 1990 die Arbeit auf andere Ebenen verlagerte, war ein Grund gelegt für die Akzeptanz juristisch qualifizierter Arbeit an den rechtlichen Grundlagen in unserem Land. 2. Frühe Verbindungen nach Baden-Württemberg Die sächsische Verfassung von 1831 hatte ihre Vorbilder in der badischen Verfassung von 1818 und der württembergischen Verfassung von 1819.19 Ist es ein Zufall, dass die sächsische Verfassung von 1992 sich an der baden-württembergischen Verfassung von 1953 orientiert? Ministerpräsident Lothar Späth aus Stuttgart war bereits einige Tage vor dem legendären Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl im Dezember 1989 in Dresden gewesen,20 um die Chance der Öffnung der DDR für sein Land zu nutzen. Dabei setzte er zunächst – wie so manche andere Westdeutsche auch – auf die Kontakte zu den 17

Uwe Thaysen, Wege des politischen Umbruchs in der DDR. Der Berliner und der Dresdner Pfad der Demokratiefindung, in: Eckart/Wilke (Hrsg.): Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. 59, 1998, S. 69 (85). 18 Karin Urich, Die Bürgerbewegung in Dresden 1989/90, 2001, S. 415 ff. 19 Vgl. Gerhard Schmidt, Die Staatsreform in Sachsen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1966, S. 138 f. 20 Lothar Späth traf am 10. Dezember mit DDR-Ministerpräsident Hans Modrow in Dresden zusammen. Bundeskanzler Helmut Kohl traf am 19. Dezember in Dresden ein und hatte hier anlässlich der berühmten, improvisierten Veranstaltung vor der Ruine der Frauenkirche – wie ich aus persönlichem Gespräch weiß – sein Schlüsselerlebnis in Bezug auf die deutsche Wiedervereinigung.

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Funktionären neuen Typs wie Berghofer und Modrow, die auch vielen Medien im Westen als Hoffnungsträger erschienen. Späth hatte den Wunsch geäußert, auch mit der sich formierenden Opposition zu sprechen, und so war es zu einem Gespräch auch mit Vertretern der Gruppe der Zwanzig gekommen. Ein Ergebnis war eine Einladung an die Gruppe der Zwanzig. Unser besonderer Wunsch war, in Bezug auf Rechtsfragen Kontakte zu knüpfen und Beratung zu erfahren. Der Sprecher der Gruppe der Zwanzig, Herbert Wagner, bat mich als den Leiter der Sektion Recht um die Organisation eines Besuches in Stuttgart. Bereits Mitte Januar 1990 fuhr eine Gruppe von acht Personen für fünf Tage nach Baden-Württemberg.21 An ein ausführliches Gespräch mit Ministerpräsident Späth schloss sich ein facettenreiches Programm an, das Begegnungen vermittelte, die zum Teil weitreichende Folgen auch für die Entstehung des sächsischen Verfassungsentwurfs hatten. So lernten wir an der Universität Tübingen Prof. Dr. Hans von Mangoldt kennen, der im April 1990 Berater bei der Erarbeitung des Gohrischer Entwurfs wurde und später zum Berater des Verfassungs- und Rechtsausschusses des Sächsischen Landtages berufen wurde. Im Justizministerium begegneten wir Dr. Wolf-Dieter Eckhardt, der ebenfalls unsere Verfassungsberatungen von Anfang bis Ende begleitete. Wie unübersichtlich damals die deutsch-deutsche Situation war, zeigt folgende Anekdote. Auch mit der kommunalen Selbstverwaltung sollten wir vertraut gemacht werden. Zu diesem Zweck fuhren wir in Lothar Späths Wahlkreis nach BietigheimBissingen. Oberbürgermeister Manfred List empfing uns an der Rathaustreppe wie eine offizielle Delegation. Aufgezogen waren die deutsche Fahne, die baden-württembergische, und daneben – wir dachten, wir sehen nicht recht – die DDRFahne. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass mir zu Ehren die DDR-Flagge gehisst war. Wir haben dann freundlich zu erkennen gegeben, dass es uns lieber gewesen wäre, die weiß-grüne Fahne wäre aufgezogen worden. Aber die kannte man dort nicht mehr und noch nicht wieder. Überrascht waren unsere westdeutschen Gesprächspartner von dem nicht erlahmenden Interesse der ostdeutschen Revolutionäre an den rechtlichen Strukturen. „Gesetzestreue Umstürzler“ betitelte das Schwäbische Tagblatt einen Bericht über unseren Besuch.22 21

Die Reise fand vom 12.–17. Januar statt. An ihr nahmen teil: Jürgen Bönninger (Demokratischer Aufbruch), Steffen Heitmann, Dr. Bernd Kunzmann (Mitglied der AG Grundsatzfragen des Neuen Forums), Hannelore Leuthold (Mitglied der AG Recht), Hans-Jürgen Magerstädt (Mitglied der AG Recht), Dr. Walter Siegemund (Mitglied der AG Recht), Arnold Vaatz (Sprecher des Neuen Forums, Mitglied der AG Recht), Dr. Herbert Wagner (Sprecher der Gruppe der Zwanzig). Auf ein interessantes Detail machte mich Walter Siegemund anlässlich dieses Vortrages aufmerksam: auf der Zugfahrt nach Stuttgart verteilte Arnold Vaatz Ablichtungen der Verfassung des Freistaates Sachsen vom 1. November 1920 an die Teilnehmer. 22 Schwäbisches Tagblatt vom 15. Januar 1990, gleichlautend in der Südwestpresse vom gleichen Tag.

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Die Verbindungen nach Baden-Württemberg sind für den Neuanfang in Sachsen, besonders für die Verfassungsentstehung und für die Gewinnung eines geeigneten Spitzenkandidaten für die Sächsische Union sehr fruchtbar geworden. Maßgeblichen Anteil daran hatte Hans-Peter Mengele, Abteilungsleiter für Internationale Angelegenheiten und innerdeutsche Beziehungen im Staatsministerium in Stuttgart. Er hat nicht nur diese erste Besuchsreise organisiert, sondern auch einfühlsam und zielstrebig die staatliche Wiedergeburt Sachsens gefördert.23 3. Bemühungen um die Länderbildung Um die Jahreswende 1990/91 belebte sich zunehmend der Gedanke der Wiederbegründung der Länder. Auch auf den Demonstrationen tauchte die Forderung nach der Wiedererrichtung Sachsens auf, und man konnte eine erstaunliche Aufwallung sächsischer Identität beobachten, die man gar nicht mehr für möglich gehalten hatte. Bis ins letzte Dorf konnte man die weiß-grünen Fahnen aus den Fenstern hängen sehen. Auf den Demonstrationen wurden zunehmend die sächsischen Farben vorangetragen.24 Die Funktionärskräfte auf der Ebene der drei sächsischen Bezirke sahen darin eine Chance, ihre Macht auf einer neuen sächsischen Ebene zu festigen. In kürzester Frist wurden Entwürfe für sächsische Rechtsvorschriften von einer Arbeitsgruppe des Bezirkstages Dresden erarbeitet, eine Verfassung sowie eine Gemeinde- und Landkreisordnung und ein Kommunalwahlgesetz. Sie wurden von den Vorsitzenden der Räte der Bezirke Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt in einer Broschüre vom 19. März 1990 veröffentlicht.25 Sie sollte anlässlich einer „Konstituierung des Kuratoriums Land Sachsen“ am 18. April 1990 auf der Albrechtsburg zu Meißen der Öffentlichkeit übergeben werden. Dazu ist es freilich nicht gekommen. Wir hatten angekündigt, dass wir uns an dem geplanten Festakt nicht beteiligen würden. Nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 war unsere Stellung inzwischen so gefestigt, dass dadurch das ganze Unternehmen scheiterte. Die schwarze Broschüre, die in großen Mengen gedruckt worden war, wurde der Altpapierverwertung zugeführt, die alten Kräfte waren als Konkurrenten bei der Länderbildung ausgeschaltet.26 Einer der politisch führenden Köpfe, Arnold Vaatz, hat damals frühzeitig die Gefahr erkannt, die in den Bemühungen der Altkader lauerte. Die Opposition musste jetzt rasch das Thema Länderbildung besetzen. Und er hat in ein oder zwei Nächten 23

Vgl. Hans-Peter Mengele, Wer zu Späth kommt …, 1995, besonders S. 174 ff. Erstmals tauchten die alten Farben Sachsens auf der Montagsdemonstration am 6. November in Dresden auf. Vgl. Michael Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen. Friedliche Revolution, Föderalisierung, deutsche Einheit 1989/90, 2004, S. 70. 25 Der Text orientiert sich an der Sächsischen Verfassung von 1947, bleibt dem Geist marxistisch-leninistischer Staatstheorie verhaftet und ermangelt juristischer Klarheit. 26 Vgl. Bernd Kunzmann, Die Entstehung der Sächsischen Verfassung, Vortrag anlässlich des 5. Jahrestages der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1997, in: Sächsisches Staatsministerium der Justiz (Hrsg.): 5 Jahre Sächsische Verfassung, 1997, S. 9. 24

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einen Verfassungstext entworfen, weithin orientiert an Baden-Württemberg und ein wenig auch an Nordrhein-Westfalen, dazu ein paar eigene Ideen beigemischt. Dieser Verfassungsentwurf, der bewusst als ein rechtsstaatlicher Gegenentwurf konzipiert war, ist von der Gruppe der Zwanzig übernommen, bereits am 23. März unterzeichnet und am 29. und 30. März 1990 in der Dresdner Tageszeitung „Die Union“ abgedruckt worden. Mit der Veröffentlichung dieses – juristisch noch unzureichenden – Verfassungsentwurfes der Gruppe der Zwanzig war ein politisches Ziel erreicht. Er war die Initialzündung für die Arbeit am Gohrischer Entwurf. Mir war klar geworden: Jetzt muss das Thema Landesverfassung juristisch qualifiziert angegangen werden. Es musste versucht werden, einen möglichst breit getragenen, möglichst fachlich unangreifbaren Verfassungsentwurf zu erarbeiten. III. Vom Entwurf der Gruppe der Zwanzig zum Gohrischer Entwurf 1. Die Fachgruppe 11 der Gemischten Kommission Baden-Württemberg/Sachsen Der erwähnte Besuch Lothar Späths in Dresden führte – mit Absegnung durch den inzwischen zum DDR-Ministerpräsidenten avancierten Dresdner SED-Chef Hans Modrow – zur Bildung einer Gemischten Kommission Baden-Württemberg/Sachsen. Schon Ende Januar 1990 wurde ein Vereinbarung zwischen dem Land Baden-Württemberg und dem Vorsitzenden der drei sächsischen Bezirke abgeschlossen; erstmals nach der Auflösung des Landes Sachsen im Jahr 1952 trat der Raum Sachsen wieder als eine politische Einheit in Erscheinung. Für die Zusammenarbeit wurden zehn Fachgruppen gebildet. Die Opposition musste beteiligt werden.27 Eine elfte Fachgruppe ist erst relativ spät anlässlich der dritten Tagung der Gemischten Kommission Anfang April 1990 begründet worden. Sie erhielt die Bezeichnung „Verfassung, Verwaltungsreform“. Zu ihrem sächsischen Vorsitzenden wurde ich gewählt. Wir haben fünf Untergruppen gebildet; die erste der Untergruppen war die „Unterarbeitsgruppe Landesbildung/Landesverfassung“, später kurz „Arbeitsgruppe Landesverfassung“ genannt, die unter meinem Vorsitz den Gohrischer Entwurf erarbeitet hat.28 Die späte Begründung der Fachgruppe brachte den Vorteil mit sich, dass die Zusammensetzung deutlicher von den neuen politischen Kräften bestimmt werden 27

Zu Bildung und Struktur der Gemischten Kommission Sachsen/Baden-Württemberg vgl. Michael Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen. Friedliche Revolution, Föderalisierung, deutsche Einheit 1989/90, 2004, S. 184 ff., 553 ff. 28 Die anderen Unterarbeitsgruppen hatten folgende Bezeichnungen: 2. Kommunalverfassung/Kommunale Selbstverwaltung, 3. Ausbildung/Fortbildung, 4. Verwaltungsstruktur, 5. Polizeirecht und -organisation.

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konnte. Wir haben uns bemüht, diese Fachgruppe auf eine bessere Legitimationsebene zu stellen als die anderen Gruppen. Wir haben die „Runden Tische“ der drei Bezirke gebeten, die von uns vorgeschlagenen Teilnehmer zu bestätigen. Das ist auch geschehen. Dabei lag mir daran, ein möglichst breites politisches Spektrum einzubinden. Das ist auch gelungen.29 Es war uns von vornherein bewusst, dass der Sachverstand, den wir zu qualifizierter Arbeit brauchten, bei uns nicht in genügendem Maße vorhanden ist. Deshalb lag uns daran, neben den Beratern aus Sachsen30 fachkundige Berater aus Baden-Württemberg31 einzubeziehen. Ich habe angestrebt, alle Bemühungen um eine neue sächsische Verfassung, die uns bekannt wurden, in diese Gruppe einzubinden. Am schwierigsten war das mit einem erst spät zu unserer Kenntnis gelangten Entwurf der Leipziger CDU unter Federführung von Volker Schimpff. Dennoch ist es gelungen, ihn noch in unsere Arbeit einzubeziehen.32 Einer der ostdeutschen Berater, Prof. Dr. Karl Bönninger aus Leipzig, ein Mann von persönlicher Integrität, war von einer schwärmerisch-kommunistischen Auffassung geprägt. Er hat der Entwicklung unserer Arbeit bald innerlich nicht mehr folgen können und hat sich zunehmend aus der Arbeitsgruppe zurückgezogen. Er hat an der Sektion Rechtswissenschaft der Leipziger Universität mit Kollegen und dortigen Mitarbeitern eine eigene Arbeitsgruppe gebildet. Daraus ist der Leipziger Hochschullehrerentwurf für eine sächsische Verfassung erwachsen. Ich habe die Abspaltung sehr bedauert, musste allerdings auch sehen, dass eine Integration der von Bönninger vertretenen Auffassungen unter dem Dach des Grundgesetzes nicht möglich sein würde. Eine wirkliche Gefahr für den Gohrischer Entwurf habe ich in dem Leipziger Entwurf nie gesehen. 2. Einbindung in den Koordinierungsausschuss Nach der Kommunalwahl vom 6. Mai 1990 war von dem vor der Auflösung stehenden „Runden Tisch“ des Bezirkes Dresden der „Koordinierungsausschuss zur 29

Der Arbeitsgruppe gehörten an: Dr. Martin Böttger (Neues Forum Zwickau), Steffen Heitmann (Vorsitzender), Dr. Bernd Kunzmann (SPD Dresden), Dr. Michael Lersow (SPD Chemnitz; nur kurzzeitige Beteiligung), Volker Schimpff (CDU Leipzig; Beteiligung seit Juli 1990), Arnold Vaatz (CDU Dresden). 30 Prof. Dr. Karl Bönninger (Sektion Rechtswissenschaft der Universität Leipzig), Oberarchivrat Dr. Reiner Groß (Staatsarchiv Dresden), Prof. Dr. Lutz Zimmermann (Institut Recht in Wissenschaft und Technik der Technischen Universität Dresden). 31 Ministerialrat Dr. Wolf-Dieter Eckardt (Justizministerium Baden-Württemberg), Prof. Dr. Hans von Mangoldt (Juristische Fakultät der Universität Tübingen), Leitender Ministerialrat Konrad Freiherr von Rotberg (Innenministerium Baden-Württemberg). 32 Ausführlich hierzu s. Michael Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen. Friedliche Revolution, Föderalisierung, deutsche Einheit 1989/90, 2004, S. 585 ff. Volker Schimpff wurde 1990 Mitglied des Landtages und hat als Vorsitzender des Verfassungs- und Rechtsausschusses an der Verfassungsentstehung mitgewirkt.

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Bildung des Landes Sachsen“ mit Arnold Vaatz an der Spitze gegründet und schließlich auch vom Regierungsbeauftragten anerkannt worden.33 Ich bin in ihm zum Leiter des „Arbeitsstabs Verfassung, Recht, Gerichtswesen“ berufen worden.34 Durch die Einbindung unserer Arbeit am Verfassungsentwurf in die Arbeit des Koordinierungsausschusses wurde wiederum eine neue Legitimationsbasis geschaffen. Dazu trug auch das Sächsische Forum bei, die Nachfolgeeinrichtung der „Runden Tische“ der sächsischen Bezirke unter Leitung des späteren Landtagspräsidenten Erich Iltgen. Es gab keine Veranstaltung des Sächsischen Forums, auf der ich nicht über den Stand der Verfassungsberatungen berichtet hätte. Wir haben im Rahmen des Sächsischen Forums auch öffentliche Diskussionen zur Verfassung angeboten, zwei in Dresden, eine in Leipzig, eine in Chemnitz. 3. Verankerung und Platzierung Die öffentlichen Diskussionen trugen noch manche Anregung bei. Ich erinnere mich einer Art Schlüsselerlebnis für mich. Wir haben damals noch nicht vom „Freistaat“ Sachsen gesprochen, sondern schlicht vom „Land“ Sachsen. So auch der erste Gohrischer Entwurf. Wir haben zwar über diese Bezeichnung beraten, kamen aber zu der überwiegenden Meinung, dass die Bezeichnung „Freistaat“ ein wenig antiquiert klinge und möglicherweise etwas aufgesetzt wirke. Auf einer der Versammlungen des Sächsischen Forums in Dresden trat – es konnte ja jeder das Wort ergreifen, der anwesend war – ein alter Stempelmachermeister aus der Lausitz ans Rednerpult und hielt einen flammenden Beitrag. Mit Emphase sagte er dort den Satz: „Ich bin im Freistaat Sachsen geboren, ich bitte um die Gnade, im Freistaat Sachsen auch sterben zu dürfen.“35 Für mich brachte das die Erkenntnis, dass der Freistaatsbegriff nach wie vor im Volke emotional verankert ist und deshalb wieder aufgenommen werden sollte. Wir haben unseren Verfassungsentwurf – übrigens auf Vorschlag von Hans von Mangoldt – „Gohrischer Entwurf“ genannt. Wir haben die wesentlichen Sessionen im Kurort Gohrisch in der Sächsischen Schweiz abgehalten. Die Organisation der Gemischten Kommission lief über den Rat des Bezirkes, der vom März 1990 an die Bezeichnung Bezirksverwaltungsbehörde erhielt. Das führte uns in das Ferien33 Zum Koordinierungsausschuss vgl. Markus Schubert, Der Koordinierungsausschuss zur Bildung des Landes Sachsen, unveröffentlichte Magisterarbeit, 1994, sowie Michael Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen. Friedliche Revolution, Föderalisierung, deutsche Einheit 1989/90, 2004, S. 367 ff. 34 Dort stand für ein Vierteljahr der Verwaltungsrichter Dr. Jürgen Rühmann aus BadenWürttemberg als Mitarbeiter zur Verfügung. Er hat 1990/91 als mein Verfassungs- und Landtagsreferent an den Verfassungsberatungen mitgewirkt. Im Dezember 1991 wurde er in dieser Funktion von der Hamburger Verwaltungsrichterin Andrea Franke abgelöst, die bald in sächsische Dienste trat und die Verfassungsdiskussion bis zur Beschlussfassung begleitete. 35 Vgl. Artikel „Dereinst im Freistaat Sachsen sterben dürfen“ von Bernhard Heimrich, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. August 1990, S. 12.

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und Gästehaus des Rates des Bezirkes in den Kurort Gohrisch, das sich rasch in ein „Hotel Gohrischer Hof“ verwandelt hatte und in dem in der frühen DDR Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl ihren Urlaub verbracht hatten und Tschaikowski zu Gast gewesen war. Es waren merkwürdige Gefühle, die uns überkamen, als wir dort tagten. Denn Personal und Gäste waren unverändert. Das Ambiente war ein merkwürdig verschrobenes, gehobenes DDR-Niveau. Aber die Küche war hervorragend und die Bedienung äußerst zuvorkommend. Der Arbeit hat es gedient. Unter dem 5. April 1990 wurde in einer kleinen grünen Broschüre der Öffentlichkeit der Gohrischer Entwurf für eine Verfassung des Landes Sachsen vorgelegt. Wir haben sie breit verschickt und um Stellungnahmen gebeten. Ich selbst übergab den Entwurf am 15. September 1990 an Kurt Biedenkopf, der inzwischen aussichtsreicher Spitzenkandidat der Sächsischen Union geworden war, und informierte ihn über die bisherige Arbeit an der Verfassung. Er berichtet über diese Begegnung in seinem Tagebuch ziemlich ausführlich, ohne den eigentlichen Zweck meines Besuches zu nennen.36 Ich verließ dieses Zusammentreffen jedenfalls mit dem guten Gefühl, auch aus seiner Sicht auf dem richtigen Wege zu sein. Tageszeitungen veröffentlichten den Text und warben ebenfalls um Stellungnahmen; etwa 220 Stellungnahmen gingen ein. In einer abschließenden Sitzung im Oktober 1990 in Gohrisch wurde die überarbeitete Fassung des Gohrischer Entwurfs verabschiedet, in einer Broschüre unter dem 23. Oktober 1990 veröffentlicht und dem Landtag in seiner konstituierenden Sitzung am 27. Oktober 1990 vorgelegt. Das Ziel der Gohrischer Arbeitsgruppe war nach fünf Monaten intensiver Arbeit erreicht: Ein juristisch qualifizierter und bereits breit diskutierter Verfassungsentwurf war politisch so platziert, dass er nicht mehr übergangen oder beiseite geschoben werden konnte. 4. Besonderheiten bei der Erarbeitung des Gohrischer Entwurfs Fünf Besonderheiten möchte ich hervorheben, denen zu verdanken ist, dass der Gohrischer Entwurf Bestand hatte. a) Es ist gelungen, Kontinuität in den Verfassungsberatungen durchzuhalten. Es stürmten ständig neue Situationen und Vorstellungen auf uns ein. Die Überlegungen wurden überlagert durch häufig wechselnde Rechtslagen. Und der Weg zur deutschen Einheit änderte sich von Woche zu Woche. Die Kontinuität in der Hektik dieser Zeit ist erstaunlich und bewundernswert. Sie hat sich in die Zeit der demokratisch legitimierten Verfassungsberatungen im Landtag fortgesetzt. Die textliche, personel-

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Vgl. Kurt Biedenkopf, 1989 – 1990. Ein deutsches Tagebuch, 2000, S. 346 ff.

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le und lokale Kontinuität37 hat einer soliden Verfassungsentwicklung in Sachsen ganz sicher gut getan. b) Bewundernswert ist auch das Verantwortungsbewusstsein, das die einzelnen Teilnehmer bei möglicher Vergeblichkeit leitete. Denn worum wir rangen, konnte ein Kompromiss für den Papierkorb sein. Die Legitimation war eine brüchige revolutionäre. Das entscheidende Wort hatte der neu zu wählende Landtag zu sprechen, und er konnte völlig andere Wege gehen. c) Der Einfluss des Grundgesetzes auf unsere Verfassungsdiskussion war ambivalent. Auf der einen Seite gab er der Diskussion zunehmend Richtung, drängte auch bestimmte illusionäre Vorstellungen beiseite. Auf der anderen Seite aber bedeutete er eine deutliche Eingrenzung eigener Kreativität. Es verdient hohen Respekt, dass die Beteiligten sich zunehmend der Autorität des Grundgesetzes beugten, dessen baldige Geltung immer wahrscheinlicher wurde, und sich nicht theoretischen Verfassungsschwärmereien hingaben. Hier liegt auch ein besonderes Verdienst der westdeutschen Berater. d) Wir haben in der Anfangsphase versucht, weitgehend im Konsensprinzip zu arbeiten, das heißt, die strittigen Fragen so lange zu beraten, bis wir eine einvernehmliche Lösung gefunden hatten. Das hat sehr zur Integration der Arbeitsgruppe und zum gegenseitigen Respekt vor den in ihr vertretenen Meinungen beigetragen. Aber angesichts der Kürze der Zeit musste das an Grenzen stoßen. Hinzu kam, dass die fortschreitende Formierung der Parteien im Vorfeld der Landtagswahl, die für den 14. Oktober festgesetzt war, nicht ohne gelegentlich verhärtende Wirkung auf die Mitglieder der Arbeitsgruppe blieb. Zunehmend mussten wir zum Mehrheitsprinzip übergehen, also abstimmen. Dabei war es unser Grundsatz, dass nur die sächsischen Mitglieder abstimmten. Die westdeutschen Berater haben immer nur beraten, nie Entscheidungen getroffen. e) Obgleich der Gohrischer Entwurf natürlich auf zahlreiche Quellen zurückgeht – Bernd Kunzmann hat das hervorragend herausgearbeitet38 –, ist er in Sachsen zu Recht als ein originär sächsisches Werk, nie als oktroyiert oder fremdbestimmt empfunden worden.

37 Die Mitglieder der Arbeitsgruppe sind, soweit sie kandidiert haben, zu Mitgliedern des Landtages gewählt worden und waren zum Teil maßgeblich an der Verfassungsdiskussion beteiligt. Ich erhielt als Staatsminister der Justiz – anders als üblicherweise in Deutschland – nach der Geschäftsordnung der Staatsregierung die Zuständigkeit für Verfassungsfragen. Zur lokalen Kontinuität: Auch die Klausurtagungen des Verfassungs- und Rechtsausschusses fanden in der Regel im Hotel Gohrischer Hof statt. 38 Vgl. Bernd Kunzmann, Im Reagenzglas der Ideen. Eine Spektralanalyse zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung, JöR 60 (2012), S. 131 (133 ff.).

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IV. Vom Gohrischer Entwurf zur Sächsischen Verfassung von 1992 1. Kreativer Aneignungsprozess Der Gohrischer Entwurf wurde von den Fraktionen der CDU und der F.D.P. bereits in seiner 3. Sitzung am 15. November 1990 in den Landtag eingebracht, der gemäß dem Ländereinführungsgesetz39 zugleich als verfassungsgebende Landesversammlung fungierte.40 Da auch die SPD-Fraktion ihn als geeignete Diskussionsgrundlage ansah, war dem Verfassungstext von Anfang an eine hohe politische Legitimation gegeben.41 Die Fraktion Linke Liste/PDS brachte den Leipziger Hochschullehrerentwurf ein,42 der mit ganz wenigen Modifikationen auch von der Fraktion Bündnis 90/ Grüne übernommen wurde.43 Es begann einer „anderthalbjähriger Beratungsmarathon“44 im Verfassungs- und Rechtsausschuss. Er war unterbrochen einerseits von der Veröffentlichung des Beratungsstandes in Form einer Synopse mit der Aufforderung, Kritik zu üben sowie Änderungen und Ergänzungen vorzuschlagen,45 andererseits von öffentlichen Anhörungen von Sachverständigen und Verbänden. Die Beratungen waren gründlich, zum guten Teil – auch dank unserer Berater – niveauvoll, manchmal zäh und nicht immer frei von menschlichen Verletzungen. Einmal äußerte ich mich voller Verzweiflung über den schleppenden Beratungsfortgang zu unserem Berater Wolf-Dieter Eckardt aus dem Stuttgarter Justizministerium. Er tröstete mich mit seiner unerschütterlichen, erfahrungsgesättigten Geduld: „Irgendwann steht’s im Gesetzblatt.“ Oft wurde besonders intensiv gestritten über Passagen, die man gemeinhin als Verfassungslyrik bezeichnet, weil sie im praktischen Staatsleben keine oder nur geringe Bedeutung entfalten. Ich denke z. B. an die Präambel, an die Erziehungsziele (Art. 101 Abs. 1), an das menschenwürdige Dasein als Staatsziel (Art. 7) oder den 39 Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik – Ländereinführungsgesetz – vom 22. Juli 1990, GBl I S. 955. 40 LT-Drs. 1/25. 41 Die drei Fraktionen repräsentierten immerhin fast 79 Prozent der Wählerstimmen. Vgl. Hans von Mangoldt, Entstehung und Grundgedanken der Verfassung des Freistaates Sachsen, Leipziger Juristische Vorträge, Heft 20, 1996, S. 14 Fn. 18. 42 LT-Drs. 1/26. 43 LT-Drs. 1/29. 44 Bernd Kunzmann, Z Bozˇej pomocu. Vor 20 Jahren wurde der Freistaat Sachsen wieder gegründet, Neues Archiv für sächsische Geschichte 82 (2011), S. 191 (208). 45 Vgl. Schimpff/Rühmann (Hrsg.): Die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen. Materialien und Studien des Sächsischen Landtages, Bd. 1, 1997, S. 285 ff. Es gingen ca. 1.300 Zuschriften ein. Davon waren 531 Einzelzuschriften. 777 waren Postkarten und Formblätter mit vorgedrucktem Text. Vgl. Bernd Kunzmann, in: Baumann-Hasske/ders. (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, S. 862 (Entstehungsübersicht).

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Kinder- und Jugendschutz (Art. 9). Auch ist gelegentlich unsere ausufernde Beschäftigung mit den Grundrechten kritisiert worden, weil sie doch in der Fassung des Grundgesetzes ohnehin galten. Solche Kritik verkennt die integrative Wirkung dieser Auseinandersetzung im nachrevolutionären Entwicklungsprozess eines neuen Staatswesens. Schließlich vermittelte sich der am Ende gemeinsam akzeptierte Text über die unterschiedlichen politischen Kräfte in die Gesellschaft. Welche Kraft ein qualifizierter Text entfalten kann, zeigt die Tatsache, dass im Beratungsverlauf gelegentlich von Vertretern der CDU und der F.D.P. Änderungsanträge zum Gohrischer Entwurf eingebracht wurden, die dann von Vertretern der anderen Fraktionen verteidigt wurden.46 Es war eben ein kreativer Aneignungsprozess eines qualifizierten Textes. Schätzungsweise haben über 80 Prozent des materiellen Gehalts des Gohrischer Entwurfs der Feuerprobe einer anderthalbjährigen Verfassungsdiskussion standgehalten. Voller Respekt blicke ich auf das insgesamt konstruktive Zusammenwirken und die Kompromissfähigkeit insbesondere der rechtspolitischen Sprecher der Fraktionen.47 Trotz zunehmender Ausdifferenzierung der politischen Landschaft war die Arbeit immer noch überwölbt von der nachrevolutionären Gemeinsamkeit, das Beste für das neu gewonnene Staatswesen festschreiben zu wollen. 2. Gestaltungsfreiheit Noch heute bin ich dankbar dafür, dass mir die Staatsregierung bei der Arbeit an der Verfassung große Gestaltungsfreiheit eingeräumt hat. Der Ministerpräsident hatte mir auf meine Bitte hin – abweichend von dem sonst in Deutschland Üblichen – die Zuständigkeit für Verfassungsfragen übertragen. Die Kabinettskollegen setzten offenbar Vertrauen in meine Arbeit. Ich kann mich jedenfalls an kontroverse Debatten über Gestalt oder Inhalt der Verfassung am Kabinettstisch nicht erinnern. Lediglich aus dem Finanzministerium kamen ab und zu heilsame Hinweise auf die finanziellen Folgen mancher Formulierungen. Die Zurückhaltung der Kollegen mag einerseits mit der Überfülle der Überleitungs- und Neugestaltungsaufgaben in dieser aufgewühlten Zeit zusammenhängen. Andererseits waren die ministerialen Beamtenapparate erst im Aufbau begriffen und oft an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Nur einmal bedurfte es der Hilfe des Ministerpräsidenten, um die Beratungen im Verfassungs- und Rechtsausschuss wieder in Gang zu setzen. Nach der Veröffentlichung der eingegangenen Stellungnahmen und der öffentlichen Anhörung in der zweiten Jahreshälfte 1991 hatten sich die Positionen zwischen der regierungstragen46

Vgl. Bernd Kunzmann, Z Bozˇej pomocu. Vor 20 Jahren wurde der Freistaat Sachsen wieder gegründet, Neues Archiv für sächsische Geschichte 82 (2011), S. 191 (207). 47 Zu nennen sind hier besonders Marko Schiemann für die CDU-Fraktion, Dr. Bernd Kunzmann für die SPD-Fraktion, Dr. Ralf Donner für die Fraktion Bündnis 90/Grüne, Klaus Bartl für die Fraktion Linke Liste/PDS, Dr. Günter Kröber für die Fraktion der F.D.P. (zeitweise).

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den Fraktion und der weithin meinungsführenden Oppositionsfraktion SPD verhärtet. In einem vertraulichen Gespräch im engsten Kreis in der Staatskanzlei mit KarlHeinz Kunckel, dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, wurden die Kompromisslinien besprochen, an denen man sich orientieren könnte.48 Ich erwähne dies auch, um in Karl-Heinz Kunckel, dem langjährigen Vorsitzenden der SPD und ihrer Fraktion im Sächsischen Landtag, einen sächsischen Politiker zu würdigen, dem das Wohl des Freistaates Sachsen immer wichtiger war als parteipolitische oder persönliche Interessen. Karl-Heinz Kunckel ist am 9. März dieses Jahres nach jahrelanger schwerer Krankheit, fern seiner geliebten sächsischen Heimat verstorben. Er bleibt in die Annalen des neuen Freistaates Sachsen eingeschrieben.49 Noch einmal fünf Monate waren nötig, um die Beratungen zum Abschluss zu bringen. Bei der Schlussabstimmung im Landtag stimmten von 151 anwesenden Abgeordneten 132 für die Verfassung, 15 dagegen, 4 enthielten sich der Stimme. So konnte die Verfassung 82,5 Prozent, bezogen auf die anwesenden Abgeordneten sogar 87,4 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Eine höhere Zustimmungsquote kann es eigentlich nur in Diktaturen geben. Unmittelbar nach der Bekanntgabe dieses Ergebnisses im damals mangels eigener Räume vom Landtag genutzten Saal der Dresdner Dreikönigskirche setzte das Abendgeläut ein: Ein bewegender Abschluss eines zweieinhalbjährigen Verfassungsgebungsprozesses. Die Verfassung trat heute vor 20 Jahren als erste in den wiederbegründeten Ländern Ostdeutschlands in Kraft. Hans von Mangoldt: „Von Sachsen war die friedliche Revolution im Oktober 1989 ausgegangen, in Sachsen hat sie ihre erste Vollendung gefunden.“50 V. Zwei Schlussbemerkungen 1. Eine „sächsische“ Verfassung? In jüngster Zeit ist „das Sächsische“ unserer Verfassung bezweifelt worden. Bernd Kunzmann vertritt die These, die Sächsische Verfassung zeichne „sich generell durch Ignoranz gegenüber ihren Vorgängerverfassungen aus“,51 sie stelle „eher einen Traditionsbruch denn eine Fortsetzung sächsischer Tradition“52 dar, „so wie der Freistaat Sachsen von 1990 einen deutlichen Traditionsbruch zu seinen staatlichen Vorgän-

48 Den genauen Termin habe ich nicht mehr feststellen können; m.W. existiert keine Niederschrift über das Gespräch. 49 Dr.-Ing. habil. Karl-Heinz Kunckel war am 30. Juni 1944 in Sonneberg geboren. 50 Vgl. Hans von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer. Einführung und synoptische Darstellung. 2. Aufl. 1997, S. 11. 51 Bernd Kunzmann, Im Reagenzglas der Ideen. Eine Spektralanalyse zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung, JöR 60 (2012), S. 131 (146). 52 Bernd Kunzmann, Im Reagenzglas der Ideen. Eine Spektralanalyse zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung, JöR 60 (2012), S. 131 (131).

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gern darstellt“.53 Dem muss entschieden widersprochen werden. Der Traditionsbruch ist 1933 eingetreten und hat sich nach 1945 auf andere Weise fortgesetzt. Die friedliche Revolution habe ich geradezu als Rückkehr in unsere Geschichte empfunden. Es trifft ja nicht zu, dass – wie Kunzmann behauptet – „noch im September 1989 … Sachsen im Bewusstsein seiner Bewohner keine gegenwärtige Kategorie“ mehr gewesen wäre.54 Ein latentes sächsisches Identitätsbewusstsein hatte sich über sechzig Jahre erhalten, wozu die reiche sächsische Kulturlandschaft, aber auch die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens und unser prägnanter Dialekt nicht wenig beigetragen hatten. Niemals sonst hätten die sächsischen Farben, der Freistaatsbegriff so rasch und so emotional wieder belebt werden können. Der sächsische Charakter ist eher konservativ, verbunden mit Weltinteresse und Intelligenz. Der Volksmund sagt, der Sachse sei „helle“. Dazu gehört ein nüchterner Blick für die Realitäten. Diesem Ruf wären wir nicht gerecht geworden, wenn wir die vierzigjährigen westdeutschen Verfassungserfahrungen und Strukturentwicklungen hintan gestellt hätten zugunsten einer formalen und historisierenden Anknüpfung an überholte Texte und Begriffe. Auch ich bedaure, dass wir die schönen alten sächsischen Gliederungsbezeichnungen Amtshauptmannschaft und Kreishauptmannschaft nicht wiederbeleben konnten und die ehemals preußischen Bezeichnungen Landkreis und Regierungsbezirk eingeführt haben. Aber hätten wir dann von „Amtshauptfrauschaft“ sprechen können, wenn einer Frau das Amt übertragen worden wäre? Die Aussage in der Präambel der Verfassung „gestützt auf Traditionen der sächsischen Verfassungsgeschichte“ kann nur dann infrage gestellt werden, wenn man sie vordergründig formal versteht. In einem größeren geschichtlichen Sinne trifft sie durchaus zu, wie Kunzmann schließlich in einer Fußnote auch selbst zugesteht.55 Auch das Ergebnis seiner Quellenanalyse stützt keineswegs seine Eingangsthese: „Die Sächsische Verfassung ist trotz der benutzten Quellen weder eine einfache Kopie einer oder mehrerer Originalquellen noch ein Sammelsurium verschiedener 53 Bernd Kunzmann, Im Reagenzglas der Ideen. Eine Spektralanalyse zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung, JöR 60 (2012), S. 131 (146). 54 Bernd Kunzmann, Z Bozˇej pomocu. Vor 20 Jahren wurde der Freistaat Sachsen wieder gegründet, Neues Archiv für sächsische Geschichte 82 (2011), S. 191 (192). 55 Bernd Kunzmann, Im Reagenzglas der Ideen. Eine Spektralanalyse zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung, JöR 60 (2012), S. 131 (149 Fn. 75). Zuvor führt Kunzmann auf dreieinhalb Druckseiten aus, dass die sächsische Verfassung von 1920 nicht – wie von mir in meinem Vortrag von 1993 (s. Steffen Heitmann, Die neue sächsische Verfassung – zwischen Aufbruch und Bewahrung, SächsVBI. 1993, S. 2) behauptet – die Verfassungsgebung „befruchtet“ habe und auch die sächsische Verfassung von 1947 keinen „Einfluss“ auf den Entstehungsprozess der heutigen Verfassung gehabt habe und wohl der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen sei. Das ist in dem von Kunzmann gemeinten konkreten, formalen Sinne nicht ganz von der Hand zu weisen. Ob man deshalb gleich schlussfolgern muss, man hätte viel „Ideologie aufsaugen“ müssen, „um die Camouflage nicht zu bemerken, die bei diesen konstruierten historischen Parallelen den Traditionsbruch in der sächsischen Verfassungsgebung von 1990 bis 1992 verdecken möchte“, ist mir allerdings die Frage. Wird hier nicht der Ideologievorwurf erhoben, um eine andere Ideologie, die Traditionsbruchthese, zu untermauern?

Zur Entstehung der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992

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Quellbeiträge, sondern eine eigenständige Verfassung, die im Rahmen des Homogenitätsgebots von Art. 28 Grundgesetz eigenen Grundprinzipien folgt, die einzelnen Beiträge und die wenigen eigenständigen Elemente nach ihrer Zweckdienlichkeit auswählt, gegebenenfalls modifiziert und in sich stimmig integriert, teilweise auch systematisch neu geordnet hat. So schuf sie die rechtliche Grundlage für den demokratischen Neuanfang in Sachsen nach 1989. Sie setzt insoweit ihren in der Präambel formulierten Anspruch auf eine „eigene“ – man möchte hinzufügen: auf sächsische – „Art um“.56 Das kann man schöner und zutreffender nicht sagen, und dem ist nun uneingeschränkt zuzustimmen. 2. „Modernisierung“ der Verfassung? Ich nehme mir zum Schluss die Freiheit, eine aktuelle verfassungspolitische Frage anzusprechen. Eine weitere Besonderheit der Sächsischen Verfassung ist die Tatsache, dass sie als einzige geltende deutsche Verfassung seit ihrem Inkrafttreten nicht geändert wurde. Sie steht „wie in Stein gehauen“, um nochmals eine Formulierung von Bernd Kunzmann57 aufzunehmen. Es gab noch keine Notwendigkeit für Veränderungen, modische Ansinnen der Ergänzung wurden klugerweise bisher immer zurückgewiesen, denn eine stabile Verfassung ist ein hohes Gut. Niemand hat das in den vergangenen zwanzig Jahren nachdrücklicher vertreten als Marko Schiemann, bis heute rechtspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion und Mitgestalter der Verfassung im Landtag von Anfang an. Die gegenwärtige Regierungskoalition hat sich nun vorgenommen, ein Neuverschuldungsverbot, eine sogenannte Schuldenbremse, in die Verfassung aufzunehmen.58 Sie greift damit einen modischen, von der Finanz- und Schuldenkrise beflügelten Topos auf. Wenn man eines Beweises bedürfte, dass es zu soliden Staatsfinanzen keiner „Schuldenbremse“ in der Verfassung bedarf, dann ist das der Freistaat Sachsen. Sein ausgeglichener Haushalt, seine niedrige Pro-Kopf-Verschuldung sind Folge eines konsequenten politischen Willens, den wir insbesondere dem Finanzminister und späteren Ministerpräsidenten Georg Milbradt zu verdanken haben. Wenn dieser politische Wille fehlt, hilft keine „Schuldenbremse“; Mittel und Wege werden gesucht und unfehlbar gefunden, sie zu umgehen. Der von Deutschland erkämpfte sogenannte Stabilitätspakt, der die Einführung des Euro flankierte, wurde von Deutschland gebrochen, als es politisch wünschenswert erschien. Dem gegenwärtig in der Ratifizierungsphase befindlichen sogenannten Fiskalpakt wird es ähnlich ergehen. 56 Bernd Kunzmann, Im Reagenzglas der Ideen. Eine Spektralanalyse zur Ontogenese der Sächsischen Verfassung, JöR 60 (2012), S. 131 (154). 57 Bernd Kunzmann, Wie in Stein gehauen – Die letzten 20 Jahre sächsischer Verfassungsgeschichte im Vergleich, SächsVBI. 2012, S. 152. 58 Vgl. Freiheit. Verantwortung. Solidarität. Gemeinsam für ein starkes und selbstbewusstes Sachsen. Vertrag zwischen der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, Landesverband Sachsen und der Freien Demokratischen Partei, Landesverband Sachsen, über die Bildung der Staatsregierung für die 5. Legislaturperiode des Sächsischen Landtages, Druckfassung, 2009, S. 4.

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Die ins Grundgesetz aufgenommene, vom Jahre 2020 an für die Länder geltende „Schuldenbremse“ hat ihre Bewährungsprobe noch nicht bestanden.59 Verfassungsänderungen bedürfen bekanntermaßen einer Zweidrittelmehrheit. Die gewünschte „Schuldenbremse“ wird damit zum politischen Handelsobjekt, das zum Aufbrechen des Verfassungskompromisses von 1992 dient. Niemals wird man die Zustimmung der Opposition ohne Gegengabe erlangen. Schon lese ich von Forderungen nach „Modernisierung der Verfassung“.60 Eine Verfassung, die nach der Mode geht, ist eine schlechte Verfassung. Ich kann nur dringend raten, die Hände von der Verfassung zu lassen, wenn es nicht wirklich notwendig ist.61 Montesquieu wird der Ausspruch zugeschrieben: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ Für die Einfügung der „Schuldenbremse“ wird die gegenwärtige Regierungskoalition mehr bezahlen müssen als sie wert ist, die Verfassung wird an Kraft und damit werden wir alle verlieren. Unsere Verfassung hat sich bewährt, und Bewährung verdient Bewahrung.

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Vgl. Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 und Art. 143 Abs. 1 Grundgesetz i. d. F. des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91c, 91d, 104b, 109, 109a, 115, 143d) vom 29. Juli 2009, BGBl. I S. 2248. Die Frage der Vereinbarkeit der Neuregelung mit Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz ist bereits diskutiert worden. Es ist zumindest nicht unwahrscheinlich, dass – wenn es ernst wird – die Frage von einem der Länder dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt wird. Auch bietet die Flexibilisierungsmöglichkeit des Art. 109 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz mannigfache Ausgestaltungsvarianten. 60 Damit wurden die Äußerungen von Antje Hermenau, der Vorsitzenden der Fraktion Bündnis 90/Grüne, in den Dresdner Neuesten Nachrichten vom 2. Februar 2012, S. 5, beschrieben: „Wenn man die Verfassung wegen der Schuldenbremse aufmacht, muss man auch an andere Bereiche gehen.“ 61 Die „Schuldenbremse“ des Grundgesetzes gilt von 2020 an unmittelbar auch für den Freistaat Sachsen. Die entsprechend Art. 109 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz mögliche Flexibilisierung kann durch Änderung der Haushaltsordnung erfolgen. Der jetzt zur Debatte stehende Änderungsentwurf zu Art. 95 der Sächsischen Verfassung macht die Feststellung des Ausnahmetatbestandes von einem mit zwei Dritteln der Mitglieder gefassten Beschluss des Landtages auf Antrag der Staatsregierung abhängig. Das schränkt einerseits die Etathoheit des Landtages ein, macht andererseits aber gerade in schwierigen Ausnahmesituationen die Haushaltsgestaltung noch mehr zum politischen Handelsobjekt als sie es ohnehin schon ist. Vgl. Hans von Mangoldt, 20 Jahre Sächsische Verfassung, SächsVBI. 2012, S. 146 (146 f.).

Teil B Vom Gehalt der Verfassung

Die Grundlagen- und Staatszielbestimmungen sowie die Grundrechte der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992 Von Thilo Rensmann I. Zwischen Konstitution und Affirmation „Der Freistaat Sachsen ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland.“1 Mit dieser nüchternen Aussage stellt die Sächsische Verfassung den doppelten Triumph der friedlichen Revolution von 1989 an die Spitze ihres operativen Teils: das Wiedererstehen sächsischer Eigenstaatlichkeit2 und die Wiedervereinigung Deutschlands unter dem Dach des Grundgesetzes. Freilich hatten vor 20 Jahren die sich überstürzenden Ereignisse den Prozess der Verfassungsgebung in Sachsen längst überholt. Schon mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes war der Freistaat am 3. Oktober 1990 konstituiert und fest in die föderale Ordnung des Grundgesetzes eingefügt worden.3 Art. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung war in diesem Sinne also nicht konstitutiv, sondern affirmativ.4 Seine verfassungsrechtliche Bedeutung wird dadurch aber keineswegs geschmälert. Denn erst durch die Bekräftigung in der Sächsischen Verfassung erhielten die Gründung des Freistaates und seine Eingliederung in die Bundesrepublik Deutsch-

1 Art. 1 Satz 1 der Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992, SächsGVBl. S. 243. 2 Zur geschichtlichen Entwicklung Sachsens als Staat, Verfassungsstaat und Freistaat siehe Steffen Heitmann, Geschichtliche Entwicklung, in: Degenhart/Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 1; speziell zur Verfassungsstaatlichkeit Susanne Drehwald/Christoph Jestaedt, Sachsen als Verfassungsstaat, 1998. 3 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990, BGBl. 1990 II S. 889 (Art. 1 und Anlage II Kap. II A II) i.V.m. dem Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik vom 22. Juli 1990, GBl. I S. 955. 4 Josef Isensee, Chancen und Grenzen der Landesverfassung im Bundesstaat, SächsVBl. 1994, S. 29 (31); Hans Vorländer, Verfassungstheorie und demokratischer Transitionsprozess. Der (ost-)deutsche Konstitutionalismus, in: Lorenz (Hrsg.): Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften. Bilanz und Perspektiven 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, 2011, S. 244 (249 ff., 255 ff.).

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land das Imprimatur des sächsischen pouvoir constituant.5 Zugleich macht Art. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung das schwierige Spannungsverhältnis zwischen eigenstaatlicher Autonomie und föderaler Gebundenheit deutlich, in dem sich der sächsische Verfassungsgeber vor 20 Jahren bewegte: Mit spürbarem Stolz erhebt die Verfassung Sachsen zum „Freistaat“ und verleiht damit nicht nur dem republikanischen Prinzip,6 sondern auch der selbstbewussten Eigenstaatlichkeit und der aus ihr fließenden Verfassungshoheit Ausdruck.7 Im gleichen Atemzug fügt sich der Freistaat als „Land“ der Bundesrepublik Deutschland aber wieder in das föderale Gefüge des Gesamtstaates ein und unterwirft sich damit seiner normativen Disziplin.8 Der sächsische pouvoir constituant konnte also vor 20 Jahren die neue Verfassung nicht im Carl Schmitt’schen Sinne kraft ungebundener Dezision9 gestalten, sondern war aufgrund des für Sachsen bereits in Geltung stehenden Grundgesetzes in das Korsett der bundesstaatlichen Homogenitätsanforderungen eingebunden (Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz). Zugleich mussten auch die völker- und europarechtlichen Bindungen des Gesamtstaates berücksichtigt werden,10 die in immer stärkerem Maße die staatlichen Binnenstrukturen und damit den Prozess nationaler und regionaler Konstitutionalisierung vorprägen.11 Homogenität bedeutet aber in der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes nicht Konformität oder Uniformität.12 Der Föderalismus lebt gerade von der Vielfalt,

5 Vgl. zum Streit um den Träger und den Umfang der verfassungsgebenden Gewalt in den Bundesländern Jörg Menzel, Landesverfassungsrecht. Verfassungshoheit und Homogenität im grundgesetzlichen Bundesstaat, 2002, S. 140 ff.; Stefan Storr, Verfassungsgebung in den Ländern, 1995, S. 41 ff., 166 f. 6 Hierzu Bernd Kunzmann, in: Baumann-Hasske/ders. (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 1 Rn. 4. 7 Christoph Degenhart, Grundlagenbestimmungen des ersten Abschnitts, in: ders./Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 5 Rn. 8 f.; Peter Nagel, Sinn- und Identitätsstiftung durch die Verfassung, in: Dehoust/ders./Umbach (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 13 (14). Siehe auch SächsVerfGH JbSächsOVG 3, 97 (100). 8 Christoph Degenhart, Grundlagenbestimmungen des ersten Abschnitts, in: ders./Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 5 Rn. 8; SächsVerfGH JbSächsOVG 3, 97 (100). 9 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 75 ff. 10 Siehe Art. 23, 25, 59 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 Grundgesetz; vgl. zur Rolle der europa- und völkerrechtlichen Vorgaben in diesem Kontext auch Hans von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer. Einführung und synoptische Darstellung, 2. Aufl. 1997, S. 15, 49. 11 Siehe Art. 2 i.V.m. Art. 7 und 49 EUV zu den grundlegenden normativen Anforderungen des EU Rechts an die mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen; hierzu Thilo Rensmann, Modern Constitutionalism. Between Regional and Universal Values, in: Hill/Menzel (Hrsg.): Constitutionalism in Southeast Asia, 2009, S. 44 (45 ff.); vgl. zu den völkerrechtlichen Vorgaben den Überblick bei Matthias Herdegen, Völkerrecht, 10. Aufl. 2011, S. 41 ff., 357 ff.; Thilo Rensmann, a.a.O., S. 44 (49 ff.). 12 BVerfGE 24, 367 (390).

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auch auf verfassungsrechtlicher Ebene.13 Obwohl die großen verfassungspolitischen Strukturentscheidungen – Republik, Demokratie und soziale Rechtsstaatlichkeit – durch Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz gesamtstaatlich vorgezeichnet waren, blieb dem sächsischem pouvoir constituant genügend Spielraum, um eigene Akzente zu setzen. Der sächsische Verfassungsgeber hat dieses Gestaltungspotential selbstbewusst, aber stets mit sicherem Blick für das in der Verfassungswirklichkeit Machbare genutzt.14 II. Zwischen rechtlicher Fundierung und gesellschaftlicher Integration Es galt vor 20 Jahren nicht nur, eine rechtliche Grundordnung für den wiedererstandenen Freistaat zu schaffen, sondern auch der Identität und Befindlichkeit der in ihm lebenden Menschen Ausdruck zu verleihen.15 Neben die normative Fundierung trat also im Smend’schen Sinne die Integration durch Verfassung.16 Die Bevölkerung des Freistaates sollte sich mit ihrer spezifischen, durch ihre gemeinsame Geschichte und Kultur geprägten Erfahrungswelt in der Verfassung wiederfinden und sich auf diese Weise mit dem neu konstituierten Gemeinwesen identifizieren.17 Es ging vor allem darum, im Verfassungstext die Erwartungen und Hoffnungen der Revolution18 – aber auch die Ängste und Sorgen aufzunehmen, die mit dem plötzlichen Auf13 Zum „Verfassungspluralismus als Grundwert“ im Bundesstaat des Grundgesetzes Jörg Menzel, Landesverfassungsrecht. Verfassungshoheit und Homogenität im grundgesetzlichen Bundesstaat, 2002, S. 152 ff. 14 Besonders prononciert in diesem Sinne Hans von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer. Einführung und synoptische Darstellung, 2. Aufl. 1997, S. 22 ff., 87, 90, der die „bundesfreundliche Behutsamkeit“ und „gliedstaatliche Bescheidenheit“ der Sächsischen Verfassung der „[g]liedstaatliche[n] Überheblichkeit“ der Verfassung des Landes Brandenburg vom 20. 8. 1992 gegenüberstellt; mit deutlich anderer Akzentuierung Peter Häberle, Die Verfassungsbewegung in den fünf neuen Bundesländern Deutschlands 1991 bis 1992, JöR 42 (1994), S. 149 ff., der die Sächsische Verfassung im Vergleich zu ihren Vorentwürfen und zu ihrem brandenburgischen Pendant als „blasser“, „stromlinienförmiger“, „angepasster“ und „in manchem ,verarmt‘“ charakterisiert (ebenda, S. 179). 15 Christoph Degenhart, Grundlagenbestimmungen des ersten Abschnitts, in: ders./ Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 5 Rn. 1; Hans von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer. Einführung und synoptische Darstellung, 2. Aufl. 1997, S. 15 ff.; Hans Vorländer, Verfassungstheorie und demokratischer Transitionsprozess. Der (ost-)deutsche Konstitutionalismus, in: Lorenz (Hrsg.): Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften. Bilanz und Perspektiven 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, 2011, S. 249 ff. 16 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, abgedruckt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119 (260 ff.). Vgl. hierzu auch Vorländer (Hrsg.): Integration durch Verfassung, 2002. 17 Hans von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer. Einführung und synoptische Darstellung, 2. Aufl. 1997, S. 15 ff. 18 Steffen Heitmann, Zweite Lesung des Entwurfs „Verfassung des Freistaates Sachsen“, Plenarprotokoll vom 25./26. Mai 1992, in: Stober (Hrsg.): Quellen zur Entstehungsgeschichte der Sächsischen Verfassung, 1993, S. 416. Siehe auch Steffen Heitmann/Arnold Vaatz, Nach-

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bruch in eine völlig neue politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Realität verbunden waren.19 Die Integrationsfunktion der neu zu schaffenden Landesverfassung wies dabei über Sachsen hinaus. Da sich der Freistaat als Land der Bundesrepublik Deutschland konstituierte, ging es im Prozess der Verfassungsgebung auch um die Identifikation mit und die Integration in den Gesamtstaat.20 Insofern hat die Sächsische Verfassung gemeinsam mit den Verfassungen der anderen ostdeutschen Bundesländer einen ganz wesentlichen Beitrag zur „inneren Wiedervereinigung“ Deutschlands geleistet.21 Aus dieser doppelten Aufgabenstellung der Verfassungsgebung in Sachsen – rechtliche Fundierung einerseits und gesellschaftliche Integration andererseits – resultierten drei Grundentscheidungen, die der Sächsischen Verfassung in ihrem Grundlagen- und Grundrechtsteil ihr besonderes Gepräge gegeben haben: - erstens, die Grundentscheidung für eine Vollverfassung, d. h. für die autonome Normierung eines umfassenden Grundrechtskataloges auf Landesebene, - zweitens, die Grundentscheidung für die – auf den ersten Blick überraschende – Relegation der Menschenwürde und der Grundrechte in den zweiten Abschnitt der Verfassung sowie - drittens, die Grundentscheidung für die Aufnahme von sozialen, ökologischen und kulturellen Staatszielen.

bemerkung, in: Koordinierungsausschuss für die Bildung des Landes Sachsen (Hrsg.): Verfassung des Landes Sachsen. Gohrischer Entwurf, 1990, S. 51 ff. (53): „Forderungen und Tendenzen, wie sie in der revolutionären Bewegung des Jahres 1989 sichtbar wurden, sollen Eingang in die Landesverfassung finden.“ 19 Steffen Heitmann, Zweite Lesung des Entwurfs „Verfassung des Freistaates Sachsen“, Plenarprotokoll vom 25./26.5. 1992, in: Stober (Hrsg.): Quellen zur Entstehungsgeschichte der Sächsischen Verfassung, 1993, S. 417; Hans von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer. Einführung und synoptische Darstellung, 2. Aufl. 1997, S. 15. 20 Josef Isensee, Chancen und Grenzen der Landesverfassung im Bundesstaat, SächsVBl. 1994, S. 29 (31); Hans Vorländer, Verfassungstheorie und demokratischer Transitionsprozess. Der (ost-)deutsche Konstitutionalismus, in: Lorenz (Hrsg.): Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften. Bilanz und Perspektiven 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, 2011, S. 244 (249 ff., 255 ff.). 21 Josef Isensee, Chancen und Grenzen der Landesverfassung im Bundesstaat, SächsVBl. 1994, S. 29 (31) („Akt innerer deutscher Wiedervereinigung“); Hans Vorländer, Verfassungstheorie und demokratischer Transitionsprozess. Der (ost-)deutsche Konstitutionalismus, in: Lorenz (Hrsg.): Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften. Bilanz und Perspektiven 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, 2011, S. 244 (255 ff.), der im Hinblick auf das Fehlen eines gesamtdeutschen Verfassungsdiskurses unmittelbar nach der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung von einem „kompensatorischen Konstitutionalismus“ der ostdeutschen Bundesländer spricht.

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1. Die Grundentscheidung für eine Vollverfassung In der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes ist die Verbürgung der Grundrechte auf Landesebene nicht unbedingt erforderlich. Zwar wird in der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 mit revolutionärem Pathos konstatiert, dass „eine Gesellschaft, in der die Gewährleistung der [Menschen-]Rechte nicht gesichert … ist“, überhaupt keine Verfassung habe.22 Aus diesem anspruchsvollen materiellen Verfassungsverständnis kann aber nicht abgeleitet werden, dass eine Landesverfassung ohne eigenen Grundrechtskatalog eine falsa demonstratio wäre. Da die Grundrechte des Grundgesetzes nach Art. 1 Abs. 3 Grundgesetz auch die Landesstaatsgewalt binden, ist in den Bundesländern die von den französischen Revolutionären geforderte Sicherung der Grund- und Menschenrechte nämlich bereits durch die Eingliederung in den Bundesstaat gewährleistet. Hinzu kommen die völkerrechtlich verbürgten Menschenrechte,23 insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention24 und die beiden Internationalen Menschenrechtspakte,25 die – vermittelt über das entsprechende Vertragsgesetz (vgl. Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz) und das verfassungsrechtliche Einfallstor des Art. 1 Abs. 2 Grundgesetz26 – auf Landesebene Geltung und Vorrang (Art. 31 Grundgesetz) beanspruchen. Trotz dieses Befundes entschied sich der sächsische Verfassungsgeber für die autonome Normierung eines detaillierten Grundrechtskataloges,27 der durch die Möglichkeit der Individualbeschwerde28 vor einem eigenen Landesverfassungsgericht29 prozessual besonders bewehrt wurde. Für die damit gewählte Option einer „Vollverfassung“ stritt zum einen die Tatsache, dass im modernen Verfassungsstaat neben dem „Frame of Government“ eine „Bill of Rights“ zu den Insignien der Eigenstaat-

22 Art. 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 16. August 1789, abrufbar unter: http://www.assemblee-nationale.fr/histoire/dudh/1789.asp: „Toute société dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n’a pas de Constitution.“ 23 Siehe zu diesem Aspekt Hans von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer. Einführung und synoptische Darstellung, 2. Aufl. 1997, S. 15. 24 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (im Folgenden: EMRK), BGBl. 1952 II S. 685, 953. 25 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (im Folgenden: IPBPR), BGBl. 1973 II S. 1534; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 (im Folgenden: IPWSKR), BGBl. 1973 II S. 1570. 26 Vgl. zu Art. 1 Abs. 2 Grundgesetz als normative Grundlage für die verfassungsrechtliche Pflicht zur „Berücksichtigung“ der völkerrechtlichen Menschenrechte BVerfGE 111, 307 (329); 128, 326 (369 f.). Hierzu Thilo Rensmann, Das „letzte Wort“ im Dialog zwischen Karlsruhe und Straßburg, in: Menzel/Müller-Terpitz (Hrsg.): Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 744 (752); ders., Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 207 ff. m.w.N. 27 Art. 14 bis 38 sowie Art. 4, 41,78, 91, 102, 105 und 107 Sächsische Verfassung. 28 Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 Sächsische Verfassung. 29 Art. 81 Sächsische Verfassung.

