Verdummt noch mal! Dumbing Us Down. Der unsichtbare Lehrplan. Was Kinder in der Schule wirklich lernen [1 ed.] 9783934719, 9783934719354

John Taylor Gatto wurde mehrfach zum 'Lehrer des Jahres' New York gekrönt und mit Preisen für seinen außergewö

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Verdummt noch mal! Dumbing Us Down. Der unsichtbare Lehrplan. Was Kinder in der Schule wirklich lernen [1 ed.]
 9783934719, 9783934719354

Table of contents :
Vorwort zur deutschen Erstausgabe
Anmerkung der deutschen Herausgeberin
Über den Autor
Die sieben Lektionen des Lehrers
Die psychopathische Schule
Der grüne Fluss Monongahela
Wir brauchen weniger Schule, nicht mehr
Das Prinzip der Selbstverwaltung
Der Anfang einer Lösung für unser Schulproblem
Nachwort
Für die Ausgabe zum zehnjährigen Jubiläum
Postscript
Anhang
Vorwort zur Jubiläumsausgabe
»Zehn Jahre Dumbing Us Down«
Einführung
Anmerkung des Herausgebers zur Ersten Ausgabe
Anmerkungen

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John Taylor Gatto

Verdummt noch mal! DL1mbing Us Down Der unsichtbare Lehrplan oder Was Kinder in der Schule wirklich lernen

Mit einem Vorwort von Vera F. Birkenbihl Deutsch von Dagmar Neubronner

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Vorwort zur deutschen Erstausgabe ........................ 7 Anmerkung der deutschen Herausgeberin ................... 9 Über den Autor ....................................... 11 Die sieben Lektionen des Lehrers .......................... 17 Die psychopathische Schule .............................. 34 Der grüne Fluss Monongahela ............................ 46 Wir brauchen weniger Schule, nicht mehr ................... 55 Das Prinzip der Selbstverwaltung. Der Anfang einer Lösung für unser Schulproblem .............. 78 Nachwort Für die Ausgabe zum zehnjährigen Jubiläum .............. 97 Postscript .........................................105 Anhang Vorwort zur Jubiläumsausgabe »Zehn Jahre Dumbing Us Down« ......................107 Einführung .......................................111 Anmerkung des Herausgebers zur Ersten Ausgabe .........122 Anmerkungen .........................................124

VO刀圀ORT ZUR DEUTSCHEN ERSTAUSGABE Von Vera F Birkenbih/, Autorin von>> Trotzdem lehren« und »Stroh im Kop昀㼀«

Als ich in einem Vortrag unter anderem die berühmten sieben »Gatto­ Lektionen« (Kapitel 1) präsentierte, verteilten wir vorher »Kotztüten« (wie im Flugzeug) nach dem Motto: Es könnte einem schlecht werden, wenn man begreift, wie Regelschulen die Lernfähigkeit unserer Kinder syste­ matisch untergraben. GATTO bringt die Dinge auf den Punkt. Da er Werbefachmann war, ehe er Lehrer wurde, begriff er die »Machenschaf­ ten« aus einer anderen Warte als Lehrer, die von der Schule in den Hör­ saal und dann zurück in die Schule gehen. Viele von ihnen haben das reale Leben »draußen« gar nie wirklich kennen gelernt. Und da man ihnen im Studium einredet, die teilweise menschenverachtenden Maß­ nahmen, die sie als Schülerinnen erlebt hatten, seien pädagogisch wert­ voll, werden sie vollends indoktriniert, und dann gilt das Jesus-Wort auch für sie (denn sie wissen nicht, was sie tun). Natürlich gibt es inzwischen auch Schulen, an denen alles anders ist. Mit diesem Buch werden Sie - in der Rolle als Eltern - solche Schulen bes­ ser erkennen können, auf dass Sie allabendlich DANKBAR sein mögen, wenn Ihre Kinder in den Genuss dieser kommen können! Manchmal fin­ det man an "normalen" Schulen auch Lehrkräfte, die rebellieren, aber sie werden im System oft ausgegrenzt und fertiggemacht (und gehen dann in die Erwachsenen-Bildung), - von den Lehrern, die GATTO meint; jenen, die überhaupt nicht begreifen, was sie da tun. Wer jetzt denkt, dieses Buch wende sich ausschließlich an Nicht-Leh­ rerinnen (z.B. Eltern u.a. Interessierte), der irrt. Ich weiß aus unseren Lehrer-Seminaren, dass es immer mehr Lehrkräfte gibt, die einst einen 7

Traum hatten, die mit Idealismus an ihr Werk herangingen und heute selbst äußerst frustriert sind. Solche Lehrerlnnen verstehen Gatto. Dieser Mann, der selber 32 Jahre lang Lehrer war, kann ihnen leichter klarma­ chen, was sie unbedingt wissen müssen, um etwas zu verändern, als dies ein Nicht-Lehrer je tun könnte. Deshalb freue ich mich ungemein, dass dieses GATTO-Werk jetzt auf deutsch erhältlich ist. Vera F. Birkenbihl

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ANMERKUNG DER DEUTSCHEN HERAUSGEBERIN Dagmar Neubronncr, Autorin des Buches »Die Fre椀氀erner« und M11tter der »bekanntesten Schulverweigerer De11Ńļnds«

Kritik an der Schule und an der Rolle der Lehrer ist in Deutschland gera­ dezu Volkssport, und eine Schulreform jagt die nächste. Mich hat immer schon frustriert, dass die immense Unzufriedenheit so vieler Eltern (von den Kindern und den Lehrern ganz abgesehen!) fast nie zu der grundsätz­ lichen Überlegung führt, ob vielleicht mit dem System Schule insgesamt etwas nicht stimmt - und welche Gründe das haben könnte. Unsere Kinder haben mehrere Schulen ausprobiert und sich eines Tages geweigert, dort weiter hinzugehen. Natürlich hätten wir sie zwingen können. Aber wir konnten, je länger wir darüber nachdachten - und beob­ achteten, wie unsere Kinder sich durch den Schulbesuch veränderten keinen einzigen Grund finden, der einen solchen Zwang gerechtfertigt hätte. Jedenfalls wenn man von der Tatsache absieht, dass in Deutschland heute noch jeder, der es wagt, seine Kinder dem Schulsystem vorzuent­ halten, finanziellen Ruin (durch Zwangsgelder), Gefängnisstrafen oder Sorgerechtsentzug riskiert. Trotzdem verwirklichen viele Familien freies Lernen ohne Schule, auch ohne Deutschland zu verlassen, wie wir es tun mussten. Und sehr viele schaffen es, teilweise mit Hilfe verständiger Behördenvertreter, die behördlichen Klippen geschickt zu umschi昀昀en. Nur können sie das nicht ö昀昀entlich machen, ohne ihre ino昀昀izielle Lösung zu gefährden, ein unwürdiger und belastender Zustand. Ich ho昀昀e, dass Gattos Buch viele Eltern und Lehrer zu der Erkennt­ nis bringt, dass unsere Kinder und Enkelkinder nur eine bessere Bildung 9

bekommen werden, wenn Schule zu einem freilassenden Dienstleis­ tungsangebot in vielfältigen Formen wird. Kunden dieser Dienstleistung sind die Familien - wenn sie das Angebot denn nutzen wollen, und exakt so, wie sie es nutzen wollen. Der Kunde ist bekanntlich König. Unsere Kinder haben das Recht auf individuelle Bildungsvielfalt. Wir sollten ihnen gönnen und ermöglichen, was wir selbst nicht hatten: die Freiheit, unbehindert sie selbst zu werden. Dagmar Neubronner

