Was ist wirklich?: Neuere Beiträge zu Realismusdebatten in der Philosophie 9783110323146, 9783110322774

In der neueren Philosophie wird der Realismus in verschiedenen Debatten kontrovers erörtert. Dies hat sich inzwischen in

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Was ist wirklich?: Neuere Beiträge zu Realismusdebatten in der Philosophie
 9783110323146, 9783110322774

Table of contents :
Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Christoph Demmerling Realismus und Antirealismus
Marcus Willaschek Realismus und Intentionalität1 Eine ‚disjunktive’ Konzeption des Weltbezugs von Überzeugungen
Michael Esfeld Wie direkt soll ein Realismus sein?
Thomas Blume Realismus und Repräsentation
Ludger Jansen Dispositionen und ihre Realität
Christian Suhm Theoretische Entitäten und ihre realistische Deutung1
Holger Lyre Epistemischer versus semantischer Realismus1
Daniela M. Bailer-Jones Realist-Sein im Blick auf naturwissenschaftliche Modelle
Meinard Kuhlmann Zum Zusammenhang der Debatten um wissenschaftstheoretischen und Universalien-(Anti-)Realismus
Renate Huber Wie viel Realismus ist berechtigt? Minkowski – Poincaré
Frank Köhler Bemerkungen zu dem Verhältnis zwischen Protophysik und wissenschaftlichem Realismus*
Christoph Halbig Was ist moralischer Realismus? Zur Topographie eines Problemfeldes
Tatjana Tarkian Moralischer Realismus: Varianten und Probleme
Uwe Czaniera Die Realismusfrage in der Ethik (Vermeintliche) Erkennbarkeit und (wirkliche) Begründbarkeit der Moral
Kirsten B. Endres Werte und Gründe
Christian Weidemann Theologischer Antirealismus – und warum er so uninteressant ist
Kommentierte Auswahlbibliographie

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Christoph Halbig • Christian Suhm Was ist wirklich? Neuere Beiträge zu Realismusdebatten in der Philosophie

EPISTEMISCHE STUDIEN Schriften zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Herausgegeben von / Edited by Michael Esfeld • Stephan Hartmann • Mike Sandbothe Band 3 / Volume 3

Christoph Halbig • Christian Suhm

Was ist wirklich? Neuere Beiträge zu Realismusdebatten in der Philosophie

ontos verlag Frankfurt

.

Lancaster

Bibliographic information published by Die Deutsche Bibliothek Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliographie; detailed bibliographic data is available in the Internet at http://dnb.ddb.de



2004 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 3-937202-28-5

2004

All rights reserved. No part of this book may be reprinted or reproduced or utilized in any form or by any electronic, mechanical, or other means, now known or hereafter invented, including photocopying and recording, or in any information storage or retrieval system, without permission in writing from the publisher. Printed on acid-free paper (TcF-Norm). Printed in Germany.

Vorwort Zwei Motivationen liegen dem vorliegenden Sammelband mit Beiträgen zu Realismusdebatten in der neueren Philosophie zugrunde. Zum einen ist es reizvoll, einige der verschiedenen und inzwischen weit verzweigten Debatten um den Realismus zusammen in einem Buch zu behandeln und damit eine günstige Gelegenheit zu schaffen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Debatten in den Blick zu nehmen. Zum anderen liegt bislang noch keine deutschsprachige Zusammenstellung neuerer Arbeiten zur philosophischen Kontroverse um den Realismus vor. Natürlich hat auch dieser Band eine besondere Geschichte. Seine Ursprünge liegen in einem 1999 in Georgsmarienhütte von den Herausgebern veranstalteten Doktorandenkolloquium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Dort haben bereits einige der Autoren des Bandes Beiträge zur Realismusproblematik vorgestellt. Im Laufe der Jahre kamen weitere Autoren hinzu, wodurch es schließlich möglich wurde, zumindest drei philosophische Realismusdebatten durch mehrere Beiträge abzudecken. Den Autoren, die über einige Jahre hinweg dem Projekt dieses Bandes die Treue gehalten haben, gebührt unser ganz herzlicher Dank für ihre Arbeit und ihre Geduld. Unser besonderer Dank gilt auch Michael Esfeld, Stephan Hartmann und Mike Sandbothe für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe „Epistemische Studien“ sowie Rafael Hüntelmann für die Ermöglichung der Publikation im ontos-Verlag. Auch sie haben sehr viel Geduld aufgebracht und durch ihre freundliche Unterstützung des Projekts maßgeblich zu seinem Gelingen beigetragen. Schließlich möchten wir dem Förderkreis der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster und der Deutschen Bank Münster für ihre großzügige finanzielle Unterstützung dieser Veröffentlichung danken.

Januar 2004

die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis Einleitung

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Erkenntnistheoretischer Realismus Christoph Demmerling Realismus und Antirealismus. Zur Anatomie einer Debatte

29

Marcus Willaschek Realismus und Intentionalität. Eine ‚disjunktive’ Konzeption des Weltbezugs von Überzeugungen

49

Michael Esfeld Wie direkt soll ein Realismus sein?

81

Thomas Blume Realismus und Repräsentation

97

Ludger Jansen Dispositionen und ihre Realität

117

Wissenschaftstheoretischer Realismus Christian Suhm Theoretische Entitäten und ihre realistische Deutung. Vorschlag einer Strategie zur Verteidigung des wissenschaftlichen Realismus

139

Holger Lyre Epistemischer versus semantischer Realismus

183

Daniela Bailer-Jones Realist-Sein im Blick auf naturwissenschaftliche Modelle

201

Meinard Kuhlmann Zum Zusammenhang der Debatten um wissenschaftstheoretischen und Universalien-(Anti-)Realismus

223

Renate Huber Wie viel Realismus ist berechtigt? Minkowski – Poincaré

243

Frank Köhler Bemerkungen zu dem Verhältnis zwischen Protophysik und wissenschaftlichem Realismus

259

Moralischer und religiöser Realismus Christoph Halbig Was ist moralischer Realismus? Zur Topographie eines Problemfeldes

277

Tatjana Tarkian Moralischer Realismus: Varianten und Probleme

299

Uwe Czaniera Die Realismusfrage in der Ethik. (Vermeintliche) Erkennbarkeit und (wirkliche) Begründbarkeit der Moral

337

Kirsten B. Endres Werte und Gründe

377

Christian Weidemann Theologischer Antirealismus – und warum er so uninteressant ist

397

Kommentierte Auswahlbibliographie

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Einleitung Die nachfolgenden Kurzdarstellungen der in diesem Band versammelten Beiträge sollen zwei Zwecke erfüllen: Zum einen soll dem Leser die Möglichkeit gegeben werden, sich entlang der einzelnen Zusammenfassungen einen Eindruck über verschiedene Positionen und Thesen sowie einige grundlegende Argumentationsstränge der behandelten Realismusdebatten zu verschaffen. Zum anderen kann sich der Leser in dieser Einleitung gezielt und in kompakter Form über die in den einzelnen Beiträgen behandelten Themen informieren. Umfassende Einführungen in die verschiedenen Realismusdebatten bietet diese Einleitung nicht. Dies wird indes in einigen der Aufsätze dieses Bandes geleistet. In seinem Beitrag „Realismus und Antirealismus. Zur Anatomie einer Debatte“ setzt sich Christoph Demmerling kritisch mit einer Reihe von Standardvorwürfen auseinander, die Realisten unterschiedlichen Versionen des Antirealismus vorhalten. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei die antirealistische Behauptung, dass wir mit unseren Beschreibungen der Wirklichkeit keine Auskünfte über ein An-sich-Sein äußerer Gegenstände geben können. Im Unterschied zu einigen Verteidigern des Realismus hält Demmerling die zentralen Argumente von Antirealisten für diese Behauptung für bedenkenswert. Zunächst unterscheidet Demmerling drei Formen des Antirealismus: den phänomenalistischen, den hermeneutischen und den konstitutionsbezogenen (konstruktivistischen) Antirealismus. Nach dem phänomenalistischen Ansatz lässt sich Wissen von der Welt nur auf der Grundlage von Empfindungen bzw. Erfahrungen gewinnen und auch nur durch diese rechtfertigen. Eine Wirklichkeit jenseits aller Erfahrung ist für uns daher unerreichbar. Der hermeneutische Antirealismus beruft sich auf die in historischen Entwicklungen ausgeprägten unterschiedlichen Sprach- und Denkformen und reklamiert die grundlegende Abhängigkeit unserer Wirklichkeitsauffassungen von kulturell und historisch verschiedenen Begriffssystemen. Im Zentrum des konstitutionsbezogenen Typs des Antirealismus steht schließlich die These, dass die Wirklichkeit durch menschliches Denken und Handeln allererst konstituiert bzw. konstruiert wird.

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Einleitung

Demmerling betont, dass die vorgestellten Typen des Antirealismus im strengen Sinn keine ontologischen Thesen über die Existenz oder Nichtexistenz der Wirklichkeit implizieren, sondern bei ihnen vielmehr erkenntnistheoretische, sprachphilosophische und wahrheitstheoretische Überlegungen eine Rolle spielen. Daher griffen auch Standarderwiderungen von Realisten wie etwa Searle, die den Realismus explizit als ontologische Theorie auffassen, zu kurz. Auch Kritiker des hermeneutischen Antirealismus, die – wie z. B. Hans Albert – den Relativismusvorwurf gegen den Antirealismus stark machen, würden oft die Behauptungen der Antirealisten zu ihren eigenen Gunsten verzerren. Demmerling unterscheidet zur Vermeidung dieser Verwerfungen zwischen einer starken und einer schwachen Form des Relativismus. Nur die schwache Form, gemäß der unsere Überzeugungen und Theorien stets auf vorausgesetzte Begriffsschemata relativiert werden müssen, liege den meisten Antirealismen zugrunde und könne mit gutem Recht vertreten werden. Die starke Form des Relativismus, der zufolge verschiedene Begriffssysteme miteinander inkommensurabel sind, treffe sich mit dem Realismus – so Demmerling – gerade in der unplausiblen Annahme, dass es einen absoluten Standpunkt gebe, von dem aus alle unterschiedlichen Perspektiven verglichen werden könnten. Der gemäßigte Antirealismus, der auf dem schwachen Begriff von Relativismus beruht, könne hingegen gerade einen attraktiven ‚dritten Weg’ aufzeigen. Der Beitrag von Marcus Willaschek ist der Entfaltung einer Konzeption des Weltbezugs von Überzeugungen gewidmet, die ohne Repräsentationen, die zwischen Denken und Wirklichkeit vermitteln, auskommen soll. Insbesondere soll diese Konzeption damit vereinbar sein, dass es sich beim Common-Sense-Realismus um eine Selbstverständlichkeit handelt. Im Hintergrund dieser Adäquatheitsbedingung steht Willascheks Überzeugung, dass der Realismus gar keine philosophisch begründungsbedürftige Position ist. Philosophisch problematisch sei lediglich, eine Erklärung dafür zu geben, dass wir uns in unseren Gedanken auf eine von uns unabhängige Wirklichkeit beziehen können. Der kritische Ausgangspunkt der Überlegungen Willascheks ist die Beobachtung, dass repräsentationalistische Auffassungen des Weltbezugs von Überzeugungen den Realismus fragwürdig erscheinen lassen. Wenn die unmittelbaren Gehalte unserer Überzeugungen Repräsentationen sind,

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sei es nicht mehr selbstverständlich, dass wir uns in unseren Gedanken auf eine von uns unabhängige Wirklichkeit beziehen. Auch droht die oft mit dem Realismus in Verbindung gebrachte Gefahr des Skeptizismus, denn wenn wir die Wirklichkeit als denkunabhängig voraussetzen, uns in unserem Denken aber direkt nur auf mentale Repräsentationen beziehen können, ist die Möglichkeit des generellen Irrtums, also des generellen Falschseins unserer Überzeugungen, nicht ausgeschlossen. Willascheks Vorschlag für eine Konzeption des Weltbezugs, die den Realismus als Selbstverständlichkeit ausweisen soll, unterscheidet sich von repräsentationalistischen Ansätzen im Kern dadurch, dass die Beziehung zwischen Überzeugungen und der Wirklichkeit nicht durch einen wahrheitsneutralen propositionalen Inhalt erklärt wird, sondern gerade umgekehrt der propositionale Inhalt durch den Weltbezug von Überzeugungen. Im Anschluss an Collins entwickelt Willaschek eine disjunktive Konzeption des Weltbezugs von Überzeugungen, gemäß der es zwei Weisen gibt, wie sich eine Überzeugung auf die Welt beziehen kann, nämlich entweder so, dass sie wahr ist, weil etwas Bestimmtes der Fall ist, oder so, dass sie falsch ist, weil etwas Bestimmtes nicht der Fall ist. Die Wahrheit oder Falschheit einer Überzeugung hängt folglich direkt, d. h. nicht vermittelt durch eine Repräsentation, von der Wirklichkeit ab. Bezogen auf Subjekte führt Willaschek mittels der Weisen des Weltbezugs von Überzeugungen die entsprechenden Kategorien des Wahrglaubens und des Falschglaubens ein. Als Konsequenz aus dieser Konzeption ergibt sich ein starker Externalismus des Mentalen, da der Inhalt jeder einzelnen Überzeugung davon abhängt, was tatsächlich der Fall ist. Nur so wird nach Willaschek indes verständlich, wie wir uns unmittelbar auf eine von uns unabhängige Wirklichkeit beziehen können und wie der Realismus zu einer Trivialität wird, die keiner philosophischen Begründung bedarf. Michael Esfeld teilt mit Willaschek die Auffassung, dass das zentrale Problem des Realismus nicht in der Frage nach der Existenz einer von subjektiven Leistungen unabhängigen Wirklichkeit besteht, sondern in der Frage, wie wir uns – eine unabhängig von uns existierende Wirklichkeit vorausgesetzt – in unseren Gedanken auf eben diese Wirklichkeit beziehen können. Esfeld ist ebenfalls der Ansicht, dass die traditionelle Antwort auf diese Frage in Form einer Repräsentationstheorie des Geistes verfehlt ist. Ein repräsentationaler Realismus birgt seiner Ansicht nach die Gefahr, dass

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durch die Einführung von Repräsentationen ein epistemisches Bindeglied zwischen Gedanken und der Wirklichkeit eingeführt werde, was es gerade unverständlich mache, wie wir in unseren Gedanken einen epistemischen Zugang zur Wirklichkeit erlangen können. Der Vertreter eines direkten Realismus entgeht dieser Problematik dadurch, dass er epistemische Bindeglieder ablehnt und davon ausgeht, dass sich unsere Gedanken unmittelbar auf die Wirklichkeit beziehen können. Nach Esfeld beschwört der direkte Realismus nun allerdings ein Dilemma herauf: Wenn die Inhalte unserer Gedanken nicht durch Repräsentationen erfasst werden, muss entweder die Wirklichkeit selbst so feingliedrig sein wie unsere Gedankeninhalte, oder aber der direkte Realist ist nicht in der Lage, Bedeutungsunterschiede unserer Gedanken einzufangen – was wiederum für einen repräsentationalen Realismus spräche. Das erste Horn des Dilemmas erzwingt nach Esfelds Auffassung eine ‚extravagante’ Ontologie von Tatsachen als Bezugsgegenständen unserer Gedanken, das zweite Horn lässt die Feingliedrigkeit der Inhalte unserer Gedanken unerklärt. Esfeld, der einen direkten Realismus zu verteidigen sucht, führt im Weiteren aus, wie diese dilemmatische Situation durch eine inferentielle Semantik im Anschluss an Robert Brandom aufgelöst werden kann. Gemäß einer inferentiellen Semantik ist nicht der Repräsentationsbegriff, sondern der Begriff der Inferenz grundlegend. Der Inhalt eines Gedankens besteht demnach in seinen inferentiellen Beziehungen zu anderen Gedanken in einem holistisch verstandenen System von Gedanken. Damit wird das Problem des epistemischen Bindegliedes, wie es für den repräsentationalen Realismus typisch ist, vermieden. Esfeld betont darüber hinaus, dass eine inferentielle Semantik nur dann den Wirklichkeitsbezug unserer Gedanken erklären kann, wenn die Wirklichkeit eine entscheidende Rolle bei der Festlegung der inferentiellen Beziehungen von Gedankeninhalten spielt. Diese ‚Einbettung’ von Gedanken in die Wirklichkeit könne aber unter Rekurs auf eine pragmatische und normative Theorie des Gedankeninhalts plausibilisiert und damit der direkte Realismus überzeugend verteidigt werden. Thomas Blume befasst sich eingehend mit neueren repräsentationalistischen Ansätzen in der Philosophie des Geistes, die mit dem Anspruch auftreten, Qualia bzw. phänomenale Gehalte der Wahrnehmung zu

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externalisieren, sie also so zu konzipieren, dass sie den wahrgenommenen Gegenständen selbst zugeschrieben werden können. Der Zusammenhang zur erkenntnistheoretischen Realismusdebatte ist dadurch gegeben, dass eine repräsentationalistische Theorie des Geistes eine Versöhnung des wissenschaftlichen Realismus mit dem Alltagsrealismus in Aussicht stellt. Blume ist indes skeptisch, ob eine repräsentationalistische Theorie sinnlicher Wahrnehmung dies zu leisten vermag. Ausgangspunkt seiner kritischen Erwägungen sind die Begriffe der Kausalität und der Kovarianz, die in gegenwärtig favorisierten naturalistischen Repräsentationstheorien eine gewichtige Rolle spielen. Zum einen sei es äußerst fraglich, ob die Relation zwischen Wahrgenommenem und Wahrnehmung überhaupt als Kausalrelation aufgefasst werden kann. Zum anderen zeigten typische Beispiele für eine vermeintlich repräsentationale Beziehung zwischen mentalen Zuständen und der Wirklichkeit, dass eine Kovarianzrelation (also eine eineindeutige Zuordnungsrelation) zwischen Wahrnehmungen und wahrgenommenen Gegenständen oder Eigenschaften kaum besteht. Im Falle von Farbwahrnehmungen beispielsweise – dem klassischen Paradigma repräsentationalistischer Ansätze der Wahrnehmung – sei es gerade nicht so, dass einer bestimmten Farbempfindung eine bestimmte Wellenlänge des wahrgenommenen Lichts entspricht. Vielmehr – so führt Blume aus – sei das Phänomen der Metamerie zu berücksichtigen, d. h. die Tatsache, dass die Farbe eines Gegenstandes durch unendlich viele Kombinationen von Licht unterschiedlicher Wellenlänge realisiert werden kann. Von einer Kovarianz der Wahrnehmungen und bestimmten Eigenschaften der Wirklichkeit könne also keine Rede sein. Blume gelangt zu dem Ergebnis, dass die für eine Repräsentationstheorie der Wahrnehmung entscheidenden Elemente – Kausalität und Kovarianz – sich letztendlich als untauglich zur Charakterisierung des Verhältnisses von Wahrnehmung und Wahrgenommenem erweisen. Seiner Auffassung nach lassen sich Externalismus und Repräsentationalismus in der Wahrnehmungstheorie nicht zusammen vertreten. Als Alternative zum Repräsentationalismus schlägt er daher einen Alltagsrealismus vor, gemäß dem zwar Qualia bzw. sinnliche Aspekte der Wahrnehmung als Merkmale externer Gegenstände aufzufassen sind, auf die Idee einer naturalisierbaren Repräsentationsrelation aber verzichtet wird.