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lichkeit gehört.30 In diesem Sinne wurde bereits in den „Nachbemerkungen“ zum ersten Gohrischen Entwurf die Grundentscheidung für einen eigenen Grundrechtskatalog auf die Erwägung gestützt, dass „damit … die Staatsqualität Sachsens deutlicher [werden]“ sollte.31 Zum anderen sollten die Grundrechte dazu beitragen, dass „die Bürgerinnen und Bürger des neu erstehenden Staates sich mit ihrer Verfassung besser identifizieren können.“32 Gerade von den Grundrechten geht nämlich eine besonders starke Integrationswirkung aus.33 In ihnen wird das Verhältnis des Individuums zum Staat unmittelbar thematisiert. Sie verheißen dem Einzelnen in den unterschiedlichen sozialen Bezügen seiner Lebenswelt Achtung und Schutz seiner Würde und damit Freiheit, Gleichheit, Solidarität sowie politische Teilhabe.34 Zugleich verkörpern die Grundrechte (gemeinsam mit den Staatszielen35) die sozialethische Grundsubstanz des verfassten Gemeinwesens, sie umschreiben „ein bestimmtes Kultur-, ein Wertsystem, das der Sinn des von dieser Verfassung konstituierten Staatslebens sein soll.“36 Bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Grundrechtskataloges stand die damit angesprochene Intention der integrierenden Identitätsstiftung allerdings in einem gewissen Widerstreit zum Ziel der soliden rechtlichen Fundierung der Freiheit. Im Dienste der verlässlichen Grundlegung der Freiheit entschloss man sich nämlich, die Grundrechtsartikel des Grundgesetzes weitgehend unverändert in die Sächsische Verfassung zu transferieren.37 Denn die auf Bundesebene normierten Grundrechte hatten sich über 40 Jahre als Bollwerk der Freiheit und Garant der Menschenwürde bewährt. 30 Vgl. Thilo Rensmann, Modern Constitutionalism. Between Regional and Universal Values, in: Hill/Menzel (Hrsg.): Constitutionalism in Southeast Asia, 2009, S. 44 (51 ff.) m.w.N. 31 Steffen Heitmann/Arnold Vaatz, Nachbemerkung, in: Koordinierungsausschuss für die Bildung des Landes Sachsen (Hrsg.): Verfassung des Landes Sachsen. Gohrischer Entwurf, 1990, S. 51 ff. (53). 32 Ebenda. 33 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, abgedruckt in ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119 (264 ff.). 34 Vgl. zu diesem Ableitungszusammenhang Thilo Rensmann, Modern Constitutionalism. Between Regional and Universal Values, in: Hill/Menzel (Hrsg.): Constitutionalism in Southeast Asia, 2009, S. 44 (49 ff.). 35 Hierzu unter II. 3. 36 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, abgedruckt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119 (265). 37 Steffen Heitmann, Zweite Lesung des Entwurfs „Verfassung des Freistaates Sachsen“, Plenarprotokoll vom 25./26. Mai 1992, in: Stober (Hrsg.): Quellen zur Entstehungsgeschichte der Sächsischen Verfassung, 1993, S. 420. Vgl. auch Christoph Degenhart, Die Grundrechte der Sächsischen Verfassung, in: ders./Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 7 Rn. 2; Matthias Dehoust, Grundrechte, in: ders./Nagel/Umbach (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 29 (31); Bernd Kunzmann/Jochen Rozek, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Vorbemerkung vor Art. 14: Die Grundrechte Rn. 2 ff.

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Regionale sächsische Identität konnte man auf diese Weise aber kaum erzeugen. Die Grundrechte des Grundgesetzes waren geradezu das Herzstück der Verfassungskultur der alten – westdeutschen – Bundesrepublik. Durch bloße Transplantation in die Sächsische Verfassung konnten sie schwerlich zum spezifischen, unverwechselbaren „Kultur-“ und „Wertsystem“ „gerade der Sachsen“ werden.38 Punktuell hat der sächsische Verfassungsgeber allerdings versucht, durch kleinere Ergänzungen und Erweiterungen des aus dem Grundgesetz rezipierten Grundrechtstextes die spezifischen Erfahrungen der Bevölkerung im Freistaat39 sowie die Forderungen der Revolution von 198940 zu verarbeiten. So bestand nach 40 Jahren „kommunistischer Gewaltherrschaft“41 das Bedürfnis, in Anlehnung an internationale Menschenrechtsstandards42 das Verbot der grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe sowie das Verbot von wissenschaftlichen oder anderen Experimenten ohne Zustimmung des Betroffenen ausdrücklich in der Verfassung zu verankern.43 Auch die textliche Verstärkung rechtsstaatlicher Garantien, insbesondere die Kodifizierung eines Anspruches auf zügiges gerichtliches Verfahren,44 eines Rechts auf Verteidigung45 sowie – im Rahmen des Petitionsrechtes – eines Anspruchs auf begründeten Bescheid in angemessener Frist,46 sind als Reaktion auf die Machtlosigkeit des Bürgers gegen die Willkür des DDR-Staatsapparates zu verstehen. Der totalen Überwachung durch den „Stasi-Staat“ wird in der Sächsischen Verfassung das explizite Recht auf Datenschutz47 und eine Mitteilungspflicht bei Beschränkungen des Post- und Fernmeldegeheimnisses48 entgegengesetzt. Die im Rahmen der Rundfunkfreiheit formulierte Bestandsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk49 ist nicht zuletzt eine Reverenz an die Tatsache, dass während der

38 Vgl. die entsprechende Formulierung bei Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, abgedruckt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 264, der die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung als Ausdruck des Kultur- und Wertsystems „gerade der Deutschen“ bezeichnet. 39 Steffen Heitmann, Zweite Lesung des Entwurfs „Verfassung des Freistaates Sachsen“, Plenarprotokoll vom 25./26. Mai 1992, in: Stober (Hrsg.): Quellen zur Entstehungsgeschichte der Sächsischen Verfassung, 1993, S. 416; Hans von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer. Einführung und synoptische Darstellung, 2. Aufl. 1997, S. 15 f., 61. 40 Steffen Heitmann/Arnold Vaatz, Nachbemerkung, in: Koordinierungsausschuss für die Bildung des Landes Sachsen (Hrsg.): Verfassung des Landes Sachsen. Gohrischer Entwurf, 1990, S. 51 ff. (53). 41 Präambel, Abs. 3 Sächsische Verfassung. 42 Art. 7 IPBPR; Art. 3 EMRK. 43 Art. 16 Abs. 2 Sächsische Verfassung. 44 Art. 78 Abs. 3 Satz 1 Sächsische Verfassung. 45 Art. 78 Abs. 3 Satz 1 Sächsische Verfassung. 46 Art. 35 Satz 2 Sächsische Verfassung. 47 Art. 33 Sächsische Verfassung. 48 Art. 27 Abs. 2 Satz 3 Sächsische Verfassung. 49 Art. 20 Abs. 2 Sächsische Verfassung.

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deutschen Teilung die „Grundversorgung“50 mit verlässlichen Informationen auch in der DDR von den öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten des Westens geleistet wurde.51 Die Aufwertung der Versammlungsfreiheit von einem Deutschenrecht zu einem Menschenrecht52 lag in der Konsequenz der friedlichen Revolution von 1989. Denn es waren die „Montagsdemonstrationen“, die dem SED-Regime in Sachsen die Freiheit und den Freistaat abgetrotzt hatten. Die Ausübung des Menschenrechts der Versammlungsfreiheit hatte sich auf diese Weise im eigentlichen Wortsinne als „schlechthin konstituierend“53 für Freiheit und Demokratie in Sachsen erwiesen. Die sozialen und ökologischen Forderungen der Revolution hat der sächsische Verfassungsgeber hingegen primär im Kapitel über die Staatsziele aufgegriffen.54 Einige Tropfen sozialen und ökologischen Öls wurden aber auch dem Grundrechtskatalog eingeträufelt. So wird im Vergleich zum Text des Grundgesetzes das Recht auf Bildung stärker akzentuiert,55 Personen, die in „häuslicher Gemeinschaft“ Kinder erziehen oder für Hilfsbedürftige sorgen, ohne im verfassungsrechtlichen Sinne eine Familie zu bilden,56 wird „Förderung und Entlastung“ versprochen,57 den Mitarbeitern in Betrieben und Einrichtungen des Landes ein Recht auf Mitbestimmung ge-

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Hierzu BVerfGE 73, 118 (157 f.); BVerfGE 87, 181 (198 ff.). Vgl. etwa Jochen Staadt, Deutsch-deutsche Beziehungen 1949 – 1989, in: Schwarz (Hrsg.): Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, 2008, S. 157 (176 ff.). 52 Art. 23 Sächsische Verfassung. 53 Erstmals hat das Bundesverfassungsgericht im Lüth-Urteil das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung als „[f]ür eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung … schlechthin konstituierend“ bezeichnet, BVerfGE 7, 198 (208). In seiner Brokdorf-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht diese Feststellung auf die Versammlungsfreiheit ausgedehnt: „Wird die Versammlungsfreiheit als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe verstanden, kann für sie nichts grundsätzlich anderes gelten“, BVerfGE 69, 315 (345). Vgl. speziell zur Sächsischen Verfassung Christoph Enders, „Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung … schlechthin konstituierend“: Meinungs- und Versammlungsfreiheit in der Praxis des sächsischen Versammlungsrechts 20 Jahre nach der Verfassungsgebung, SächsVBl. 2012, S. 166 (166 ff). 54 Hierzu unter II. 3. 55 Art. 29, 102 Sächsische Verfassung. 56 Vgl. Art. 22 Abs. 1 Sächsische Verfassung, der Ehe und Familie unter „besonderen Schutz“ stellt. Die Einfügung des Absatzes 2 zielte vor allem auf nichteheliche Lebensgemeinschaften ab, vgl. Protokoll der sechsten Klausurtagung des Verfassungs- und Rechtsausschusses, 10./11. Januar 1992, S. 69 – 72, abgedruckt in: Schimpff/Rühmann (Hrsg.): Die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen. Materialien und Studien des Sächsischen Landtages, Bd. 1, 1997, S. 425 ff. Da aber das Beziehungsverhältnis von Eltern und Kindern bereits vom Familienbegriff des Art. 22 Abs. 1 Sächsische Verfassung erfasst ist (vgl. BVerfGE 112, 50 [65] zu Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz), läuft Abs. 2 insoweit leer, ebenso Christoph Degenhart, Die Grundrechte der Sächsischen Verfassung, in: ders./Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 7 Rn. 53. 57 Art. 22 Abs. 2 Sächsische Verfassung. 51

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währt58 und im Dienste des Umweltschutzes wird schließlich jedem ein Recht auf Auskunft über Umweltdaten eingeräumt.59 Bei einer Gesamtbetrachtung sind diese Modifikationen jedoch zu schwach konturiert, um den Grundrechtskatalog von seinem grundgesetzlichen Vorbild zu emanzipieren und so den Grundrechten der Sächsischen Verfassung ein eigenständiges materielles Gepräge zu geben. Die substantiellen Neuerungen beschränken sich im Wesentlichen auf das Recht auf Auskunft über Umweltdaten60 und auf Mitbestimmung in Betrieben und Einrichtungen des Landes.61 Im Übrigen macht die Sächsische Verfassung lediglich sichtbar, was auf Bundesebene aufgrund prätorischer Rechtsschöpfung des Bundesverfassungsgerichts längst zum gesicherten Grundrechtsbestand gehört.62 Dennoch kommt dem Grundrechtsabschnitt der Sächsischen Verfassung unter zwei Aspekten eine nicht zu unterschätzende Integrationswirkung zu: Erstens geht materiell mit der weitgehenden Übernahme des grundgesetzlichen Grundrechtskataloges auch die „Annahme und Aneignung“63 des bundesstaatlichen „Kultur- und Wertsystem[s]“64 durch den sächsischen pouvoir constituant einher. Die gemeinsame Wertebasis im Bundesstaat wird sichtbar und erfahrbar gemacht. Die Landesverfassung wird damit zum Katalysator für die gesamtstaatliche Integration und Kohäsion.65 Zweitens tritt mit zunehmender Geltungsdauer der Verfassung ein weiterer Aspekt hinzu, der an den formellen Geltungsgrund der Landesgrundrechte anknüpft. Sobald der Bürger die Grundrechte der Landesverfassung in Anspruch nimmt, erfährt er sie nämlich als spezifische, durch die Sächsische Verfassung verbürgte Gewährleistungen. Vor allem durch die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde zum Sächsischen Verfassungsgerichtshof66 wird für den Bürger spürbar, dass es sich 58

Art. 26 Sächsische Verfassung. Art. 34 Sächsische Verfassung. Beachte auch die Normierung der „ökologischen Eigentumsbindung“ in Art. 39 Abs. 2 Sächsische Verfassung. 60 Art. 34 Sächsische Verfassung. 61 Art. 26 Sächsische Verfassung. 62 So im Ergebnis auch Christoph Degenhart, Die Grundrechte der Sächsischen Verfassung, in: ders./Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 7 Rn. 2. 63 Josef Isensee, Chancen und Grenzen der Landesverfassung im Bundesstaat, SächsVBl. 1994, S. 29 (31). 64 Vgl. Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, abgedruckt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119 (264 f.). 65 Josef Isensee, Chancen und Grenzen der Landesverfassung im Bundesstaat, SächsVBl. 1994, S. 29 (31); Hans Vorländer, Verfassungstheorie und demokratischer Transitionsprozess. Der (ost-)deutsche Konstitutionalismus, in: Lorenz (Hrsg.): Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften. Bilanz und Perspektiven 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, 2011, S. 244 (249 ff., 255 ff.). 66 Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 Sächsische Verfassung. 59

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hier um einen Rechtsstatus handelt, der ihm originär durch die Verfassung des Freistaates vermittelt wird.67 2. Die Grundentscheidung für die Relegation der Grundrechte in den zweiten Abschnitt der Verfassung Die zweite Grundentscheidung des sächsischen Verfassungsgebers betraf die systematische Stellung des Grundrechtskataloges innerhalb der Verfassung. Während das Grundgesetz bekanntlich mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde, dem Menschenrechtsbekenntnis und den Grundrechten anhebt und erst im Anschluss daran die Staatsstrukturprinzipien folgen lässt, ist in der Sächsischen Verfassung die Reihenfolge genau umgekehrt: Die Grundrechte rangieren hier hinter dem Abschnitt über die „Grundlagen des Staates“. Der Grund für diese Rochade lag in dem Bestreben, diejenigen Elemente der Verfassung an ihre Spitze zu stellen, die in besonderer Weise die Identität des neu konstituierten Freistaates ausmachen.68 Die aus dem Grundgesetz rezipierten Grundrechte konnten das Verlangen nach regionaler Identitäts- und Sinnstiftung nicht stillen. Raum für die Setzung prononcierter eigenstaatlicher Akzente erblickte man stattdessen – trotz der grundgesetzlichen Homogenitätsvorgaben – primär im Bereich der Staatsstrukturprinzipien und Staatsziele. Die Opportunitätskosten für die Relegation der Menschenwürde und der Grundrechte in das zweite Glied des Verfassungstextes69 waren aber nicht ganz unerheblich: Den in der Präambel der Sächsischen Verfassung beklagten „leidvollen Erfahrungen nationalsozialistischer und kommunistischer Gewaltherrschaft“70 hätte man – wie im Grundgesetz an exponierter Stelle im ersten Artikel das kraftvolle Manifest der Menschenwürde entgegensetzen können. Man hätte so bereits in der Architektur der Verfassung die Tatsache sichtbar machen können, dass die Menschenwürde auch

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Birgit Munz, 20 Jahre Sächsische Verfassung, SächsVBl. 2012, S. 129 (130). Vgl. die Diskussion im Verfassungs- und Rechtsausschuss zur systematischen Stellung des Grundrechtskataloges, Protokoll der sechsten Klausurtagung des Verfassungs- und Rechtsausschusses, 10./11. Januar 1992, S 8 f., abgedruckt in: Schimpff/Rühmann (Hrsg.): Die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen. Materialien und Studien des Sächsischen Landtages, Bd. 1, 1997, S. 364 f. Siehe hierzu auch Bernd Kunzmann, in: Baumann-Hasske/ders. (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Vorbemerkung vor Art. 1: Verfassungsgrundsätze Rn. 2; Hans von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer. Einführung und synoptische Darstellung, 2. Aufl. 1997, S. 49. 69 Die Menschenwürde lugt zwar bereits im ersten Abschnitt in Art. 7 Abs. 1 Sächsische Verfassung in ihrer sozialen Dimension kurz hervor, wird dort aber durch Art. 13 Sächsische Verfassung in ihrer Normativität zunächst auf ein Staatsziel reduziert. Siehe zu dieser Problematik die Ausführungen unter III. 70 Präambel, Abs. 3 Sächsische Verfassung. 68

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im Freistaat Sachsen das „oberste Konstitutionsprinzip“71 bildet und damit „[d]er Staat um des Menschen willen da [ist]“ und „nicht der Mensch um des Staates willen.“72 Allerdings gilt es zwei Besonderheiten zu beachten, die die Ausgangslage der Verfassungsgebung in Sachsen vor 20 Jahren deutlich von der Situation des Parlamentarischen Rates im Jahre 1949 unterschied: Erstens war der Freistaat im Zeitpunkt des Inkrafttretens seiner Verfassung schon längst als Land der Bundesrepublik Deutschland der Geltung des Grundgesetzes unterworfen. Damit war kraft Art. 1 Abs. 3 Grundgesetz die Unantastbarkeit der Menschenwürde und ihre Qualität als „oberstes Konstitutionsprinzip“ auch für den sächsischen Freistaat bereits unverbrüchlich garantiert.73 Zweitens darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sich die Bevölkerung der ehemaligen DDR während der friedlichen Revolution des Jahres 1989 aus eigener Kraft vom Joch der kommunistischen Gewaltherrschaft befreit hat. Die ethische Triebfeder des friedlich aufbegehrenden Volkes war die Trias des Konziliaren Prozesses: „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“.74 Diese sich in der Menschenwürde und den Grundrechten widerspiegelnden Postulate waren also bereits fest im Bewusstsein des sächsischen Volkes verankert. In diesem Sinne konnte die Sächsische Verfassung den gesellschaftlichen Grundwertekonsens in ihrer Präambel durch den Verweis auf die Trias des Konziliaren Prozesses schlicht voraussetzen.75 Anders als 1949 war es daher nicht mehr unbedingt nötig, dem Volk die Menschenwürde und die Grundrechte in den ersten Artikeln der Verfassung als ethische Schautafeln entgegenzuhalten.76

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Josef Wintrich, Über Eigenart und Methode verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung, in: Institut für Staatslehre und Politik e.V. Mainz (Hrsg.): Verfassung und Verwaltung in Theorie und Wirklichkeit. Festschrift für Herrn Geheimrat Professor Dr. Wilhelm Laforet anlässlich seines 75. Geburtstages, 1952, S. 227 (232). Siehe auch BVerfGE 6, 32 (36) („tragendes Konstitutionsprinzip“). 72 Art. 1 Abs. 1 des Entwurfs des Herrenchiemseer Konvents, abgedruckt in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.): Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 2, 1981, S. 504 (580). 73 Hans von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer. Einführung und synoptische Darstellung, 2. Aufl. 1997, S. 49. 74 Vgl. die Ergebnistexte der dritten Vollversammlung der Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der DDR, 30. April 1989, abrufbar unter: http://oikoumene.net/home/regional/dresden/index.html. 75 Präambel, Abs. 5 Sächsische Verfassung. 76 Zur sozialethischen Bedeutung der Grundrechte in den frühen Jahren der Bundesrepublik Deutschland Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 84 ff.

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3. Die Grundentscheidung für die Aufnahme von sozialen, ökologischen und kulturellen Staatszielen In Art. 1 Sächsische Verfassung stellt sich der Freistaat zunächst als republikanischer, demokratischer und sozialer Rechtsstaat vor und arbeitet damit das bundesstaatliche Homogenitätsprogramm des Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz ab. Auch in den Art. 3 und 4 Sächsische Verfassung, die das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip näher ausgestalten, bewegt sich der Verfassungsgeber weitgehend auf den durch das Grundgesetz vorgezeichneten Pfaden. Ein erster deutlicher Kontrapunkt wird durch die prononcierte Öffnung des Gesetzgebungsprozesses für die unmittelbare Beteiligung des Volkes gesetzt,77 eine ganz offensichtliche Reverenz an den Geist der friedlichen Revolution von 1989. Neben den direktdemokratischen Beteiligungsformen gelten die im ersten Abschnitt der Verfassung formulierten Staatsziele als die eigentliche verfassungsrechtliche Visitenkarte des Freistaates. Schon in der Fundamentalnorm des Art. 1 Sächsische Verfassung wird der Freistaat nicht nur auf das Sozialstaatsprinzip, sondern auch auf „den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“ und auf die Kultur verpflichtet. Die aus dem Grundgesetz geläufige Sozialstaatlichkeit wird also um die Umwelt- und Kulturstaatlichkeit ergänzt.78 In den folgenden Artikeln des Grundlagenabschnitts werden diese drei Grundstaatsziele dann jeweils filigran ausdifferenziert.79 Die besondere identitätsstiftende und integrationsfördernde Wirkung der Staatszieltrias von Sozial-, Umwelt- und Kulturstaatlichkeit besteht zunächst einmal darin, dass mit der sozialstaatlichen Pflicht zur Förderung sozialer Gerechtigkeit und der „Bewahrung der Schöpfung“ zwei zentrale Forderungen des Konziliaren Prozesses80 und der friedlichen Revolution von 1989 in den Rang von verfassungsrechtlichen Fundamentalnormen gehoben worden sind. Die Sozialstaatlichkeit und die Anerkennung sozialer Rechte „als Staatsziele“81 versprachen dem Volk im Freistaat einen gewissen fürsorglichen Rückhalt in der schwierigen Transformation aus dem dirigistischen Versorgungsstaat der DDR in die kalt anmutende marktwirtschaftliche Welt der Bundesrepublik Deutschland.82 Die besonderen Gewährleistungen zum Schutz 77

Hierzu Thomas Fetzer in diesem Band. Siehe zur Sozial-, Kultur- und Umweltstaatlichkeit als Grundstaatsziele des modernen Verfassungsstaates Karl-Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 223 ff., 230 ff., 247 ff. 79 Art. 7 bis 11 Sächsische Verfassung. 80 Vgl. die Ergebnistexte der dritten Vollversammlung der Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der DDR, 30. April 1989, abrufbar unter: http://oikoumene.net/home/regional/dresden/index.html. 81 Vgl. Art. 7 Abs. 1 Sächsische Verfassung. Zum Verhältnis von Staatszielen zu sozialen Grund- und Menschenrechten siehe unten unter III. 82 Steffen Heitmann, Zweite Lesung des Entwurfs „Verfassung des Freistaates Sachsen“, Plenarprotokoll vom 25./26. Mai 1992, in: Stober (Hrsg.): Quellen zur Entstehungsgeschichte 78

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der Umwelt bildeten eine unmittelbare Reaktion auf die massive Umweltzerstörung, die das SED-Regime hinterlassen hatte. Das vor diesem Hintergrund in der DDR gewachsene Umweltbewusstsein gehörte zu den entscheidenden Katalysatoren für den Ausbruch der friedlichen Revolution des Jahres 1989. In Sachsen war dies beim Widerstand gegen das Reinstsiliziumwerk in Dresden-Gittersee besonders augenfällig geworden.83 Auch wenn bereits einige der alten Bundesländer durch entsprechende Verfassungsänderungen den Umweltschutz als Staatsziel normiert hatten,84 verlieh ihm der sächsische Verfassungsgeber eine neue Qualität.85 In Art. 1 Sächsische Verfassung wird die Umweltstaatlichkeit nämlich zu einer Staatsfundamentalnorm erhoben und damit dem durch die „Ewigkeitsgarantie“86 abgeschirmten unverfügbaren Kerngehalt der Verfassung zugeordnet. In diesem Sinne hat auch die These eine gewisse Berechtigung, dass die Sächsische Verfassung mit der Formulierung und Konturierung des Staatsziels Umweltschutz in Art. 1 und 10 zu den Wegbereitern für seine Konstitutionalisierung auf Bundesebene (Art. 20a Grundgesetz) gehörte.87 Die Verankerung des Umweltstaatsprinzips in der Sächsischen Verfassung nahm zugleich die auf völkerrechtlicher Ebene immer stärkeren Rückhalt findende Erkenntnis auf, dass die Bewahrung der Umwelt für die gesamte Menschheit zu einer Überlebensfrage geworden ist und somit zu den fundamentalen Gemeinwohlzielen der internationalen Gemeinschaft zählt.88 Mit seinem rückhaltlosen Bekenntnis zur Umweltstaatlichkeit gehörte der sächsische pouvoir constituant auch im internationalen Vergleich zur konstitutionellen Avantgarde. Dies mag man schon daran ablesen, dass vor 20 Jahren, als die Sächsische Verfassung in Kraft trat, in Rio de Janeiro die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung, deren Abschluss-Dokument heute als die Magna Charta des internationalen Umweltschutzes gilt, gerade erst begonnen hatte.89 der Sächsischen Verfassung, 1993, S. 417; Hans von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer. Einführung und synoptische Darstellung, 2. Aufl. 1997, S. 15. 83 Hierzu Reinhard Buthmann, „Den Bürger noch nie so mutig erlebt.“ Eine Chronologie der Auseinandersetzungen um das Reinstsiliziumwerk Dresden-Gittersee, Horch und Guck 2003 (3), S. 28 (28 ff.); Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949 – 1989, 1997, S. 748; Gerhard Rein, Die protestantische Revolution 1987 – 1990, 1990, S. 191 f. 84 Vgl. den Überblick bei Rupert Scholz, in: Maunz/Dürig (Begr.): Kommentar zum Grundgesetz, Stand der 67. Erg.-Lfg. (November 2012), Art. 20a, Rn. 3. 85 Steffen Heitmann, Zweite Lesung des Entwurfs „Verfassung des Freistaates Sachsen“, Plenarprotokoll vom 25./26. Mai 1992, in: Stober (Hrsg.): Quellen zur Entstehungsgeschichte der Sächsischen Verfassung, 1993, S. 421 („… bisher einmalig im deutschen Rechtsraum“). 86 Art. 74 Abs. 1 Sächsische Verfassung. 87 So Peter Nagel, Staatsziele, in: Dehoust/ders./Umbach (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 24 (27). 88 Hierzu etwa Karl-Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 277 ff. 89 Rio Declaration on Environment and Development, 14. 6. 1992, UN Dok. A/CONF.151/ 26 (Vol. I).

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Das verfassungsrechtliche Bekenntnis zum Umweltschutz90 und der damit verbundene Grundsatz der „nachhaltigen Entwicklung“91 knüpfen schließlich – bewusst oder unbewusst – an eine sehr viel ältere sächsische Pionierleistung an:92 Hans Carl von Carlowitz, 1711 von August dem Starken zum sächsischen Oberberghauptmann ernannt, war kurz nach seinem Amtsantritt mit einer folgenschweren Umwelt- und Energiekrise konfrontiert. Durch den Raubbau an den Wäldern des Erzgebirges versiegte allmählich der Holznachschub, den August der Starke dringend für den Erzund Silberbergbau sowie die Befeuerung der Schmelzhütten benötigte. Unter dem Eindruck dieser Krise verfasste von Carlowitz sein opus magnum, das forstwissenschaftliche Standardwerk „Sylvicultura oeconomica“, in dem er einen Ausgleich von Ökonomie und Ökologie propagierte und dabei den Begriff der Nachhaltigkeit prägte.93 Hans Carl von Carlowitz gilt nach wie vor weit über die Grenzen Sachsens hinaus als einer der ersten und wichtigsten Vordenker des Prinzips der nachhaltigen Entwicklung.94 Im Gegensatz zur Umweltstaatlichkeit war vor 20 Jahren die Kulturstaatlichkeit auch auf Bundesebene bereits als Staatsziel anerkannt. Obwohl im Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt, hat das Bundesverfassungsgericht schon früh konstatiert, dass die Kulturstaatlichkeit den Grundrechten – insbesondere der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz – immanent ist.95 Die Sächsische Verfassung löst dieses Prinzip nun von den Grundrechten ab, macht es als Verfassungsnorm sichtbar, positioniert es an prominenter Stelle in Art. 1 Sächsische Verfassung und fächert es in spezifische Schutz-, Förder- und Gewährleistungspflichten auf.96 Die Nobilitierung des Kulturstaatsprinzips zu einer Fundamentalnorm findet einerseits ihre Rechtfertigung darin, dass die Kultur in der föderalen Ordnung des Grundgesetzes in den originären Kompetenzbereich der Länder fällt, so dass im Hin90

Art. 1, 10 Sächsische Verfassung. Bernd Kunzmann, in: Baumann-Hasske/ders (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 10 Rn. 2, 10. 92 Vgl. zum Folgenden Ulrich Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit, 2010, S. 105 ff. 93 Hans Carl von Carlowitz, Sylvicultura oeconomica oder haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur wilden Baum-Zucht, 1713, S. 105 f.: „Wird derhalben die größte Kunst, Wissenschaft, Fleiß, und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen, wie eine sothane Conservation und Anbau des Holzes anzustellen, daß es eine continuierliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe, weiln es eine unentbehrliche Sache ist, ohne welche das Land in seinem Esse nicht bleiben mag.“ 94 Siehe etwa Christina Voigt, Sustainable Development as a Principle of International Law. Resolving Conflicts Between Climate Measures and WTO Law, 2009, S. 12. 95 BVerfGE 36, 321 (331); zuletzt BVerfGE 127, 87 (114). 96 Art. 11 Sächsische Verfassung. Hierzu im Einzelnen Christoph Degenhart, Die Staatszielbestimmungen der Sächsischen Verfassung, in: ders./Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 6 Rn. 32 ff.; Bernd Kunzmann, in: BaumannHasske/ders. (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 11; Peter Nagel, Staatsziele, in: Dehoust/ders./Umbach (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 24 (27 f.). 91

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blick auf ihren Schutz und ihre Förderung auch eine besondere Verantwortung der Bundesländer besteht.97 Andererseits spiegelt das besondere Gewicht, das die Sächsische Verfassung dem Schutz und der Förderung der Kultur beimisst, ihr außerordentlich großes Potential zur Sinn- und Identitätsstiftung wider. Wie die Minderheitenschutzartikel der Sächsischen Verfassung explizit ausweisen, ist es gerade die Kultur, über die sich die Identität einer Gruppe und die Identifikation des Einzelnen mit ihr definiert.98 Dies gilt in besonderem Maße für den sächsischen Freistaat, der mit einem außerordentlich reichen und lebendigen kulturellen Erbe gesegnet ist. Die Minderheitenschutzbestimmungen stellen zugleich die kulturelle Offenheit des Freistaates unter Beweis.99 Die Verfassung gewährt dabei nicht nur den seit weit mehr als 1000 Jahren in ihrem jetzigen Siedlungsgebiet lebenden Sorben besonderen Schutz.100 Sie dehnt den kulturellen Assimilationsschutz explizit auch auf andere nationale oder ethnische Minderheiten aus.101 Damit scheint die Sächsische Verfassung den Minderheitenschutz auch auf sogenannte „neue Minderheiten“ zu erstrecken.102 Sofern die Angehörigen einer Minderheit die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen,103 gewährleistet und schützt die Verfassung in vollem Umfange ihr Recht auf Bewahrung ihrer Identität sowie auf Pflege ihrer Sprache, Religion, Kultur und Überlieferung.104 Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Bevölkerungsstruktur im Freistaat hat diese Ausdehnung des Minderheitenschutzes weitgehend virtuellen

97 Vgl. auch Art. 35 Abs. 3 Einigungsvertrag (Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990, BGBl. 1990 II S. 889 [Art. 1 und Anlage II Kap. II A II] i.V.m. dem Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik vom 22. Juli 1990, GBl I S. 955). 98 Art. 5 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 Sächsische Verfassung. 99 Hierzu Peter Nagel, Die Grundlagen des Staates, in: Dehoust/ders./Umbach (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 15 (22 f.); Ulrich Fastenrath, Staatsvolk, Staatsbürgerschaft, Minderheitenschutz, in: Degenhart/Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 4 Rn. 15 ff., 27 ff.; Bernd Kunzmann, in: Baumann-Hasske/ders. (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 5 Rn. 2, 11 ff., 17 ff., Art. 6 Rn. 1 ff. 100 Art. 6 Sächsische Verfassung. 101 Art. 5 Abs. 2 und 3 Sächsische Verfassung. 102 Hierzu etwa Peter Hilpold, Neue Minderheiten im Völkerrecht und im Europarecht, Archiv des Völkerrechts 42 (2004), S. 80 ff. 103 Art. 27 IPBPR, der dem sächsischen Verfassungsgeber als Vorbild diente (vgl. Bernd Kunzmann, in: Baumann-Hasske/ders. [Hrsg.]: Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 5 Rn. 13: „landesverfassungsrechtliche Präzisierung von Art. 27 [IPBPR]“), differenziert hingegen das Schutzniveau nicht nach der Staatsangehörigkeit, siehe Human Rights Committee, General Comment No. 23: The Rights of Minorities (Art. 27), UN Dok. CCPR/C/21/Rev.1/Add.5 (1994). 104 Art. 5 Abs. 2 Sächsische Verfassung.

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Charakter.105 Abhängig von zukünftigen Migrationsbewegungen kann sich dies aber ändern. Es könnte dann durchaus sein, dass man sich eines Tages darüber streiten wird, ob der Freistaat die Religionsausübung moslemischer Bürger kraft Art. 5 Abs. 2 Sächsische Verfassung auch materiell unterstützen muss,106 oder anders gewendet, ob „der Islam“ von Verfassung wegen „zu Sachsen gehört“.107 Art. 12 Sächsische Verfassung weist den Freistaat schließlich als „offenen Verfassungsstaat“108 aus, der „auf das Zusammenwachsen Europas und auf eine friedliche Entwicklung in der Welt gerichtet ist.“ Das bedeutet einerseits die Verpflichtung auf die internationale Zusammenarbeit, die sich aufgrund der stark eingeschränkten auswärtigen Kompetenzen der Bundesländer im Wesentlichen auf die grenzüberschreitende regionale Kooperation beschränkt.109 Das dem Art. 12 Sächsische Verfassung immanente Prinzip der „offenen Verfassungsstaatlichkeit“ ist aber, wie der Sächsische Verfassungsgerichtshof in Anlehnung an die entsprechende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts110 überzeugend entwickelt hat, auch im Sinne der normativen Einordnung in die internationale Gemeinschaft auf europäischer und universaler Ebene zu verstehen.111 Daraus folgt nach Auffassung des Sächsischen Ver105 Im Jahre 2010 betrug der Ausländeranteil in Sachsen 2,7 % gegenüber 8,8 % im Bundesdurchschnitt, vgl. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (Hrsg.): Ausländische Mitbürger in Sachsen, Ausgabe 2011, S. 1. 106 Zur Deutung der Gewährleistungspflicht als Gebot, die Bewahrung und Pflege der Sprache, Religion, Kultur und Überlieferung der betreffenden Minderheit notfalls mit materiellen Leistungen zu unterstützen Ulrich Fastenrath, Staatsvolk, Staatsbürgerschaft, Minderheitenschutz, in: Degenhart/Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 4 Rn. 34; differenzierend Bernd Kunzmann, in: Baumann-Hasske/ders. (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 5 Rn. 15. 107 Vgl. zur gegenwärtigen politischen Debatte, ob „der Islam zu Deutschland gehört“ Bundespräsident Christian Wulff, Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, 3. November 2010, abrufbar unter: http://www.bundespraesident.de („[D]er Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“); Bundespräsident Joachim Gauck, Interview mit der ZEIT, 31. März 2012, abrufbar unter: www.zeit.de/politik/deutschland/2012 – 05/bundespraesident-gauck-interview (Diesen Satz könne er so nicht übernehmen. „Ich hätte einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland.“); Bundeskanzlerin Angela Merkel, „Tele-Townhall“, 26. September 2012 („Wir sollten da ganz offen sein und sagen: Ja, das ist ein Teil von uns.“), vgl. ZEIT-ONLINE, 27. September 2012, http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012 – 09/ merkel-islam. 108 Grundlegend zur „Offenen Verfassungsstaatlichkeit“ Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964; vgl. aus jüngerer Zeit Thomas Giegerich (Hrsg.): Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren, 2010. 109 Christoph Degenhart, Die Staatszielbestimmungen der Sächsischen Verfassung, in: ders./Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 6 Rn. 35. 110 Siehe BVerfGE 111, 307 (317 ff.); 112, 1 (25 ff.) jeweils m.w.N. zur früheren Rechtsprechung. 111 SächsVerfGH JbSächsOVG 4, 50 (63 f.). Beachte auch Art. 117 und 118 Sächsische Verfassung, in denen die völkerrechtlich verbürgten Menschenrechte als Ausdruck von „Grundsätze[n] der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit“ aufgefasst werden, die – ungeachtet positiver Rechtsetzung – von staatlichen Organen stets zu beachten sind.

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fassungsgerichtshofs insbesondere der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Anwendung und Auslegung der Sächsischen Verfassung.112 III. Zwischen Normativität und Programmatik Heute, 20 Jahre nach Verabschiedung der Sächsischen Verfassung, wird von einigen Beobachtern mit Ernüchterung konstatiert, dass die im ersten Abschnitt verankerten Staatsziele bislang nur äußerst geringe normative Wirkung entfaltet hätten. Insbesondere die Umwelt- und Kulturstaatlichkeit würden in der politischen Praxis „nicht sonderlich ernst [genommen].“113 Auf der Grundlage dieses Befundes wird sogar die grundsätzliche Frage aufgeworfen, „ob es klug war, die Staatsziele so zu normieren, wie es im 1. Abschnitt der Verfassung geschehen ist.“114 1. Der Brückenbau zu Dresden: Menetekel für die erodierende Normativität der Sächsischen Verfassung? Als Menetekel für die Erosion der Normativität der Staatsziele wird vor allem der im Jubiläumsjahr der Verfassung kurz vor seiner Vollendung stehende Bau der Dresdner Waldschlösschenbrücke angesehen.115 Bekanntlich führte das beharrliche Festhalten der sächsischen Kommunalaufsichtsbehörden an diesem ehrgeizigen Verkehrsprojekt dazu, dass das UNESCO-Welterbekomitee das Dresdner Elbtal vor drei Jahren kurzerhand von der Liste des Weltkulturerbes strich.116 Der sich in seiner Verfassung stolz als Kulturstaat gerierende Freistaat musste sich von der internationalen Staatengemeinschaft vorhalten lassen, seine (bundesstaatlich vermittelten)117 Pflichten als Treuhänder des Weltkulturerbes eklatant verletzt zu haben.118 112

SächsVerfGH JbSächsOVG 4, 50 (63 f.). Bernd Kunzmann, in: Baumann-Hasske/ders. (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 13 Rn. 12. Siehe auch dens., ebenda, Art. 10 Rn. 20, Art. 11 Rn. 21. 114 Bernd Kunzmann, Wie in Stein gehauen: Die letzten 20 Jahre sächsischer Verfassungsgeschichte im Vergleich, SächsVBl. 2012, S. 152 (164). 115 Ebenda; ders., in: Baumann-Hasske/ders. (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 11 Rn. 21. 116 UNESCO-Welterbekomitee, Entscheidung 33 COM 7 A.26 vom 25. Juni 2009, abgedruckt in: World Heritage Committee, Report of Decisions of the 33rd Session of the World Heritage Committee (Seville, 2009), Dok. WHC-09/33.COM/20 (2009), S. 43 f. Zu den tatsächlichen und rechtlichen Hintergründen Ulrich Fastenrath, Der Schutz des Weltkulturerbes in Deutschland, DÖV 2006, S. 1017 (1017 ff.); Sabine von Schorlemer, Compliance with the UNESCO World Heritage Convention: Reflections on the Elbe Valley and the Dresden Waldschlösschen Bridge, German Yearbook of International Law 51 (2008), S. 321 (321 ff.). 117 Siehe zur Problematik der innerstaatlichen Umsetzung der Welterbekonvention in Deutschland und zum Umfang der Pflicht der Landesorgane, die Konvention zu beachten, Armin von Bogdandy/Diana Zacharias, Zum Status der Welterbekonvention im deutschen 113

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Die „Causa Waldschlösschenbrücke“ zwingt jedoch nicht unbedingt zu einer so pessimistischen Einschätzung der normativen Steuerungskraft der in der Sächsischen Verfassung niedergelegten Staatsziele. Der Planungs- und Entscheidungsprozess betraf nämlich nicht nur die Kulturstaatlichkeit, sondern war in das Kräftefeld mehrerer Verfassungsprinzipien eingestellt. Das als Optimierungsgebot verfassungsrechtlich festgeschriebene Ziel des Schutzes und der Förderung der Kultur119 sowie die kraft Bundestreue120 und internationaler Offenheit121 zu berücksichtigenden Vorgaben der Welterbekonvention und des Welterbekomitees mussten also mit anderen (zum Teil ebenfalls verfassungsrechtlich radizierten) Gemeinwohlinteressen und den normativen Anforderungen des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips zum Ausgleich gebracht werden. Dabei fiel nach Einschätzung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts122 und des schließlich ebenfalls mit der Sache befassten Bundesverfassungsgerichts123 vor allem ins Gewicht, dass die maßgebliche Entscheidung für den Bau der Brücke auf einem Bürgerentscheid „als authentische[r] Ausdrucksform unmittelbarer Demokratie“124 beruhte. Damit verschob sich die verfassungsrechtliche Beurteilung von der materiellen auf die formelle Ebene. Es ging nun nicht mehr in erster Linie um den Konflikt zwischen der kulturstaatlich gebotenen Bewahrung einer Kulturlandschaft einerseits und ihrer auf andere Gemeinwohlinteressen gestützten „planerischen Fortentwicklung“125 andererseits, sondern um die Zuweisung der Kompetenz für dessen autoritative Auflösung. Rechtsraum, NVwZ 2007, S. 527 (527 ff.); Ulrich Fastenrath, Zur Abgrenzung des Gesetzgebungsvertrags vom Verwaltungsabkommen i.S.d. Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz am Beispiel der UNESCO-Welterbekonvention, DÖV 2008, S. 697 (697 ff.); ders., Souveräne Grundgesetzinterpretation. Zum Staatsbild des Bundesverfassungsgerichts (Zweiter Senat), in: Giegerich (Hrsg.): Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren, 2010, S. 295 (318 f., 322). 118 Siehe insbesondere Art. 4 und 5 des Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt vom 23. November 1972, BGBl 1977 II S. 213. 119 Art. 1, 11 Sächsische Verfassung. Zu den Staatszielen als Optimierungsgeboten SächsVerfGH, LKV 1995, 399 (400). 120 Vgl. zur Bundestreue und zur Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten BVerfGE 12, 205 (255); zur Bundestreue als Prinzip des Landesverfassungsrechts Jörg Menzel, Landesverfassungsrecht. Verfassungshoheit und Homogenität im grundgesetzlichen Bundesstaat, 2002, S. 516 ff. 121 Art. 12 Sächsische Verfassung. Hierzu oben unter II. 3. 122 SächsOVG, SächsVBl. 2007, 137 (143 f.). 123 BVerfGK 11, 241 (251 f.). 124 Ebenda. Das SächsOVG, SächsVBl. 2007, 137 (143 f.), spricht von einem „Akt unmittelbarer Demokratie“, demgegenüber dem völkerrechtlich festgeschriebenen Kulturerbeschutz Vorrang gebühre und begründet dies mit den „in der Präambel der Sächsischen Verfassung angesprochen leidvollen Erfahrungen während der nationalsozialistischen und kommunistischen Gewaltherrschaft, die den Bürger nicht als demokratisch Regierenden, sondern als autoritär Regierten behandelt hat …“. 125 Vgl. BVerfGK 11, 241 (252).

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Die Problematik dieser Argumentation liegt also nicht so sehr in der Bagatellisierung der Kulturstaatlichkeit, als vielmehr in der Übersteigerung des Demokratieprinzips. Denn mit der Qualifizierung des Bürgerentscheides als „authentische Ausdrucksform unmittelbarer Demokratie“ werden die verfassungsstaatliche Urgewalt der Volkssouveränität und die Suggestivkraft des revolutionären „Wir sind das Volk“ beschworen, um etwaige materielle Bedenken gegen die Durchsetzung des Bürgerwillens beiseite zu schieben. Dies rührt nun in der Tat an die Grundfesten verfassungsstaatlicher Normativität. Im Zustand der verfassten Staatlichkeit ist das Volk nämlich nicht legibus solutus, sondern an die in der Verfassung festgeschriebenen formellen und materiellen Grenzen seiner Verfügungsmacht gebunden.126 Auch die in einem „Akt unmittelbarer Demokratie“ befragte Bürgerschaft, die zudem nur Teil des souveränen Volkes ist,127 muss daher „Gesetz und Recht“ beachten128 oder unter den verfassungsrechtlich vorgesehenen Kautelen auf ihre Änderung hinwirken.129 Die Kulturstaatlichkeit bleibt allerdings in Sachsen durch die „Ewigkeitsgarantie“ sogar der Verfügungsgewalt des pouvoir constituant constitué entzogen.130 Ihre normative Substanz könnte nur durch Revolution, nicht aber durch einen „Akt unmittelbarer Demokratie“ beseitigt werden. Zugleich gilt es zu beachten, dass auch nach der Welterbekonvention der Schutz des Kultur- und Naturerbes im Sinne des Prinzips der „nachhaltigen Entwicklung“ mit den legitimen Entwicklungsinteressen der betroffenen Bevölkerung zum Ausgleich gebracht werden muss, zumal wenn, wie im Dresdner Elbtal, eine ganze Kulturlandschaft zum Welterbe erklärt worden ist.131 Der in jüngerer Zeit vom UNESCO-Welterbekomitee unter gewissen Auflagen gebilligte Bau einer Rheinquerung in dem als Welterbe geschützten „Oberen Mittelrheintal“132 zeigt, dass die eigentliche Problematik der Waldschlösschenbrücke nicht in der materiellen Güterabwägung zwischen Kulturerbeschutz und Infrastrukturentwicklung, sondern in der Koordinierung der Entscheidungskompetenzen im Mehrebenensystem von Gemeinde, Land, Bund und internationaler Gemeinschaft lag. Der Vergleich mit dem rheinland-pfälzischen Pendant macht deutlich, dass der Stadt Dresden und den zuständigen Behörden des Freistaates vor allem der Vorwurf gemacht werden muss, nicht 126 Ulrich Fastenrath, Souveräne Grundgesetzinterpretation. Zum Staatsbild des Bundesverfassungsgerichts (Zweiter Senat), in: Giegerich (Hrsg.): Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren, 2010, S. 295 (322). 127 Ebenda. 128 Art. 3 Abs. 3 Sächsische Verfassung, Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz. 129 Siehe Art. 74 Sächsische Verfassung. 130 Art. 74 Abs. 1 Sächsische Verfassung. 131 Siehe Art. 4 und 5 des Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt vom 23. November 1972, BGBl 1977 II S. 213, die den Welterbeschutz als Optimierungsgebot unter den Vorbehalt des rechtlich und tatsächlich Möglichen stellen. 132 UNESCO-Welterbekomitee, Entscheidung 34 COM 7B.87 vom 30. Juli 2010, abgedruckt in: World Heritage Committee, Report of Decisions of the 34rd Session of the World Heritage Committee (Brasilia, 2010), Dok. WHC-10/34.COM/20 (2010), S. 129 f.

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frühzeitig und ernsthaft genug das Welterbekomitee in den Planungs- und Entscheidungsprozess eingebunden zu haben. Dies wäre nicht nur politisch opportun, sondern nach dem Kulturstaatsprinzip in Verbindung mit dem Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit und der Bundestreue auch verfassungsrechtlich geboten gewesen.133 Andererseits sind der „Berücksichtigung“ der Entscheidungen des Welterbekomitees im Hinblick auf ihren Mangel an demokratischer Legitimation und rechtstaatlicher Kontrolle unter dem Gesichtspunkt des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips auch verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt.134 Die genaue Auslotung dieser Grenzen ist nicht einfach. Die Entwicklung verlässlicher Parameter für das Zusammenwirken der unterschiedlichen Ebenen in einem solchen, transnational gestuften Verwaltungsverfahren gehört zu den großen aktuellen Herausforderungen der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht.135 2. „Nun sag, wie hast du’s mit der Normativität?“ Die Unterscheidung zwischen Staatszielen und Grundrechten Die strenge systematische und normative Unterscheidung von Staatszielen und Grundrechten wird vielfach als eine der großen Errungenschaften der Sächsischen Verfassung gefeiert. Die Sächsische Verfassung sei in dieser Hinsicht von „begrüßenswerter Deutlichkeit“,136 „Klarheit“,137 „Nüchternheit“138 und „Ehrlichkeit“.139 Sie sei insofern „in der deutschen Verfassungsgeschichte bisher einmalig“.140 133 Ulrich Fastenrath, Souveräne Grundgesetzinterpretation. Zum Staatsbild des Bundesverfassungsgerichts (Zweiter Senat), in: Giegerich (Hrsg.): Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren, 2010, S. 295 (318 f.); ders., Anmerkung zur Eilentscheidung des OVG Bautzen – 4 BS 216/06 – und zum Beschluss der 1. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts – 2 BvR 695/07, EurUP 2007, S. 142 (147 f.). 134 Vgl. BVerfGE 111, 307 (323 f.); BVerfGE 128, 326 (370 f.). 135 Vgl. zum damit angesprochenen Forschungsprogramm des „Global Administrative Law“ im Kontext des Welterbeschutzes Stefano Battini, The Procedural Side of Legal Globalization: The Case of the World Heritage Convention, International Journal of Constitutional Law 9 (2011), S. 340 (340 ff.); Diana Zacharias, The UNESCO Regime for the Protection of World Heritage as Prototype of an Autonomy-Gaining International Institution, in: von Bogdandy/Wolfrum/von Bernstorff/Dann/Goldmann (Hrsg.): The Exercise of Public Authority by International Institutions: Advancing International Institutional Law, 2010, S. 301 ff. 136 Christoph Degenhart, Die Staatszielbestimmungen der Sächsischen Verfassung, in: ders./Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 6 Rn. 3; Peter Nagel, Staatsziele, in: Dehoust/ders./Umbach (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 24 (24). 137 Hans von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer. Einführung und synoptische Darstellung, 2. Aufl. 1997, S. 60, 89 („klare Trennung von Staatszielen und Grundrechten“). 138 Hans von Mangoldt, 20 Jahre Sächsische Verfassung, SächsVBl. 2012, S. 146 (148). 139 Hans von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer. Einführung und synoptische Darstellung, 2. Aufl. 1997, S. 60, 89; ders., 20 Jahre Sächsische Verfassung, SächsVBl. 2012, S. 146 (148).

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Bei nüchterner Lektüre des Verfassungstextes stößt man jedoch zunächst auf eine komplexe Gemengelage von verfassungsrechtlichen Kategorien, die in ihrer Dialektik kaum auflösbar erscheint. So heißt es in Art. 7 Abs. 1 Sächsische Verfassung: „Das Land erkennt das Recht eines jeden Menschen auf ein menschenwürdiges Dasein, insbesondere auf Arbeit, auf angemessenen Wohnraum, auf angemessenen Lebensunterhalt, auf soziale Sicherung und auf Bildung, als Staatsziel an.“

Christoph Degenhart spricht hier treffend vom Prinzip der „verheißungsvollen Zurücknahme“.141 Mit der Kategorie des „Rechts eines jeden Menschen“ wird dem Einzelnen ein subjektiver Anspruch verheißen, der durch den Bezug auf die Menschenwürde sogar im Bereich des Allerheiligsten der Verfassung verortet wird.142 Der Vorbehalt, dass das Land dieses Recht nur „als Staatsziel“ anerkennt, scheint dem gerade noch begünstigten Menschen sein Recht aber gleich wieder aus der Hand zu schlagen. Denn nach der Sächsischen Verfassung sollen Staatsziele dem Einzelnen gerade keine subjektiv-öffentlichen Rechte einräumen.143 Dies folgt aus den unterschiedlichen Normativitätsumschreibungen für Grundrechte einerseits144 und Staatsziele andererseits145 sowie aus der Regelung über die Befugnis zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde vor dem Sächsischen Verfassungsgerichtshof.146 Für die im zweiten Abschnitt der Verfassung normierten Grundrechte heißt es in Art. 36 Sächsische Verfassung, dass „[d]ie in dieser Verfassung niedergelegten Grundrechte …. Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht [binden].“

Art. 13 Sächsische Verfassung normiert hingegen:

140 Steffen Heitmann, Zweite Lesung des Entwurfs „Verfassung des Freistaates Sachsen“, Plenarprotokoll vom 25./26. Mai 1992, in: Stober (Hrsg.): Quellen zur Entstehungsgeschichte der Sächsischen Verfassung, 1993, S. 420. 141 Christoph Degenhart, Die Staatszielbestimmungen der Sächsischen Verfassung, in: ders./Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 6 Rn. 9. 142 Vgl. Art. 14 i.V.m. Art. 74 Abs. 1 Sächsische Verfassung. 143 Siehe Bericht des Rechts- und Verfassungsausschusses zum Ausschussentwurf der Verfassung des Freistaates Sachsen (DS 1/1800) vom 18. Mai 1992, abgedruckt in: Stober (Hrsg.): Quellen zur Entstehungsgeschichte der Sächsischen Verfassung, 1993, S. 384, 397. Vgl. zu Art. 7 Abs. 1 Sächsische Verfassung SächsVerfGH, Beschluss vom 26. Februar 2009 – Vf. 161-IV-08, S. 2; Beschluss vom 5. November 2009 – Vf. 57-IV-09, S. 2; Christoph Degenhart, Die Staatszielbestimmungen der Sächsischen Verfassung, in: ders./Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 6 Rn. 3 f.; Peter Nagel, Staatsziele, in: Dehoust/ders./Umbach (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 24 (24, 26); Bernd Kunzmann, in: Baumann-Hasske/ders. (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 13 Rn. 2. 144 Art. 36 Sächsische Verfassung. 145 Art. 13 Sächsische Verfassung. 146 Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 Sächsische Verfassung.

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Thilo Rensmann „Das Land hat die Pflicht, nach seinen Kräften die in dieser Verfassung niedergelegten Staatsziele anzustreben und sein Handeln danach auszurichten.“

Mit der Normierung dieser objektiven Optimierungspflicht ist die subjektivrechtliche Dimension der Staatsziele zwar noch nicht unbedingt ausgeschlossen. Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 Sächsische Verfassung, der die Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof nur im Falle der Behauptung einer Grundrechtsverletzung zulässt, stellt aber klar, dass Staatsziele keine beschwerdefähigen subjektiven Rechte gewähren. Auf den ersten Blick ist man nach diesem Befund versucht, der Gretchenfrage: „Nun sag, wie hast du’s mit der Normativität der Staatsziele?“ Gretchens Nachsatz folgen zu lassen: „… allein ich glaub, du hältst nicht viel davon“. Denn über das Fehlen der subjektiv-rechtlichen Dimension hinaus suggeriert die Gegenüberstellung der Normativitätsumschreibungen in Art. 13 und Art. 36 Sächsische Verfassung, dass Staatsziele zwar eine objektive Rechtspflicht, aber – anders als bei den Grundrechten – kein für die Staatsgewalten „unmittelbar geltendes Recht“ statuieren. Jedenfalls in der Wahrnehmung des unbefangenen Bürgers lösen sich so die großen Verheißungen des Sozial-, Umwelt- und Kulturstaates weitgehend in bloße „Programmsätze“, in „ein interfraktionelles Parteiprogramm“ auf.147 Aber auch der rechtswissenschaftlich vorgebildete Exeget sieht sich bei dem Versuch, Normativität und Programmatik im Spannungsfeld von Staatszielen und Grundrechten konsistent zusammenzuführen, vor ein wahres verfassungsrechtliches Sudoku gestellt. Die Sächsische Verfassung gibt dem Exegeten allerdings durchaus Hinweise zur Lösung des Rätsels. Der Schlüssel liegt in der Menschenwürde, auf deren Sicherung die sozialen und kulturellen „Rechte“ und „Staatsziele“ in Art. 7 Abs. 1 Sächsische Verfassung explizit bezogen werden. Der entstehungsgeschichtliche Nexus zu den völkerrechtlichen Menschenrechten148 und der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit149 weisen zudem darauf hin, dass der internationale Kontext bei der Verfassungsexegese eingeblendet werden muss. 147 Vgl. zur in der Weimarer Staatsrechtslehre geläufigen Unterscheidung zwischen „bloßen Programmsätzen“ und positiv geltenden Verfassungsnormen Walter Pauly, Grundrechtslaboratorium Weimar: Zur Entstehung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung vom 14. August 1919, 2004; Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 53 ff. 148 Siehe zur Anknüpfung des Art. 7 Abs. 1 Sächsische Verfassung an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 (GA Res. 217 A (III) UN GAOR, III, Resolutions, S. 71 ff.) sowie den IPBPR und den IPWSKR die Beratungen des Verfassungsund Rechtsausschusses zum heutigen Art. 7 Abs. 1 Sächsische Verfassung, Protokoll der sechsten Klausurtagung (vgl. Protokoll der sechsten Klausurtagung des Verfassungs- und Rechtsausschusses, 10./11. Januar 1992, S. 26 ff.), abgedruckt in: Schimpff/Rühmann (Hrsg.): Die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen. Materialien und Studien des Sächsischen Landtages, Bd. 1, 1997, S. 382 ff. Vgl. auch Bernd Kunzmann, in: Baumann-Hasske/ders (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 7 Rn. 1 ff.; Hans von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer. Einführung und synoptische Darstellung, 2. Aufl. 1997, S. 53 f. 149 Art. 12 Sächsische Verfassung sowie SächsVerfGH JbSächsOVG 4, 50 (63 f.).

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Die Menschenwürde ist als rechtliche Kategorie nämlich keine Erfindung oder Entdeckung des Grundgesetzes und der vorkonstitutionellen westdeutschen Landesverfassungen. Sie war vielmehr von Anfang an ein universaler Rechtsbegriff.150 Die Karriere der Menschenwürde als normative Kategorie begann bereits 1945 mit der Charta der Vereinten Nationen, die das Bekenntnis zu „Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“ an die Spitze ihrer Präambel stellt.151 In der 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird die Menschenwürde dann zum Quell und obersten Wert eines universalen Menschenrechtskataloges,152 einer „International Bill of Rights“, die später in den beiden Internationalen Menschenrechtspakten153 in hartes Vertragsrecht umgegossen worden ist. Auch das Grundgesetz ist bei seinem Menschenwürdeverständnis dem Leitstern der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gefolgt. Dies lässt sich entstehungsgeschichtlich nachweisen und hat sich darin objektiviert, dass das Menschenwürdeund Menschenrechtsbekenntnis in den ersten beiden Absätzen des Art. 1 Grundgesetz ein nur leicht abgewandeltes Zitat aus der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bildet.154 Die Sächsische Verfassung stellt sich bewusst in diese völkerrechtsfreundliche Traditionslinie155 und geht sogar noch einen Schritt weiter, indem sie explizit die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte „enthaltenen Grundrechte“ als authentischen Ausdruck der unabhängig von positiver Rechtssetzung geltenden „Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit“ behandelt.156 Im vorliegenden Kontext ist von besonderer Relevanz, dass die Menschenwürde in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und damit auch im Grundgesetz sowie in der Sächsischen Verfassung eine ganz spezifische Bedeutung hat.157 Sie verkörpert den materiellen Bruch mit der negativen, abwehrrechtlichen Stoßrichtung der klassischen Menschenrechtsdokumente des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Ver150 Hierzu Thilo Rensmann, Die Menschenwürde als universaler Rechtsbegriff, in: Thies (Hrsg.): Der Wert der Menschenwürde, 2009, S. 75 ff. 151 Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, BGBl. 1973 II S. 431 ff. 152 Siehe Präambel (Abs. 1 und 5), Art. 1 Satz 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Fn. 148). Zur Genese und Bedeutung der Menschenwürde in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eingehend Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 13 ff.; ders., in: Thies (Hrsg.): Der Wert der Menschenwürde, 2009, S. 75 ff. 153 IPBPR und IPWSKR. 154 Siehe hierzu im Einzelnen Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 25 ff. 155 Vgl. oben Fn. 148. 156 Art. 118, 119 Sächsische Verfassung. Zur Rolle der völkerrechtlich gewährleisteten Menschenrechte in diesem Kontext Thilo Rensmann, Systemunrecht und die Relativität des absoluten Rückwirkungsverbots, in: Menzel/Müller-Terpitz (Hrsg.): Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. 2011, S. 610 (612 ff.). 157 Vgl. zum Folgenden Thilo Rensmann, in: Thies (Hrsg.): Der Wert der Menschenwürde, 2009, S. 79 ff.; ders., Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 14 ff.