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ÜBER DEN 䄀唀TOR Ich bin hier, um mit Ihnen über Ideen zu sprechen, aber ich denke, es ist ganz sinnvoll, wenn ich zuerst etwas über mich selbst erzähle, so dass ich ein Mensch wie Sie werde, statt ein weiterer Klugscheißer wie aus dem Fernsehen. Ich weiß, dass ich mich, wenn ich den Kopf des Nachrichten­ sprechers sehe, manchmal frage: »Wer bist du? Und warum erzählst du mir diese Sachen?« Also möchte ich Ihnen ein bisschen von dem Boden erzählen, auf dem diese Ideen gewachsen sind. Ich habe in den vergangenen dreißig Jahren als Lehrer in New York City gearbeitet, und während eines Teils dieser Zeit Kinder aus der Elite der Manhattan Upper West Side unterrichtet, die zwischen dem Lincoln­ Center, wo die Oper gelegen ist, und der Columbia University liegt. In den letzten Jahren habe ich überwiegend Kinder aus Harlem und Spa­ nisch-Harlem unterrichtet, deren Leben von den gefährlichen Unterströ­ mungen der zerfallenden Industriestadt geformt wird. Ich habe in diesen Jahrzehnten an sechs verschiedenen Schulen unterrichtet. Meine jetzige Schule liegt im Schatten der St.ⴀ䨀ohns-Kathedrale, dem größten gotischen Gebäude der Vereinigten Staaten und nicht weit vom berühmten Museum of Natu爀愀l Histo爀礀 und dem Metropol椀琀an Museum ofArt. Drei Häuserblocks von meiner Schule entfernt wurde vor ein paar Jahren die »Central-Park­ Joggerin« (wie die Medienmythologie sie nennt) vergewaltigt und brutal zusammengeschlagen - sieben der neun Angreifer gingen in meinem Bezirk zur Schule. Meine eigene Sichtweise allerdings wurde sehr weit weg von New York City ge昀漀rmt, in der Industriestadt Monongahela in Pennsylvania, sechzig Kilometer südöstlich von Pittsburgh. Damals war Monongahela geprägt von Stahlwerken und Kohleminen, von Raddampfe爀渀 auf dem 11

Fluss, die das smaragdgrüne Wasser zu einem schrillen Orange aufrühr­ ten, und von Respekt für harte Arbeit und Familienleben. Monongahela war ein Platz ohne große Klassenunterschiede, da jeder mehr oder weni­ ger arm war, obwohl ich glaube, dass sich nur sehr wenige dessen bewusst waren. Es war ein Ort, wo Unabhängigkeit, Härte und Eigenständigkeit anerkannt wurden, ein Ort, wo der Stolz auf ethnische und regionale Kul­ tur eine große Rolle spielte. Es war insgesamt ein wunderbarer Platz um aufzuwachsen, auch für arme Leute. Die Menschen sprachen miteinander und nahmen Anteil an den Angelegenheiten der anderen, anstatt an den abstrakten Angelegenheiten »der Welt«. Tatsächlich bedeutete die große weite Welt kaum je mehr als Pittsburgh, eine wundervoll dunkle Stahl­ stadt, die ein- oder zweimal jährlich zu besuchen sich lohnte. Niemand in meiner Erinnerung fühlte sich an Monongahela gefesselt, ich hörte auch niemanden jammern, er würde irgendetwas Wichtiges verpassen, was eventuell anderswo passierte. Mein Großvater hatte in unserer Stadt die Druckerei inne und gab eine Zeit lang auch die Zeitung The Da氀 Republican heraus - ein Name, der einige Aufmerksamkeit auf sich zog, denn die Stadt war eine Hoch­ burg der Demokraten. Von meinem Großvater und seiner unabhängigen deutschen Art lernte ich Vieles, was mir, wenn ich in einer Zeit wie heute aufgewachsen wäre, wo alte Leute in ein Heim gesteckt oder außer Sicht­ weite gehalten werden, vorenthalten geblieben wäre. Das Leben in Manhattan war für mich viele Jahre lang ein Leben wie auf dem Mond. Obwohl ich seit fünfunddreißig Jahren hier bin, sind mein Herz und meine Gewohnheiten immer noch Monongahela verhaftet. Trotzdem hat der Schock über Manhattans ganz andersartige Gesellscha昀琀 mit ihren vollkommen anderen Werten meinen Sinn für Unterschiede geschärft und mich nicht nur zu einem Anthropologen, sondern auch zu einem Lehrer gemacht. Während der letzten dreißig Jahre habe ich meine Klasse als Labor genutzt, wo ich ein weiteres Spektrum dessen erkunden konnte, was für Menschen möglich ist - den ganzen Katalog von Ho昁ጀ nungen und Ängsten - und auch als einen Ort, wo ich studieren konnte, was menschliche Kra昀琀 freisetzt und was sie behindert. Während dieser Zeit bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass Genie eine überaus häufige menschliche Eigenscha昀琀 ist, wahrscheinlich 12

den meisten von uns angeboren. Ich wollte diese Feststellung zunächst nicht anerkennen, denn meine eigene Ausbildung an zwei Eliteuniver­ sitäten hatte mich gelehrt, dass Intelligenz und Begabung sich ökonomisch über eine Glockenkurve verteilten und dass das menschliche Schicksal aufgrund dieser mathematischen, scheinbar unverrückbaren wissen­ schaftlichen Tatsachen genauso streng festgelegt war, wie schon John Calvin behauptete. 1 Das Problem war nur, dass die Kinder, von denen ich es am wenig­ sten erwartete, mir in zufälligen Augenblicken zu häufig Kerneigenschaf­ ten menschlicher Exzellenz bewiesen - Einsicht, Weisheit, Gerechtigkeit, Erfindungsgeist, Mut, Originalität -, was mich verwirrte. Sie taten dies nicht oft genug, um mir das Unterrichten zu erleichtern, aber sie taten es doch so oft, dass ich mich zögernd zu fragen begann, ob es möglich war, dass der Au昀攀nthalt in der Schule selbst es war, der ihre Möglichkeiten verringerte. War es denkbar, dass ich nicht angestellt war, um das Poten­ tial von Kindern zu vergrößern, sondern zu vermindern? Das schien auf den ersten Blick verrückt, aber allmählich begann ich zu erkennen, dass die Pausenglocken und die Beschränkungen, die unsinnigen Strafen, die Aufteilung nach Jahrgängen, die fehlende Privatsphäre, die beständige Überwachung und all das andere, was landesweit zum Lehrplan gehört, exakt so entworfen waren, als ob es jemand darauf angelegt hätte, Kinder davon abzuha氀琀en, denken und handeln zu lernen, und um sie zu Sucht und Mustern der Abhängigkeit zu drängen. Stück für Stück entwickelte ich Guerillataktiken, um möglichst vielen der von mir unterrichteten Kinder das Ausgangsmaterial zur Verfügung zu stellen, welches die Menschen schon immer benutzt haben, um sich selbst zu bilden: Privatsphäre, Wahlfreiheit, Freiheit von Überwachung und ein so breites Spektrum von Situationen und menschlichen Zusammenkünf­ ten, wie meine begrenzten Kräfte und Ressourcen es ermöglichen konn­ ten. Ich versuchte ganz ein昀愀ch, sie in Positionen zu manövrieren, in denen sie eine Chance hatten, ihre eigenen Lehrer zu werden und selbst den Hauptanteil an ihrer Bildung zu übernehmen. In theoretischen, metaphorischen Begriffen begann ich die 昀漀lgende Idee zu erkunden: Dass Lehren nicht der Malkunst gleicht, wo durch Hln­ zu/椀椀gung von Material auf eine Oberfläche ein Bild künstlich hergestellt 13