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Ludger Jansen befasst sich in seinem Beitrag mit der Frage nach der Realität von Dispositionen. Damit greift er eine Problematik auf, die sowohl für die allgemeine erkenntnistheoretische als auch für die wissenschaftstheoretische Realismusdebatte von Bedeutung ist. Er argumentiert entgegen vielfach vorgetragenen epistemologischen Bedenken gegenüber Dispositionen dafür, dass Dispositionszuschreibungen zur Erklärung der kausalen Rolle von Gegenständen und damit nicht nur im Alltag, sondern auch in den Wissenschaften unverzichtbar sind. Seit der frühen Neuzeit, so führt Jansen weiter aus, wird vielfach gegen die Realität von Dispositionen argumentiert, da es sich bei ihnen angeblich um „okkulte“ Eigenschaften handle, die eine Art „Gespensterdasein“ führten, und die daher in den empirischen Wissenschaften nicht respektabel seien. Gegen diese und andere Kritiken hält Jansen an einer realistischen Interpretation von Dispositionen fest, gemäß der Dispositionszuschreibungen wahr oder falsch sein können und in vielen Fällen auch wahr sind. Hinsichtlich des ontologischen Status unterscheidet Jansen monistische und dualistische Konzeptionen. Gemäß den ersteren gibt es entweder nur kategoriale, also nicht-dispositionale Eigenschaften, wobei Dispositionszuschreibungen auf Zuschreibung komplexer kategorialer Eigenschaften reduziert werden können, (kategorialer Monismus) oder nur dispositionale Eigenschaften (dispositionaler Monismus). Nach letzteren gibt es sowohl kategoriale als auch dispositionale Eigenschaften. Innerhalb der dualistischen Konzeptionen lässt sich wiederum zwischen schwachen und starken Varianten unterscheiden, je nach dem, ob Dispositionen eine eigenständige kausale Relevanz zugebilligt wird oder nicht. Jansen selbst argumentiert für einen neutralen Monismus, gemäß dem Eigenschaften weder kategorial noch dispositional sind. Die Unterscheidung kategorial/dispositional werde nur auf der sprachlichen Ebene getroffen. Des weiteren setzt er auseinander, dass Dispositionszuschreibungen auch eine irreduzible explanatorische Rolle zukommt. Entgegen der weit verbreiteten Auffassung, wissenschaftliche Erklärungen setzten die Zurückführung von Dispositionen auf mikrophysikalische Strukturen voraus, betont Jansen, dass die Aufdeckung mikrophysikalischer Strukturen zwar unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse vermehren würde, dass dabei aber prinzipiell nicht auf Dispositionszuschreibungen verzichtet werden könne.

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Christian Suhm unternimmt in seinem Beitrag den Versuch, eine Strategie zur Verteidigung des wissenschaftlichen Realismus zu entfalten, die sich auf einen differenzierten realistischen Beobachtungsbegriff und die Bedeutung der Prognosekraft wissenschaftlicher Theorien für die Theorienwahl stützt. Zunächst stellt er den wissenschaftlichen Realismus als eine Verknüpfung von vier Thesen dar, die in zwei Gruppen zu je zwei Thesen zerfallen. Die semantische These und die Existenzthese machen den ontologischen Aspekt des wissenschaftlichen Realismus aus, der die Unabhängigkeit der physischen Wirklichkeit von unseren Theorien über sie umfasst. Eine kriteriologische und eine wissenschaftshistorische These verdeutlichen den epistemologischen Aspekt des wissenschaftlichen Realismus, nach dem in den erfolgreichen Theorien der modernen Wissenschaften mindestens annäherungsweise Wissen über die physische Wirklichkeit zum Ausdruck kommt. Im Weiteren erläutert Suhm die These der empirischen Unterbestimmtheit von Theorien und die pessimistische Meta-Induktion als typische Argumentationen, die von Antirealisten des epistemologischen Typs vorgebracht werden, um die Wissensansprüche des wissenschaftlichen Realisten als unbegründet zu kritisieren. Ferner setzt sich Suhm kritisch mit der von van Fraassen in die Debatte eingeführten Beobachtbar/unbeobachtbar-Unterscheidung auseinander. Nach Suhms Auffassung vermag die van Fraassensche Begrenzung des Beobachtbaren durch Rekurs auf den menschlichen Sinnesapparat nicht zu überzeugen, da sie wissenschaftlich inadäquat sei und letztlich an einer Zirkularität scheitere. Im Anschluss an Shapere und Kosso entwickelt Suhm einen Beobachtungsbegriff, der dem Verständnis von Beobachtung in den modernen Wissenschaften gerecht werden und zudem der realistischen Intuition Rechnung tragen soll, dass es von der physischen Wirklichkeit abhängt, ob unsere Theorien erfolgreich sind oder nicht. Insbesondere sei es wichtig, zwischen Theorierelativität und Theorieabhängigkeit zu unterscheiden, um kenntlich machen zu können, wann eine Beobachtung zur empirischen Stützung einer Theorie taugt und wann nicht. Abschließend skizziert Suhm eine Strategie zur Verteidigung des wissenschaftlichen Realismus, die auf dem zuvor entwickelten Beobachtungsbegriff aufbaut und ihn in den Kontext der von Leplin hervorgehobenen Bedeutsamkeit der Vorhersagekraft einer Theorie stellt. Dabei stellt sich heraus – so Suhm –, dass erst vor dem Hintergrund eines realistischen

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Verständnisses von Beobachtung die Prognose sogenannter neuer Fakten als ein brauchbares Kriterium zur Ermittlung von approximativ wahren Theorien verwendet werden kann. Und erst dann könne die Frage entschieden werden, welche theoretische Entitäten realistisch zu interpretieren seien und welche nicht. Im Mittelpunkt der Überlegungen Holger Lyres stehen zwei Realismusthesen – eine semantische und eine epistemische –, die in verschiedener Hinsicht durch die theoretische Entwicklung der modernen Physik als fragwürdig erscheinen. Nach der These des semantischen Realismus besitzt die Beschreibung der Außenwelt eine eindeutige Interpretation. Die These des epistemischen Realismus betrifft die Beobachterunabhängigkeit der Außenwelt. Lyre führt anhand von Beispielen aus der Physik zunächst aus, dass der semantische Realismus sowohl durch Fälle von Konventionalismus als auch durch Fälle von Theorienunterbestimmtheit unterminiert wird. Konventionelle Elemente, die die Ontologie einer Theorie unangetastet lassen, aber die Semantik ihrer Grundbegriffe betreffen, ließen sich beispielsweise mit Blick auf die Theorie der Geometrie der Raumzeit oder die sogenannte „Hohlwelttheorie“ ausmachen. Im Unterschied dazu liegen im Fall theoretischer Unterbestimmtheit verschiedene, aber empirisch äquivalente Theorien vor. Lyre betont, dass es – ungeachtet der weit reichenden Diskussion um die wissenschaftstheoretischen Konsequenzen der empirischen Unterbestimmtheit von Theorien – äußerst schwierig sei, überzeugende Beispiele für sie aus den Wissenschaften anzuführen. Er erläutert als mögliche Kandidaten vier verschiedene Darstellungen der Allgemeinen Relativitätstheorie, drei Interpretationen des Aharonov-Bohm-Effekts sowie den Gegensatz zwischen Kopenhagener und Bohmscher Quantenmechanik. Entscheidend für diese zu einander empirisch äquivalenten Theoriealternativen sei das Vorliegen ontologischer Differenzen. Im Falle der unterschiedlichen Interpretationen der Quantenmechanik steht zusätzlich der epistemische Realismus zur Debatte. Lyre stellt heraus, dass nach der Kopenhagener Standardauffassung der Beobachter in einem Messprozess einen irreduziblen Faktor darstellt, durch den überhaupt erst die zu messende Größe bestimmt wird. In einem gewissen Sinne ‚erzeuge’ also der Beobachter einen Aspekt der von ihm beobachteten Realität. Nach der Bohmschen Auffassung – so Lyre – kann die Quantentheorie jedoch

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realistisch im epistemischen Sinn interpretiert werden, also so, dass keine Beobachterabhängigkeit der Realität folgt. Allerdings könne dies nur durch die Annahme von theoretischen Entitäten bewerkstelligt werden, die nicht mit der Standardinterpretation verträglich sind. In der Konsequenz ergeben sich also gravierende Differenzen der beiden Interpretationen in ontologischer Hinsicht und damit ein bedeutender Fall empirischer Unterbestimmtheit von Theorien. Resümierend wendet sich Lyre gegen eine Verwischung des Unterschieds zwischen dem semantischen und dem epistemischen Aspekt des Realismus. Auch dürfe das oft gegen den wissenschaftlichen Realismus vorgebrachte Argument der empirischen Unterbestimmtheit von Theorien nicht überbewertet werden. Nach Lyres Auffassung zeigen die von ihm aufgezeigten Fälle von Theorienunterbestimmtheit vielmehr an, dass unsere wissenschaftlichen Kenntnisse noch unvollständig sind. Weitere Forschungsresultate könnten durchaus zu einer Entscheidung zwischen rivalisierenden Theorien führen. Daniela Bailer-Jones befasst sich in ihrem Beitrag mit einem in der wissenschaftstheoretischen Realismusdebatte oft vernachlässigten Problem, nämlich der Frage, inwieweit wir Realisten mit Blick auf naturwissenschaftliche Modelle – im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Theorien – sein können. Voraussetzung ihrer Ausführungen ist, dass es in erster Linie Modelle, und eben nicht Theorien sind, die in den Naturwissenschaften die Rolle der Repräsentation der physischen Wirklichkeit übernehmen. Zur Debatte steht dann, ob naturwissenschaftliche Modelle von uns und unseren Modellen unabhängige Strukturen der Wirklichkeit zutreffend wiedergeben. Bailer-Jones stellt zunächst heraus, dass Modelle offensichtlich keine idealen Kandidaten für die Repräsentation von Strukturen der Wirklichkeit sind, da sie aufgrund von Annäherungen und Vereinfachungen empirisch oft ungenau sind, bisweilen Inkonsistenzen aufweisen und zumeist nur bestimmte Aspekte der Wirklichkeit darstellen. Gleichwohl sei anzuerkennen, dass mit Modellen durchaus unbeobachtbare Gegenstände und Prozesse postuliert und somit der Anspruch erhoben würde, Elemente der Wirklichkeit zu repräsentieren. Zu berücksichtigen sei ferner, dass Modelle im dem Sinne als dynamisch aufzufassen seien, dass bei veränderter em-

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pirischer Datenlage auch die Modelle verändert würden (z. B. im Fall der Entwicklung verschiedener Atommodelle). Entscheidend für die Frage, ob naturwissenschaftliche Modelle realistisch interpretiert werden könnten, sei nun – so führt Bailer-Jones weiter aus – die Tatsache, dass oft in Kauf genommen würde, dass Modelle die Wirklichkeit falsch wiedergeben. Dies geschehe nämlich dann, wenn die wesentliche Funktion eines Modells nicht in der exakten Wiedergabe empirischer Daten, sondern beispielsweise in der Veranschaulichung oder didaktischen Vermittlung eines Sachverhalts bestehe. Auch pragmatische Kriterien wie die Einfachheit oder Handhabbarkeit eines Modells würden bisweilen höher eingeschätzt als ihre empirische Adäquatheit. Modelle und ihre Funktionen seien folglich von den sie benutzenden Personen nicht zu trennen und insofern interessenrelativ. Anhand der Positionen von Ronald Giere und Nancy Cartwright macht Bailer-Jones auf die aus diesen Umständen folgenden Schwierigkeiten einer realistischen Interpretation von Modellen aufmerksam. Ihrer Analyse zufolge erfordert eine gebührende Berücksichtigung von naturwissenschaftlichen Modellen entweder die mit der Position des wissenschaftlichen Realismus verbundenen Erkenntnisansprüche neu zu bestimmen (wenn man anerkennt, dass sich mit Modellen eben stets nur bestimmte Aspekte der Wirklichkeit erkennen lassen, andere aber nicht) oder sogar antirealistische Konsequenzen zu akzeptieren (wenn man davon ausgeht, dass die mit Modellen beschriebene Wirklichkeit gerade in zentralen Aspekten von uns und unseren Interessen abhängig ist). Meinard Kuhlmann stellt sich der im Kontext der wissenschaftstheoretischen Realismusdebatte noch weitgehend unbeachteten Frage, welche Zusammenhänge es zwischen dem wissenschaftlichen Realismus (bzw. wissenschaftlichen Antirealismus) und dem Universalienrealismus (bzw. Universalienantirealismus) gibt. Während es in der Kontroverse um den wissenschaftlichen Realismus um die Wahrheit wissenschaftlicher Theorien geht, steht beim Problem des Universalienrealismus zur Debatte, ob Eigenschaften unabhängig von den Einzeldingen, denen sie zugeschrieben werden, existieren. Zunächst stellt Kuhlmann heraus, dass es natürliche Affinitäten zwischen den realistischen Positionen beider Debatten gibt, beispielsweise mit Blick auf Naturgesetze. Ein wissenschaftlicher Realist, der die objektive

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Gültigkeit von allgemeinen Naturgesetzen anerkennt, sei geneigt, auch die Existenz von Eigenschaften als allgemeinen Entitäten zur Erklärung der Naturgesetze anzunehmen. Andererseits könne mit einer realistischen Interpretation der Quantentheorie auch gegen die Existenz von Universalien argumentiert werden, wenn nämlich die Individuationsbedingungen von Elementarteilchen berücksichtigt würden. Auch die anderen Kombinationsmöglichkeiten (wissenschaftlicher Antirealismus und Universalienrealismus bzw. wissenschaftlicher Realismus und Universalienantirealismus) ergäben durchaus vertretbare Positionen. Kuhlmann analysiert das Verhältnis der beiden Realismusdebatten ferner anhand der in den Debatten vornehmlich behandelten Argumente für und wider den Realismus. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass in beiden Fällen verschiedene metatheoretische Prinzipien eine bedeutende Rolle spielen (im Falle des Universalienrealismus z. B. die ontologische Sparsamkeit, im Falle des wissenschaftlichen Realismus z. B. die Einfachheit von Theorien angesichts des Problems der empirischen Unterbestimmtheit von Theorien).Während es jedoch bei der Universalienproblematik um die Frage gehe, welche Entitäten angenommen werden müssen, wenn unsere sinnvollen Aussagen über die Welt als wahr vorausgesetzt werden, wird in der wissenschaftstheoretischen Realismusdebatte gerade die Wahrheit von Theorien auf den Prüfstand gestellt. Kuhlmann resümiert daher, dass es trotz reichhaltiger Bezüge zwischen den untersuchten Debatten und einer Reihe von argumentativen Verknüpfungen einzelner Positionen eine relative Unabhängigkeit zwischen dem Universalienrealismus und dem wissenschaftlichen Realismus gibt. Renate Huber widmet sich in ihrem Beitrag anhand einer historischen Fallstudie – den unterschiedlichen Interpretationen der Relativitätstheorie durch Minkowski und Poincaré zu Beginn des 20. Jahrhunderts – der Frage, wie viel Realismus bei der Interpretation physikalischer Theorien berechtigt ist. Während Minkowski für ein realistisches Verständnis der Relativitätstheorie steht, macht Poincaré epistemologische Bedenken geltend und gelangt zu einer skeptischen Einschätzung der mit physikalischen Theorien verbundenen Wissensansprüche. Huber hebt hervor, dass sowohl Minkowski als auch Poincaré in besonderem Maße an den mathematischen Strukturen einer physikalischen Theorie, vor allem an Symmetrien und Invarianzen, interessiert sind. Während Minkowski diese jedoch als

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notwendige und hinreichende Kriterien für die realistische Interpretation bestimmter Theorieelemente ansehe, dienten sie nach der Auffassung Poincarés bestenfalls zur Rechtfertigung eines eingeschränkten Strukturenrealismus. Anhand einschlägiger Textpassagen weist Huber nach, dass Minkowski der Relativitätstheorie in höchstem Maße erkenntnisoptimistisch gegenübersteht. Für ihn stellt das Konzept einer vierdimensionalen Raumzeit keineswegs ein bloß zweckmäßiges mathematisches Hilfsmittel dar, sondern eine adäquate Beschreibung der realen Struktur der Raumzeit – solange jedenfalls die Übereinstimmung mit den Phänomenen gewährleistet ist. Poincaré hingegen weist auf die unhintergehbaren Voraussetzungen der Theoriebildung in Form universeller Prinzipien hin (z. B. das Kausalprinzip oder das Induktionsprinzip), die durch physikalische Theorien selbst gar nicht bestätigt oder widerlegt werden können. Als Konsequenz aus seinem Erkenntnisskeptizismus ergeben sich bei Poincaré ein Konventionalismus und Begriffskonservatismus, die es auch angesichts empirischer Erfolge der Relativitätstheorie nicht als zwingend erscheinen lassen, diese realistisch zu deuten. Huber präzisiert den Poincaréschen Skeptizismus ferner durch Ausführungen zu den sogenannten geschlossenen kompensierenden Effekten, die für Poincaré eine fundamentale erkenntnistheoretische Funktion erfüllen. Jede Theorie lasse sich nach Poincaré durch die Annahme zusätzlicher Hypothesen gegen mit ihr im Widerstreit stehende Phänomene verteidigen. Dies geschehe eben durch die Annahme kompensierender Effekte, die eine empirisch nicht bestätigte Konsequenz einer Theorie gerade so aufheben, dass Übereinstimmung mit den Beobachtungen erreicht wird. Auf diesem Weg ließen sich nun auch klassische Prinzipien der Physik nach Gesichtspunkten der Einfachheit und Bequemlichkeit gegen neue rivalisierende Theorien wirkungsvoll verteidigen. Im Beitrag von Frank Köhler geht es um die Verknüpfung von zwei Debatten, die in den letzten Jahrzehnten weitestgehend getrennt voneinander geführt wurden: einerseits die vor allem in der angelsächsischen Philosophie ausgetragene Kontroverse um den wissenschaftstheoretischen Realismus, andererseits die im deutschsprachigen Raum beheimatete Debatte um die Protophysik. Ziel der Erörterungen Köhlers ist es zu zeigen, ob und inwieweit die auf den ersten Blick konstruktivistisch aus-

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gerichtete Protophysik mit der Position des wissenschaftlichen Realismus zusammengeführt werden kann. Der wesentliche Ausgangspunkt protophysikalischer Argumente – so Köhler – ist der Verweis auf die Notwendigkeit einer methodisch begründeten Messtheorie, die als Fundament der Physik und der in ihr eingeführten physikalischen Größen dient. Dabei sei es vor allem bedeutsam, den methodischen Zirkel zu vermeiden, bei der Auswahl geeigneter Messgeräte bereits auf physikalische Theorien zurückzugreifen, die mit bestimmten Messverfahren allererst begründet werden müssen. Im Sinne des Dinglerschen Prinzips der methodischen Ordnung ist es also erforderlich, zunächst die messtheoretischen Voraussetzungen der Physik, z. B. die Bestimmung eines starren Körpers, in einer Protophysik zu klären. Ein besonderes Augenmerk richtet Köhler auf die Kritik der Vertreter der Protophysik an der Relativitätstheorie. Während wissenschaftliche Realisten geneigt sind, die Frage nach der geometrischen Struktur des Raumes als eine empirische Frage zu verstehen, die durch die Relativitätstheorie zufriedenstellend beantwortet wird, machen Protophysiker methodische Bedenken geltend. Nach der Protophysik ist die Euklidizität des Raumes wesentlich im Messprozess verankert und kann nicht durch eine Theorie widerlegt werden, die selbst auf diesen euklidisch charakterisierten Messprozessen beruht. Im Gegensatz dazu steht jedoch das Problem der Protophysik, das universelle Auftreten relativistischer Effekte zu erklären. Die Annahme von Störungen im Sinn des Dinglerschen Prinzips der Exhaustion vermag nach Köhler nicht zu überzeugen. Allerdings sieht er durchaus Chancen für eine Annäherung der Protophysik an ein realistisches Verständnis der modernen Physik gegeben, sofern Realisten bereit sind, methodisch und messtheoretisch motivierte Modifikationen an Theorien zuzulassen. Spannungen zwischen der Protophysik und der Position des wissenschaftlichen Realismus seien indes unumgänglich. Anhand der Frage ‘Was ist moralischer Realismus?’ geht Christoph Halbig dem Problem der Kriterien nach, die eine metaethische Position erfüllen muss, will sie als Variante des moralischen Realismus gelten. Er entwickelt zunächst einen unkontroversen Minimalbegriff des moralischen Realismus, der die beiden Komponenten des Kognitivismus – moralische Urteile sind wahrheitsfähig – und die der Falschheit einer Irrtumstheorie –

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einige dieser Urteile sind tatsächlich wahr – umfasst sowie den Kriterien der Angemessenheit und der Sinngemäßheit genügt. Für die Formulierung eines reichhaltigeren Begriffs von moralischem Realismus, der über den Minimalbegriff hinausweist, erweist sich nun die Kategorie der Objektivität als entscheidend. Halbig unterscheidet zwischen drei unterschiedlichen Bedeutungen der Opposition ‚Subjektivität vs. Objektivität’, die es in diesem Zusammenhang auseinander zu halten gilt. Wer moralische Urteile als objektiv betrachtet, kann in einem ersten und schwächsten Sinne damit lediglich meinen, dass sie wahrheitsfähig sind. Diese Form des Objektivismus fällt mit dem Kognitivismus zusammen. In einem zweiten und stärkeren Sinne jedoch kann die Objektivität moralischer Urteile meinen, dass diese nicht nur wahrheitsfähig sind, sondern auch objektiv wahr sein können. Im Hintergrund steht hier die Intuition, dass es eine richtige Antwort auf moralische Probleme geben muss; die Antwort wird nicht dadurch richtig, dass der, der sie gibt, sie für richtig hält. Was aber macht eine Antwort zur richtigen Antwort? Hier ergibt sich eine entscheidende Weichenstellung durch die Frage, ob sich ein Verfahren zur Ermittlung der richtigen Antwort formulieren lässt, ohne dabei auf die Existenz moralischer Tatsachen rekurrieren zu müssen. Substantielle moralische Realisten, die dies für unmöglich halten, können darauf verweisen, dass die richtige Antwort eben die sein muss, die den moralischen Tatsachen entspricht. Welchen Status jedoch haben diese moralischen Tatsachen? An dieser Stelle kommt eine dritte Bedeutung des Objektivitätsbegriffs zum Tragen: Objektivität charakterisiert hier nun nicht den Wahrheitsbegriff, sondern bildet eine ontologische Bestimmung moralischer Werte als den Entitäten, die unsere entsprechenden Urteile wahr machen sollen. Aber muss der moralische Realist die vollständige Unabhängigkeit dieser Werte von subjektiven Leistungen annehmen, oder lässt sich ein schwächerer Objektivitätsbegriff vertreten, ohne den Realismus zu verlassen? Auf der Grundlage der eingeführten Differenzierungen steht am Ende des Beitrags von Halbig die Ausarbeitung eines Begriffs des moralischen Realismus, der spezifisch genug sein soll, um seine Trennschärfe in der metaethischen Debatte zu behaupten, gleichzeitig aber allgemein genug, um ein breites Theoriespektrum innerhalb des moralischen Realismus zu eröffnen.