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gleicht man den Wortlaut der Virginia Declaration of Rights, der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte einerseits mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte andererseits,158 so wird deutlich, dass das Menschenwürdebekenntnis eine neue Entwicklungsstufe des Menschenrechtsschutzes markiert. Das Ziel der Menschenrechte ist nun nicht mehr ausschließlich auf die Sicherung der „Freiheit“ gerichtet, im Sinne eines Individualrechtes, vom Staat allein gelassen zu werden. Die Väter und Mütter der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hatten den liberalen Optimismus verloren, dass das freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte automatisch die Bedingungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit eines jeden Einzelnen schaffen würde. Menschenwürde, so wie sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte versteht, erstreckt sich daher auch auf die gesellschaftlichen Bedingungen, die für die freie Entfaltung der Persönlichkeit unabdingbar sind.159 Damit ändert sich sowohl das Menschenbild als auch das Bild vom Staate. Das Menschenbild, das die internationalen Menschenrechte zeichnen, wandelt sich vom „isolierten Einzelmenschen“160 zum zoon politikon. Im gleichen Sinne wird der Staat nicht mehr ausschließlich als Widersacher, sondern auch als Garant der individuellen Freiheit angesehen, der liberale Rechtsstaat wird zum „sozialen Rechtsstaat“.161 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formuliert deshalb neben den klassischen Abwehrrechten der Aufklärung in Art. 22 für jeden Menschen „einen Anspruch darauf, … in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung der Persönlichkeit unentbehrlich sind.“ In dieser durch die Menschenwürde versinnbildlichten organischen Einheit von liberalen und sozialen Menschenrechten liegt der große qualitative Sprung, den die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gegenüber den klassischen Menschenrechtserklärungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts vollzogen hat. Die in den Grundrechten des Grundgesetzes und in der Sächsischen Verfassung verbürgte Freiheit ist also „Freiheit in Würde“162 und damit ebenso wie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gemeinschaftsbedingte und gemeinschaftsbezogene Freiheit. Während das Grundgesetz die soziale Dimension der Menschenwürde nur an wenigen Stellen zart andeutet,163 wird sie in der Sächsischen Verfassung in enger Anlehnung an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und den In-

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Siehe im Einzelnen m.w.N. Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 15. Siehe Art. 1, 22 ff., 28, 29 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Fn. 148). 160 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 164. 161 Art. 1 Sächsische Verfassung, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz. 162 Art. 14 Sächsische Verfassung, Art. 1 Grundgesetz. 163 Hierzu und zu den Gründen für die insofern zurückhaltende Formulierung des Grundgesetzes Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 33 ff., 40 f., 43 ff., 290 ff. 159

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ternationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte164 explizit in spezifische Rechte aufgelöst: „Das Land erkennt das Recht eines jeden Menschen auf ein menschenwürdiges Dasein, insbesondere auf Arbeit, auf angemessenen Wohnraum, auf angemessenen Lebensunterhalt, auf soziale Sicherung und auf Bildung … an.“165 Zunächst werden diese sozialen und kulturellen Menschenrechte in ihrer verfassungsrechtlichen Wirkung „als Staatsziele“, also aus der Verpflichtungsperspektive des Staates konkretisiert.166 Mit der Umschreibung des normativen Gehalts der Staatsziele in Art. 13 Sächsische Verfassung wird im Einklang mit den völkerrechtlichen Menschenrechtsstandards167 vor allem klargestellt, dass es sich bei den sozialen und kulturellen Menschenrechten nicht um unbedingte Leistungspflichten, sondern um Optimierungsgebote handelt, die unter dem „Vorbehalt des Möglichen“ stehen.168 Unmittelbar im Anschluss an diesen Artikel vollzieht die Sächsische Verfassung dann den Perspektivwechsel von der staatlichen Verpflichtung zur individuellen Berechtigung. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung stellt klar, dass die Menschenwürde unantastbar und damit auch unteilbar ist. Die im folgenden Satz 2 normierte Schutzpflicht erfasst daher auch die soziale Dimension der Menschenwürde, nimmt also das Versprechen wieder auf, die für die Würde des Einzelnen unentbehrlichen (und in dieser Eigenschaft in Art. 7 Abs. 1 Sächsische Verfassung näher umschriebenen) sozialen und kulturellen Rechte zu gewährleisten. Die den Kern der Menschenwürde ausmachende Anerkennung des Menschen als Person bedeutet schließlich, dass diese Schutz- und Förderpflichten mit entsprechenden subjektiven Rechten der Betroffenen korrespondieren.169 Die Grundrechte, die – wie es Art. 14 Abs. 2 Sächsische Verfassung so schön formuliert – aus der Quelle der Menschenwürde fließen, umfassen somit unweigerlich auch soziale und kulturelle Grundrechte. Das heißt selbstverständlich nicht, dass der Einzelne einen unmittelbaren Leistungsanspruch auf Arbeit, Wohnraum oder angemessen Lebensunterhalt hat. „Freiheit in Würde“ bedeutet zunächst die Anerkennung der Selbstverantwortung eines jeden Menschen.170 Nach dem freiheitlichen Ge164

Siehe Fn. 148. Art. 7 Abs. 1 Sächsische Verfassung. 166 Art. 7 Abs. 1 Sächsische Verfassung. 167 Siehe Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 236 m.w.N. 168 Vgl. im Hinblick auf die grundrechtlichen Förderpflichten grundlegend BVerfGE 33, 303 (333); aus jüngerer Zeit etwa BVerfGE 112, 50 (66). 169 Zur subjektiv-rechtlichen Qualität der Menschenwürdegarantie des Art. 14 Abs. 1 Sächsische Verfassung Jochen Rozek, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 14 Rn. 2; zum grundrechtlichen Anspruch auf Schutz und Förderung nach Art. 15 ff. Sächsische Verfassung ders., in: Baumann-Hasske/ Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Vorbemerkung vor Art. 14 Rn. 25, 28. 170 Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 292 m.w.N. 165

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sellschaftsmodell des Grundgesetzes und der Sächsischen Verfassung fällt die Sicherung der Freiheitsbedingungen daher primär in den Verantwortungsbereich der jeweils Betroffenen. Ist staatliche Intervention zur Freiheitssicherung aber unabdingbar, dann obliegt die Konkretisierung und Aktualisierung der erforderlichen Maßnahmen in der gewaltenteiligen Ordnung des Grundgesetzes und der Sächsischen Verfassung in erster Linie dem Gesetzgeber.171 Die Funktion der rechtsprechenden Gewalt ist darauf beschränkt zu überprüfen, ob die vom Gesetzgeber getroffenen Maßnahmen „evident unzureichend“ sind und ob das Verfahren der Entscheidungsfindung hinreichend sachgerecht und transparent war.172 Für das Grundgesetz hat das Bundesverfassungsgericht die grundrechtliche Gewährleistung von sozialen und kulturellen Menschenrechtsgehalten schon lange in seiner Wertordnungs- und Schutzpflichtenjudikatur anerkannt.173 In jüngerer Zeit hat das Bundesverfassungsgericht – dogmatisch ein wenig anders ansetzend – im Hartz IV-Urteil das „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ unmittelbar in der Menschenwürde verankert.174 Die Karlsruher Verfassungsrichter haben in dieser Entscheidung betont, dass sich das Existenzminimum dabei nicht in der Sicherung der physischen Existenz erschöpft. Wenn Freiheit sozial, in ihrer Wechselbezüglichkeit zum Mitmenschen verstanden wird, dann muss sie auch „ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ umfassen.175 Das verfassungsrechtliche Rätsel, das der sächsische pouvoir constituant dem Exegeten mit dem Versuch der normativen Abschichtung von Staatszielen und Grundrechten aufgegeben hat, löst sich vor diesem Hintergrund folgendermaßen auf: Die im ersten Abschnitt der Sächsischen Verfassung primär mit der Intention der Identitäts- und Sinnstiftung normierten sozialen und kulturellen Staatsziele finden sich als grundrechtliche Schutz- und Förderpflichten im zweiten Verfassungsabschnitt wieder. Jedenfalls das in Art. 7 Abs. 1 Sächsische Verfassung zunächst als „Staatsziel“ formulierte „Recht eines jeden Menschen auf ein menschenwürdiges Dasein“ muss in einer Verfassungsordnung, die sich der Menschenwürde als „oberstem Konstitutionsprinzip“ verschrieben hat, auch „Grundrecht“ sein. Als solches nimmt „das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein“ gemeinsam mit den in Art. 7 Abs. 1 Sächsische Verfassung hieraus abgeleiteten spezifischen Gewährleistungen in vollem Umfange an der Normativität der Grundrechte teil: Sie binden also „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar gel-

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Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 183 m.w.N. BVerfGE 125, 175 (225 f.); 92, 26 (46); Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 184, 293. 173 Grundlegend: BVerfGE 33, 303. Hierzu m.w.N. zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 177 ff., 291 ff. 174 BVerfGE 125, 175 (221 ff.). 175 BVerfGE 125, 175 (223). 172

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tendes Recht“176 und vermitteln dem Einzelnen einen entsprechenden subjektiven Anspruch. Damit ist auch die von den sächsischen Verfassungsmüttern und -vätern beabsichtigte Konkordanz mit den internationalen Menschenrechtsstandards177 hergestellt. Entgegen einer vor 20 Jahren im Verfassungs- und Rechtsausschuss des Sächsischen Landtages noch gelegentlich zu vernehmenden Auffassung178 ist es heute weitgehend anerkannt, dass die im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte niedergelegten Menschenrechte grundsätzlich im gleichen Umfange unmittelbar anwendbar und justiziabel sind wie die „bürgerlichen und politischen“ Menschenrechte.179 Differenzierungen im Hinblick auf den normativen Gewährleistungsgehalt und die Justiziabilität knüpfen nicht an die Unterscheidung von liberalen und sozialen Menschenrechten an, sondern an die für beide Kategorien geltende Auffächerung des normativen Spektrums in Unterlassungs-, Schutz-, und Förderpflichten (obligations to respect, to protect and to fulfil).180 In der innerstaatlichen Abbildung dieser im „Programm der Menschenwürde“ angelegten strukturellen Einheit von liberalen und sozialen Menschenrechten einerseits und ihrer konsequenten Verbindung mit der strikten Normativität der Verfassung andererseits liegt gerade der besondere Beitrag, den der deutsche Nachkriegskonstitutionalismus im Bund und in den Ländern zur internationalen Entwicklungsgeschichte des modernen Verfassungsstaates geleistet hat.181 Die Sächsische Verfassung von

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Art. 36 Sächsische Verfassung. Siehe oben Fn. 148. 178 Siehe Hans von Mangoldt, Protokoll der sechsten Klausurtagung, S. 29, abgedruckt in: Schimpff/Rühmann (Hrsg.): Die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen. Materialien und Studien des Sächsischen Landtages, Bd. 1, 1997, S. 385: Bei den im IPWSKR niedergelegten Menschenrechten „handele [es] sich nur um Aufträge für die Politiker der Bundesrepublik Deutschland, nicht aber um eine konkrete Rechtsgewährung. 179 Committee on Economic, Social and Cultural Rights, General Comment 9 (1998), The Domestic Application of the Covenant, UN Dok. E/C.12/1998/24, Rn. 9 f. Hierzu Matthias Kradolfer, Verpflichtungsgrad sozialer Menschenrechte, Archiv für Völkerrecht 50 (2012), S. 255 (273 ff.); Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 235 ff. je m.w.N. Siehe auch das (noch nicht in Kraft getretene) Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 10. Dezember 2008, UN Dok. A/RES/ 63/117, Annex, das ein Individualbeschwerdeverfahren vor dem Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vorsieht. 180 Siehe etwa Committee on Economic, Social and Cultural Rights, General Comment 21 (2009), Right of everyone to take part in cultural life, UN Dok. E/C.12/GC/21, Rn. 48. Vgl. auch Matthias Kradolfer, Verpflichtungsgrad sozialer Menschenrechte, Archiv für Völkerrecht 50 (2012), S. 255 (263 f.); Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 238 f. 181 Hierzu Thilo Rensmann, The Constitution as a Normative Order of Values. The Influence of International Human Rights Law on the Evolution of Modern Constitutionalism, in: Dupuy/Fassbender/Shaw/Sommermann (Hrsg.): Festschrift für Christian Tomuschat, 2006, S. 259 (260 ff.); ders., Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 266 (266 ff.). 177

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1992 hat diese Tradition in eindrucksvoller Weise fortgeführt. Sie hat damit der friedlichen Revolution von 1989 ein würdiges Denkmal gesetzt.

Die staatsorganisationsrechtlichen Bestimmungen der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992 unter besonderer Berücksichtigung des Demokratieprinzips und seiner Ausgestaltung Von Thomas Fetzer* I. Einführung Die Sächsische Verfassung ist als einzige Landesverfassung in der Bundesrepublik seit ihrem Inkrafttreten am 6. Juni 19921 unverändert geblieben.2 Sie hat damit unter Beweis gestellt, dass sie geeignet ist, einen angemessenen Rahmen für Kindheit, Jugend, Pubertät und Heranwachsendenalter des Freistaates Sachsen zu bieten. Dies gilt gerade auch für einen – angesichts von aktuellen Diskussionen über Demokratie- und Parteienverdrossenheit sowie liquide Demokratie – besonders wichtigen Teilbereich: Das Demokratieprinzip und seine teils ausgestaltenden, teils flankierenden staatsorganisationsrechtlichen Regelungen in der Sächsischen Verfassung. II. Das Demokratieprinzip Art. 28 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz gibt es vor: Die Verfassungen der Länder müssen den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen. Die hiermit geforderte Homogenität ist nicht gleichzusetzen mit Uniformität oder Deckungsgleichheit, verlangt aber ein Mindestmaß an Übereinstimmung.3 Demgemäß bestimmt auch Art. 1 Abs. 1 der Sächsischen Verfassung unter anderem, dass der Freistaat Sachsen ein demokratischer Rechtsstaat ist. Dieses generelle Bekenntnis zur Demokratie auf Bundes* Der Autor dankt Frau Ass. iur. Sandra Kirbach für wertvolle Hinweise bei der Manuskripterstellung. 1 Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992, SächsGVBl. S. 243 ff. 2 Steffen Heitmann, Geschichtliche Entwicklung, in: Degenhart/Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 1; Suzanne Drehwald/Christoph Jestaedt, Sachsen als Verfassungsstaat, 1998, passim; Hans von Mangoldt, Die Verfassung des Freistaates Sachsen – Entstehung und Gestalt, SächsVBl. 1993, S. 25 (25 ff.); Hans von Mangoldt, Entstehung und Grundgedanken der Verfassung des Freistaates Sachsen, Juristische Vorträge, Heft 20, 1996, S. 9 ff.; ders., 20 Jahre Sächsische Verfassung, SächsVBl. 2012, S. 146 (146 f.). 3 Theodor Maunz/Rupert Scholz, in: Maunz/Dürig (Begr.): Kommentar zum Grundgesetz, Stand der 67. Erg.-Lfg. (November 2012), Art. 28 Rn. 1.

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und Landesebene lässt verschiedene Ausgestaltungen im Konkreten zu. Ganz wesentlich ist dabei die Entscheidung zwischen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie und damit die Frage, inwieweit der Souverän – also das Volk – mittelbar oder unmittelbar an der Entscheidungsfindung und insbesondere an der Gesetzgebung mitwirkt. Im einen wie im anderen Fall sind dann allerdings auch weitere staatsorganisationsrechtliche Regelungen erforderlich, die etwa das Gesetzgebungsverfahren regeln. Soweit das grundsätzliche Modell einer repräsentativen Demokratie gewählt wird, ist für deren Akzeptanz beim Bürger darüber hinaus von Bedeutung, wie das Volk bzw. die Volksvertreter die Regierung kontrollieren und Rechenschaft von ihr verlangen können. Insofern bedarf die Grundsatzentscheidung für die Demokratie in jedem Fall der staatsorganisationsrechtlichen Konkretisierung. Im Falle der repräsentativen Demokratie geht dieser Ausgestaltungsbedarf vielleicht sogar noch etwas weiter. 1. Grundgesetzliche Ausgestaltung Das Grundgesetz hat sich im Grundsatz für das Modell der repräsentativen – parlamentarischen – Demokratie entschieden. Sie kann heute zweifelsohne auch als Parteiendemokratie bezeichnet werden, da die politischen Parteien und die ihnen zugehörigen Volksvertreter die zentralen Akteure des bundesdeutschen Demokratiesystems sind. Nur an wenigen Stellen hat das Grundgesetz Elemente der unmittelbaren Demokratie implementiert: So bedarf die Neugliederung der Bundesländer gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz eines Volksentscheids,4 für die Neugliederung einzelner Bundesländer gibt es Sonderregelungen in den Art. 118 und 118a Grundgesetz. Zudem bedürfte nach Art. 146 Grundgesetz die Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung eines entsprechenden Beschlusses des deutschen Volkes. Im Übrigen ist die Mitwirkung des Souveräns freilich auf Bundesebene auf die Wahlen zum Deutschen Bundestag beschränkt, in denen die Vertreter des gesamten Volkes in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl ermittelt werden. Dem Volk kommt insofern weder ein unmittelbares Gesetzesinitiativrecht noch eine unmittelbare Gesetzgebungsbefugnis zu. 2. Aktuelle Kritik Die konkrete Ausgestaltung des Demokratieprinzips des Grundgesetzes als repräsentatives, von Parteien dominiertes System ist es, die in jüngster Zeit vermehrt Anlass zu Kritik gegeben hat und die in der Forderung der Piratenpartei (sic!) nach For4

Zur direkten Demokratie im Grundgesetz Christoph Degenhart, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht: Mit Bezügen zum Europarecht, 28. Aufl. 2012, Rn. 109 ff. Bereits im Koalitionsvertrag vom 20. Oktober 1998, Ziff. IX, 13, wurde vereinbart, die demokratischen Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger zu stärken. Dazu sollten auch auf Bundesebene Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid durch Änderung des Grundgesetzes eingeführt werden. Das Bundesverfassungsgericht setzte im Lissabon-Urteil (BVerfGE 123, 267 [367]) voraus, dass durch eine Verfassungsänderung eine Einführung von Formen direkter Demokratie möglich ist.

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men „liquider Demokratie“ gipfelt. Was unter dem Begriff der „liquiden Demokratie“ zu verstehen ist, scheint dabei selbst noch sehr im Fluss zu sein.5 Blickt man durch die von Internetpartizipation und neuen Kommunikationsformen aufgewirbelte Gischt dieses Flusses hindurch, scheint das Phänomen der Demokratie- bzw. Parteienverdrossenheit und die darauf folgende Reaktion der Forderung einer liquiden Demokratie die Konsequenz unter anderem dreier Kritikpunkte an der repräsentativen, parteienfokussierten Demokratie des Grundgesetzes zu sein: - Mangelnde Transparenz der Arbeit der Regierung - Mangelnde Verantwortlichkeit der Regierung - Mangelnde unmittelbare Beteiligungsmöglichkeiten des Souveräns an Entscheidungen des Parlaments. Wenn dies wesentliche Kritikpunkte an der gegenwärtigen bundesdeutschen repräsentativen Parteiendemokratie sind, so lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass die Sächsische Verfassung einen Instrumentenkasten bereithält, um eben dieser Kritik vortrefflich zu begegnen. Zwar trifft die Sächsische Verfassung – ebenso wie das Grundgesetz – eine grundsätzliche Entscheidung zugunsten einer parlamentarischen, repräsentativen Demokratie, indem sie in ihrem Art. 39 Abs. 1 den Landtag als gewählte Vertretung des Volkes nennt. Die Sächsische Verfassung enthält freilich staatsorganisationsrechtliche Regelungen über die Transparenz der Arbeit von Parlament und Regierung, sie enthält Regelungen über die Verantwortlichkeit der Regierung, und sie enthält Regelungen über die Beteiligungsmöglichkeiten des Souveräns an der Entscheidungsfindung, insbesondere an der Gesetzgebung, die weit über die grundgesetzlichen Regelungen hinausgehen. Und obwohl die Sächsische Verfassung – wie alle Landesverfassungen der neuen Bundesländer – zahlreiche Anleihen bei anderen Landesverfassungen – im Falle Sachsens insbesondere bei der badenwürttembergischen – genommen hat, ist die durch Einzelbestimmungen erfolgte staatsorganisationsrechtliche Ausgestaltung des Demokratieprinzips im Freistaat Sachsen sicherlich einzigartig. 3. Ausgestaltung in der Sächsischen Verfassung a) Transparenz der Arbeit der Regierung Ein erster Kritikpunkt an der politischen Praxis des Demokratieprinzips des Grundgesetzes besteht darin, dass die Arbeit des Parlaments, insbesondere aber der Regierung nicht ausreichend transparent sei. Transparenz ist tatsächlich eine der wesentlichen Voraussetzungen für das Funktionieren einer repräsentativen De5

„Bei der Idee der Liquid Democracy handelt es sich um eine Mischform aus repräsentativer und direkter Demokratie, mit dem Ziel, die Vorteile der einzelnen Ansätze zu verbinden und den Menschen dabei die größtmögliche Mitbestimmung zu geben“, http://www.piratenpartei.de/mitmachen/arbeitsweise-und-tools/liquid-feedback/, zuletzt abgerufen am 27. Juni 2012.

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mokratie.6 Zum einen setzt die Akzeptanz von Entscheidungen der gewählten Volksvertreter sowie der von ihrer Mehrheit getragenen Regierung voraus, dass die Arbeit von Parlament und Regierung transparent ist: Der Souverän kann nur Entscheidungen auch zu seinen Lasten akzeptieren, wenn er sie jedenfalls potenziell verstehen kann. Zum anderen kann sich der Souverän nur wenn er ausreichend über die Arbeit von Parlament und Regierung informiert ist eine Meinung bilden, die im Vorfeld einer Wahl erforderlich ist, um die zur Wahl stehenden Alternativen und insbesondere die Regierungsarbeit beurteilen zu können. Hier kommt sicherlich den Wahlkämpfen der Parteien eine entscheidende Funktion zu, in denen diese ihr Wahlprogramm erklären können. Die Sächsische Verfassung lässt es freilich hiermit nicht bewenden: Art. 50 der Sächsischen Verfassung erlegt der Staatsregierung bzw. ihren Mitgliedern7 eine – anlassunabhängige – Informationspflicht gegenüber dem Landtag auf, mit der sie dazu verpflichtet wird, über ihre Arbeit zu informieren. Diese Informationspflicht lässt sich damit begründen, dass die Regierung mit ihrem Verwaltungsunterbau im Gegensatz zum Parlament8 als die „informierte Gewalt“9 charakterisiert werden kann, die allein aufgrund ihrer Verwaltungsressourcen schlicht über die Möglichkeiten verfügt, umfangreiche Informationen zu sammeln, aufzubereiten und bereitzustellen.10 Der Sächsische Verfassungsgerichtshof hat entschieden, dass es sich hierbei nicht nur um eine objektive Rechtspflicht der Staatsregierung handelt, sondern dass die Norm ein subjektives – im Zweifelsfall auch gerichtlich im Wege des Organstreitverfahrens einklagbares – Recht des Landtages und seiner Mitglieder auf Information begründet.11 Da die Landtagssitzungen gemäß Art. 48 Abs. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung grundsätzlich öffentlich sind, schafft diese Informationspflicht der Staatsregierung aber nicht nur Transparenz im Verhältnis zum Landtag, sondern auch im Verhältnis zur Öffentlichkeit und damit zum Souverän.

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Torsten Umbach, Landtag und seine Gliederungen, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 58 (61). 7 Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung beschränkt die Antwortpflicht nach seinem Wortlaut ausdrücklich auf die Staatsregierung oder ihre Mitglieder und umfasst nicht die Beauftragten oder die Vertreter. Nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 Sächsische Verfassung besteht die Staatsregierung aus dem Ministerpräsidenten und den Staatsministern. Nach Art. 59 Abs. 2 Satz 2 Sächsische Verfassung können Staatssekretäre zu weiteren Mitgliedern der Staatsregierung ernannt werden. Somit ist der Kreis der auskunftspflichtigen Personen abschließend festgelegt. Vgl. dazu SächsVerfGH, SächsVBl. 1995, 16 (16 ff.). 8 Der 5. Sächsische Landtag besteht aus 132 Abgeordneten. In der Regel gehören ihm 120 Abgeordnete an, Art. 41 Abs. 1 Sächsische Verfassung. 9 Walter Leisner, Regierung als Macht kombinierten Ermessens, JZ 1968, S. 727 (729). 10 Rainer Schröder, Die verfassungsrechtlichen Informationspflichten der Staatsregierung gegenüber dem Landtag und der Entwurf eines sächsischen Parlamentsinformationsgesetzes, SächsVBl. 2004, S. 151 (151). 11 SächsVerfGH, Urteil vom 23. April 2008 – Vf. 87-I-06.

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Im Vergleich zu den Verfassungen der anderen neuen Länder ist die Informationspflicht des Art. 50 der Sächsischen Verfassung durchaus weit. So sehen sowohl die brandenburgische, die sachsen-anhaltinische, die thüringische als auch die mecklenburgische Verfassung zwar ebenfalls Informationspflichten der Staats- bzw. Landesregierung vor.12 Regelmäßig wird diese Informationspflicht allerdings auf den Bereich der Gesetzgebung oder besonders wichtige Angelegenheiten der Landespolitik beschränkt.13 Die Sächsische Verfassung hingegen enthält eine solche Beschränkung nicht, sondern erstreckt die Pflicht auf Informationen, die für den Landtag zur Erfüllung seiner Tätigkeiten erforderlich sind. Da der Landtag gemäß Art. 39 Abs. 2 der Verfassung auch Stätte der politischen Willensbildung ist, also nicht nur Gesetzgebungsorgan, geht auch die Informationspflicht des Art. 51 der Sächsischen Verfassung über Informationen zu Gesetzgebungsvorhaben hinaus und erfasst auch Informationen, die zur politischen Willensbildung erforderlich sind.14 Die Sächsische Verfassung sieht damit Vorkehrungen vor, die intransparentem Regierungshandeln entgegenwirken sollen und ermöglicht damit ein auch verfassungsrechtlich verbindliches Maß an Transparenz, das über das in anderen Landesverfassungen und auch unmittelbar im Grundgesetz vorgesehene Maß zum Teil deutlich hinausgeht. b) Verantwortlichkeit der Regierung Ein zweiter Kritikpunkt, der in der aktuellen Diskussion über die konkrete Ausgestaltung des Demokratieprinzips als parlamentarische Parteiendemokratie angebracht wird, besteht darin, die Regierung sei während einer Wahlperiode für ihre Arbeit nicht ausreichend zur Rechenschaft zu ziehen. Mit anderen Worten: Die Regierung könne durch die Abgeordneten – die Vertreter des Volkes – und insbesondere durch die Opposition nicht ausreichend kontrolliert werden. Tatsächlich ist ein weiterer wesentlicher Faktor für die Akzeptanz eines repräsentativen Systems, dass die gewählten Volksvertreter die Regierung kontrollieren und Rechenschaft von ihr verlangen können. Gewinnt der Souverän den Eindruck, er sei dem Handeln seiner Vertreter letztlich ausgeliefert, ist eine Akzeptanz ihrer Entscheidungen erschwert. Daher bestimmt Art. 39 Abs. 2, 2. Var. Sächsische Verfassung: 12 Art. 94 der brandenburgischen Verfassung, Art. 62 der sachsen-anhaltinischen Verfassung, Art. 67 Abs. 4 der Verfassung des Freistaates Thüringen sowie Art. 39 der mecklenburgischen Verfassung. 13 So regelt etwa Art. 94 der brandenburgischen Verfassung: „Die Landesregierung ist verpflichtet, den Landtag und seine Ausschüsse über die Vorbereitung von Gesetzen und Verordnungen, über Grundsatzfragen der Raumordnung, der Standortplanung und Durchführung von Großvorhaben frühzeitig und vollständig zu unterrichten. Das gleiche gilt für die Mitwirkung im Bundesrat sowie die Zusammenarbeit mit dem Bund, den Ländern, anderen Staaten und der Europäischen Union, soweit es um Gegenstände von grundsätzlicher Bedeutung geht […].“ 14 Zum Umfang der Informationspflicht: Rainer Schröder, Die verfassungsrechtlichen Informationspflichten der Staatsregierung gegenüber dem Landtag und der Entwurf eines sächsischen Parlamentsinformationsgesetzes, SächsVBl. 2004, S. 151 (151 ff.).

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Thomas Fetzer „Der Landtag übt die gesetzgebende Gewalt aus, überwacht die Ausübung der vollziehenden Gewalt nach Maßgabe dieser Verfassung und ist Stätte der politischen Willensbildung.“

Die Sächsische Verfassung sieht zum Schutz der Kontrollfunktion umfangreiche, teilweise einzigartige Vorkehrungen vor. Die Wichtigkeit der parlamentarischen Kontrolle wird bereits daran deutlich, dass die Sächsische Verfassung – ebenso wie die Landesverfassungen der übrigen neuen Bundesländer, aber anders als das Grundgesetz – die parlamentarische Opposition ausdrücklich nennt, ihre Wichtigkeit für den parlamentarischen Prozess anerkennt und ihr einen Anspruch auf Chancengleichheit einräumt. So bestimmt Art. 40 der Sächsischen Verfassung: „Das Recht auf Bildung und Ausübung parlamentarischer Opposition ist wesentlich für die freiheitliche Demokratie. Die Regierung nicht tragende Teile des Landtags haben das Recht auf Chancengleichheit in Parlament und Öffentlichkeit.“

Die Verfassung belässt es aber nicht bei diesem allgemeinen Programmsatz, sondern schärft die Möglichkeiten der parlamentarischen Kontrolle der Regierung – und damit auch die Kontrollmöglichkeiten des Volkes – durch weitere Einzelbestimmungen.15 So bestimmt Art. 49 Abs. 1 Sächsische Verfassung, dass der Landtag und seine Ausschüsse die Anwesenheit eines jeden Mitglieds der Staatsregierung verlangen können (sog. Herbeirufungs- oder Zitierrecht). Spiegelbildlich können gemäß Art. 49 Abs. 2 Sächsische Verfassung die Mitglieder der Staatsregierung Zutritt zu und Rederecht bei Landtags- und Ausschusssitzungen verlangen. Das beratungsabhängige Zitierrecht des Art. 49 Abs. 1 Sächsische Verfassung verpflichtet das angesprochene Regierungsmitglied nicht nur zum Erscheinen, sondern auch zur Auskunft.16 Während die Ausübung des Zitierrechts eines Mehrheitsbeschlusses des Landtages bedarf,17 also insofern zur Regierungskontrolle durch die Opposition nicht uneingeschränkt taugt, enthält Art. 51 Sächsische Verfassung Instrumente,18 die gerade die Kontrolle der Staatsregierung durch die parlamentarische Opposition ermöglichen sollen (Frage- oder Interpellationsrechte).19 Demnach können auch einzelne Abge15 Die starke Ausgestaltung parlamentarischer Rechte findet sich in allen neuen Landesverfassungen. 16 Torsten Umbach, Landtag und seine Gliederungen, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 58 (62). 17 SächsVerfGH JbSächsOVG 2, 103 (109). Damit soll dem Fall vorgebeugt werden, dass die Arbeitsfähigkeit des Parlaments eingeschränkt wird. 18 Ausdrückliche Auskunfts- und Aktenvorlagerechte sind auch enthalten in Art. 56 Abs. 2, 3 der brandenburgischen Verfassung, Art. 40 der mecklenburgischen Verfassung, Art. 24 der niedersächsischen Verfassung und Art. 53 der sachsen-anhaltinischen Verfassung. 19 Der Entwurf eines sächsischen Parlamentsinformationsgesetzes der SPD-Fraktion vom 18. Juli 2003 (LT-Drs. 3/8923) wurde im sächsischen Landtag abgelehnt (LT-Drs. 3/10680). Angestoßen durch die Lübecker Erklärung, war das Ziel, die Mitwirkungsrechte der Landesparlamente zu stärken, in den Vordergrund gerückt. Doch anders als etwa in Bayern wurde eine gesetzliche Regelung aufgrund der bereits ausreichend ausgestalteten Informationspflicht

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ordnete Fragen an die Staatsregierung oder ihre Mitglieder richten, die diese nach bestem Wissen unverzüglich und vollständig zu beantworten haben. „Unverzüglich“ meint dabei in Anlehnung an § 121 BGB „ohne schuldhaftes Zögern“.20 Die Staatsregierung muss Fragen nach bestem Wissen beantworten. D.h., sie muss präsentes Wissen, aber auch Informationen, welche mit zeitlich zumutbarem Aufwand wenigstens in ihren Kenntnisbereich gelangen können, offenbaren.21 Schließlich erfüllt die Staatsregierung ihre Informationspflicht nur, wenn die Angaben vollständig sind. Sie muss daher lückenlos über alle Informationen berichten, welche ihr zur Verfügung stehen oder mit zumutbaren Nachforschungen zur Verfügung stehen könnten.22 Der Regierung ist es dabei etwa auch verwehrt, Informationen mit der Begründung zurückzuhalten, dass diese noch überprüft werden müssten.23 Hintergrund dieser Regelungen ist jedoch nicht nur die Schaffung der Voraussetzungen für eine Kontrolle der Regierung, sondern darüber hinaus die Gewährleistung der Informationsvermittlung, die für die Funktionsfähigkeit des Parlaments erforderlich ist.24 In Ausgestaltung dieser Regelung sieht § 54 GOLT vor, dass jeder Abgeordnete kurze mündliche Anfragen an die Staatsregierung in parlamentarischen Fragestunden richten kann, die regelmäßig einmal im Monat stattfinden sollen. Zudem steht jedem Abgeordneten die Möglichkeit offen, gemäß § 56 GOLT in schriftlicher Form eine kleine Anfrage25 an die Staatsregierung zu richten, die diese dann auch schriftlich zu beantworten hat.26 Neben diesen Kontrollrechten, die einzelnen Abgeordneten zustehen, sieht § 57 GOLT vor, dass eine Gruppe von mindestens sieben Abgeordneten bzw. Fraktionen große Anfragen27 an die Staatsregierung richten können. Gemäß § 55 GOLT können Fraktionen außerdem die Einberufung einer aktuellen Stunde verlangen, in der im Landtagsplenum Gegenstände der Landespolitik von allgemeinem und aktuellem Interesse erörtert werden können. Dadurch, dass einzelnen Abgeordneten bzw. Zusamals nicht erforderlich erachtet. Dazu kritisch: Bernd Kunzmann, Wie in Stein gehauen – Die letzten 20 Jahre sächsischer Verfassungsgeschichte im Vergleich, SächsVBl. 2012, S. 152 (158). 20 Klaus Müller, Verfassung des Freistaates Sachsen, 1993, Anmerkung zu Art. 51 Sächsische Verfassung. 21 SächsVerfGH, SächsVBl. 1998, 211 (212). 22 Rainer Schröder, Die verfassungsrechtlichen Informationspflichten der Staatsregierung gegenüber dem Landtag und der Entwurf eines sächsischen Parlamentsinformationsgesetzes, SächsVBl. 2004, S. 151 (154). 23 Rainer Schröder, Die verfassungsrechtlichen Informationspflichten der Staatsregierung gegenüber dem Landtag und der Entwurf eines sächsischen Parlamentsinformationsgesetzes, SächsVBl. 2004, S. 151 (154). 24 SächsVerfGH, Urteil vom 20. April 2010 – Vf. 54-I-09. 25 Eine kleine Anfrage darf nicht mehr als fünf Fragestellungen umfassen, SächsVerfGH, Urteil vom 20. April 2012 – Vf. 54-I-09. 26 Dazu SächsVerfGH, Urteil vom 20. April 2010 – Vf. 54-I-09. 27 Große Anfragen betreffen Angelegenheiten von erheblicher oder grundsätzlicher politischer Bedeutung.

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menschlüssen einiger weniger Abgeordneter Fragerechte eingeräumt werden, erlangen diese Informationsrechte vor allem für oppositionelle Minderheiten überragende Bedeutung.28 Die Informationsrechte des Art. 51 Abs. 1 Sächsische Verfassung bzw. ihre Ausgestaltung durch die Geschäftsordnung des Landtags werden freilich nicht schrankenlos gewährt. So sieht Art. 51 Abs. 2 der Sächsischen Verfassung vor, dass die Staatsregierung die Beantwortung von Fragen verweigern kann, wenn dem gesetzliche Regelungen, Rechte Dritter oder überwiegende Belange des Geheimschutzes29 entgegenstehen.30 Zudem kann die Staatsregierung eine Frage dann unbeantwortet lassen, wenn sie den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung berührt. Die Einschränkung resultiert aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung,31 der einen Schutz vor ausforschenden Eingriffen des Parlaments gebietet und damit die Wahrung der Funktionsfähigkeit der Regierung zur eigenständigen Erfüllung der ihr nach Art. 59 Abs. 1 Sächsische Verfassung übertragenen Aufgaben gewährleistet.32 Die Sächsische Verfassung greift damit einen Gedanken auf, der bereits 1984 vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Flick-Untersuchungsausschuss33 formuliert worden war: Demnach setzt „die Verantwortung der Regierung gegenüber Parlament und Volk […] notwendigerweise einen ,Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung‘ voraus, der einen auch von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich einschließt.“34 Zum Kernbereich gehört etwa „die Willensbildung der Regierung selbst, […] die sich vornehmlich in ressortübergreifenden und -internen Abstimmungsprozessen vollzieht.“35 Bei der Entscheidung darüber, ob die Voraussetzungen des Art. 51 Abs. 2 Sächsische Verfassung vorliegen, wird man der Regierung sicherlich eine Einschätzungsprärogative zugestehen. Sofern die Staatsregierung eine Antwort unter Berufung auf Art. 51 Abs. 2 Sächsische Verfassung verweigert, muss sie allerdings die „für maßgeblich erachteten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte bei der Verweigerung darlegen, damit die Ablehnung nachvollziehbar wird. Andern28

Torsten Umbach, Landtag und seine Gliederungen, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 58 (63). 29 Zu den Anforderungen an die Darlegung von Gründen, die eine Nichterfüllung der Informationspflicht durch die Staatsregierung nach Art. 51 Abs. 2 Sächsische Verfassung begründen sollen, SächsVerfGH, SächsVBl. 2004, 186 (186). 30 Dazu SächsVerfGH, SächsVBl. 2004, 186 (187). 31 Art. 3 Abs. 1 Satz 2 und Art. 3 Abs. 2 Sächsische Verfassung normieren die Dreiteilung der Staatsgewalt. 32 SächsVerfGH, Urteil vom 23. April 2008 – Vf. 87-I-06. 33 BVerfGE 67, 100 (142 ff.). Gegenstand des Organstreitverfahrens war die Frage, ob ein Verstoß gegen Art. 44 Grundgesetz vorliegt, indem die Bundesregierung, der Bundesminister der Finanzen und der Bundesminister für Wirtschaft die vom 1. Untersuchungsausschuss des 10. Deutschen Bundestages (sog. Flick-Ausschuss) angeforderten Akten nur unvollständig vorgelegt haben. Dies geschah unter Berufung auf das Steuergeheimnis. 34 BVerfGE 67, 100 (139). 35 BVerfGE 67, 100 (139).

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falls wäre es dem Abgeordneten nicht möglich zu beurteilen, ob die Verweigerung der Antwort verfassungsgemäß ist“.36 Eine solche Abwägung mit den Kontrollrechten des Parlaments kann gemäß Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 Sächsische Verfassung auch Gegenstand eines Organstreitverfahrens sein.37 Der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung ist schließlich jedenfalls dann betroffen, wenn die Kontrolle seitens des Landtages die Funktion der Staatsregierung derart aushöhlt, dass ihr kein eigens zu erfüllender Kompetenzbereich mehr verbleibt.38 Ebenso wie sich die Kontrollkompetenz des Bundestages bzw. seiner Untersuchungsausschüsse nur auf abgeschlossene Vorgänge bezieht,39 kann daher die Staatsregierung nach Art. 51 Abs. 2 Sächsische Verfassung auch die Beantwortung von Fragen verweigern, die sich auf noch nicht abgeschlossene Vorgänge des exekutiven Kernbereichs beziehen.40 Auch wenn die Fragerechte des Parlaments bzw. die Auskunftspflichten der Staatsregierung damit bei Fragen des exekutiven Kernbereichs auf vergangene Sachverhalte beschränkt werden, kann man wohl davon ausgehen, dass hiervon auch eine vorwärtsgewandte Wirkung ausgeht. So kann das Wissen um zukünftige Auskunftspflichten regelmäßig auch eine kontrollierende und disziplinierende Funktion für gegenwärtige Angelegenheiten ausüben. Insgesamt lässt sich damit feststellen, dass die Sächsische Verfassung und die sie ausgestaltende Geschäftsordnung des Landtags den Fraktionen, aber auch einzelnen Abgeordneten, weitreichende Kontrollbefugnisse in Form von Auskunftsrechten einräumen. Sie stellen dem Parlament Instrumente zur Verfügung, mit denen es die Verantwortlichkeit und eine Kontrolle der Staatsregierung gewährleisten kann. Neben diesen Auskunfts-, Informations- und Anwesenheitspflichten der Staatsregierung regeln weitere Spezialbestimmungen Kontrollbefugnisse des Landtags gegenüber der Exekutive. Zu nennen sind vor allem die Regelungen über den Petitionsausschuss (Art. 53 Sächsische Verfassung),41 die Möglichkeit Untersuchungsausschüsse einzusetzen (Art. 54 Sächsische Verfassung)42 sowie die Berufung eines Datenschutzbeauftragten beim Landtag (Art. 57 Sächsische Verfassung).43

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SächsVerfGH, SächsVBl. 1998, 210 (211). Claus Meissner, Der Landtag, in: Degenhart/ders. (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 10. 38 Suzanne Drehwald, Die Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992, in: dies./ Jestaedt, Sachsen als Verfassungsstaat, 1998, S. 73 (118). 39 BVerfGE 67, 100 (139). 40 Torsten Umbach, Landtag und seine Gliederungen, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 58 (62). 41 Vgl. dazu Rainer Wedde, Steine statt Brot – Petitionen in der sächsischen Rechtspraxis, SächsVBl. 2004, S. 97 (97 ff.). 42 Vgl. dazu Suzanne Drehwald, Die Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992, in: dies./Jestaedt, Sachsen als Verfassungsstaat, 1998, S. 73 (118). 43 Vgl. dazu Suzanne Drehwald, Die Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992, in: dies./Jestaedt, Sachsen als Verfassungsstaat, 1998, S. 73 (120). 37

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Bei einer Gesamtschau der relevanten Regelungen wird die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament durch die Informations- und Auskunftspflichten in einem Maß gestärkt, das sich auf Bundesebene zwar in der Parlamentspraxis und den sie bestimmenden Regelungen der Geschäftsordnung des Bundestages ebenfalls zeigt. Im Grundgesetz fehlt freilich eine ausdrückliche Festschreibung, wie sie Art. 51 Abs. 1 der Sächsischen Verfassung enthält. c) Beteiligungsmöglichkeiten des Souveräns an Entscheidungen des Parlaments Ein dritter wesentlicher Faktor für die Akzeptanz einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie ist, welche Möglichkeiten dem Volk zustehen, sich im Einzelfall nicht auf die Wahrnehmung seiner Interessen durch die gewählten Vertreter „verlassen“ zu müssen, sondern selbst unmittelbaren Einfluss auf Entscheidungen des Parlaments nehmen zu können. Die Grundsatzentscheidung für eine repräsentative Demokratie schließt Elemente einer unmittelbaren Demokratie ja keinesfalls aus. Im Grundgesetz sind sie – wie bereits ausgeführt, durchaus mit guten Gründen – nur sehr zurückhaltend implementiert worden. Die Sächsische Verfassung ist hierbei weniger zurückhaltend.44 Aus der Erfahrung der friedlichen Revolution in der ehemaligen DDR heraus, welch positiv gestaltende Wirkung das Volk selbst haben kann, enthält die Sächsische Verfassung auch wesentliche Aspekte einer unmittelbaren Demokratie. Die Implementierung plebiszitärer Elemente hat darüber hinaus in Sachsen auch eine gewisse Verfassungstradition. So hat bereits die Verfassung des Freistaats Sachsen vom 1. November 1920 in den Artikeln 36 – 38 Regelungen zu Volksbegehren und Volksentscheid enthalten, die Gesichtspunkte der heutigen Volksgesetzgebung erkennen lassen. Ebenso hat die Verfassung des Landes Sachsen vom 28. Februar 1947 in den Art. 55 ff. Volksbegehren und Volksentscheid als mögliche Formen plebiszitärer Beteiligung vorgesehen.45 In der Verfassung vom 27. Mai 1992 kommt der plebiszitäre Gedanke sehr deutlich bereits in Art. 3 Abs. 2 Sächsische Verfassung zum Ausdruck. Zwar bestimmt Art. 3 Abs. 1 der Sächsischen Verfassung – entsprechend Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz –, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht und durch das Volk in Wahlen und Abstimmungen sowie durch besonderer Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird. Für den besonders wichtigen Bereich der Gesetzgebung bestimmt Art. 3 Abs. 2 Satz 1 der Sächsischen Verfassung dann aber sogleich: „Die Gesetzgebung steht dem Landtag oder unmittelbar dem Volk zu.“ 44 Die Länder sind im Rahmen ihrer Verfassungsautonomie frei, Regeln über die Volksgesetzgebung abweichend vom Grundgesetz zu regeln; das Homogenitätsprinzip steht dem nicht entgegen, BVerfGE 60, 175 (208). 45 So bestimmte Art. 55 der Sächsischen Verfassung von 1947: „Gesetze werden vom Landtage oder unmittelbar vom Volke durch Volksentscheid beschlossen.“

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Ergänzend regelt Art. 70 Abs. 2 Sächsische Verfassung: „Die Gesetze werden vom Landtag oder unmittelbar vom Volk durch Volksentscheid beschlossen.“

Dem Volk wird damit die Möglichkeit eröffnet, Einfluss auf den parlamentarischen Gesetzgeber zu nehmen und für den Fall einer als unzureichend angesehenen Reaktion eine eigene Sachentscheidung herbeizuführen.46 Im Gegensatz zum Grundgesetz sieht die Sächsische Verfassung Landtag und Volk somit als gleichberechtigte Legislativorgane.47 Das Volk kann daher Gesetze im Volksgesetzgebungsverfahren beschließen.48 Volksgesetze haben keinen anderen Rang als Parlamentsgesetze.49 Hierdurch wird die Rückkopplung des Handelns des Gesetzgebers auf den Volkswillen zum Ausdruck gebracht: Entweder sind es die gewählten Volksvertreter oder das Volk als Träger aller Staatsgewalt50 selbst, die gesetzgeberisch tätig werden.51 Der Schwerpunkt liegt in der Staatspraxis natürlich auf der Gesetzgebung durch den Landtag, was auch der Blick in Art. 39 Abs. 2 der Sächsischen Verfassung bestätigt, wonach der Landtag die gesetzgebende Gewalt ausübt und Stätte der politischen Willensbildung ist.52 Gleichwohl bleibt bemerkenswert, dass das Volk ausdrücklich als Gesetzgeber genannt wird. Durch eine geschickte staatsorganisationsrechtliche Kooperation von Landtag und Volk erfolgt trotz der bestehenden Konkurrenzsituation eine Harmonisierung, welche eine wechselseitige Beeinflussung und Korrektur ermöglicht.53 Die sich aus diesem Spannungsverhältnis ergebenden Reibungsverluste sind gewollt von der Verfassung; die Volksgesetzgebung darf nicht eingeschränkt werden, um das komplikationslose Funktionieren des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens zu gewährleisten.54 Konkret ist dies wie folgt ausgestaltet: Dem Volk ist durch Art. 70 Abs. 1 der Sächsischen Verfassung zunächst einmal ein Gesetzesinitiativrecht eingeräumt. Demnach kann das Volk (alle Stimmberechtigten im Land, Art. 4 Abs. 2 Sächsische 46

SächsVerfGH JbSächsOVG 10, 9 (24). SächsVerfGH, Beschluss vom 17. Juli 1998 – Vf. 32-I-98. 48 SächsVerfGH JbSächsOVG 10, 9 (24). Weitere Regelungen zum Verfahren finden sich im Gesetz über Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid (VVVG, SächsGVBl. S. 949) und in der dazugehörenden Durchführungsverordnung (VVVGVO, SächsGVBl. S.199). 49 SächsVerfGH JbSächsOVG 10, 9 (24). Dem Landtag ist es daher als gleichberechtigtem Gesetzgeber nicht versagt, ein Volksgesetz abzuändern, vgl. dazu SächsVerfGH JbSächsOVG 10, 9 (25). 50 Hierzu grundlegend BVerfGE 83, 37 (53). 51 Torsten Umbach, Gesetzgebung, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 97 (98). 52 Wolf-Dieter Eckardt, Die Regierungsgewalt nach der Verfassung des Freistaates Sachsen, SächsVBl. 1996, S. 149 (150); Peter Nagel, Grundlagen des Staates, in: Dehoust/ders./ Umbach (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 15 (17). 53 SächsVerfGH, Urteil vom 15. März 2001 – Vf. 59-X-00. 54 SächsVerfGH JbSächsOVG 10, 9 (24). 47

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Verfassung) durch einen so genannten Volksantrag eine Gesetzesvorlage in den Landtag einbringen. Materiell kann sich ein Volksantrag nur auf solche Gegenstände beziehen, für die das Grundgesetz den Ländern auch die Gesetzgebungskompetenz zugewiesen hat.55 Die formellen Hürden für eine Gesetzesinitiative durch einen Volksantrag sind dabei durchaus maßvoll. So müssen nach Art. 71 Abs. 1 der Sächsischen Verfassung 40.000 Stimmberechtigte56 einen entsprechenden Antrag nebst konkretem Gesetzesentwurf beim Landtagspräsident einreichen, der über die Zulässigkeit des Antrags zu entscheiden hat57 und bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs einholen muss.58 Dass es sich bei dem Erfordernis der 40.000 Stimmen um ein auch in der Praxis erfüllbares Quorum handelt, zeigt sich daran, dass es bereits mehrere entsprechende Anträge gegeben hat, bei denen jedenfalls das erforderliche Quorum erreicht worden ist. Das weitere Verfahren regelt Art. 72 Abs. 1 Sächsische Verfassung. Sofern der Landtag dem Volksantrag bzw. dem mit ihm verbundenen Gesetzesentwurf nach Durchlaufen des Gesetzgebungsverfahrens zustimmt, kommt das entsprechende Gesetz zustande. Stimmt der Landtag dem Volksantrag nicht innerhalb einer Frist von 6 Monaten zu, können die Antragsteller ein Volksbegehren mit dem Ziel in Gang setzen, einen Volksentscheid herbeizuführen. Die Sächsische Verfassung sieht damit im Gegensatz zu anderen Bundesländern ein dreistufiges Verfahren der Volksgesetzgebung vor. Die Hürden der zweiten Stufe, des Volksbegehrens, sind dabei schon deutlich höher als die des Volksantrags. Ihm müssen mindestens 450.000 Stimmberechtigte – jedoch nicht mehr als 15 % aller Stimmberechtigten – zustimmen, um einen Volksentscheid herbeizuführen.59 Interessant ist dabei, dass der Landtag dem Volksentscheid gemäß Art. 72 Abs. 2 Satz 3 der Sächsischen Verfassung einen eigenen Gesetzesentwurf beifügen darf,60 also dem Wähler Alternativen zum Gesetzesentwurf des Volksantrags aufzeigen kann.61 Beim Volksentscheid kommt es schließlich für eine Annahme nur noch auf die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen an, so dass die dritte Stufe der Volksgesetzgebung ohne Quorum auskommt.

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Torsten Umbach, Gesetzgebung, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 97 (101). 56 Bei der Wahl zum 5. Sächsischen Landtag am 30. August 2009 waren 3.510.336 Sachsen wahlberechtigt. Das Quorum entspricht also etwa 1 % der Wahlberechtigten. In den alten Bundesländern liegt die Schwelle für ein Volksbegehren zwischen 10 und 20 %. 57 SächsVerfGH, Beschluss vom 26. August 1999 – Vf. 59-I-99. 58 Art. 71 Abs. 2 Satz 3 Sächsische Verfassung i.V.m. § 11 Abs. 1 VVVG. Der Landtagspräsident besitzt keine eigene Verwerfungskompetenz. 59 Dazu kritisch Bernd Kunzmann, Wie in Stein gehauen – Die letzten 20 Jahre sächsischer Verfassungsgeschichte im Vergleich, SächsVBl. 2012, S. 152 (163), welcher das Zustimmungsquorum als zu hoch einschätzt. Er gibt zu bedenken, dass die Bevölkerung in Sachsen seit 1992 um mehr als 10 % zurückgegangen ist. 60 Es ist dem Landtag jedoch versagt, in diesem Stadium den Volksentscheid dadurch auszuhebeln, dass er ein gleichlautendes Gesetz erlässt. 61 So auch in Baden-Württemberg, dem Saarland und in Schleswig-Holstein.

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Betrachtet man dieses dreigestufte Verfahren organisationsrechtlich, so fällt dabei auf, dass die Verfassung zunächst eine negative Konkurrenzsituation zwischen Landtag und Volk als Gesetzgeber auf der ersten Stufe des Volksantrags dadurch vermeidet, dass sie zwar dem Volk ein Gesetzesinitiativrecht einräumt, das an ein niedriges Quorum geknüpft ist. Die endgültige Gesetzgebungsbefugnis belässt die Verfassung hingegen beim Landtag. Auf der zweiten Stufe des Volksbegehrens wird dem Volk die Möglichkeit gegeben, die Gesetzgebungsbefugnis an sich zu ziehen. Da damit dem Gesetzgebungsorgan Landtag eine wesentliche Befugnis entzogen wird, ist es folgerichtig, dass hierfür ein vergleichsweise hohes Quorum erforderlich ist. Hat das Volk aber erst einmal die Gesetzgebungsbefugnis an sich gezogen, ist es also durch seine eigene Entscheidung zum alleinigen Gesetzgeber geworden, so steht ihm diese Befugnis insofern vollumfänglich zu, als keine weiteren formalen Anforderungen mehr an seine Entscheidung gestellt werden. Insbesondere gibt es kein weiteres Quorum im Hinblick auf Beteiligung oder Zustimmung im Rahmen des anschließenden Volksentscheids. Es entscheidet nach Art. 74 Abs. 4 Satz 2 Sächsische Verfassung die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass das Verfahren bereits in den vorangegangen Schritten eine große Mehrheit gefunden haben muss.62 In diesem Punkt unterscheidet sich die Sächsische Verfassung denn auch erheblich etwa von der Baden-Württembergs, die wie bereits erwähnt durchaus Einfluss auf die Verfassungsentwicklung Sachsens hatte. Wie die Diskussion um das Volksbegehren zu „Stuttgart 21“ gezeigt hat, sind dessen hohe Anforderungen an das Zustandekommen von Gesetzen durch eine Volksabstimmung bzw. ein Volksbegehren durchaus Anlass zu Kritik und Unmut gewesen. So muss nach Art. 59 Abs. 2 Satz 2 der Baden-Württembergischen Verfassung nämlich ein Sechstel aller Wahlberechtigten ein Volksbegehren unterstützen. Damit liegt das erforderliche Quorum für eine Gesetzesinitiative deutlich höher als die 40.000 Stimmen, die von der Sächsischen Verfassung für einen Volksantrag gefordert werden. Für eine Volksabstimmung, die cum grano salis dem Sächsischen Volksbegehren entspricht, ist sogar erforderlich, dass mindestens ein Drittel aller Wahlberechtigten dem Gesetz zustimmt. Anders als in Sachsen reicht hier also nicht die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Auch die Verfassungen der anderen neuen Bundesländer enthalten vergleichbar hohe Hürden. So müssen einem Gesetzesentwurf im Rahmen eines Volksentscheids in Brandenburg mindestens ein Viertel der Stimmberechtigten zugestimmt haben (Art. 78 Abs. 2 Brandenburgische Verfassung). Gleiches gilt in Sachsen-Anhalt (Art. 81 Abs. 3 Satz 2 Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt). In Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen gilt sogar ein Zustimmungsquorum von einem Drittel aller Wahlberechtigten.

62 Torsten Umbach, Gesetzgebung, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 97 (102).

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Der Vergleich zeigt, dass die formellen Voraussetzungen der Volksgesetzgebung in Sachsen durchaus maßvoll sind.63 Zudem werden Gesetzesinitiativrecht und Gesetzgebungsbefugnis von Volk und Landtag sinnvoll miteinander verschränkt. Für bestimmte Bereiche sieht freilich die Sächsische Verfassung – wie die übrigen Verfassungen, die plebiszitäre Elemente enthalten auch – Einschränkungen des Zusammenspiels zwischen Volk und Volksvertreter im Bereich der Gesetzgebung vor: Zunächst ist die Volksgesetzgebung kompetenzrechtlich beschränkt. So reichen die Gesetzgebungsbefugnisse des Volks nicht weiter als die des Landtages.64 Damit ist es auch dem Volksgesetzgeber verwehrt, Regelungen im Bereich der bundes- oder europarechtlichen Zuständigkeiten zu treffen.65 Nach Art. 73 Abs. 1 Sächsische Verfassung finden zudem über Abgaben-, Besoldungs- und Haushaltsgesetze Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid nicht statt. Würde man diese Vorschrift weit verstehen, so könnte hierdurch der Einflussbereich der Volksgesetzgebung erheblich eingeschränkt werden. Denn: Nahezu jedes Gesetzgebungsvorhaben hat haushaltsrechtliche Relevanz. Eine solche Auslegung würde jedoch mit dem Gedanken der Sächsischen Verfassung, wie er in Art. 3 Abs. 2 Satz 1 zum Ausdruck kommt, nicht in Einklang zu bringen sein: Volk und Volksvertreter sind gleichwertige Gesetzgeber. Dies kann nicht dadurch ausgehebelt werden, dass die Materien, bei denen das Volk gesetzgeberisch tätig werden kann, auf ein absolutes Minimum reduziert werden. Dementsprechend ist es nachdrücklich zu begrüßen, wenn auch der Sächsische Verfassungsgerichtshof hier eine eng am Wortlaut orientierte Auslegung des Art. 73 Abs. 1 vorgenommen hat und den Begriff des „Haushaltsgesetzes“ nicht in dem Sinne versteht, dass alle haushaltsrelevanten Gesetze hierunter fallen, sondern eben nur das Gesetz über den Landeshaushalt.66 Legt man Art. 73 Abs. 1 der Sächsischen Verfassung in diesem Sinne aus, hat er einen sinnvollen Wirkkreis: Abgaben-, Haushalts- und Besoldungsfragen sind zum einen essentiell gerade für die mittel- und langfristige Funktionsfähigkeit eines Gemeinwesens, zum anderen eignen sie sich wie kaum eine andere Materie zum kurzfristigen Populismus. Diese Fragen sollten daher auch von denen beantwortet werden, die nach Art. 39 Abs. 3 Satz 1 der Sächsischen Verfassung das ganze Volk ver63 So auch Suzanne Drehwald, Die Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992, in: dies./Jestaedt, Sachsen als Verfassungsstaat, 1998, S. 73 (128); kritischer aufgrund der Dreistufigkeit des Verfahrens Torsten Umbach, Gesetzgebung, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 97 (103). 64 Torsten Umbach, Gesetzgebung, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 97 (102). 65 Zu den Kompetenzen vgl. Art. 30 Grundgesetz und Art. 70 – 74 Grundgesetz. 66 SächsVerfGH, Urteil vom 11. Juli 2002 – Vf. 91-VI-01. Dieses Urteil erging im Zusammenhang mit dem Volksantrag „Zukunft braucht Schule“ vom 11. Juli 2002. Einige Länder verstehen den Haushaltsvorbehalt anders – als Verbot von Gesetzen mit Auswirkungen auf den Haushalt, vgl. dazu Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen, NVwZ 1982, 188; Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, LKV 2002, 77; Thüringer Verfassungsgerichtshof, LKV 2002, 83.