wird, sondern mehr der Kunst der Bildhauerei, wo 攀븀nahme von Mate­ rial einem bereits im Stein eingeschlossenen Bild ermöglicht zu erschei­ nen. Das ist ein entscheidender Unterschied. Mit anderen Worten: Ich ließ die Vorstellung fallen, dass ich ein Experte war, dessen Job darin bestand, die kleinen Köpfe mit meinem Wissen zu füllen, und begann stattdessen zu erkunden, wie ich die Hin­ dernisse beseitigen konnte, die das in den Kindern vorhandene Genie darin hinderten, sich zu ent昀愀lten. Ich fühlte mich nicht länger wohl dabei, meine Arbeit so zu definieren, dass ich im Klassenzimmer Weisheit in ein widerspenstiges Publikum träufelte. Obwohl ich bis heute weiter diese sinnlosen Tests schreiben lasse, weil das nun mal im Wesen des institu­ tionalisierten Lernens liegt, habe ich - wo immer möglich - mit der Unter­ richtstradition gebrochen und die Kinder auf ihre eigenständigen Wege zu ihren eigenen privaten Wahrheiten geschickt. Die Soziologie von staatlichen Monopolschulen hat sich in einer Weise entwickelt, dass ein Vorgehen wie meines die gesamte Institution sabotieren würde, wenn es sich ausbreitete. Solange dies nicht geschieht, ist ein einzelner Lehrer, der eine ähnliche Entdeckung macht wie ich, schlimmstenfalls eine Störung für die Befehlskette (die automatische Abwehrmechanismen entwickelt hat, um solche Bazillen zu isolieren und sie dann zu neutralisieren oder zu zerstören). Aber wenn die Idee einmal freigesetzt würde, könnte sie die zentralen Annahmen in昀椀ltrieren, welche die institutionalisierte Schule am Leben erhalten, zum Beispiel die falsche Annahme, dass es schwierig ist, anderen Wesen etwas beizubringen oder dass Kinder nicht lernen wollen und vieles andere. Tatsächlich wird die gesamte Stabilität unserer Wirtschafts昀漀rm von jeder Form der Erziehung bedroht, die an der Bescha昀昀enheit der menschlichen Produkte, die heute die Schule verlassen, etwas verändert: Das ökonomische System, unter dem Schulkinder heute erwarten zu leben und zu dienen, würde keine Generation junger Leute überleben, die zum Beispiel kritisches Denken gelernt hätten. Der Erfolg meiner Vorgehensweise setzt ein großes automatisches Vertrauen voraus, ein grundlegendes Vertrauen, das nicht vom Wohlver­ halten abhängt. Die Menschen müssen die Möglichkeit haben, ihre eige­ nen Fehler zu machen und es noch mal zu probieren, oder sie werden 14

niemals Meister ihrer Selbst werden, obwohl sie kompetent erscheinen kön­ nen, wo sie sich in Wirklichkeit nur das Verhalten von jemand anderem gemerkt oder es nachgeahmt haben. Was meine Vorgehensweise er昀漀lg­ reich macht, bedeutet auch, viele bequeme Annahmen darüber, was zu lernen sich lohnt und woraus ein gutes Leben geformt ist, in Frage zu stellen. Während ich mit den Hindernissen gerungen habe, die zwischen dem Kind und seiner Bildung stehen, bin ich im Laufe der Jahre zu der Über­ zeugung gelangt, dass die staatlichen Monopolschulen von ihrer Struktur her nicht re昀漀rmierbar sind. Wenn ihre zentralen Mythen bloßgelegt und abgeschafft werden, können sie nicht funktionieren. Inzwischen habe ich verstanden, dass ich, unabhängig von meiner eigenen Einschätzung mei­ ner Aufgabe als Lehrer, in Wirklichkeit zum größten Teil einem unsicht­ baren Lehrplan 昀漀lge, der die Mythen der Institution Schule und unseres Wirtschaftsystems, das auf einem Kastenwesen basiert, verstärkt. Als ich darüber nachdachte, was ich Ihnen sagen könnte, um diese meine Erfah­ rung fruchtbar werden zu lassen, wurde mir deutlich, dass ich Ihnen am besten erzähle, was an dem, was ich tue, falsch ist, anstatt Ihnen zu berich­ ten, was an meinem Tun richtig ist. Denn das Richtige ist ein昀愀ch zu ver­ stehen: Ich stehe den Kinde爀渀 nicht im Weg, ich gebe ihnen Raum und Zeit und Respekt. Das Falsche an dem, was ich tue, ist allerdings merk­ würdig, komplex und erschreckend. Ich möchte es Ihnen aufzeigen.

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Kapitel 1 DIE SIEBEN LEKTIONEN DES LEHRERS Diese Rede hie氀琀 der Autor 1991 anlcisslich seiner E爀渀ennung 稀甀m »»Lehrer des Jahr攀猀 im Bundesstaat New Yo爀欀«.