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Bereits der Minimalbegriff des moralischen Realismus impliziert indes, dass jede seiner Varianten darüber Auskunft geben muss, welche Entitäten es denn sind, die moralischer Urteile wahr machen, d. h. sie muss eine Theorie moralischer Tatsachen ausarbeiten. Tatjana Tarkian nimmt die Unterscheidung drei grundlegender Typen einer solchen Theorie, nämlich des Naturalismus, des Supernaturalismus und des Nonnaturalismus, zum Ausgangspunkt ihrer Klassifizierung unterschiedlicher Varianten des moralischen Realismus: Ethische Naturalisten betrachten moralische Tatsachen als natürliche Tatsachen, wie sie in den Natur- oder empirischen Sozialwissenschaften untersucht werden, ethische Nonnaturalisten als supernatürliche Eigenschaften, die sich aus den Attributen bzw. aus Willensakten Gottes ableiten, ethische Nonnaturalisten schließlich betrachten moralische Eigenschaften als eine Eigenschaftsklasse sui generis, die einer eigenen ontologischen Dimension angehört und sich weder dem Bereich der natürlichen noch dem der übernatürlichen Entitäten zuordnen lässt. Im Zentrum des Beitrags von Tarkian steht nun die Ausarbeitung einer Taxonomie der innerhalb des moralischen Naturalismus vertretenen Positionen. Leitend ist hier die Fragestellung, ob eine Reduzierbarkeit moralischer auf natürliche Tatsachen angenommen wird – der reduktive Naturalist bejaht dies, der nicht-reduktive verneint diese Möglichkeit – und, falls eine solche Reduzierbarkeit unterstellt wird, ob diese lediglich als ontologische These behauptet wird oder darüber hinaus auch eine semantische Reduzierbarkeit angenommen wird, der zufolge eine Bedeutungsidentität zwischen moralischen und natürlichen Prädikaten besteht. Die einzelnen hier unterschiedenen Positionen werden von Tarkian jeweils ihm Zusammenhang der ihnen zugrundeliegenden semantischen, metaphysischen und epistemologischen Annahmen diskutiert. Auf der Grundlage der erreichten Ergebnisse unternimmt Tarkian eine zusammenfassende Charakterisierung des Naturalismus und des Nonnaturalismus als den beiden Hauptströmungen des zeitgenössischen moralischen Realismus, um abschließend im Rahmen einer kritischen Prüfung der Stärken und Schwächen beider Ansätze aufzuzeigen, wie sich für beide das Problem der Rekonstruktion der Normativität bzw. des handlungsleitenden Charakters moralischer Urteile in je spezifischer, jedoch gleichermaßen dringlicher Weise stellt: Naturalistische moralische Realismen tendieren dazu, diese Normativität schlicht zu bestreiten; sie vertreten einen normativen und motivationalen Externalismus, demzufolge moralische

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Urteile weder einen Grund noch ein Motiv, entsprechend zu handeln, implizieren. Mit dieser Annahme wird zwar die Formulierung einer konsistenten Theorie möglich, gleichzeitig tritt aber eine Spannung zu den – nun erklärungsbedürftigen – internalistischen Aspekten unserer Moralphänomenologie auf. Der Nonnaturalist wiederum, der am Internalismus festhält, steht vor der schwierigen Aufgabe der Ausarbeitung einer adäquaten Ontologie und Epistemologie normativer Tatsachen, die gleichermaßen dem rezeptiven wie dem konstruktiven Aspekt praktischer Rationalität Rechnung zu tragen vermag. Während Tarkian mit einem Ausblick auf interne Probleme endet, vor die sich die Ausarbeitung eines überzeugenden naturalistischen bzw. nonnaturalistischen Realismus gestellt sieht, erübrigt sich für Uwe Czaniera eine solche Aufgabe: Für ihn erweist sich der moralische Realismus ganz unabhängig von der Frage seiner konkreten Gestalt insgesamt als unhaltbare Position. Auf die einleitende Explikation eines für die metaethische Diskussion adäquaten Realismusbegriffs schließt sich ein Überblick über die wichtigsten historischen Stationen der antirealistischen Tradition von der antiken Sophistik über Hume und den logischen Empirismus bis zu Hare an, dessen Theorie Czaniera als die elaborierteste und aussichtsreichste bisher vertretene Form des Antirealismus betrachtet: Sie erlaube es, allein gestützt auf eine Analyse der Semantik moralischer Ausdrücke, empirisches Wissen und bestehende Präferenzen Kriterien für eine rationale Auswahl moralischer Prinzipien zu generieren. Mit Hares Variante des Antirealismus sieht Czaniera die Perspektive einer rationalen Moralbegründung eröffnet, die ohne die aus ontologischen und epistemologischen Gründen gleichermaßen problematische Annahme moralischer Tatsachen auskommen kann. Damit ist aber nur gezeigt, dass der moralische Realismus keine zwingende Voraussetzung für eine rationale Moralbegründung bildet; die Möglichkeit, dass er dennoch die zutreffende metaethische Position bildet, bleibt natürlich offen. Im Durchgang durch die wichtigsten – semantischen, epistemologischen, wissenschaftstheoretischen und werttheoretischen – Argumente, die in der Diskussion zugunsten des moralischen Realismus formuliert worden sind, versucht Czaniera deshalb den Nachweis führen, dass keines dieser Argumente überzeugen kann, der moralische Realismus mithin als unbegründet verworfen werden muss. Auch wenn, so sein Fazit, einzelne Bausteine der

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innerhalb des moralischen Realismus erarbeiteten Auswahlverfahren für moralische Prinzipien in eine antirealistische Theorie der Moral integriert werden könnten, bleibt der Antirealismus selbst die einzig überzeugende metaethische Option. Die Frage nach der Ontologie und Epistemologie moralischer Werte steht nach Auffassung der meisten Vertreter eines moralischen Realismus in engem Zusammenhang mit dem Problem praktischer Rationalität. Worin nämlich, so fragen moralische Realisten, die zugleich eine werte-basierte Theorie normativer Gründe vertreten, soll der Grund dafür bestehen, sich großzügig zu verhalten, wenn nicht in dem Wert, den die Tugend der Großzügigkeit darstellt? Zugleich stellt der Wert der Großzügigkeit nicht nur einen normativen Grund dar, der für eine entsprechende Handlung spricht, er bildet auch – zumindest im Fall des Tugendhaften, der erkannt hat, dass hier seine Großzügigkeit gefragt ist, und sich danach richtet – den motivierenden Grund, der erklärt, warum von ihm tatsächlich so gehandelt wurde. Genau in der Annahme eines solchen integralen Zusammenhangs von Problemen der Werttheorie einerseits, Problemen praktischer Rationalität andererseits sieht Kirsten Endres einen entscheidenden methodischen Irrtum, der einem adäquaten Verständnis beider Problembereiche im Wege stehe. Endres zeigt zunächst, dass praktischen Gründen nicht nur eine normative und eine motivierende Dimension zukommt, sondern dass sie zusätzlich die Bedingung der Zugänglichkeit für das Subjekt, für das solche Gründe bestehen sollen, erfüllen müssen. Anhand einer exemplarischen Analyse von John McDowells Theorie praktischer Gründe, wie er sie im Rahmen seiner tugendethischen Variante des moralischen Realismus ausgearbeitet hat, zeigt Endres die Schwierigkeiten auf, die sich gerade im Bereich der Moral aus der Nichtberücksichtigung der Zugänglichkeitsbedingung ergeben: McDowell gelingt es nach Endres nicht, befriedigend zu erklären, in welchem Sinn nichttugendhaften Personen überhaupt noch ein Grund zugeschrieben werden kann, moralisch zu handeln. McDowell könne solchen Personen nur um den inakzeptabel hohen Preis praktische Gründe zuschreiben, dass er (entgegen seinen eigenen ausdrücklichen Absichten) sowohl einen normativen wie einen motivationalen Externalismus bejaht. Das Scheitern von McDowells Theorie praktischer Gründe steht nach Endres exemplarisch für das Scheitern eines jeden Versuchs, aus einer axiologischen Theorie die Grundlagen

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einer Theorie praktischer Rationalität abzuleiten. Die Frage, welche Theorie die drei genannten Dimensionen praktischer Gründe am besten zu explizieren erlaubt, sollte, so Endres’ methodologische Forderung, ganz unabhängig davon geklärt werden, welche Position man innerhalb der Debatte um den moralischen Realismus bezieht. In Endres’ Konzeption würde die Debatte um den moralischen Realismus daher zumindest von der Hypothek entlastet, auf ihrem Boden implizit oder explizit die Frage nach den Gründen für unser Handeln mit zum Austrag bringen zu müssen. Sowohl Theisten wie Atheisten argumentieren traditionell auf dem Boden dessen, was man einen – zumeist unthematischen – kognitivistischen Konsens nennen könnte: Sie stimmen darin überein, dass religiöse Aussagen wahrheitsfähig sind. Während Theisten zu zeigen versuchen, dass zumindest einige solcher Aussagen über die Existenz, Attribute usf. Gottes tatsächlich auch wahr sind, bestreitet der Atheist dies. Für ihn erweisen sich alle diese Aussagen bei näherer Prüfung als falsch – weil sie nämlich auf einer unzutreffenden Existenzannahme beruhen; Gott existiert eben nicht. Erst als A. J. Ayer in seinem Buch Language, Truth and Logic (1936) religiöse Rede insgesamt unter Sinnlosigkeitsverdacht stellte, insofern sie dem von ihm formulierten Verifikationskriterium der Bedeutung nicht genügt, wurde die Grundlage dafür geschaffen, diesen Konsens in Frage zu stellen: Aussagen haben nach Ayer nur dann einen kognitiven Sinn, wenn sie entweder analytisch sind oder durch empirische Beobachtungen (wenigstens prinzipiell) verifizierbar sind. Religiöse Aussagen sind hingegen weder analytisch noch verifizierbar und daher sinnlos. Versuche, die Pointe religiöser Sprache nicht in der Artikulation assertorischer Äußerungen, sondern etwa in der Kommunikation von moralischen oder emotiven Einstellungen zu sehen, erschienen vor diesem Hintergrund als aussichtsreiche Optionen, die es erlauben sollten, durch eine nonkognitivistische Reinterpretation religiöser Aussagen diese vor der Sinnlosigkeit zu retten. Parallel zu solchen Versuchen einer nonkognitivistischen Deutung verlaufen reduktionistische Ansätze (deren Wurzeln bereits ins 19 Jh. zurückreichen), die religiöse Aussagen zwar im Gegensatz zum Nonkognitivismus als wahrheitsfähig betrachten, der Religion jedoch einen eigenständigen Gegenstandsbereich absprechen. Die Tatsachen, die religiöse Aussagen wahr machen, sind ihnen zufolge nicht, wie gemeinhin unterstellt, spezifisch religiöse Entitäten (z. B. Gott), sondern

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natürliche Entitäten, etwa solche psychologischer oder sozialer Natur. In der Einkleidung religiöser Sprache würden wir z. B. tatsächlich über Klassengesetzte oder psychische Konflikte reden. Einen dritten grundlegenden Typus des religiösen Anti-Realismus bildet der sogenannte Wittgensteinianismus, der sich durch einen Bezug auf die verstreuten und unsystematischen Äußerungen Wittgensteins zur Religion definiert. Die unter diesem Titel vertretenen Positionen weisen indes bestenfalls eine – um einen anderen Begriff Wittgensteins zu verwenden – lockere Familienähnlichkeit auf und konvergieren zum Teil mit nonkognitivistischen und reduktionistischen Ansätzen. Christian Weidemann unterzieht in seinem Beitrag alle drei Haupttypen des religiösen Anti-Realismus einer eingehenden Prüfung. Ausgehend von einer dem Bereich der Religion adäquaten Definition des Realismusbegriffs gibt er jeweils eine inhaltliche Charakterisierung der drei Typen und zeigt ihre internen Ausdifferenzierungen auf, um sich auf dieser Grundlage mit den wesentlichen für sie formulierten Argumenten kritisch auseinander zu setzen. Weidemann beschließt seine Argumentation mit der Formulierung des ‘Mysteriums des religiösen Antirealismus’. Keiner der von ihm geprüften Typen lässt sich seiner Auffassung nach als eine adäquate Rekonstruktion des Religiösen stabilisieren: Wenn, wie von ihnen übereinstimmend unterstellt, der Anspruch, rational begründete Aussagen über einen genuin religiösen Gegenstandsbereich mit Anspruch auf universale Geltung zu fällen, nicht eingelöst werden kann, bleibe als Alternative eben nur eine (agnostische oder atheistische) Abkehr von solchen Aussagen. Der antirealistische Versuch, trotz einer solchen Diagnose den Begriff des Religiösen affirmativ für sich zu beanspruchen, beruht nicht nur, wie Weidemann zu zeigen versucht, auf philosophisch kritikwürdigen Argumenten, sondern verfehlt dessen sachlichen Gehalt, wie er der Praxis religiöser Menschen zugrunde liegt. Antirealistische Theorien sind für Weidemann verfehlte Theorien eines von ihnen grundsätzlich verkannten Gegenstandsbereichs. Aus diesem Grunde stelle nicht die Tatsache, dass vernünftige Menschen an religiösen Überzeugungen festhalten, sondern deren philosophische Deutung im Sinne des Antirealismus – in Anspielung auf Mackies von Hume inspirierte Wendung des miracle of theism – das eigentliche Mysterium dar, dessen Krankengeschichte es darzustellen gilt.

Christoph Demmerling

Realismus und Antirealismus Zur Anatomie einer Debatte

Es gibt Diskussionen in der Philosophie, die sich nicht verabschieden lassen. Glaubt man sie einmal zu Grabe getragen zu haben, stehen sie oft genug – in der Regel mit neuen und den Moden der Zeit entsprechenden Kleidern – wieder auf. Dazu gehört auch der Streit um die Frage, ob die Vorstellung einer von unseren Wahrnehmungen, Handlungsvollzügen, von unseren Sprach- und Denkmöglichkeiten oder unseren Überzeugungen unabhängigen Welt überhaupt eine sinnvolle Vorstellung ist. Anhänger des Realismus verteidigen die Auffassung, dass die Wirklichkeit ganz unabhängig von uns ist, was und wie sie ist. Sie lassen sich von den folgenden Thesen leiten: 1.) Mit Wörtern wie „Welt“ oder „Wirklichkeit“ beziehen wir uns auf etwas, was es unabhängig vom menschlichen Geist, vom Denken, den Erkenntnismöglichkeiten und der Sprache des Menschen gibt. 2.) Diese Wirklichkeit ist auf eine bestimmte Art und Weise beschaffen. Ihr kommt eine bestimmte Art von Struktur zu, die sich 3.) prinzipiell auch erkennen lässt. 4.) Es mag zwar unterschiedliche Beschreibungen der Wirklichkeit geben, aber nur eine davon kann richtig sein, und schließlich: 5.) Da Realisten meistens Anhänger einer Korrespondenztheorie der Wahrheit sind und eigentlich einer kausalen bzw. externalistischen Theorie der Bezugnahme verpflichtet sein müssten, gehen sie davon aus, dass wahre Sätze und Überzeugungen mit der Wirklichkeit, mit Tatsachen oder Sachverhalten übereinstimmen, und dass sich die in wahren Sätzen vorkommenden singulären Termini auf etwas in der Welt beziehen. Obwohl der Realismus eine auf den ersten Blick sehr attraktive Auffassung ist, für die vieles zu sprechen scheint, mangelt es in der Gegenwartsphilosophie nicht an Versuchen, Einwände gegen diese Position zu formulieren. Die Gegner des Realismus sind der Tradition des abendländischen Skeptizismus und Idealismus verpflichtet. In der neueren Diskussion hat sich als Sammelbegriff für diese Auffassungen der Terminus Antirealismus eingebürgert.1 Die antirealistischen Positionen unterscheiden sich im ein1

Zur neueren Debatte, in der es im Anschluss an M. Dummett insbesondere um die Frage geht, inwieweit der traditionelle Realismusstreit letztlich als eine Diskussion

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zelnen voneinander und es ist sicherlich etwas anderes, ob der Antirealismus in bezug auf bestimmte Gegenstandsbereiche wie Universalien, Normen oder mentale Ereignisse vertreten wird, oder ob es sich um einen Antirealismus allgemeineren Zuschnitts handelt. Im Rahmen des allgemeineren Antirealismus wird vielfach generell bestritten, dass die Beschreibungen der Welt oder Wirklichkeit – gleiches gilt selbstverständlich für die Beschreibung einzelner Dinge in der Welt – je Auskunft über die Beschaffenheit von deren An-sich-sein geben können. Trotz aller Unterschiede im einzelnen sind für den Antirealismus im allgemeinen die folgenden Behauptungen charakteristisch: 1.) Mit Wörtern wie „Welt“ oder „Wirklichkeit beziehen wir uns auf nichts, was es unabhängig vom menschlichen Geist, von unserem Denken, unseren Erkenntnismöglichkeiten und unserer Sprache gibt.2 2.) Der Wirklichkeit kommt keine bestimmte Struktur zu, die deren An-sich-sein ausmachen würde. 3.) Selbst wenn dem so wäre, könnten wir diese Beschaffenheit der Wirklichkeit ohnehin nicht erkennen, weil 4.) die Wirklichkeit immer nur im Rahmen bestimmter Beschreibungssysteme erkannt werden kann. Dabei kann es durchaus unterschiedliche Beschreibungssysteme geben, die in gleicher Weise zutreffend sein können, und schließlich: 5.) Wahre Sätze und Überzeugungen sind nicht deshalb wahr, weil sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen, sondern weil sie sich besonders gut in unser Überzeugungssystem einfügen (Kohärenz), weil wir uns aus bestimmten Gründen auf sie geeinigt haben (Konsens), oder weil sie uns als rational annehmbar erscheinen und wir diese Sätze rechtfertigen können (Verifikationismus).