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treten sollen und nicht nur Partikularinteressen: von den gewählten Landtagsabgeordneten. Zugleich dient die Regelung der durch Art. 93 der Sächsischen Verfassung geschützten Budgethoheit des Landtags.67 Zu überlegen wäre hier allein gewesen, ob nicht zumindest ein Volksantrag auch bei den in Art. 73 Abs. 1 der Sächsischen Verfassung genannten Materien zulässig sein sollte. Mit dem Volksantrag wird dem Volk ja gerade keine Gesetzgebungsbefugnis eingeräumt, sondern nur ein Gesetzesinitiativrecht, so dass hier nicht die Gefahr einer an populistischen Partikularinteressen ausgerichteten Gesetzgebung besteht. Für einen Ausschluss auch des Volksantrags in diesen Fällen kann allerdings ins Feld geführt werden, dass andernfalls die Gefahr einer „Überschwemmung“ des Landtags mit derartigen Anträgen bestünde, die ihn in seiner Funktionsfähigkeit beeinträchtigen könnten. Insgesamt lässt sich freilich festhalten, dass die Volksgesetzgebung wie sie in der Sächsischen Verfassung verankert ist durchaus ein wohl austariertes Instrumentarium zur unmittelbaren Beteiligung des Volks an der Gesetzgebung bereithält. In der – zugegebenermaßen noch vergleichsweise jungen – Geschichte Sachsens hat es bereits acht Volksanträge gegeben, von denen drei auch den Verfassungsgerichtshof beschäftigt haben.68 Drei der Volksanträge betrafen Änderungen des Schulgesetzes, drei haben kommunalrechtliche bzw. kommunalgebietsrechtliche Fragen betroffen. Ein Volksantrag war auf die Änderung der Sächsischen Verfassung gerichtet; einer bezog sich auf eine Änderung des Sparkassengesetzes.69 Insgesamt ist das Spektrum der Materien, die zum Gegenstand eines Volksantrags gemacht worden sind, weniger breit, als man vielleicht erwarten würde. Aus den acht Volksanträgen sind vier Volksbegehren erwachsen, aus denen ein erfolgreicher Volksentscheid über das Gesetz über die Änderung des Sparkassengesetzes des Freistaats Sachsen vom 7. Dezember 199370 hervorgegangen ist.71 An dem entsprechenden Volksentscheid haben immerhin 925.115 von 3.573.609 Stimmberechtigten teilgenommen; 785.136 haben ihre Zustimmung erteilt. Dass letztendlich nur ein Verfahren erfolgreich war, mindert die Relevanz der Gesetzgebungsbefugnisse des Volkes keinesfalls.72 67 Torsten Umbach, Gesetzgebung, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 97 (101); Wolf-Dieter Eckardt, Die Regierungsgewalt nach der Verfassung des Freistaates Sachsen, SächsVBl. 1996, S. 149 (149). 68 Vgl. dazu Jürgen Rühmann, Die Spinne im Netz – Der Sächsische Verfassungsgerichtshof und das Kräftefeld der Staatsgewalten (Teil 1), SächsVBl. 2012, S. 131 (133). 69 Vgl. dazu Markus Fritz/Peter Musall, Die Volksgesetzgebung im Freistaat Sachsen, SächsVBl. 2001, S. 233 (233 ff.). 70 Gesetz zur Erhaltung der kommunal verankerten Sparkassen im Freistaat Sachsen vom 6. Februar 2002, SächsGVBl. S. 70. 71 Jedoch wurde dieses „Volksgesetz“ durch ein Änderungsgesetz des sächsischen Landtages (Gesetz über das öffentlich-rechtliche Kreditwesen im Freistaat Sachsen vom 13. Dezember 2002, SächsGVBl. S. 333) größtenteils zurückgenommen. 72 SächsVerfGH JbSächsOVG 10, 9 (24).

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Auffällig ist hierbei, dass die acht bisherigen Volksanträge alle innerhalb der ersten 10 Jahre, also zwischen 1992 und 2002, nach Inkrafttreten der Sächsischen Verfassung initiiert worden sind. Worauf dies zurückzuführen ist, lässt sich – soweit ersichtlich – nicht zweifelsfrei beantworten. Vielleicht hat die Anzahl der kontroversen Themen abgenommen, vielleicht hat der andere Gesetzgeber – der Landtag – aber auch einfach seine Arbeit so gut erfüllt, dass der Gesetzgeber Volk nicht mehr tätig werden musste. Vielleicht geht dabei allein von der Tatsache eine integrierende Wirkung aus, dass das Verfassungsrecht den Volksvertretern signalisiert, dass ihre gesetzgeberischen Befugnisse jederzeit unmittelbar vom Volk ausgeübt werden können, wenn sich die Vertreter zu sehr vom Volk entfernen. III. Zusammenfassung und Ausblick Betrachtet man die Kritikpunkte, die am parlamentarischen System der Bundesrepublik derzeit angebracht werden, so mögen viele unberechtigt sein, manche erscheinen aber zumindest nachvollziehbar. Transparenz des Regierungshandelns, Verantwortlichkeit der Regierung und Beteiligung des Souveräns an Entscheidungen des Parlaments sind Maßnahmen, mit denen dieser Kritik begegnet werden kann. Die Verfassungsgeber der Sächsischen Verfassung haben sich diesen Herausforderungen bereits vor 20 Jahren mit Augenmaß und Weitsicht gestellt und zu ihrer Bewältigung ein kluges Instrumentarium geschaffen. Dafür spricht auch, dass bislang keinerlei Verfassungsänderung vorgenommen wurde – im Gegensatz zu den anderen neuen Bundesländern mit ihren ebenfalls „jungen Verfassungen“ aus den Jahren 1992 bis 1994.73 Die Sächsische Verfassung schafft Rechtsfrieden und Rechtssicherheit, ohne dass Spielräume der Politik unangemessen eingeschränkt werden.74 Insbesondere die Regelungen zur Volksgesetzgebung können dabei ohne Weiteres als vorbildlich gelobt werden; schaffen sie doch einen Ausgleich zwischen dem Grundsatz einer repräsentativen Demokratie und dem in letzter Zeit wieder zuneh73 Das Grundgesetz wurde seit dem Inkrafttreten 1949 bereits über sechzigmal geändert. In Brandenburg erfolgte sechsmal, in Sachsen-Anhalt einmal und in Thüringen dreimal eine Verfassungsänderung. Bernd Kunzmann, Wie in Stein gehauen – Die letzten 20 Jahre sächsischer Verfassungsgeschichte im Vergleich, SächsVBl. 2012, S. 152 (152 ff.) beleuchtet die Gründe für die Verfassungsänderungen in den anderen Ländern und kommt zu dem Schluss, dass dies Ziele der Verfassungsänderungen bereits umfassend in der Sächsischen Verfassung 1992 berücksichtigt worden sind und es deshalb bislang keiner Verfassungsänderung in Sachsen bedurfte. Hinzufügend führt er aus, dass ebenso der politische Konsens bei der Erarbeitung der Verfassung sowie die hohe Akzeptanz in der Bevölkerung dazu geführt haben, dass die Sächsische Verfassung bislang unverändert blieb. Diskutiert wird derzeit in Sachsen über die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung durch die Aufnahme der „Schuldenbremse“ in das Grundgesetz (Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2, Art. 143d Abs. 1 Grundgesetz). Vgl. dazu Hans von Mangoldt, 20 Jahre Sächsische Verfassung, SächsVBl. 2012, S. 146 (146 f.); Bernd Kunzmann, Wie in Stein gehauen – Die letzten 20 Jahre sächsischer Verfassungsgeschichte im Vergleich, SächsVBl. 2012, S. 152 (157 f.). 74 Christoph Degenhart, 15 Jahre Verfassung des Freistaates Sachsen. Erwartungen, Entwicklungslinien, Herausforderungen, SächsVBl. 2007, S. 201 (205).

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mend zu beobachtenden Interesse des Souveräns an einer unmittelbaren politischen Beteiligung außerhalb der Parlamentswahlen. „Stuttgart 21“ war hierfür – wenn auch sicher nicht das Beste – so doch ein Beispiel, welch befriedende Wirkung die Einbindung plebiszitärer Elemente haben kann. Vergleichbare Herausforderungen werden zukünftig eher noch zunehmen. Es bedarf nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, welchen Ruf nach unmittelbarer Bürgerbeteiligung etwa die Energiewende und die hierfür erforderlichen Infrastrukturprojekte auslösen werden. Ein kooperatives Zusammenwirken zwischen Volk und Volksvertretern, wie es durch die sächsische Verfassung im Rahmen der Gesetzgebung vorgesehen ist, kann dabei durchaus zur Lösung von Konflikten beitragen. Natürlich gibt es Wirkgrenzen für die unmittelbare Demokratie. Je heterogener die Interessenlage innerhalb eines Gemeinwesens ist und je komplexer die zu entscheidenden Fragen sind, desto stärker wird man sich auf die Vertretung derer verlassen müssen, die Vertreter des ganzen Volkes sein sollen: die gewählten Parlamentarier. Für die Akzeptanz ihrer Entscheidungen kommt es dann freilich darauf an, dass sie bzw. die von ihnen getragene Regierung transparent handeln und zur Rechenschaft verpflichtet sind. Auch diese Herausforderung meistern die das Demokratieprinzip der Sächsischen Verfassung flankierenden staatsorganisationsrechtlichen Regelungen. Diese Verfassung kann den Freistaat daher auch im nunmehr folgenden Erwachsenenalter angemessen begleiten. Der Staatsrechtler und ehemalige Bundesverteidigungsminister Rupert Scholz hat einmal einen von ihm herausgegebenen Sammelband zum Grundgesetz mit der Frage überschrieben „Deutschland – in guter Verfassung?“.75 Für Sachsen ist diese Frage affirmativ und mit einem Ausrufezeichen versehen zu beantworten: Sachsen ist nicht nur, aber gerade auch in staatsorganisationsrechtlicher Sicht in sehr guter Verfassung!

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Rupert Scholz, Deutschland – In guter Verfassung?, 2004.

Die Staatsorgane in der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992 Von Jochen Rozek I. Organisationsstatut und Organstatus Der Bundesstaat des Grundgesetzes steht und fällt mit der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie der Bundesländer. Die eigene normative Grundordnung ist Ausdruck der Selbständigkeit und Eigenverantwortung; sie wirkt identifikationsfördernd und identitätsstiftend. Das Grundgesetz lässt den Ländern die Freiheit, eigenständige Gliedstaatsverfassungen zu schaffen und deren spezifisch verfassungsgerichtlichen Schutz zu ordnen. Die doppelte Staatsqualität im Bundesstaat, die Staatsqualität von Bund und Ländern, impliziert die Fähigkeit der Länder zur Selbstorganisation und die Kompetenz zum Erlass einer eigenen Verfassung: Es liegt in der Konsequenz dieser doppelten Staatlichkeit, „dass sowohl der Gesamtstaat als auch die Gliedstaaten je ihre eigene, von ihnen selbst bestimmte Verfassung besitzen.“1 Schon ganz früh, nämlich in seinem allerersten Urteil vom 23. 10. 1951 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Gestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung in den Bundesländern, wozu insbesondere die Bestimmung der Regeln gehört, nach denen sich die Bildung der obersten Staatsorgane, deren Funktion und deren Kompetenzen bemessen, allein Sache des jeweiligen Landes ist, solange sich dessen Verfassungsordnung innerhalb des grundgesetzlich namentlich durch Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz gezogenen Rahmens hält.2 Kern des staatlichen Eigenlebens, gleichsam „Herzstück“ der Verfassungsautonomie der Länder ist danach das jeweilige staatliche Organisationsstatut. Indem das Grundgesetz die Staatsgewalt vertikal auf Bund und Länder verteilt, setzt es eine vollständige und funktionsfähige Organisationsverfassung – eben ein Organisationsstatut – in jedem Bundesland voraus. Die Staatsorganisation auf Landesebene ist daher zentraler Gegenstand der Landesverfassung:3 Jede Landesverfassung hat funktionsgerechte Normen für die Bildung, Besetzung und Zuständigkeiten der erforderlichen Staatsorgane sowie für die staatlichen Entscheidungsverfahren bereitzuhalten. 1

BVerfGE 36, 342 (361). BVerfGE 1, 14 (34). 3 Dazu auch Christoph Degenhart, 15 Jahre Verfassung des Freistaates Sachsen. Erwartungen, Entwicklungslinien, Herausforderungen, SächsVBl. 2007, S. 201 (201). 2

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Die Gestaltung der Staatsorganisation und ihre Umsetzung in der Staatspraxis sind in die Verantwortung der Länder gelegt. Die Sächsische Verfassung wird dieser Gestaltungsaufgabe unter anderem dadurch gerecht, dass sie jeder der drei gewaltenteilenden Staatsfunktionen (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Sächsische Verfassung) – Legislative, Exekutive und Judikative – ein oberstes Staatsorgan (Verfassungsorgan) – Landtag, Staatsregierung und Verfassungsgerichtshof – zuordnet: - Zum besonderen gesetzgebenden Organ bestimmt Art. 3 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Sächsische Verfassung den Landtag, der sich freilich die Gesetzgebungsbefugnis mit dem Volk teilt (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 und Art. 70 Abs. 2 Sächsische Verfassung). - Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Sächsische Verfassung bestimmt, dass die vollziehende Gewalt in der Hand von Staatsregierung und Verwaltung liegt. Die Staatsregierung steht an der Spitze der vollziehenden Gewalt (Art. 59 Abs. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung); ihr obliegen die Leitung und Verwaltung des Landes (Art. 59 Abs. 1 Satz 2 Sächsische Verfassung). - Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Art. 77 Abs. 1 Sächsische Verfassung ist der Verfassungsgerichtshof einerseits Teil der rechtsprechenden Gewalt; als (Landes-) Verfassungsgericht (Art. 81 Sächsische Verfassung) ist er zugleich selbständiges Verfassungsorgan neben dem Landtag und der Staatsregierung.4

II. Der Sächsische Landtag Eine aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgehende Volksvertretung ist für jedes Bundesland bereits durch Art. 28 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz zwingend vorgeschrieben. Im Freistaat Sachsen nimmt gemäß Art. 39 Abs. 1 Sächsische Verfassung der Sächsische Landtag diese Aufgabe als oberstes Staatsorgan wahr. Er ist das Parlament des Freistaates Sachsen. Die Garantie des freien Abgeordnetenmandats in Art. 39 Abs. 3 Sächsische Verfassung entspricht inhaltlich Art. 38 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz. Wenngleich die Sächsische Verfassung keine ausdrückliche Rangordnung zwischen den Verfassungsorganen kennt, kommt dem Landtag vor allem aufgrund seiner unmittelbaren demokratischen Legitimation (vgl. Art. 4 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 39 Abs. 1 und Art. 41 Sächsische Verfassung) und spezifischer Wahlfunktionen (Landtag als Kreationsorgan) – Wahl des Ministerpräsidenten nach Art. 60 Abs. 1 Säch4 Jochen Rozek, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Sächsische Verfassung, 3. Aufl. 2011, Art. 81 Rn. 2 m.w.N.; Hans von Mangoldt, 20 Jahre Sächsische Verfassung, SächsVBl. 2012, S. 146 (148); siehe auch bereits BVerfGE 36, 342 (357): „Ein Landesverfassungsgericht ist innerhalb der Verfassungsordnung des Landes ebenso ein oberstes Verfassungsorgan wie das Bundesverfassungsgericht innerhalb der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland“ (Hervorhebung nur hier).

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sische Verfassung sowie Wahl der Verfassungsrichter nach Art. 81 Abs. 3 Satz 1 Sächsische Verfassung – doch eine gewisse Vorrangstellung gegenüber den beiden anderen obersten Staatsorganen, Staatsregierung und Verfassungsgerichtshof, zu.5 1. Zusammensetzung, Wahlsystem und Wahlperiode Anders als im Grundgesetz sind die Mandatsanzahl und das Wahlsystem in der Sächsischen Verfassung explizit festgelegt: Der Landtag besteht in der Regel aus 120 Abgeordneten (Art. 41 Abs. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung), die nach einem modifizierten Verhältniswahlsystem gewählt werden, das Elemente der Persönlichkeitswahl (Mehrheitswahl) mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet (Art. 41 Abs. 1 Satz 2 Sächsische Verfassung). Diese Regelzahl kann sich infolge von Überhang- und Ausgleichsmandaten (vgl. § 6 Abs. 6 SächsWahlG) nicht unbeträchtlich erhöhen; so gehören dem 2009 gewählten 5. Sächsischen Landtag 132 Mandatsträger an. Mit Blick auf die seit 1992 im Freistaat Sachsen zu verzeichnende demographische Entwicklung stellt sich aktuell nahezu von selbst die Frage einer Reduzierung der Regelzahl von derzeit 120 Abgeordneten, insbesondere nachdem der Sächsische Landtag in den letzten Jahren in zahlreichen Bereichen von Staat und Verwaltung zum Teil schmerzhafte Anpassungsprozesse an den demographischen Wandel eingeleitet hat. Offenkundig ist, dass sich der Freistaat Sachsen – im Verhältnis zur mittlerweile signifikant gesunkenen Einwohner- und Wählerzahl – ein gerade auch im Vergleich mit anderen Flächenländern überproportional großes Parlament leistet. Für eine – maßvolle – Reduktion der Regelzahl auf beispielsweise 90 – 100 Abgeordnete bedarf es allerdings einer Änderung des Art. 41 Abs. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung und damit eines verfassungsändernden Gesetzes, was wiederum die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtages erfordert (Art. 74 Abs. 2 Sächsische Verfassung), wenn man eine Verfassungsänderung per Volksentscheid (vgl. Art. 74 Abs. 3 Sächsische Verfassung) einmal als unrealistisch ausklammert. Obwohl das verfassungspolitische Problem längst erkannt ist, dürfte jedenfalls im gegenwärtigen Landtag keine verfassungsändernde Mehrheit hierfür zu finden sein. Perspektivisch droht dem Landtag allemal ein politisches Glaubwürdigkeitsdefizit, sollte er sich dauerhaft einer Anpassung seiner selbst an die deutlich veränderte demographische Lage versperren. Das Lob auf die hohe Stabilität der Sächsischen Ver-

5 Ebenso Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 39 Rn. 2; a.A. wohl Claus Meissner, Der Landtag, in: Degenhart/ders. (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 10 Rn. 2; von einer „herausgehobenen Bedeutung“ des Landtages im System der parlamentarischen Demokratie spricht Peter Nagel, Grundlagen des Staates, in: Dehoust/ders./ Umbach (Hrsg.), Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 15 (16).

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fassung6 erweist sich zumindest in diesem Punkt als ein „vergiftetes Lob“, liegt doch im Ignorieren eines manifesten Reformbedarfs nicht unbedingt ein Qualitätsausweis. Die Stabilität einer Verfassung kann in eine durchaus unerwünschte Petrifizierung der staatlichen Rahmenordnung umschlagen. Ebenso wie andere neuere Landesverfassungen legt die Sächsische Verfassung die Wahlperiode des Landtages auf fünf Jahre fest (Art. 44 Abs. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung). Dies soll die Stabilität der Arbeit des Parlaments, aber auch die der Staatsregierung fördern und die Wahltermine auf Bundes- und Landesebene entzerren.7 Ein vorzeitiges Ende der Wahlperiode sieht die Verfassung einmal für den Fall vor, dass sich der Landtag als unfähig erweist, einen Ministerpräsidenten zu wählen (Art. 60 Abs. 3 Sächsische Verfassung): Wird der Ministerpräsident nicht innerhalb von vier Monaten nach Zusammentritt eines neuen Landtages oder nach der sonstigen Erledigung des Amtes des Ministerpräsidenten (vgl. Art. 68 Sächsische Verfassung) gewählt, so ist der Landtag aufgelöst. Die Vorschrift will ihrem Zweck nach verhindern, dass die Bildung einer stabilen Regierung über längere Zeit an den Mehrheitsverhältnissen im Landtag scheitert.8 Die Auflösung erfolgt unmittelbar von Verfassungs wegen; nach Fristablauf bedarf es also keines weiteren Aktes.9 Anders als das Grundgesetz für den Bundestag sieht Art. 58 Sächsische Verfassung darüber hinaus ein Selbstauflösungsrecht für den Landtag vor. Auf Beschluss von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtages ist die vorzeitige Selbstauflösung des Landtages möglich, die ebenfalls zur vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode führt. Zu einem praktischen Anwendungsfall ist es bislang noch nicht gekommen.10 Das Selbstauflösungsrecht kollidiert nicht mit dem Homogenitätsgebot aus Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz; es handelt sich um eine eigenständige staatsorganisatorische Grundentscheidung, die sich ohne weiteres im Rahmen der demokratischen und rechtsstaatlichen Homogenitätsbindungen des Freistaates bewegt.11 Der Gefahr einer vorschnellen Selbstauflösung des Parlaments ist durch das Quorum einer 6

Vgl. Hans von Mangoldt, 20 Jahre Sächsische Verfassung, SächsVBl. 2012, S. 146 (146 f.); Bernd Kunzmann, Wie in Stein gehauen – Die letzten 20 Jahre sächsischer Verfassungsgeschichte im Vergleich, SächsVBl. 2012, S. 152 (152, 161 ff.). 7 Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 44 Rn. 2; Claus Meissner, Der Landtag, in: Degenhart/ders. (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 10 Rn. 4. 8 Dazu auch Matthias Mittag, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 60 Rn. 18. 9 Matthias Mittag, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 60 Rn. 20. 10 Zur Diskussion einer Selbstauflösung des Landtages im Zusammenhang mit dem Rücktritt von Ministerpräsident Biedenkopf im Jahr 2002 siehe Kerstin Heinig, Das Selbstauflösungsrecht des Sächsischen Landtages, 2008, S. 32 f. 11 Ebenso Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 58 Rn. 1; eingehend Kerstin Heinig, Das Selbstauflösungsrecht des Sächsischen Landtages, 2008, S. 197 ff. m.w.N.

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Zwei-Drittel-Mehrheit der Mitglieder des Sächsischen Landtages wirksam vorgebeugt. An zusätzliche besondere sachliche Voraussetzungen bindet Art. 58 Sächsische Verfassung das Selbstauflösungsrecht nicht.12 Auf das Institut der (auflösungsgerichteten) Vertrauensfrage (vgl. Art. 68 Grundgesetz)13 verzichtet die Sächsische Verfassung hingegen vor diesem Hintergrund ebenso wie auf eine Auflösung des Landtages durch Volksabstimmung. 2. Kernaufgaben des Landtages Art. 39 Abs. 2 Sächsische Verfassung benennt als „Grundnorm“ drei Kernaufgaben des Landtages:14 An die Seite der klassischen Legislativfunktion tritt als weitere Aufgabe die Überwachung der vollziehenden Gewalt (Kontrollfunktion). Ferner bestimmt Art. 39 Abs. 2 Sächsische Verfassung den Landtag zur Stätte der politischen Willensbildung. Diese Aufzählung ist nicht abschließend; weitere Kompetenzen des Landtages finden sich in der Verfassung im jeweiligen Sachzusammenhang aufgeführt. Hervorzuheben sind vor allem noch das Budgetrecht (Art. 93 und Art. 95 Sächsische Verfassung)15 und die Wahl- bzw. Kreationsfunktion des Landtages – die Aufgabe nämlich, durch Wahlakte demokratische Legitimation zu vermitteln.16 Das betrifft nicht nur die Wahl des Ministerpräsidenten (Art. 60 Abs. 1 Sächsische Verfassung) und der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes (Art. 81 Abs. 3 Satz 1 Sächsische Verfassung), sondern etwa auch die Wahl des Rechnungshofpräsidenten (Art. 100 Abs. 3 Satz 1 Sächsische Verfassung) sowie – als Angelegenheit der Selbstorganisation – die Wahl des Landtagspräsidenten und seiner Stellvertreter (Art. 47 Abs. 1 Sächsische Verfassung). a) Gesetzgebungsfunktion Mit der Ausübung der Gesetzgebungsgewalt (Art. 39 Abs. 2, 1. Var. Sächsische Verfassung) ist die vornehmste Aufgabe des Landtages nicht von ungefähr an erster Stelle genannt. Erfasst wird die Gesetzgebung im formellen Sinne, die der Legisla12 Dazu auch Kerstin Heinig, Das Selbstauflösungsrecht des Sächsischen Landtages, 2008, S. 151; kritisch noch Claus Meissner, Der Landtag, in: Degenhart/ders. (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 10 Rn. 5. 13 Vgl. dazu BVerfGE 114, 121 (152 ff.); Bodo Pieroth, in: Jarass/ders. (Hrsg.): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: GG, 12. Aufl. 2012, Art. 68 Rn. 3. 14 Vgl. Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 39 Rn. 4. 15 Dazu näher SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (405 ff.); 20, 348 (372 ff.); Uwe Berlit/ Friedrich Kühn, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 93 Rn. 1 ff., Art. 95 Rn. 1 ff. 16 Diese Aufgabe betonen übereinstimmend auch Torsten Umbach, Landtag und seine Gliederungen, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 58 (61); Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 39 Rn. 4 a.E.

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tive vorbehalten ist. Allerdings ist im Freistaat Sachsen nicht nur das Parlament zum Gesetzgeber berufen; vielmehr kann auch das Volk Gesetze unmittelbar im Volksgesetzgebungsverfahren beschließen (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 und Art. 70 Abs. 2 Sächsische Verfassung).17 Die Sächsische Verfassung hat sich für ein normativ gleichrangiges Nebeneinander von parlamentarischer Gesetzgebung und Volksgesetzgebung entschieden, auch wenn die Volksgesetzgebung in der Staatspraxis schon aufgrund ihres aufwendigen Verfahrens quantitativ die absolute Ausnahme geblieben ist und auch künftig bleiben wird.18 b) Kontrollfunktion Die Kontrolle der Exekutive zählt im parlamentarischen Regierungssystem gleichfalls zu den zentralen Aufgaben des Parlaments (Art. 39 Abs. 2, 2. Var. Sächsische Verfassung).19 Zusammen mit der Gesetzgebungsfunktion macht sie den Landtag zu einem zentralen politischen Akteur, der nicht allein normative Festlegungen für das soziale Zusammenleben trifft, sondern dem auch die Exekutive verantwortlich ist und Rechenschaft schuldet. Diese Verantwortlichkeit besteht freilich nur „nach Maßgabe dieser Verfassung“. Mit der Formulierung wird verdeutlicht, dass sich die einschlägigen Kontrollbefugnisse nicht schon unmittelbar aus der Grundnorm des Art. 39 Abs. 2 Sächsische Verfassung ergeben, sondern im Einzelnen speziellen Verfassungsbestimmungen zu entnehmen sind.20 Die Sächsische Verfassung hat insofern einen Trend des neueren Parlamentsverfassungsrechts in den Ländern21 aufgegriffen, die Kontrollrechte gerade der Parlamentsminderheit zu prononcieren. Damit werden folgerichtig Konsequenzen aus dem phänotypischen Verhältnis von Parlament und Regierung im heutigen parlamentarischen Regierungssystem gezogen. Denn die Kontrollfunktion des Landtages wird in der parlamentarischen Praxis weniger vom Parlament insgesamt als vielmehr von den die Staatsregierung nicht tragenden Teilen des Landtages, d. h. von der Opposition (vgl. Art. 40 Satz 2 Sächsische Verfassung), wahrgenommen. Letztere ist es, die

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Dazu SächsVerfGH LVerfGE 9, 260 (263); LVerfGE 13, 315 (328 f.). Vgl. im Einzelnen die instruktive Übersicht über die bislang erfolgten Volksgesetzgebungsversuche bei Harald Baumann-Hasske, in: ders./Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Vorbemerkung vor Art. 70 Rn. 45 ff.; zur Volksgesetzgebung in der Sächsische Verfassung als gewichtigen Akzeptanzfaktor der repräsentativen parlamentarischen Demokratie siehe ferner den Beitrag von Thomas Fetzer, in diesem Band. 19 Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl, 2011, Art. 39 Rn. 6; Torsten Umbach, Landtag und seine Gliederungen, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 58 (61 f.). 20 Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 39 Rn. 6; Claus Meissner, in: Degenhart/ders. (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 10 Rn. 7. 21 Vgl. nur Christoph Degenhart, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht: Mit Bezügen zum Europarecht, 28. Aufl. 2012, Rn. 750. 18

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im Regelfall Regierung und regierungstragender Parlamentsmehrheit gegenübersteht. So ist das parlamentarische Untersuchungsrecht gemäß Art. 54 Sächsische Verfassung zwar im Ausgangspunkt ein Kontrollinstrument des Landtages insgesamt. Stellvertretend durch den von ihm eingesetzten Untersuchungsausschuss übt das Parlament damit seine eigene, originäre Untersuchungskompetenz unabhängig von Regierung, Behörden und Gerichten aus, um Sachverhalten nachzugehen, deren Aufklärung im öffentlichen Interesse liegt (vgl. § 1 Abs. 1 UAusschG). Nicht erst in jüngster Zeit übernehmen die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse dabei freilich vor allem die Funktion eines kontrollpolitischen Instruments der Opposition bzw. der parlamentarischen Minderheit.22 Dementsprechend ist nicht nur das Recht zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen (auch) als Minderheitenrecht ausgestaltet (Art. 54 Abs. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung),23 sondern gleiches gilt auch für das Recht, im Untersuchungsausschuss die Erhebung von Beweisen zu verlangen (Art. 54 Abs. 3 Sächsische Verfassung).24 Einschlägige (Organstreit-)Verfahren vor dem Sächsischen Verfassungsgerichtshof um die Abgrenzung von Mehrheitsund Minderheitsrechten in Untersuchungsausschüssen25 sowie um Aktenvorlagepflichten der Staatsregierung26 (vgl. Art. 54 Abs. 4 Sächsische Verfassung) erhellen, dass die jeweilige Minderheit mitunter auch tüchtigen verfassungsgerichtlichen Beistands bedarf, um ihre Kontrollrechte in der Verfassungswirklichkeit durchzusetzen.27 Das – der Informationspflicht der Staatsregierung gegenüber dem Landtag (Art. 50 Sächsische Verfassung) korrespondierende – parlamentarische Interpellationsrecht (Art. 51 Sächsische Verfassung) wird in der Staatspraxis ebenfalls extensiv wahrgenommen. Es ist gerade auch ein Fragerecht einzelner Abgeordneter („Kleine Anfragen“28). Der sprichwörtlichen Fragefreudigkeit („Fragelust“) oppositioneller

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Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 54 Rn. 1 m.w.N. 23 Dazu auch Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 54 Rn. 2. 24 Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 54 Rn. 16 f. m.w.N. 25 Vgl. etwa SächsVerfGH vom 29. Januar 2004 – Vf. 87-I-03 – „Sachsenring I“; SächsVerfGH LVerfGE 18, 469 ff. „SachsenLB“; JbSächsOVG 17, 9 ff. – „Sachsensumpf II“. 26 Vgl. SächsVerfGH JbSächsOVG 16, 17 ff. – „Sachsensumpf I“. 27 Zur einschlägigen Spruchpraxis des SächsVerfGH näher Jürgen Rühmann, Die Spinne im Netz – Der Sächsische Verfassungsgerichtshof und das Kräftefeld der Staatsgewalten (Teil 2), SächsVBl. 2012, S. 173 (173 ff.); siehe ferner den Beitrag von Birgit Munz, in diesem Band. 28 Die Geschäftsordnung des 5. Sächsischen Landtages definiert eine „Kleine Anfrage“ als schriftliche Anfrage zu einem bestimmt bezeichneten Bereich, die jedes Mitglied des Landtages an die Staatsregierung stellen kann (§ 56 Abs. 1 Satz 1 GOLT) und die nicht mehr als fünf Einzelfragestellungen enthalten darf (§ 56 Abs. 2 Satz 2 GOLT).

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Mandatsträger im Sächsischen Landtag29 suchte die Staatsregierung in der Vergangenheit immer wieder mit – im Ergebnis zumeist erfolglosen – Abwehrstrategien zu begegnen, um ihre „Antwortlast“ in Grenzen zu halten. Der daraus resultierende „Antwortfrust“ oppositioneller Abgeordneter hat wiederum zu zahlreichen Organstreitverfahren (vgl. Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 Sächsische Verfassung) und einer breiten Spruchpraxis des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes zu Umfang und Grenzen des Fragerechts nach Art. 51 Sächsische Verfassung geführt.30 In einer jüngeren Entscheidung vom 19. Juli 2012 hat der Verfassungsgerichtshof einmal mehr die besondere Bedeutung des parlamentarischen Fragerechts für eine wirksame Kontrolle der Regierung und Verwaltung hervorgehoben:31 Das Fragerecht des Abgeordneten aus Art. 51 Sächsische Verfassung diene dazu, den Mitgliedern des Parlaments die Informationen zu verschaffen, die sie zu ihrer Arbeit, insbesondere zu einer wirksamen Kontrolle der Regierung und Verwaltung, benötigen. Die Staatsregierung als Spitze der Landesverwaltung verfüge über die Mittel für eine umfassende Sammlung, Sichtung und Aufbereitung der für die Bewältigung der Staatsaufgaben erforderlichen Informationen. Das Fragerecht solle dem Abgeordneten die Teilhabe an diesen Informationen ermöglichen. Weitere in der Sächsischen Verfassung enthaltene Konkretisierungen der Kontrollfunktion des Landtages stellen dar: das Recht der Petitionsausschüsse in Art. 53 Sächsische Verfassung, der in Art. 57 Sächsische Verfassung geregelte Datenschutzbeauftragte, der als parlamentarisches Hilfsorgan die Kontrolltätigkeit des Landtages unterstützt, das konstruktive Misstrauensvotum nach Art. 69 Sächsische Verfassung, die Nachprüfung des Einsatzes nachrichtendienstlicher Mittel gemäß Art. 83 Abs. 3 Satz 2 Sächsische Verfassung, die nachträgliche Genehmigung bei über- und außerplanmäßigen Ausgaben nach Art. 96 Satz 3 Sächsische Verfas-

29 Im bundesweiten Vergleich ist der Sächsische Landtag das mit großem Abstand fragefreudigste Parlament: In der 4. Wahlperiode wurden durch die Abgeordneten des Sächsischen Landtages 12.279 Kleine Anfragen an die Staatsregierung gerichtet; in der laufenden 5. Wahlperiode sind bereits weit über 7.000 Kleine Anfragen gestellt worden. Vgl. zu diesen Zahlen auch Christian Bösl, Die Kleine Anfrage nach Art. 51 I S. 1 Sächsische Verfassung und die neuere Rechtsprechung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs, insbesondere zu den sogenannten Kettenanfragen, SächsVBl. 2012, S. 254 (254). 30 Vgl. SächsVerfGH JBSächsOVG 2, 103; LVerfGE 8, 282; LVerfGE 8, 288; SächsVBl. 2004, 186; SächsVBl. 2004, 188; SächsVBl. 2004, 188 f.; JbSächsOVG 18, 88; ferner noch – n.v. – SächsVerfGH vom 18. Oktober 2001 – Vf. 29-I-01; vom 22. April 2004 – Vf. 81-I-03; vom 5. November 2009 – Vf. 133-I-08; vom 20. April 2010 – Vf. 54-I-09; vom 29. September 2011 – Vf. 44-I-11; vom 19. Juli 2012 – Vf. 21-I-12; zur einschlägigen Spruchpraxis des SächsVerfGH zuletzt Jürgen Rühmann, Die Spinne im Netz – Der Sächsische Verfassungsgerichtshof und das Kräftefeld der Staatsgewalten (Teil 2), SächsVBl. 2012, S. 173 (176 ff.); Christian Bösl, Die Kleine Anfrage nach Art. 51 I S. 1 Sächsische Verfassung und die neuere Rechtsprechung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs, insbesondere zu den sogenannten Kettenanfragen, SächsVBl. 2012, S. 254 (254 ff.); siehe zum Fragerecht ferner noch den Beitrag von Thomas Fetzer, in diesem Band. 31 SächsVerfGH vom 19. Juli 2012 – Vf. 21-I-12, S. 7.

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sung und die Pflicht des Staatsministers der Finanzen zur jährlichen Rechnungslegung gemäß Art. 99 Sächsische Verfassung. c) Politische Willensbildungsfunktion Art. 39 Abs. 2, 3. Var. Sächsische Verfassung weist dem Landtag schließlich die Funktion einer Stätte der politischen Willensbildung zu. Eine Vorrangstellung des Landtages gegenüber den anderen Verfassungsorganen, insbesondere gegenüber der Staatsregierung (vgl. Art. 59 Abs. 1 Satz 2 Sächsische Verfassung), ist mit dieser Aufgabenzuweisung zwar nicht verbunden.32 Gleichwohl wird mit dieser Bestimmung die besondere Stellung des Parlaments in der repräsentativen Demokratie hervorgehoben.33 Art. 39 Abs. 2, 3. Var. Sächsische Verfassung bestimmt den Landtag zum Forum, in dem die Grundsätze und Leitlinien der Landespolitik auf der Basis eines breiten Meinungsspektrums vor der Öffentlichkeit erörtert werden. Selbst wenn die Entscheidungszuständigkeit in die Kompetenz anderer Verfassungsorgane fällt, gewährleistet diese Bestimmung dem Landtag doch das Recht, sich des fraglichen Politikbereiches, wenn er ein für das Staatswesen bedeutsames Thema betrifft, anzunehmen und ihn zum Gegenstand politischer Debatte zu machen.34 Namentlich wird dem Landtag insoweit verfassungsrechtlich die Befugnis verbürgt, staatsleitende Regierungsentscheidungen auch zum Gegenstand eigener politischer Willensbildung zu machen und die Staatsregierung mittels schlichter Parlamentsbeschlüsse politisch zu beeinflussen.35 Der spezifische Gewährleistungsgehalt des Art. 39 Abs. 2, 3. Var. Sächsische Verfassung prägt zugleich den Pflichtenstatus der Staatsregierung gegenüber dem Landtag, insbesondere Gegenstand und Umfang der aus Art. 50 Sächsische Verfassung folgenden Informationspflicht.36 Die Staatsregierung ist danach von Verfassungs wegen gehalten, den Landtag über staatsleitende Regierungsentscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung zu unterrichten. Das Parlament muss in die Lage versetzt werden, Anlass, Inhalt und Auswirkungen der Regierungsentscheidung zu bewerten und sich hierzu einen eigenen politischen Willen zu bilden. Verbürgt wird des Wei-

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So zu Recht auch Torsten Umbach, Landtag und seine Gliederungen, in: Dehoust/Nagel/ ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 58 (64). 33 SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (417); Martin Schulte/Joachim Kloos, in: BaumannHasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 39 Rn. 7. 34 SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (417). 35 SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (417); Claus Meissner, in: Degenhart/ders. (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 10 Rn. 8. 36 SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (417); Martin Schulte/Joachim Kloos, in: BaumannHasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 39 Rn. 7; Torsten Umbach, Landtag und seine Gliederungen, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 58 (65).

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teren auch die Effizienz der politischen Willensbildung des Landtages;37 dem Landtag soll eine wirksame politische Einflussnahme auf Regierungsentscheidungen ermöglicht werden. Das setzt u. a. voraus, dass die Staatsregierung den Landtag gegebenenfalls so rechtzeitig informiert, dass diesem hinreichend Zeit zu eigener politischer Willensbildung und zu wirksamer Geltendmachung seines politischen Einflusses verbleibt. Insgesamt geht es insoweit um die Herbeiführung eines „Status vollständiger und rechtzeitiger Informiertheit“.38 3. Das Prinzip der Chancengleichheit Ein zentraler, das sächsische Parlamentsverfassungsrecht durchziehender Topos ist das Prinzip der Chancengleichheit. Es gilt gleichermaßen für den einzelnen Abgeordneten, die Fraktionen sowie für die institutionalisierte parlamentarische Opposition insgesamt (Art. 40 Satz 2 Sächsische Verfassung). Art. 39 Abs. 3 Sächsische Verfassung begründet für die Abgeordneten und Fraktionen im Landtag ein Recht auf Chancengleichheit. Es handelt sich um ein Statusrecht der Abgeordneten und – durch sie vermittelt – gleichermaßen der Fraktionen, das nicht aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 18 Abs. 1 Sächsische Verfassung, sondern aus dem spezielleren Art. 39 Abs. 3 Sächsische Verfassung herzuleiten ist.39 Die Gleichheit der Abgeordneten ist dabei formal zu verstehen, weil sie alle in gleicher Weise zur Repräsentation des Volkes (Art. 39 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Sächsische Verfassung) berufen sind. Die Ausübung von Rechten darf insbesondere nicht von der Zugehörigkeit zur parlamentarischen Mehrheit oder Minderheit abhängen.40 Differenzierungen sind nur zulässig, wenn und soweit sie zur Sicherung der Funktionsfähigkeit und des Ablaufs der Parlamentsarbeit, zur Abwehr missbräuchlicher Ausnutzung parlamentarischer Rechte oder zum Schutz anderer vorrangiger Verfassungsgüter erforderlich sind.41 Durch das Postulat formaler Gleichbehandlung erweist sich Art. 39 Abs. 3 Sächsische Verfassung als Anknüpfungspunkt spezifischen Minderheitenschutzes.42 37

SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (419). SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (420). 39 SächsVerfGH JbSächsOVG 3, 71 (76); 4, 39 (41); LVerfGE 16, 409 (411 f.); Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 39 Rn. 11; Torsten Umbach, Landtag und seine Gliederungen, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 58 (75); vgl. für den Bundestag auch BVerfGE 70, 324 (362 f.). 40 Vgl. SächsVerfGH JbSächsOVG 3, 71 (76). 41 Grundlegend SächsVerfGH JbSächsOVG 3, 71 (76) im Anschluss an BVerfGE 10, 4 (14); 70, 324 (364 ff.); 80, 188 (222); sodann SächsVerfGH JbSächsOVG 4, 39 (41 f.); LVerfGE 16, 409 (411 f.); LVerfGE 17, 396 (399); siehe auch SächsVerfGH, SächsVBl. 2002, 185 (186). 42 Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 39 Rn. 11 m.w.N. auch zu einzelnen Ausprägungen des Grundsatzes der Chancengleichheit. 38

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Parlamentarische Opposition stellt eine demokratische Grundfunktion dar.43 Erst durch ihre Wesenselemente – parlamentarischer Diskurs, Alternativenbildung und Kontrolltätigkeit – wird das Demokratieprinzip (Art. 1 Satz 2 und Art. 3 Abs. 1 Sächsische Verfassung) mit Leben erfüllt. Art. 40 Sächsische Verfassung als ausdrückliche Verankerung von Oppositionsrechten stärkt vor diesem Hintergrund die Rolle der parlamentarischen Opposition und damit den Parlamentarismus insgesamt. Während Art. 40 Satz 1 Sächsische Verfassung das Recht auf Bildung der parlamentarischen Opposition und das Recht auf Ausübung der parlamentarischen Oppositionsrolle in grundsätzlicher Hinsicht verbürgt, garantiert Art. 40 Satz 2 Sächsische Verfassung das Recht auf Chancengleichheit für die die Regierung nicht tragenden Teile des Landtages, die weder den Ministerpräsidenten gewählt haben noch sonst die Staatsregierung stützen, d. h. für die institutionalisierte parlamentarische Opposition.44 Es ist nicht mit dem Recht auf Chancengleichheit in Art. 39 Abs. 3 Sächsische Verfassung deckungsgleich, sondern ist speziell auf das Verhältnis von Opposition und regierungstragender Mehrheit des Landtages gemünzt.45 Eine etwaige Verletzung des Art. 40 Satz 2 Sächsische Verfassung muss daher als Ergebnis eines Vergleichs der Lage der regierungstragenden Teile des Landtages mit jener der nicht regierungstragenden Teile ermittelt werden. In seiner ersten Alternative gewährleistet das spezifische Oppositionsrecht eine formal gleiche Teilhabe der oppositionellen Minderheit an parlamentarischen Verfahren.46 Verbürgt ist damit ein notwendig relatives, an der Lage der regierungstragenden Teile des Landtages orientiertes Recht, welches verletzt sein kann, wenn nicht regierungstragenden Teilen des Parlaments parlamentarische Rechte verweigert werden, die den regierungstragenden Teilen zu Gebote stehen. Auch die Chancengleichheit in der Öffentlichkeit (Art. 40 Satz 2, 2. Alt. Sächsische Verfassung) bezieht sich ebenfalls auf den parlamentarischen Status der Opposition.47 Handlungen und Verfahrensweisen müssen folglich auch insoweit einen Bezug zur parlamentarischen Aufgabenerfüllung aufweisen. III. Die Sächsische Staatsregierung Das Homogenitätsprinzip des Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz enthält kaum konkrete Vorgaben für landesverfassungsrechtliche Bestimmungen über die Regierung. Das 43

Treffend Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 40 Rn. 3. 44 Vgl. zum unterschiedlichen Oppositionsbegriff in Art. 40 Satz 1 und Satz 2 Sächsische Verfassung Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 40 Rn. 5 m.w.N. 45 Grundlegend SächsVerfGH JbSächsOVG 3, 71 (75). 46 SächsVerfGH vom 28. Februar 2008 – Vf. 110-I-08, S. 6 m.w.N. 47 SächsVerfGH vom 28. Februar 2008 – Vf. 110-I-08, S. 6; Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 40 Rn. 11.

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Landesverfassungsrecht muss allerdings auch insoweit den Grundsätzen des republikanischen und demokratischen Rechtsstaats im Sinne des Grundgesetzes entsprechen. Die Einführung einer Monarchie ist danach ebenso ausgeschlossen wie ein rein präsidiales Regierungssystem; Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz verpflichtet den Freistaat Sachsen auf ein parlamentarisches Regierungssystem, in dem die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung unabdingbar ist.48 Die Vorschriften im 4. Abschnitt der Sächsischen Verfassung über die Staatsregierung (Art. 59 – 69 Sächsische Verfassung) sind (auch) von daher eingebettet in das parlamentarische Regierungssystem der Sächsischen Verfassung. Namentlich ist die Staatsregierung zunächst in ihrer Entstehung, aber sodann auch in ihrem Bestand vom Vertrauen des Landtages abhängig. Art. 59 Sächsische Verfassung fungiert als Grundnorm über die Staatsregierung, die deren rechtliche Stellung, Aufgaben und Zusammensetzung regelt. 1. Zusammensetzung und Bildung Art. 59 Abs. 2 Sächsische Verfassung legt fest, wer dem obersten Staatsorgan Staatsregierung angehört: Die Staatsregierung besteht aus dem Ministerpräsidenten und den Staatsministern (Art. 59 Abs. 1 Satz 2 Sächsische Verfassung). Optional können (beamtete) Staatssekretäre als weitere Mitglieder der Staatsregierung ernannt werden (Art. 59 Abs. 2 Satz 2 Sächsische Verfassung);49 von dieser Möglichkeit wird in der Staatspraxis jedoch gegenwärtig kein Gebrauch gemacht. Ministerpräsident und Staatsminister bilden zusammen das Kabinett. Der Ministerpräsident als Regierungschef führt den Vorsitz im Kabinett und bestimmt die Richtlinien der Politik (Art. 63 Abs. 1 Sächsische Verfassung). Jeder Staatsminister erhält einen eigenen Geschäftsbereich (Art. 59 Abs. 3 Satz 1 Sächsische Verfassung), den er im Rahmen der Richtlinien der Politik nach dem Ressortprinzip selbständig leitet (Art. 63 Abs. 2 Sächsische Verfassung).50 Der Ministerpräsident nimmt darüber hinaus auf Landesebene Befugnisse wahr, die auf Bundesebene vom Grundgesetz beim Bundespräsidenten angesiedelt sind, nämlich die Vertretung des Landes nach außen (Art. 65 Abs. 1 Sächsische Verfassung), die Ausübung des Begnadigungsrechts

48 Matthias Mittag, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Vorbemerkung vor Art. 60 Rn. 7 m.w.N. Dass sich diese Verantwortlichkeit gerade in der Möglichkeit eines (konstruktiven) Misstrauensvotums niederschlägt, fordert Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz indes nicht; vgl. BVerfGE 9, 268 (281). 49 Dazu näher Matthias Mittag, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 59 Rn. 3. 50 Staatsminister ohne eigenen Geschäftsbereich lässt die Sächsische Verfassung nicht zu – so zu Recht Matthias Mittag, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 59 Rn. 5; Wolf-Dieter Eckardt, Die Regierungsgewalt nach der Verfassung des Freistaates Sachsen, SächsVBl. 1996, S. 149 (150 f.); a.A. Claus Meissner, Die Staatsregierung, in: Degenhart/ders. (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 11 Rn. 21.

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(Art. 67 Sächsische Verfassung) und die Ernennung von Richtern und Beamten (Art. 66 Sächsische Verfassung). Art. 59 Abs. 2 Sächsische Verfassung enthält zugleich eine Legaldefinition des Begriffs „Staatsregierung“, die maßgeblich ist, soweit die Sächsische Verfassung an anderer Stelle, insbesondere in Art. 59 Abs. 3 Satz 1 (Beschlussfassung über die Geschäftsbereiche)51 und in Art. 64 Abs. 1 Sächsische Verfassung (Kabinettsbzw. Kollegialitätsprinzip)52, den Begriff der Staatsregierung verwendet.53 Gemeint ist dann jeweils das sich aus dem Ministerpräsidenten und den Staatsministern zusammensetzende Kollegialorgan, nicht etwa nur einzelne Mitglieder der Staatsregierung. Die Regierungsbildung ist im parlamentarischen Regierungssystem des Freistaates Sachsen auf einen Legitimationsakt der Volksvertretung angewiesen. Art. 60 Sächsische Verfassung regelt die Regierungsbildung: Die parlamentarische Entscheidungskompetenz erstreckt sich danach allein auf den Ministerpräsidenten, der nach Maßgabe von Art. 60 Abs. 1 und Abs. 2 Sächsische Verfassung vom Landtag gewählt wird.54 Für die Wahl des Ministerpräsidenten sind im ersten Wahlgang (Art. 60 Abs. 1 Sächsische Verfassung) die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Landtages erforderlich. Kommt eine Wahl auf diese Weise nicht zustande, reicht in einem weiteren Wahlgang (Art. 60 Abs. 2 Sächsische Verfassung) die Mehrheit der abgegebenen Stimmen aus. Die Sächsische Verfassung lässt folglich auch die Bildung einer echten Minderheitsregierung zu. Demgegenüber werden die Staatsminister weder im Landtag gewählt noch bedürfen sie ansonsten eines parlamentarischen Bestätigungsaktes. Vielmehr vermittelt der gewählte Ministerpräsident als Inhaber eines umfassenden Kabinettsbildungsrechts durch seine Berufungsentscheidungen nach Art. 60 Abs. 4 Satz 1 Sächsische Verfassung den einzelnen Staatsministern die personelle demokratische Legitimation. Ebenso kann er die Staatsminister nach dieser Bestimmung ohne Mitwirkung des Landtages auch wieder vorzeitig entlassen. Grundsätzlich ist die Amtszeit des Ministerpräsidenten – und damit die der gesamten Staatsregierung – an die fünfjährige Wahlperiode des Landtages geknüpft 51 Zum Zusammenspiel zwischen Art. 60 Abs. 4 Satz 1 Sächsische Verfassung (Kabinettsbildungsrecht des Ministerpräsidenten) und Art. 59 Abs. 3 Satz 1 Sächsische Verfassung (Zuständigkeit der Staatsregierung als Kollegialorgan für die Festlegung der Geschäftsbereiche) instruktiv Matthias Mittag, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 59 Rn. 11, 16 ff. m.w.N. 52 Eingehend zum Kabinettsprinzip des Art. 64 Abs. 1 Sächsische Verfassung Matthias Mittag, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 64 Rn. 2 m.w.N.; Torsten Umbach, Staatsregierung, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 82 (94 ff.). 53 Matthias Mittag, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 59 Rn. 10. 54 Näheres zu den Einzelheiten der Wahl bei Matthias Mittag, in: Baumann-Hasske/ Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 60 Rn. 11 ff.

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(Art. 68 Abs. 2 i.V.m. Art. 44 Abs. 1 Satz 2 Sächsische Verfassung). Die Staatsregierung bleibt jedoch auch nach der erfolgreichen Wahl eines Ministerpräsidenten und erfolgter Kabinettsbildung in ihrem Bestand vom Vertrauen des Landtages abhängig. Enttäuscht sie die Erwartungen der Volksvertretung, kann der Landtag dem Ministerpräsidenten durch die Wahl eines Nachfolgers das Vertrauen entziehen (Art. 69 Abs. 1 Sächsische Verfassung). Damit enden zugleich die Ämter aller Staatsminister (Art. 68 Abs. 2, 2. Halbs. Sächsische Verfassung). Das konstruktive Misstrauensvotum des Art. 69 Sächsische Verfassung ist ersichtlich Art. 67 Grundgesetz nachgebildet. Die dadurch eröffnete Option, den Ministerpräsidenten während der Wahlperiode des Landtages ablösen zu können, ist Ausfluss des Demokratieprinzips und Ausdruck der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung. Es handelt sich zugleich um das Instrument der (bisherigen) Opposition, auf legale Weise einen Regierungswechsel herbeizuführen.55 Mit der Vorschrift des Art. 69 Sächsische Verfassung gibt die Verfassung dem Landtag das schärfste Instrument (ultima ratio) in die Hand, seine Kontrollfunktion nach Art. 39 Abs. 2 Sächsische Verfassung wahrzunehmen und auf eine Regierungskrise zu reagieren.56 Den Alltag bestimmen freilich andere Kontrollmechanismen; zu einer Anwendung des Art. 69 Sächsische Verfassung ist es bis dato jedenfalls noch nicht gekommen. Die Verantwortlichkeit des Ministerpräsidenten und der Staatsminister für ihre Politik gegenüber dem Landtag nach Art. 63 Abs. 1 bzw. Abs. 2 Sächsische Verfassung kennzeichnet die Stellung der Staatsregierung im parlamentarischen Regierungssystem; Sanktionsrechte des Landtages, die über die an anderen Stellen der Verfassung geregelten Rechte des Parlaments hinausgehen, ergeben sich daraus jedoch nicht. 2. Funktionen der Staatsregierung Gemäß Art. 59 Abs. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung steht die Staatsregierung an der Spitze der vollziehenden Gewalt. Der Begriff „vollziehende Gewalt“ umfasst die Wahrnehmung aller staatlichen Aufgaben und Befugnisse, soweit es sich nicht um formelle Gesetzgebung oder um Rechtsprechung handelt. Dazu gehören die Staatsleitung (Gubernative) sowie die gesetzesakzessorische und gesetzesfreie Verwaltung (Administrative). Folgerichtig obliegen der Staatsregierung nach Art. 59 Abs. 1 Satz 2 Sächsische Verfassung sowohl die Leitung als auch die Verwaltung des Landes. Mit der Befugnis zur Staatsleitung, die von Verfassungs wegen unbeschränkt ist, sind originäre Regierungskompetenzen angesprochen.57 Zur politischen Staatslei55 Vgl. Matthias Mittag, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 69 Rn. 3 m.w.N. 56 Wolf-Dieter Eckardt, Die Regierungsgewalt nach der Verfassung des Freistaates Sachsen, SächsVBl. 1996, S. 149 (246); Matthias Mittag, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 69 Rn. 3. 57 Torsten Umbach, Staatsregierung, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 82 (88); Matthias Mittag, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die

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tung gehört es, die Ziele der Politik zu bestimmen, das zu deren Umsetzung erforderliche Regierungsprogramm aufzustellen und dieses Programm anschließend zu verwirklichen. Die Staatsregierung ist nicht auf den Haushalts- und Gesetzesvollzug beschränkt, sondern hat maßgeblich über Ausrichtung und Ziele der gesamten Staatstätigkeit zu befinden. Das Initiieren, Planen, Leiten und Entscheiden von Gesamtpolitik und wesentlicher Grundsatzfragen ressortiert zu dieser Befugnis. Die Kompetenz der Staatsregierung zur Leitung des Landes sichert der Staatsregierung gerade auch im Verhältnis zum Landtag einen eigenständigen, ihr vorbehaltenen Aufgabenbereich.58 Eine Konsequenz ihrer Staatsleitungsfunktion ist ferner – freilich nur nach näherer Maßgabe der Verfassung – die Teilhabe der Staatsregierung an der Gesetzgebung (Art. 59 Abs. 1 Satz 3 Sächsische Verfassung). Gemäß Art. 70 Abs. 1, 1. Var. Sächsische Verfassung verfügt die Staatsregierung über das Gesetzesinitiativrecht mit der Folge, dass der Landtag von der Staatsregierung ordnungsgemäß eingebrachte Gesetzesvorlagen59 zu behandeln hat. Selbst materiell rechtsetzend tätig werden die Staatsregierung bzw. einzelne Staatsministerien, wenn sie von formellgesetzlichen Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen Gebrauch machen (vgl. Art. 75 Abs. 1 Sächsische Verfassung). Als Verwaltungsspitze sind die Staatsregierung und ihre Mitglieder bereits verfassungsunmittelbar (Art. 59 Abs. 1 Satz 2, Art. 82 Abs. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung) oberste Landesbehörden. Insbesondere sind die von den Staatsministern geleiteten Staatsministerien als oberste Staatsbehörden (vgl. § 3 SächsVwOrgG) am Gesetzesvollzug beteiligt und nehmen zentrale Verwaltungsaufgaben wahr. Sie verfügen über Lenkungs-, Leitungs- und Aufsichtsbefugnisse gegenüber den unterstellten Behörden der unmittelbaren Staatsverwaltung (vgl. Art. 82 Abs. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung sowie §§ 6, 7, 17 SächsVwOrgG). Die Rechts- bzw. Fachaufsicht über die Träger der Selbstverwaltung (mittelbare Staatsverwaltung) steht ihnen nach Maßgabe der Gesetze zu. Den Verwaltungsvollzug steuern die Staatsregierung, bei entsprechender gesetzlicher Ermächtigung auch die einzelnen Staatsministerien,60 ferner Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Vorbemerkung vor Art. 59 Rn. 10, Art. 59 Rn. 2; Claus Meissner, Die Staatsregierung, in: Degenhart/ders. (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 11 Rn. 3. 58 SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (413); Wolf-Dieter Eckardt, Die Regierungsgewalt nach der Verfassung des Freistaates Sachsen, SächsVBl. 1996, S. 149 (149). 59 Zu den Anforderungen, die Art. 70 Abs. 1 Sächsische Verfassung an entsprechende Gesetzesvorlagen stellt, siehe SächsVerfGH, SächsVBl. 2011, 186 (187 f.) – Nichtigkeit des ersten SächsVersG. 60 Die Ansicht, einzelne Staatsministerien seien nach Art. 75 Abs. 2 Sächsische Verfassung auch ohne gesetzliche Ermächtigung für den Erlass von Verwaltungsvorschriften zuständig, – so Harald Baumann-Hasske, in: ders./Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 75 Rn. 2 – hat den Verfassungswortlaut gegen sich; wie hier auch Torsten Umbach, Staatsregierung, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 82 (88); Matthias Mittag, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 59 Rn. 10.