I Nennen Sie mich bitte Mr. Gatto. 2 Vor dreißig Jahren, als ich gerade nichts Besseres mit mir anzufangen wusste, versuchte ich mich im Unterrichten. Mein Abschluss erlaubt mir, Englisch zu unterrichten, aber das tue ich gar nicht. Ich unterrichte nicht Englisch; ich unterr椀挀hte Schule - und ich gewinne Preise damit. Unterrichten bedeutet an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Dinge, aber sieben Lektionen werden universal vermittelt, von den Slums in Harlem bis zu den Villenvierteln in Holl礀眀ood. Diese sieben Lektionen bilden einen landesweiten Lehrplan, für den Sie einen höheren Preis bezahlen, als Sie es sich vorstellen können, also können Sie genauso gut auch gleich erfahren, worin dieser Preis besteht. Es steht Ihnen natürlich völlig frei, wie Sie meine Ausführungen au昀昀assen wollen, aber glauben Sie mir, wenn ich sage, dass ich mit meiner Darstellung keinerlei Ironie beabsichtige. Das sind die Lektionen, die ich unterrichte. Das sind die Lektionen, für deren Vermittlung Sie mich bezahlen. Machen Sie daraus, was Sie wollen. 17

1. Verwirrung Gestern schrieb mir dies eine Dame namens Kathy aus Dobois, Indiana: Welche großen Ideen sind /ür kleine Kinder wichtig? Nun, die großte Idee, die sie, wie ich glaube, brauchen, ist, dass Lernen nicht beliebig ist - dass es ein Svstem darin gibt und dC1ss es nicht ein/ach nur au/ sie hembregnet, wäh爀攀nd sie es ht!ßos au/nehmen. Das 1st die Aufgabe: 稀甀 verstehen, eine11 ZusC1mme11hC111g herzust턀턀n.

Kathy liegt falsch. Die erste Lektion, die 挀턀 unterrichte, ist Verwirrung. Alles, was ich lehre, ist aus dem Zusammenhang gerissen. Ich unterrichte die Beziehungslosigkeit von allem. Ich unterrichte Verbindungslosigkeiten. Ich unterrichte zu viel: die Umlaufbahnen der Planeten, das Gesetz der großen Zahlen, Sklaverei, Adjektive, architektonisches Zeichnen, Tanzen, Sport, Chorsingen, Versammlungen, Überraschungsgäste, Feueralarm, Computersprachen, Elternabende, Fortbildungstage, Begabten昀rderung, Führungen mit Fremden, die meine Schüler wahrscheinlich nie mehr wie­ dersehen, standardisierte Tests,Jahrgangstrennung, die es so in der äuße­ ren Welt nirgends gibt - doch was hat irgend eines dieser Dinge mit den anderen zu tun? Selbst in den besten Schulen erweist die nähere Untersuchung des Lehrplans und seiner Abfolgen einen Mangel an Zusammenhang, eine Vielzahl innerer Widersprüche. Glücklicherweise haben die Kinder keine Worte für die Panik und die Wut, die sie fühlen, wenn die natürliche Ord­ nung und Abfolge bestiindig verletzt und ihnen als qualitativ hochwertige Bil­ dung hingeworfen wird. Die Logik des Schulgeistes besagt, dass es besser ist, die Schule mit einem Werkzeugkasten oberflächlicher Begri昀昀e aus den Bereichen Wirtscha昀琀, Soziologie, Naturwissenschaft und so weiter zu ver­ lassen, als mit einer einzigen echten Begeisterung. Aber eine wirklich qua­ litativ hochwertige Bildung bedeutet, etwas in der Tiefe zu erforschen. \ erwirrung wird über die Kinder gebracht, zu viele fremde Erwachsene, die alle - jeder für sich - nur mit einem Minimum an Beziehung unter­ einander arbeiten und meist eine Sachkenntnis vortäuschen, die sie nicht besitzen. Gesunde Menschen suchen Sinn statt zusammenhangloser Fakten, und echte Bildung ist ein Set von Codes, um Rohdaten in sinnvolle Zusam1

menhänge zu verwandeln. Hinter dem Flickenteppich eines Stunden­ planes und der schulischen Besessenheit von Fakten und Theorien liegt die uralte menschliche Sehnsucht nach Sinn gut versteckt. Das ist in der Grundschule, wo die Hierarchie der Schulerfahrung noch mehr Sinn zu ergeben scheint, schwerer zu erkennen, weil die gutmütige, ein昀愀che Bezie­ hung zwischen »Lasst uns dies tun« und »Lasst uns das tun« einfach unter die Annahme gestellt wird, dass es schon etwas bedeutet, und weil die Klientel noch nicht bewusst unterscheiden kann, wie wenig Substanz hin­ ter all dem Spielen und So-tun-als-ob steckt. Denken Sie an die großen Abläufe in der Natur - Laufen und Spre­ chen lernen, die Wanderung des Lichtes von Sonnenaufgang 䰀였 Sonnen­ untergang; die tradierten Abläufe auf einem Bauernhof, in einer Schmiede oder beim Schuhmacher, oder die Vorbereitung eines Erntedankfestes. Alle 吀攀ile stehen in vollkommener Harmonie zueinander, jede Handlung hat ihre Rechtfertigung in sich selbst und beleuchtet Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen. Schulinhalte sind nicht so, nicht innerhalb einer einzelnen Unterrichtsstunde und schon gar nicht im Gesamtmenü des täg­ lichen Stundenplans. Schulinhalte sind verrückt. Es gibt für keine von ihnen irgendeinen besonderen Grund, nichts, was näherer Prüfung stand­ hält. Nur wenige Lehrer würden es wagen, die Denkwerkzeuge zu unter­ richten, mit denen die Dogmen einer Schule oder eines Lehrers kritisiert werden könnten, denn alles muss akzeptiert werden. Schulsto昀昀 wird, wenn er überhaupt gelernt werden kann, so gelernt, wie Kinder die Zehn Gebote lernen oder den Katechismus. Ich unterrichte die Zusammenhanglosigkeit von allem, eine unendli­ che Fragmentierung, das Gegenteil von Zusammenhang. Was ich tue, hat mehr Ähnlichkeit mit der Zusa爀渀menstellung eines Fernsehprogramms als mit der Errichtung einer Ordnungsstruktur. In einer Welt, wo die Familie nur ein Schattendasein fristet - weil beide Eltern berufstätig sind oder wegen ständiger berufsbedingter Ortswechsel, weil die Eltern zu viel Ehrgeiz haben oder weil aus anderen Gründen alle zu verwirrt sind, um ein echtes Familienleben aufrechtzuerhalten -, lehre ich Schüler, Verwir­ rung als ihr Schicksal zu akzeptieren. Das ist die erste Lektion, die ich unterrichte.