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über Bedeutungstheorien bzw. den Bedeutungsbegriff zu führen sei, vgl. die Beiträge in: P. A. French/T. E. Uehling/H. K. Wettstein (Hg.), Realism and Antirealism. Midwest Studies in Philosophy Vol. XII, Minneapolis 1988; Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Realismus und Antirealismus, Frankfurt a. M. 1992. Streng genommen beziehen wir uns manchen Auffassungen zufolge mit solchen Wörtern auf gar nichts; es handelt sich vielmehr um Wörter, die – wie Quine das einmal ausgedrückt hat – einen semantischen Aufstieg ausdrücken. Es sind Wörter, die insbesondere in der Philosophie dazu dienen, den Diskurs auf eine andere Ebene zu heben, weshalb sie gelegentlich auch „Hebewörter“ genannt werden. Man redet plötzlich nicht mehr von irgendwelchen Dingen, sondern über etwas anderes, von dem nicht ganz klar ist, was das eigentlich ist. Vgl. W. V. O. Quine, Wort und Gegenstand, Stuttgart 1980, 465 ff.; ferner: I. Hacking, Was heißt ‚soziale Konstruktion’? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, Frankfurt a. M. 1999, 43 ff.

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Wenn ich den Stand der Debatte richtig einschätze, befinden sich die Antirealisten in der Defensive. Dazu nur zwei Beispiele: J. R. Searle beispielsweise meint zu bemerken: „(S)obald man einmal die Behauptungen und Argumente der Antirealisten offenlegt, nackt und unverhüllt, neigen sie dazu, ziemlich lächerlich auszusehen.“ Was Searle als Antirealismus präsentiert, macht in der Tat diesen Eindruck, verdankt sich allerdings weitreichenden Simplifikationen und Fehleinschätzungen: Antirealistisch nennt er „erstens die Ansicht, dass alle Wirklichkeit aus bewussten Zuständen besteht, und zweitens die Ansicht, dass die Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert ist, dass das, was wir als die ‚reale Welt’ ansehen, einfach ein Haufen von Dingen ist, die von Gruppen von Leuten konstruiert worden sind.“3 H. Albert, um einen weiteren Kritiker anzuführen, wird nicht müde, jede Form des Antirealismus als relativistisch zu brandmarken, seinen Vertretern eine „Zurückweisung des Methodenbewusstseins und des Objektivitätsideals der modernen Wissenschaft“ vorzuwerfen und schließlich die „Wiederbelebung des deutschen Idealismus in der Maske einer Hermeneutik“ zu konstatieren. Der Antirealismus stellt sich für ihn als eine „konservative Revolution“ dar, eine Gegenbewegung gegen die Aufklärung, die einer „Rehabilitierung des theologischen Denkens und einer religiös bestimmten Weltorientierung zugute“ kommt.4 Ganz im Sinne Searles möchte ich im folgenden verschiedene Behauptungen und Argumente von der Tendenz nach antirealistischen Positionen offen legen. Anders als Searle lasse ich mich allerdings von der Unterstellung leiten, dass diese Argumente sinnvoll sind (I). Im zweiten Teil dieses Beitrags sollen dann einige der Einwände, die – z. B. von Searle und Albert – gegen antirealistische Positionen formuliert werden, näher in Augenschein genommen werden. Dabei wird sich zeigen, dass sie allenfalls auf Karikaturen des Antirealismus zutreffen (II). Obwohl ich die Argumente der Antirealisten im großen und ganzen für bedenkenswert halte, geht es mir insgesamt viel weniger darum, für den oder für eine bestimmte Art des Antirealismus zu plädieren, als vielmehr darum, deutlich zu machen, dass die Debatte um Realismus und Antirealismus das Leben, welches wir mit unseren Begriffen führen, möglicherweise falsch zur Darstellung bringt. 3

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Vgl. J. R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Reinbek bei Hamburg 1997, 168, 193. H. Albert, Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens, Tübingen 1994; die Zitate finden sich 261, 5, 33, 33 f.

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1. Der Antirealismus tritt gegenwärtig in unterschiedlichen Formen auf und schließt an verschiedene Traditionen an, obgleich die wesentlichen Argumente, die zur Stützung einer antirealistischen Sicht der Dinge angeführt werden, sich vielfach ähneln und alle diese Varianten des Antirealismus mehr oder weniger das Erbe einer alten philosophischen Position antreten, nämlich des Idealismus. Ohne Vollständigkeitsansprüche zu stellen, möchte ich insbesondere drei – ich denke, es sind die wichtigsten – Versionen des Antirealismus voneinander unterscheiden: den phänomenalistischen, den hermeneutischen und den konstitutionsbezogenen (oder konstruktivistischen) Antirealismus.5 1. Der phänomenalistische Antirealismus hat eine lange Tradition. Im 17. Jahrhundert war Berkeley einer seiner wichtigsten Vertreter. Die einschlägige Grundthese lautet, dass die Wirklichkeit sich nur über die bewussten Zustände von Erkenntnissubjekten erschließt (oder in den Worten Berkeleys: esse est percipi), und dass die Erkenntnissubjekte niemals aus ihren (bewussten) Erfahrungen heraustreten können, um der Wirklichkeit direkt zu begegnen. Berkeley konstatiert lapidar: „Wenn wir das Äußerste versuchen, um die Existenz äußerer Körper zu denken, so betrachten wird doch immer nur unsere eigenen Ideen.“6 Berkeleys Position ist mitnichten so schlicht, dass man ihr einfach mit dem Hinweis begegnen könnte, dass die Wirklichkeit bzw. die Dinge in ihr doch auch dann existieren, wenn wir sie nicht wahrnehmen. Er selbst hat sich ausführlich mit einer Reihe von Einwänden gegen seine Position auseinandergesetzt, die hier nicht im einzelnen erläutert werden müssen. Wichtig jedenfalls ist, dass sich der Grundgedanke Berkeleys ganz unabhängig von den jeweils benutzten Vokabularen bis in das 20. Jahrhundert herübergerettet hat. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wurde er von phänomenalistischen Theoretikern im Umfeld des Wiener Kreises vertreten. Die These lautet hier, dass sich alle empirischen Aussagen (Aussagen über die Wirklichkeit) ohne Rest in Aussagen über Elementarerlebnisse (so Carnap in seinem Buch Der logi5

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Der phänomenalistische und konstitutionsbezogene Antirealismus sind Gegenstand der kritischen Überlegungen Searles (vgl. a. a. O., 187 ff.), der hermeneutische Antirealismus wird umfassend von Albert (a. a. O.) kritisiert. G. Berkeley, Eine Abhandlung über die Prinzipien menschlicher Erkenntnis (1710), Hamburg 1957, 37.

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sche Aufbau der Welt) oder über Sinnesdaten bzw. Sinnesinhalte (so etwa A. Ayer in seiner Schrift Sprache, Wahrheit und Logik) übersetzen lassen.7 Gegenwärtig sind es Autoren wie M. Dummett, die unter dem Titel eines semantischen Antirealismus Auffassungen wie denjenigen Berkeleys oder verschiedener Vertreter des logischen Positivismus – allerdings ohne hier explizit anzuknüpfen, Dummetts Helden sind Frege und Wittgenstein – eine zeitgenössische Gestalt zu verleihen suchen.8 Ganz gleich, ob von Ideen, von Elementarerlebnissen oder von Sinnesdaten gesprochen wird, die zwischen einem Subjekt und der Welt stehen sollen, oder ob der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff durch den Begriff der Rechtfertigung ersetzt wird (dies ist die Strategie Dummetts): Die Argumente, die in diesem Zusammenhang gegen den Realismus formuliert werden, gleichen sich. In Anlehnung an einen heute üblichen Sprachgebrauch lassen sich die betreffenden Argumentationsmuster als verifikationistisch bezeichnen. In allen Fällen wird danach gefragt, was die Basis unseres Wissens von der Außenwelt ist bzw. was unsere Sätze und Überzeugungen über die Welt bestätigt bzw. widerlegt. Und in allen Fällen lautet die Antwort, dass dies nichts ‚draußen’ in der Welt sein kann, sondern es sich um etwas, was mit uns oder unserem ‚Geist’ verbunden ist, handelt. In Anlehnung an eine in der neueren Philosophie des Geistes verbreitete Unterscheidung kann man dies auch ausdrücken, indem man sagt: Phänomenalistische Antirealisten nehmen an, dass Sätze oder Überzeugungen, die sich auf die Welt beziehen, nur internalistisch, nicht aber externalistisch gerechtfertigt werden können. In verallgemeinerter Form lässt sich die dieser Position zugrundeliegende Vorstellung wie folgt skizzieren: Was immer tatsächlich von der Welt gewusst wird, wird allein auf der Grundlage jeweils eigener Empfindungen, Wahrnehmungen und Erfahrungen gewusst. Eine Wirklichkeit jenseits dieser Erfahrungen ist für uns unerreichbar bzw. unerkennbar und in diesem Sinne sind es jeweils eigene Erfahrungen oder Rechtfertigungspraktiken, welche konstitutiv für dasjenige sind, was „Wirklichkeit“ genannt wird. Mit diesen Überlegungen wird 7

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Zum antirealistischen Einschlag von Autoren im Umfeld des Wiener Kreises vgl. auch J. Schulte, „Wittgenstein als Großvater des Antirealismus“, in: Forum für Philosophie (Hg.), a. a. O., 284-299, 290. Vgl. z. B. M. Dummett, “Realism”, in: ders., Truth and other Enigmas, Cambridge/Mass. 1978, 145-165; ders., The Logical Basis of Metaphysics, Cambridge/Mass. 1991, 232 ff.

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nicht behauptet, dass es die Wirklichkeit nicht gibt, jedoch wird behauptet, dass es für uns keine von unseren Repräsentationen unabhängige Wirklichkeit gibt. Das An-sich-sein der Welt ist für uns belanglos, da wir es ohnehin nicht erreichen können und es im Rahmen unserer Rechtfertigungspraxis keine Rolle spielt. Die Vorstellung von einer repräsentationsunabhängigen Wirklichkeit mag sich zwar immer wieder aufdrängen, sie lässt sich jedoch problemlos aus unserem philosophischen Haushalt entfernen, ohne dass sich dadurch etwas ändern würde. 2. Der hermeneutische Antirealismus hat ebenfalls eine sehr lange Tradition. Die allgemeine antirealistische Grundbehauptung, dass es keine überzeugungs- oder repräsentationsunabhängige Wirklichkeit gibt, wird in diesem theoretischen Kontext mit Hilfe der Begriffe des Verstehens und des Interpretierens bzw. Deutens formuliert. Was als Wirklichkeit erfahren oder als ein Ding in ihr identifiziert wird, ist Ergebnis jeweils eigener Verstehensbemühungen und Interpretationsleistungen. Anders als das phänomenalistische Votum für den Antirealismus problematisiert die hermeneutische Variante auch noch die Vorstellung von etwas Gegebenem (seien es Ideen oder Sinnesdaten). Das vermeintlich Gegebene gilt vielmehr seinerseits als Produkt einer geschichtlichen Entwicklung, in deren Verlauf sich unterschiedliche Denk- und Sprachformen entwickeln, die erst den (zu verschiedenen Zeiten und Orten dann auch wieder jeweils anderen) Rahmen dafür bereitstellen, innerhalb dessen überhaupt auf die Wirklichkeit Bezug genommen werden kann. Der hermeneutische Antirealismus kappt auf diese Weise die solipsistischen Wurzeln, die zu den traditionellen Versionen des Phänomenalismus – ich erinnere z. B. an Carnaps Rede vom Eigenpsychischen – gehören. An die Stelle des einzelnen Bewusstseins tritt eine Gemeinschaft von Sprechern und Interpreten. In der Terminologie der neueren Philosophie des Geistes geredet: Im Vergleich zur phänomenalistischen Variante ist der hermeneutische Antirealismus zumindest in einem sozialen Sinne externalistisch. Obwohl die Rede von einem Universalitätsanspruch der Hermeneutik (H.-G. Gadamer) erst im 20. Jahrhundert aufkommt und der Begriff der Hermeneutik erst in der Nachfolge Heideggers den eingeschränkten Sinn der alten ars interpretandi im Sinne einer Sammlung von Kunstregeln des Verstehens und Interpretierens in erster Linie von Texten endgültig und explizit verliert, finden sich die mit dem Universalitätsanspruch der Her-

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meneutik verbundenen Gedanken der Sache nach bereits relativ früh. Ich denke dabei nicht so sehr an die ersten Versuche, eine hermeneutica generalis zu etablieren, die inzwischen von der neueren Forschung bis hin zu J. C. Dannhauer und J. Clauberg zurückverfolgt worden sind.9 Ich denke vielmehr an Vicos Begründung einer Wissenschaft vom menschlichen Geist und seiner Geschichte. Bei Vico heißt es: „Die Natur der Dinge ist nichts anderes als ihre Entstehung zu bestimmten Zeiten und auf bestimmte Weise; [...]“10 Wenig später schreibt er, seine Wissenschaft sei eine „Geschichte der menschlichen Ideen, auf deren Grundlage die Metaphysik des menschlichen Geistes vorgehen zu müssen scheint; diese Königin der Wissenschaften begann nach dem Grundsatz, dass ‚die Wissenschaften mit der Zeit einsetzen müssen, in der ihr Stoff entstand.’“11 Indem Vico einen erkenntnistheoretischen Primat der vom Menschen gemachten Geschichte gegenüber der Natur behauptet, hat er die Grundlagen für eine geschichtliche Betrachtung der menschlichen Welt geschaffen und dem Gedanken an einen Universalitätsanspruch der Hermeneutik den Weg geebnet.12 In der Gegenwartsphilosophie sind es neben H.-G. Gadamer Autoren wie R. Rorty oder J. Derrida, die einen Antirealismus auf hermeneutischer Grundlage vertreten. Die zum Beispiel gelegentlich von Derrida gebrauchte Formulierung, es gebe nichts außerhalb von Texten, sagt ja – sinnvoll verstanden – nichts anderes, als dass alle unsere Vorstellungen und Überzeugungen auch dort, wo sie direkt die Wirklichkeit zu ihrer Basis zu haben scheinen, immer im Rahmen bestimmter Kontexte stehen, die ihrerseits durch die Geschichte des Denkens geformt sind und geformt werden. Der grundsätzliche Einwand, den hermeneutisch orientierte Autoren gegen den Realismus vorbringen, hat mit dem Gedanken der Begriffsrelativi9

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Vgl. z. B. O. R. Scholz, Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt a. M. 1999, 35-43. G. B. Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (31744), Hamburg 1990, 1. Teilband, 94. Ebd., 153. Vicos berühmtes Axiom der Vertauschbarkeit von verum und factum bezieht sich zwar nicht auf die Natur, sondern ‚nur’ auf die Geschichte. Sofern es sich allerdings auf die Geschichte bezieht, bezieht es sich explizit auch auf die menschliche Natur. Damit nun beginnt der Auflösungsprozess der starren Gegenüberstellung von Natur und Geschichte bzw. von Natur und Kultur. Zur dieser Interpretation Vicos vgl. u. a. F. Fellmann, Das Vico-Axiom: Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg/München 1976.

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tät allen unseren Denkens und Erfahrens zu tun. Die Ausgangsbehauptung lautet, dass wir die Wirklichkeit immer nur im Rahmen eines bestimmten Begriffssystems oder Vokabulars repräsentieren können, wobei dieses Begriffssystem eine menschliche Schöpfung ist und in der Regel durch Tradition und Überlieferung bestimmt wird. Prinzipiell sind – so der zweite Schritt dieses Einwands – unterschiedliche Begriffssysteme zur Beschreibung der Wirklichkeit möglich. Dabei kann es durchaus sein, dass ein Vokabular das andere ausschließt, ohne dass man sagen könnte, dass eine oder aber das andere Vokabular sei falsch. Was dies im einzelnen heißt, lässt sich mit Hilfe eines ganz einfachen Beispiels, welches auf H. Putnam zurückgeht, verdeutlichen.13 Gegeben sei eine Welt mit den Objekten x1, x2 und x3. Auf die Frage, wie viele Objekte sich in dieser Welt finden, würde wohl jeder ohne langes Nachdenken mit „drei“ antworten. Putnam macht jedoch darauf aufmerksam, dass auch ein anderes ‚Zählsystem’ denkbar ist und verweist auf St. Lesniewski, demzufolge die Summe mehrerer Objekte immer als ein weiteres Objekt zu zählen ist. In einer Lesniewski-Welt würden sich also nicht nur drei, sondern insgesamt sieben Objekte finden: x1, x2, x3, x1+x2, x1+x3, x2+x3 sowie schließlich das Objekt x1+x2+x3. Das Beispiel soll zeigen, dass es nicht die richtige Zählung der Objekte gibt, sondern dass unsere Antworten auf die Frage nach der Anzahl der Objekte eben von dem Rahmen abhängen, den wir für die Zählung verwenden. Dem begriffsrelativistischen Argument zufolge gibt es nun keine externen Gründe, welche für die Wahl dieses oder aber eines anderen Vokabulars oder Rahmens (in unserem Beispiel: Zählsystems) angeführt werden können. Der Hermeneutiker würde antworten, dies sei eben einfach eine Frage der Tradition. 3. Der konstitutionsbezogene (oder konstruktivistische) Antirealismus14 als dritte Variante des zeitgenössischen Antirealismus bedient sich einer Reihe 13

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H. Putnam, “Truth and Convention”, in: ders., Realism with a Human Face, Cambridge/Mass. 1990, 96-104, 96 f. Obgleich sich die Kennzeichnung „konstruktivistisch“ prinzipiell zur Bezeichnung der im folgenden charakterisierten Position eignet, zögere ich ein wenig, sie zu gebrauchen. Sie wird in der Gegenwartsphilosophie zur Etikettierung ganz unterschiedlicher Positionen verwendet, die manchmal nur wenig mehr miteinander gemeinsam haben als ihren Namen. Die unterschiedlichen Konstruktivismen lassen sich zwar alle mehr oder weniger auf die Überlegungen, die ich im folgenden skizziere, beziehen, die Diskussion sollte jedoch nicht von vornherein mit Assoziatio-

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von Überlegungen, die ebenfalls im Zusammenhang mit dem hermeneutischen Antirealismus gebraucht werden und ist eng mit diesem verwandt. Er setzt jedoch andere Akzente. Die Geschichtlichkeit des Menschen und der Ideen, die er von sich und seiner Welt entwickelt, spielt keine besonders herausgehobene Rolle. Vielmehr sind es die Denk- und Handlungsvollzüge des Menschen, die im Zentrum konstitutionsbezogener Argumente stehen. Ob diese geschichtlich geprägt und sozial geformt sind, oder aber sich einer natürlichen Grundausstattung des Menschen verdanken, das ist eine Frage, die im Rahmen solcher Ansätze zunächst offen bleibt. Anders als Vertreter des hermeneutischen Antirealismus gehen Autoren, die konstitutionsbezogen argumentieren, zudem davon aus, dass wir unsere Wirklichkeit nicht nur deuten und interpretieren, sondern sie konstituieren bzw. konstruieren. Und dies ist mehr als ein Unterschied in der Terminologie. Um das zu verdeutlichen, sei das von Wittgenstein thematisierte AspekteSehen in Erinnerung gerufen. Wittgenstein vergegenwärtigt das Problem am Beispiel eines Hasen-Enten-Kopfes. Dieselbe physikalische Gestalt lässt sich sowohl als Hasenkopf wie auch als Entenkopf sehen.15 In einer der Erläuterungen zu dem Bild scheint Wittgenstein implizit zwischen dem physikalischen Bild, der Zeichnung, und einem geistigen Bild zu unterscheiden. Er bemerkt, dass das physikalische Bild – die Zeichnung – auf zwei Weisen gesehen werden kann, was bei dem geistigen Bild nicht gleichzeitig möglich ist. Hier handelt es sich stets entweder um ein Hasen-, oder aber um ein Entenbild.16 Vertreter eines konstitutionsbezogenen Antirealismus würden den Unterschied zwischen physikalischen und geistigen Bildern wie folgt ausdrücken: In unsere geistigen Bilder sind Interpretationen immer schon ‚eingebaut’, d. h. Interpretationen sind nichts, was zum Sehen oder Wahrnehmen noch hinzuträte, sondern von vornherein mitge-

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nen an den radikalen oder kognitionstheoretischen (u. a. Varela, Maturana, von Förster, von Glaserfeld), an den methodischen (Erlanger-Konstanzer-Schule) oder an den sozialen (wissenssoziologischen) Konstruktivismus in der Tradition von T. Luckmann und P. Berger belastet werden. Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, S. 520. Ebd., S. 528: „Es gibt gewisse Dinge, die sowohl unter den Begriff ‚Bildhase’, als auch ‚Bildente’ fallen. Und so ein Ding ist ein Bild, eine Zeichnung. – Aber der Eindruck ist nicht zugleich der von einer Bildente und von einem Bildhasen.“ Vgl. dazu auch die Interpretation von H. Putnam, “Why there isn't a ready-made world”,