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durch den Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften (Art. 75 Abs. 2 Sächsische Verfassung). 3. Insbesondere: Der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung Die Verfassungsorgane und ihre Gliederungen sind zur gegenseitigen Rücksichtnahme verpflichtet (Grundsatz der Verfassungsorgantreue).61 Diese Pflicht fordert von allen Staatsorganen, dass sie bei der Ausübung ihrer Befugnisse den Funktionsbereich respektieren, den die davon mitbetroffenen Staatsorgane in eigener Verantwortung wahrzunehmen haben. Das Gebot der Verfassungsorgantreue wirkt kompetenzmoderierend, kann aber nicht zu einer Verschiebung der gewaltenteilig bestimmten Kompetenzgrenzen führen. Insbesondere verschafft es keinem Verfassungsorgan das Recht, unter Berufung auf diese Treuepflicht in den Kernbereich der Kompetenzen eines anderen Verfassungsorgans einzudringen.62 Im System der wechselseitigen Kontrolle der Staatsgewalten ist der Staatsregierung und ihren Mitgliedern gegenüber dem Parlament daher ein prinzipiell unantastbarer Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung gewährleistet,63 der von der Verfassung teilweise auch expressis verbis als Grenze parlamentarischer Kontrollrechte benannt wird (Art. 51 Abs. 2, Art. 54 Abs. 4 Sächsische Verfassung). Aber auch dort, wo dies nicht geschehen ist, findet diese Kernbereichsgarantie ihre Rechtfertigung aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 3 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Sächsische Verfassung).64 Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung zielt auf die Wahrung der Funktionsfähigkeit der Staatsregierung und schützt deren Eigenständigkeit bei der Erfüllung der ihr nach Art. 59 Abs. 1 Sächsische Verfassung übertragenen Aufgaben. Die Verantwortlichkeit der Staatsregierung gegenüber Parlament und Staatsvolk setzt notwendigerweise einen eigenverantworteten Kernbereich gouvernementalen Handelns voraus, der weder Ausforschungseingriffen des Parlaments ausgesetzt ist (vgl. Art. 51 Sächsische Verfassung) noch

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SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (413 f.) m.w.N. SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (414). 63 SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (417 f.); JbSächsOVG 16, 17 (61); vgl. dazu ferner SächsVerfGH, SächsVBl. 2004, 186 (187); Torsten Umbach, Staatsregierung, in: Dehoust/ Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 82 (83); Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 39 Rn. 2, Art. 51 Rn. 4, Art. 54 Rn. 13; Rainer Schröder, Die verfassungsrechtlichen Informationspflichten der Staatsregierung gegenüber dem Landtag und der Entwurf eines sächsischen Parlamentsinformationsgetzes, SächsVBl. 2004, S. 151 (152); Christian Bösl, Die Kleine Anfrage nach Art. 51 I S. 1 Sächsische Verfassung und die neuere Rechtsprechung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs, insbesondere zu den sogenannten Kettenanfragen, SächsVBl. 2012, S. 254 (254); siehe ferner auch den Beitrag von Thomas Fetzer, in diesem Band. 64 SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (418) im Anschluss an BVerfGE 110, 199 (214); vgl. auch BVerfGE 124, 78 (120). 62

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von eigenen Auskunftspflichten (vgl. Art. 50 Sächsische Verfassung) überlagert wird.65 Die Radizierung dieses grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungsund Handlungsbereiches66 kann im konkreten Einzelfall erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Zum Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung gehört jedenfalls die Willensbildung der Staatsregierung hinsichtlich der Erörterungen im Kabinett und bei der Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen einschließlich ressortübergreifender oder ressortinterner Abstimmungsprozesse.67 Eine Pflicht, parlamentarischen Informationsbegehren zu entsprechen, besteht vor diesem Hintergrund i. d. R. dann nicht, wenn die Information zu einem Mitregieren des Parlaments bei Entscheidungen führen kann, die in die alleinige Kompetenz der Staatsregierung fallen. Diese Möglichkeit besteht bei Informationen aus dem Bereich der Vorbereitung von Regierungsentscheidungen regelmäßig, solange die Entscheidung noch nicht getroffen ist.68 Parlamentarische Informations- und Fragerechte beschränken sich darum grundsätzlich auf bereits abgeschlossene Vorgänge.69 Sie vermitteln nicht die Befugnis, in laufende Verhandlungen und Entscheidungsvorbereitungen einzugreifen. Letzteres gilt vor allem auch in Bezug auf sich schrittweise vollziehende gouvernementale Entscheidungs- und Planungsprozesse;70 es besteht mithin keine Pflicht der Staatsregierung zu Zwischeninformationen über noch unabgeschlossene Entscheidungs- und Planungsvorgänge. Anders gelagert ist die Situation bei parlamentarischen Informationsbegehren, die sich auf staatsregierungsseitig bereits abgeschlossene Vorgänge beziehen, wo es also um den nachträglichen parlamentarischen Zugriff auf Informationen aus der Phase der Entscheidungsvorbereitung geht.71 Hier ist das Schutzniveau der exekutiven Kernbereichsgarantie insgesamt schwächer ausgeprägt, da der Gewaltenteilungsgrundsatz insofern im Hinblick auf die starke Stellung der Staatsregierung nach Art. 59 Abs. 1 Sächsische Verfassung eine Auslegung der Sächsischen Verfassung dahin gebietet, dass die parlamentarische Kontrolle (vgl. Art. 39 Abs. 2, 2. Var. Sächsische Verfassung) wirksam sein kann. Dies wäre jedoch nicht der Fall, wenn die dazu nötigen Informationen aus dem Bereich der Vorbereitung von Regierungsentscheidungen dem Parlament auch nach Abschluss der jeweiligen Vorgänge prinzipiell weiterhin verschlossen blieben. Parlamentarische Informationsrechte in Bezug auf abgeschlossene Vorgänge scheiden danach nicht grundsätzlich immer dann aus, wenn es sich um Informationen aus dem Bereich der Willensbildung der Regierung 65

SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (418). Vgl. grundlegend BVerfGE 67, 100 (139). 67 SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (418); vgl. auch BVerfGE 124, 78 (120) m.w.N. 68 Vgl. BVerfGE 124, 78 (121). 69 SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (418) im Anschluss an BVerfGE 67, 100 (139); 110, 199 (215). 70 SächsVerfGH LVerfGE 19, 387 (418). 71 Vgl. zu dieser Konstellation zuletzt BVerfGE 124, 78 (121 ff.). 66

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(einschließlich der vorbereitenden Willensbildung innerhalb der Ressorts und der Abstimmung zwischen ihnen) handelt. Bei abgeschlossenen Vorgängen vermag deshalb der pauschale Verweis darauf, dass der Bereich der Willensbildung der Regierung betroffen sei, die Zurückhaltung von Informationen allein nicht (mehr) zu rechtfertigen. Gleichwohl sind auch bei abgeschlossenen Vorgängen Fälle möglich, in denen die Staatsregierung zur Mitteilung von Informationen aus dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung nicht verpflichtet ist.72 Dafür muss dann freilich im konkreten Fall zu erwarten sein, dass die Herausgabe der entsprechenden Informationen die Funktionsfähigkeit und Eigenverantwortung der Staatsregierung beeinträchtigen würde (insbesondere wegen „einengender Vorwirkungen“ eines unbegrenzten parlamentarischen Informationsanspruchs). Des Weiteren bedarf es jeweils einer einzelfallbezogenen Abwägung mit dem parlamentarischen Informationsinteresse, die an folgenden Maßstäben auszurichten ist: Informationen aus dem Bereich der Vorbereitung von Regierungsentscheidungen, die Aufschluss über den Prozess der Willensbildung geben, sind umso schutzwürdiger, je näher sie der Regierungsentscheidung stehen.73 Je weiter also ein parlamentarisches Informationsbegehren in den innersten Bereich der Willensbildung der Staatsregierung eindringt, desto gewichtiger muss das parlamentarische Informationsbegehren sein, um sich gegen ein von der Regierung geltend gemachtes Interesse an Vertraulichkeit durchsetzen zu können. Eine besonders hohe Schutzwürdigkeit kommt danach den Erörterungen im Kabinett zu. Demgegenüber sind die vorgelagerten Beratungs- und Entscheidungsabläufe einer nachträglichen parlamentarischen Kontrolle in geringerem Maße entzogen. Ein besonders hohes Gewicht kommt dem parlamentarischen Informationsinteresse schließlich zu, soweit es um die Aufdeckung möglicher Rechtsverstöße und vergleichbarer Missstände innerhalb der Staatsregierung bzw. Exekutive geht.74 IV. Der Sächsische Verfassungsgerichtshof Die Einrichtung eines eigenständigen Landesverfassungsgerichts ist Ausdruck der Verfassungsautonomie des Freistaates Sachsen als Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland. Die Verfassungsautonomie der Länder erlaubt die Errichtung einer eigenen Landesverfassungsgerichtsbarkeit, deren Organisation, Verfahren und Zuständigkeit nicht der Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Grundgesetz unterliegen.75 Diese Bundeskompetenz zielt auf eine einheitliche Tätigkeit der Fachgerichte, begründet jedoch keine Einwirkungsmöglichkeit auf Konstitution und Verfahren der Landesverfassungsgerichte als oberster Staatsorgane des 72

Vgl. BVerfGE 124, 78 (122 f.); SächsVerfGH JbSächsOVG 16, 17 (61). Vgl. BVerfGE 124, 78 (122). 74 Vgl. BVerfGE 67, 100 (130); 110, 199 (222); 124, 78 (123). 75 BVerfGE 96, 345 (368 f.). 73

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Landesverfassungsraumes. Nicht von ungefähr gilt die Landesverfassungsgerichtsbarkeit seit jeher als ein wesentliches Attribut der Eigenstaatlichkeit der Länder und als ein Konstitutivelement des bundesdeutschen Föderalismus.76 Die Wirkkraft einer Landesverfassung hängt ganz wesentlich von der ständigen Anwendung des Landesverfassungsrechts durch ein Landesverfassungsgericht ab; erst ein Landesverfassungsgericht, das nach seiner Kompetenzausstattung sowohl befähigt ist als auch ausreichend Gelegenheit erhält, die Landesverfassung im Rechtsleben hinreichend oft praktisch zu entfalten und ihr Geltung zu verschaffen, stellt die Durchsetzbarkeit der Landesverfassung sicher. Das Grundgesetz postuliert die Existenz eines Landesverfassungsgerichts, dem die authentische Interpretation der Landesverfassung obliegt, wenn es in Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz die Frage der Vereinbarkeit eines Landesgesetzes mit der Landesverfassung dem „für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gericht des Landes“, d. h. dem Landesverfassungsgericht, zur Entscheidung überantwortet. Auch Art. 100 Abs. 3 Grundgesetz setzt das „Verfassungsgericht eines Landes“ voraus. Landesverfassungsgerichte werden durch die jeweilige Landesverfassung kreiert und konstituiert; ihnen eignet ein Doppelstatus als Gericht und als Verfassungsorgan.77 So liegen die Dinge auch in Bezug auf den Sächsischen Verfassungsgerichtshof als Landesverfassungsgericht des Freistaates Sachsen:78 Der Sächsische Verfassungsgerichtshof ist gemäß Art. 77 Abs. 1 Sächsische Verfassung ein Gericht, dessen Mitgliedern als Richtern rechtsprechende Gewalt anvertraut ist; zugleich steht der Verfassungsgerichtshof kraft seiner Kompetenzen (Art. 81 Abs. 1 Sächsische Verfassung) als selbständiges Verfassungsorgan neben der Staatsregierung und dem Landtag. Aus dem Umstand, dass der Sächsische Verfassungsgerichtshof ebenso wie das Bundesverfassungsgericht ein oberstes Verfassungsorgan ist, resultieren namentlich seine haushaltsrechtliche und ressortmäßige Unabhängigkeit79 sowie seine Geschäftsordnungsautonomie (vgl. § 10 Abs. 2 SächsVerfGHG). Art. 81 Sächsische Verfassung bestimmt enumerativ die Zuständigkeiten des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes (Art. 81 Abs. 1 Sächsische Verfassung), ferner dessen Besetzung (Art. 81 Abs. 2 Sächsische Verfassung) und das Wahlverfahren (Art. 81 Abs. 3 Satz 1 Sächsische Verfassung) sowie die Inkompatibilitäten, denen die Mitglieder des Gerichts unterworfen sind (Art. 81 Abs. 3 Satz 3 Sächsische Verfassung). Dar76

Jochen Rozek, Das Grundgesetz als Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte, 1993, S. 43 m.w.N. 77 BVerfGE 36, 342 (357); 60, 175 (213); Christian Starck, Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 130 Rn. 10 ff. m.w.N. 78 Torsten Umbach, Rechtsprechung, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 110 (113 f.); Jochen Rozek, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 81 Rn. 2 m.w.N. 79 Dazu näher Claus Meissner, Der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen als Verfassungsorgan, in: Degenhart/ders. (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 12 Rn. 8 ff.

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über hinaus ermächtigt Art. 81 Abs. 4 Satz 1 Sächsische Verfassung den Landesgesetzgeber, das Nähere über Organisation und Verfahrensweise des Verfassungsgerichtshofes zu regeln. Nachdem der Landtag im Februar 1993 – entsprechend dem Auftrag des Art. 81 Abs. 4 Satz 1 Sächsische Verfassung – das Gesetz über den Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen (Sächsisches Verfassungsgerichtshofgesetz – SächsVerfGHG)80 erlassen und anschließend die ersten Richterwahlen durchgeführt hatte, konnte das sächsische Landesverfassungsgericht am 15. Juli 1993 seine rechtsprechende Tätigkeit aufnehmen. Sitz des Gerichts ist Leipzig (§ 1 Satz 2 SächsVerfGHG); die Ortswahl soll durch räumliche Distanz die gebotene Unabhängigkeit gegenüber Landtag und Staatsregierung fördern,81 die beide in der Landeshauptstadt Dresden residieren. 1. Aufgabe des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes Aufgabe des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes ist Rechtsprechung am Maßstab der Sächsischen Verfassung.82 Wenngleich der Verfassungsgerichtshof die Aufgabe der Wahrung der Landesverfassung mit den zwei anderen Verfassungsorganen teilt, ist das Gericht doch zur insoweit letztverbindlichen Auslegung der Sächsischen Verfassung berufen.83 In diesem Sinne darf man den Sächsischen Verfassungsgerichtshof allemal als „Hüter der Landesverfassung“ bezeichnen,84 der freilich verfassungsakzessorisch und gesetzesdeterminiert agiert. Der Gerichtshof wird nur auf Antrag tätig (vgl. u. a. Art. 81 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 Sächsische Verfassung) und entscheidet in einem gerichtsförmigen Verfahren. Er besitzt kein eigenes Initiativrecht; ohne Vorliegen der jeweiligen Zulässigkeitsvoraussetzungen ist es dem Gericht nicht erlaubt, zu Verfassungsrechtsfragen Stellung zu nehmen. Der Sächsische Verfassungsgerichtshof ist ferner an die ihm enumerativ zugewiesenen Zuständigkeiten gebunden; er darf sich selbst keine neuen Zuständigkeiten zulegen oder die vorhandenen Zuständigkeiten im Wege der Analogie ausweiten.85 Andererseits unterliegt der Gerichtshof einer Pflicht zur Kompetenzausübung: Als Gericht entscheidet er auf Antrag nach der Rechtslage und hat dabei seine Kompetenzen nicht nur einzuhalten, sondern auch wahrzunehmen. 80

SächsGVBl. 1993 S. 177. So Torsten Umbach, Rechtsprechung, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 110 (114). 82 Jochen Rozek, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 81 Rn. 3. 83 Vgl. BVerfGE 69, 112 (116 ff.). 84 Vgl. allgemein Jochen Rozek, Das Grundgesetz als Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte, 1993, S. 43; speziell für den SächsVerfGH etwa Torsten Umbach, Rechtsprechung, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 110 (114). 85 Vgl. BVerfGE 1, 396 (408); 2, 143 (150); 117, 277 (376). 81

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Das Verhältnis der Landesverfassungsgerichtsbarkeit zur Bundesverfassungsgerichtsbarkeit ist intrikat und kann an dieser Stelle nicht im Einzelnen entfaltet werden.86 Im Grundsatz gilt: Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte stehen im föderativ gestalteten Bundesstaat des Grundgesetzes prinzipiell selbständig nebeneinander.87 Das Bundesverfassungsgericht entscheidet am Maßstab des Grundgesetzes, die Landesverfassungsgerichte entscheiden prinzipiell allein am Maßstab der jeweiligen Landesverfassung.88 Als Landesverfassungsgericht darf der Sächsische Verfassungsgerichtshof im Tenor seiner Entscheidungen dementsprechend allein über die Auslegung der Sächsischen Verfassung befinden.89 Gegenständlich beschränkt sich die Rechtsprechungsgewalt des Gerichtshofes ohnehin ausschließlich auf Akte der Landesstaatsgewalt.90 Der jeweils unterschiedliche Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab als ausschlaggebendes Abgrenzungskriterium der Kompetenzbereiche von Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit verhindert Zuständigkeitskollisionen, zu denen andernfalls die Doppelspurigkeit des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegenüber Akten der Landesstaatsgewalt namentlich in Normenkontroll- und Verfassungsbeschwerdeverfahren zwangsläufig führen muss. Auf einem weiteren Blatt steht freilich, dass die Spruchpraxis des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes diesen Grundsätzen nicht durchgängig entspricht. Vielmehr nimmt der Sächsische Verfassungsgerichtshof in einigen Bereichen seiner Rechtsprechung Kompetenzextensionen in den Zuständigkeitsbereich der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit für sich in Anspruch, die von der maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entweder (noch) nicht gedeckt sind oder ihr zum Teil sogar zuwiderlaufen. Dabei wird bis heute einschlägigen Vorlagepflichten nach Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz bzw. Art. 100 Abs. 3 Grundgesetz an das Bundesverfassungsgericht91 nicht genügend Rechnung getragen.92 Ein prominentes 86 Vgl. dazu instruktiv zuletzt etwa Herbert Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ ders. (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Kommentar, Stand der 39. Erg.-Lfg. (Dezember 2012), Vorbemerkung Rn. 230 ff.; Eckart Klein, in: Benda/ders. (Hrsg.): Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 40 ff. – jeweils m.w.N. 87 BVerfGE 96, 345 (368 f.); 102, 224 (232); 102, 245 (253); 103, 332 (350) – ständige Rechtsprechung. 88 BVerfGE 6, 376 (381 f.); 11, 89 (94); 41, 88 (119); 60, 175 (209); 103, 332 (350 f.); 120, 82 (101) – ständige Rechtsprechung. 89 BVerfGE 69, 112 (118). 90 BVerfGE 96, 345 (371); Eckart Klein, in: Benda/ders. (Hrsg.): Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 42 f. m.w.N.; a.A. wohl Hans von Mangoldt, 20 Jahre Sächsische Verfassung, SächsVBl. 2012, S. 146 (149). 91 Zu diesen Vorlagepflichten auch Andreas Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz: GG, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 93 Rn. 79. 92 Zum insoweit gestörten Diskurs zwischen SächsVerfGH und BVerfG auch Jochen Rozek, „Leipziger Allerlei II“ – ein kompetenzwidriges Landesgesetz, eine Gliedstaatsklausel und eine landesverfassungsgerichtliche Kompetenzextension, in: Detterbeck/ders./von Coelln (Hrsg): Recht als Medium der Staatlichkeit. Festschrift für Herbert Bethge zum 70. Geburts-

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Beispiel ist die Heranziehung der Art. 70 ff. Grundgesetz als Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab in Normenkontrollverfahren,93 dies auf der Basis einer „nebulösen dogmatischen Konstruktion“,94 ein weiteres die Kontrolle der Anwendung materiellen Bundesrechts anhand der Landesgrundrechte in Verfassungsbeschwerdeverfahren.95 Das „Kooperationsverhältnis“ zum Bundesverfassungsgericht dürfte in den kommenden Jahren mithin durchaus noch ausbaufähig sein. 2. Zusammensetzung Nach Art. 81 Abs. 2 Sächsische Verfassung besteht der Sächsische Verfassungsgerichtshof aus fünf Berufsrichtern96 und vier anderen Mitgliedern, hinsichtlich derer die Verfassung keine spezifischen qualifikations- oder berufsbezogenen Anforderungen stellt, sodass auch Nichtjuristen zu Verfassungsrichtern berufen werden können.97 Ausgeschlossen ist allerdings, dass die vier anderen Mitglieder ebenfalls Be-

tag, 2009, S. 597 (597 f.); ders., Landesgrundrechte als Kontrollmaßstab für die Anwendung von Bundesrecht, in: Merten/Papier (Hrsg.): Handbuch der Grundrechte. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren II, Bd. III, 2009, § 85 Rn. 41, 43 m.w.N; Eckart Klein, in: Benda/ders. (Hrsg): Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 54; zur Umgehung von Vorlagepflichten allgemein auch Christian Pestalozza, Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und Landesverfassungsgerichtsbarkeit; in: Merten/Papier (Hrsg.): Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III, 2009, § 86 Rn. 163. 93 Vgl. einerseits SächsVerfGH LVerfGE 14, 333 (358, 380 f.); LVerfGE 16, 441 (457 f.) sowie zuletzt SächsVerfGH NVwZ-RR 2012, 873 (874); andererseits BVerfGE 69, 112 (117 f.); 103, 332 (349 ff.). 94 Vgl. treffend Hans von Mangoldt, 20 Jahre Sächsische Verfassung, SächsVBl. 2012, S. 146 (148 in Fn. 28). 95 Vgl. einerseits – dies bejahend – SächsVerfGH LVerfGE 8, 320 (324); SächsVBl. 2003, 165 (166); SächsVerfGH vom 29. Januar 2004 – Vf. 22-IV-03; andererseits BVerfGE 96, 345 (362) – ausdrücklich offenlassend; zur vom SächsVerfGH in dieser Frage abweichenden Rspr. anderer Landesverfassungsgerichte, u. a. des BayVerfGH und des ThürVerfGH, siehe die Nachw. bei Jochen Rozek, Landesgrundrechte als Kontrollmaßstab für die Anwendung von Bundesrecht, in: Merten/Papier (Hrsg.): Handbuch der Grundrechte. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren II, Bd. III, 2009, § 85 Rn 41. 96 Kritisch zur fachgerichtlichen Prädominanz im Spruchkörper Helmut Goerlich, DVBl. 2012, S. 1094 („präsidial dominierte Verfassungsgerichtsbarkeit“); demgegenüber betont Hans von Mangoldt, 20 Jahre Sächsische Verfassung, SächsVBl. 2012, S. 146 (150), die berufsrichterliche Mehrheit sichere dem Verfassungsgerichtshof „juristisch-fachrichterlich erprobte Arbeitskraft mit besonderer Beherrschung spezieller einfachrechtlicher Gebiete“. 97 Wenn die Erwartung geäußert wird, dass die (Aus-)Wahl der vier anderen Mitglieder ebenfalls ausnahmslos qualifikationsorientiert erfolgen möge – so etwa Claus Meissner, Der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen, in: Degenhart/ders. (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 17 Rn. 26; Michael Haas, Der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen, 2006, S. 37; Torsten Umbach, Rechtsprechung, in: Dehoust/ Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 110 (117); Hans von Mangoldt, 20 Jahre Sächsische Verfassung, SächsVBl. 2012, S. 146 (150) – handelt es sich dabei letztlich lediglich um ein – verfassungsrechtlich nicht gefordertes – Desiderat.

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rufsrichter sind.98 Im Übrigen hat der einfache Gesetzgeber nach Art. 81 Abs. 4 Satz 1 Sächsische Verfassung (auch) das Nähere über die Zusammensetzung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes zu regeln. Dies ist in § 2 SächsVerfGHG unter Beachtung der Vorgaben des Art. 81 Abs. 2 Sächsische Verfassung geschehen.99 § 2 Abs. 2 SächsVerfGHG sieht auch die Bestellung von insgesamt neun Stellvertretern vor. Der Doppelstellung des Verfassungsgerichtshofes als Gericht und Verfassungsorgan gerecht wird, dass dessen Mitglieder gemäß Art. 81 Abs. 3 Satz 1 Sächsische Verfassung durch den Landtag mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der gesetzlichen Mitgliederzahl für eine Amtszeit von neun Jahren gewählt werden.100 Eine wiederholte Wahl ist zulässig (§ 3 Abs. 3 Satz 4 SächsVerfGHG). Das Wahlvorschlagsrecht besitzen die Staatsregierung und das Landtagspräsidium (§ 3 Abs. 2 SächsVerfGHG). Durch die Festsetzung des Quorums besitzt auch die parlamentarische Opposition (vgl. Art. 40 Sächsische Verfassung) regelmäßig die Möglichkeit, auf die Besetzung des Gerichts mit Einfluss zu nehmen. Die Inkompatibilitätsregelung des Art. 81 Abs. 3 Satz 3 Sächsische Verfassung trägt der richterlichen Unabhängigkeit der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes Rechnung: Diese dürfen weder dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung noch einem entsprechenden Organ des Freistaates (Landtag, Staatsregierung) oder eines anderen Bundeslandes angehören. 3. Zuständigkeiten Der Freistaat Sachsen hat sich für eine voll ausgebaute Landesverfassungsgerichtsbarkeit entschieden. Der Sächsische Verfassungsgerichtshof verfügt über Zuständigkeiten in allen modernen „Säulen der Verfassungsgerichtsbarkeit“ – für das Organstreitverfahren (Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 Sächsische Verfassung) ebenso wie für die Normenkontrolle abstrakter wie konkreter Art (Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 Sächsische Verfassung bzw. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz i.V.m. Art. 81 Abs. 1 Nr. 3 Sächsische Verfassung), schließlich auch für die Individualverfassungsbeschwerde (Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 Sächsische Verfassung) und die kommunale Verfassungsbeschwerde, die in Sachsen „Normenkontrolle auf kommunalen Antrag“ genannt wird (Art. 90 Sächsische Verfassung). Hinzu kommen einige spezielle Verfahren wie das der Wahlprüfung (Art. 45 Abs. 2 Sächsische Verfassung), der Abgeordnetenund Ministeranklage (Art. 118 Sächsische Verfassung) sowie Entscheidungszuständigkeiten in Verfahren der Verfassungsänderung (Art. 74 Abs. 1 Satz 3 Sächsische 98 Jochen Rozek, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 81 Rdnr. 138. 99 Siehe dazu im Einzelnen Claus Meissner, Der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen, in: Degenhart/ders. (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, §17 Rn. 12 ff.; Michael Haas, Der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen, 2006, S. 35 ff. 100 Jochen Rozek, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 81 Rn. 140 m.w.N.

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Verfassung) und der Volksgesetzgebung (Art. 71 Abs. 2 Satz 3 Sächsische Verfassung; Art. 81 Abs. 1 Nr. 6 Sächsische Verfassung i.V.m. §§ 23, 44 VVVG). Es gilt dabei das Enumerativprinzip:101 Die Zuständigkeiten des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes sind in der Sächsischen Verfassung (vgl. Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 – 5 Sächsische Verfassung) sowie in den auf Art. 81 Abs. 1 Nr. 6 Sächsische Verfassung gestützten gesetzlichen Spezialzuweisungen abschließend geregelt. Mit Ausnahme der präventiven Kontrolle eines Verfassungsänderungsantrages nach Art. 74 Abs. 1 Satz 3 Sächsische Verfassung – diese Verfahrensart ist mangels Verfassungsänderung bisher noch nicht aktuell geworden – liegt mittlerweile eine – mehr oder minder umfangreiche – Spruchtätigkeit des Verfassungsgerichtshofes in den einzelnen Verfahrensarten vor.102 Rein quantitativ dominiert auch in Sachsen die Individualverfassungsbeschwerde, an deren Zulässigkeitshürden103 freilich nach wie vor (zu) viele, selbst anwaltlich vertretene Beschwerdeführer scheitern – dies nicht selten aufgrund vermeidbarer eigener Nachlässigkeit und/oder Unerfahrenheit. Im vorliegenden Kontext interessiert naturgemäß aber eher der Gesichtspunkt, welche Rolle dem Sächsischen Verfassungsgerichtshof bei Streitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen Landtag und Staatsregierung (oder deren Untergliederungen) zufällt. Damit ist vor allem das Organstreitverfahren nach Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 Sächsische Verfassung angesprochen;104 in diesem Verfahren wird der Verfassungsgerichtshof als klassischer „Staatsgerichtshof“ tätig. Streitigkeiten über wechselseitige Rechte und Pflichten der obersten Staatsorgane des Freistaates sind im Wege des Organstreitverfahrens einer verfassungsgerichtlichen Klärung zugänglich. Das ist auch aus Sicht des Grundgesetzes unumgänglich, wie die Reservezuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für landesinterne Verfassungs(organ)streitigkei-

101 Jochen Rozek, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 81 Rn. 3; Michael Haas, Der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen, 2006, S. 139 f. 102 Vgl. aus jüngerer Zeit nur die Rechtsprechungsübersichten bei Alexander Lenz/Jürgen Meng, Zehn Jahre Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen, SächsVBl. 2003, S. 153 (153 ff.); Dorothee Budde/Dirk Tolkmitt/Torsten Umbach, In weiter Ferne so nah – Fünfzehn Jahre Landesverfassungsgerichtsbarkeit im Freistaat Sachsen, SächsVBl. 2008, S. 257 (257 ff.); Jürgen Rühmann, Die Spinne im Netz – Der Sächsische Verfassungsgerichtshof und das Kräftefeld der Staatsgewalten (Teil 1), SächsVBl. 2012, S. 131 (131 ff.); ders., Die Spinne im Netz – Der Sächsische Verfassungsgerichtshof und das Kräftefeld der Staatsgewalten (Teil 2), SächsVBl. 2012, S. 173 (173 ff.); siehe ferner den Beitrag von Birgit Munz, in diesem Band. 103 Vgl. zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Individualverfassungsbeschwerde nach Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 Sächsische Verfassung den Überblick bei Torsten Umbach, Rechtsprechung, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 110 (115 f.); ausführlich Jochen Rozek, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 81 Rn. 83 ff. m.w.N. 104 Zu dessen Zulässigkeitsvoraussetzungen näher Jochen Rozek, in: Baumann-Hasske/ Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 81 Rn. 6 ff. m.w.N.

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ten gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4, 3. Var. Grundgesetz belegt.105 Der Organstreit gehört zum unverzichtbaren „Hausgut“ einer modernen Verfassungsgerichtsbarkeit deutscher Prägung.106 Das Organstreitverfahren ist – nomen est omen – als kontradiktorisches Verfahren ausgestaltet. Nach Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 Sächsische Verfassung, § 7 Nr. 1, §§ 17 ff. SächsVerfGHG entscheidet der Verfassungsgerichtshof über die Auslegung der Sächsischen Verfassung aus Anlass von Streitigkeiten über Rechte und Pflichten der Verfahrensbeteiligten. Das Verfahren dient der Abgrenzung der Kompetenzen der obersten Staatsorgane und anderer Beteiligter, die durch die Sächsische Verfassung oder die Geschäftsordnung des Landtages oder der Staatsregierung mit eigenen Kompetenzen ausgestattet sind, im Verhältnis zueinander. Im Organstreitverfahren können nur die in einem entsprechenden Verfassungsrechtsverhältnis gründenden Rechtspositionen der Beteiligten geltend gemacht werden; es muss gerade um verfassungsrechtliche Positionen gestritten werden.107 Mit dieser spezifischen Zwecksetzung kommt dem Organstreitverfahren zentrale Bedeutung zu für die Klärung von Konflikten, welche aus Anlass der Aufgabenwahrnehmung durch die beiden obersten Staatsorgane Landtag und Staatsregierung oder Teile dieser Organe entstehen.108 Die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofes belegt das breite Spektrum vorhandener Konfliktfelder; immer wieder ist das Landesverfassungsgericht aufgerufen, am Maßstab des Organisationsstatuts der Sächsischen Verfassung die aufeinander bezogenen Kompetenzsphären der beiden Organe und ihrer Organteile zu klären, voneinander abzugrenzen und die gegebenenfalls gebotene verfassungsrechtliche Feinjustierung vorzunehmen.109 Das betrifft das Verhältnis des Landtages insgesamt zur Staatsregierung als Kollegialorgan und ihren Teilen ebenso wie Angelegenheiten von Untersuchungsausschüssen oder die Rechtspositionen von Fraktionen oder ein-

105 Vgl. dazu BVerfGE 27, 240 (245 f.); 60, 319 (323 ff.); 91, 246 (250 f.); 93, 195 (202); 102, 245 (250 ff.); Bodo Pieroth, in: Jarass/ders. (Hrsg.): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: GG, 12. Aufl. 2012, Art. 93 Rn. 41; Herbert Bethge, in: Maunz/SchmidtBleibtreu/Klein/ders. (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Kommentar, Stand der 39. Erg.-Lfg. (Dezember 2012), Vorbemerkung Rn. 61. 106 Vgl. auch Christian Starck, Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 130 Rn. 48 m.w.N.: „Grundstock“. 107 Siehe nur SächsVerfGH LVerfGE 20, 348 (371); Jochen Rozek, in: Baumann-Hasske/ Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 81 Rn. 5. 108 Torsten Umbach, Rechtsprechung, in: Dehoust/Nagel/ders. (Hrsg.): Die Sächsische Verfassung, 2011, S. 110 (114); vgl. auch Hans von Mangoldt, 20 Jahre Sächsische Verfassung, SächsVBl. 2012, S. 146 (149). 109 Anschaulich spricht Jürgen Rühmann, Die Spinne im Netz – Der Sächsische Verfassungsgerichtshof und das Kräftefeld der Staatsgewalten (Teil 1), SächsVBl. 2012, S. 131 (131) in seinem Rechtsprechungsbericht von der Funktion einer „Spinne im [Verfassungs-] Netz der Staatsgewalten“, die dem Sächsischen Verfassungsgerichtshof insoweit erwachse.

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zelnen Abgeordneten gegenüber dem Landtag, dessen Ausschüssen, dem Landtagspräsidenten, der Staatsregierung oder einzelnen Staatsministern.110 Die Sächsische Verfassung und die in ihr, ebenso wie im Grundgesetz, verankerte freiheitliche demokratische Grundordnung haben es nicht zu verhindern vermocht, dass im Freistaat Sachsen der politische Rechtsextremismus bis heute einen vergleichsweise breiten Zuspruch in der Bevölkerung gerade des ländlichen Raumes findet. Diese beklagenswerte Fehlentwicklung lässt sich seit nunmehr bereits zwei Wahlperioden unmittelbar an der Zusammensetzung des Sächsischen Landtages ablesen, in dem Abgeordnete der verfassungsfeindlichen NPD in Fraktionsstärke sitzen. Das hieraus resultierende politische Konfliktpotenzial fordert auch das Staatsorganisations- und Parlamentsverfassungsrecht immer wieder heraus. Dementsprechend nimmt es nicht wunder, dass sich der Sächsische Verfassungsgerichtshof in einer wachsenden Zahl von Organstreitverfahren mit Sachverhalten befassen muss, in denen die NPD-Fraktion oder einzelne ihrer Abgeordneten, letztere insbesondere im Gefolge von parlamentarischen Ordnungsmaßnahmen, eine vermeintliche Verletzung ihrer organschaftlichen Rechte rügen.111 Ins Positive gewendet tragen allerdings auch diese Verfahren das ihre dazu bei, den staatsorganisatorischen Normenbestand der Sächsischen Verfassung zu entfalten. So existiert inzwischen eine breite Spruchpraxis des Verfassungsgerichtshofes zur Austarierung des organschaftlichen Rederechts des Abgeordneten aus Art. 39 Abs. 3 Sächsische Verfassung mit dem ebenfalls verfassungsrangigen Aspekt der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Landtages, deren Wahrung bzw. Wiederherstellung parlamentarische Ordnungsmaßnahmen vornehmlich dienen.112

110 Eingehend zu den in Betracht kommenden Konstellationen zuletzt Jürgen Rühmann, Die Spinne im Netz – Der Sächsische Verfassungsgerichtshof und das Kräftefeld der Staatsgewalten (Teil 1), SächsVBl. 2012, S. 131 (136 ff.); ders., Die Spinne im Netz – Der Sächsische Verfassungsgerichtshof und das Kräftefeld der Staatsgewalten (Teil 2), SächsVBl. 2012, S. 173 (173 ff., 176 ff. m.w.N.). 111 Vgl. u. a. SächsVerfGH LVerfGE 16, 409 (Besetzung der Parlamentarischen Kontrollkommission, des Parlamentarischen Kontrollgremiums und der G 10-Kommission); LVerfGE 17, 396 (Zusammensetzung des Sachsen LB-Untersuchungsausschusses); JbSächsOVG 18, 48 (Grenzen des Rederechts des Abgeordneten – „anglo-amerikanischer Vernichtungsexzess“); JbSächsOVG 18, 65 (Grenzen des Rederechts des Abgeordneten – Sitzungsausschluss für zehn Sitzungstage); JbSächsOVG 18, 88 (Fragerecht des Abgeordneten); NVwZ-RR 2011, 129 (Grenzen des Rederechts des Abgeordneten – „Gesindel mit geistig-seelischen Mängeln“); NVwZ-RR 2011, 134 (Grenzen des Rederechts des Abgeordneten – „hassgeifernde, entkultivierte Antimenschen“); NVwZ-RR 2012, 89 (Grenzen des Rederechts des Abgeordneten – „Asylschmarotzer“); NVwZ-RR 2012, 785 (Ordnungsmaßnahmen gegen NPDLandtagsabgeordnete wegen Tragens von Kleidungsstücken mit Aufschrift „Thor Steinar“); SächsVerfGH vom 20. Juli 2012 – Vf. 26-I-12 (Grenzen des Rederechts des Abgeordneten – „Lügenbold“). 112 Siehe dazu die Nachweise in Fn. 111 sowie den Rechtsprechungsreport von Jürgen Rühmann, Die Spinne im Netz – Der Sächsische Verfassungsgerichtshof und das Kräftefeld der Staatsgewalten (Teil 1), SächsVBl. 2012, S. 131 (140 ff.).

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V. Fazit In toto darf man der Sächsischen Verfassung anlässlich ihres 20. Geburtstages eine glückliche Hand bei der Ausgestaltung des Organisationsstatuts eines parlamentarischen Regierungssystems attestieren, was punktuellen Reformbedarf selbstredend nicht ausschließt. Das moderne Parlamentsverfassungsrecht der Sächsischen Verfassung zielt auf eine lebendige Demokratie, die durch eine starke Ausformung von Minderheitenrechten der Opposition konsequent dem Umstand Rechnung trägt, dass die Frontlinien im politischen Kräftespiel nicht zwischen Landtag und Staatsregierung, sondern zwischen der die Staatsregierung tragenden Mehrheit des Landtages einschließlich dieser Staatsregierung selbst und der – gegebenenfalls ihrerseits durchaus vielgestaltigen – oppositionellen Minderheit des Landtages verlaufen. Dem Sächsischen Verfassungsgerichtshof als Verfassungsorgan der Dritten Gewalt fällt in diesem Kräftespiel die Rolle des auf die Einhaltung der Spielregeln der Verfassung bedachten Schiedsrichters zu; er ist dieser Rolle insgesamt gut gerecht geworden. Wohl ein wenig zu gewagt dürfte freilich die Annahme sein, dass die beiden anderen Verfassungsorgane – nach zwanzigjähriger Geltung der Verfassung und inzwischen rund neunzehnjähriger Spruchtätigkeit des Verfassungsgerichtshofes – in der Regel keines Schiedsrichters mehr bedürften, um ihre Aufgaben verfassungsgemäß wahrzunehmen.113 Insofern lehrt ein kurzer Blick auf ältere Landesverfassungsgerichte sowie das Bundesverfassungsgericht, dass das Staatsorganisationsrecht seinen Schiedsrichter nicht ruhen lässt. Nicht nur in diesem Sinne mag daher für alle obersten Staatsorgane der Sächsischen Verfassung gelten: Ad multos annos!

113 So Jürgen Rühmann, Die Spinne im Netz – Der Sächsische Verfassungsgerichtshof und das Kräftefeld der Staatsgewalten (Teil 2), SächsVBl. 2012, S. 173 (186).

Das Staatskirchenrecht der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992 Von Helmut Goerlich und Torsten Schmidt Die Sächsische Verfassung vom 27. Mai 19921 hat einen ganzen Strauß an Vorschriften aufgenommen, um das Verhältnis des Freistaates zu Glaube und Religion, zu Religionsgemeinschaften und insbesondere zu den Kirchen zu bestimmen.2 Sie sind Ausdruck der vom Freistaat Sachsen in Anspruch genommenen Kulturhoheit, eines wesentlichen Bestandteils seiner Verfassungsautonomie.3 Diesen Bestimmungen wohnt ein bestimmtes Verständnis über das Verhältnis zu Religion und religiöser Betätigung inne. Mit Recht kann man deshalb von einem „Staatskirchenrecht der Sächsischen Verfassung“ sprechen. I. Die Grundlagen des Staatskirchenrechts der Sächsischen Verfassung 1. Das System des sächsischen Staatskirchenrechts Allerdings wird das im Freistaat Sachsen geltende Staatskirchenrecht4 nicht nur durch die Landesverfassung bestimmt. Das Staatskirchenrecht oder – wie man zu-

1

Verfassung des Freistaats Sachsen vom 27. Mai 1992, SächsGVBl. 1992, S. 243. Hierzu ausführlich Christoph Degenhart, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Sächsischen Verfassung, in: ders./Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 9; Guido Burger, Staatskirchenrecht in Sachsen, 1998, S. 63 ff.; Peter Nagel, Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Dehoust/ders./Umbach (Hrsg.): Die sächsische Verfassung. 2011, S. 143 (143 ff.). Ferner überblickshaft: Christoph Degenhart, Grundzüge der neuen sächsischen Verfassung, LKV 1993, S. 33 (38); Suzanne Drehwald, Die Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992, in: dies./Jestaedt, Sachsen als Verfassungsstaat, 1998, S. 73 (133). 3 So Peter Häberle, Kulturhoheit im Bundesstaat – Entwicklungen und Perspektiven, AöR 124 (1999), S. 549 (568 f.); Hans von Mangoldt, Die Verfassung des Freistaates Sachsen – Entstehung und Gestalt, SächsVBl. 1993, S. 25 (29). 4 Zum aktuellen Entwicklungsstand im sächsischen Staatskirchenrecht ausführlich Torsten Schmidt, Offene Fragen und verwaltungspraktische Probleme des Sächsischen Staatskirchenrechts – ein kritischer Rückblick auf fast 15 Jahre Evangelischer Kirchenvertrag Sachsen, in: Nagel/Böllmann (Hrsg.): Staatliches Handeln zwischen Notwendigkeit und Übermaß, 2008, S. 141 (141 ff.). 2

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nehmend formuliert5 – das „Religionsverfassungsrecht“ in Sachsen ruht vielmehr auf drei Säulen:6 a) Das Grundgesetz als Grundlage des sächsischen Staatskirchenrechts Die erste Säule bilden die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes. Zu nennen sind hier die Grundrechte der Glaubens-, Religions- und Gewissensfreiheit in Art. 4 Grundgesetz sowie die in Art. 140 Grundgesetz inkorporierten Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung. Die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes gelten schon aufgrund des bundesrechtlichen Anwendungsvorranges und der umfassenden innerstaatlichen Geltung des Grundgesetzes auch für das Religionsverfassungsrecht in Sachsen. Allerdings hat es der sächsische Verfassungsgeber dabei nicht bewenden lassen: In Art. 109 Abs. 4 Sächsische Verfassung hat der Verfassungsgeber die Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 WRV – also die sog. Weimarer Kirchenartikel – auch in die Sächsische Verfassung inkorporiert, indem er diese zum „Bestandteil dieser Verfassung“ erklärt. Diese doppelte Inkorporation stellt einen „Gleichklang“ sicher. Klargestellt wird, dass das bundesrechtlich vorgehende Religionsverfassungsrecht gerade nicht durch die speziellen Gewährleistungen der Sächsischen Verfassung verändert, ausgehebelt oder umgangen werden soll. Das schließt nicht aus, dass einzelne Bestimmungen durch die speziellen Gewährleistungen verstärkt werden. So ist auch nicht auszuschließen, dass den Weimarer Kirchenartikeln im Kontext der Sächsischen Verfassung ein modifizierter Bedeutungsgehalt beigemessen werden kann.

5 Vgl. Axel v. Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, Eine systematische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa, 4. Aufl. 2006; Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, 2. Aufl. 2012; andernorts heißt es „Religions- und Weltanschauungsrecht“ – vgl. Gerhard Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 1. Aufl. 2008. Nahe liegt auch die Bezeichnung „kooperatives Religionsrecht“ – ausführlich Helmut Goerlich, Glaubens- und Religionsfreiheit in „Zeiten des Multikulturalismus“ in völker-, europa- und verfassungsrechtlicher Sicht – oder vom Staatskirchenrecht zu einem allgemeinen Religionsrecht?, in: Enders/Kahlo (Hrsg.): Toleranz als Ordnungsprinzip?, 2007, S. 207 (231 ff.). Vgl. auch Christian Traulsen, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, ZevKR 51 (2006), S. 225 ff.; Hartmut Maurer, Religionsverfassungsrecht im Spiegel eines Grundrechtskommentars, ZevKR 51 (2006), S. 211 ff. 6 So schon Torsten Schmidt, Offene Fragen und verwaltungspraktische Probleme des Sächsischen Staatskirchenrechts – ein kritischer Rückblick auf fast 15 Jahre Evangelischer Kirchenvertrag Sachsen, in: Nagel/Böllmann (Hrsg.): Staatliches Handeln zwischen Notwendigkeit und Übermaß, 2008, S. 141 (145); ebenso Peter Nagel, Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Dehoust/ders./Umbach (Hrsg.): Die sächsische Verfassung. 2011, S. 143 (143).

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b) Die Sächsische Verfassung als Grundlage des sächsischen Staatskirchenrechts Die zweite Säule des sächsischen Staatskirchenrechts wird aus den übrigen landesverfassungsrechtlichen Vorschriften gewonnen, die sich auf Glaube und Religion sowie auf Kirchen und Religionsgemeinschaften beziehen. Hier ist aus dem Grundrechtsteil der Sächsischen Verfassung der Art. 19 Abs. 1 und 2 Sächsische Verfassung mit der Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses zu nennen. Hierzu gehört auch der gesamte mit „Die Kirchen und Religionsgemeinschaften“ überschriebene „10. Abschnitt“ der Sächsischen Verfassung, den man auch als den „staatskirchenrechtlichen Abschnitt“ der Verfassung bezeichnen könnte. Die in diesen Abschnitt eingegliederten Artikel 109 bis 112 Sächsische Verfassung betreffen wichtige Teilbereiche religiösen und kirchlichen Handelns, ohne den Anspruch zu erheben, alle Fragen des religiösen Lebens im Freistaat Sachsen verfassungsrechtlich zu fundamentieren. Nicht unerwähnt bleiben darf Art. 105 Abs. 1 bis 3 Sächsische Verfassung. Auch wenn Art. 105 Sächsische Verfassung systematisch in den 9. Abschnitt zum Bildungswesen eingeordnet wurde, sind doch seine Bestimmungen zum Charakter und zur inhaltlichen Ausgestaltung des Ethik- und Religionsunterrichts als jeweils ordentliche Lehrfächer sowie zur inhaltlichen Ausgestaltung des Religionsunterrichts doch klassischer staatskirchenrechtlicher Normbestand. Einen staatskirchenrechtlichen Kontext hat ebenfalls aus dem Abschnitt des Bildungswesens die in Art. 102 Abs. 3 Sächsische Verfassung als Grundrecht abgesicherte Privatschulfreiheit, von der im Freistaat Sachsen in den letzten 20 Jahren vor allem Kirchen und kirchennahe Schulinitiativen Gebrauch gemacht haben. Der so umrissene Bestand landesverfassungsrechtlicher Bestimmungen bildet das „Staatskirchenrecht der Sächsischen Verfassung“, das nachfolgend näher reflektiert werden soll. c) Das Vertragskirchenrecht als Grundlage des sächsischen Staatskirchenrechts Die dritte Säule des sächsischen Staatskirchenrechts ist das sog. Vertragskirchenrecht.7 7 Zur Entwicklung des Vertragskirchenrechts in den neuen Bundesländern vgl. Hans Ulrich Anke, Die Neubestimmung des Staat-Kirche-Verhältnisses in den neuen Ländern durch Staatskirchenverträge, 2000, S. 33 f.; Jürgen Bergmann, Die Verhandlungen zum Vertrag zwischen den evangelischen Landeskirchen im Freistaat Sachsen und dem Freistaat Sachsen vom 24. März 1994 aus der Sicht der evangelischen Landeskirchen, in: Tillmanns (Hrsg.): Staatskirchenverträge im Freistaat Sachsen. Die Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche nach der Wiedervereinigung durch kodifikatorische Verträge, 2001, S. 129; Stefan Muckel, Der Staatskirchenvertrag als Instrument zur Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche, ebenda, S. 36; Harald v. Bose, Neue Entwicklungen im Staatskirchenrecht, Der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Sachsen-Anhalt, LKV 1998, S. 295; Guido Burger, Der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Sachsen vom 2. 7. 1996, LKV 1997, S. 317; Axel v. Campenhausen, Vier neue Staatskirchenverträge in vier neuen

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aa) Zur verfassungsrechtlichen Absicherung des Vertragskirchenrechts Während das Grundgesetz und die inkorporierten Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung die Möglichkeit von Verträgen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften nicht erwähnen, stellt Art. 109 Abs. 2 Satz 3 Sächsische Verfassung klar, dass die Beziehungen des Landes zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften im Übrigen durch Vertrag geregelt werden. Mit dieser Bestimmung wird das Vertragskirchenrecht in Sachsen institutionell abgesichert. Die verfassungsrechtliche Verankerung der Kirchenverträge folgt der Einsicht, dass nicht alle Fragen des Staat-Kirche-Verhältnisses verfassungsrechtlich abgesichert sein können und somit auch das „Staatskirchenrecht der Sächsischen Verfassung“ notwendigerweise lückenhaft sein muss. Genau diese Lücken sollen aber durch vertragliche Regelungen geschlossen werden. Das Verhältnis zwischen Ländern, NVwZ 1995, S. 757; ders., Der Güstrower Vertrag – Ein Schritt zur Normalisierung des Verhältnisses von Staat und Kirche, LKV 1995, S. 233; Claudio Fuchs, Das Staatskirchenrecht der neuen Bundesländer, 1999, S. 81 f.; Helmut Goerlich/Hartmut Kahl, Zur staatskirchenvertraglichen Freundschaftsklausel in Sachsen, Der Universitätsprediger und die Universitätskirche in Leipzig als Beispiel, SächsVBl. 2008, S. 205; Stephan Haering, Die Verträge zwischen dem Heiligen Stuhl und den neuen Bundesländern aus den Jahren 1994 bis 1998, in: Isensee/Rees/Rüfner (Hrsg.): Dem Staate, was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist, Festschrift für Joseph Listl zum 70. Geburtstag, 1999, S. 761; Steffen Heitmann, Die Entwicklung von Staat und Kirche aus der Sicht der „neuen“ Länder, ZevKR 39 (1994), S. 402; ders., Der Evangelische Kirchenvertrag Sachsen aus der Sicht der Verwaltung, LKV 1995, S. 93; ders., Der Katholische Kirchenvertrag Sachsen, NJW 1997, S. 1420; Hartmut Johnsen, Die Evangelischen Staatskirchenverträge in den neuen Bundesländern – ihr Zustandekommen und ihre praktische Anwendung, ZevKR 43 (1998), S. 182; Holger Kremser, Der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Mecklenburg-Vorpommern vom 15. September 1997, LKV 1998, S. 300; Stefan Korta, Der Katholische Kirchenvertrag Sachsen, 2001; Ludwig Renck, Bemerkungen zu den sog. Staatskirchenverträgen, ThürVBl. 1995, S. 31; ders., Der sogenannte Rang der Kirchenverträge, DÖV 1997, S. 929; Axel Vulpius, Der Evangelische Kirchenvertrag Sachsen-Anhalt aus der Sicht der Verwaltung, LKV 1994, S. 277; ders., Zur Fortgeltung des Preußenkonkordats in den neuen Bundesländern, NVwZ 1994, S. 40; ders., Die Verhandlungen über den Evangelischen Kirchenvertrag Sachsen-Anhalt vom 15. September 1993, in: von Dietze (Hrsg.): Kirche als grenzüberschreitende Gemeinschaft, 1994, S. 29; ders., Der Evangelische Kirchenvertrag Sachsen-Anhalt unter besonderer Berücksichtigung der Nihil obstat-Frage, JöR 43 (1995), S. 327; ders., Verträge mit der Jüdischen Gemeinschaft in den neuen Bundesländern, NVwZ 1996, S. 759; ders., Zur Nihil obstat-Frage in den neuen evangelischen Kirchenverträgen, NVwZ 1996, S. 460; ders., Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in den Neuen Ländern, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristenkommission (Hrsg.): Religionsfreiheit, 1996, S. 61, ders., Zehn Jahre Evangelischer Kirchenvertrag Sachsen-Anhalt, KuR 2004, S. 79; ders., Charakter einer jüdischen Gemeinde, LKV 2004, S. 496; Hermann Weber, Der Wittenberger Vertrag – Ein Loccum für die neuen Bundesländer?, NVwZ 1994, S. 759; ders., Neue Staatskirchenverträge mit der Katholischen Kirche in den neuen Bundesländern, in: Kästner/Nörr/Schlaich: Festschrift für Martin Heckel zum siebzigsten Geburtstag, 1999, S. 463; Klaus Weber/Rolf Raum, Die Besetzung kirchlicher Ämter nach dem Katholischen Kirchenvertrag Sachsen vom 2. Juli 1996, AfKKR 165 (1996), 414; Peter Zweynert, 10 Jahre Evangelischer Kirchenvertrag in Sachsen, ABl. EvLKS 2005, S. B5.

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Staat und Kirchen, so die hinter Art. 109 Abs. 2 Satz 3 Sächsische Verfassung stehende Intention, soll nicht ungeordnet bleiben, sondern soll eine für beide Seiten rechtssichere Ausgestaltung erfahren. In Abkehr und in klarer Abgrenzung zu den Verhältnissen in der ehemaligen DDR soll sich der Staat nicht den berechtigten Anliegen der Religionsgemeinschaften entziehen sowie dem Gesprächs- und Verhandlungsbedarf der Kirchen verweigern können. Die Sächsische Verfassung sieht Kirchen und Religionsgemeinschaften gerade nicht als „Relikte vergangener Zeit“, als „unerwünschte Erscheinung“ oder in der Rolle bloßer Bittsteller,8 sondern als unentbehrliche Institutionen für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens (vgl. Art. 109 Abs. 1 Sächsische Verfassung). bb) Pflicht und Anspruch auf Abschluss von Staatskirchenverträgen Daher liegt auf der Hand, dass Art. 109 Abs. 2 Satz 3 Sächsische Verfassung den Staat auch in der Pflicht sieht, vertragliche Regelungen anzustreben und Kirchenverträge abzuschließen.9 Art. 109 Abs. 2 Satz 3 Sächsische Verfassung wird man daher im Sinne eines echten Kontrahierungszwangs für den Staat interpretieren dürfen, dem ein subjektiver Anspruch der Kirchen und Religionsgemeinschaften auf Vertragsverhandlungen, auf Vertragsabschluss und ggf. auch Anpassung von bestehenden Verträgen korrespondiert.10 Für das Land ist insofern die Vertragsfreiheit eingeschränkt, was für gesetzliche Kontrahierungszwänge nichts Ungewöhnliches ist. Umgekehrt besteht ein solcher Kontrahierungszwang freilich nicht: Die Religionsfreiheit und das kirchliche Selbstbestimmungsrecht stellen es den Religionsgemein-

8 So ähnlich in den Verfassungsberatungen die Stellungnahmen der Abgeordneten Lehner (CDU), Franke (CDU), Verfassungs- und Rechtsausschuss des Sächsischen Landtags, Protokoll der 8. Klausurtagung am 17. Februar 1992, S. 24, abgedruckt in: Schimpff/Rühmann (Hrsg.): Die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen. Materialien und Studien des Sächsischen Landtages, Bd. 1, 1997, S. 558. 9 Historisch-genetisch ist dieser Befund allerdings nicht ganz eindeutig: So äußerte etwa der Berater von Mangoldt in den Verfassungsberatungen, „eine Bemühungsverpflichtung des Staates auf Abschluss solcher Vereinbarungen sei nie gemeint gewesen“ – Verfassungs- und Rechtsausschuss des Sächsischen Landtags, Protokoll der 8. Klausurtagung am 17. Februar 1992, S. 25, abgedruckt in: Schimpff/Rühmann (Hrsg.): Die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen. Materialien und Studien des Sächsischen Landtages, Bd. 1, 1997, S. 559. Im Sinne einer Verpflichtung dann aber Ziffer 5.1 des Berichts des Verfassungs- und Rechtsausschusses zum Ausschussentwurf der Verfassung des Freistaates Sachsen (LT-Drs. 1/1800) vom 18. Mai 1992, abgedruckt bei: Stober (Hrsg.): Quellen zur Entstehungsgeschichte der Sächsischen Verfassung, 1993, S. 384 (402). 10 So zutreffend schon Claudio Fuchs, Das Staatskirchenrecht der neuen Bundesländer, 1999, S. 81 f.; zurückhaltend hingegen Hans Ulrich Anke, Die Neubestimmung des StaatKirche-Verhältnisses in den neuen Ländern durch Staatskirchenverträge, 2000, S. 33 f.; a.A. und unzutreffend Guido Burger, Staatskirchenrecht in Sachsen, 1998, S. 63 (67 ff.), der sich u. a. auf eine staatliche Vertragsfreiheit beruft, aber übersieht, dass gerade die Verfassung eine solche Vertragsfreiheit einschränken darf.

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schaften frei, ob sie mit dem Staat Verhandlungen aufnehmen und Verträge schließen wollen. Was den Inhalt solcher vertraglicher Regelungen betrifft, bestehen für die Vertragspartner zunächst weite Verhandlungs- und Gestaltungsspielräume. Die ganz unterschiedlichen Bedürfnisse der einzelnen Religionen und Konfessionen, ihr unterschiedlicher historischer Kontext und die unterschiedliche Zahl ihrer Mitglieder machen in der Regel differenzierte und individuelle vertragliche Regelungen erforderlich. Dass durch vertragliche Regelungsgegenstände faktisch eine staatliche Religionsförderung bewirkt wird, steht dem Vereinbarungsinhalt nicht entgegen. Das Menschenbild der Sächsischen Verfassung versteht nämlich Religiosität als menschliches Wesensmerkmal11 und Religion als wichtiges menschliches Grundbedürfnis sowie als Grundlage des menschlichen Lebens.12 Inhaltliche Bindungen erwachsen aber aus dem in Art. 109 Abs. 2 Satz 1 Sächsische Verfassung enthaltenen Trennungsprinzip: Die gemeinsamen Angelegenheiten (res mixtae), die Staatsleistungen und die sonstige staatliche Finanzierung auch kirchlicher Aufgaben sowie die sonstige staatlich-kirchliche Zusammenarbeit dürfen die verfassungsrechtliche vorgegebene Trennung nicht aufheben oder verwischen. Über vertragliche Regelungen darf nicht faktisch ein Staatskirchentum installiert und Religion zur rein staatlichen Angelegenheit gemacht werden. Inhaltliche Bindungen erwachsen ferner aus dem Paritätsgrundsatz: Durch Vertrag dürfen nicht Privilegierungen für einzelne Religionen, Konfessionen, Kirchen und Religionsgemeinschaften geschaffen oder aufrecht erhalten werden, die sich nicht durch Mitgliedszahl und Bedeutung, durch historische Gründe oder alte Rechtstitel rechtfertigen lassen. cc) Pflichtige Regelungsgegenstände für Staatskirchenverträge Der Freistaat ist im Übrigen durch den aus Art. 109 Abs. 2 Satz 3 Sächsische Verfassung bestehenden Kontrahierungszwang auch im Hinblick auf bestimmte Regelungsinhalte nicht völlig frei. Er darf sich der Klärung bestimmter Fragen durch einen Kirchenvertrag nämlich nicht entziehen. Und das betrifft alle die Fragen, die in der Sächsischen Verfassung schon selbst angesprochen sind und daher zulässigerweise Gegenstand näherer vertraglicher Regelungen sein können: Zu nennen sind hier Fragen des Inhalts des Religionsunterrichts (Art. 105 Abs. 2 Satz 1 Sächsische Verfassung), das Verfahren, die Anforderungen und persönlichen Voraussetzungen für die Bevollmächtigung von Religionslehrern (Art. 105 Abs. 2 Satz 2 Sächsische Verfassung), der Zugang zu den Schulen, die Art und Weise

11 Daher gewährleistet etwa Art. 5 Abs. 2 Sächsische Verfassung für die im Land lebenden nationalen und ethischen Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit das Recht auf Pflege ihrer Religion und wird die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit in Art. 19 Abs. 1 und 2 Sächsische Verfassung als Grundrecht geschützt. 12 So ausdrücklich Art. 109 Abs. 1 Sächsische Verfassung.

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sowie das Verfahren der Beaufsichtigung des Religionsunterrichts (Art. 105 Abs. 2 Satz 3 Sächsische Verfassung).13 Zu nennen sind ferner die Fragen der Erhebung und Übermittlung der Daten über die Religionszugehörigkeit (Art.109 Abs. 4 Sächsische Verfassung i.V.m. Art. 136 Abs. 3 Satz 2 WRV) oder die Art und das Verfahren zur Erhebung der Kirchensteuer (Art. 109 Abs. 4 Sächsische Verfassung i.V.m. Art. 137 Abs. 6 WRV). Mit der Inkorporation des Art. 138 Abs. 1 WRV werden auch die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstitel beruhenden „Staatsleistungen“ anerkannt14 und der fast wortlautgleiche Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung anerkennt die auf Gesetz, Vertrag oder besondere Rechtstitel beruhenden „Leistungen des Landes“. Folglich ist auch der Kirchenvertrag der richtige Ort, um Art und Umfang der meist historisch begründeten Leistungen klarzustellen, ggf. Staatsleistungen neu zu begründen oder über deren Höhe vertraglich zu disponieren. Die Kirchengutsgarantie in Art. 138 Abs. 2 WRV schützt „Eigentum und andere Rechte“ der Religionsgemeinschaften an ihren für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten „Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögen“. Welche „anderen Rechte“ das sein können, kann genauso in einem Kirchenvertrag klargestellt und anerkannt werden, wie die vom Schutzzweck erfassten „Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögen“. Als klassische Regelungsgegenstände für eine vertragliche Ausgestaltung angelegt sind in Art. 109 Abs. 4 Sächsische Verfassung i.V.m. Art. 137 Abs. 4 und 5 WRV schließlich Verfahrensfragen bei der Begründung und rechtlichen Ausgestaltung der äußeren Form der Religionsgemeinschaften und ihren Untergliederungen. Ausdrücklich als Inhalt einer kirchenvertraglichen Regelung angesprochen werden im Verfassungstext die Lehrstühle der theologischen Fakultäten und die Lehrstühle für Religionspädagogik. Deren Besetzung erfolgt nach Art. 111 Abs. 2 Satz 1 Sächsische Verfassung nämlich „im Benehmen“ mit der Kirche. Schon diese „Benehmensregelung“ legt nahe, das Besetzungsverfahren und ggf. auch Anforderungen an Stelleninhaber kirchenvertraglich zu regeln. Der Kirchenvertrag wird dann explizit noch genannt, indem in Art. 111 Abs. 2 Satz 2 Sächsische Verfassung „abweichende Vereinbarungen“ zugelassen werden. Durch Kirchenvertrag können ferner Umfang und Anforderungen sowie das Verfahren bei der in Art. 111 Abs. 1 Satz 2 Sächsische Verfassung genannten Gleichstellung kirchlicher Ausbildungsstätten für Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter mit staatlichen Lehreinrichtungen, einschließlich der Finanzierung, vereinbart werden. 13 Das Aufsichtsrecht besteht nach Art. 105 Abs. 2 Satz 3 Sächsische Verfassung ausdrücklich „im Benehmen“ mit der staatlichen Aufsichtsbehörde. Eine solche Benehmensregelung ist gerade darauf angelegt, vertraglich allgemein gültige Kriterien zu fixieren, wie allgemein und im konkreten Einzelfall ein „Sich-ins-Benehmen-Setzen“ erfolgen soll. 14 Dadurch, dass Art. 138 Abs. 1 Satz 1 WRV vorsieht, dass die Staatsleistungen „durch die Landesgesetzgebung abgelöst“ werden sollen, liegt inzident eine Anerkennung solcher Leistungen.