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2. Gese℀氀scha⼀琀liche Sch椀挀htung Das zweite Fach, das ich unterrichte, ist die unentrinnbare Z甀最ehörigkeit zu einer bestimmten Schicht. Ich lehre, dass die Schüler auf dem ihnen zuge­ wiesenen Schulniveau bleiben müssen. Ich weiß nicht, wer entscheidet, dass meine Kinder dort hingehören, aber das geht mich auch nichts an. Die Kinder sind eingeteilt, so dass, wenn irgendeines verloren geht, es auf das richtige Schulniveau zurückgeschickt werden kann. Im Laufe der Jahre hat die Differenziertheit, mit der Kinder von den Schulen eingeteilt werden, dramatisch zugenommen, so dass sie als Menschen unter dem Gewicht der ihnen zugeordneten Kategorien kaum noch zu erkennen sind. Dieses Schubladenprinzip ist ein großes und sehr profitables Unter­ nehmen, obwohl nicht deutlich wird, was mit dieser Strategie bewirkt wer­ den soll. Ich weiß nicht einmal, warum Eltern kampflos zulassen, dass ihren Kindern dies angetan wird. Jedenfalls geht es mich nichts an. Meine Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass es den Kindern ge昀愀llt, mit Kindern gleichen Niveaus zusammengesperrt zu werden oder dass sie es zumindest widerspruchs­ los erdulden. Wenn ich meine Sache gut mache, können die Kinder sich nicht einmal vo爀猀te氀氀en, anderswo zu sein, denn ich habe ihnen beige­ bracht, die höheren Lernniveaus zu beneiden und ihnen mit Ehrfurcht zu begegnen, auf die darunter liegenden Niveaus dagegen mit Verachtung herabzublicken. Durch diese wirksame Disziplinierungsmethode bringt sich die Klasse überwiegend selbst in eine gute Marschordnung. Das ist die eigentliche Lektion jedes künstlich auferlegten Wettbewerbs, und auch der Schule: Du lernst, wo dein Platz ist. Trotz des schulischen Masterplans, der davon ausgeht, dass neun­ undneunzig Prozent der Kinder auf dem ihnen zugewiesenen Schulni­ veau bleiben, unternehme ich sichtbare Anstrengungen, um die Tester­ gebnisse der Kinder zu verbessern und weise auf die mögliche Belohnung eines Wechsels auf ein besseres Schulniveau hin. Ich lasse häufig durchblicken, dass der Tag kommen wird, wo ein Arbeitgeber sie auf der Grundlage von Testergebnissen und Zeugnissen einstellen wird, obwohl ich persönlich die Erfahrung gemacht habe, dass Arbeitgeber sich darum wenig scheren. Ich lüge nicht geradewegs, aber ich habe fest-

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gestellt, dass Wahrheit und Unterrichten grundsätzlich unvereinbar sind, wie Sokrates es bereits vor zweieinhalbtausend Jahren gesagt hat. Die Lektion der verschiedenen Schulniveaus macht klar, dass jeder den ihm angemessenen Platz in der Pyramide hat und dass es keinen Ausweg aus deiner dir zugewiesenen Stufe gibt, außer durch den Zensurenzauber. Wenn du den nicht beherrschst, musst du bleiben, wohin du gesetzt wurdest.

3. Gleichgü氀琀igkeit Das dr椀琀te Fach, das ich unterrichte, ist Gle턀쨀ü氀琀igkeit. Ich lehre Kinder, sich nicht allzu sehr für irgendetwas zu begeistern, selbst wenn sie den Anschein erwecken sollten. Ich tue das auf sehr raf昀椀nierte Weise, indem ich fordere, dass sie sich in meinen Unterrichtsstunden bedingungslos engagieren, vor Begeisterung von den Plätzen springen und eifrig mit­ einander um meine Gunst konkurrieren. Es ist rührend, wenn sie das tun, und es beeindruckt jeden, selbst mich. Wenn ich in Höchst昀漀rm bin, plane ich die Unterrichtsstunden sehr sorgfältig, um diese Begeisterungsshow hervorzubringen. Aber wenn die Pausenglocke läutet, bestehe ich darauf, dass sie alles, was wir getan haben, augenblicklich stehen und liegen las­ sen und schnell zur nächsten Arbeitsstation weitergehen. Sie müssen sich wie ein Lichtschalter an- und ausschalten lassen. Nichts Wichtiges wird in meiner oder irgendeiner anderen mir bekannten Unterrichtsstunde jemals zu Ende geführt. Die Schüler haben nie eine vollständige Erfah­ rung, außer der eines erfüllten Lehrplanes. Die eigentliche Lektion der Pausenglocke ist, dass es keine Arbeit gibt, die es wert ist, zu Ende geführt zu werden. Warum also sollte man sich für irgendetwas engagieren? Jahrelange Pausenglocken werden alle mit Ausnahme der Stärksten - auf eine Welt vorbereiten, die keine wich­ tige Arbeit mehr zu bieten hat. Pausenglocken sind die geheime Zeitlogik der Schule, und diese Logik ist unausweichlich. Pausenglocken zerstören sowohl Vergangenheit als auch Zukunft und gleichen jede Zeitspanne allen anderen an, so wie die Abstraktion einer Landkarte jeden lebendigen Berg und Fluss gleichmacht, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht sind. Pau­ senglocken infizieren jedes Vorhaben mit Gleichgültigkeit. 21

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4. Emotionale Abhi ngigke椀琀 i

Das vierte Fach, das 椀挀h unterrichte, ist emotionale Abhi 渀最 椀最keit. Mit Fleiß­ bienchen und Smileys, mit Lächeln und Sti爀渀runzeln, Auszeichnungen, Ehrungen und Strafen bringe ich den Kindern bei, ihren Willen der vor­ herbestimmten Befehlskette zu unterwerfen. Rechte können von jeder Autorität ohne Berufungsmöglichkeit gewährt oder verweigert werden, denn auch wenn die Autoritäten behaupten, es wäre anders: Rechte exi­ stieren in einer Schule nicht - nicht einmal das Recht der freien Rede, wie eine Entscheidung des höchsten Gerichtshofes der USA bestätigt hat. Als Lehrer greife ich in viele persönliche Entscheidungen ein, ich stelle eine Bewilligung für jene aus, die mir legitim erscheinen und setze für ein Ver­ halten, das meine Herrschaft bedroht, eine Bestrafung in Gang. Unter den Kindern und Jugendlichen versucht sich immer wieder Individualität breit zu machen, daher er昀漀lgen meine Urteile hart und schnell. Indivi­ dualität steht im Widerspruch zur Klassentheorie, sie ist eine Bedrohung für alle Klassifizierungssysteme. Und dies sind häufige Arten, wie Individualität sichtbar wird: Kin­ der stehlen sich für einen ungestörten Augenblick auf der Toilette davon, unter der Vorgabe, sie müssten mal, oder sie verschwinden zu einem pri­ vaten Moment in die Pausenhalle unter dem Vorwand, sie hätten Durst und wollten etwas trinken. Ich weiß, dass das nicht stimmt, aber ich erlaube ihnen, mich zu »täuschen«, denn dies konditioniert sie darauf, sich von meiner Gunst abhängig zu machen. Manchmal offenbart sich mir der freie Wille direkt vor meiner Nase, wenn Kinder wütend und deprimiert sind, oder glücklich über Dinge, die außerhalb meines Hori­ zonts liegen. Diesbezügliche Rechte können von Lehrern nicht anerkannt werden, nur Privilegien, die entzogen werden können und so als Faust­ pfand für Wohlverhalten dienen. 5. InŅļtuelle Abh椀椀ngigke椀琀 Das /iin/te Fach, das ich unterrichte, ist intellektuelle Abhängigkeit. Gute Schüler warten darauf, dass ein Lehrer ihnen sagt, was sie tun sollen. Dies ist die wichtigste Lektion von allen: Wir müssen auf andere Menschen 22