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geben. Der Unterschied zum hermeneutischen Antirealismus scheint auf den ersten Blick verschwindend gering zu sein, wäre da nicht die weitere These, dass solche Konstruktionen eben die Welt erzeugen, auf die wir uns beziehen. Hasenseher und Entenseher beziehen sich dieser Vorstellung zufolge auf unterschiedliche Welten, die sie selber konstituieren. Sie beziehen sich nicht auf eine Welt, die sie lediglich anders interpretieren. Das Sehen von Aspekten ist nur ein einfaches Beispiel dafür, wie jeweils Welten erzeugt werden. Ein Antirealismus des skizzierten Typs wird in der Gegenwartsphilosophie vor allem von N. Goodman vertreten. Man könnte das den Philosophischen Untersuchungen entnommene Beispiel als trivial abtun, zumal es mit dem Vexierbild lediglich einen Spezialfall des Sehens bzw. Wahrnehmens zur Sprache zu bringen scheint. Es ist allerdings ein nur vergleichsweise kleiner Schritt erforderlich, um die Reichweite der an diesem Beispiel entwickelten Argumentation auszudehnen. Dies wird deutlich, wenn wir einen Blick auf einen Vorläufer für den konstitutionsbezogenen Antirealismus in der Geschichte der Philosophie werfen, einen Blick auf Kant. In seinen Formulierungen, dass die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, was sie von dieser lernen muss und nur dasjenige einsieht, was sie selbst nach ihrem eigenen Entwurf hervorgebracht hat, lassen sich unschwer Elemente des am Beispiel vom Hasen-EntenKopf skizzierten Denkens erkennen.17 Ohne der Komplexität der Philosophie Kants gerecht werden zu können und ohne alle Differenzen zu bedenken, durch die Kant sich von zeitgenössischen Antirealisten unterscheidet, möchte ich nur auf einen Gedanken eingehen, der deutlich macht, dass die Rede von einem ‚Konstituieren bzw. Konstruieren der Wirklichkeit’ nicht so trivial ist, wie man mit Blick auf das Hasen-Enten-Beispiel geneigt sein könnte zu glauben. Der Rückgriff auf Kant vermag im übrigen auch deutlich zu machen, inwiefern sich den basalen Konstitutions- bzw. Konstruktionsleistungen des Menschen eine universale Reichweite zuerkennen lässt. Die Idee einer Synthesis des Mannigfaltigen, welche Kant im Rahmen seiner transzendentalen Deduktion der Verstandesbegriffe entwickelt und der zufolge die Vernunft ihre Selbständigkeit dadurch zur Geltung bringt, dass sie beansprucht, die Elemente der Erfahrung zu einer Einheit zu verbinden und das Sein der Dinge als einen Zusammenhang zu begründen

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in: ders., Realism and Reason. Philosophical Papers. Vol. 3, Cambridge/Mass. 1983, 205-228, 209 f. Zu den Formulierungen vgl. KrV, B XIV.

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oder – mit einem anderen Vokabular ausgedrückt – zu konstituieren, gehört zu den Grundgedanken der Transzendentalphilosophie. Kant macht darauf aufmerksam, dass die Verbindung eines Mannigfaltigen durch die Sinne allein nicht zustande kommen kann, sondern erst durch eine Verstandeshandlung hergestellt wird. Er schreibt: „Allein die Verbindung (coniunctio), eines Mannigfaltigen überhaupt, kann niemals durch die Sinne in uns kommen, [...] denn sie ist ein Actus der Spontaneität der Vorstellungskraft, und, da man diese [...] Verstand nennen muß, so ist alle Verbindung [...] eine Verstandeshandlung, die wir mit der allgemeinen Benennung Synthesis belegen [...].“18 Der Gedanke, dass in unseren Eindruck von einem Hasenkopf bereits eine Interpretation des HasenEnten-Bildes eingebaut ist, die uns das physikalische Bild als Hasenkopf (und eben nicht als Entenkopf) konstruieren lässt, tritt bei Kant in einer unsere gesamte Erfahrung und alle Vorstellungen von der Welt betreffenden Form auf; schließlich bezieht er sich nicht nur auf HasenEnten-Köpfe oder andere Vexierbilder, sondern auf unsere Erfahrung schlechthin. Kant selbst gibt ein viel einfacheres, möglicherweise deshalb auch überzeugenderes Beispiel: „Um aber irgend etwas [...] zu erkennen, z. B. eine Linie, muß ich sie ziehen, und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen [...]“19 Das Vermögen zur Hervorbringung solcher Bilder (zum Beispiel des Bildes der Linie), die unsere Erfahrung organisieren, nennt Kant im übrigen (produktive) Einbildungskraft.20 Die Einwände, die in diesem Zusammenhang gegen den Realismus vorgebracht werden, beziehen sich im wesentlichen darauf – und da ergibt sich eine gewisse Nähe zu der Position, die ich oben als „phänomenalistisch“ bezeichnet hatte –, dass wir uns die Welt nicht ohne unsere eigenen Verstandeshandlungen zur Anschauung bringen können. Infolgedessen 18 19 20

Ebd. B 129 f. Ebd. B 138 f. Vgl. ebd., B 151 f; zu den mich leitenden Kant-Interpretamenten vgl. F. Kaulbach, Philosophie der Beschreibung, Köln/Graz 1968, v. a. 250-331; ferner: R. Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation. Die hermeneutische Tragweite von Kants Kritik der Urteilskraft, Paderborn u. a. 1997, v. a. 34 ff., 42 ff. Was meine ‚antirealistische’ Lektüre Kants betrifft, so will ich bei dieser Gelegenheit nur darauf hinweisen, dass der semantische Antirealismus Dummetts verschiedentlich als ein ‚linguistisch gewendeter Kantianismus’ gedeutet wurde; vgl. dazu A. Matar, From Dummett’s Philosophical Perspective, Berlin/New York 1997, 39 ff.

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können wir auch nicht neben uns treten, um dann ‚von außen’ zu beurteilen, ob und inwieweit die von uns gestifteten Verbindungen zwischen den Elementen des Mannigfaltigen mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Für uns gibt es keine Perspektive, die es uns erlauben würde, den Standpunkt Gottes einzunehmen und von diesem aus auf die Welt zu blicken. Die Struktur der Dinge an sich, so hätte Kant dies ausgedrückt, bleibt für uns unerkennbar. Weil sie für uns unerkennbar ist, ist sie – so würde ich nun folgern – für uns auch unerheblich. Die von uns möglicherweise unabhängige Beschaffenheit der Welt, so es denn eine solche gibt, lässt sich auch hier – wie bereits im Phänomenalismus – ohne Verlust aus unserem Gedankenhaushalt entfernen, da sich dadurch nichts ändert. Mit der Position des hermeneutischen Antirealismus teilt eine konstitutionsbezogene Sicht der Dinge die Vorstellung, dass wir es sind, die in besonderer Form strukturierend auf dasjenige, was wir erfahren können, einwirken. Es handelt sich jedoch nicht so sehr um den Gedanken eines (historisch oder kulturell vorgegebenen) Begriffsschemas, mit Hilfe dessen wir noch rohe Erfahrungsinhalte gliedern. Der Witz der konstitutionsbezogenen Alternative zum hermeneutischen Ansatz besteht vielmehr gerade darin, dass ihr gemäß Gegenstand und Begriff zugleich hervorgebracht werden und fest miteinander verwoben sind.21 Auch wenn es der lockere Gebrauch von Wendungen wie derjenigen, dass die Welt oder etwas in ihr nicht unabhängig von unseren Überzeugungen oder Repräsentationen existiert, nahe legt, werden von keiner der skizzierten Positionen, von keinem der entsprechenden Argumentationsmuster – dies sollte meine Diskussion bislang deutlich gemacht haben – im strikten Sinne ontologische Behauptungen aufgestellt. In keinem Fall wird bestritten, dass es die Welt gibt, oder dass etwas existiert. Zur Diskussion stehen vielmehr erkenntnistheoretische, sprachphilosophische und in Grenzen auch wahrheitstheoretische Überlegungen. Der phänomenalistische und konstitutionsbezogene Antirealist argumentieren in erster Linie erkenntnistheoretisch, der hermeneutische 21

Mir scheint, dass auch J. McDowell im Rahmen seiner Überlegungen zu Kant und Wittgenstein auf diesen Punkt hinausmöchte; vgl. J. McDowell, Mind and World, Cambridge/Mass. 1994, 24 ff. Davidsons Kritik an der Metapher des Ordnens (der Erfahrung) – sein zweites Argument gegen Begriffsschemata – scheint mir gegenüber einer solchen Konzeption keine Angriffsfläche mehr zu haben; vgl. D. David-

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Antirealist sprachphilosophisch. Mit allen der skizzierten Positionen lassen sich wahrheitstheoretische Überlegungen verbinden, was vor allem im Zusammenhang mit dem phänomenalistischen Antirealismus auch vielfach geschehen ist. Damit komme ich zu den Einwänden, die von verschiedenen Seiten gegen den Antirealismus formuliert worden sind. 2. Searle zum Beispiel versteht die Realismus-Antirealismus-Debatte von vornherein als einen Streit über ontologische Fragen. Er bemerkt explizit, dass der Realismus – und gleiches muss dann wohl für den Antirealismus gelten – „keine Wahrheitstheorie, keine Erkenntnistheorie und keine Theorie der Sprache“, sondern „eine ontologische Theorie“ ist.22 Meine Diskussion im ersten Teil sollte deutlich gemacht haben, dass es sich hier einfach um ein (wohl nicht unabsichtliches) Missverständnis handelt. Da Searle wahrheitstheoretische, erkenntnistheoretische und sprachphilosophische Fragestellungen aus der Realismusdefinition ausklammern zu können glaubt, kann er auch darlegen, dass sich der Realismus beispielsweise mit der Vorstellung von Begriffsschemata vereinbaren lässt und auch der Umstand, dass wir es sind, welche die von uns für wahr gehaltenen Sätze rechtfertigen müssen, keinen Grund dafür darstellt, den Realismus hinter sich zu lassen oder zu modifizieren.23 Er gibt einer Reihe von Argumenten recht, für die antirealistisch orientierte Philosophen eintreten, und stellt einfach fest, diese ließen sich in den Rahmen einer im großen und ganzen realistischen Auffassung integrieren. Hans Albert indessen macht auch unter der Hand keine Zugeständnisse an den von ihm in erster Linie kritisierten hermeneutischen Antirealismus. Insbesondere auf vier der von ihm erhobenen Vorwürfe möchte ich mit Blick auf die im ersten Teil genannten Argumente und Positionen im ein-

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son, „Was ist eigentlich ein Begriffsschema“, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a. M. 1986, 261-282, 270 ff. J. R. Searle, a. a. O., 165. Vgl. ebd., 161; in bezug auf wahrheitstheoretische Elemente widerspricht er sich im übrigen allerdings selbst: Dann nämlich, wenn er am Ende seines Buches doch noch eine Korrespondenztheorie der Wahrheit in umfassender Form verteidigt (vgl. 207 ff.). Und selbstverständlich soll diese Verteidigung der Stützung des Realismus dienen. Würden wahrheitstheoretische Fragestellungen in der Debatte tatsächlich keine Rolle spielen, entfiele der Grund, eine Korrespondenztheorie zu verteidigen.

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zelnen zu sprechen kommen. Er wirft antirealistisch orientierten Philosophien vor 1.) das Methodenbewusstsein der modernen Wissenschaften zurückzuweisen; 2.) hinter das Objektivitätsideal der modernen Wissenschaften zurückzufallen; 3.) einen dogmatischen Antinaturalismus ausgeprägt zu haben, der mit einer Abwertung des naturwissenschaftlichen Wissens verbunden sei; und schließlich – ganz zentral – 4.) formuliert er einen allgemeinen Relativismusvorwurf.24 Da seine Überlegungen vor allem gegen die Hermeneutik und den mit ihr verbundenen Antirealismus gerichtet sind, ist es wohl die Vorstellung von Begriffsschemata, gegen welche er sich wendet. An verschiedenen Stellen seines Buches spricht er denn auch von dem verbreiteten Irrglauben an die Dominanz der Sprache und deren verfehlte Transzendentalisierung, für die er neben Heidegger und Gadamer vor allem auch den späteren Wittgenstein verantwortlich macht.25 Betrachten wir seine Vorwürfe der Reihe nach. 1. Eine Zurückweisung des Methodenbewusstseins der modernen Wissenschaft (Albert denkt wohl in erster Linie an die Methoden der empirischen Wissenschaft) ist nicht notwendig mit einer antirealistischen Position verbunden. Es mag zwar richtig sein, dass sich bei einigen Vertretern insbesondere der hermeneutischen Philosophie zumindest auf rhetorischer Ebene pejorative Bemerkungen über die Wissenschaften finden (so etwa bei Heidegger). Dies rechtfertigt jedoch nicht die Annahme, Argumente für den Antirealismus würden in jedem Fall eine Abwertung der empirischen Wissenschaften nach sich ziehen. Im Umfeld des Wiener Kreises beispielsweise ist trotz des dezidiert phänomenalistischen Einschlags einiger Autoren dieser Strömung nichts von einer derartigen Tendenz zu verspüren. Diskussionen zur Reichweite und zu den Grenzen der empirischen Wissenschaften haben im übrigen nichts mit der Option für den Realismus oder Antirealismus zu tun. Aus den oben skizzierten Argumenten folgt keine Abwertung der Wissenschaften. Wohl können die skizzierten Positionen eine kritische Reflexion auf den Status des wissenschaftlichen Wissens nach sich ziehen und dazu Anlass geben, Unterschiede zwischen verschiedenen Wissenschaftstypen (zum Beispiel Geistes- bzw. 24

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Zum Verhältnis von Antirealismus und Relativismus vgl. auch H. J. Wendel, Moderner Relativismus. Zur Kritik antirealistischer Sichtweisen des Erkenntnisproblems, Tübingen 1990. Vgl. z. B. H. Albert, a. a. O., 81, 204.

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Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften) oder auch zwischen Philosophie und Wissenschaft zu reflektieren. Im Unterschied zu den Einzelwissenschaften wird die Philosophie in diesem Zusammenhang dann häufig als ein sinnkriteriales Unternehmen verstanden, welches sich mit den Sinnbedingungen auch noch der empirischen Forschung beschäftigt. Eine Zurückweisung des wissenschaftlichen Methodenbewusstseins ist darin jedoch nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Das Methodenbewusstsein ist vielmehr in besonderer Form ausgeprägt. 2. Die von Albert inkriminierten Ansätze fallen auch nicht hinter das Objektivitätsideal der modernen Wissenschaften zurück. Sie lassen sich vielmehr als Versuche verstehen, sich des Sinns der Rede von „Objektivität“ erst zu vergewissern. Die Problematisierung eines Begriffs bzw. der mit ihm bezeichneten Sache ist ja etwas anderes als dessen bzw. deren Verabschiedung. Zweifel an dem Umstand, dass unsere Theorien, Überzeugungen oder Sätze nicht einfach deshalb wahr sind, weil sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen und die Auffassung, dass es eine solche Übereinstimmung aus bestimmten Gründen möglicherweise nicht gibt, implizieren nicht, dass es keine Objektivität gibt und alle unsere Auffassungen von der Welt ‚nur’ subjektive Auffassungen sind. Die Oppositionen, in denen hier gedacht wird, sind zu einfach. Auch wer der Auffassung ist, dass die Wirklichkeit bzw. die Realität und die Dinge in ihr sich immer nur innerhalb eines bestimmten Rahmens von Begriffen, Praktiken usw. beschreiben lässt oder lassen, muss ja nicht bestreiten, dass es Kriterien dafür gibt, richtige von falschen, bessere von schlechteren Überzeugungen zu unterscheiden. Solche Kriterien sind allerdings nicht losgelöst von ihrer Eingebundenheit in ein Begriffsschema zu betrachten. Dies heißt aber nicht, dass sie dann doch nur subjektiv wären. Vielmehr konstituiert ein Begriffsschema den Raum der Gründe, innerhalb dessen sich der Streit um das Objektive bewegt und daher liegen Begriffsschemata und/oder Rechtfertigungspraktiken noch dem Reden von Objektivität zugrunde. Das Objektivitätsideal der Wissenschaften wird nicht verabschiedet, es wird vielmehr auf seine Voraussetzungen hin bedacht. Ob und inwieweit ein solches Vorgehen eine Relativierung wissenschaftlicher Objektivitätsansprüche nach sich zieht, wird mich gleich im Zusammenhang mit dem Relativismusvorwurf noch einmal beschäftigen. Zuvor jedoch noch ein Wort zum Antinaturalismus.

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3. Der Begriff des Antinaturalismus wird oft – wie auch die entsprechenden Gegenbegriffe „Naturalismus“ oder in der älteren Diskussion in kritischer Perspektive häufig auch: „Szientismus“ – für zwei verschiedene (oft miteinander verbundene) Einstellungen insbesondere gegenüber den Naturwissenschaften verwendet. Als antinaturalistisch gilt einmal die Auffassung, dass die Wissenschaften vom Menschen – und zwar sofern sie sich mit genuin menschlichen Angelegenheiten und Dingen beschäftigen – nicht, zumindest nicht ausschließlich, nach dem Muster und den Methoden der Wissenschaften von der Natur (auch den gegenwärtig häufig Lebenswissenschaften genannten, die sich insbesondere auch der Natur des Menschen widmen) verfahren und sich nicht unnötig daran orientieren sollten. Die Geschichte der neueren hermeneutischen Philosophie ist ja seit Dilthey mit dem Bestreben verbunden gewesen, erklärende von verstehenden Wissenschaften zu unterscheiden. In diesem Sinne neigen viele Vertreter hermeneutischer Positionen zu einem – wie ich meine allerdings berechtigten – Antinaturalismus. „Anti“ muss hier ja nicht implizieren (und sollte das auch nicht implizieren), dass die Naturwissenschaften und ihre Methoden gar nichts Wesentliches über den Menschen sagen können. Die Unterscheidung zwischen „Erklären“ und „Verstehen“ ist überdies nicht notwendigerweise strikt dualistisch zu interpretieren. In einer schwachen Form besagt dieser Antinaturalismus nur, dass bei der Untersuchung des Menschen und seiner Angelegenheiten auch andere Methoden als naturwissenschaftliche zum Zuge kommen sollten. Und dagegen kann zunächst einmal nichts einzuwenden sein. Der Begriff des Antinaturalismus wird sodann häufig verwendet, um die Auffassung zu kennzeichnen, dass der Mensch nicht, jedenfalls nicht adäquat, mit den Mitteln der naturwissenschaftlichen Forschung beschrieben werden kann. Auch dies sollte man jedoch nicht so verstehen, als sei jede naturwissenschaftliche Erforschung des Menschen unsinnig. Albert neigt dazu, hermeneutischen Antirealisten diese Sichtweise zu unterstellen, zumal dort, wo er die theologischen Wurzeln des Antinaturalismus freizulegen versucht.26 Sinnvoll verstanden geht es doch nur darum, deutlich zu 26

Ebd., 79 schreibt er: Der „Anti-Naturalismus geht letzten Endes darauf zurück, dass in der auf biblische Vorstellungen gegründeten christlichen Theologie das Geschehen im menschlichen Bereich nur unter heilsgeschichtlichen Aspekten [...] in Betracht kam und eine Einordnung dieses Geschehens in die Natur [...] von daher keine Bedeutung gewinnen konnte.“

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machen, dass die naturwissenschaftlichen Beschreibungen des Menschen nicht erschöpfend sind, und keine Gründe vorliegen, die Perspektive der Naturwissenschaft zu privilegieren. Schließlich sind auch die Naturwissenschaften und die dort einschlägigen Theorien und Modelle Produkte des Menschen.27 Es ist nicht die Natur, die sich hier selbst beschreibt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger wird vom Antirealismus – in allen drei der von mir genannten Spielarten: Phänomenalismus, Hermeneutik, Konstitutionsanalyse – unterstrichen. Ich sehe nicht, warum dies bereits eine Abwertung des naturwissenschaftlichen Wissens darstellen soll. 4. Der schwerwiegendste – und nicht nur von Albert vorgebrachte – Einwand gegenüber antirealistischen Sichtweisen und den Argumenten, die in diesem Zusammenhang gewöhnlich gebraucht werden, hat mit deren vorgeblichem Relativismus zu tun. Die Vorstellung, es gebe Begriffsschemata, mittels derer die ‚Inhalte’ der Erfahrung gegliedert werden, scheint auf den ersten Blick eine relativistische Auffassung nahe zu legen. Nimmt man dann noch den Gedanken hinzu, dass diese Schemata (oder Vokabulare und Diskurse) zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten jeweils andere sind, ein Gedanke, der unter hermeneutischen Autoren ja durchaus verbreitet ist, und dass eine Überzeugung oder ein Satz immer nur relativ zu einem Begriffsschema „wahr“ oder „falsch“ genannt werden kann, dann sieht es ganz so aus, als sei man gezwungen, geltende Rationalitätsstandards und mit diesen auch die Idee der (wissenschaftlichen) Objektivität preiszugeben. Obwohl etwas am Relativismus richtig ist, führt dies nicht zu einer Bedrohung von Rationalität und Objektivität. Um dies zu erläutern möchte ich zum Schluss meiner Überlegungen einen ‚starken’ Relativismus von einem ‚schwachen’ Relativismus unterscheiden. Die diskutierten antirealistischen Argumente nun setzen allenfalls einen ‚schwachen’ Relativismus voraus, der aber – so würde ich geltend machen – keine schwerwiegenden Implikationen für unser Rationalitäts- und Objektivitätsverständnis besitzt, so dass auch die auf die relativistische Seite des Antirealismus bezogenen Überlegungen ihre argumentative Kraft verlieren. 27

Das ist ein Gedanke, der in der neueren Wissenschaftsphilosophie mehr und mehr Berücksichtigung findet. Weshalb dann auch folgerichtig zunehmend geschichtliche Aspekte der Wissenschaften von der Natur thematisiert werden. Vgl. dazu den instruktiven Sammelband von M. Hagner (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 2001, dort insbesondere die Einleitung, 7-39.