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Da auch die diakonische und karitative Arbeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften (Art. 109 Abs. 3 Sächsische Verfassung), einschließlich der Unterhaltung und Kostenerstattung der von diesen betriebenen gemeinnützigen Einrichtungen (Art. 110 Abs. 1 Sächsische Verfassung) in der Sächsischen Verfassung breiten Raum einnimmt, liegt auch hier die nähere Ausgestaltung durch einen Kirchenvertrag nahe. Bei diesen schon in der Verfassung angelegten Regelungsgegenständen – und die Aufzählung ließe sich noch weiter fortsetzen – darf das Land den Kirchen und Religionsgemeinschaften eine kirchenvertragliche Regelung jedenfalls nicht vorenthalten. dd) Zum heutigen Stand des Vertragskirchenrechts in Sachsen Es setzt sich unterdessen aus einer Vielzahl von Staatskirchenverträgen zusammen, die in den letzten zwanzig Jahren zwischen dem Freistaat Sachsen und im Lande ansässiger Kirchen und Religionsgemeinschaften geschlossen wurden. Zu nennen sind die Kirchenverträge mit den beiden großen christlichen Konfessionen, also der Katholische Kirchenvertrag Sachsens15 und der Evangelische Kirchenvertrag Sachsens.16 Nicht minder bedeutsam ist der Vertrag des Freistaates Sachsen mit dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden vom 7. Juni 1994.17 Kennzeichnendes Merkmal dieser „Staatskirchenverträge“ ist die breite und umfassende, bereichsübergreifende Regelung nahezu sämtlicher Verhältnisse zwischen Staat und Kirche. Neben diesen umfassenden Staatskirchenverträgen bestehen aber auch weitere kirchenvertragliche Regelungen, die sich singulär nur auf Einzelfragen beschränken18 oder die verwaltungspraktische Umsetzung eines Rechtsbereichs19 be15 Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Sachsen vom 2. Juli 1996, SächsGVBl. 1997 S. 18. 16 Vertrag des Freistaates Sachsen mit den evangelischen Landeskirchen im Freistaat Sachsen vom 24. Juni 1994, SächsGVBl. 1994 S. 1253. 17 Vertrag des Freistaates Sachsen mit dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden vom 7. Juni 1994, SächsGVBl. 1994 S. 1346, geändert durch Vertrag zur Änderung des Vertrages des Freistaates Sachsen mit dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden vom 17. Januar 2006, SächsGVBl. 2006 S. 386. 18 Zu nennen sind hier die Kirchenverträge über die Errichtung von Bistümern, vgl. Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Brandenburg sowie dem Freistaat Sachsen über die Errichtung des Bistums Görlitz vom 4. Mai 1994; SächsGVBl. 1994 S. 1059. 19 Vgl. etwa Vereinbarung des Freistaates Sachsen mit den Evangelischen Kirchen im Freistaat Sachsen zur Regelung der seelsorgerlichen Tätigkeit in den Justizvollzugsanstalten vom 25. Januar 1993; Vertrag über die Gestellung kirchlicher Mitarbeiter für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen im Freistaat Sachsen vom 7. September 1994, ABl. EKD S. 560, geändert durch Vertrag vom 17. Dezember 1999; Vereinbarung des Freistaates Sachsen mit den evangelischen Landeskirchen im Freistaat Sachsen über den kirchlichen Dienst in der Polizei vom 30. September 1996, ABl. EKD 1997 S. 143; Vereinbarung des Freistaates Sachsen mit den evangelischen Landeskirchen im Freistaat Sachsen zur Regelung der Seelsorge in staatlichen Krankenhäusern (Evangelische Krankenhausseelsorgevereinbarung – EvKSV) vom 23. Dezember 1997, ABl. EKD 1998 S. 150.

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treffen. Schließlich hat sich neben den klassischen Staatskirchenverträgen in Sachsen noch ein dritter Typus an vertraglicher Koordination zwischen Staat und Kirchen entwickelt: Es handelt sich hier um Abkommen zwischen Kirchen und kommunalen Spitzenverbänden,20 die zwar zunächst nur empfehlenden Charakter haben,21 aber weithin maßstabsbildend die örtlichen Rechtsverhältnisse bestimmen. d) Staatskirchenrecht im einfachen Recht Auf diesen drei Säulen ruht ein durch eine Vielzahl einfachgesetzlicher Vorschriften und Ausführungsbestimmungen noch weiter ausdifferenziertes staatskirchenrechtliches Normensystem. 2. Das Staatskirchenrecht in den Traditionen der sächsischen Verfassungsgeschichte Anders als das Grundgesetz kennt die Sächsische Verfassung keinen transzendenten Rückbezug.22 Auf eine Anrufung Gottes (sog. invocatio dei) oder einen anderen ausdrücklichen Gottesbezug23 verzichtet die Verfassung in ihrer Präambel. Das nimmt der Präambel aber nicht das staatskirchenrechtliche Interesse. Indem die Verfassung sich ausdrücklich auf die „Traditionen der sächsischen Verfassungsgeschichte“ stützt, knüpft sie insbesondere an Vorläuferverfassungen an, allerdings ohne die einzelnen Verfassungstraditionen zunächst näher zu spezifizieren oder gar zeitlich einzuschränken. 20 Etwa zur Auseinandersetzung von Kirchschullehen, vgl. Rahmenvereinbarung zwischen dem Ev.-Luth. Landeskirchenamt Sachsens und dem Sächsischen Städte- und Gemeindetag e.V. zur Regelung der vermögensrechtlichen Fragen über Kirchschullehn vom 2. Juli 1996, ABl. EvLKS 1996 S. A 169; Reg.-Nr. 42 345 (2) 66, oder zur finanziellen Friedhofsunterhaltung, vgl. Rahmenvereinbarung zwischen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens und dem Sächsischen Städte- und Gemeindetag e.V. über Grundsätze für eine angemessene Beteiligung der Kommunen am Kostenaufwand kirchlicher Friedhofsträger vom 18. Dezember 2000, ABl. EvLKS 2001 S. A 29 f. 21 Vgl. etwa die Vereinbarung über Vertragsmuster zu kommunalen Leichenhallen auf kirchlichen Friedhöfen, Erläuterungen für die Vereinbarungsmuster SSG/Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens (Muster Ia, Ib, IIa, IIb, III, IV), Sachsenlandkurier 1/05 S. 7 ff. – hierzu Hans Dietrich Knoth, Leichenhallen auf kirchlichen Friedhöfen, Sachsenlandkurier 1/ 05 S. 4 f.; Peter Blazek, Kommunale Einrichtungen auf kirchlichen Friedhöfen, Sachsenlandkurier 1/05 S. 6 f. 22 Ausführlich hierzu Helmut Goerlich, Der Gottesbezug in Verfassungen, in: ders./Huber/ Lehmann: Verfassung ohne Gottesbezug? Zu einer aktuellen europäischen Kontroverse, ThLZ.F 14 (2004), S. 9 ff. 23 Soweit die Präambel mit dem Dreiklang „Gerechtigkeit“, „Frieden“ und „Bewahrung der Schöpfung“ an einen vor allem in der kirchlichen Umweltbewegung und im kirchlichen konziliaren Prozess geprägtes Begriffstrias anknüpft, soll dem jedoch angeblich keine theologischen Bedeutung zukommen, sondern ein rein säkulares Verständnis zugrunde liegen – so etwa Bernd Kunzmann, in: Baumann-Hasske/ders. (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Präambel Rn. 15.

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Mit der „Verfassungsurkunde für das Königreich Sachsen vom 4. September 1831“24 hat die heutige Sächsische Verfassung in systematischer Hinsicht zumindest gemeinsam, dass sie den Religionsangelegenheiten einen eigenen Abschnitt25 widmet. In den §§ 32 und 3326 kannte die Verfassungsurkunde ferner eine (beschränkte) individuelle und kollektive Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit. Aufgrund des bis 1918 bestehenden Staatskirchentums finden sich aber im Übrigen weniger religionsverfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte. Zu den nachrevolutionären Verfassungstexten in Sachsen nach 1918 lassen sich hingegen staatskirchenrechtliche Bezüge zum heutigen Verfassungsbestand nicht herstellen. Weder das „Vorläufige Grundgesetz für den Freistaat Sachsen vom 28. Februar 1919“27 noch die Verfassung des Freistaates Sachsen vom 1. November 192028 enthielten nähere staatskirchenrechtliche Bestimmungen.29 Vor allem ein Grundrechtsteil fehlte. Zudem sind diese Verfassungstexte in einer Zeit entstanden, die geprägt war von der Suche, das Verhältnis zu den nunmehr vom Staat getrennten Kirchen erst noch neu zu bestimmen, und in der tendenziell kirchenfeindliche Strömungen politikbestimmend waren.30 24 Verfassungsurkunde für das Königreich Sachsen vom 4. September 1831; Sächsische Gesetzessammlung 1831, S. 241 – abrufbar auf den Internetseiten der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung unter http://www.infoseiten.slpb.de/fileadmin/daten/dokumente/SaechsVerfassung_1831.pdf. 25 In der Verfassungsurkunde von 1831: „VI. Von den Kirchen, Unterrichtsanstalten und milden Stiftungen“, §§ 56 bis 60. 26 Der historische Verfassungstext hatte folgenden Wortlaut: „§ 32. Jedem Landeseinwohner wird völlige Gewissensfreiheit und in der bisherigen oder der künftig gesetzlich festzusetzenden Maße Schutz in der Gottesverehrung seines Glaubens gewährt. § 33. Die Mitglieder der im Königreiche aufgenommenen christlichen Kirchengesellschaften genießen gleiche bürgerliche und politische Rechte. Alle andere Glaubensgenossen haben an den staatsbürgerlichen Rechten nur in der Maße einen Antheil, wie ihnen derselbe vermöge besonderer Gesetze zukommt. 27 Vorläufiges Grundgesetz für den Freistaat Sachsen vom 28. Februar 1919, SächsGVBl. 1919 S. 37. 28 Die Verfassung des Freistaates Sachsen, vom 1. November 1920, SächsGBl. 1920 S. 445 – abrufbar im Internet auf den Seiten der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung unter http://www.infoseiten.slpb.de/fileadmin/daten/dokumente/SaechsVerfassung_1920.pdf. 29 Die einzige staatskirchenrechtliche Bestimmung enthielt Art. 50: „Die Regierung übt die staatliche Aufsicht über die Religionsgesellschaften nach den Landesgesetzen aus. Die Rechte öffentlicher Körperschaften werden den Religionsgesellschaften vom Gesamtministerium verliehen.“ 30 Nach dem Umbruch 1918 hatten überwiegend sozialistisch und kommunistisch orientierte Kräfte die Regierungsgewalt übernommen, die ein sozialistisch-revolutionäres Programm verfolgten (vgl. „Aufruf der neuen Regierung“ vom 18. November 1918, An das Sächsische Volk!, SächsGVBl. 1918 S. 364). Dies schlug sich auch in einer kirchenfeindlichen Politik nieder. Eine dieser Maßnahmen war die Abschaffung des Religionsunterrichts (Übergangsgesetz für das Volksschulwesen, vom 22. Juli 1919, [SächsGVBl. 1919 S. 171]; Verordnung vom 23. Juli 1919 zur Ausführung des Übergangsgesetzes für das Volksschulwesen vom 22. Juli 1919, vom 23. Juli 1919, [SächsGVBl. 1919 S. 185]). Durch Urteil des IV. Zivilsenats vom 4. November 1920 (Tenor bekanntgemacht in RGBl. 1920 S. 2016 f.) stellte

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Die am weitesten gehenden Gemeinsamkeiten der heutigen Sächsischen Verfassungen mit Vorgängerverfassungen lassen sich staatskirchenrechtlich bei der „Verfassung des Landes Sachsen vom 28. Februar 1947“31 diagnostizieren. Auch hier findet sich wieder ein eigenständiger Verfassungsabschnitt, der sich den Religionsgemeinschaften widmet.32 Die Formulierungen in diesem mit „Religionsgemeinschaften“ überschriebenen Abschnitt (Abschnitt L, Art. 89 bis 94) der Verfassung des Landes Sachsen vom 28. Februar 1947 waren der Weimarer Reichsverfassung entlehnt.33 Ferner fand sich in Art. 12 Abs. 1 ein Grundrecht, das die „volle Glaubens- und Gewissensfreiheit“ schützte. Art. 17 Abs. 3 der Verfassung schützte ferner Sonntage und gesetzliche Feiertage als Tage der Arbeitsruhe. Allerdings hatte diese Verfassung bis zur Auflösung der Länder in der ehemaligen DDR nur eine kurze Halbwertszeit und konnte – da Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit in den tatsächlichen das Reichsgericht die Unvereinbarkeit mit der WRV fest. Vgl. ferner die Auseinandersetzungen um die Staatsleistungen an die Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens (RGZ 113, 349; RGZ 129, 72). 31 Verfassung des Landes Sachsen vom 28. Februar 1947, Bekanntmachungsblatt der Landesregierung Sachsen 1947, Nr. 5 S. 103 ff. 32 Darauf weist insbesondere Steffen Heitmann, Die neue sächsische Verfassung – zwischen Aufbruch und Bewahrung, SächsVBl. 1993, S. 2 (4) hin. 33 Artikel 89 (1) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet und steht unter staatlichem Schutz. (2) Die kirchlichen Einrichtungen und Handlungen dürfen nicht für politische Zwecke mißbraucht werden. Artikel 90 (1) Die Ausübung privater und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Diensten sind unabhängig von dem Religionsbekenntnis. (2) Niemand ist verpflichtet, eine religiöse Eidesform zu gebrauchen oder seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. (3) Die Verwaltungsorgane haben nur insoweit das Recht, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte oder Pflichten abhängig sind oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung es erfordert. Artikel 91 (1) Die Freiheit der Vereinigung zu religiösen Gesellschaften wird gewährleistet. (2) Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Landes, der Kreise oder der politischen Gemeinden. (3) Die Religionsgesellschaften sind Körperschaften des öffentlichen Rechts, soweit sie es bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. (4) Schließen sich mehrere öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften zu einem Verband zusammen, so ist auch dieser Verband eine öffentlich-rechtliche Körperschaft. (5) Die öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften sind berechtigt, von ihren Mitgliedern auf Grund der staatlichen Steuerlisten nach Maßgabe der allgemeinen Bestimmungen Steuern zu erheben. (6) Den Religionsgesellschaften werden Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen. Artikel 92 Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden öffentlichen Leistungen an die Religionsgesellschaften werden durch Gesetz abgelöst. Artikel 93 Die religiöse Unterweisung ist Angelegenheit der Religionsgesellschaften. Diese Unterweisung ist nur von Personen zu erteilen, die dazu bereit sind und die von den Religionsgesellschaften damit beauftragt sind. Die Religionsgesellschaften können dafür Schulräume in Anspruch nehmen, soweit dadurch der Klassenunterricht nicht beeinträchtigt wird. Artikel 94 Soweit das Verlangen nach Gottesdienst und Seelsorge in Krankenhäusern, Strafanstalten oder anderen öffentlichen Anstalten besteht, sind die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zugelassen.

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Verhältnissen der sowjetischen Besatzungszone und der DDR stark auseinanderfielen – kaum eine traditionsbegründende Prägekraft entfalten. Die starke Anlehnung an die Weimarer Reichsverfassung war übrigens ein Wesenszug den die „Verfassung des Landes Sachsen“ 1947 auch mit der späteren DDR-Verfassung aus dem Jahr 194934 gemeinsam hatte.35 Nicht nur, dass die DDR-Verfassung „Religion und Religionsgemeinschaften“ ein eigenes Kapitel36 widmete, vielmehr stimmten die Vorschriften zum Status der Religionsgemeinschaften nahezu wörtlich mit den Verbürgungen der Weimarer Reichsverfassung überein. Die Kirchen blieben nach dem ausdrücklichen Verfassungswortlaut Körperschaften des öffentlichen Rechts und behielten zunächst – da sich aus der Verfassung nichts anderes ergab – auch die ihnen zustehenden Rechte.37 3. Das sächsische Religionsverfassungsrecht im Verfassungsvergleich Dass den Kirchen und Religionsgemeinschaften breiter Raum im Verfassungstext eingeräumt und sogar ein eigener Abschnitt in der Landesverfassung gewidmet wird, ist keine Besonderheit des sächsischen Verfassungsrechts, sondern findet Parallelen auch in den Landesverfassungen anderer Bundesländer.38 So finden sich ähnliche eigene Kirchenartikel in den Landesverfassungen von Baden-Württemberg,39 Bayern,40 Brandenburg,41 Bremen,42 Hessen,43 Nordrhein-Westfalen,44 RheinlandPfalz,45 des Saarlandes46 und von Thüringen.47

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Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949, GBl. DDR 1949 S. 5. 35 Zur Rechtslage in der DDR vgl. Martin Richter, Kirchenrecht im Sozialismus, 2011, S. 9 ff. 36 Abschnitt B, Kapitel V., Art. 41 bis 48. 37 So etwa in Bezug auf die Widmungsbefugnis Helmut Goerlich/Torsten Schmidt, Res sacrae in den neuen Bundesländern. Rechtsfragen zum Wiederaufbau der Universitätskirche in Leipzig, 2009, S. 40 ff.; dies., Res sacrae und die Universitätskirche in Leipzig, ZevKR 55 (2010), S. 46 (64 ff.). 38 Allerdings ist die Stellung der Kirchen „außerordentlich stark hervorgehoben“ – so Christoph Degenhart, Grundzüge der neuen sächsischen Verfassung, LKV 1993, S. 33 (38). 39 Erster Hauptteil. Vom Menschen und seinen Ordnungen, II. Religion und Religionsgemeinschaften, Art. 4 bis 10 BaWüVerf. 40 Dritter Hauptteil. Das Gemeinschaftsleben, 3. Abschnitt. Religion und Religionsgemeinschaften, Art. 142 bis 150 BayVerf. 41 2.Hauptteil: Grundrechte und Staatsziele, 7. Abschnitt. Kirchen und Religionsgemeinschaften, Art. 36 bis 38 BbgVerf. 42 Zweiter Hauptteil. Ordnung des sozialen Lebens, 4. Abschnitt. Kirchen und Religionsgemeinschaften, Art. 59 bis 63 BremVerf. 43 Erster Hauptteil. Die Rechte des Menschen, IV. Staat, Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, Art. 48 bis 54 HessVerf.

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Die Verfassungen des Landes Mecklenburg-Vorpommern48 und des Landes Sachsen-Anhalt49 beschränken sich auf einen einzigen Kirchenartikel. Lediglich die Verfassungen von Berlin, Hamburg,50 Niedersachsen und Schleswig-Holstein haben auf eine verfassungsrechtliche Behandlung der Kirchen und Religionsgemeinschaften verzichtet. Gerade dieser Verzicht auf eine Erwähnung von Kirchen und Religionsgemeinschaften in einigen Landesverfassungen offenbart, dass scheinbar die verfassungsrechtliche Ordnung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirchen nicht (mehr) zwingend zum Kanon eines landesverfassungsrechtlichen Normbestandes gehören muss. Dass sich jedoch gerade der sächsische Verfassungsgeber dafür entschied, den Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Sächsischen Verfassung breiten Raum zu geben und ihnen dadurch eine besondere verfassungsrechtliche Stellung einzuräumen, dürfte auch eine Würdigung der Rolle der Kirchen in der „friedlichen Revolution des Oktober 1989“ sein.51 Den an den Verfassungsdiskussionen Beteiligten der Jahre 1990 bis 1992 stand wohl noch lebhaft vor Augen, dass es vor allem die Kirchen waren, die innerhalb der diktatorischen Verhältnisse der ehemaligen DDR Raum für freies Denken und freie Meinungsäußerung boten, als Zufluchtsort für Andersdenkende fungierten, in kirchlichen Kreisen die Menschenrechtsidee wach hielten und Grundrechte einforderten sowie – zumindest was die Besetzung kirchlicher Leitungsämter in den evangelischen Kirchen52 anbelangte – auch demokratische Gepflogenheiten und Spielregeln übten. Das schuf nicht nur den Nährboden, auf dem der friedliche Umbruch in der ehemaligen DDR keimen konnte, sondern war auch für 44 Zweiter Teil. Von den Grundrechten und der Ordnung des Gemeinschaftslebens, Dritter Abschnitt. Schule, Kunst und Wissenschaft, Sport, Religion und Religionsgemeinschaften, Art. 7 bis 23 Verf NRW. 45 Erster Hauptteil: Grundrechte und Grundpflichten, IV. Abschnitt: Kirchen und Religionsgemeinschaften, Art. 41 bis 48 Verf Rheinland-Pfalz. 46 I. Hauptteil. Grundrechte und Grundpflichten, 4. Abschnitt. Kirchen und Religionsgemeinschaften, Art. 35 bis 42 SaarlVerf. 47 Erster Teil. Grundrechte, Staatsziele und Ordnung des Gemeinschaftslebens, Sechster Abschnitt. Religion und Weltanschauung, Art. 39 bis 42 ThürVerf. 48 Art. 9 Verf M-V. 49 Art. 32 Verf LSA. 50 Allerdings beschränkt sich die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg ohnehin auf einen Grundbestand staatsorganisatorischer Vorschriften und enthält auch keinen eigenen Grundrechtsteil. 51 So auch Christoph Degenhart, Grundzüge der neuen sächsischen Verfassung, LKV 1993, S. 33 (39), der von einer „Prämie“ für die Kirchen für deren Rolle in der DDR spricht. 52 Zu nennen sind etwa Wahlen der Kirchenvorstände, Kirchenbezirkssynoden und Kirchenbezirksvorstände sowie zur Landessynode innerhalb der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, aber auch die Wahlen zu ähnlichen Ämtern in der ehemaligen Evangelischen Kirche der schlesischen Oberlausitz, der ehemaligen Evangelischen Landeskirche der Kirchenprovinz Sachsen, der Evangelisch-Lutherischen Kirche Thüringens sowie der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, deren Gebiet sich auf das Gebiet des heutigen Freistaats Sachsen erstreckte.

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den Wiederaufbau eines demokratischen Gemeinwesens und für die Herausbildung einer demokratischen Kultur von existenzieller Bedeutung. Ohne das Engagement von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern aus dem kirchlichen Raum und ohne die Bereitschaft von Pfarrern, kirchlichen Mitarbeitern und Gemeindegliedern, nunmehr auch in staatlichen und politischen Ämtern Verantwortung zu übernehmen, wäre wohl auch in personeller Hinsicht der demokratische Neuanfang nicht gelungen. Insofern war dem sächsischen Verfassungsgeber nicht nur die Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften für die individuellen religiösen Bedürfnisse des Menschen bewusst, sondern auch ihre besondere und integrative Rolle im Gemeinwesen.53 Insofern lassen sich die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen auch auf die Präambel und dort die besonders hervorgehobene „friedliche Revolution des Oktober 1989“ rückbeziehen.54 4. Rechtsnatur der staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Sächsischen Verfassung Selbstverständlich ist, dass sämtlichen staatskirchenrechtlichen Bestimmungen in der Sächsischen Verfassung eine objektiv-rechtliche Geltung beikommt. Sie können, wie alle anderen Vorschriften des Landesverfassungsrechts auch, eine objektive und unmittelbare Verbindlichkeit beanspruchen. Der Landesverfassung kommt also nicht nur empfehlender Charakter zu.55 Sie dient somit nicht einer pathetisch formulierten Selbstbesinnung, sondern aus ihr erwachsen für den Staat, seine Gliederungen, die Staatsorgane sowie die am Verfassungsleben Beteiligten, insbesondere den politischen Akteuren, objektive Beachtens- und Handlungspflichten. Die Verfassung ist vom Land zu beachten und einzuhalten. Und umso klarer und deutlicher der normative Gehalt des Verfassungstextes formuliert ist, desto klarer treten die objektiven Handlungspflichten hervor. So ist anerkannt, dass etwa die im 1. Abschnitt der Sächsischen Verfassung niedergelegten Staatsziele nicht nur bloße Programmsätze sind, sondern im Sinne echter Handlungsgebote und Handlungspflichten zu interpretieren sind.56 53 Zumindest im Blick auf die Bedeutung der Kirchen in der DDR und beim politischen Umbruch 1989/90 kann man bei den Kirchen durchaus auch von einer „freiheitssichernden Funktion“ sprechen. 54 Ähnlich Suzanne Drehwald, Die Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992, in: dies./Jestaedt, Sachsen als Verfassungsstaat, 1998, S. 73 (133), die von einer Wiedergutmachungsfunktion der Finanzierungsgarantien in Art. 110 Abs. 1 und Art. 112 Abs. 2 Sächsische Verfassung spricht. 55 Das zeigt im Vergleich zu anderen Landesverfassungen der neuen Bundesländer insbesondere die Zurückhaltung der Sächsischen Verfassung sog. „soziale Grundrechte“ im Sinne von unerfüllbaren Versprechungen und Wünschbarkeiten zu formulieren – so Uwe Berlit, Verfassungsgebung in den fünf neuen Ländern – ein Zwischenbericht, KJ 1992, S. 437 (450 f.); ebenso Caroline Hinds, Die neue Verfassung des Freistaates Sachsen – Berechtigte oder unberechtigte Kritik an der Verfassungsgebung, ZRP 1993, S. 149 (151). 56 Caroline Hinds, Die neue Verfassung des Freistaates Sachsen – Berechtigte oder unberechtigte Kritik an der Verfassungsgebung, ZRP 1993, S. 149 (150).

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Aus dem Bestehen objektiver Handlungspflichten folgt aber nicht zwingend, dass diese auch zu einer subjektiven Berechtigung des Einzelnen führen müssen. Die zunächst objektiv geltenden Handlungsgebote der Sächsischen Verfassung, müssen demnach nicht zwingend dem Einzelnen eine korrespondierende eigene Rechtsposition einräumen oder durchsetzbare subjektive Ansprüche verleihen. Daher stellt sich die Frage, ob die Sächsische Verfassung in ihren staatskirchenrechtlichen Bestimmungen solche subjektiven Rechte begründet. a) Grundrechte im Staatskirchenrecht der Sächsischen Verfassung In dem mit „Die Grundrechte“ überschriebenen Grundrechtsteil57 der Verfassung findet sich mit der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit in Art. 19 Abs. 1 und 2 lediglich ein einziger dem Religionsverfassungsrecht zuzuordnender Grundrechtsartikel. Trotz vielfacher als Anspruchsnormen formulierter und subjektiv gefasster Bestimmungen in der Sächsischen Verfassung sieht der Sächsische Verfassungsgerichtshof allein in den im Klammerzusatz des Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 Sächsische Verfassung enumerativ aufgeführten Artikeln Grundrechte. Zu diesen Grundrechten, die auch außerhalb des Grundrechtsteils zu finden sind, gehören etwa auch Art. 105 Sächsische Verfassung mit den Bestimmungen zum Religionsunterricht,58 die schulrechtlichen Bestimmungen des Art. 102 Sächsische Verfassung59 oder die hochschulrechtlichen Absicherungen des Art. 107 Sächsische Verfassung.60 Aus dem mit „Kirchen und Religionsgemeinschaften“ bezeichneten 10. Abschnitt wird hingegen keine einzige Verfassungsnorm als Grundrecht benannt. Auch wenn der Normbestand überwiegend subjektiviert formuliert und seinem Sinn nach auf die Zuordnung subjektiver Rechte gerichtet ist, sind die Art. 109 bis 112 Sächsische Verfassung keine Grundrechte im engen Verständnis der sächsischen Verfassung. Eine unmittelbar und isolierte Berufung nur auf diese Normen in der Ver-

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2. Abschnitt: Die Grundrechte, Art. 14 bis 38 Sächsische Verfassung. Anspruch auf Religionsunterricht, Art. 105 Abs. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung; Wahlrecht der Eltern über Besuch am Ethik- oder Religionsunterricht, Art. 105 Abs. 1 Satz 2 Sächsische Verfassung; Inhaltliche Ausrichtung an den Grundsätzen der Kirchen und Religionsgemeinschaften, Art. 105 Abs. 2 Satz 1 Sächsische Verfassung; Erfordernis der kirchlichen Bevollmächtigung (vocatio / missio canonica) für Religionslehrer, Art. 105 Abs. 2 Satz 2 Sächsische Verfassung; Kirchliches Aufsichtsrecht über den Religionsunterricht, Art. 105 Abs. 2 Satz 3 Sächsische Verfassung; Kein Lehrzwang für Religionsunterricht, Art. 105 Abs. 3 Sächsische Verfassung. 59 Staatskirchenrechtlich relevant sind hier vor allem die Privatschulfreiheit (Art. 102 Abs. 3 Sächsische Verfassung) und ein Aufwandsersatzanspruch von Privatschule bei gewährter Lernmittelfreiheit (Art. 102 Abs. 4 Satz 2 Sächsische Verfassung). 60 Staatskirchenrechtlich relevant sind hier die Wissenschaftsfreiheit (Art. 107 Abs. 1 Sächsische Verfassung), die auch kirchlichen Hochschulen zusteht, und die Privathochschulfreiheit (Art. 107 Abs. 4 Sächsische Verfassung). 58

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fassungsbeschwerde ist, weil sie in der Aufzählung der rügefähigen Rechte des Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 Sächsische Verfassung fehlen,61 wohl nicht möglich.62 b) Grundrechtsbezogenheit der Kirchenartikel der Sächsischen Verfassung Ob die Gewährleistungsgehalte dieser Vorschriften allerdings nicht gleichwohl mit der Verfassungsbeschwerde durchgesetzt werden können, ist auch 20 Jahre nach Inkrafttreten der Sächsischen Verfassung noch nicht durch verfassungsgerichtliche Rechtsprechung abschließend geklärt: Nahe liegt eine Übertragung des vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Verständnisses zum Verhältnis des Grundrechts der Religionsfreiheit in Art. 4 Abs. 1 und 2 Grundgesetz zu dem Weimarer Kirchenartikel. Danach gelten die speziellen Gewährleistungsgehalte in den Vorschriften der Reichsverfassung bereits durch die Religionsfreiheit, insbesondere die kollektive Religionsfreiheit mitgeschützt. Die Kirchenartikel fungieren dort als Konnexgarantien63 der Glaubensfreiheit. Sie sollen so funktional gerade auf die Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt sein und Mittel zu dessen Verwirklichung sein.64 Mit anderen Worten sind sie eine Art „Wirkverstärker“ der Religionsfreiheit. Daher ist zwar in der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht nur Art. 4 Abs. 1 und 2 Grundgesetz das rügefähige Recht, in dessen Rahmen aber die Kirchenartikel zumindest von den Kirchen und Religionsgemeinschaften mitgerügt werden können. Dieses Verständnis fand der Verfassungsgeber vor,65 als die Sächsische Verfassung zwischen 1990 und 1992 entstand. Einiges spricht dafür, dass die sächsische Verfassungsgebung zumindest bei der Inkorporation der Weimarer Kirchenartikel in Art. 109 Abs. 4 Sächsische Verfassung von diesem Vorverständnis geprägt war und neue staatskirchenrechtliche Systemansätze vermeiden wollte. Dann sind über Art. 19 Abs. 1 und 2 Sächsische Verfassung zumindest die besonderen Schutzbereiche der Weimarer Reichsverfassung quasi grundrechtlich mit abgesichert.66 61 Zum abschließenden Charakter dieser Aufzählung schon SächsVerfGH, Beschluss vom 23. Januar 1998 – Vf. 27-IV-97. 62 So für Art. 109 Sächsische Verfassung SächsVerfGH, Beschluss vom 14. Mai 1998 – Vf. 46-IV-97 – Entscheidungsumdruck S. 5 (bestraf Anspruch auf Anstaltsseelsorge eines Strafgefangenen). 63 BVerfGE 125, 39 (80 ff.) – Sonntagsschutz. 64 BVerfGE 102, 370 (387) – betraf Körperschaftsstatus für die Zeugen Jehovas. 65 Auch wenn das Verhältnis zwischen Art. 140 Grundgesetz und Art. 4 Abs. 1 und 2 Grundgesetz erst in jüngerer Zeit durch bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung weiter konturiert wurde, ist dieser Ansatz aber nicht neu – vgl. BVerfG, NJW 1976, 2123. 66 Jochen Rozek, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 19 Rn. 3; so auch SächsVerfGH, Beschluss vom 29. Januar 2004 – Vf. 22-IV-03 – Entscheidungsumdruck S. 10 / 13 – betraf Streit um Russisch-Orthodoxe Kirche in Dresden.

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Das wirft die Frage auf, ob auch die über Art. 109 Abs. 4 Sächsische Verfassung i.V.m. Art. 136, 137, 138, 139 und 141 WRV hinausgehenden Gewährleistungsgehalte und Weiterungen ebenso über die Religionsfreiheit grundrechtlich mit abgesichert sind. Auch das wird man bejahen dürfen. Auch die weiteren Kirchenartikel der Sächsischen Verfassung weisen einen solchen funktionalen Bezug zur Religionsfreiheit auf. Auf der Hand liegt das für die in Art. 109 Abs. 3 Sächsische Verfassung gewährleistete diakonische und karitative Arbeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Dies hatte schon ganz früh das Bundesverfassungsgericht als typische Form der grundrechtlich geschützten Religionsausübung angesehen.67 Auf der Hand liegt das auch für das in Art. 111 Abs. 1 Sächsische Verfassung enthaltene Recht auf Einrichtung und Unterhaltung eigener Lehreinrichtungen oder für die in Art. 111 Abs. 2 Sächsische Verfassung abgesicherte Mitsprache bei Besetzungsentscheidungen theologischer Lehrstühle. Aber auch die übrigen Absicherungen eignen sich als „Wirkverstärker“ für die grundrechtlich gesicherte kollektive Religionsfreiheit. c) Sonstige subjektive Rechte im Staatskirchenrecht der Sächsischen Verfassung Im Übrigen ist es eine landläufige Fehlannahme, dass alle die Verfassungsnormen, die nicht als „Grundrecht“ oder „grundrechtsgleiches Recht“68 benannt sind, nur Staatszielbestimmungen oder Bestimmungen mit rein objektiv-rechtlicher Bedeutung sein könnten. Verfassungen können, wie jedes andere Gesetz auch, ebenso sonstige subjektiv-öffentliche Rechte begründen. Es ist nicht zwingend, jedem in einer Verfassung statuierten subjektiven Recht die besondere Würde eines Grundrechts zuzuweisen und die Verfassungsbeschwerde als außerordentliches Instrument der Rechtsdurchsetzung zu eröffnen. Gegebenenfalls sind solche unmittelbar durch die Verfassung begründeten sonstigen subjektiv-öffentlichen Rechte vor den regulären staatlichen Gerichten durchzusetzen. In diesem Sinne begründen die Art. 109 bis 112 Sächsische Verfassung durchgängig – und zwar unabhängig davon, ob sie über die Religionsfreiheit in Art. 19 Sächsische Verfassung auch als Grundrechtsgehalt mitgerügt werden könnten – subjektive Rechte der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Sie sind oftmals subjektiviert69 gefasst und lassen (mit Ausnahme der Grundlagennorm in Art. 109 Abs. 1 67

BVerfGE 24, 236 – Aktion Rumpelkammer. Diese aus dem Verfassungsrecht des Bundes bekannte Kategorie kennt die Sächsische Verfassung nicht. Die Sächsische Verfassung bezeichnet sämtliche mit der Verfassungsbeschwerde rügefähigen Rechte als Grundrechte. 69 Vgl. etwa „Anspruch auf angemessene Kostenerstattung…“ in Art. 110 Abs. 1 Sächsische Verfassung für gemeinnützige Einrichtungen, in Art. 112 Abs. 2 Satz 2 Sächsische Verfassung für Baudenkmale der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Vgl. ferner „Kirchen und Religionsgemeinschaften sind berechtigt…“ in Art. 111 Abs. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung für die Einrichtung eigener Lehreinrichtungen für Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter. Zu verweisen ist auch auf die für Freiheitsrechte typische Formulierung „…frei von staatlichen Eingriffen…“ in Art. 109 Abs. 2 Satz 2 Sächsische Verfassung. 68

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Sächsische Verfassung) immer erkennen, dass sie auf die Einräumung einer subjektiven Rechtsposition der Kirchen gerichtet sind.70 II. Einzelne Besonderheiten im Staatskirchenrecht der Sächsischen Verfassung Aufgrund der Wortlautidentität des Art. 19 Abs. 1 und 2 Sächsische Verfassung mit Art. 4 Abs. 1 und 2 Grundgesetz drängt sich auf, das landesverfassungsrechtliche Grundrecht der Religionsfreiheit inhaltlich identisch mit seinem grundgesetzlichen Vorbild zu interpretieren und auch das dort herausgebildete dogmatische Verständnis auf die Auslegung und Anwendung zu übertragen.71 Gleiches gilt für die Verfassungsinterpretation der in Art. 109 Abs. 4 Sächsische Verfassung inkorporierten Weimarer Kirchenartikel. Hier wollte der Sächsische Verfassungsgeber erkennbar an das grundgesetzliche Verständnis anknüpfen,72 Insofern kann man getrost auf die umfangreiche Rechtsprechung und ein umfangreiches Schrifttum verweisen. Unterschiede zum Grundgesetz und zu anderen Landesverfassungen lassen sich hingegen bei den Kirchenartikeln des 10. Abschnittes der Sächsischen Verfassung feststellen. Hier bestehen Besonderheiten und folglich auch ein eigenständiger Interpretationsbedarf. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch die Sächsische Verfassung einer immerwährenden und fortgesetzten Verfassungsinterpretation unterliegt. Das Verständnis ihrer Verfassungsnormen ist kein statisches und allein an Vorstellungen des historischen Verfassungsgebers verhaftetes. Die Verfassung kann zeitlich und kontextual immer neue Bedeutung gewinnen. Daher ist auch der Blick auf die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Sächsischen Verfassung 20 Jahre nach ihrer Entstehung so spannend.

70 So schon für Art. 112 Abs. 2 Satz 2 Sächsische Verfassung Helmut Goerlich/Torsten Schmidt, Kirchengut und Kulturgut – Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Probleme des Art. 112 Abs. 2 der Sächsischen Verfassung, in: Reich (Hrsg.): Festschrift zum 100-Jährigen Jubiläum des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, 2002, S. 417 (432). 71 Auch wenn die Entscheidung im Ergebnis zutrifft, gelingt die Übertragung in SächsVerfGH, Beschluss vom 14. Mai 1998 – Vf. 46-IV-97, Entscheidungsumdruck S. 4 (betraf Anspruch auf Anstaltsseelsorge eines Strafgefangenen) wohl nicht. Ein Recht auf die „Kontinuität der seelsorgerischen Arbeit“ bei Anstaltsseelsorge von vornherein aus dem Schutzbereich der Religionsfreiheit herauszunehmen, entspricht nicht dem aus Art. 4 Grundgesetz bekannten weiten Gewährleistungsumfang. 72 So auch Jochen Rozek, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 19 Rn. 2.

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1. Die Gewährleistung von Leistungen des Landes in Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung Nach Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung werden die „auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Leistungen des Landes an den Kirchen“ gewährleistet. Auffällig ist die Ähnlichkeit zu Art. 138 Abs. 1 WRV, der davon spricht, dass die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften abzulösen sind. Aufhorchen lassen allerdings einige wichtige Unterschiede: So verwendet Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung nicht den Begriff der „Staatsleistung“, sondern spricht nur von „Leistungen“. Auch geht es nicht um ein „Ablösen“, sondern um das „Gewährleisten“. Schließlich werden als Leistungsberechtigte nicht die „Religionsgesellschaften“, wie im Verfassungstext der WRV, und auch nicht die „Kirchen und Religionsgemeinschaften“ als sonst in der Sächsischen Verfassung übliches Begriffspaar genannt, sondern allein die Kirchen. a) Verhältnis zu Art. 109 Abs. 4 Sächsische Verfassung i.V.m. Art. 138 Abs. 1 WRV Ginge es nur um ein Gewährleisten von „Staatsleistungen“ im Sinne des klassischen Rechtsinstituts aus Art. 138 Abs.1 WRV, wäre Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung eigentlich eine unnötige „Doppelung“: Zwar ist Art. 138 Abs. 1 WRV primär auf eine Ablösung von Staatsleistungen gerichtet, sekundär, nämlich in der Zeit bis zur Ablösung, wirkt diese Norm aber als Bestandsgarantie. Bis zu einer Ablösung sind Staatsleistungen nämlich unverändert zu gewährleisten. Während die Bestandsgarantie für „Staatsleistungen“ in Art. 138 Abs. 1 WRV befristet ist bis zu einer etwaigen Ablösung, könnte man in Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung eine „unbefristete Bestandsgarantie“ vermuten. Dann hätte der Verfassungsgeber allerdings einen unauflöslichen Insichwiderspruch geschaffen, wenn er einerseits in Art. 109 Abs. 4 Sächsische Verfassung i.V.m. Art. 138 Abs. 1 WRVeine Pflicht zur Ablösung festschreibt, andererseits mit einer unbefristeten Bestandsgarantie in Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung gerade vor einer solchen Ablösung schützt. Vor allem stünde dann sächsisches Verfassungsrecht im Widerspruch73 zum Grundgesetz, dass über Art. 140 Grundgesetz ebenfalls die Ablösungspflicht enthält. Dass dem sächsischen Verfassungsgeber in einem im Übrigen feinsinnig komponierten Normgefüge solche Wertungswidersprüche oder Doppelungen unterlaufen

73 Problematisch vor allem deshalb, weil die „Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“ ein allgemein geltendes verfassungsrechtliches Prinzip behandelt wird – krit. dazu Hans Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 589 ff.

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sind, wird man kaum annehmen dürfen.74 Vielmehr wird man nach einem eigenen, vom Verständnis der Weimarer Kirchenartikel losgelösten Bedeutungsgehalt suchen müssen. b) „Leistungen“ statt „Staatsleistungen“ Ansatzpunkt für die Überlegung ist, dass der Verfassungsgeber bewusst den stehenden Begriff der „Staatsleistungen“ umgangen hat. Im Staatskirchenrecht unter dem Grundgesetz meint das Rechtsinstitut der Staatsleistungen einen historisch begründeten Ausgleich für Säkularisationen.75 Es handelt sich bei Staatsleistungen stets um eine staatliche Beteiligung an kirchlichen Unterhaltslasten, die aus Abhängigkeiten des Kirchenwesens vom Landesherrn oder vom Staat herrühren, welche durch „weltliche Eingriffe“, insbesondere durch Säkularisationen, entstanden sind. Wird der Begriff der Staatleistungen aufgegeben, kann auch die historische Engführung entfallen.76 Für „Leistungen des Landes“ muss man dann nicht fernliegende historische Einschnitte bemühen, um staatliche Zuflüsse an Religionsgemeinschaften zu rechtfertigen. Die moralische Rechtfertigung folgt dann nicht mehr nur aus Säkularisationen, sondern kann vielfältiger Gestalt sein. Auch neue Leistungen, insbesondere finanzielle Staatsverpflichtungen, die aus Paritäts- und Gleichbehandlungsgründen eingegangen werden, genießen dann die Bestandsgarantie. Auch Leistungen, die einer zulässigen Religionsförderung entspringen, würden so geschützt und wären vor rechtsgrundlosem Wegfall geschützt. Der Bestandsschutz erfasst bei einer solchen „Aufweitung“ des Begriffsverständnisses schließlich auch neu entstandene Konfessionen oder spätere Kirchengründungen, die von historischen Säkularisationsereignissen noch gar nicht betroffen sein konnten. 74

Erschreckend ungenau allerdings – weil zum einen die staatskirchenrechtliche Rechtslage, zum anderen aber auch die Diskussionen im Rechts- und Verfassungsausschuss unzutreffend wiedergegeben werden – die offensichtlich von Bernd Kunzmann als Berichterstatter verantwortete Ziffer 5.1 des Berichts des Verfassungs- und Rechtsausschusses zum Ausschussentwurf der Verfassung des Freistaates Sachsen (LT-Drs. 1/1800) vom 18. Mai 1992, abgedruckt bei: Stober (Hrsg.): Quellen zur Entstehungsgeschichte der Sächsischen Verfassung, 1994, S. 384 (402). 75 Vgl. statt vieler Peter Unruh, Staatsleistungen, in: Heinig/Munsonius (Hrsg.): 100 Begriffe aus dem Staatskirchenrecht, 2012, S. 256; Axel v. Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht. Eine systematische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa, 4. Aufl. 2006, S. 281; Josef Isensee, Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Listl/Pirson (Hrsg.): Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl. 1994, § 35. 76 Leider werden die grammatikalischen, systematischen und teleologischen Unterschiede zwischen Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung und Art. 138 Abs. 1 WRV in den wenigen Stellungnahmen zur Sächsischen Verfassung übersehen. Zu stark liegt noch der Schwerpunkt auf einer rein altrechtlichen Deutung – so etwa bei Bernd Kunzmann, in: Baumann-Hasske/ ders. (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 112 Rn. 1, 2; Christine Mertesdorf, Weltanschauungsgemeinschaften, Eine verfassungsrechtliche Betrachtung mit Darstellung einzelner Gemeinschaften, 2008, S. 694.

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c) Leistungsverpflichtete Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung spricht weder von Leistungen „des Freistaats“ noch verallgemeinernd von Leistungen „der öffentlichen Hand“, sondern verwendet den Begriff „Leistungen des Landes“. Da mit dem Begriff „Land“ umgangssprachlich oft das Bundesland bezeichnet wird, scheint auf den ersten Blick einleuchtend, wenn staatliche Leistungen des Freistaats Sachsen als Körperschaft gemeint sind. Dafür spräche, dass auch bei den Staatsleistungen in Art. 138 Abs. 1 WRV lange Zeit angenommen wurde, das hier nur die unmittelbaren Leistungen des jeweiligen Staates, nicht aber sonstiger Körperschaften und insbesondere nicht der Kommunen gemeint sind. Die Sächsische Verfassung verwendet allerdings den Begriff „Land“ überwiegend in einem weiteren Sinne. Das „Land“ als Verpflichteter wird in einer Vielzahl von Verfassungsnormen als Synonym für alle dem Land zuzurechnende Gewalt verwendet. Vor allem in den Staatszielen77 und in den Grundrechten78 wird das Land benannt, obwohl kontextual klar ist, dass hier nicht allein der Freistaat, sondern auch alle unmittelbaren und mittelbaren Träger der staatlichen Gewalt verpflichtet sein müssen. Schließlich werden auch sämtliche mittelbaren Träger staatlicher Gewalt, also insbesondere die Kommunen und sonstigen Träger der Selbstverwaltung, im 7. Abschnitt der Verfassung als Teil der Landesverwaltung verfassungsrechtlich eingeordnet. Sie sind insofern ebenfalls „Land“ im Sinne der Sächsischen Verfassung. Daher spricht Vieles dafür, dass auch im Kontext des Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung Leistungen der Kommunen und sonstiger öffentlicher Träger als „Leistungen des Landes“ gelten und mitgeschützt werden.79 d) Bedeutung der zugrunde liegenden Rechtstitel – Überleitungsfunktion Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung schützt Leistungen, die „auf Gesetz, Vertrag und besonderen Rechtstiteln“ beruhen. Die Verfassungsnorm hat die bereits aus Art. 138 Abs. 1 WRV bekannte antiquierte Formulierung übernommen und knüpft an dessen Verständnis und Funktion an: Zunächst werden mit „Rechtstiteln“ fortgeltende echte Anspruchsgrundlagen gemeint. Bestand der „besondere Rechtstitel“ beispielsweise in einem Vertrag und gab 77 Vgl. Art. 5 Abs. 2 und 3, 7 Abs. 1 und 2, 8, 9 Abs. 1 und 3, 10 Abs. 1 und 3, 11, 13 Sächsische Verfassung. 78 Art. 22 Abs. 1 Sächsische Verfassung. 79 So ausdrücklich und insoweit zutreffend Bernd Kunzmann, in: Baumann-Hasske/ders. (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 112 Rn. 5 (der allerdings vollkommen unreflektiert und missverständlich anmerkt, dass die vor Gründung der DDR vertraglich vereinbarten Kirchenbaulasten nicht auf die heutigen Gemeinden übergegangen seien).

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es mit Anspruchssteller sowie -gegner auch noch beide Parteien des Schuldverhältnisses, sollten die daraus erwachsenden Leistungsbeziehungen auch noch unter der neuen Verfassungsordnung fortgelten. Darüber hinaus war aber nach dem revolutionären Gesellschaftsumbruch und der vollständigen Umwälzung der Verfassungs- und Rechtsordnung 1918/1919 zumeist unklar und höchst zweifelhaft, ob etwaige sonstige altrechtliche Dotationen, Zusagen, landesherrliche Leistungen und sonstige Rechtstitel überhaupt noch fortgelten konnten und ob es hierfür für die vormaligen, aber oftmals weggefallenen Verpflichteten überhaupt Rechtsnachfolger gab. Hier hatte Art. 138 Abs. 1 WRV nun die Funktion, die Fortgeltung und Überleitung in die neue Verfassungsordnung sicherzustellen. Es sollte für diese Überleitung gerade nicht darauf ankommen, ob aus den etwaigen alten Rechtstiteln noch echte klagbare Ansprüche erwuchsen.80 Art. 138 Abs. 1 WRV verlieh diesen altrechtlichen Titeln eine neue Wirksamkeit. Genau solche revolutionären Gesellschafts- und Verfassungsumbrüche hat es zwischen 1918/19 und 1992 auch auf dem Gebiet des heutigen Freistaats Sachsen gegeben. In der Zeit der NS-Diktatur zwischen 1933 und 1945, in der Zeit der sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1949, während der kommunistischen Diktatur in der DDR zwischen 1949 und 1989, durch die friedliche Revolution 1989/90 sowie durch die deutsche Einigung 1990 hat es mehrere vergleichbare Zäsuren gegeben. Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung hat hier die Funktion, die durch die genannten Brüche infrage stehenden und problematisch gewordenen Rechtstitel nunmehr in die neue sächsische Verfassungsordnung zu übertragen. Auch hier soll es nicht darauf ankommen, ob Anspruchsgegner noch vorhanden oder weggefallen sind, ob die sonstige staatliche Rechtsordnung echte Rechtsnachfolger kennt oder ob sich der historische Kontext gewandelt hat. Sie sollen, so die Funktion des Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung, unabhängig von diesen Fragen fortgelten.81 80

Josef Isensee, Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Listl/ Pirson (Hrsg.): Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl. 1994, § 35. 81 Dieser Befund lässt sich auch historisch-genetisch ziemlich eindeutig den Verfassungsberatungen im Verfassungs- und Rechtsausschuss entnehmen, vgl. Verfassungs- und Rechtsausschuss des Sächsischen Landtags, Protokoll der 8. Klausurtagung am 17. Februar 1992, S. 23 ff., abgedruckt in: Schimpff/Rühmann (Hrsg.): Die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen. Materialien und Studien des Sächsischen Landtages, Bd. 1, 1997, S. 557 ff. Nachdem zunächst der heutige Art. 112 Sächsische Verfassung (damals Art. 113 Entwurf) ohne Diskussionen einstimmig akzeptiert worden war (Protokoll S. 32), brach dann die Diskussion um die Überleitung alter Rechtstitel bei Art. 114 Entwurf auf (Protokoll S. 33 ff.), der ursprünglich ausdrücklich und noch einmal speziell die Fortgeltung und Überleitung alter Kirchenverträge regeln sollte. Staatsminister Heitmann (Protokoll S. 35) machte dann deutlich, dass das schon in Art. 113 Abs. 1 des Entwurfs (dem heutigen Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung) stehe. Dem steht auch nicht die in der 9. Klausurtagung diskutierte Klarstellung, es handele sich nur um „geltende“ Rechtstitel entgegen. Auf die Frage des Abgeordneten Schimpff zur Problematik der Nachfolge der 1952 untergegangenen Länder erläutert Heitmann dann nämlich ausdrücklich, dass er auch die altrechtlichen Titel aus dem Staat-Kirche-Verhältnis (und bezieht sich bei-

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e) Zeitlicher Bezug des Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung erfährt nach dem hier vertretenen Verständnis, das der Norm einen eigenständigen Bedeutungsgehalt beimisst, keine zeitliche Einschränkung. So unterfallen einerseits neue und auch künftig erst noch begründete „Leistungen“ in den zeitlichen Schutzbereich der Norm. Anderseits werden die bis zum Inkrafttreten der Sächsischen Verfassung begründeten Leistungen in die neue sächsische Verfassungsordnung übergeleitet und erhalten einen neuen zeitlichen Geltungsgrund. Dadurch unterscheidet sich Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung deutlich von Art. 138 Abs. 1 WRV. Die dort geführte Diskussion, ob sich der Bestandsschutz und die Ablösungsverpflichtung nur auf die altrechtlichen, zeitlich beim Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung (am 14. August 1919) schon vorhandenen Staatsleistungen bezieht oder auch auf später hinzutretende, spielt keine Rolle. f) Zu den Berechtigten aus Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung Dass in Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung allein „die Kirchen“ als Berechtigte benannt werden, gibt wohl den meisten Anlass für ein auf „altrechtliche“ Staatsleistungen verkürzendes Verständnis dieser Verfassungsnorm: Wenn Anspruchsberechtigte historischer Staatsleistungen ja ohnehin nur die beiden Großkirchen wären, sei zu verschmerzen, wenn scheinbar paritätswidrig nicht auch sonstige Religionsgemeinschaften im Verfassungstext benannt würden. Diese Deutung übersieht allerdings, dass bereits dem Begriff der „Kirche“ kein eindeutiger und verallgemeinerungsfähiger Begriff zugrunde gelegt werden kann. Schon das Kirchenrecht der einzelnen Konfessionen folgt keinem einheitlichen Kirchenbegriff.82 Neben den Evangelischen Landeskirchen und der Katholischen Kirche bezeichnen sich noch eine Vielzahl anderer Glaubensgemeinschaften als Kirchen. Erst recht ist der Begriff „Kirche“ im Staatskirchenrecht nicht zwingend auf die beiden großen christlichen Konfessionen beschränkt. Zwar ist nicht jede beliebige Religionsgemeinschaft schon „Kirche“. „Kirchen“ im staatskirchenrechtlichen Sinne sind vielmehr Religionsgemeinschaften, die ihrer äußeren Erscheinung, ihrer Verfestigung und Ordnung nach dem Bild der klassischen christlichen Kirchen ähneln. Die Kritik oder das Befremden an dieser „Privilegierung“ der Kirchen im Verfassungstext des Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung beruht wohl zumeist auf einem

spielhaft auf alte Reichsgerichtsurteile) meint – vgl. Verfassungs- und Rechtsausschuss des Sächsischen Landtags, Protokoll der 9. Klausurtagung am 4./5. April 1992, S. 62 f., abgedruckt in: Schimpff/Rühmann (Hrsg.): Die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen. Materialien und Studien des Sächsischen Landtages, Bd. 1, 1997, S. 636 ff. 82 Vgl. nur Heinrich de Wall/Stefan Muckel, Kirchenrecht, 3. Aufl. 2012, § 24 Rn. 8.

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egalisierenden Gerechtigkeitsempfinden.83 Dass der souveräne Verfassungsgeber jedoch auch differenzieren sowie privilegieren darf, er bestimmte Bevölkerungsgruppen besonders fördern kann und er in der Gestaltung der Verfassungsordnung Spielräume besitzt, die sich nicht an scheinbar modernen Gerechtigkeitsentwürfen und wandelbaren Gleichheitsmodellen orientieren müssen, wird dabei übersehen.84 So ist der Verfassungsgeber frei, einzelne finanzielle Leistungen besonders verfassungsrechtlich abzusichern, andere Leistungen auf den einfachgesetzlichen Schutz zu beschränken. Dass Leistungen an die Kirchen also durch Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung besonders geschützt sind, sagt im Übrigen nichts über den Schutz der Leistungen an sonstige Religionsgemeinschaften.85 Leistungen an sonstige Religionsgemeinschaften genießen somit zwar nicht den besonderen Schutz dieser Verfassungsnorm, werden aber durch sie auch nicht in irgendeiner Weise berührt oder angetastet. g) Aktuelle Anwendungsfälle Das Ringen um das Verfassungsverständnis des Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung ist nicht nur rein akademischer Art, sondern dieser Vorschrift kommt hohe praktische Bedeutung zu. Aus der Rechtsentwicklung der letzten 20 Jahre lässt sich das an einigen praktischen Anwendungsfällen aufzeigen. Zu nennen ist hier an erster Stelle der Problemkreis kommunaler Kirchenbaulasten. Eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts86 zu den kommunalen Baulasten in Thüringen hat Kirchen und Fachwelt aufgeschreckt.87 Sie hat – was eigent-

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Allerdings ist die verfassungshistorische Entwicklung von einem Staatskirchenrecht mit gestufter Parität zu einem egalisierenden Religionsverfassungsrecht nicht zu übersehen und europarechtlichen wohl geboten – hierzu Helmut Goerlich, Säkularität – Religiosität – Egalität – in einer nicht nur auf die Grenzen verfasster Rechtefixierten Perspektive, Denkströme 2011, Heft 7, S. 33 (42). 84 Umschreiben kann man solche Förderungen im modernen säkularen Staat am ehesten mit dem Begriff „zugewandte Säkularität“ – so Helmut Goerlich, Die zugewandte Säkularität der Europäischen Union und die religionsrechtliche Vielfalt ihrer Mitgliedsstaaten, in: Jaeckel/Kotzur/Zimmermann (Hrsg.): Ausgewählte Schriften, 2013 (in Vorbereitung); ders., Der säkulare Verfassungsstaat, in: Bannenberg/Gropp/Hecker/Heine/Kreuzer/Rotsch/Wolfslast (Hrsg.): Tagungsband in der Reihe Gießener Schriften zum Strafrecht und zur Kriminologie, 2013 (in Vorbereitung). 85 So auch Christoph Degenhart, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Sächsischen Verfassung, in: ders./Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 9 Rn. 18. 86 BVerwGE 132, 358. 87 Vgl. Christian Traulsen, Neueste Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu kommunalen Kirchenbaulastverträgen, NVwZ 2009, S. 1019; Michael Droege, Die Gewährleistung des Kirchenguts und die Diskontinuität der staatlichen Rechtsordnung, ZevKR 55 (2010), S. 339.

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lich aufgrund einer ziemlich gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung88 nichts Neues war – noch einmal herausgestellt, dass die früheren Städte und Gemeinden in der ehemaligen DDR 1952 vollständig aufgehoben wurden und die heutigen Städte und Gemeinden in den neuen Bundesländern erst aufgrund der Kommunalverfassung der DDR aus dem Jahr 1990 echte Neugründungen sind. Da es im Einigungsvertrag, in der Kommunalverfassung der DDR und auch in sonstigen Rechtsvorschriften keine diesbezüglichen Regelungen zur echten Rechtsnachfolge gibt, gehen Ansprüche aus vertraglichen Regelungen über die Kirchenbaulast ins Leere. Solche Ansprüche aus diesen Rechtstiteln waren im konkret entschiedenen Fall nicht mehr gerichtlich durchsetzbar. Der Fall ist jedoch nicht für alle neuen Bundesländer übertragbar. Zumindest in Sachsen hätte er anders entschieden werden müssen. Hier kommt in solchen Fällen – und in der Thüringer Verfassung fehlt eine solche Vorschrift – Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung zum Tragen, der eben nicht nur Staatsleistungen im engeren Sinne meint, sondern auch dauerhafte kommunale Verpflichtungen, wie etwa kommunale Unterhaltungslasten. Seinem Sinn und Zweck entsprechend, überträgt und leitet er diese Rechtstitel gerade auch dann in die neue Rechtsordnung über, wenn sie am Maßstab des einfachen Rechts (und bedingt durch die Verfassungsumbrüche zu DDR-Zeiten und in Folge der deutschen Einigung) nicht mehr gerichtlich durchsetzbar gewesen wären. Daher ist es auch folgerichtig und stellt keine widersprüchliche, rechtsirrige oder obsolete Regelung dar, wenn der Evangelische Kirchenvertrag Sachsens in Art. 12 Abs. 1 Satz 3 EvKirV ausdrücklich vorsieht, dass eine Ablösung bestehender Baulastverpflichtungen durch Vereinbarung angestrebt wird. Der Evangelische Kirchenvertrag kann deshalb Baulastverpflichtungen als „bestehend“ behandeln, weil diese eben schon durch Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung als fortbestehend gelten. Er kann aber auch eine Ablösung vorsehen, die nicht erst von einer Grundsätzegesetzgebung des Bundes nach Art. 138 Abs. 1 Satz 2 WRVabhängt, weil es sich hier eben nicht um „Staatsleistungen“ im engeren Sinne, sondern um die in den erweiterten Anwendungsbereich des Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung fallenden „Leistungen des Landes“ handelt. Eine ähnliche Problematik betrifft die, vor allem zu DDR-Zeiten und aufgrund von Verträgen mit den ehemaligen Räten der Städte begründeten, Leichenhallen auf kommunalen Friedhöfen. Sachenrechtlich waren diese Leichenhallen auf den kirchlichen Friedhofsgrundstücken auch zu DDR-Zeiten aufgrund der festen Verbindung mit dem Boden kirchliches Eigentum geworden, denn einen Ausnahmetatbestand, der an diesen Gebäuden selbständiges Gebäudeeigentum oder selbstständiges Eigentum an Baulichkeiten begründete, gab es nicht. Die regelmäßigen Zuschüsse 88 So schon zu sog. Kreispachtverträgen BGHZ 127, 285; zu sonstigen Verbindlichkeiten BGH, VIZ 2004, 492 (keine Vermögensrückübertragung zugunsten der Ehrlich’schen Schulund Armenstiftung Dresden); BGHZ 164, 361 (keine Haftung der Stadt Dresden für vormalige Goldanleihen).