warten, die besser ausgebildet sind als wir, um unserem Leben einen Sinn zu geben. Die Experten tre昀昀en alle wichtigen Entscheidungen. Nur ich, der Lehrer, kann bestimmen, was meine Kinder lernen, beziehungsweise nur die Menschen, die mich bezahlen, können diese Entscheidungen tref­ fen, die ich dann umsetze. Wenn mir gesagt wird, die Evolution sei eine Tatsache und keine Theorie, gebe ich das wie be昀漀hlen weiter und bestrafe Abweichler, die Widerstand gegen das leisten, was man mir gesagt hat, dass ich es ihnen sage, damit sie es denken. Diese Macht - zu kontrollie­ ren, was Kinder denken - führt dazu, dass ich er昀漀lgreiche Schüler sehr leicht von Versagern unterscheiden kann. E昀ꀀ!g爀攀椀挀he Schüler übernehmen das Denken, das ich ihnen vorgebe, mit einem Minimum an Widerstand und dezenten Anzeichen von Begei­ sterung. Ich entscheide, für welche wenigen von den Millionen Dingen, die es wert wären, studiert zu werden, wir Zeit haben. In Wirklichkeit wird dies allerdings von meinen unsichtbar bleibenden Arbeitgebern ent­ schieden. Die Wahl liegt bei ihnen - warum sollte ich darum streiten? Neugier hat keinen wichtigen Platz in meiner Arbeit, nur Kon昀漀rmität. Schlechte Schüler kämpfen dagegen natürlich an, obwohl ihnen die Begriffe dafür 昀攀hlen, zu erkennen, wogegen sie kämpfen. Sie kämpfen, um selbst zu unterscheiden, was sie lernen und wann sie es lernen. Wie können wir dies zulassen, wenn wir als Lehrer überleben wollen? Glück­ licherweise gibt es erprobte Vorgehensweisen, um den Willen dieser Widerspenstigen zu brechen; es ist natürlich schwieriger, wenn diese Kin­ der respektable Elte爀渀 haben, die ihnen zu Hilfe kommen, aber dies geschieht immer seltener, trotz des schlechten Rufs, in dem Schulen ste­ hen. - Ich habe noch nie Mittelklasseelte爀渀 getroffen, die wirklich glau­ ben, dass die Schule, zu der zhr Kind geht, zu den schlechten gehört. Nicht ein einziges Elternpaar in vielen Unterrichtsjahren. Das ist erstaunlich, und wahrscheinlich das beste Zeugnis, was mit Familien geschieht, wenn Mutter und Vater selbst gut beschult wurden und die sieben Lektionen gelernt haben. Brave Leute warten auf einen Experten, der ihnen sagt, was zu tun ist. Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass unsere gesamte Wirtschaft davon abhängt, dass diese Lektion gelernt wurde. Stellen Sie sich vor, was alles auseinander bricht, wenn die Kinder nicht darin geübt würden, abhängig

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zu sein: Das Sozialhilfenetz könnte kaum überleben - es würde in den jüngeren Abgrund der Geschichte verschwinden, aus dem es entstanden ist. Berater und T herapeuten wären entsetzt, weil der Nachstrom an see­ lischen Invaliden ausbliebe. Kommerzielle Unterhaltung aller Arten, dar­ unter auch das Fe爀渀sehen, würde ins Wanken geraten, wenn die Men­ schen wieder lernen würden, selbst Spaß zu haben. Restaurants, die Nahrungsmittelindustrie und eine Heerschar anderer E爀渀ährungsdienst­ leister würden drastisch zusammenschrumpfen, wenn die Menschen wie­ der dazu übergehen würden, ihre eigenen Mahlzeiten herzustellen, statt von Fremden abhängig zu sein, die für sie p昀氀anzen, pflücken, zerkleinern und kochen. Vieles am modernen Rechtswesen, der Medizin und der Technik wäre ebenfalls über昀氀üssig, ebenso wie die Bekleidungsindustrie und Schulunterricht, wenn nichtJahr für Jahr ein garantierter Nachschub hil昀氀oser Menschen aus unseren Schulen strömen würde. Seien Sie nicht zu schnell damit bei der Hand, für eine radikale Schul­ re昀漀rm zu votieren, wenn Sie weiterhin Ihr Gehalt bekommen wollen. Wir haben ein Leben aufgebaut, das auf Menschen angewiesen ist, die tun, was man ihnen sagt, weil sie nicht wissen, wie sie sich selbst sagen können, was sie tun sollen. Es ist eine der bedeutsamsten Lektionen, die ich unter­ richte.

6. Labiles Selbstbewusstsein Das sechste Fach, das ich unterrichte, ist labiles Selbstbewu猀猀tsein. Wenn Sie jemals versucht haben, Kinder in Reih und Glied zu bringen, deren Eltern ihnen die Überzeugung vermittelt haben, dass sie bedingungslos geliebt werden, wissen Sie, wie unmöglich es ist, Geister voller Selbstvertrauen zur Anpassung zu bewegen. Unsere Welt würde so, wie sie ist, eine Flut selbstbe眀甀sster junger Leute nicht sehr lange überleben, daher unterrichte ich, dass die Selbstachtung eines Kindes von der Meinung eines Experten abhängen sollte. Meine Kinder werden beständig ausgewertet und be­ urteilt. Ein Zeugnis, eindrucksvoll in seiner scheinbaren Vorläufigkeit, wird zu den Schülern nach Hause geschickt, um Beifall hervorzurufen oder bis auf den Prozentpunkt genau anzugeben, wie unzufrieden die Eltern mit 24

dem Kind sein sollten. Die Ökologie von »guter« Beschulung hängt von fortgesetzter Unzufriedenheit ab, demselben Dünger, auf den die kom­ merzielle Ökonomie angewiesen ist. Obwohl manche Menschen vielleicht überrascht sind, wie wenig Reflexionszeit dafür aufgewendet wird, diese mathematisch genauen Berichte zu erstellen, dokumentiert das sich anhäu­ fende Gewicht dieser scheinbar objektiven Berichte ein Pro昀椀l, das Kinder zu bestimmten Entscheidungen über sich selbst treibt, und ihre Zukunft basiert auf dem zufälligen Urteil von Fremden. Selbsteinschätzung, der Grundsto昀昀 jedes bedeutenden philosophischen Systems, das jemals auf dem Planeten in Erscheinung getreten ist, wird nie als Faktor in Betracht gezogen. Die Lektion von Beurteilungen, Zensuren und Testergebnissen liegt darin, dass Kinder nicht sich selbst oder ihren Elte爀渀 trauen sollten, sonde爀渀 sich stattdessen auf die Auswertung bevollmächtigter Beamter verlassen. Den Menschen muss gesagt werden, was sie wert sind. 㜀⸀ Man kann steh nicht ve爀猀tecken Dle siebte Lektion lautet, da猀猀 man steh nicht ve爀猀tecken kann. Ich lehre die Schüler, dass sie immer unter Beobachtung stehen und immer überwacht werden, dass jeder von ihnen unter beständiger Beobachtung durch mich und meine Kollegen steht. Es gibt keine Privatsphäre für Kinder, es gibt keine private Zeit. Der Wechsel von einer Unterrichtsstunde zur nächsten dauert exakt dreihundert Sekunden, um die promiskuitive Verbrüderung auf einem niedrigen Level zu halten. Die Schüler werden ermutigt, über­ einander und sogar über ihre eigenen Eltern zu tratschen. Natürlich ermu­ tige ich Eltern ebenfalls, Berichte über die Eigenwilligkeit ihres Kindes anzulegen. Eine Familie, die darin geübt ist, über sich selbst Auskunft zu geben, läuft kaum Gefahr, irgendwelche gefährlichen Geheimnisse zu bewahren. Ich entwickle eine Art erweiterter Beschulung, die so genannten »Hausaufgaben«, so dass die Wirkung der Überwachung, wenn schon nicht die Überwachung selbst, sich bis in den privaten Haushalt erstreckt, wo die Schüler sonst ihre freie Zeit nutzen könnten, um etwas zu lernen, was nicht autorisiert ist, zum Beispiel von den Eltern, durch eigenes Erkunden oder durch Kontakt mit einer kompetenten Person in