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Als ‚starken’ Relativismus bezeichne ich die Auffassung, dass sich die Denk- und Erfahrungsweisen (die Begriffsschemata) der Menschen aus anderen (in der Regel weiter von unserer eigenen Lebensform entfernten) Kulturen oder Zeiten, nicht in unsere eigenen Denkweisen übersetzen lassen und folglich auch nicht verstanden werden können. Diese Art des Relativismus, den man auch als einen Relativismus des Verstehens bezeichnen könnte, lässt sich zumeist von der These leiten, die Weltbilder und Lebensformen verschiedener Kulturen seien einander inkommensurabel. Die These von der Nichtübersetzbarkeit und Inkommensurabilität halte ich für falsch. Und zwar v. a. aus zwei Gründen: 1.) Die Feststellung von Unterschieden zwischen den Weltbildern und Lebensformen verschiedener Kulturen setzt bereits mehr Gemeinsamkeiten voraus, als in der Regel von den Relativisten zugestanden wird. Die Folie, auf welcher ein Relativist zu dem Urteil gelangt, die Denkweise der Mitglieder einer anderen Kultur lasse sich nicht in unsere eigene übersetzen, untergräbt letztlich die Voraussetzungen seiner Auffassung. Ohne Unterstellung weitreichender Gemeinsamkeiten, keine Feststellung von Unterschieden.28 2.) Der ‚starke’ Relativist muss unterstellen, er könne in einer neutralen Beobachterperspektive ‚von außen’ auf die Welt blicken, um dann zu einem Urteil über die Denkweisen und Weltbilder anderer Kulturen zu gelangen. Gemeinhin wird diese Perspektive eines Blicks vom Standpunkt Gottes gerade dem Realisten unterstellt. Gleichwohl muss gerade auch der Relativist sie einnehmen können; er muss ja die Kulturen ‚von außen’ beurteilen. Relativist und Realist unterscheiden sich dann lediglich in den Urteilen, zu denen sie aufgrund ihrer scheinbar neutralen Beobachterposition gelangen. Während der eine das Vorliegen gemeinsamer Maßstäbe bestreitet, stellt der andere erleichtert fest, dass es solche Maßstäbe gibt. Hinter den Überlegungen im Sinne des ‚starken’ Relativismus steckt freilich eine richtige Einsicht. Die Einsicht nämlich, dass sich die Überzeugungen, Denkweisen und auch Praktiken der Menschen immer nur relativ zu einem Gesamtrahmen erläutern und verstehen lassen. Wie sich der Begriff der genetischen Information sinnvoll nur relativ zur Theorie und Praxis der molekularbiologischen Forschung unserer Tage erläutern und verstehen lässt, so lässt sich auch dasjenige, was ‚Erstkommunion’, ‚Kar28

Dies ist das erste – und triftige – Argument, welches D. Davidson, a. a. O. gegen Begriffsschemata entwickelt; vgl. 262: „Verschiedene Standpunkte haben zwar Sinn, aber nur wenn es ein gemeinsames Koordinatensystem gibt, [...].“

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freitag’ oder ‚Auferstehung’ bedeutet, nur relativ zu dem durch die christliche bzw. katholische Tradition vorgegebenen Gesamtrahmen erläutern und verstehen. Diese Behauptung impliziert keinen ‚starken’ Relativismus, sondern fußt lediglich auf der Einsicht in die Relativität von Denkweisen und Überzeugungen, die immer in größere, umfassendere Sinnzusammenhänge eingebettet werden müssen, um sinnvoll erläutert werden zu können. In bezug auf diese Einsicht spreche ich von einem ‚schwachen’ Relativismus. Der ‚schwache’ Relativist erkennt die Bezogenheit unserer Theorien, Überzeugungen und Sätze auf ein vorgegebenes Schema, bestreitet jedoch die Inkommensurabilität unterschiedlicher Schemata. Ich möchte noch einmal an den Hasen-Enten-Kopf, den Wittgenstein zur Illustration seiner Überlegungen benutzt, erinnern. Wie wir zwischen beiden Bildern hin und her springen können, können wir uns – zumindest prinzipiell – zwischen unterschiedlichen Rahmen bewegen. Historiker zum Beispiel der Wissenschaften, aber auch Ethnologen, die uns die Weltbilder anderer Kulturen erschließen möchten, versuchen ja gerade, eine Übersetzungsarbeit von einem in das andere Begriffsschema zu leisten.29 Die Einsicht in die Relativität unserer Überzeugungen unterminiert mitnichten die Möglichkeit, vernünftige (rationale) Auseinandersetzungen über die Angemessenheit unterschiedlicher Bilder von der Welt zu führen. Dass auch die Wissenschaften in diesem Streit um die Angemessenheit von Annahmen, welche die Beschaffenheit der Welt betreffen, in dem Streit um die Wahrheit eine wichtige Rolle spielen, wird ja nicht ausgeschlossen. Ausgeschlossen wird lediglich eine dogmatische Auszeichnung wissenschaftlichen Wissens, die diesem – und ausschließlich diesem – eine privilegierte Sicht der Dinge zuerkennt. Betrachtet man die Sache einmal so, dann ist die Affinität zwischen Antirealismus und Relativismus geringer als diejenige zwischen Realismus und Relativismus: Realismus und ‚starker’ Relativismus stellen dann nämlich komplementäre Sichtweisen dar: Inkommensurabilitätstheoretiker sind enttäuschte Realisten, die aus der Vergeblichkeit ihres Bemühens letzte Wahrheiten zu finden, folgern, dass der Begriff der Wahrheit ganz überflüssig ist. Sie vermögen kei29

Mit Blick auf Probleme und Fragen der praktischen Philosophie diskutiere ich die Unterscheidung zwischen einem ‘starken’ und einem ‘schwachen’ Relativismus auch in dem Beitrag: „Kommunitarismus und die Herausforderungen multikultureller Gesellschaften“, in: H.-J. Martin (Hg.), Am Ende (-) die Ethik? Begründungsund Vermittlungsfragen zeitgemäßer Ethik, Münster 2002, 24-42.

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nen ‚dritten’ Weg zu sehen, der darin besteht, trotz der Verabschiedung des Glaubens an letzte Wahrheiten eine Auseinandersetzung über die Angemessenheit von Wahrheitsansprüchen zu führen. Der Antirealismus, wenn man ihn denn richtig versteht, versucht gerade einen solchen Weg zu ebnen. Es handelt sich um eine Philosophie der Vorsicht, die nicht größere Einsichten zu haben vorgibt, als überhaupt zu erlangen sind. In diesem Sinne sind die Verteidiger des Antirealismus – um das einmal überspitzt zu formulieren – weitaus realistischer als die übliche Gegenüberstellung zwischen Realisten und Antirealisten vermuten lässt. Auch wenn sich mit diese Überlegungen keine Debatte verabschieden lässt, so mögen doch immerhin die Etiketten fragwürdig geworden sein.

Marcus Willaschek

Realismus und Intentionalität1 Eine ‚disjunktive’ Konzeption des Weltbezugs von Überzeugungen

Man kann von Deutschland aus für wenig Geld nach Australien telefonieren. Das ist erstaunlich. Aber ist es nicht noch erstaunlicher, dass man von Deutschland aus an Australien denken kann − und das ganz ohne technische Hilfsmittel? Die Intentionalität unserer mentalen Einstellungen, die Tatsache also, dass unsere Gedanken, Überzeugungen und Wünsche von etwas handeln und sich auf etwas beziehen können, scheint in der Tat eine erstaunliche Eigenschaft zu sein – besonders dann, wenn man sich diese Bezugnahme nach Art eines Telefongesprächs vorstellt. Man sucht dann nach dem, was den Kabeln, Satelliten und elektrischen Impulsen beim Telefonieren entsprechen könnte: nach einem Übertragungsmedium, das für die nötige Verbindung sorgt. Im folgenden möchte ich eine Erklärung für die Intentionalität unserer mentalen Einstellungen vorschlagen, die ohne ein solches Medium auskommt. Dabei werde ich mich allerdings auf die Frage nach dem Weltbezug von (empirischen) Überzeugungen beschränken und zu zeigen versuchen, wie diese sich unmittelbar auf die Wirklichkeit beziehen können. (Nicht-empirische Überzeugungen, etwa im Bereich der Logik und Mathematik, sowie andere intentionale Einstellungen wie Wünsche oder Befürchtungen werde ich hier ganz außer acht lassen.) Bevor ich meinen Vorschlag darstelle, möchte ich in einem ersten Teil zunächst auf eine Adäquatheitsbedingung eingehen, die mir besonders wichtig ist, und einige methodischen Vorüberlegungen anstellen. Im zweiten Teil werde ich dann 1

Dieser Text beruht auf einem Vortrag, den ich 1999 in verschiedenen Versionen an den Universitäten Dresden, Leipzig und Bielefeld sowie auf einem von Christoph Halbig und Christian Suhm veranstalteten Kolloquium zum Thema „Realismus und Antirealismus“ in Georgsmarienhütte vorgetragen habe; ich danke den Zuhörern für zahlreiche wichtige Hinweise. – Dem Text liegt die ausführlichere Darstellung in Willaschek 2003, Kap. 5, zugrunde. Eine frühere, etwas kürzere Fassung ist in den Dresdner Heften für Philosophie erscheinen (Willaschek 2001). Dem Herausgeber Thomas Rentsch danke ich für die Erlaubnis zum Wiederabdruck. Gegenüber der früheren Fassung habe ich v. a. in den Teilen 3 und 4 zahlreiche Änderungen vorgenommen.

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eine „disjunktive“ Konzeption des Weltbezugs von Überzeugungen vorstellen, in einem dritten Teil einige naheliegende Fragen und Einwände diskutieren und in einem vierten Teil schließlich kurz auf den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Weltbezug eingehen. 1. Intentionalität und Realismus Zunächst also zur angekündigten Adäquatheitsbedingung: Eine Erklärung dessen, wie sich Überzeugungen auf die Wirklichkeit beziehen, sollte mit einem als unproblematisch geltenden Common-Sense-Realismus vereinbar sein. Unter „Common-Sense-Realismus“ verstehe ich die Auffassung, dass Alltagsgegenstände wie Steine und Bäume und die sie betreffenden Tatsachen begrifflich und kausal von unseren Denk- und unseren Erkenntnismöglichkeiten unabhängig sind. Ob der Baum vor meinem Fenster existiert oder nicht, und ob es sich um eine Buche oder eine Birke handelt, ist danach von mentalen Vorgängen jeder Art völlig unabhängig. (Diese Charakterisierung des Realismus lässt sich auch auf Artefakte ausdehnen, doch davon möchte ich hier der Einfachheit halber absehen.)2 Nun ist es nicht schwierig, den Weltbezug von Überzeugungen so zu erklären, dass die Erklärung mit dem Common-Sense-Realismus logisch vereinbar ist. Die Adäquatheitsbedingung, um die es mir geht, ist jedoch stärker. Die Erklärung soll damit vereinbar sein, dass es sich bei dieser Form des Realismus um eine Selbstverständlichkeit handelt: Dass die Existenz und Beschaffenheit von Steinen und Bäumen nicht davon abhängt, was wir denken oder wissen können, ist nicht das Ergebnis philosophischer Reflexion oder metaphysischer Spekulation, sondern eine alltägliche Trivialität. Die Aufgabe ist daher, zu erklären, wie wir über denkunabhängige Steine, Bäume und andere Dinge Überzeugungen haben können, ohne deren Denkunabhängigkeit mit der Erklärung in Frage zu stellen. Ich halte das deshalb für eine Adäquatheitsbedingung einer solchen Erklärung, weil der Realismus eines Erachtens zu Unrecht als eine philosophisch begründungsbedürftige Auffassung gilt. Er scheint nur deshalb problematisch zu sein, weil man sich nicht ohne weiteres erklären kann, wie unsere Gedanken sich auf eine Wirklichkeit beziehen können, die von ihnen ganz unabhängig ist (vgl. dazu Willaschek 2003, Kap. 3). Je un2

Zu einer genaueren Formulierung der Realismusthese vgl. Willaschek 2003, Kap. 1.

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abhängiger die Wirklichkeit, so scheint es, desto schwieriger ist es zu verstehen, wie unsere Gedanken sie erreichen können. Selbst wenn eine solche Bezugnahme möglich sein sollte, wie können wir jemals sicher sein, dass unsere Gedanken sich tatsächlich auf eine denkunabhängige Wirklichkeit beziehen? Traditionell gelten solche Fragen als Einwände gegen den Realismus. Ich möchte dagegen vorschlagen, den Realismus als eine unproblematische Trivialität zu betrachten und statt dessen von einer Erklärung für den Weltbezug von Überzeugungen zu verlangen, den trivialen Status des Realismus zu respektieren. Dass diese Adäquatheitsbedingung nicht ganz leicht zu erfüllen ist, liegt unter anderem am Begriff der Intentionalität selbst. So versteht zum Beispiel Franz Brentano, auf den die moderne Verwendung des Ausdrucks „Intentionalität“ zurückgeht, darunter die Eigenschaft mentaler Zustände, auf etwas gerichtet zu sein (vgl. Brentano 1874, 124−128). Brentano zufolge besteht das Charakteristische der Intentionalität nun gerade darin, dass dasjenige, worauf unser Denken gerichtet ist, nicht existieren muss.3 Man kann sich z. B. ein Einhorn denken, unabhängig davon, ob es ein solches Tier jemals gegeben hat. Der Gegenstandsbezug intentionaler Einstellungen ist demnach neutral gegenüber der Unterscheidung zwischen Existenz und Nicht-Existenz bzw., im Fall von Überzeugungen, neutral gegenüber der Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit. Ich werde den intentionalen Gehalt einer Überzeugung als wahrheitsneutral bezeichnen, wenn man über ihn unabhängig davon verfügen kann, ob die Überzeugung wahr oder falsch ist. Der sogenannte propositionale Gehalt ist offenbar in diesem Sinne wahrheitsneutral, denn man kann natürlich auch dann glauben, dass es regnet, wenn es in Wirklichkeit nicht regnet. Die Rede von einer intentionalen Ausrichtung des Denkens auf wahrheitsneutrale Inhalte legt nun die Auffassung nahe, dass der Weltbezug unseres Denkens stets durch derartige Inhalte vermittelt ist, im Fall von Überzeugungen also durch ihren propositionalen Gehalt. Der unmittelbare Inhalt einer Überzeugung, so die Überlegung, kann nicht jene Tatsache 3

„Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und das wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden“ (Brentano 1874, 124/5; H.v.m.).

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sein, welche die Überzeugung gegebenenfalls wahr macht, denn im Fall von falschen Überzeugungen gibt es keine solche Tatsache. Da wahre und falsche Überzeugungen denselben Inhalt haben, kann es sich bei diesem Inhalt nur um ihren wahrheitsneutralen propositionalen Gehalt handeln. Auch wahre Überzeugungen beziehen sich also nicht unmittelbar auf die Wirklichkeit, sondern nur vermittelt durch einen wahrheitsneutralen Inhalt. Diesen kann man als eine Repräsentation desjenigen Sachverhalts betrachten, der die Überzeugung gegebenenfalls wahr machen würde: Glaubt jemand, dass es regnet, so repräsentiert der Inhalt dieser Überzeugung den Sachverhalt, dass es regnet. – Ich werde die Auffassung, dass der Weltbezug unserer Überzeugungen stets durch wahrheitsneutrale Inhalte vermittelt ist, als Repräsentationalismus bezeichnen. Damit verwende ich dieses Etikett in einer etwas weiteren Bedeutung als sonst üblich: Das entscheidende Charakteristikum repräsentationalistischer Theorien ist meiner Auffassung nach, dass die Beziehung zwischen Denken und Wirklichkeit stets durch Inhalte vermittelt ist, die gegenüber der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit neutral sind und insofern als Repräsentationen betrachtet werden können. Der Repräsentationalismus in dieser weiten Bedeutung führt zwangsläufig dazu, dass die Existenz einer denkunabhängigen Wirklichkeit fragwürdig wird: Unmittelbarer Inhalt unserer Überzeugungen sind Repräsentationen, über die wir auch dann verfügen können, wenn diese Überzeugungen falsch sind. Unser einziger mentaler Zugang zur Wirklichkeit ist somit durch Inhalte vermittelt, die dieselben sein könnten, selbst wenn die Wirklichkeit ganz anders aussähe, als wir es annehmen. Vielleicht hängen die Inhalte unserer Überzeugungen, wie heute weithin angenommen, kausal von einer denkunabhängigen Wirklichkeit ab, so dass wir immerhin sicher sein können, dass es eine solche Wirklichkeit gibt. Doch selbst dann bleibt die Möglichkeit weitreichenden Irrtums bestehen, da ähnliche Wirkungen bekanntlich sehr unähnliche Ursachen haben können. Und auch dann, wenn antiskeptische Argumente wie dasjenige Putnams gegen die Gehirnim-Tank-Hypothese (vgl. Putnam 1981, Kap. 1) schlüssig sein sollten, wird die Annahme einer denkunabhängigen Wirklichkeit auf diese Weise von komplizierten und strittigen philosophischen Argumenten abhängig. Sobald man von einer repräsentationalistischen Auffassung ausgeht, handelt es sich beim Realismus also nicht mehr um eine Selbstverständlichkeit: Wir können schließlich nicht, so der bekannte Einwand gegen den an-

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geblich „naiven“ Realismus des Common sense, aus unserem Denken heraustreten, um zu überprüfen, ob wir uns wirklich auf etwas Denkunabhängiges beziehen. Daraus ergeben sich für das folgende zwei Konsequenzen, eine terminologische und eine inhaltliche. Erstens werde ich die Ausdrücke „Intentionalität“ und „Weltbezug“ auf eine Weise verwenden, die eine unmittelbare intentionale Bezugnahme auf die Wirklichkeit in Raum und Zeit nicht ausschließt. Das ist allerdings nur dann möglich, und darin besteht die inhaltliche Konsequenz, wenn diese Bezugnahme nicht auf eine wahrheitsneutrale Weise erklärt wird: Wir müssen zwischen dem intentionalen Bezug wahrer und falscher Überzeugungen unterscheiden. Wie sich herausstellen wird, ist diese Unterscheidung der Schlüssel zu einem Verständnis des Weltbezugs von Überzeugungen, das die Selbstverständlichkeit des Realismus unangetastet lässt. Um es jedoch gleich vorweg zu sagen: Die wesentliche Pointe meines Vorschlags besteht in einer Neubeschreibung des zu erklärenden Phänomens. Es handelt sich also nicht um eine neue „Theorie“, die erklären soll, wie geistige Vorgänge, die zunächst vom Rest der Welt ganz unabhängig sind, uns in Kontakt mit einer außermentalen Wirklichkeit bringen. Das Ziel ist vielmehr, eine Darstellung unseres mentalen Zugangs zur Welt zu geben, die eine solche Erklärung von vornherein überflüssig macht. Es geht mir also darum, Überzeugungen als etwas zu begreifen, das so auf die Wirklichkeit bezogen ist, dass ein Zweifel an der Denkunabhängigkeit dessen, worauf sie bezogen sind, erst gar nicht aufkommt. Damit komme ich zu einer für das folgende entscheidenden methodologischen Frage. Eine Konzeption des Weltbezugs von Überzeugungen muss neben dem Begriff der Überzeugung unter anderem mit dem des propositionalen Gehalts und dem der Wahrheit operieren. Die Frage ist nun, ob diese verschiedenen Begriffe unabhängig voneinander definiert werden können. Dieser Punkt ist wichtig, denn von ihm hängt ab, welchen Anspruch man sinnvollerweise an eine philosophische Konzeption des Weltbezugs von Überzeugungen stellen kann: Dürfen wir eine zirkelfreie Analyse mit Hilfe unabhängig definierter Begriffe erwarten? Oder kann es sich bestenfalls um eine Darstellung mit Hilfe von Begriffen handeln, die sich nur gemeinsam mit dem zu erläuternden Begriff einführen und wechselseitig durcheinander definieren lassen?