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zur Unterhaltung dieser Leichenhallen und die zugrundeliegenden Verträge sind ebenfalls Rechtstitel, die durch Art. 112 Abs. 1 Sächsische Verfassung gewährleistet werden. 2. Die Ansprüche auf angemessene Kostenerstattung in Art. 110 Abs. 1 und 112 Abs. 2 Sächsische Verfassung Die Sächsische Verfassung schafft aber neben dem bloßen Schutz bestehender oder zu begründender Leistungen auch neue Finanzierungsgarantien für die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Diese finden sich unter anderem für die im öffentlichen Interesse liegenden gemeinnützigen Einrichtungen oder Anstalten in Art. 110 Abs. 1 Sächsische Verfassung und für Baudenkmale der Kirchen und Religionsgemeinschaften Art. 112 Abs. 2 Sächsische Verfassung.89 a) Finanzierung öffentlicher Aufgaben statt Religionsförderung Auch wenn eine Religionsförderung, die die Trennung zwischen Staat und Kirchen nicht aufhebt, grundsätzlich zulässig wäre, handelt es sich bei den Finanzierungsgarantien gerade nicht um Religionsförderung,90 sondern eigentlich um die klassische Finanzierung öffentlicher (staatlicher) Aufgaben.91 In Art. 110 Abs. 1 Sächsische Verfassung macht dies zunächst der Normtext deutlich, indem er als Begünstigte nur die „im öffentlichen Interesse liegenden gemeinnützigen Einrichtungen und Anstalten“ meint. Also das, was im öffentlichen Interesse gleichsam an Stelle des Staates erledigt wird, soll staatlich finanziert werden. Noch deutlicher wird das Wesen dieser Finanzierungsgarantie durch die Erstreckungs- und Gleichstellungsklausel in Art. 110 Abs. 2 Sächsische Verfassung, die den gleichen Anspruch auch sonstigen nicht religiösen freien Trägern zuerkennt. In Art. 112 Abs. 2 Sächsische Verfassung liefert Satz 1 den Rechtfertigungsgrund für die staatliche Finanzierung, indem er die von der Finanzierungsgarantie erfassten Baudenkmale der Kirchen und Religionsgesellschaften als Kulturgut der Allgemeinheit bezeichnet. Es geht in Art. 112 Abs. 2 Sächsische Verfassung der Sache nach 89 Ausführlich zu dieser Finanzierungsgarantie Helmut Goerlich/Torsten Schmidt, Kirchengut und Kulturgut – Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Probleme des Art. 112 Abs. 2 der Sächsischen Verfassung, in: Reich (Hrsg.): Festschrift zum 100-Jährigen Jubiläum des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, 2002, S. 417 (417 ff.). 90 Das schließt allerdings eine Art „Wiedergutmachungsfunktion“ im Hinblick auf die mangelnde Unterstützung in der DDR, wie sie etwa Suzanne Drehwald, Die Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992, in: dies./Jestaedt, Sachsen als Verfassungsstaat, 1998, S. 73 (133), konstatiert, nicht aus. 91 So in den Verfassungsberatungen Staatsminister Heitmann: „Aufgaben anstelle des Staates“, Verfassungs- und Rechtsausschuss des Sächsischen Landtags, Protokoll der 8. Klausurtagung am 17. Februar 1992, S. 25, abgedruckt in Schimpff/Rühmann (Hrsg.): Die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen. Materialien und Studien des Sächsischen Landtages, Bd. 1, 1997, S. 559.

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also um die staatliche Finanzierung von Kulturgut der Allgemeinheit in Form von staatlich finanziertem baulichen Denkmalschutz.92 Schließlich macht die Finanzierung öffentlicher Aufgaben die Art des Anspruches deutlich. Es geht nicht um irgendwelche staatlichen Leistungen, sondern um Kostenerstattungsansprüche. Die Kostenerstattung ist aber gerade ein übliches Instrument, wenn es um Kosten öffentlicher Aufgaben geht, die der Staat erstattet. Dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften im Hinblick auf diese Einrichtungen, Anstalten und Baudenkmale auch eigene Erhaltungs- und Unterhaltungsinteressen haben, die durch die staatliche Finanzierung mittelbar mitbefriedigt werden, steht dem Wesen der Finanzierungsgarantien nicht entgegen. b) Wesen der Finanzierungsgarantie Dass die Finanzierungsgarantien in den Artikeln 110 und 112 Abs. 2 Sächsische Verfassung keine Grundrechte sind, weil sie insbesondere in der Aufzählung der Grundrechte in Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 Sächsische Verfassung nicht enthalten sind,93 steht einem subjektivem Gehalt der Vorschrift nicht entgegen. Sinn und Zweck, vor allem aber der klare subjektivierte Wortlaut stellen die Begründung eines subjektiven Rechts deutlich heraus. Dass der Anspruch nach „Maßgabe der Gesetze“ gewährt wird, steht der Annahme eines subjektiven Rechts jedenfalls nicht entgegen. Nahezu sämtliche subjektivöffentlichen Rechte, insbesondere auch Grundrechte, unterliegen Schrankenvorbehalten und erfahren ihre konkrete Ausgestaltung erst dadurch, dass ein Gesetz Näheres bestimmt. Die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers ist zugleich ein Ausgestaltungsauftrag im Sinne eines echten Gesetzgebungsauftrags.94 Der Gesetzgeber muss gesetzliche Finanzierungsregelungen für die Kostenerstattung schaffen. Da der Verfassungsnormtext ausdrücklich von „Gesetz“ spricht und damit ein materiell- und formell-rechtliches Gesetz meint, genügt eine bloße Regelung in Verwaltungsvorschriften, insbesondere Fördermittelrichtlinien, keinesfalls. Es bedarf eines echten Finanzierungsgesetzes des Sächsischen Landtages, das Art, Verfahren, angemessene Mittelverteilung usw. regelt. Ein bloßer Haushaltsansatz in einem Haushaltsgesetz erfüllt diese Voraussetzungen ebenfalls nicht.

92 Art. 112 Abs. 2 Sächsische Verfassung ist Ausfluss der Kulturverpflichtung aus Art. 1 Satz 2 Sächsische Verfassung – so Hans von Mangoldt, Die Verfassung des Freistaates Sachsen – Entstehung und Gestalt, SächsVBl. 1993, S. 25 (30). 93 SächsVerfGH, Beschluss vom 23. Januar 1998 – Vf. 27-IV-97 – Entscheidungsumdruck S. 7 ff. – zu Art. 110 Abs. 2 Sächsische Verfassung. 94 So schon Christoph Degenhart, Grundzüge der neuen sächsischen Verfassung, LKV 1993, S. 33 (38).

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Als subjektives Recht kommen die Finanzierungsgarantien vor allem beim Zugang zu den betreffenden staatlichen Mitteln, bei der Reihenfolge der Mittelverteilung und im gerichtlichen Verfahren zum Tragen. Art. 110 Abs. 1 Sächsische Verfassung und Art. 112 Abs. 2 Satz 2 Sächsische Verfassung sind eigene Rechte im Sinne von § 42 Abs. 2 bzw. 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Hat der Gesetzgeber durch ein betreffendes Finanzierungsgesetz die Kostenerstattung näher ausgestaltet, können sich die Berechtigten nicht nur auf die so geschaffene Norm des einfachen Rechts berufen, sondern unmittelbar auf einen verfassungsrechtlichen Anspruch. Hat der Gesetzgeber aber – was in der Rechtswirklichkeit auch 20 Jahre nach Entstehen der Sächsischen Verfassung immer noch zu beklagen ist95 – keine gesetzliche Ausgestaltung vorgenommen, ergeben sich unmittelbar kraft Gesetzes Finanzierungsansprüche.96 Insbesondere bei der Verteilung von Haushaltsmitteln kann den aus Art. 110 und 112 Abs. 2 Sächsische Verfassung Begünstigten nicht wie sonst im Subventionsrecht entgegengehalten werden, auf öffentliche Haushaltsmittel, insbesondere öffentliche Fördermittel, bestehe kein Anspruch.97 Auch ist nicht der Gleichheitsgrundsatz alleiniger Maßstab für die Mittelverteilung und Mittelverwendung. Die Finanzierungsgarantien rechtfertigen und erfordern ggf. eine vorrangige Berücksichtigung. c) Zur Höhe der Kostenerstattung Die Finanzierungsgarantien der Art. 110 und 112 Abs. 2 Sächsische Verfassung sind auf eine „angemessene Kostenerstattung“ gerichtet. Während die Bezeichnung „Kostenerstattung“ zunächst eine vollständige Übernahme der Kosten impliziert, führt das Adjektiv „angemessen“ zu einer Einschränkung. Die Erstattung muss also nicht vollständig, jedoch angemessen sein.98 95 Anmahnend schon Helmut Goerlich/Torsten Schmidt, Kirchengut und Kulturgut – Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Probleme des Art. 112 Abs. 2 der Sächsischen Verfassung, in: Reich (Hrsg.): Festschrift zum 100-Jährigen Jubiläum des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, 2002, S. 417 (433). 96 Das verneint aber Christoph Degenhart, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Sächsischen Verfassung, in: ders./Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 9 Rn. 19 f., der das allerdings mit einer Parallele zur Garantie „funktionsgerechter Finanzierung“ für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten zu begründen sucht. Übersehen wird dabei, dass die Rundfunkfreiheit den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten aber gerade einen subjektiven Finanzierungsanspruch vermittelt. 97 Damit ist aber noch keine Aushöhlung des Budget-Rechts verbunden, was etwa Kyrill Mankoski, Kirchliche Krankenhäuser und staatliche Finanzierung, 2010, S. 321, als Grund für den Vorbehalt „nach Maßgabe der Gesetze“ sieht. 98 Helmut Goerlich/Torsten Schmidt, Kirchengut und Kulturgut – Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Probleme des Art. 112 Abs. 2 der Sächsischen Verfassung, in: Reich (Hrsg.): Festschrift zum 100-Jährigen Jubiläum des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, 2002, S. 417 (431); Christoph Degenhart, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Sächsischen Verfassung, in: ders./Meissner (Hrsg.): Handbuch der Verfassung des Freistaates

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Kriterien für diese Angemessenheit99 lassen sich ebenfalls aus der Verfassungsnorm ableiten: Ausgangspunkt ist der Grundsatz, dass dann, wenn Private Aufgaben des Staates wahrnehmen sollen, sich der Staat deren Dienste entgeltlich zu beschaffen hat. Das folgt daraus, dass die Verfassung nur in Ausnahmefällen Befugnisse kennt, Dritte unentgeltlich für die staatliche Aufgabenwahrnehmung heranzuziehen.100 Angemessen ist deshalb bei einer Aufgabenwahrnehmung durch Private im Regelfall allein die vollständige Kostenerstattung. So ist bei baulichen Unterhaltungsaufwendungen der Kirchen und Religionsgemeinschaften (Art. 112 Abs. 2 Sächsische Verfassung) und auch bei gemeinnützigen Einrichtungen der Kirchen, Religionsgemeinschaften (Art. 110 Abs. 1 Sächsische Verfassung) sowie der sonstigen freien Träger (Art. 110 Abs. 2 Sächsische Verfassung) im Zweifel die vollständige Kostenerstattung geboten. Nur dann, wenn mit der Aufgabenwahrnehmung gleichzeitig auch vom privaten Dritten Eigeninteressen verfolgt werden, kann dieses Eigeninteresse wirtschaftlich bewertet und zu einer entsprechenden Minderung der vollständigen Kostenerstattung in Form eines „Eigenanteils“ berechtigen. Das ist allerdings einer generalisierenden und pauschalen Behandlung nicht zugänglich, sondern erfordert stets die Berücksichtigung des Einzelfalls. Allerdings begründet das bloße Vorhaltenkönnen von Einrichtungen, das Interesse am Fortbestand der Einrichtung, die Möglichkeit zur Beschäftigung von Mitarbeitern oder das menschliche Bedürfnis, tätige Nächstenliebe leisten zu können, noch kein solches zu einem Eigenanteil führendes Eigeninteresse. Auch der Umstand, dass die gemeinnützige Einrichtung genauso wie Dritten auch eigenen Mitgliedern offensteht, rechtfertigt einen Eigenanteil noch nicht. Zwei Beispiele mögen das verdeutlichen: So kann die eigene kirchliche Nutzung für Gottesdienste und kirchliche Veranstaltungen einen Eigenanteil bei den baulichen Unterhaltungskosten des kirchlichen Baudenkmals rechtfertigen. Geht jedoch die kirchliche Nutzung – aus welchen Grün-

Sachsen, 1997, § 9 Rn. 19, der bei der Angemessenheit auf die Höhe der dem Land ersparten Aufwendungen abstellen will. 99 Der Sächsische Verfassungsgerichtshof hatte bislang noch keine Gelegenheit, hierzu Stellung zu nehmen. Im Verfahren SächsVerfGH, Beschluss vom 23. Januar 1998 – Vf. 27-IV97, hatten sich bedauerlicher Weise nur nichtkonfessionelle Träger zusammengefunden, um eine als unzureichend empfundene Kostenerstattungsregelung im SächsKitaG zum Gegenstand einer (unzulässigen) Verfassungsbeschwerde zu machen. Kirchliche Träger hätten also Beschwerdeführer den Art. 110 Abs. 1 Sächsische Verfassung über die Religionsfreiheit „mitrügen“ können. 100 Vgl. etwa die herkömmliche allgemeine, für alle gleiche öffentliche Dienstleistungspflicht in Art. 28 Abs. 3 Sächsische Verfassung oder Beschränkungen im Rahmen der Sozialbindung des Eigentums aus Art. 31 Abs. 2 Sächsische Verfassung.

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den auch immer – zurück und wird das Baudenkmal nur noch um seiner selbst willen unterhalten, findet auch ein Eigenanteil keine Rechtfertigung.101 Die Konfessionalität eines kirchlichen Kindergartens allein rechtfertigt noch keinen Eigenanteil. Auch wenn die Kindertagesstätte von kirchenzugehörigen Kindern besucht wird, rechtfertigt dies keinen Eigenanteil, denn der Besuch erfolgt nicht wegen der Kirchenzugehörigkeit, sondern – wie beim Besuch nicht konfessionell gebundener Kinder auch – wegen eines bestehenden Betreuungs- und Bildungsbedarfes der Kinder. Ein echtes Eigeninteresse, das auch einen Eigenanteil rechtfertigen würde, entsteht für den kirchlichen Träger erst dann, wenn über die Betreuungsund Bildungsaufgabe hinaus, das eigene kirchliche Gemeindeleben befruchtet wird oder die Räume auch für andere kirchliche Zwecke mitverwendet werden. Denkbar ist das zumeist nur bei kirchlichen Trägern der verfassten Kirche, wenn organisatorisch eine enge Beziehung zwischen reinkirchlichen Aufgaben und dem Betrieb der gemeinnützigen Einrichtung besteht. Bei verselbständigten diakonischen und karitativen Trägern, ohne unmittelbare Anbindung zur verfassten Kirche, lässt sich ein solches Eigeninteresse jedoch wie auch bei anderen freien Trägern nicht ausmachen. d) Subsidiarität gegenüber sonstigen staatlichen Finanzierungsvorschriften Als die Finanzierungsgarantien in Art. 110 und 112 Abs. 2 Sächsische Verfassung geschaffen wurden, war auch dem Verfassungsgeber bewusst, dass es bereits ausdifferenzierte Finanzierungssysteme für einen Großteil der gemeinnützigen Einrichtungen sowie für den baulichen Denkmalschutz gab.102 Vor allem im bundesrechtlich ausgestalteten Sozialrecht finden sich Finanzierungsvorschriften für gemeinnützige Einrichtungen. Es ist nicht die Funktion der Finanzgarantien der Sächsischen Verfassung, die bundesrechtliche Kompetenzordnung zu durchbrechen oder sozialrechtliche Finanzierungssysteme zu überprägen. Zur Wirkung kommen die Finanzgarantien aber, soweit der sächsische Gesetzgeber selbst die Finanzierung ausgestalten kann. Subsidiär finden Art. 110 und 112 Abs. 2 Sächsische Verfassung aber dann Anwendung, wenn die sonstigen Finanzierungsvorschriften des Bundes- oder Landesrechts noch keine ausreichende Kostenerstattung begründen.

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So schon Helmut Goerlich/Torsten Schmidt, Kirchengut und Kulturgut – Verfassungsund verwaltungsrechtliche Probleme des Art. 112 Abs. 2 der Sächsischen Verfassung, in: Reich (Hrsg.): Festschrift zum 100-Jährigen Jubiläum des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, 2002, S. 417 (431). 102 Vgl. die Diskussionen im Verfassungs- und Rechtsausschuss des Sächsischen Landtags, Protokoll der 8. Klausurtagung am 17. Februar 1992, S. 25, abgedruckt bei: Schimpff/Rühmann (Hrsg.): Die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen. Materialien und Studien des Sächsischen Landtages, Bd. 1, 1997, S. 559 – es werden immer wieder die Friedhöfe erwähnt.

Das Staatskirchenrecht der Sächsischen Verfassung

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III. Ausblick Allein die aufgezeigten praktischen Beispiele sowie einige der angerissenen Fragestellungen zeigen, dass ein Blick in die staatskirchenrechtlichen Vorschriften der Sächsischen Verfassung immer wieder lohnend ist. Oftmals erschließt sich der wahre Bedeutungsgehalt einer Verfassungsvorschrift erst an aktuellen und praktischen Problemstellungen. Dabei offenbart dieser Rückblick auf 20 Jahre sächsischer Verfassungs- und Rechtsentwicklung aber auch, dass ein Teil der staatskirchenrechtlichen Verfassungsvorschriften scheinbar nicht im Fokus der sächsischen Gesetzgebung gestanden haben. Gerade die in Art. 110 Sächsische Verfassung und Art. 112 Abs. 2 Sächsische Verfassung enthaltenen Gesetzgebungsaufträge sind bislang nur unzureichend umgesetzt.103

103 Dies war schon vor 10 Jahren angemahnt worden – vgl. Helmut Goerlich/Torsten Schmidt, Kirchengut und Kulturgut – Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Probleme des Art. 112 Abs. 2 der Sächsischen Verfassung, in: Reich (Hrsg.): Festschrift zum 100-Jährigen Jubiläum des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, 2002, S. 417 (433).

Teil C Vom Wirken der Verfassung

Die Sächsische Verfassung vom 27. Mai 1992 im Spiegel der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen1 Von Birgit Munz I. Einführung Die heute vor 20 Jahren in Kraft getretene Sächsische Verfassung bestimmt in Art. 77 Abs. 1: „Die Rechtsprechung wird im Namen des Volkes durch den Verfassungsgerichtshof und die Gerichte ausgeübt, die gemäß den Gesetzen des Bundes und des Freistaates errichtet sind.“ Damit wird geradezu beiläufig festgestellt, dass über diese neue Verfassung ein eigenes Landesverfassungsgericht wachen soll. Dies ist keineswegs selbstverständlich, unterstreicht in dieser Prägnanz und Kürze aber das hinter dieser Verfassung stehende Selbstverständnis: Es handelt sich um eine Vollverfassung, die die Staatlichkeit des wiedererrichteten Freistaates Sachsen als Land der Bundesrepublik Deutschland umfassend regelt.2 In dieses System fügt es sich nahtlos ein, dass die Auslegung der Verfassung und die Entscheidung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten in die Hände eines eigenen sächsischen Verfassungsgerichts gelegt werden. Die Errichtung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs und seine Ausstattung mit dem umfangreichen Zuständigkeitskatalog des Art. 81 Sächsische Verfassung entsprachen auch ganz offensichtlich einem Bedürfnis der verfassungsrechtlichen Akteure im Freistaat, denn noch vor der Wahl der ersten Verfassungsrichter hatte das Gericht bereits den Eingang seiner ersten Verfahren zu verzeichnen. In den inzwischen 19 Jahren seines Bestehens ist der Sächsische Verfassungsgerichtshof mittlerweile in ca. 2.000 Verfahren angerufen worden. Angesichts dieser Zahl liegt es auf der Hand, dass die Frage, wie sich die Verfassung von 1992 im Alltag bewährt hat, nicht ohne Blick auf seine Rechtsprechung beantwortet werden kann. Die genannte Zahl macht aber auch deutlich, dass eine Darstellung dieser Rechtspre1

Dieser Beitrag ist die um Fußnoten ergänzte Fassung eines Vortrages, den die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen, Birgit Munz, am 6. Juni 2012 anlässlich des von der TU Dresden veranstalteten Symposiums „20 Jahre Sächsische Verfassung“ gehalten hat. Die nachfolgend aufgeführten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs sind unter den in der Fußnote ggf. angegebenen Fundstellen und in jedem Fall auch über die Internetseite des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen abrufbar. 2 Die Sächsische Verfassung enthält detaillierte staatsorganisatorische Bestimmungen, einen eigenen Grundrechtskatalog und formuliert ausdrücklich eine Vielzahl von Staatszielen, die diesem Staatswesen eine durchaus individuelle Prägung geben.

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chung jedenfalls im Rahmen des heutigen Symposiums keinesfalls erschöpfend sein kann. Ich werde mich daher bei meinen Ausführungen exemplarisch auf einige Verfahrensarten und Themenbereiche beschränken, die seine Rechtsprechung maßgeblich bestimmt haben. Aus dem Bereich des Staatsorganisationsrechts betrifft dies - das Organstreitverfahren - die abstrakte Normenkontrolle - sowie die Normenkontrolle auf kommunalen Antrag. Darüber hinaus soll hier die Verfahrensart behandelt werden, die den Verfassungsgerichtshof zahlenmäßig mit Abstand am häufigsten beschäftigt – die Individualverfassungsbeschwerde. Schließlich will ich mich Verfahrensarten zuwenden, bei denen es gerade um „Spezialitäten“ der Sächsischen Verfassung geht. II. Staatsorganisationsrecht 1. Organstreitverfahren Die Organstreitverfahren machen in geradezu exemplarischer Weise deutlich, wie die staatstheoretischen Begriffe von Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung praktisch funktionieren. Dem Verfassungsgerichtshof kommt dabei in besonderem Maße die Rolle des Schiedsrichters zu, der die „Spielregeln“ der Verfassung auf den jeweiligen Konfliktfall anwendet und so zu einer Feinregulierung des in der Verfassung angelegten Kräftespiels beiträgt.3 a) Statusrechte der Abgeordneten Einen thematischen Schwerpunkt der an den Verfassungsgerichtshof herangetragenen Organstreitverfahren bilden die Statusrechte der Abgeordneten und – durch diese vermittelt – der Fraktionen. Zu nennen sind hier insbesondere das Recht auf Chancengleichheit, das Rederecht sowie das Informationsrecht. Der Status des Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes aus Art. 39 Abs. 3 Satz 1 Sächsische Verfassung – und nicht das Gleichheitsgebot (Art. 18 Abs. 1 Sächsische Verfassung) oder das Recht auf Opposition (Art. 40 Sächsische Verfassung) – begründet nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs das Recht auf formale Chancengleichheit.4 Die Ausübung der Rechte des Abgeordneten darf nicht von 3

Jürgen Rühmann, Die Spinne im Netz – Der Sächsische Verfassungsgerichtshof und das Kräftefeld der Staatsgewalten (Teil 1), SächsVBl. 2012, S. 131 (131). 4 SächsVerfGH, Beschluss vom 17. Februar 1995 – Vf. 4-I-93, JbSächsOVG 3, 71 (76); Urteil vom 26. Januar 1996 – Vf. 15-I-95, JbSächsOVG 4, 39 (41 ff.); Beschluss vom 18. April 2002 – Vf. 16-I-02, SächsVBl. 2002, 185 (186); Urteil vom 29. Januar 2004 – Vf. 52-I-02; Beschluss vom 24. Februar 2005 – Vf. 121-I-04, JbSächsOVG 13, 9 (11 f.); Beschluss vom

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seiner Zugehörigkeit zur parlamentarischen Mehrheit oder Minderheit abhängen. Die Chancengleichheit gilt für das gesamte Aufgabenspektrum des Parlaments, so etwa bei der Gesetzgebung, beim Budgetrecht und bei der Ausübung seiner Kreations-, Informations- und Kontrollfunktion.5 Anwendung findet dieser Grundsatz z. B. bei der Befugnis, auch als Oppositionsfraktion eine aktuelle Stunde zu beantragen,6 bei der Wahl der Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission7 oder bei der (wiederholten) Kandidatur um einen Ausschussvorsitz.8 In gleich drei Organstreitverfahren gegen vom Parlamentspräsidenten verhängte Ordnungsrufe hat der Sächsische Verfassungsgerichtshof erstmals 2010 zum Rederecht des Abgeordneten grundsätzlich Stellung genommen und dabei auf die Bedeutung des Rederechts für Demokratie und Funktionsfähigkeit des Parlaments hingewiesen. Danach dient das Ordnungsrecht des Parlamentspräsidenten der Sicherstellung der parlamentarischen Arbeit, ist aber kein Instrumentarium zur Ausschließung bestimmter inhaltlicher Positionen aus der parlamentarischen Debatte.9 2. November 2006 – Vf. 72-I-06, JbSächsOVG 14, 44 (48); Urteil vom 5. November 2010 – JbSächsOVG 18, 79 (85), ständige Rechtsprechung; Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 39 Rn. 11. 5 SächsVerfGH, Urteil vom 26. Januar 1996 – Vf. 15-I-95, JbSächsOVG 4, 39 (41 ff.). 6 SächsVerfGH, Beschluss vom 17. Februar 1995 – Vf. 4-I-93, JbSächsOVG 3, 71 (76). 7 SächsVerfGH, Urteil vom 26. Januar 1996 – Vf. 15-I-95, JbSächsOVG 4, 39, (45 ff.): Das Recht auf Chancengleichheit aus Art. 39 Abs. 3 Sächsische Verfassung sei dadurch verletzt worden, dass der Sächsische Landtag bei der Wahl der Mitglieder der PKK alle von der Antragstellerin vorgeschlagenen Abgeordneten abgelehnt hatte. Aus dem Grundsatz der formalen Chancengleichheit der Fraktionen ergebe sich, dass eine Ablehnung nur aus Gründen mangelnder Eignung oder fehlender Vertrauenswürdigkeit erfolgen dürfe. 8 SächsVerfGH, Urteil vom 29. Januar 2004 – Vf. 52-I-02, Umdruck S. 8 f. 9 SächsVerfGH, Urteile vom 3. Dezember 2010 – Vf. 12-I-10, Vf. 16-I-10, Vf. 17-I-10: „Das Parlament ist der Ort von Rede und Gegenrede, der Darstellung unterschiedlicher Perspektiven und Interessen. Darin gründet seine Repräsentationsfunktion, die eine – wenn nicht die – Grundfunktion des Parlaments … seiner Untergliederungen und Mitglieder ist. … Das Ordnungsrecht des Präsidenten ist im Lichte dieser mit der Repräsentationsfunktion zusammenhängenden Bedeutung des Rederechts kein Instrumentarium zur Ausschließung bestimmter inhaltlicher Positionen aus der parlamentarischen Debatte. Dies müsste die Legitimation des Parlaments in Frage stellen. Vielmehr ist das Parlament seinerseits das Forum des Austragens inhaltlicher Meinungsverschiedenheiten. Insoweit dient das Ordnungsrecht des Präsidenten in der Debatte auch nicht der Sicherstellung der „Richtigkeit“ oder historischen Korrektheit bestimmter inhaltlicher Positionen oder der Sicherung eines gesellschaftlichen Konsenses. Das Parlament ist insoweit auch ein Ort der Austragung von Meinungsverschiedenheiten, der Darstellung von Positionen von Minderheiten, der Formulierung anderer, von der Mehrheit nicht getragener Sichtweisen. Diese sind so lange hinzunehmen, wie ihre Darstellung nicht in einer Weise geschieht, die die Arbeit des Landtags in Frage stellt,“ – Vf. 12-I10, Umdruck S. 11 f.; aus jüngster Zeit Urteile vom 3. November 2011 – Vf. 30-I-11, Vf. 31-I11, Vf. 35-I-11: „Bei der Ausübung des Ordnungsrechts ist der Meinungsbildungsrelevanz und insbesondere dem Kontext Rechnung zu tragen, in dem der Abgeordnete sein Recht in Anspruch nimmt. Je mehr die inhaltliche Auseinandersetzung im Vordergrund steht, je gewichtiger die mit dem Redebeitrag thematisierten Fragen für das Parlament und die Öffent-

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Eine Ausprägung des allgemeinen Informationsrechts des Abgeordneten ist sein sogenanntes Frage- oder Interpellationsrecht, das in Art. 51 Sächsische Verfassung ausdrücklich niedergelegt ist.10 Fragen des Landtags oder einzelner Abgeordneter müssen vollständig, nach bestem Wissen und unverzüglich beantwortet werden, denn das Fragerecht dient dazu, den Mitgliedern des Parlaments die Informationen zu beschaffen, die sie zu ihrer Arbeit, insbesondere zu einer wirksamen Kontrolle von Regierung und Verwaltung, benötigen.11 Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs führte zu einer nachhaltigen Stärkung dieses Fragerechts. In einer Grundsatzentscheidung stellte er hierzu fest: Verweigert die Staatsregierung die Beantwortung von Fragen einzelner Abgeordneter, muss sie die Verweigerung begründen und die von ihr für maßgeblich erachteten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte darlegen. Bei der Entscheidung darüber, ob gesetzliche Regelungen oder Rechte Dritter der Beantwortung entgegenstehen, verfügt die Staatsregierung weder über ein Ermessen noch eine Einschätzungsprärogative. Ihr Verhalten unterliegt insoweit uneingeschränkt der verfassungsgerichtlichen Kontrolle.12 Gründe, die die Verweigerung oder Beschränkung einer Antwort tragen sollen, müssen bereits in der Antwort selbst dargelegt werden und können nicht im Organstreitverfahren nachgeschoben werden.13 b) Rechte des Landtags In bislang zwei Organstreitverfahren hat der Verfassungsgerichtshof grundsätzlich zu Rechten des Landtages insgesamt im Verhältnis zur Staatsregierung Stellung genommen.14 Antragsteller war jeweils nur eine der im Landtag vertretenen Fraktionen. Diese kann jedoch – so der Verfassungsgerichtshof – Rechte des Landtags im Wege der Prozessstandschaft verfolgen und zwar selbst dann, wenn die im Organstreitverfahren gegenständlichen Maßnahmen durch die Landtagsmehrheit gebilligt worden waren.15 lichkeit sind und je intensiver diese politische Auseinandersetzung geführt wird, desto eher müssen konkurrierende Rechtsgüter hinter dem Rederecht zurückstehen“, – Vf. 30-I-11, Umdruck S. 7. 10 Dieser Vorschrift kommt besondere Bedeutung im Hinblick auf die Ausgestaltung der Antwortpflicht der Staatsregierung zu. Zur Bedeutung vgl. Martin Schulte/Joachim Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 51 Rn. 3. 11 SächsVerfGH, Urteil vom 16. April 1998 – Vf. 19-I-97, JbSächsOVG 6, 16 (19); Urteil vom 18. Oktober 2001 – Vf. 29-I-01, Umdruck S. 7; Beschluss vom 5. November 2009 – Vf. 133-I-08; Urteil vom 5. November 2010 – Vf. 35-I-10, JbSächsOVG 18, 88 (92 f.); Urteil vom 28. September 2010 – Vf. 35-I-10; Beschluss vom 29. September 2011 – Vf. 44-I-11; ständige Rechtsprechung. 12 SächsVerfGH, Urteil vom 16. April 1998 – Vf. 19-I-97, JbSächsOVG 6, 16 (19 f.). 13 SächsVerfGH, Urteil vom 5. November 2010 – Vf. 35-I-10, JbSächsOVG 18, 88 (93 ff.). 14 SächsVerfGH, Urteil vom 23. April 2008 – Vf. 87-I-06 (EFRE, ESF u. a.), Urteil vom 28. August 2009 – Vf. 41-I-08 (SachsenLB), JbSächsOVG 17, 109. 15 SächsVerfGH, Urteil vom 23. April 2008 – Vf. 87-I-06 (EFRE, ESF u. a.), Umdruck S. 15; Urteil vom 28. August 2009 – Vf. 41-I-08 (SachsenLB), JbSächsOVG 17, 109 (134).

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Eines dieser Verfahren betraf die Frage der Beteiligung des Landtags an Vorschlägen für europäische Förderprogramme, die ihrerseits erhebliche Auswirkungen auf die Haushaltsgesetzgebung haben. Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs gehört die Formulierung dieser Vorschläge zum Bereich gouvernementaler Aufgabenplanung und unterfällt der Kompetenz der Staatsregierung zur Leitung des Landes (Art. 59 Abs. 1 Satz 2 Sächsische Verfassung). Auch das parlamentarische Budgetrecht (Art. 93 Abs. 2 Satz 1 Sächsische Verfassung) verschafft dem Landtag kein Recht, hieran bestimmend mitzuwirken.16 Die Staatsregierung ist allerdings gehalten, den Landtag über ihre Tätigkeit und ihre Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung zu informieren, soweit dies zur Erfüllung seiner parlamentarischen Aufgaben notwendig ist. Aus der Funktion des Landtags als Stätte der politischen Willensbildung (Art. 39 Abs. 2 Alt. 3 Sächsische Verfassung) folgt die Verpflichtung, das Parlament so umfassend und rechtzeitig über die Programmvorschläge zu unterrichten, dass es diesem möglich ist, noch vor der Übersendung an die Europäische Kommission diese zum Gegenstand einer Debatte zu machen, hierzu einen politischen Willen zu bilden und diesen gegenüber der Staatsregierung geltend zu machen.17 In seiner sogenannten SachsenLB-Entscheidung traf der Sächsische Verfassungsgerichtshof grundsätzliche Aussagen zum Budgetrecht des Landtags.18 Gegenstand dieses Verfahrens war zum einen die Zustimmung zu Kreditentscheidungen der Bank, die diese in eine existenzgefährdende Krise gestürzt hatten. Darüber hinaus ging es um die Zulässigkeit einer Höchstbetragsgarantie des Freistaates von 2,75 Milliarden Euro, die die Staatsregierung im Zusammenhang mit der zur Abwendung der Krise erforderlich gewordenen Veräußerung der Bank übernommen hatte. Der Verfassungsgerichtshof hat festgestellt, dass die Zustimmung des Staatsministeriums für Finanzen zur Übernahme dieser Garantie die Rechte des Landtags aus Art. 95 Sächsische Verfassung verletzt hat, da sie nicht von den im Haushaltsgesetz vorgesehenen Ermächtigungen gedeckt war.19 Die Billigung der krisenauslösenden Kreditgeschäfte verletzte nach dieser Entscheidung die Budgethoheit des Landtags aus Art. 93 Sächsische Verfassung. Die hierdurch ermöglichte Ausweitung des Kreditengagements der Bank hat parlamentarisch nicht gebilligte Risiken und Vorwirkungen für künftige Haushaltsperioden erzeugt und eine im Haushaltsplan nicht gedeckte Finanzierungsverantwortung des Freistaates geschaffen. Die aus Art. 93 Abs. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung folgende Dispositionsfreiheit des Haushaltsgesetzgebers ist nämlich auch bezogen auf künftige Haushaltsperioden zu schützen mit 16 SächsVerfGH, Urteil vom 23. April 2008 – Vf. 87-I-06 (EFRE, ESF u. a.), Umdruck S. 17. 17 SächsVerfGH, Urteil vom 23. April 2008 – Vf. 87-I-06 (EFRE, ESF u. a.), Umdruck S. 28 ff. 18 SächsVerfGH, Urteil vom 28. August 2009 – Vf. 41-I-08 (SachsenLB), JbSächsOVG 17, 109 (135 ff, 147 ff.). 19 SächsVerfGH, Urteil vom 28. August 2009 – Vf. 41-I-08 (SachsenLB), JbSächsOVG 17, 109 (135).

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der Folge, dass auch deren Vorbelastung unter dem Vorbehalt einer – im konkreten Fall nicht vorliegenden – parlamentarischen Ermächtigung steht.20 c) Recht der Untersuchungsausschüsse Wiederholt hat der Verfassungsgerichtshof zum Recht der Untersuchungsausschüsse Stellung genommen. Erwähnen möchte ich zunächst die Entscheidung zum sogenannten Sachsen-Sumpf-Untersuchungsausschuss21, die vor allem grundlegende Aussagen zur wirksamen Einsetzung eines solchen Ausschusses trifft.22 Danach erfordert ein wirksamer Untersuchungsauftrag neben dem öffentlichen Interesse sowohl die Bestimmtheit als auch die Begrenztheit des Untersuchungsgegenstandes. Während das Gebot der Bestimmtheit aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Grundsatz der Gewaltenteilung folgt, wurzelt das Gebot der Begrenztheit in der Diskontinuität. Letzteres erfordert zwar nicht, dass der Untersuchungsgegenstand in der laufenden Legislaturperiode noch vollständig abgearbeitet wird, setzt jedoch voraus, dass in zeitlicher Hinsicht zumindest noch Teilergebnisse zu erwarten sind.23 Im Unterschied zur Bestimmtheit unterliegt die Begrenztheit des Untersuchungsgegenstandes lediglich einer eingeschränkten verfassungsgerichtlichen Kontrolle; sie ist auf die Fälle der offensichtlich missbräuchlichen Inanspruchnahme des Untersuchungsrechts beschränkt.24 Die besondere Bedeutung des Untersuchungsausschusses als spezifisches Kontrollinstrument der parlamentarischen Minderheit hat der Verfassungsgerichtshof vor allem im Zusammenhang mit dem Beweisverfahren dieser Ausschüsse hervorgehoben. Die in der Verfassung normierte Befugnis einer Minderheit zur Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes strahlt auch auf den Verfahrensablauf im Ausschuss aus. Dieser muss so gestaltet werden, dass die Verwirklichung der mit der Einsetzung des Ausschusses verfolgten Ziele nicht durch eine die Minderheit behindernde Handhabung in Gefahr gerät. Verfahrensrechtliche Befugnisse der Ausschussmehrheit enden dort, wo das von der Mehrheit beschlossene Vorgehen zur Beweiserhebung die Tatsachenfeststellung behindert oder die Realisierung des Untersuchungsauftrags beeinträchtigt.25 Diese Grundsätze hat der Verfassungsgerichtshof 20 SächsVerfGH, Urteil vom 28. August 2009 – Vf. 41-I-08 (SachsenLB), JbSächsOVG 17, 109 (147). 21 SächsVerfGH, Urteil vom 29. August 2008 – Vf. 154-I-07, JbSächsOVG 16, 17. 22 SächsVerfGH, Urteil vom 29. August 2008 – Vf. 154-I-07, JbSächsOVG 16, 17 (51 ff.). 23 SächsVerfGH, Urteil vom 29. August 2008 – Vf. 154-I-07, JbSächsOVG 16, 17 (56); vgl. BVerwGE 109, 258 (263). 24 SächsVerfGH, Urteil vom 29. August 2008 – Vf. 154-I-07, JbSächsOVG 16, 17 (56 f.): „Sie liegt insbesondere dann vor, wenn die zeitlichen Zusammenhänge jegliche Gewinnung von Erkenntnissen durch den Untersuchungsausschuss von vornherein ausschließen, seine Einsetzung mithin lediglich eine Missbilligung des politischen Gegners zum Ausdruck bringen soll.“ 25 SächsVerfGH, Beschluss vom 22. April 2004 – Vf. 86-I-03, Umdruck S. 5.

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ebenfalls im Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Sachsen-Sumpf-Untersuchungsausschuss bekräftigt und festgestellt, dass die wiederholte Weigerung der Ausschussmehrheit, eine beschlossene Beweiserhebung durch Vernehmung bestimmter Zeugen auf die Tagesordnung zu setzen, die Erfüllung des Untersuchungsauftrages zu vereiteln drohte und damit die Rechte der qualifizierten Ausschussminderheit verletzte.26 2. Abstrakte Normenkontrolle Wenden wir uns nun dem Verfahren der abstrakten Normenkontrolle zu, in dem – anders als im Organstreitverfahren – nicht um subjektive Rechte gestritten wird, sondern bei dem die abstrakte Frage nach der Geltung einer Rechtsnorm im Mittelpunkt steht.27 In der Rechtsprechung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs haben dabei vor allem die Verfahren besondere Bedeutung erlangt, in denen es um das Spannungsverhältnis zwischen individuellen Freiheitsrechten und staatlichen Sicherheitsinteressen ging. So war das Sächsische Polizeigesetz gleich zweimal Gegenstand von Normenkontrollverfahren,28 und auch Regelungen des Sächsischen Verfassungsschutzgesetzes29 sowie des Sächsischen Versammlungsgesetzes30 wurden zur Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof gestellt. Angesichts der Vielzahl der dabei auf ihre Verfassungsmäßigkeit untersuchten Einzelnormen will ich an dieser Stelle nur einige Einzelaspekte näher beleuchten. Die erste Entscheidung zum Polizeigesetz enthält grundlegende Ausführungen zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Erhebung von Daten in Wohnungen, besser bekannt unter dem Schlagwort „Großer Lauschangriff“. Danach verstößt die Datenerhebung in der Wohnung einer Person, die weder für die polizeiliche Gefahr verantwortlich ist noch hierfür als Nichtstörer in Anspruch genommen werden kann, gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot.31 Nichtig war auch eine Vorschrift, die die Datenerhebung aus Wohnungen bereits bei der bloßen Annahme einer bevorstehenden Gefahr zuließ. Der bewusste Verzicht des Gesetzgebers auf die Tatbestandsvoraussetzung einer dringenden Gefahr ist nicht vom Gesetzesvorbehalt des Art. 30 Abs. 3 Sächsische Verfassung gedeckt.32 Darüber hinaus hielt der Verfassungsgerichtshof für ein verdecktes polizeiliches Vorgehen in Wohnungen besondere 26 SächsVerfGH, Urteil vom 30. Januar 2009 – Vf. 99-I-08, JbSächsOVG 17, 9 (22 f.); zu einer ähnlichen Konstellation vgl. SächsVerfGH, Urteil vom 20. April 2007 – Vf. 18-I-07, JbSächsOVG 15, 41 (47 f.). 27 Malte Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 76 Rn. 1. 28 SächsVerfGH, Urteil vom 14. Mai 1996 – Vf. 44-II-94, JbSächsOVG 4, 50; Urteil vom 10. Juli 2003 – Vf. 43-II-00, JbSächsOVG 11, 55. 29 SächsVerfGH, Urteil vom 21. Juli 2005 – Vf. 67-II-04, JbSächsOVG 13, 40. 30 SächsVerfGH, Urteil vom 19. April 2011 – Vf. 74-II-10. 31 SächsVerfGH, Urteil vom 14. Mai 1996 – Vf. 44-II-94, JbSächsOVG 4, 50 (117 f.). 32 SächsVerfGH, Urteil vom 14. Mai 1996 – Vf. 44-II-94, JbSächsOVG 4, 50 (118).

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verfahrensrechtliche Sicherheiten zum Grundrechtsschutz des Betroffenen für erforderlich.33 Zur zweiten Entscheidung zum Polizeigesetz ist in formeller Hinsicht bemerkenswert, dass der Verfassungsgerichtshof dort – trotz seines grundsätzlich auf die Sächsische Verfassung beschränkten Prüfungsmaßstabs – ausdrücklich seine Befugnis bejahte, die Gesetzgebungskompetenz des Freistaates für die von ihm erlassenen Regelungen auch im Hinblick auf die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern zu überprüfen.34 Gegenstand der Entscheidung zum Verfassungsschutzgesetz waren Gesetzesänderungen, mit denen die Befugnisse des Landesamtes für Verfassungsschutz bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität erweitert wurden. Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen mit der Staatssicherheit der DDR entnimmt der Verfassungsgerichtshof der Verfassung das Gebot, Polizei und Geheimdienste prinzipiell so weit wie möglich voneinander abzugrenzen.35 Aus Art. 83 Abs. 3 Satz 1 Sächsische Verfassung, der die Schaffung eines Geheimdienstes mit polizeilichen Befugnissen im Freistaat untersagt, folgt, dass die Beobachtung der organisierten Kriminalität durch das Landesamt für Verfassungsschutz nur dann zulässig ist, wenn damit neben polizeilichen Zwecken zugleich Ziele des Verfassungsschutzes – also Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, Bestand oder Sicherheit von Bund und Ländern oder auswärtige Belange – verfolgt werden.36 3. Normenkontrolle auf kommunalen Antrag Der Umstand, dass es sich bereits bei dem allerersten Verfahren des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs um ein Normenkontrollverfahren auf kommunalen Antrag handelte, sollte sich in gewisser Weise als Omen herausstellen: Das in Art. 90 Sächsische Verfassung geregelte Verfahren,37 wonach die kommunalen Träger der Selbstverwaltung den Verfassungsgerichtshof mit der Behauptung anrufen können, dass 33

SächsVerfGH, Urteil vom 14. Mai 1996 – Vf. 44-II-94, JbSächsOVG 4, 50 (96 ff.). SächsVerfGH, Urteil vom 10. Juli 2003 – Vf. 43-II-00, JbSächsOVG 11, 55 (83 ff.); er leitete diese Befugnis aus Art. 3 Abs. 2 und Art. 39 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Satz 1 Sächsische Verfassung ab. 35 SächsVerfGH, Urteil vom 21. Juli 2005 – Vf. 67-II-04, JbSächsOVG 13, 40 (48 ff.); s. auch bereits: Urteil vom 14. Mai 1996 – Vf. 44-II-94, JbSächsOVG 4, 50 (109). 36 SächsVerfGH, Urteil vom 21. Juli 2005 – Vf. 67-II-04, JbSächsOVG 13, 40 (50 f.). 37 Die Verfahrensart kann nicht ohne Weiteres einem der Grundtypen verfassungsgerichtlicher Rechtsbehelfe – Verfassungsbeschwerde oder Normenkontrolle – zugeordnet werden (zur vergleichbaren Regelung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b Grundgesetz, § 91 BVerfGG Herbert Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ders. [Hrsg.]: Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Kommentar, Stand der 39. Erg.-Lfg. [Dezember 2012], § 91 Rn. 1). Der Sächsische Verfassungsgerichtshof hatte sich bereits früh zum Charakter dieses Verfahrens zu äußern und dabei dessen subjektiv-rechtliche Komponente betont, SächsVerfGH, Urteil vom 23. Juni 1994 – Vf. 8-VIII-93, JbSächsOVG 2, 52 (54 ff.). 34

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ein Gesetz die Bestimmungen der Verfassung über Selbstverwaltung, Finanzausstattung oder Gebietsänderungen (Art. 82 Abs. 2, Art. 84 bis 89 Sächsische Verfassung) verletze, hat sich nicht nur zahlenmäßig zu einem Schwerpunkt in seiner Rechtsprechung entwickelt. Auch die darin ganz überwiegend angesprochenen Themenkreise – Gebietsreform und kommunaler Finanzausgleich – haben ihre Aktualität unverändert bewahrt und zu einer recht ausdifferenzierten Judikatur des Verfassungsgerichtshofs auf diesem Gebiet geführt. a) Verfahren zum kommunalen Finanzausgleich Angesichts der Aufgabenfülle der Kommunen und ihrer durchweg angespannten Finanzsituation stellen sich in Sachsen – ebenso wie in anderen Bundesländern – Fragen des kommunalen Finanzausgleichs gerade in jüngerer Zeit mit besonderer Dringlichkeit.38 Der Sächsische Verfassungsgerichtshof hat bereits in seinem ersten Verfahren, das die Kommunalisierung von Schulhortkosten betraf, Grundsätze zur Finanzhoheit der Kommunen und ihrer Finanzausstattung entwickelt.39 Danach beinhaltet die Verpflichtung des Freistaates dafür zu sorgen, dass die kommunalen Träger der Selbstverwaltung ihre Aufgaben erfüllen können, eine „Einstandspflicht für eine ausreichende Finanzausstattung“.40 Art. 87 und 85 Sächsische Verfassung schaffen den Selbstverwaltungsträgern die finanzielle Grundlage für eine eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung und sollen verhindern, dass durch die Übertragung von Pflichtaufgaben der Spielraum für freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben unangemessen verengt und die Eigenverantwortlichkeit der Selbstverwaltungsträger finanziell ausgehöhlt wird.41 In einer Entscheidung aus dem Jahr 200042 wurde ergänzend klargestellt, dass aus Art. 87 Sächsische Verfassung keine konkreten Maßstäbe, Pa38 Zum Finanzausgleich jüngst z. B. VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14. Februar 2012 – VGH N 3/11, Thüringer VerfGH, Urteil vom 2. November 2011 – VerfGH 13/10, VerfGH Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. Juli 2011 – VerfGH 32/08, LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 30. Juni 2011 – LVerfG 10/10 und Urteile vom 26. Januar 2012 – LVerfG 18/10 und 33/10. 39 SächsVerfGH, Urteil vom 21. Juli 1994 – Vf. 1-VIII-93, JbSächsOVG 2, 79. 40 SächsVerfGH, Urteil vom 21. Juli 1994 – Vf. 1-VIII-93, JbSächsOVG 2, 79 (90). 41 SächsVerfGH, Urteil vom 21. Juli 1994 – Vf. 1-VIII-93, JbSächsOVG 2, 79, Umdruck S. 10 ff. Der Sächsische Verfassungsgerichtshof folgert aus Art. 85 Abs. 2 Sächsische Verfassung, dass bei der Übertragung von staatlichen Aufgaben auf die Selbstverwaltungsebene eine fundierte Prognose der hierdurch verursachten Kosten erforderlich ist. Er hat ferner unter Hinweis auf die Materialien (vgl. 8. Klausurtagung des Verfassungs- und Rechtsausschusses des Sächsischen Landtags zur Sächsischen Verfassung vom 17. Februar 1992, S. 2 ff.; abgedruckt in: Schimpff/Rühmann (Hrsg.): Die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen. Materialien und Studien des Sächsischen Landtages, Bd. 1, 1997, S. 535 ff. [536 ff.]) klargestellt, dass eine sich später herausstellende Unrichtigkeit der Prognose nur noch im Rahmen der allgemeinen Einstandspflicht nach Art. 87 Abs. 1 Sächsische Verfassung zu berücksichtigen ist. 42 SächsVerfGH, Urteil vom 23. November 2000 – Vf. 49-VIII-97, JbSächsOVG 8, 12.

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rameter, Kennziffern, Beträge oder Quoten für den kommunalen Finanzausgleich zu entnehmen sind.43 Da die Pflicht zur Finanzausstattung der Kommunen unter dem Vorbehalt der Leistungsfähigkeit des Freistaates steht, ist dem Gesetzgeber insoweit ein weiter Gestaltungsspielraum zuzubilligen. Dieser endet erst, wo der Anspruch auf eine finanzielle Grundausstattung verletzt und damit das Selbstverwaltungsrecht ausgehöhlt wird.44 Dass eine solche Situation eingetreten ist, muss im verfassungsgerichtlichen Verfahren vom Antragsteller substantiiert dargelegt werden.45 Erwähnt werden soll aus diesem Themenkreis noch ein Verfahren aus dem Jahre 2009, in dem 24 durchweg abundante46 Gemeinden die verfassungsrechtliche Überprüfung der Finanzausgleichsumlage verlangten. Besser bekannt ist die zugrunde liegende Problematik unter dem Stichwort „Reichensteuer“. Nach dem Urteil des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs47 ist es dem Gesetzgeber durch Art. 87 Sächsische Verfassung nicht verwehrt, einen horizontalen Finanzausgleich vorzusehen und diesen mit vertikalen Instrumenten zu verbinden, um auf die Ausgleichung gemeindlicher Finanzkraft hinzuwirken. Grundsätzlich verboten ist jedoch eine Nivellierung oder gar Übernivellierung der Finanzkraft. Angesichts der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist die verfassungsgerichtliche Kontrolle insoweit auf evidente Fehler der Bedarfsanalyse, der gesetzgeberischen Grundannahmen oder der Verteilungssymmetrie beschränkt.48 b) Gebietsreform Den Löwenanteil der bisherigen Normenkontrollverfahren auf kommunalen Antrag bildeten diejenigen zur Gemeindegebietsreform 1998. Hier wurden insgesamt 82 Hauptsacheverfahren und 73 Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung anhängig gemacht.49 Gegenstand dieser Verfahren waren Gemeindeeingliederungen, Gemeindezusammenlegungen sowie Pflichten zur Bildung oder zum Anschluss an Verwaltungsgemeinschaften. Der Verfassungsgerichtshof stellte die sich aus Art. 88 Sächsische Verfassung ergebenden verfassungsrechtlichen Grundlagen bei kommunalen Neugliederungen wie folgt dar: 43

(16). 44

(16).

SächsVerfGH, Urteil vom 23. November 2000 – Vf. 49-VIII-97, JbSächsOVG 8, 12 SächsVerfGH, Urteil vom 23. November 2000 – Vf. 49-VIII-97, JbSächsOVG 8, 12

45 SächsVerfGH, Urteil vom 23. November 2000 – Vf. 49-VIII-97, JbSächsOVG 8, 12 (16 f.). 46 Abundante Gemeinden sind solche, die – insbesondere aufgrund außergewöhnlich hoher Gewerbesteuereinnahmen – eine so hohe Finanzkraft haben, dass sie keine Schlüsselzuweisungen aus dem kommunalen Finanzausgleich erhalten. Aufgrund der Finanzausgleichsumlage müssen sie umgekehrt einen Teil ihres Steueraufkommens an andere Selbstverwaltungsträger abgeben. 47 SächsVerfGH, Urteil vom 29. Januar 2010 – Vf. 25-VIII-09, JbSächsOVG 18, 9. 48 SächsVerfGH, Urteil vom 29. Januar 2010 – Vf. 25-VIII-09, JbSächsOVG 18, 9 (37). 49 Den Abschluss dieser Serie bildete der Beschluss des SächsVerfGH vom 9. März 2000 – Vf. 85-VIII-99.

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- Der Gesetzgeber muss mit der Neugliederung Gemeinwohlziele im Sinne des Art. 88 Abs. 1 Sächsische Verfassung verfolgen. Der Verfassungsgerichtshof prüft lediglich, ob diese Ziele legitim sind. - Die vom Gesetzgeber verfolgten Leitsätze sind vom Verfassungsgerichtshof nur daraufhin zu überprüfen, ob sich aufdrängende Gemeinwohlaspekte übersehen wurden, ob die zugrunde liegenden Erkenntnisse offensichtlich unzutreffend sind oder ob die Leitsätze zur Erreichung der Reformziele erkennbar ungeeignet sind. - Bei einzelnen Neugliederungsmaßnahmen hat der Verfassungsgerichtshof zu prüfen, ob der erhebliche Sachverhalt ermittelt wurde, ob die Gemeinwohlgründe und die Vor- und Nachteile der Alternativen in die Abwägung eingestellt wurden und ob das (inter-) kommunale Gleichbehandlungsgebot beachtet wurde.50 Soweit nach diesen Maßstäben in wenigen Einzelfällen Verfassungsverstöße bei der Gemeindeneugliederung festgestellt wurden, beruhte dies ganz überwiegend auf einer unzureichenden Sachverhaltsermittlung51 bzw. auf Anhörungsmängeln.52 Auch die Kreisgebietsreformen von 1993 und 2008 haben den Verfassungsgerichtshof mehrfach beschäftigt. Bei beiden Reformen erregten vor allem die mit der Neugliederung der Kreise einhergehenden Veränderungen der Kreissitze die Gemüter. Klagen der betroffenen Gemeinden hatten jedoch keinen Erfolg. Nach inzwischen ständiger Rechtsprechung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs wird nämlich eine Gemeinde durch die Frage, ob sie künftiger Kreissitz ist, nicht in ihren Selbstverwaltungsrechten betroffen.53 Aber auch ein Antrag der Stadt Plauen, mit dem diese sich im Jahr 2008 gegen den Verlust ihrer Kreisfreiheit wehrte, wurde zurückgewiesen.54 Nach dieser Entscheidung betrifft zwar die Einkreisung einer bis dahin kreisfreien Stadt deren Selbstverwaltungsrecht, jedoch ist das mit dieser Maßnahme verfolgte Konzept des Gesetzgebers, für kreisfreie Städte langfristig eine Größe von mindestens 200.000 Einwohnern vorzusehen, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.55 50

Vgl. Leitsätze aus SächsVerfGH, Beschluss vom 18. Juni 1999 – Vf. 54-VIII-98. SächsVerfGH, Urteil vom 18. Juni 1999 – Vf. 51-VIII-98, JbSächsOVG 7, 17; Urteil vom 5. November 1999 – Vf. 133-VIII-98. 52 SächsVerfGH, Urteil vom 9. Juli 1999 – Vf. 71-VIII-98. 53 Zur Kreisgebietsreform 1993: SächsVerfGH, Urteil vom 23. Juni 1994 – Vf. 23-VIII-93, Umdruck S. 12; zur Kreisgebietsreform 2008: SächsVerfGH, Beschlüsse vom 27. Juni 2008 – Vf. 67-VIII-08, Umdruck S. 6 ff., und Vf. 78-VIII-08, JbSächsOVG 16, 9 (15). Dies gilt auch für aufzulösende Landkreise, wenn diese ausschließlich den Sitz des neuen Landratsamtes beanstanden und es ihnen nicht zumindest auch um damit zusammenhängende Fragen der Neugliederung bzw. des Zuschnitts des neuen Landkreises geht, z. B. SächsVerfGH, Urteil vom 23. Juni 1994 – Vf. 14-VIII-94, Umdruck S. 14. 54 SächsVerfGH, Beschluss vom 22. April 2008 – Vf. 19-VIII-08 (HS) / Vf. 20-VIII-08 (e.A.). 55 SächsVerfGH, Beschluss vom 22. April 2008 – Vf. 19-VIII-08 (HS) / Vf. 20-VIII-08 (e.A.), Umdruck S. 21. 51

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Die zweite Kreisgebietsreform gab dem Verfassungsgerichtshof u. a. Anlass, zur Zulässigkeit wiederholter Neugliederungen Stellung zu nehmen.56 Danach können wiederholte Änderungen kommunaler Strukturen grundsätzlich das rechtsstaatliche Gebot der Rechtssicherheit beeinträchtigen. Das erste Kreisgebietsreformgesetz von 1993 hat jedoch primär der Schaffung funktionsfähiger Selbstverwaltungsstrukturen nach der Wiedervereinigung gedient. Ein Vertrauen in den dauerhaften Bestand dieser Neugliederungsmaßnahme ist angesichts der bereits seinerzeit vom Gesetzgeber hervorgehobenen Entwicklungsunsicherheiten nicht begründet worden.57 III. Verfassungsbeschwerden Mit der Einführung der Individualverfassungsbeschwerde (Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 Sächsische Verfassung) hat der Verfassungsgeber die Staatlichkeit des Freistaates Sachsen unterstrichen und zugleich die Bedeutung der Landesgrundrechte für den Einzelnen betont. Jährlich werden ca. 140 solcher Beschwerden zum Verfassungsgerichtshof erhoben,58 ihr Anteil an den Gesamtverfahren beträgt ziemlich konstant 85 %. Diese Zahlen belegen, dass es damit gelungen ist, die praktische Relevanz der Sächsischen Verfassung zu verdeutlichen und ihre identitätsstiftende Wirkung zu erhöhen. Ganz überwiegend handelt es sich – schon wegen des Erfordernisses der Rechtswegerschöpfung – um sog. Urteilsverfassungsbeschwerden, aber auch Gesetze selbst werden auf diesem Wege einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung zugeführt. Öffentlichkeitswirksam waren hier etwa die Verfassungsbeschwerden von Inhabern sogenannter Einraum-Gaststätten gegen das Sächsische Nichtraucherschutzgesetz: Sie machten mit Erfolg geltend, die Bestimmungen, wonach das Rauchen nur in abgeschlossenen Nebenräumen zulässig sein sollte, verletzten sie in ihrer Berufsfreiheit (Art. 28 Abs. 1 Sächsische Verfassung).59 Auch wenn den Verfassungsbeschwerden, die an den Sächsischen Verfassungsgerichtshof herangetragen werden, eine Vielzahl völlig unterschiedlicher Lebenssachverhalte zugrunde liegt, ist hinsichtlich der als verletzt gerügten Grundrechte eine Schwerpunktbildung zu verzeichnen. Die Rechtsprechung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs ist in diesen Bereichen – nicht zuletzt weil es häufig um die Über56

SächsVerfGH, Urteil vom 25. September 2008 – Vf. 54-VIII-08, JbSächsOVG 16, 71. SächsVerfGH, Urteil vom 25. September 2008 – Vf. 54-VIII-08, JbSächsOVG 16, 71 (90 ff.). 58 Per 31. Dezember 2011 waren beim Sächsischen Verfassungsgerichtshof insgesamt 1953 Verfahren eingegangen, davon 1650 Verfassungsbeschwerden (84,5 %). Eingänge in 2011: 154 Verfassungsbeschwerden, 7 Organstreitverfahren, 1 abstrakte Normenkontrolle, 1 konkrete Normenkontrolle, 1 Normenkontrolle auf kommunalen Antrag. Höchstand waren bislang 166 Verfassungsbeschwerden in 2008 (128 Verfassungsbeschwerden in 2009, 113 Verfassungsbeschwerden in 2010). 59 SächsVerfGH, Beschluss vom 16. Oktober 2008 – Vf. 26-IV-08 / Vf. 28-IV-08 / Vf. 30IV-08 / Vf. 34-IV-08 / Vf. 36-IV-08 / Vf. 42-IV-08 / Vf. 44-IV-08, JbSächsOVG 16, 106. 57

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prüfung von Bundesrecht am Maßstab von Grundrechten geht, die inhaltsgleich im Grundgesetz und in der Sächsischen Verfassung garantiert sind60 – deutlich an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts orientiert. Ich will mich deshalb darauf beschränken, anhand einiger Themenbereiche die typischen Konstellationen für besonders häufig gerügte Grundrechtsverletzungen aufzeigen. 1. Verfahrensgrundrechte Aus dem Bereich der Verfahrensgrundrechte hatte sich der Verfassungsgerichtshof wiederholt zu dem Grundrecht auf ein zügiges Verfahren zu äußern, das – anders als im Grundgesetz – in Art. 78 Abs. 3 Satz 1, Alt. 2 Sächsische Verfassung ausdrücklich formuliert ist. Es konkretisiert den im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. Gegenstand von Verfassungsbeschwerden sind Verfahren vor den Gerichten des Freistaats, die nach Auffassung der Beschwerdeführer nicht in zeitlich angemessenem Rahmen abgeschlossen oder gefördert werden. Der Verfassungsgerichtshof hat sich insoweit nicht auf allgemein gültige Zeitgrenzen festgelegt. Diese sind vielmehr bezogen auf den jeweiligen Einzelfall, etwa anhand der konkreten Auswirkungen des Zeitablaufs für die Beteiligten, der Schwierigkeit der Materie, des Verhaltens der Parteien oder der Notwendigkeit zur Heranziehung von Dritten – etwa Sachverständigen – zu ermitteln.61 Das mit Abstand am häufigsten als verletzt gerügte Verfahrensgrundrecht ist dasjenige auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Der Schutzbereich dieses Grundrechts umfasst das Recht auf Information über den Verfahrensstoff, das Recht auf Äußerung vor Erlass einer Entscheidung sowie auf Berücksichtigung des Vorbringens der Beteiligten.62 In der Praxis beruhen die entsprechenden Verfassungsbeschwerden allerdings nicht selten darauf, dass die im Rechtsstreit unterlegene Partei meint, das Urteil setze sich nicht ausreichend mit ihrer – erfolglos gebliebenen – Position auseinander. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs verpflichtet der Anspruch auf rechtliches Gehör die Gerichte, das Vorbringen der Beteiligten zur 60 Da die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen regelmäßig unter Anwendung von Prozessrecht des Bundes ergehen, stellte sich die Frage, ob der Sächsische Verfassungsgerichtshof befugt ist, eine Überprüfung am Maßstab der Sächsischen Verfassung vorzunehmen. Der Sächsische Verfassungsgerichtshof legte mit Beschluss vom 21. September 1995 diese Frage gemäß Art. 100 Abs. 3 Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht vor (Vf. 1-IV-95, JbSächsOVG 3, 97). Dieses bejahte die Frage und führte aus, dass einem Landesverfassungsgericht eine Prüfungskompetenz auch im Hinblick auf Verfahrensrecht des Bundes zukommt, wenn ein Verstoß gegen den mit dem Grundgesetz inhaltsgleiche Landesgrundrechte geltend gemacht wird (BVerfGE 96, 345). 61 SächsVerfGH, Beschluss vom 29. Januar 2010 – Vf. 113-IV-09; Beschluss vom 27. Mai 2010 – Vf. 21-IV-10; Beschluss vom 25. September 2009 – Vf. 44-IV-09; Beschluss vom 21. November 2008 – Vf. 107-IV-08; Beschluss vom 5. November 2009 – Vf. 79-IV-09; ständige Rechtsprechung. 62 SächsVerfGH, Beschluss vom 30. März 2006 – Vf. 80-IV-05, Umdruck S. 3; Beschluss vom 31. Januar 2008 – Vf. 94-IV-07, Umdruck S. 4 f. m.w.N.; Beschluss vom 26. März 2009 – Vf. 171-IV-08.