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der Nachbarschaft. Illoyalität zur Idee der Beschulung ist ein Teufel, der für müßige Hände immer schnell Arbeit findet. Die Bedeutung bestän­ diger Überwachung und Vorenthaltung von Privatheit besteht darin zu lernen, dass man niemandem trauen kann und dass es nicht legitim ist, eine Privatsphäre zu haben. Überwachung ist ein uralter Imperativ, gefor­ dert von bestimmten einflussreichen Denkern. Grundlegende Gebrauchsanweisungen sind niedergelegt in Der 5taat3, Vom Gottesstaat4, i Unterricht in der christl chen Re!igion 5, Das neue At!anti猀㘀, Leviathan7 und einer Vielzahl anderer Schriften. All die kinderlosen Männer, die diese Bücher geschrieben haben, entdeckten dasselbe: Kinder müssen engma­ schig überwacht werden, wenn man eine Gesellscha昀琀 unter strenger zen­ traler Kontrolle halten will. Wenn man sie nicht in eine uniformierte Marschkapelle kriegen kann, folgen Kinder womöglich einem privaten Trommler.

II Es ist der große Triumph der staatsmonopolistischen Massenp昀氀ichtbe­ schulung, dass sich selbst unter den besten meiner Lehrerkollegen und unter den besten der Eltern meiner Schüler nur sehr wenige vorstellen können, die Dinge auf eine andere Art zu tun. »Die Kinder müssen doch wissen, wie man liest und schreibt, oder?« »Sie müssen doch addieren und subtrahieren lernen, oder?« Und vor allem: »Sie müssen lernen zu gehor­ chen, wenn sie jemals einen Job kriegen wollen.« Vor nur wenigen Generationen war das alles in den Vereinigten Staa­ ten ganz anders. Originalität und Vielfalt waren weit verbreitet, unsere Freiheit von Beherrschung machte uns zu einem Weltwunder. Die gesell­ schaftlichen Grenzen zwischen den Klassen waren relativ leicht zu über­ winden, unsere Bürger waren wunderbar selbstbewusst, erfinderisch und in der Lage, sehr viel unabhängig für sich selbst zu tun und für sich selbst zu denken. Wir waren etwas Besonderes, wir Amerikaner, ganz aus uns heraus, ohne dass eine Regierung ihre Nase in jeden Aspekt unseres Lebens steckte und Messungen vornahm, ohne Institution und Sozialhil­ feeinrichtungen, die uns sagten, wie wir denken und fühlen sollten. Wir waren etwas Besonderes, als Individuen, als Amerikaner.

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Aber seit kurz nach dem amerikanischen Bürgerkrieg 1861-1865 haben wir in den Vereinigten Staaten eine Gesellschaft, die im Wesentli­ chen unter zentraler Kontrolle steht, und eine solche Gesellscha昀琀 braucht Schulp昀氀icht - staatsmonopolistische Beschulung -, um sich selbst zu erhal­ ten. Vor dieser Entwicklung war Schule nirgendwo besonders wichtig. Es gab sie, aber nicht zu viel, und nicht mehr, als ein Individuum wol氀琀e. Men­ schen lernten auch so wunderbar lesen, schreiben und rechnen. Es gibt Studien, nach denen der Alphabetisierungsgrad zur Zeit der amerikani­ schen Revolution, jeden昀愀lls bei Nicht-Sklaven an der Ostküste, bei nahezu 100 Prozent lag. Das Buch Common Sen攀꬀ wurde bei einer Bevölkerung von drei Millionen, von denen zwanzig Prozent Sklaven waren und fünf­ zig Prozent angestellte Bedienstete, sechshunderttausend Mal verkauft. Waren die ersten Siedler Genies? Nein, die Wahrheit ist, dass Lesen, Schreiben und Rechnen in nur ungefähr hundert Stunden vermittelt wer­ den können, wenn die Klientel eifrig und lernwillig ist. Der Trick besteht darin, zu warten, bis jemand fragt und dann schnell voranzugehen, solange diese Neugierde anhält. Millionen von Menschen bringen sich diese Dinge selbst bei - es ist wirklich nicht besonders schwer. Nehmen Sie ein Mathematik- oder Deutschbuch der fünften Klasse von 1850 zur Hand, und Sie werden sehen, dass die Texte dort in einem Stil geschrie­ ben sind, der heute als Hochschulniveau gelten würde. Der beständige Ruf nach dem Üben von »Grundkenntnissen« ist eine Nebelwand, hinter der die Schulen zwölfJahre lang die Zeit der Kinder beschlagnahmen und ihnen die unsichtbaren Lektionen beibringen, die ich Ihnen gerade beschrieben habe. Wie unsere Gesellschaft seit etwa 150 Jahren zunehmend unter zen­ trale Kontrolle geraten ist, zeigt sich in dem Leben, was wir führen. Die Kleidung, die wir tragen, die Nahrung, die wir zu uns nehmen und die grünen Highwayschilder, mit deren Hilfe wir von Küste zu Küste fahren, sie alle sind die Produkte dieser Kontrolle. Das Gleiche gilt, glaube ich, für die explosionsartige Ausbreitung von Drogenmissbrauch, Selbstmord, Scheidung, Gewalt und Grausamkeit sowie für die Verhärtung der Klas­ sen zu Kasten. Diese Dinge sind Folgen der Entmenschlichung unseres Lebens, der geminderten Bedeutung von Individualität, Familie und Gemeinschaft - eine Abwertung, die von der zentralen Lenkung ausgeht. 27