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Wie ich glaube, ist letzteres der Fall. Sicherlich kann man Überzeugungen z. B. als diejenigen mentalen Zustände definieren, deren typischer sprachlicher Ausdruck Behauptungssätze sind. Doch wenn man den Begriff des Behauptens erläutern will, wird man ohne die Begriffe des propositionalen Gehalts (für dasjenige, was behauptet wird) und der Wahrheit (für dasjenige, was mit einer Behauptung beansprucht wird) nicht auskommen. Was ein propositionaler Gehalt ist, dürfte man ebenfalls nicht erklären können, ohne den Wahrheitsbegriff zu verwenden. Wahrheit wiederum ist eine Eigenschaft, zu deren paradigmatischen Trägern Überzeugungen bzw. deren Inhalte gehören. Kurz und gut, die genannten Begriffe hängen so eng miteinander zusammen, dass es aussichtslos erscheint, einen von ihnen ganz unabhängig von den übrigen definieren oder auch nur erläutern zu wollen. Ich schlage deshalb vor, diese Begriffe als Teil eines holistischen Begriffsclusters zu betrachten.4 Das bedeutet erstens, dass man keinen von ihnen erwerben, erläutern oder definieren kann, ohne über die anderen Begriffe des Clusters zu verfügen. Zweitens kann man, sobald man über die Begriffe des Clusters verfügt, diese wechselseitig durcheinander erläutern (und so zumindest nominell definieren). Und drittens hängt es, wenn man eine solche Erläuterung gibt, vom verfolgten Ziel ab, welche Begriffe man als grundlegend betrachtet und welche man mit ihrer Hilfe erläutert. Ich werde nun eine Konzeption des Weltbezugs von Überzeugungen vorschlagen, die sich von einer repräsentationalistischen Auffassung vor allem darin unterscheidet, dass sie die Beziehung zwischen Überzeugungen und Wirklichkeit nicht mit Hilfe eines wahrheitsneutralen propositionalen Inhalts erklärt, sondern umgekehrt den propositionalen Gehalt durch den Weltbezug der Überzeugungen. Aber damit beanspruche ich nicht, die einzig richtige Darstellung des Verhältnisses der fraglichen Begriffe zu geben, sondern diejenige Darstellung, die für die Zwecke einer realismuskompatiblen Erklärung des Weltbezugs von Überzeugungen besonders geeignet ist. Mein Vorschlag zielt vor allem auf eine Änderung des Blickwickels: Wenn es aus der üblichen, nämlich repräsentationalistischen Perspektive rätselhaft erscheint, wie unsere Überzeugungen sich unmittelbar auf eine unabhängige Wirklichkeit beziehen können, dann sollte man 4

Der Vorschlag, diese Begriffe als Teil eines Clusters zu betrachten, stammt von Arthur Collins (Collins 1994, 944); vgl. dazu auch den nächsten Abschnitt.

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die Dinge einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten – und siehe da, das Rätsel verschwindet. Welche Perspektive dies ist, werde ich im nun folgenden Abschnitt darstellen. 2. Eine disjunktive Konzeption des Weltbezugs von Überzeugungen Ausgehen möchte ich von Arthur Collins’ Analyse des Überzeugungsbegriffs (vgl. Collins 1987). Collins will zeigen, dass Überzeugungen keine „inneren“, d. h. psychischen, funktionalen oder neuronalen Zustände sind – eine These, mit der ich sympathisiere, auf die ich mich hier jedoch nicht festlegen möchte. Collins weist darauf hin, dass wir im erstpersönlichen Fall, um festzustellen, welche Überzeugungen wir haben, den Blick nicht nach „innen“ wenden, sondern nach „außen“: Wenn ich mich frage, ob ich glaube, dass es regnet, dann frage ich mich normalerweise einfach, ob es regnet oder nicht. Bei Selbstzuschreibungen von Überzeugungen handelt es sich im Normalfall nicht um Aussagen über den Sprecher, sondern um Aussagen über die sogenannte „äußere“ Wirklichkeit, also etwa darüber, ob es regnet oder nicht. Überzeugungen, so schließt Collins, sind ebenso wenig innere Zustände, wie Wissen ein innerer Zustand ist: „Belief exhibits the same kind of irreducible connectedness to the world outside the believer as knowledge, though the connection is somewhat different and more complex“ (Collins 1987, 33). Nun ist die Annahme einer irreduziblen Beziehung zur Wirklichkeit im Fall von Wissen unproblematisch: Wenn jemand wirklich weiß, und nicht nur zu wissen glaubt, dass es regnet, dann regnet es auch. Hier ist also sichergestellt, dass etwas der Fall ist, das gewusst werden kann. Doch Überzeugungen können auch falsch sein. Worauf in der Welt bezieht man sich mit der Überzeugung, dass es hier und jetzt regnet, wenn gerade die Sonne scheint und kein Topfen vom Himmel fällt? Collins verblüffende Antwort lautet, dass Überzeugungszuschreibungen verdeckte disjunktive Aussagen sind. Er gelangt so zu folgender Analyse des Überzeugungsbegriffs: D1 X glaubt, dass p, gdw. (a) p der Fall ist und X hat recht hinsichtlich p oder (b) p nicht der Fall ist und X irrt sich hinsichtlich p.5 5

Im Original heißt es: „‚S believes that p,’ if, and only if, [...] p is true and S is right about p, or p is false and S is wrong about p“ (Collins 1987, 39; die Auslassung betrifft nur Collins’ Nummerierung der Definition).

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Dass es sich bei dieser Äquivalenz um eine intensional adäquate Analyse des Überzeugungsbegriffs handelt, mag man aus verschiedenen Gründen bezweifeln (vgl. dazu Brandom 1994). Ich möchte diese Frage hier offen lassen. Mir geht es nur um den Punkt, dass die beiden Seiten des Bikonditionals zumindest extensional äquivalent sind. Wenn gilt: Entweder es regnet und ich habe recht hinsichtlich der Frage, ob es regnet, oder es regnet nicht, und ich irre mich hinsichtlich der Frage, ob es regnet, dann glaube ich, dass es regnet – und umgekehrt. Wie erwähnt, ist Collins’ Ziel eine Analyse des Überzeugungsbegriffs, die deutlich macht, dass es sich bei Überzeugungen nicht um innere Zustände handelt. Er kann daher von einem unanalysierten Begriff des Rechthabens hinsichtlich einer bestimmten Tatsache ausgehen, um den Begriff der Überzeugung zu erläutern.6 Für unsere Zwecke ist ein solches Vorgehen jedoch ungeeignet, da mit dem Ausdruck „hinsichtlich p“ der entscheidende Schritt für die Erläuterung des Weltbezugs von Überzeugungen bereits vorausgesetzt ist. Um recht oder unrecht hinsichtlich der Wirklichkeit zu haben, müssen wir uns auf sie bereits beziehen können. Zudem ist dieser Weltbezug für wahre und falsche Überzeugungen derselbe, denn in beiden Fällen hat man recht oder unrecht „hinsichtlich p“ – auch dann, wenn es gar nicht der Fall ist, dass p. Der Weltbezug ist also auch Collins zufolge durch einen wahrheitsneutralen Inhalt vermittelt. Collins verlagert ihn nur gleichsam von „innen“ nach „außen“: Die wahrheitsneutrale Beschreibung betrifft nun nicht mehr den Inhalt eines „inneren“ Zustandes, sondern die Wirklichkeit selbst. Zwischen dem Weltbezug wahrer und falscher Überzeugungen wird so aber nicht unterschieden. Collins’ Analyse ist daher zumindest für den vorliegenden Zweck nicht geeignet. Dennoch deutet die disjunktive Analyse von Überzeugungszuschreibungen in die richtige Richtung, indem sie durch die Betonung der Unterscheidung zwischen wahren und falschen Überzeugungen die Möglichkeit eröffnet, auch zwischen dem Weltbezug von wahren und von falschen Überzeugungen zu unterscheiden. 6

Zwar erläutert Collins diesen Begriff in einer Fußnote, jedoch unter Verwendung des Begriffs der Überzeugung. Soll es sich bei (3) um eine Analyse des Überzeugungsbegriffs handeln, muss Collins den Ausdruck „S is right about p“ als unanalysierten Grundbegriff betrachten. Vgl. Collins 1994, 944, wo er dies explizit einräumt und betont, dass die relevanten Begriffe nicht unabhängig voneinander definiert werden können, sondern ein Cluster bilden.

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Um diese Idee für meine Zwecke fruchtbar zu machen, möchte ich kurz eine weitere „disjunktive“ Konzeption mentaler Zustände betrachten: die sogenannte disjunktive Konzeption perzeptueller Erfahrung, die Paul Snowdon und John McDowell Anfang der 80er Jahre (unabhängig voneinander) vorgeschlagen haben (vgl. Snowdon 1981; McDowell 1982). Sie richtet sich vor allem gegen die Annahme, man könne die Möglichkeit von Wahrnehmungsirrtümern nur erklären, wenn man den unmittelbaren Inhalt der Wahrnehmung als eine Repräsentation betrachtet. Diese Annahme beruht auf dem sogenannten „argument from illusion“: Wenn wahrheitsgemäße Sinneserfahrungen und Täuschungen aus der Perspektive des Wahrnehmungssubjekts ununterscheidbar sein können, dann kann ihr Inhalt diesem Argument zufolge nicht der wahrgenommene Gegenstand oder Sachverhalt selbst sein, sondern nur eine wahrheitsneutrale Repräsentation. Diese Repräsentation gilt, mit einem Ausdruck McDowells, gleichsam als der „höchste gemeinsame Faktor“ in Fällen von Wahrnehmung und solchen der Täuschung (vgl. McDowell 1982, 386). Doch diese Deutung der Möglichkeit von Wahrnehmungsirrtümern, so die Vertreter der disjunktiven Konzeption, ist nicht alternativlos. Sie setzt die „internalistische“ These voraus, dass zwei mentale Zustände, die aus der Perspektive der ersten Person ununterscheidbar sind, denselben Inhalt haben müssen. Geht man dagegen von der „externalistischen“ Auffassung aus, dass der Inhalt mentaler Zustände, besonders im Fall von Wahrnehmungen, unter anderem davon abhängt, welche Gegenstände tatsächlich wahrgenommen werden, dann können zwei mentale Zustände, die für das Wahrnehmungssubjekt selbst ununterscheidbar sind, durchaus einen unterschiedlichen Inhalt haben. Dieser externalistischen Konzeption der Wahrnehmung zufolge gibt es keinen wahrheitsneutralen Inhalt der Wahrnehmung. Dass es jemandem zum Beispiel visuell so erscheint, als habe er einen Baum vor sich, bedeutet danach, dass er entweder einen Baum sieht oder es ihm fälschlich so vorkommt, als sehe er einen Baum. Die wahrheitsneutrale Beschreibung einer perzeptuellen Erfahrung lässt sich ganz auf diese disjunktive Aussage zurückführen. – Es geht mir hier nicht darum, diese Auffassung über den Inhalt der Wahrnehmung zu verteidigen. Ich möchte sie vielmehr als Modell für eine disjunktive Konzeption des Weltbezugs von Überzeugungen verwenden.

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Die disjunktive Konzeption perzeptueller Erfahrung beruht auf der Idee, das herkömmliche Verständnis der Beziehung zwischen Wahrnehmung und Irrtum einerseits und wahrheitsneutralem Inhalt der Erfahrung andererseits umzukehren. Dieser Gedanke lässt sich unmittelbar auf den Weltbezug von Überzeugungen übertragen: Dem herkömmlichen (repräsentationalistischen) Verständnis zufolge bezieht sich eine Überzeugung, dass p, dadurch auf die Wirklichkeit, dass sie einen propositionalen Gehalt hat, der festlegt, dass die Überzeugung entweder wahr ist, weil p, oder falsch, weil nicht-p. Kehrt man dieses Verhältnis um, so erhält man folgendes Bild: Eine Überzeugung hat einen propositionalen Gehalt, dass p, wenn sie sich entweder auf die Wirklichkeit bezieht, indem sie wahr ist, weil p, oder sie sich auf die Wirklichkeit bezieht, indem sie falsch ist, weil nicht-p. Es gibt demnach zwei Weisen, wie sich eine Überzeugung auf die Welt beziehen kann: Entweder sie ist wahr, weil etwas Bestimmtes der Fall ist, oder sie ist falsch, weil etwas Bestimmtes nicht der Fall ist. Der Weltbezug einer Überzeugung, die über ihren propositionalen Gehalt identifiziert wird, besteht dann in der Disjunktion dieser beiden Weisen des Weltbezugs. Betrachten wir zum Beispiel die Überzeugung, dass es regnet, so müssen wir zwei Fälle unterscheiden: Fall (a) besteht darin, dass diese Überzeugung sich dadurch auf die Welt bezieht, dass sie wahr ist, weil es regnet. Im Fall (b) bezieht sie sich auf die Welt, indem sie falsch ist, weil es nicht regnet. Der Weltbezug der Überzeugung, dass es regnet, besteht nun einfach darin, dass entweder (a) oder (b) der Fall ist. Allgemeiner (für empirische Überzeugungen)7: DK1 S glaubt (hat eine Überzeugung), dass p, gdw. (a) S eine Überzeugung hat, die wahr ist, weil p, oder (b) S eine Überzeugung hat, die falsch ist, weil nicht-p.

7

Die Einschränkung auf empirische Überzeugungen ist notwendig, da die disjunktive Konzeption den propositionalen Gehalt logisch äquivalenter Überzeugung miteinander identifiziert (vgl. unten), was für den Bereich empirischer Überzeugungen vertretbar, für den mathematischer Überzeugungen jedoch unplausibel ist. Oben hatte ich schon darauf hingewiesen, dass nicht zu erwarten ist, dass sich der Weltbezug unterschiedlicher Arten mentaler Einstellungen auf eine einheitliche Weise verständlich machen lässt.

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Die beiden Seiten dieses Bikonditionals sind allem Anschein nach extensional äquivalent: Wenn man glaubt, dass p, dann gilt entweder, dass man eine Überzeugung hat, die deshalb wahr ist, weil p, oder dass man eine Überzeugung hat, die falsch ist, weil nicht-p. Umgekehrt gilt, dass man sowohl dann, wenn man eine Überzeugung hat, die wahr ist, weil p, als auch dann, wenn man eine Überzeugung hat, die falsch ist, weil nicht-p, glaubt, dass p.8 DK1 legt uns allerdings nicht darauf fest, dass eine der beiden Seiten vollständig auf die andere zurückführbar, durch sie analysierbar oder definierbar ist. Da es mir anders als Collins nicht darum geht, den Begriff der Überzeugung wegzudefinieren, kann ich ihn hier einfach voraussetzten. Außerdem treten an die Stelle der Ausdrücke „hat recht (bzw. hat unrecht) hinsichtlich p“ (in D1) in DK1 nun die Ausdrücke „ist wahr, weil p“ und „ist falsch, weil nicht-p“. Die in DK1 verwendeten Grundbegriffe sind daher die Begriffe der Überzeugung, der Wahrheit und der Falschheit, die ich hier als unanalysierbar und nur nominal definierbar voraussetze. Allerdings gilt es noch zu erläutern, was es heißen soll, dass eine Überzeugung wahr bzw. falsch ist, weil etwas der Fall bzw. nicht der Fall ist. Dieser Redeweise lässt sich ein unproblematischer Sinn geben, wenn wir Wahrheit als eine zweistellige Relation zwischen Überzeugungen und der Wirklichkeit auffassen.9 Dann nämlich kann man sagen, dass eine Überzeugung wahr ist, weil p, (oder dass sie durch die Tatsache, dass p, wahrgemacht wird), wenn sie in der Relation der Wahrheit zur Tatsache steht, dass p. Um dies durch einen Vergleich zu verdeutlichen: Man kann sagen, dass die Existenz eines Kindes zwei Personen zu Eltern macht bzw. dass zwei Personen Eltern sind, weil sie (mindestens) ein Kind haben. Hier handelt es sich offenbar nicht um eine pseudo-kausale Erklärung, wonach ein 8

9

Auf mögliche Bedenken hinsichtlich der Geltung dieser Äquivalenz werde ich gleich zu sprechen kommen. Um welche Relation es sich dabei handelt, lässt sich natürlich nicht informativ erläutern, wenn Wahrheit ein unanalysierbarer Grundbegriff sein soll. Zwar kann man Wahrheit als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit definieren. (Diese „Namenerklärung der Wahrheit“ wird hier mit Kant „geschenkt, und vorausgesetzt“; vgl. KrV, A 58/B82.) Doch wenn man erklären will, um welche Art von Übereinstimmung es sich handelt und in welcher Hinsicht sie vorliegen soll, muss man bereits wieder vom Wahrheitsbegriff selbst Gebrauch machen. Wie für die anderen Begriffe des Clusters um den Überzeugungsbegriff gilt auch für den Begriff der Wahrheit, dass er nicht auf informative Weise definierbar ist. Vgl. dazu unten, Abschnitt 4.