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Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und – soweit entscheidungserheblich – zu berücksichtigen. Den Gerichten ist es also durchaus gestattet, Vortrag aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts außer Betracht zu lassen.63 Auch wenn die schriftliche Entscheidung zu einem bestimmten Vortrag nichts enthält, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass das Vorbringen pflichtgemäß zur Kenntnis genommen wurde. Erst wenn sich aus besonderen Umständen ergibt, dass bestimmter Vortrag überhaupt nicht erwogen wurde – etwa weil das Gericht vom Gegenteil des Vorgebrachten ausgeht oder bestimmten Vortrag ausdrücklich als nicht vorgebracht behandelt –, liegt ein Verstoß gegen Art. 78 Abs. 2 Sächsische Verfassung vor.64 2. Freiheitsgrundrechte Von herausragender Bedeutung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ist das Freiheitsgrundrecht des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 Sächsische Verfassung. Die „Freiheit der Person“ wird hier in Abgrenzung zur allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 15 Sächsische Verfassung als körperliche Bewegungsfreiheit geschützt. Für Verfassungsbeschwerden relevant wird dieses Grundrecht vor allem in Haftund Unterbringungsverfahren. Hier erheben die Beschwerdeführer regelmäßig die Rüge, bei Anwendung der einfachrechtlichen Normen seien Inhalt und Tragweite des Freiheitsgrundrechts verkannt oder das hieraus folgende Beschleunigungsgebot verletzt worden. Aus der umfangreichen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zu diesen Fragen65 soll hier nur exemplarisch auf einen Aspekt verwiesen werden: Aus dem Freiheitsgrundrecht ergeben sich auch besondere Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung und die Begründungstiefe fachgerichtlicher Entscheidungen. Die Gerichte müssen sich etwa bei der Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit den einzelnen gesetzlichen Voraussetzungen eingehend auseinandersetzen und diese auf hinreichend gesicherter Tatsachengrundlage begründen. Dies erfordert Ausführungen zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrund-

63 SächsVerfGH, Beschluss vom 31. Januar 2008 – Vf. 94-IV-07; Beschluss vom 25. August 2011 – Vf. 15-IV-11; Beschluss vom 25. August 2011 – Vf. 66-IV-11; ständige Rechtsprechung. 64 SächsVerfGH, Beschluss vom 3. Mai 2007 – Vf. 53-IV-07 (HS) / Vf. 54-IV-07 (e.A.), Umdruck S. 6; Beschluss vom 26. März 2009 – Vf. 171-IV-08, Umdruck S. 4; Beschluss vom 29. März 2010 – Vf. 123-IV-09, Umdruck S. 4; Beschluss vom 20. April 2010 – Vf. 9-IV-10, Umdruck S. 4 f.; Beschluss vom 21. Juni 2012 – Vf. 154-IV-11, Umdruck S. 4 f., ständige Rechtsprechung. 65 SächsVerfGH, Beschluss vom 22. März 2007 – Vf. 33-IV-07 / Vf. 34-IV-07; Beschluss vom 11. Juli 2008 – Vf. 113-IV-08 (HS) / Vf. 114-IV-08 (e.A.); Beschluss vom 27. Februar 2009 – Vf. 11-IV-09 (HS) / Vf. 12-IV-09 (e.A.); Beschluss vom 28. Januar 2010 – Vf. 136-IV09 (HS) / Vf. 137-IV-09 (e.A.); Beschluss vom 3. November 2011 – Vf. 84-IV-11; Beschluss vom 23. Februar 2012 – Vf. 5-IV-12 (HS) / Vf. 6-IV-12 (e.A.); Beschluss vom 14. Mai 2012 – Vf. 38-IV-12 (HS) / Vf. 39-IV-12 (e.A.).

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recht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.66 3. Gleichheitsgrundrecht Auch der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 18 Abs. 1 Sächsische Verfassung ist in verschiedenen Grundkonstellationen immer wieder Gegenstand von Verfassungsbeschwerden. Zum einen geht es dabei um die Ungleichbehandlung von Personengruppen durch ein Gesetz. Hier ist Art. 18 Abs. 1 Sächsische Verfassung verletzt, wenn der Gesetzgeber eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu einer anderen abweichend behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede bestehen, die nach Art oder Gewicht die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten. Der allgemeine Gleichheitssatz gilt für ungleiche Belastungen ebenso wie für ungleiche Begünstigungen. Verboten ist daher auch ein grundrechtswidriger Begünstigungsausschluss.67 Erfolgreich war daher z. B. die Verfassungsbeschwerde einer Diskothekenbesitzerin gegen das Sächsische Nichtraucherschutzgesetz, das verbot, in Diskotheken abgetrennte Nebenräume für Raucher einzurichten, während für Gaststättenbetreiber gesonderte Raucherräume zugelassen waren.68 Auch die Rechtsprechung ist an den Gleichheitssatz gebunden, für diese folgt aus Art. 18 Abs. 1 Sächsische Verfassung das Verbot willkürlicher Rechtsanwendung. Mit der häufig zum Verfassungsgerichtshof erhobenen Rüge der Verletzung dieses Willkürverbots wird allerdings im Kern oft die fehlerhafte Anwendung einfachen Rechts geltend gemacht. Eine hierauf bezogene Prüfung ist jedoch nicht Aufgabe der Verfassungsgerichte. Eine willkürliche, d. h. den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz verletzende Rechtsanwendung liegt nämlich nicht bereits dann vor, wenn die Auslegung des einfachen Rechts durch die Fachgerichte Fehler aufweist oder zu Ergebnissen führt, über deren Sachgerechtigkeit sich streiten lässt. Erforderlich ist vielmehr, dass die beanstandete Rechtsanwendung mit den Vorgaben der Verfassung unter keinem Gesichtspunkt vereinbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die gerichtliche Entscheidung auf völlig sachfremden und damit willkürlichen 66 SächsVerfGH, Beschluss vom 23. Februar 2012 – Vf. 5-IV-12 (HS) / Vf. 6-IV-12 (e.A.), Umdruck S. 7; Beschluss vom 14. Mai 2012 – Vf. 38-IV-12 (HS) / Vf. 39-IV-12 (e.A.), Umdruck S. 7 ff.; zu den Anforderungen an die gerichtliche Sachverhaltsermittlung bei Prognoseentscheidungen im Vollstreckungsverfahren: SächsVerfGH, Beschluss vom 26. August 2010 – Vf. 50-IV-10; bei Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: SächsVerfGH, Beschluss vom 11. Dezember 2003 – Vf. 72-IV03 (HS) / Vf. 73-IV-03 (e.A.); Beschluss vom 10. Dezember 2009 – Vf. 116-IV-09 (HS) / Vf. 117-IV-09 (e.A.); Beschluss vom 23. Februar 2012 – Vf. 139-IV-11. 67 SächsVerfGH, Beschlüsse vom 16. Oktober 2008 – Vf. 15-IV-08 / Vf. 59-IV-08, Vf. 92IV-08. 68 SächsVerfGH, Beschlüsse vom 16. Oktober 2008 – Vf. 15-IV-08 / Vf. 59-IV-08, Vf. 92IV-08, Umdruck S. 10 bzw. 9; entsprechend entschied der Sächsische Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 20. November 2008 – Vf. 63-IV-08 zugunsten eines Spielhallenbesitzers.

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Erwägungen beruht.69 Allein hierauf ist die Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof beschränkt. IV. Verfahren im Zusammenhang mit besonderen Regelungen der Sächsischen Verfassung Abschließend will ich auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zu einigen Regelungen hinweisen, die keine unmittelbare Entsprechung im Grundgesetz haben. Exemplarisch werde ich dabei auf die Verfahren zur Abgeordnetenanklage und zur Volksgesetzgebung eingehen. 1. Abgeordnetenanklage Zur Abgeordnetenanklage nach Art. 118 Sächsische Verfassung kann ich mich kurz fassen: Nach dieser Vorschrift kann der Landtag vor dem Verfassungsgerichtshof ein Verfahren mit dem Ziel von Aberkennung von Amt und Mandat einleiten, wenn im Hinblick auf einen Abgeordneten oder ein Mitglied der Staatsregierung der Verdacht von Menschenrechtsverletzungen oder einer Tätigkeit für das frühere Ministerium für Staatssicherheit oder das Amt für Nationale Sicherheit der DDR besteht. Bisher sind jedoch alle fünf unter Bezug auf diese Vorschrift erhobenen Anklagen aus formellen Gründen gescheitert.70 Der Verfassungsgerichtshof hatte daher bisher keine Gelegenheit, zu den Tatbestandsvoraussetzungen dieser inhaltlich durchaus umstrittenen Vorschrift aus verfassungsrechtlicher Sicht Stellung zu nehmen. Die Platzierung von Art. 118 Sächsische Verfassung im Abschnitt „Übergangsund Schlussvorschriften“ der Sächsischen Verfassung deutet an, dass der Verfassungsgeber für diese Vorschrift lediglich ein zeitlich begrenztes Bedürfnis gesehen hat.71 Vor diesem Hintergrund bleibt abzuwarten, ob die Vorschrift in Zukunft noch praktische Relevanz erlangen wird.

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SächsVerfGH, Beschluss vom 14. Dezember 2006 – Vf. 28-IV-06; Beschluss vom 15. Mai 2007 – Vf. 99-IV-06; Beschluss vom 28. Januar 2010 – Vf. 66-IV-09; Beschluss vom 25. Mai 2011 – Vf. 100-IV-10; ständige Rechtsprechung. 70 SächsVerfGH, Beschlüsse vom 6. November 1998 – Vf. 16-IX-98, JbSächsOVG 6, 47 (Unzulässigkeit der Abgeordnetenanklage wegen Verfristung und fehlendem dringenden Tatverdacht), Vf. 17-IX-98 (Verfristung), Vf. 18-IX-98 (Verfristung); Beschluss vom 13. Januar 2000 – Vf. 41-IX-99 (fehlendes Rechtsschutzbedürfnis durch das zwischenzeitlichen Ende der Wahlperiode und den Umstand, dass der angeklagte Abgeordnete nicht wiedergewählt worden war); Beschluss vom 2. November 2006 – Vf. 55-IX-06 (Verfristung); Beschluss vom 11. Dezember 2008 – Vf. 151-IX-07, JbSächsOVG 16, 145 (keine wirksame parlamentarische Abstimmung über die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen der Abgeordnetenanklage); vgl. auch die Übersicht bei Jürgen Rühmann, Die Spinne im Netz – Der Sächsische Verfassungsgerichtshof und das Kräftefeld der Staatsgewalten (Teil 1), SächsVBl. 2012, S. 131 (135). 71 Bernd Kunzmann, in: Baumann-Hasske/ders. (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Art. 118 Rn. 10.

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2. Volksgesetzgebung Während nach dem Grundgesetz Volksentscheide ausschließlich zur Länderneugliederung bzw. zur Entscheidung über eine neue Verfassung erlaubt sind, sehen Art. 71 und 72 Sächsische Verfassung die Möglichkeit eines dreistufigen Volksgesetzgebungsverfahrens mit Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid vor. Im Freistaat Sachsen ist das Volk damit ein dem Parlament gleichberechtigter Träger der gesetzgebenden Gewalt.72 Seit Inkrafttreten der Sächsischen Verfassung hat es bis zum Sommer 2010 insgesamt zwölf Initiativen gegeben, Gesetze im Wege der Volksgesetzgebung zu schaffen.73 Soweit der Verfassungsgerichtshof mit diesen Fragen befasst wurde, sind die entsprechenden Verfahren stets im Sinne einer Verbesserung der Gestaltungsmöglichkeiten der Bürger entschieden worden.74 Zunächst beschäftigte den Sächsischen Verfassungsgerichtshof der Volksantrag zur Durchführung der Gemeindegebietsreform.75 Der Präsident des Sächsischen Landtags ließ den Antrag daran scheitern, dass seiner Ansicht nach ein Teil der eingereichten Unterschriften unwirksam war, sodass die notwendigen 40.000 Unterstützungsunterschriften nicht vorlagen.76 Hiergegen erwirkten die Initiatoren beim Sächsischen Verfassungsgerichtshof eine einstweilige Anordnung. Danach ist ein Volksantrag bis zur endgültigen Klärung seiner – auch formellen – Wirksamkeit als zulässig zu behandeln. D.h. der Streit hierüber darf die parlamentarische Behandlung und Beratung dieses Antrags nicht verzögern.77 In seinem Urteil anlässlich der Initiative „Pro kommunale Sparkassen“,78 die letztlich im Jahre 2001 zum ersten und bisher einzig erfolgreichen Volksentscheid führte,79 stellte der Sächsische Verfassungsgerichtshof fest, dass aufgrund der in der Verfassung angelegten Gleichrangigkeit von parlamentarischem und plebiszitärem Ge72 Dem Volk steht mit der Möglichkeit des Volksantrags sowohl das Gesetzinitiativrecht (Art. 71 Sächsische Verfassung) zu als auch das Recht, mittels Volksentscheid Gesetze zu beschließen (Art. 72 Abs. 2 Sächsische Verfassung). 73 Vgl. Übersicht bei Harald Baumann-Hasske, in: ders./Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Vorbemerkung vor Art. 70 Rn. 45 ff. 74 http://www.infoseiten.slpb.de/politik/sachsen/politische-ordnung/direkte-demokratie/ volksantrag-volksbegehren-volksentscheid/, Abruf vom 4. April 2012. 75 Volksantrag betreffend den „Entwurf eines Gesetzes über das Leitbild, die Leitlinien und die Durchführung der Gemeindegebietsreform im Freistaat Sachsen“. 76 Hiergegen erwirkten die Initiatoren beim Sächsischen Verfassungsgerichtshof zunächst eine einstweilige Anordnung, den Volksantrag vorläufig als zulässig zu behandeln: SächsVerfGH, Beschluss vom 25. Juni 1998 und – nach Durchführung des Widerspruchsverfahrens – Urteil vom 17. Juli 1998 – Vf. 27-X-98. 77 SächsVerfGH, Beschluss vom 25. Juni 1998 und Urteil vom 17. Juli 1998 – Vf. 27-X-98, Umdruck S. 6 f. 78 SächsVerfGH, Urteil vom 15. März 2001 – Vf. 59-X-00. 79 Vgl. Baumann-Hasske, in: ders./Kunzmann (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl. 2011, Vorbemerkung vor Art. 70 Rn. 52.

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setzgeber und der hieraus folgenden Chancengleichheit an das Volksgesetzgebungsverfahren keine unverhältnismäßigen formalen Anforderungen gestellt werden dürfen.80 Deshalb erklärte er u. a. einfachrechtliche Vorschriften, wonach nicht nur die Unterstützungsunterschriften für einen Volksantrag selbst, sondern auch sämtliche personenbezogenen Angaben des Unterstützers eigenhändig erfolgen müssen, für verfassungswidrig.81 Schließlich hatte der Verfassungsgerichtshof über die Zulässigkeit des Volksantrags „Zukunft braucht Schule“ zu entscheiden.82 Hier war der Landtagspräsident der Auffassung, der Antrag verstoße gegen Art. 73 Abs. 1 Sächsische Verfassung, wonach Initiativen der Volksgesetzgebung über Abgaben, Besoldungs- und Haushaltsgesetze nicht zulässig sind. Mit der vom Volksantrag verfolgten Herabsetzung der Mindestgröße von Klassen und des Klassenteilers werde in die Entscheidungsfreiheit des Landtags als Haushaltsgesetzgeber eingegriffen. Dem folgte der Verfassungsgerichtshof nicht. Es ist vielmehr das verfassungsrechtlich verbürgte Recht sowie der Sinn der Volksgesetzgebung, andere Prioritäten zu setzen als der parlamentarische Gesetzgeber. Dies hat selbstverständlich auch haushaltsrechtliche Konsequenzen. Damit liegt es in der Logik der Volksgesetzgebung, dass sie materielle Vorgaben für den Haushaltsgesetzgeber schafft; angesichts der finanziellen Folgewirkung nahezu aller Gesetze ist Volksgesetzgebung anders gar nicht denkbar.83 Unter Abgrenzung zu Entscheidungen anderer Landesverfassungsgerichte, die demgegenüber einen deutlich weiteren Begriff der Haushaltsgesetzgebung vertreten, hat der Sächsische Verfassungsgerichtshof hier ausdrücklich die Notwendigkeit einer eigenen Interpretation im Kontext der Sächsischen Verfassung betont.84 V. Schluss Damit komme ich – hoffentlich einigermaßen zeitgemäß – zum Ende meiner Ausführungen. Die große Anzahl der Verfahren und die Vielfalt der Themen, zu denen der Sächsische Verfassungsgerichtshof in den Jahren seines Bestehens Stellung nehmen musste, zeigen meiner Meinung nach zweierlei: Zum einen besteht bei den Akteuren des Verfassungslebens offenbar ein lebendiges Bewusstsein dafür, dass die Gewährleistungen dieser Verfassung in speziell hierfür geschaffenen Verfahren auch tatsächlich und effektiv durchgesetzt werden können. Zum anderen verfügt diese Verfassung auch nach 20 Jahren unveränderter Geltung über genügend Potenzial, um auch aktuelle Fragen zu beantworten, und ist in der Lage, den sich ständig wandelnden Anforderungen des Verfassungsalltags gerecht zu 80

SächsVerfGH, Urteil vom 15. März 2001 – Vf. 59-X-00, Umdruck S. 16 f. So der SächsVerfGH zu §§ 19, 5 Abs. 2 VVVG, Urteil vom 15. März 2001 – Vf. 59-X00, Umdruck S. 21 ff. 82 SächsVerfGH, Urteil vom 11. Juli 2002 – Vf. 91-VI-01, JbSächsOVG 10, 9. 83 SächsVerfGH, Urteil vom 11. Juli 2002 – Vf. 91-VI-01, JbSächsOVG 10, 9 (26). 84 SächsVerfGH, Urteil vom 11. Juli 2002 – Vf. 91-VI-01, JbSächsOVG 10, 9 (29 ff.). 81

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werden. Dem Verfassungsgeber ist es also offensichtlich gelungen, ein Werk von hoher systematischer Kraft85 zu schaffen. Dies verdient – auch und gerade aus der Sicht des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs – höchsten Respekt. Ich danke für Ihr Interesse.

85 Hans von Mangoldt, Sachsens Staatsaufbau und Verfassung, in: Hermann (Hrsg.): Sachsen seit der friedlichen Revolution. Tradition, Wandel, Perspektiven, 2010, S. 78 (92); ders., 20 Jahre Sächsische Verfassung, SächsVBl. 2012, S. 146 (146 ff, 152).

Teil D Von der Zukunft der Verfassung

Von der Zukunft der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992 Von Kurt Biedenkopf Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihr Schlusswort, Frau Präsidentin, hätte Prof. Di Fabio gut gefallen. Er sprach gestern auf einer Veranstaltung des Landtagspräsidenten zum 20-jährigen Jubiläum der Verfassung und hat ihr ein vorzügliches Zeugnis ausgestellt.1 Nicht nur, dass sie in den letzten 20 Jahren keine Veränderung hat erleiden müssen. Sondern auch, weil sie ein erstaunlich gutes und realistisches Verhältnis zwischen normativer Kontinuität und Realität des Lebens aufweist. Dass sie diese Lebendigkeit besitzt, verdanken wir dem Verfassungsgerichtshof. Die Verfassung ist so angelegt, dass zwischen ihr und dem Verfassungsgerichtshof ein inhaltlicher Dialog möglich ist. Er erlaubt Anpassungen der Verfassung an veränderte Lebensverhältnisse, ohne sie ändern zu müssen. Das ist in meinen Augen eine der großen Leistungen, die von unserer Verfassung erbracht werden. Sie zeigt pragmatische Lebensnähe, Offenheit für die Zukunft und trägt dem Bedürfnis nach Kontinuität Rechnung, ohne zu erstarren. Insofern bin ich, was die Zukunft der Verfassung angeht, zuversichtlich. Zu dieser Zukunft etwas zu sagen, ist nicht allzu schwierig. Denn die Prognose kann sich auf die Erfahrung stützen, die wir mit der Verfassung während der letzten rund 20 Jahre gemacht haben. Für einen Neubeginn ist dies ein ziemlich langer Zeitraum. Die ausführliche Judikatur unseres Verfassungsgerichtshofes macht die Lebendigkeit dieser Zeit ebenso deutlich wie den Suchprozess, der in dieser Zeit stattgefunden hat. Er führte nicht zu Veränderungsbedürfnissen, sondern zu inhaltlichen Weiterentwicklungen vorhandener Normen. Die erscheinen mir entscheidend. Wenn dieser Prozess fortgeführt werden kann – unbeschadet von Veränderungen, die der Verfassung von außen etwa durch Bundesrecht aufgezwungen werden, wie durch die so genannte Schuldenbremse – wenn er unabhängig davon kontinuierlich weiterentwickelt wird, dann wird unsere Verfassung wahrscheinlich eine der wenigen in Deutschland sein, in der sich die Kontinuität nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalt und ihrer Flexibilität nach im Verhältnis zur Realität bewährt. 1 Udo Di Fabio, Identität und Föderalität: Europas Wege aus der Krise, Festvortrag anlässlich des 20. Jahrestages der Sächsischen Verfassung am 5. Juni 2012 im Plenarsaal des Sächsischen Landtages, in: Sächsischer Landtag (Hrsg.): Dialog. Veranstaltungen des Sächsischen Landtages, Dresdner Gesprächskreise im Ständehaus, Heft 3, S. 16 (25 f.).

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Die Bundesverfassung jedenfalls ist aus diesem Wettbewerb längst ausgeschieden. Sie wurde inzwischen etwa 60-mal verändert; im Durchschnitt eine Veränderung pro Jahr. Hätte unsere Verfassung das gleiche Schicksal erlitten, hätten wir sie während der vergangenen 20 Jahre zwanzig Mal geändert – einmal pro Jahr. Dass das Gegenteil der Fall ist und die Verfassung gleichwohl außerordentlich lebendig und lebensnah blieb, verdanken wir dem Text und der Art und Weise, wie wir mit unserer Verfassung leben. Vor diesem Hintergrund möchte ich meinen Auftrag, über die Zukunft unserer Verfassung zu sprechen, etwas erweitern. Denn diese Zukunft wird auch beeinflusst werden durch Entwicklungen und Gefahren, die von außen auf sie zurückwirken können. Denn die Verfassung entwickelt sich – wie auch Sachsen selbst – innerhalb einer deutschen Föderation und zunehmend auch der rechtlich verdichteten europäischen Ordnung und ist deshalb nicht gänzlich unabhängig von den Veränderungen, die sich dort vollziehen. Eine gute Verfassung muss eine Reihe von Bedingungen erfüllen. Zu ihnen gehört die ständig neue Gewährleistung eines Grundkonsenses im staatlichen Gemeinwesen. Unser Freistaat wiederum ist keineswegs ein „neuer Bundesstaat“. In seinem Kernbereich ist er rund 1.000 Jahre alt. Tatsächlich sind Sachsen und Bayern die beiden ältesten Flächenländer in Deutschland. Auf die jahrtausendlange staatliche Verfasstheit des sächsischen Raumes hat bereits der damalige Bundespräsident von Weizsäcker bei seinem ersten Besuch in Sachsen im Jahr 1991 hingewiesen. Diese weit zurückweisende Geschichte des sächsischen Kernraums, der Wettiner Teilung und des Wiener Kongresses, gehört zu den entscheidenden Gründen für die Identitätsstärke dieses Raums. Es ist, wie Professor di Fabio gestern betonte, der Verfassung gelungen, diese Identität einzufangen. Mit ihren Mitteln und mit ihrer Zwecksetzung wurde sie zu einer zentralen staatlichen Institution, in der sich entwickeln und weiterwirken kann, was vor allem unmittelbar nach der Wiederentstehung des Freistaates Sachsen mit Händen zu greifen war: die enge Verbindung der Bevölkerung zu ihrem Land. Wie eng, konnte ich auch persönlich erfahren, als ich mich im September 1990 auf dem ersten, streng formal durchgeführten Parteitag der CDU als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten vorstellte und dann auch gewählt wurde. In meiner Antrittsrede versprach ich, Sachsen werde wieder Freistaat Sachsen heißen. Dafür bekam ich den meisten Beifall. Von da an war mir deutlich, welche Bedeutung die historische Identität des Landes hat. Die Verbindung von Norm und Lebenswirklichkeit ist eine zweite, in meinen Augen unverzichtbare Bedingung für eine auf lange Zeit angelegte Verfassung. In unserer Zeit ist es besonders schwierig, diese Verbindung zwischen Norm und Lebenswirklichkeit zu gewährleisten. Denn die Lebenswirklichkeit verändert sich mit einer unhistorischen Geschwindigkeit. Die Veränderungsprozesse entwickelten sich exponentiell insbesondere während der letzten 30, 40 Jahre. Das zeigt sich auch in der Staatsverschuldung. Stellt man ihren Verlauf in einer Grafik dar, erhält man

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eine zum Schluss fast senkrecht ansteigende Kurve: Ausdruck eines exponentiellen Verlaufs. Noch schneller verändern sich die Kommunikationswege und Kommunikationsmöglichkeiten. Wir erleben im politischen, gesellschaftlichen und privaten Raum die Entwicklung neuer Formen der Kommunikation mit einer Geschwindigkeit und mit Ergebnissen, die zwar eine breite Akzeptanz finden, in ihrer Bedeutung jedoch noch keineswegs einzuschätzen sind. Sie basieren fast ausschließlich auf dem System des Internets. Sie revolutionieren nicht nur unsere Lebensformen, sondern auch unseren politischen Prozess. Sie produzieren eine neue Realität. Von den Mitgliedern unserer Parlamente wird heute erwartet, dass sie jederzeit verfügbar und erreichbar sind – und umgehend antworten. Sie müssen damit rechnen, aus jedem Anlass Gegenstand eines Twitter- oder Internetsturms zu werden; Proteste oder Agitationsformen, gegen die sie im Grunde nichts unternehmen können, die aber zur neuen politischen Realität gehören. Realitäten, die das gesamte politische Leben beeinflussen können, an die jedoch noch vor 20 Jahren kein Mensch gedacht hat. Für alle, die ein politisches Amt ausüben, sind sie unausweichlich geworden. Aus den Diskussionen über den Schutz der Privatsphäre und den Schutz der Persönlichkeit wissen wir, wie ungewöhnlich schwierig es ist, solchen aufwallenden und dann wieder zusammenstürzenden, mehr emotionalen als rationalen Äußerungen im Internet angemessen zu begegnen – zudem sie häufig auf anonymen Aktionen beruhen. Alle die Veränderungen berühren auch die Verfassungswirklichkeit. Es wird deshalb auch in Zukunft eine große Aufgabe sein, diese Verfassungswirklichkeit mit den Mitteln unserer Verfassung – ohne ständige Anpassung an die Veränderungen, sondern unter Beibehaltung ihrer Kontinuität – zu bewältigen. Eines der Beispiele, wo dies, wie ich glaube, sehr eindrucksvoll gelungen ist, ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Ableitung des Anspruchs auf Grundsicherung aus der Würde des Menschen. Nicht die Freiheit oder der Sozialauftrag des Staates, der weitläufige Interpretationen zulässt, sondern die Würde des Menschen verlangt eine Grundsicherung, die insoweit an der „Ewigkeitsgarantie“ des Artikels 1 des Grundgesetzes teilhat. Die Entscheidung hat mich beeindruckt. Sie bezieht sich zwar auf die Bundesebene. Im Prinzip ist sie jedoch auch für die Verfassungen der Länder bindend. Die Verfassung als normative Grundlage des Gemeinwesens als Grundlage der staatlichen Ordnung, aber auch als Ausdruck eines Grundkonsenses in der Bevölkerung innerhalb eines Staates über dessen Ziele sind ebenfalls Bedingungen, die die Verfassung erfüllen muss. Das geschieht in und mit unserer Verfassung. Einzelheiten brauche ich jetzt nicht mehr vorzutragen. Aber eindrucksvoll war es schon – Herr Heitmann wird sich erinnern –, wie es gelang, die zahlreichen Debatten und konkurrierenden Vorstellungen, was alles in einer Verfassung als Zielvorstellung enthalten sein kann, zusammenzuführen, ohne den Eindruck zu erwecken, die Verfassung diene eher der Erfüllung von Wünschen denn als Grundlage unseres Gemeinwesens.

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Krisen wecken häufig die Forderung, die Verfassung an die veränderte Wirklichkeit anzupassen. Auch dafür bietet das Grundgesetz Beispiele. Eine gute Verfassung kann jedoch mit Krisen fertig werden, ohne sich zu ändern. Unsere Verfassung sollte jedenfalls an diesem entscheidenden Grundsatz festhalten. Wir müssen sicherstellen, dass mit der Verfassung ein Normengebäude gestaltet und langfristig anlegt wird, mit dem ein staatlich verfasstes Gemeinwesen auch im Umbruch fertig werden kann. In Sachsen ist uns das wohl unter dem Eindruck der Umbruchssituation bereits gelungen. Gerade deshalb ist es wichtig, auf die Regelungen von Einzelheiten, die aus der Tagespolitik oder kurzfristigen Erfahrungen erwachsen, zu verzichten. Zu den tiefgreifenden Veränderungen, denen sich unsere Verfassung auch in Zukunft gegenübersehen wird, gehört die Veränderung der Rechtsordnung in Europa. Dabei fahren die Verfassungen der Länder wiederum wesentlich besser als die Verfassung des Bundes. Es wird sich zeigen, dass die Bedeutung der Länder – und in anderen Staaten der Regionen – mit der weiteren Entwicklung der politischen Integration Europas zunehmen wird, statt sich zu verringern. Anders als nach weitverbreiteter Überzeugung wird die Macht in der gelebten Wirklichkeit nicht immer weiter nach oben steigen, um sich am Ende in konzentrierter Form in den europäischen Institutionen wieder zu finden. Vielmehr werden zahlreiche Wechselbeziehungen zwischen den europäischen Institutionen und den regionalen Identitäten entstehen und sich entwickeln müssen, wenn die Konsensfähigkeit und der Zusammenhalt Europas nicht überfordert werden sollen. Vor einer derartigen Überforderung zu warnen, ist angesichts der Tatsache, dass Nationen mit Regionen auch innerhalb Europas schon länger in Konkurrenz stehen, keineswegs abwegig. Vergleichen wir die kleineren Länder, die zahlenmäßig die Mehrheit bilden, mit den größeren und bedenken dabei die Regionalbewegungen in Spanien, Italien oder Frankreich, dann erkennen wir, dass sich überall dort, wo sich derzeit die Macht, die Zuständigkeiten und die Kompetenzen zunehmend in Europa selbst konzentrieren, der Geist der regionalen Identitäten meldet und Mitwirkungsrechte beansprucht. In Sachsen brauchen wir diesen Geist nicht zu wecken. Er meldet sich aber auch in Bayern, in Baden-Württemberg, in Schleswig-Holstein oder in den Hansestädten. Die Verfassungen dieser Regionen werden ein wichtiger Stabilitätsfaktor, man kann auch sagen, Stabilitätsanker sein. Warum nun bemühen wir uns, unsere Verfassungen nicht dauernd zu ändern? Weil dies ihre Kontinuität und damit in einem gewissen Umfang auch die von ihr erwartete Rechtssicherheit gefährden könnte. Das gilt vor allem dann, wenn die Eingriffe Dauerhaftigkeit beanspruchen, ihrem Charakter nach aber nicht dauerhaft sein können. Die so genannte Schuldenbremse bietet dafür ein gutes Beispiel. Sie haben heute Morgen bereits darüber diskutiert. In Wirklichkeit handelt es sich bei der Schuldenbremse um das Eingeständnis der Unfähigkeit des Parlaments, sich zu begrenzen. Es sei denn, es verpflichtet sich mit Zwei-Drittel-Mehrheit zur Begrenzung. Wobei uns die Geschichte der Schuldenbremse im Grundgesetz lehrt, dass selbst eine verfassungsrechtliche Begrenzung umgangen werden kann – und in Fällen, die das Parla-

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ment als Notfälle einstuft, auch umgangen wird. Daran ist die erste Schuldenbremse vergleichsweise schnell gescheitert. Wir berühren damit ein grundsätzliches Problem unserer demokratischen Ordnung und ihrer Verfassung. Betrachten wir die Entwicklung der Bundesrepublik seit Anfang der 1960-er Jahre, dann können wir feststellen, dass den Verantwortlichen die Notwendigkeit fiskalischer Begrenzung bis zur ersten großen Koalition 1967 durchaus bewusst war. Bis dahin waren die Haushalte des Bundes im Wesentlichen stabil. Die erste große Koalition brachte eine Wende. Sie veränderte einen noch von Erhard eingebrachten Gesetzesentwurf. Erhard wollte mit Hilfe seines Gesetzes zur Bewältigung der wirtschaftlichen und der Stabilitätsprobleme beitragen. Der Wirtschaftsminister der großen Koalition, Karl Schiller, änderte Erhards Stabilitätskonzept. Er ergänzte die Zielvorgaben des Gesetzes durch den Zusatz „bei angemessenem Wirtschaftswachstum“. Erhard war entsetzt. Man könne, argumentierte er, Wirtschaftswachstum nicht zu einem politischen Ziel erklären. Es sei das Ergebnis guten Wirtschaftens, nicht seine Voraussetzung. Als Folge dieser Richtungsänderung setzte sich die Überzeugung durch, man könne in der Demokratie nur unter Bedingungen einer ständigen Expansion des Bruttoinlandprodukts erfolgreich regieren. Anlässlich des sogenannten G-7-Treffens in Bonn 1998 – Helmut Schmidt war Bundeskanzler – stellten die Teilnehmer in ihrem Abschlusskommunique übereinstimmend fest, ein ständiges Wirtschaftswachstum sei Voraussetzung dafür, dass sie die Erwartungen ihrer Bevölkerung an die Demokratie erfüllen könnten. Sie erklärten, mit anderen Worten, die ständige Expansion des Bruttoinlandprodukts zur conditio sine qua non einer erfolgreich regierten Demokratie. Regierungserklärungen nach Regierungserklärungen, Parteitage nach Parteitagen, in Deutschland, in Europa, praktisch in der westlichen Welt schreiben seitdem die Wachstumsbedingung fest. Anfang des 21. Jahrhunderts nahm ein CDU-Parteitag in seine Grundsätze die Formel auf: „Wachstum ist zwar nicht alles, aber ohne Wachstum ist alles nichts“; eine für eine konservative Partei erstaunliche Reduktion der Politik auf die Ökonomie. Sozialdemokraten und Freie Demokraten sahen es nicht anders. Selbst die Grünen übernahmen, was sich inzwischen zu einem Wachstumsdogma verdichtet hat. Viele Gründe lassen sich für diesen Wandel zu einer ständig zunehmenden Ökonomisierung aller politischen Sachverhalte benennen. Ein Grund muss uns dann besonders interessieren, wenn wir von Begrenzungen, der Schuldenbremse und ihrer Funktionsweise sprechen: bei einer ständigen Vermehrung des Bruttoinlandprodukts ist Regieren einfacher. Man vermeidet die politischen Kosten, die damit verbunden sind, bei gleich bleibenden Ressourcen bestehende Prioritäten zu verändern. Es ist, wie wir auch in Sachsen gelernt haben, wesentlich schwieriger, in einem Haushalt, der nicht mit Expansion rechnen kann, neue Prioritäten zu setzen. Es ist leichter, be-

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stehende Prioritäten zu respektieren und die notwendigen neuen aus dem Zuwachs des Bruttoinlandprodukts zu befriedigen. Kaum ein Abgeordneter wird bestreiten, dass es für ihn oder sie einfacher ist, den Wählern etwas zu versprechen, wenn man ihnen nicht gleichzeitig erklären muss, welche bisherigen Prioritäten dafür zurücktreten müssen. Denn immer wird es Wähler geben, die dagegen sind, dass gerade ihre Priorität zurücktreten soll. Da es in einer pluralistischen Welt keine Mehrheiten mehr für eine bestimmte Priorität gibt, sondern eine Gemengelage an Prioritäten herrscht, kann im Grunde genommen kein Abgeordneter wirklich zuverlässig voraussagen, wann er mit einer Mehrheit rechnen kann, wenn er sich für oder gegen die eine oder andere unter den bestehenden Prioritäten und Besitzständen entscheidet. Deshalb die Überzeugung, ohne ständigen Zuwachs des Verteilbaren seien die politischen Kosten des Regierens zu hoch. Vor diesem Hintergrund wird der Versuch verständlich, einen Kompromiss zwischen dem Ziel der Schuldenbremse, der Stabilität im fiskalischen Sinne und dem Wachstumsziel herzustellen. Aber worauf man sich bisher nicht hat einigen können, ist der Maßstab: was wachsen soll und wie man das messen kann. Deshalb landet man immer wieder beim Bruttoinlandprodukt: als Ausdruck des Fortschritts des Staates und der Gesellschaft. Im Grunde erscheint es dabei gleichgültig, ob dieser Fortschritt durch übermäßigen Ressourcenverzehr oder durch eine innovative Weiterentwicklung des Gemeinwesens erreicht wird. Oder anders gewendet: ob der Fortschritt durch zusätzliche Staatsverschuldung zur Förderung des Wachstums oder durch Verbesserung bestehender Strukturen erzielt wird. Darum geht es letztlich auch bei der Schuldenkrise. Nach all dem wird deutlich, wie groß in der Realität die Schwierigkeiten sein werden, die sich das Grundgesetz mit seinen Bestimmungen zur Schuldenbremse eingehandelt hat. So ist es erstaunlich, in einer Verfassung Prozentzahlen zu finden, von denen man weiß, dass sie sich ständig ändern können, also keinen längeren Bestand haben werden. Aber nicht genug damit. Die Verfassung legt sich auf eine konkrete Zahl, 1,5 Prozent, fest. Dies wiederum im Zusammenhang mit einer Einrichtung, in der die Überschreitungen der Verschuldungsgrenze angesammelt werden sollen. Auch dieses Konto wiederum darf 1,5 Prozent Neuverschuldung nicht übersteigen. Eine völlig unrealistische Vorschrift ist dies schon deshalb, weil die Aufgaben, vor denen wir stehen, offensichtlich weit größere öffentliche Ausgaben erfordern werden. Zu ihnen gehört die Energiewende. Sie wurde vor einem guten Jahr eingeleitet. Die Zweifel, die sie inzwischen ausgelöst hat, nehmen exponentiell zu. Das bedeutet nicht, dass die Wende nicht gelingen kann. Es zeigt vielmehr, dass wir nicht genau wissen, wie sie gelingen kann. Aber niemand zweifelt daran, dass die Energiewende mit enormen zusätzlichen Belastungen der öffentlichen Haushalte verbunden sein wird. So werden die durch die Photovoltaiksubvention zugesagten Entgelte für die in das öffentliche Netz eingeleitete Energie schon heute nach feststehenden und nicht mehr veränderbaren vertraglichen Regelungen etwa 100 Mrd. Euro in Anspruch nehmen. Die müssen zwar von den Stromverbrauchern gezahlt werden –

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und lösen deshalb nun Forderungen nach der Subvention zahlreicher Verbrauchergruppen aus. Das heißt, mehr als das Doppelte der Zinslast der Bundesrepublik Deutschland in einem Jahr. Entscheidungen werden getroffen, die in keiner erkennbaren Relation zu dem mit der Schuldenbremse angestrebten Ziel stehen. Und das wird auch so bleiben. Das heißt, wir müssen Ausnahmen zulassen, natürlich unter Aufrechterhaltung des Prinzips. Nun sind hier genug Sachkundige, die wissen, was Juristen meinen, wenn sie von „grundsätzlich“ sprechen. Sie meinen damit eine Regel, die gegen Ausnahmen keinen besonderen Widerstand leistet. So war auch die ursprüngliche Schuldenbremse des Art. 115 Grundgesetz, der erste Versuch einer parlamentarischen Selbstbegrenzung, nicht besonders erfolgreich. Schulden durften danach nur für Investitionen gemacht werden, es sei denn zur Überwindung einer nachhaltigen Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Das hat den Bundestag nicht daran gehindert, in einem Jahr trotz zwei Prozent Zuwachs des Bruttoinlandprodukts eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beschließen und damit eine höhere Verschuldung zu gestatten. So stieg die Verschuldung von Ausrede zu Ausrede ständig weiter. Bis niemand mehr den Art. 115 Grundgesetz ernst nahm. Auch heute stehen wir wieder vor der gleichen Frage. Wieder gibt es eine Lücke: die konjunkturelle Entwicklung. Wenn sie eine Förderung der industriellen oder wirtschaftlichen Entwicklung erfordert, darf diese Förderung durch Schulden finanziert werden. Läuft die Konjunktur wieder, soll aus den Mehreinnahmen die Schuld wieder abgetragen werden. Nur lehrt mich meine politische Erfahrung: wenn die Konjunktur gut läuft, wollen alle am Zuwachs beteiligt werden, keineswegs nur der Staat. Denn nach dem Konjunkturtal ist der Appetit nicht nur der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände sondern des ganzen konsumierenden Publikums geweckt. Das Geld soll ausgegeben werden, um die Konjunktur zu stabilisieren. Wir alle werden geradezu dazu aufgefordert zu konsumieren und sich möglichst auch noch privat zu verschulden, damit sich das Wachstum stabilisiert. Wie das funktionieren soll, ist offen. Darüber kann man sich stundenlang unterhalten. Hier geht es um die Frage: was bedeutet es für die Verfassung, wenn in sie eine Vorschrift zu einer zentralen Frage aufgenommen und mit großer Gründlichkeit und vielen Einzelheiten gestaltet wird, sich aber nach kurzer Zeit herausstellt, dass die Sache nicht funktioniert oder – was noch schlimmer ist – dass man die Vorschrift umgehen muss. Wir stehen damit vor dem gleichen Problem wie gegenwärtig die europäischen Verfassung und die Verträge zur Währungsunion. Man hat auch hier den Versuch unternommen, ein bisher noch nie erprobtes und deshalb ohne jede Erfahrung gestaltetes Projekt bis ins Detail zu regeln. Das Ergebnis hat keine zehn Jahre gehalten. Inzwischen werden Vertragsverletzungen durch Umgehung als politisch vernünftig angesehen. Das heißt aber auch: aus Sicht der politischen Vernunft findet eine Umkehr der Beweislast statt. Wer sich auf den Vertrag beruft, muss beweisen, dass die Umgehung nicht zulässig ist. Sind alle Beteiligten einschließlich der Euro-

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päischen Zentralbank der Meinung, die Umgehung sei unverzichtbar und sollte deshalb nicht als Umgehung gelten, dann ist diese Beweisführung schwierig. Denn die durch politische Vernunft diktierten Maßnahmen gelten als alternativlos. Diese Situation bringt auch das Bundesverfassungsgericht in Schwierigkeiten. Was bedeutet das für die Verfassung? Ihre Autorität geht verloren. Die Autorität, die sie daraus bezieht, dass sie Begrenzungen setzt und dass sie an diesen Begrenzungen auch festhält, es sei denn, sie werden durch eine Zwei-Drittel-Mehrheit aufgehoben. Das ist nicht nur ein juristisches Problem. Wir haben es zugleich mit einem Problem der politischen Kultur zu tun; einem Problem von eminenter Bedeutung. In einer säkularen Gesellschaft gibt es keine metaphysische Instanz, an die man glaubt und durch deren Autorität man Halt finden kann. Das heißt, es gibt keine Instanz, über die Menschen nicht verfügen können; keine Macht, die wirksame Bindungen und Begrenzungen setzen und ihre Verletzung bestrafen kann. Unsere säkulare Gesellschaft muss deshalb die für ihre dauernde Lebensfähigkeit notwendigen Begrenzungsleistungen selbst erbringen. Darum geht es – auch bei der Schuldenbremse. Wir müssen uns selbst durch unsere Institutionen begrenzen. Bei dieser Aufgabe können wir uns nur sehr begrenzt auf historische Erfahrungen stützen. Denn es ist erst rund 250 Jahre her, dass wir Europäer glaubten, die Begrenzungen durch die Natur mit Hilfe unseres Geistes und der Wissenschaft überwinden zu können. Einerseits zu unserem großen Glück, andererseits verbunden mit einer hohen Steigerung unserer Verantwortung. Inzwischen lernen wir, dass wir einer Illusion zum Opfer gefallen sind. Die Natur begrenzt uns noch immer und umso nachhaltiger, je weniger wir der gestiegenen Verantwortung gerecht wurden und werden. Wir stehen vor der Schwierigkeit, Begrenzungen durchzusetzen, und der Notwendigkeit, die Verantwortlichkeit zu mobilisieren, die uns aus unserer vermeintlichen Freiheit von natürlichen Begrenzungen erwächst. Und dies bei sich ständig beschleunigenden Veränderungen unserer Lebenswelt. In der säkularen Welt ist die Verfassung unsere Instanz der Begrenzung! In ihr verkörpert sich der Grundsatz, dass jede Macht dem Recht unterworfen ist. Unsere Verfassung ist die Hüterin des Rechts. Deshalb darf sie keine Auswege aus ihren Grenzen zulassen. Konkret: Entweder sind wir der Meinung, es sei in unsere parlamentarische Verantwortung gegeben, uns selbst zu begrenzen. Dann kommen wir auch ohne eine Zwei-Drittel-Bindung aus. Oder wir halten es für erforderlich, dass wir mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit eine Begrenzung in der Verfassung festschreiben. Dann muss diese Bindung auch unter Krisenbedingungen irreversibel bleiben. Schreiben wir jedoch die Begrenzungen erst einmal fest, um sie dann, wenn die Krise zu groß erscheint, ein wenig zu lockern, weil wir glauben, „den Leuten draußen“ nicht mehr erklären zu können, warum jetzt so viel mehr auf sie zukommt, dann werden wir früher oder später den säkularen Boden unter den Füssen verlieren. Die Menschen merken schon heute, dass dieser Boden schwankt. Die Lockerungsübungen sind längst im Gange. Sie relativieren die Begrenzungen und sie schwächen die Autorität des Rechts. Das gilt für weite Teile Europas. Dort

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sind die kritischen Blicke vor allem auf Deutschland gerichtet. Man hält uns immer noch für diejenigen, die sich am ehesten begrenzen können. Aber man sieht dies eher als Verweigerung, für deren Berechtigung wir beweispflichtig sind. Und der Druck wird größer. Ich bin nicht sicher, ob wir klug beraten sind, wenn wir jetzt die Einführung einer Schuldenbremse, die wir offenbar für außerordentlich leistungsfähig halten, auch von allen anderen europäischen Ländern verlangen. Denn realistisch gesehen müssen wir annehmen, dass ein wesentlicher Teil der Staaten zwar eine Schuldenbremse in ihre Verfassungen schreiben wird, auch einer Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof zustimmt, aber ebenso fest davon ausgeht, dass beides ohne Konsequenzen bleiben wird. Sehen wir einmal von den Änderungen in unserer Verfassung ab, die durch die Schuldenbremse des Grundgesetzes im Bund-Länder-Verhältnis geboten sind. Auch weil wir in den vergangenen Jahren ohne eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Bindung in der Lage waren, die gebotenen Haushaltsbegrenzungen einzuhalten. So bleibt es gleichwohl ein zentrales Gebot, darauf zu achten, dass die Klarheit der Verfassung, aus der sie einen Teil ihrer Autorität bezieht, in ihrem Wert und ihrer Autorität nicht durch eine Fülle von Detailregelungen gefährdet wird, die eher einer Tagessituation geschuldet sind als einer langfristig mit normativer Kraft ausgestatteten Überzeugung. Mir kommt es dabei vor allen Dingen auf die Frage nach der Fähigkeit der Demokratie zur Selbstbindung an. Wenn wir über Verfassungen weiter nachdenken, müssen wir uns deshalb auch fragen, wie wir mit den Begriffen umgehen wollen, die in detaillierten Normen Anwendung finden, durch sie Normenqualität erhalten und damit rechtlich relevant werden. Was zum Beispiel ist in diesem Zusammenhang eine Rezession? Wie sollte die Präsidentin unseres Verfassungsgerichtshof die Feststellung bewerten „Wir haben eine Rezession und deshalb darf die Schuldenbremse nicht angewendet werden“? Nach der Diktion der Bundesverfassung wäre das ein berechtigtes Argument. Es wäre für den Freistaat zu einfach zu antworten, bei uns spiele das keine Rolle. Denn juristisch lässt sich eine Antwort schon deshalb kaum begründen, weil kein Jurist wirklich weiß, was normativ unter einer Rezession zu verstehen ist. Deshalb hilft man sich in der Bundesverfassung mit der Feststellung: wenn das Wachstum in zwei aufeinander folgenden Vierteljahren negativ ist, befindet sich die Wirtschaft in einer Rezession. Kann eine derartige Definition normative Autorität erwarten? Nehmen wir an, der Rückgang des Bruttoinlandprodukts liegt nicht darin begründet, dass die Bevölkerung weniger kauft, sondern dass sie mit den vorhandenen Ressourcen vorsichtiger umgeht – ein außerordentlich erwünschtes Verhalten. Man verbraucht weniger Energie, fährt weniger Auto, nutzt die vorhandenen Autos länger, steigt auf das Fahrrad um und investiert deshalb weniger. Als Folge sinkt das Bruttoinlandprodukt. Dauert die Verhaltensänderung der Bevölkerung längere Zeit an, sinkt es vielleicht auch noch im nächsten und übernächsten Quartal.

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Wäre es zulässig, deshalb von einer Rezession zu sprechen, die es rechtfertigt, die „Konjunkturflaute“ durch weitere Staatsverschuldung und durch öffentliche Aufträge zu überwinden, die auch noch warten könnten? Derartige Maßnahmen haben noch nie zu nachhaltigen konjunkturellen Belebungen geführt. Sie lassen jedoch die Schuldentürme und damit die Zinslast der öffentlichen Hände – und vielfach auch der Privathaushalte – immer weiter wachsen. Oder wann befinden wir uns – normativ gesehen – in einer Krise? Ist die Energiekrise deshalb eine Krise, weil wir noch nicht wissen, wie wir sie lösen können? Oder ist sie eine Herausforderung, für die wir uns anstrengen müssen und die durch Schuldenmachen nicht bestanden werden kann? Wer von Krise redet, blickt in der Regel auf den Staat und erwartet von ihm Hilfe. Aber kann sich diese Erwartung auf eine gesetzliche, vielleicht sogar eine verfassungsrechtliche Norm stützen? Die Älteren unter uns Juristen werden sich noch an die Diskussionen über die Problematik „unbestimmter Rechtsbegriffe“ erinnern. In unserem Recht wimmelt es von derartigen Begriffen. Deshalb die wachsende Flut interpretierender und klärender Verordnungen und Erlasse. Die jedoch kommen wiederum nicht ohne unbestimmte Rechtsbegriffe aus. In beidem begegnen wir den Folgen einer zunehmend interventionistischen Regierungspraxis. Lassen wir es zu, dass diese Begriffe auch in unseren Verfassungen heimisch werden, werden wir auf Dauer ihre Autorität und ihre Konsens erhaltende Bedeutung zerstören. Im Bereich des europäischen Rechts ist dieser Autoritätsabbau bereits in vollem Gange. Unsere Bundesverfassung ist infiziert. So bewegen wir uns aus einem gesicherten Raum des Rechts, das die Macht bindet, in einen Raum, in dem die Macht sich mit der Beliebigkeit der Interpretation von Normen Freiräume schafft, die keine Verfassung wirksam begrenzen kann. Soweit es sich um wirtschaftsrechtlich und -politisch relevante Begriffe handelt, liefern uns auch die einschlägigen Wissenschaften keine belastbaren Antworten mehr. Die Finanzkrise und die nachfolgende Eurokrise haben unter den Nationalökonomen – einschließlich ihrer Nobelpreisträger – heftige Auseinandersetzungen über Wachstum und Stabilität ausgelöst. Der lange gültige Grundkonsens ist weitgehend dahin. Politiker und Juristen finden selbst bei hoch angesehenen Fachleuten keine Sicherheit mehr. Denn in der Zunft streitet man sich wie die Kesselflicker über die Begriffe und ihre Bedeutung für die Wirklichkeit, in der wir heute leben, und über die bisherigen Lehren und ihre Relevanz für die neue Wirklichkeit. Zurück zur Verfassung. Lassen Sie uns unsere Verfassung vor Antworten auf Probleme schützen, die interventionistischen Charakter haben. Die auf bestimmte konkrete Sachverhalte zielen in der Hoffnung, mit dieser Intervention eine Ordnung zu erzielen. Meine erste Begegnung mit Verfassungsfragen war 1956. Als junger Assistent an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zu Frankfurt schrieb ich einen Aufsatz über das Verhältnis von Wirtschaftsmacht und Recht. Es ging uns damals um die Drittwirkung der Grundrechte. Streng juristisch war der Begriff nicht zutreffend.

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Dass jedoch Wirtschaftsmacht fähig war, die Freiheit in einem verfassungsrechtlich relevanten Umfang zu beschränken, war offensichtlich. Die überkommene deutsche Wirtschaftstradition war die der Kartelle. Die Älteren wollten an sie anknüpfen. Sie bekämpften das neue Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung mit der Behauptung, dass Verbot von Kartellen sei verfassungswidrig, weil es die Freiheit der Kartellmitglieder einschränke. Sie fanden dafür angesehene Wissenschaftler als Gutachter. Erhard hatte mit seinem Gesetzesvorhaben keinen leichten Stand – auch nicht in der damaligen CDU. Wir jüngeren Juristen setzten uns für ihn ein. Wir waren überzeugt, dass Kartelle die Freiheit und damit auch ihre verfassungsrechtliche Garantie gefährden. Der Konflikt zwischen Macht und Freiheit ist bis heute aktuell geblieben. Er erscheint in den unterschiedlichsten Gewändern. Er muss immer neu zugunsten der Freiheit entschieden werden. Die Verfassung entscheidet sich für die Freiheit. Wenn wir ihr diese Fähigkeit erhalten wollen, dann müssen wir darauf achten, dass sie nicht an anderer Stelle durch interventionistische tages- oder gegenwartsbezogene Problemlösungen gefährdet wird. Denn derartige Regelungen sind in der Regel nach einer am Gültigkeitsanspruch der Verfassung gemessenen kurzen Zeit entweder unbrauchbar oder sie laufen leer. Die Verfassung unseres Freistaates Sachsen haben wir in den 20 Jahren ihrer Gültigkeit vor dieser Gefahr bewahrt. Bei ihr fühle ich mich deshalb auch über meine Zeit, die Zeit meiner Kinder und die Zeit der Enkel hinaus gut aufgehoben.

Autorenverzeichnis Johannes Beermann, Staatsminister, Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Promotion an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Chef der Sächsischen Staatskanzlei. Kurt Hans Biedenkopf, Ministerpräsident a.D., Prof. Dr. iur. Dr. h.c. mult., LL.M. (Georgetown University, Washington, D.C.), Studium der Politikwissenschaft am Davidson College (USA), Studium der Rechtswissenschaften und der Nationalökonomie in München, Promotion ebenda, Master Of Law (LL.M.) an der Georgetown University, Washington D.C. (USA), Habilitation an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Inhaber der Forschungsprofessur für Sozialforschung am Wissenschaftszentrum Berlin. Thomas Fetzer, Prof. Dr. iur., LL.M, Studium der Rechtswissenschaft und Promotion an der Universität Mannheim, Master of Law (LL.M.) an der Vanderbilt University (USA), Habilitation an der Universität Mannheim. Bis 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Steuerrecht und Wirtschaftsrecht an der Technischen Universität Dresden, seitdem Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Steuerrecht an der Fakultät für Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre der Universität Mannheim. Helmut Goerlich, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft, Philosophie und Geschichte an den Universitäten Frankfurt am Main und Hamburg, Promotion Universität Hamburg, Habilitation an der Universität Hannover. Bis zur Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Verfassungsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Universität Leipzig. Steffen Heitmann, Staatsminister a.D., Dr. h.c., Studium der Theologie und Altphilologie an der Universität Leipzig, anschließend Absolvierung einer kirchenjuristische Ausbildung. Nach Tätigkeiten als Pfarrvikar und Pfarrer der Evangelischen Studentengemeinde Dresden und Referent im Ausbildungsdezernat im Evangelisch-Lutherischen Landeskirchenamt Sachsen Übernahme der Leitung des Bezirkskirchenamtes Dresden, zuletzt als Oberkirchenrat. Juristische Beratung der Dresdner Oppositionsgruppe „Gruppe der 20“, hernach Leitung der Arbeitsgruppe für den Gohrischen Entwurf einer Verfassung des Freistaates Sachsen. Von 1990 bis 2000 Sächsischer Staatsminister der Justiz, von 1994 bis 2009 Mitglied des Sächsischen Landtages. Birgit Munz, Studium der Rechtswissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Vizepräsidentin des Oberlandesgerichts Dresden, Vorsitzende des Dienstgerichtshofs für Richter sowie Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen. Thilo Rensmann, Prof. Dr. iur., LL.M., Studium der Rechtswissenschaft an der FriedrichWilhelms-Universität Bonn und an der University of Virginia School of Law, Promotion und Habilitation an der Universität Bonn. Inhaber des Lehrstuhls für Völkerrecht, Europarecht

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Autorenverzeichnis

und Öffentliches Recht sowie Leiter der Forschungsstellen „Vereinte Nationen“ und „Internationales Wirtschaftsrecht“ an der TU Dresden. Jochen Rozek, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft, Promotion und Habilitation an der Universität Passau. Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Verfassungsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Universität Leipzig sowie stellvertretendes Mitglied des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes. Torsten Schmidt, Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft sowie Promotion an der Universität Leipzig. Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Lehrbeauftragter für Öffentliches Recht an der Juristenfakultät und der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Arnd Uhle, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Promotion und Habilitation an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere für Staatsrecht und Staatswissenschaften sowie Leiter der Forschungsstelle „Recht und Religion“ an der Technischen Universität Dresden. Prodekan der dortigen Juristischen Fakultät.