Unausweichlich wollen große Pflichtinstitutionen immer mehr, bis es nichts mehr gibt, was gegeben werden kann. Die Schule nimmt unseren Kindern jede Möglichkeit einer aktiven Rolle im gesellschaftlichen Leben - tatsächlich zerstört sie die kommunale Gemeinscha昀琀, indem sie die Aus­ bildung von Kindern in die Hände zertifizierter Experten gibt -, und indem sie dies tut, stellt sie sicher, dass unsere Kinder nicht ihr volles menschliches Potenzial entwickeln können. Aristoteles hat gelehrt, dass man ohne eine sehr aktive Rolle im Leben der lokalen Gemeinscha昀琀 nicht darauf hoffen könne, ein gesunder Mensch zu werden. Er hatte sicherlich Recht. Wenn Sie Beweise dafür wollen, müssen Sie sich nur einmal umschauen, wenn Sie das nächste Mal in die Nähe einer Schule oder eines Altenheimes kommen. Die Schule, so wie sie aufgebaut wurde, ist ein entscheidendes Basis­ element für ein Gesellscha昀琀smodell, welche die meisten Menschen dazu verdammt, untergeordnete Bausteine einer Pyramide zu sein, die sich zur herrschaftlichen Spitze hin verjüngt. Die Schule ist ein Kunstprodukt, das eine solche pyramidale Gesellschaftsordnung unausweichlich erscheinen lässt, obwohl eine solche Annahme ein grundlegender Verrat an der ame­ rikanischen Revolution ist. Von den Tagen der Kolonialisierung durch die Phase der Republik gab es in den USA keine nennenswerten Schulen lesen Sie die Autobiografie von Benjamin Franklin als Beispiel für einen Mann, der keine Zeit hatte, sein Leben in der Schule zu vergeuden - und doch wurde die Verheißung der Demokratie anfänglich umgesetzt. Wir wandten dieser Verheißung den Rücken zu, indem wir den alten Pharao­ nentraum Ägyptens zum Leben erweckten: verp昀氀ichtende Unterordnung für alle. Das war das Geheimnis, das Plato zögernd in seinem Werk Der Staat preisgab, als Glaukon und Adeimantus dem Sokrates den Plan für eine totale staatliche Kontrolle des menschlichen Lebens entlockten, ein Plan, der notwendig ist, um eine Gesellschaft aufrechtzuerhalten, in der manche Menschen mehr nehmen, als ihnen zusteht. »Ich werde euch zei­ gen«, sagte Sokrates, »wie man eine solche 昀椀ebrige Stadt hervorbringen kann, aber es wird euch nicht gefallen, was ich euch sagen werde.« Und so entstand der erste Entwurf der Sieben-Lektionen-Schule. Die gegenwärtige Debatte, ob wir einen länderübergreifenden Lehr­ plan benötigen, ist müßig. Wir haben ihn bereits, und er ist in den sieben

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von mir skizzierten Lektionen verborgen. Ein solcher Lehrplan führt zu physischer, moralischer und intellektueller Lähmung, und kein inhaltli­ cher Lehrplan wird ausreichend sein, um seine grässlichen Auswirkungen umzukehren. Unsere gegenwärtige Diskussion, bei der wir - landesweit in Hysterie verfallend - über die schlechten akademischen Leistungen der Schüler lamentieren, verfehlt den eigentlichen Punkt. Die Schulen lehren genau das, was sie lehren sollen, und sie tun es gut: Wie man ein guter Ägypter ist und an seinem Platz in der Pyramide bleibt.

III Dies alles ist nicht unausweichlich. Dies alles kann überwunden werden. Wir haben Wahlmöglichkeiten, wie wir junge Menschen aufwachsen las­ sen können: Es gibt nicht nur einen richtigen Weg. Wenn wir die Macht der pyramidalen Illusion durchbrechen würden, wären wir in der Lage, das zu erkennen. Es gibt keinen internationalen Wettbewerb um Leben und Tod, der die Existenz unseres Landes bedroht - so schwierig es auch angesichts der beständigen gegenteiligen Medienberieselung ist, diese Tat­ sache zu denken, geschweige denn, sie zu glauben. Unser Land ist in der Lage, sich in jeder wichtigen materiellen Hinsicht, inklusive der Energie, selbst zu versorgen. Mir ist klar, dass diese Idee dem modernen Denken der meisten politischen Ökonomen zuwider läuft, aber die »tief greifende Trans昀漀rmation« unserer Ökonomie, von der diese Leute reden, ist weder unausweichlich noch unumkehrbar. Die Weltwirtschaft spricht nicht über den ö昀昀entlichen Bedarf an sinn­ voller Arbeit, bezahlbaren Wohnungen, er昀‫ﰀ‬llender Bildung, angemesse­ ner medizinischer Versorgung, einer sauberen Umwelt, einer ehrlichen und zuverlässigen Regierung, an gesellschaftlicher und kultureller Erneue­ rung oder einfach an Gerechtigkeit. Alle globalen Bestrebungen beruhen auf einer Definition von Produktivität und dem guten Leben, das der eigentlichen menschlichen Wirklichkeit völlig entfremdet ist. Ich bin davon überzeugt, dass diese Definition falsch ist und dass die meisten Menschen mir zustimmen würden, wenn sie eine Alternative wahrneh­ men könnten. Wir wären vielleicht in der Lage, das zu erkennen, wenn wir wieder Zugri昀昀 auf eine Philosophie hätten, die Sinn dort lokalisiert, wo 29

Sinn wirklich gefunden werden kann - in Familien, unter Freunden, beim Wandel der Jahreszeiten, in der Natur, in einfachen Zeremonien und Ritualen, in Neugier, Großzügigkeit, Mitgefühl und dem Dienst an ande­ ren, in einer selbstverständlichen Unabhängigkeit und Privatheit, in all den freien und kostenlosen und preiswerten Dingen, aus denen wirkliche Familien, wirkliche Freunde und wirkliche Gemeinschaften erbaut sind , dann wären wir so »selbstzufrieden«, dass wir nicht einmal die materielle »Fülle« brauchten, von der unsere globalen »Experten« so beharrlich behaupten, wir würden uns darum sorgen. Wie sind diese schrecklichen Orte, diese »Schulen«, entstanden? Nun, gelegentliche Beschulung gab es immer in einer Vielfalt von For­ men, eine mäßig nützliche Unterstützung beim Aufwachsen. Aber die »moderne Schulelhre klaren und ehrlichen Worte schenken mir Hoffnung.< Grace Llewellyn, >Das Teenager Befreiungs Handbuch< >lch sehe vor mir, wie das Bildungsministerium eine Prämie auf lhren Kopf aussetzt. Bitte sprechen Sie weiter so ehrlich.< W. Evans, Woodbury, Utah

>Dieser Mann, der selber mehr als drei Jahrzehnte lang Lehrer war, kann Lehrerlnnen leichter klarmachen, was sie unbedingt wissen müssen, um etwas zu verändern, als dies ein Nicht-Lehrer je tun könnte. Deshalb freue ich mich ungemein, dass dieses GATTO-Werk jetzt auf deutsch erhältlich ist.< Vera F. Birkenbihl, Lernexpeftin, Autorin von >Stroh im Kopf