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Kind auf irgendeine mysteriöse Weise etwas „macht“ (nämlich aus zwei Personen Eltern). Gemeint ist nur, dass die Eltern und das Kind in einer bestimmten verwandtschaftlichen Beziehung stehen, in der keine Seite ohne die andere stehen würde. Ganz analog verhält es sich im Fall der Wahrheit: Etwas ist eine wahre Überzeugung, weil es von einer Tatsache wahr gemacht wird. Doch das heißt nichts anderes, als dass zwischen der Überzeugung und der Tatsache eine Relation besteht, nämlich die der Wahrheit. Versteht man unter Wahrheit also eine Eigenschaft von Überzeugungen (so wie Elternsein eine Eigenschaft von Personen ist), dann handelt es sich insofern um eine relationale Eigenschaft, als diese vollständig darin aufgeht, dass ihr Träger zu etwas anderem (einer Tatsache) in einer bestimmten Relation steht. Statt davon zu sprechen, dass eine Überzeugung wahr ist, weil p, können wir also genauso gut sagen, dass sie in der Relation der Wahrheit zur Tatsache steht, dass p. (Analoges gilt für die Falschheit.) Wie sich gleich herausstellen wird, lassen sich die Relationen der Wahrheit und Falschheit von Überzeugungen noch einmal auf zwei grundlegende Relationen zwischen dem Überzeugungssubjekt und Tatsachen in der Wirklichkeit zurückführen. Für den Augenblick möchte ich diesen Punkt jedoch zurückstellen und zunächst schildern, was mit DK1 für die Frage des Weltbezugs von Überzeugungen gewonnen ist. Gegenüber Collins’ Analyse des Überzeugungsbegriffs besteht der Gewinn vor allem darin, dass der Ausdruck „ist wahr, weil p“, anders als die Wendung „hat recht hinsichtlich p“, einen wahrheitsneutralen Weltbezug (einen propositionalen Gehalt) nicht bereits explizit voraussetzt. (Auf die Frage, ob er nicht zumindest implizit vorausgesetzt ist, werde ich gleich zurückkommen.) Damit gewinnt man zugleich einen entscheidenden Vorteil gegenüber der repräsentationalistischen Auffassung: Eine wahre Überzeugung, dass p, bezieht sich DK1 zufolge unmittelbar auf die Wirklichkeit, und zwar dadurch, dass sie wahr ist, weil p. Auch eine falsche Überzeugung, dass p, bezieht sich unmittelbar auf die Wirklichkeit, nun allerdings dadurch, dass sie falsch ist, weil nicht-p. Wahre und falsche Überzeugungen unterscheiden sich demnach nicht nur äußerlich, sondern intrinsisch voneinander, da sie sich in unterschiedlicher Weise auf die Wirklichkeit beziehen. Dennoch können wahre und falsche Überzeugungen denselben propositionalen Gehalt haben. Sowohl eine Überzeugung, die wahr ist, weil p, als auch eine Überzeugung, die falsch ist, weil nicht-p, hat den propositionalen Gehalt, dass p. Nur die Weise, wie diese Überzeu-

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gungen sich auf die Wirklichkeit beziehen, unterscheidet sich voneinander, nicht ihr propositionaler Gehalt. Die Wahrheit bzw. Falschheit einer Überzeugung hängt demnach unmittelbar (nicht vermittelt durch einen propositionalen Gehalt) davon ab, was der Fall ist. Es ist die Disjunktion dieser beiden unterschiedlichen Weisen des unmittelbaren Weltbezugs, die erklärt, worin der Weltbezug einer Überzeugung besteht, die über ihren propositionalen Gehalt identifiziert ist. Der Grund, warum wir daran interessiert sind, Überzeugungen über ihren propositionalen Gehalt zu identifizieren, liegt auf der Hand: Andernfalls könnten wir nämlich nur Überzeugungen zuschreiben, von denen wir wissen (oder zumindest zu wissen glauben), ob sie wahr sind oder nicht. Wissen wir dies nicht, müssen wir offen lassen, ob die Überzeugung wahr ist, weil p, oder falsch ist, weil nicht-p. Genau das leistet der disjunktiv gebildete Begriff der Überzeugung, dass p. Der Vergleich mit dem Begriff des Elternseins kann den entscheidenden Punkt vielleicht weiter verdeutlichen.10 Betrachtet man Elternteil als Grundbegriff, kann man die Begriffe Vater und Mutter als männlicher bzw. weiblicher Elternteil definieren. Dennoch besteht Elternteilsein letztlich darin, entweder Vater oder Mutter zu sein. Zumindest wenn es um die „ontologische“ Frage geht, auf welche Weise die Eigenschaft, ein Elternteil zu sein, realisierbar ist, sind diese beiden Begriffe also primär. Ebenso kann man den Weltbezug einer Überzeugung, dass p, über ihren propositionalen Gehalt erklären. Eine Überzeugung, dass p, bezieht sich demnach auf die Welt, indem sie diese auf eine wahrheitsneutrale Weise als eine Welt repräsentiert, in der es der Fall ist, dass p. Ob es wirklich der Fall ist, dass p, oder ob es der Fall ist, dass nicht-p, bleibt damit ebenso offen, wie die Feststellung, dass X ein Elternteil ist, offen lässt, ob X Vater oder Mutter ist. Dennoch ist diese Repräsentationsleistung der Überzeugung (wie das Elternteilsein) stets auf eine von zwei Weisen realisiert. Der Weltbezug besteht letztlich entweder in der Eigenschaft der Überzeugung, aufgrund dessen, was der Fall ist, wahr zu sein, oder in der Eigenschaft, aufgrund dessen, was der Fall ist, falsch zu sein. (Auf die Frage, ob es Überzeugungen gibt, die weder wahr noch falsch sind, werde ich weiter unten eingehen.)

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Ich verdanke diesen Vergleich einem Hinweis von Rosemarie Rheinwald.

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Die disjunktive Konzeption impliziert einen radikalen Externalismus: Der Inhalt einer Überzeugung hängt bereits auf der Ebene einzelner Vorkommnisse, und nicht erst auf der von Typen mentaler Zustände, davon ab, wie es sich in Wirklichkeit verhält. Dies ist möglich, weil wahre und falsche Überzeugungen sich in unterschiedlicher Weise auf die Welt beziehen. Wahre Überzeugungen sind daher eine andere Art von mentalem Zustand als falsche. Dennoch muss das Überzeugungssubjekt selbst nicht immer in der Lage sein, sie eindeutig voneinander zu unterscheiden, denn dasjenige, worin sie sich voneinander unterscheiden, liegt nicht in „internen“ Faktoren (also solchen, die dem Subjekt auf irrtumsresistente Weise zugänglich sind), sondern in ihrer Beziehung zur „äußeren“ Wirklichkeit selbst. Dem Überzeugungssubjekt ist es daher oft nicht mit letzter Sicherheit möglich, zwischen beiden Fällen zu unterscheiden – andernfalls würden wir nur wahre Überzeugungen haben, da wir die falschen stets erkennen und vermeiden könnten. Das bedeutet nicht, dass das Überzeugungssubjekt überhaupt nicht zwischen beiden Fällen unterscheiden kann. Schließlich haben wir zumeist gute Gründe für unsere Überzeugungen, und das heißt: gute Gründe für die Annahme, dass sie wahr sind. Das verhindert bekanntlich aber nicht, dass jeder Mensch auch falsche Überzeugungen hat. Es wäre allerdings ein Missverständnis, aus dieser Form von Externalismus zu folgern, dass eine Überzeugung kein rein mentaler Zustand ist, sondern ein hybrider Zustand wie der des Wissens, welcher neben einem mentalen Aspekt (gerechtfertigte Meinung) auch einen nicht-mentalen Aspekt (Wahrheit, Übereinstimmung mit der Wirklichkeit) umfasst. Eine solche Zweiteilung ist beim Überzeugungsbegriff nicht sinnvoll. Die richtige Konsequenz lautet vielmehr, dass die meisten intentionalen Zustände keine rein psychischen (oder gar neuronalen) Zustände sind, die im Inneren unserer Schädel lokalisiert sind, sondern mentale Zustände, die als solche normalerweise auch die nicht-psychische Wirklichkeit umfassen.11 John McDowell hat diese radikale Form des Externalismus auf den Punkt gebracht, indem er Putnams externalistischen Slogan „Meanings just ain’t in the head“ (vgl. Putnam 1975, 227) um den Zusatz ergänzt hat: „the mind [...] is not in the head either“ (McDowell 1992, 36). Ein Wesen mit intentionalen 11

Das bedeutet natürlich nicht, dass die nicht-psychische Wirklichkeit von mentalen Zuständen abhängig ist, sondern nur, dass dasjenige, was denkunabhängigerweise der Fall ist, auch Bestandteil mentaler Zustände sein kann.

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mentalen Zuständen zu sein bedeutet demnach, zu seiner realen Umwelt in intentionalen Beziehungen zu stehen. Der disjunktiven Konzeption zufolge ist eine dieser Beziehungen die, eine wahre Überzeugung zu haben, eine andere Beziehung die, eine falsche Überzeugung zu haben. Jemandem eine Überzeugung zuzuschreiben, ohne sich darauf festzulegen, ob sie wahr ist oder falsch, besagt demnach, dass das Überzeugungssubjekt entweder auf die eine oder auf die andere Weise zur Wirklichkeit in Beziehung steht. Wenn wahre und falsche Überzeugungen zwei unterschiedliche Beziehungen des Überzeugungssubjekts zur Wirklichkeit sind, dann liegt es nahe, die disjunktive Konzeption direkt mit Hilfe dieser Beziehungen zu formulieren. Dazu können wir zunächst die beiden Relationen des „Wahrglaubens“ bzw. „Falschglaubens“ einführen: WG Ein Subjekt S steht in der Relation des Wahrglaubens zur Tatsache, dass p, gdw. S eine Überzeugung hat, die wahr ist, weil p. FG Ein Subjekt S steht in der Relation des Falschglaubens zur Tatsache, dass nicht-p, gdw. S eine Überzeugung hat, die falsch ist, weil nicht-p. Die Definitionen von „Wahrglauben“ und „Falschglauben“ sollen natürlich keine Reduktion oder Analyse der Begriffe Überzeugung, Wahrheit und Falschheit zum Ausdruck bringen; vielmehr werden die technischen Termini „Wahrglauben“ und „Falschglauben“ umgekehrt mit Hilfe der vertrauten Ausdrücke „Überzeugung“, „Wahrheit“ und „Falschheit“ eingeführt. Dennoch können wir nun diese beiden Relationen als fundamental für eine Erklärung des Weltbezugs von Überzeugungen betrachten. Wir gelangen so zu folgender Formulierung der disjunktiven Konzeption: DK2 S glaubt (hat eine Überzeugung), dass p, gdw. (a) S in der Relation des Wahrglaubens zur Tatsache steht, dass p, oder (b) S in der Relation des Falschglaubens zur Tatsache steht, dass nicht-p. DK1 und DK2 sind logisch äquivalent, denn DK2 ergibt sich durch Einsetzung der Definitionen WG und FG in DK1. Dennoch hat DK2 gegenüber DK1 den Vorteil, deutlich zu machen, dass Überzeugungen nicht als Entitäten im Kopf (oder im Bewusstsein) des Überzeugungssubjekts begriffen werden müssen, sondern als Relationen zwischen einem Subjekt und der

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Wirklichkeit betrachtet werden können, und zwar als zweistellige Relationen, die nicht durch einen wahrheitsneutralen Überzeugungsinhalt vermittelt sind. Insofern ist unsere intentionale Bezugnahme auf die Wirklichkeit der disjunktiven Konzeption zufolge direkt (unmittelbar). Natürlich kann man DK2 nicht verstehen, ohne die Definitionen WG und FG zu verstehen, was wiederum voraussetzt, dass man bereits über die Begriffe der Überzeugung, der Wahrheit und der Falschheit verfügt. Doch zumindest für den Zweck einer Erklärung, wie unsere Überzeugungen sich auf die Wirklichkeit beziehen, können wir die Relationen des Wahrglaubens und Falschglaubens als fundamental betrachten. Um die entscheidenden Punkte noch einmal anhand eines einfachen Beispiels zusammenzufassen: Eine wahre Überzeugung, dass es regnet, bezieht sich dadurch auf die Wirklichkeit, dass sie deshalb wahr ist, weil es regnet. Eine falsche Überzeugung, dass es regnet, bezieht sich dadurch auf die Wirklichkeit, dass sie deshalb falsch ist, weil es nicht regnet. Eine Person glaubt genau dann, dass es regnet, wenn ihre Überzeugung entweder deshalb wahr ist, weil es regnet, oder deshalb falsch, weil es nicht regnet. Die beiden Weisen des Weltbezugs lassen sich ihrerseits als direkte (d. h. zweistellige) Relationen zwischen Subjekt und Wirklichkeit verstehen, nämlich als Relation des Wahrglaubens (zur Tatsache, dass es regnet) bzw. des Falschglaubens (zur Tatsache, dass es nicht regnet). Der Begriff Überzeugung, dass es regnet fungiert lediglich als disjunktiv gebildeter Oberbegriff für diese beiden unterschiedlichen Relationen zur Wirklichkeit. Dieser Oberbegriff erlaubt es, die Überzeugung auf wahrheitsneutrale Weise zuzuschreiben. Doch das bedeutet nicht, dass eine Überzeugung sich auf wahrheitsneutrale Weise auf die Welt beziehen könnte. Die Zuschreibung von Überzeugungen über ihren wahrheitsneutralen Inhalt ist vielmehr sekundär gegenüber ihrem unmittelbaren, für wahre und falsche Überzeugungen unterschiedlichen Weltbezug. Im Fall von wahren Überzeugungen fallen der sprachliche Ausdruck der Tatsache, welche die Überzeugung wahr macht, und die wahrheitsneutrale Beschreibung des Überzeugungsinhalts zusammen (vgl. McDowell 1994, 27): Was man glaubt, wenn man wahrerweise glaubt, dass es regnet, ist gerade dasjenige, was wirklich der Fall ist, nämlich, dass es regnet. Daraus zieht die sogenannte „identity theory of truth“ den Schluss, dass der propositionale Gehalt einer wahren Überzeugung mit einer Tatsache identisch

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ist.12 Die disjunktive Konzeption hingegen identifiziert den propositionalen Gehalt einer Überzeugung nicht mit einer Tatsache, weil sie den Überzeugungsinhalt nicht als eine eigenständige Entität behandelt. Er ist vielmehr das Ergebnis einer vereinheitlichenden Beschreibung einer Disjunktion zweier Relationen, deren einer die Tatsache, dass p, deren anderer die Tatsache, dass nicht-p, involviert.13 Es ist dieser disjunktive Charakter, der es erlaubt, die antirealistischen bzw. realismusskeptischen Konsequenzen anderer Intentionalitätskonzeptionen zu vermeiden. Sowohl wahre als auch falsche Überzeugungen beziehen sich unmittelbar auf die Wirklichkeit – allerdings auf unterschiedliche Weise. Kein wahrheitsneutraler Inhalt schiebt sich zwischen die denkende Person und die Wirklichkeit. Die Möglichkeit von Überzeugungen ohne eine Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen, ist damit bereits auf der begrifflichen Ebene ausgeschlossen. Schematisch kann man die repräsentationalistische und die disjunktive Auffassung einander folgendermaßen gegenüberstellen: Denken

Weltbezug

Welt

RP:

S glaubt, dass p

S ist in einem mentalen Zustand mit dem p oder nicht p repräsentationalen Gehalt, dass p

DK:

S glaubt, dass p

Entweder (a) oder (b): (a) S hat eine wahre Überzeugung, weil: (b) S hat eine falsche Überzeugung, weil:

p nicht-p

Der repräsentationalistischen Auffassung zufolge beziehen sich wahre und falsche Überzeugungen in derselben Weise auf die Wirklichkeit. Da es für den Weltbezug von Überzeugungen demnach gleichgültig ist, wie es sich in einer von ihnen unabhängigen Wirklichkeit tatsächlich verhält, können uns unsere Überzeugungen allein auch keinen Aufschluss über die Wirklichkeit geben. Doch wenn sie es nicht können, dann kann es der repräsentationalistischen Auffassung zufolge überhaupt nichts. Es wird so letzt12 13

Vgl. dazu Baldwin 1991, Hornsby 1997, Halbig 2002. Dass der Inhalt einer wahren Überzeugung (dass p) und die entsprechende Tatsache (dass p) sprachlich auf dieselbe Weise ausgedrückt werden, lässt sich dadurch erklären, dass (unter Voraussetzung des Bivalenzprinzips) der Ausdruck „dass p“ implizit auch angibt, welche Tatsache die Überzeugung, falls sie falsch ist, falsch macht (nämlich, dass nicht-p).

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lich unverständlich, wie wir etwas über die Welt wissen können und was es heißen soll, dass unsere Überzeugungen sich auf die Welt beziehen. Die disjunktive Auffassung vermeidet dieses Problem, da ihr zufolge der Weltbezug einer Überzeugung darin besteht, dass ihre Wahrheit davon abhängt, wie es sich in Wirklichkeit verhält. Der entscheidende Punkt ist, dass dasjenige, was der Fall ist, ein Teil der Beziehung zwischen Überzeugungssubjekt und Welt ist. Es sind die Tatsachen selbst, die unsere Überzeugungen wahr oder falsch machen. Ob man in der Relation des „Wahrglaubens“ oder des „Falschglaubens“ zur Wirklichkeit steht (ob man also eine wahre Überzeugung hat, weil p, oder eine falsche, weil nicht-p), hängt unter anderem davon ab, was wirklich der Fall ist (p oder nicht-p), und es sind diese beiden Relationen, in denen unser mentaler Zugang zur Wirklichkeit besteht. Wenn diese disjunktive Konzeption theoretischer Intentionalität plausibel gemacht werden kann, dann ist unsere Aufgabe gelöst: Wir würden verstehen, wie Überzeugungen sich unmittelbar auf eine von ihnen unabhängige Wirklichkeit beziehen können. Jede Infragestellung des Realismus wäre damit ausgeschlossen. Doch bisher habe ich nur die Grundidee einer solchen Konzeption vorgestellt. Im folgenden Teil möchte ich nun einige naheliegende Einwände ausräumen und offen gebliebene Fragen beantworten. 3. Fragen und Einwände (a) Zirkularität 1. Wir müssen offenbar bereits wissen, welchen propositionalen Gehalt eine Überzeugung hat, um sagen zu können, welche Tatsache sie gegebenenfalls wahr und welche sie falsch machen würde. Die disjunktive Konzeption ist insofern zirkulär: Sie erläutert den propositionalen Gehalt von Überzeugungen unter Rekurs auf deren Weltbezug, doch diese Erläuterung setzt den propositionalen Gehalt bereits als bekannt voraus. Tatsächlich handelt es sich hier jedoch nicht um einen vitiösen Zirkel, sondern lediglich um eine Konsequenz der Tatsache, dass wir es mit einem holistischen Begriffscluster zu tun haben, dessen einzelne Bestandteile nicht unabhängig voneinander eingeführt und erläutert werden können. Im allgemeinen dürfte es tatsächlich nicht möglich sein, Überzeugungen unabhängig von ihrem propositionalen Gehalt zu identifizieren. Schließlich kann man nicht zuerst fragen, welche Überzeugungen jemand hat, um dann

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festzustellen, welchen Inhalt sie haben. Man stellt vielmehr fest, welche Überzeugungen eine Person hat, indem man feststellt, wovon sie überzeugt ist. Und sofern man nicht bereits weiß, welche dieser Überzeugungen wahr und welche falsch sind, ist man darauf angewiesen, dasjenige, wovon die Person überzeugt ist, auf eine wahrheitsneutrale Weise zu beschreiben, indem man ihr eine Überzeugung mit einem (wahrheitsneutralen) propositionalen Gehalt zuschreibt. Die disjunktive Konzeption ist jedoch nicht auf die These festgelegt, dass man Überzeugungen stets anhand ihrer tatsächlichen Relation zur Wirklichkeit (entweder wahr oder falsch zu sein) identifizieren kann. Sie betrifft nicht die erkenntnistheoretische Frage, wie wir feststellen, welchen Inhalt eine Überzeugung hat, sondern die ontologische Frage, worin dieser Inhalt besteht bzw. wie er realisiert ist. Die Antwort lautet, dass es sich beim propositionalen Gehalt einer Überzeugung um ein Objekt zweiter Ordnung handelt, das sich aus der Zusammenfassung zweier ganz unterschiedlicher Relationen zwischen Überzeugungssubjekt und Wirklichkeit ergibt, nämlich der des Wahrglaubens und der des Falschglaubens. Der entscheidende Punkt ist also, dass auch der Weltbezug wahrheitsneutral beschriebener Überzeugungen nicht wahrheitsneutral ist, sondern entweder derjenige einer wahren oder derjenige einer falschen Überzeugung. (b) Zirkularität 2. Um zu wissen, von welcher Tatsache die Wahrheit einer bestimmten Überzeugung abhängt, müssen Überzeugungen und Tatsachen einander irgendwie zugeordnet sein.14 Auch wenn wir annehmen, dass wir den propositionalen Gehalt unserer Überzeugungen kennen, würde uns das in einen Zirkel führen, da wir Tatsachen allem Anschein nach nur über die propositionalen Gehalte möglicher Überzeugungen (oder Aussagen) identifizieren können: Eine Tatsache ist genau dann die Tatsache, dass es regnet, wenn die Wahrheit der Überzeugung, dass es regnet, von dieser Tatsache und keiner anderen abhängt. Dieser Zirkel wird uns dadurch anschaulich vor Augen geführt, dass dieselben Schemabuchstaben „p“, „q“, „r“ einerseits die propositionalen Gehalte unserer Überzeugungen und andererseits diejenigen Tatsachen repräsentieren, von deren Wahrheit diese Überzeugungen abhängen. 14

Eine solche Zuordnung könnte man sich zum Beispiel nach dem Vorbild einer Tarskischen Wahrheitsdefinition vorstellen. Allerdings zeigt Putnams „modelltheoretisches Argument“ gegen den metaphysischen Realismus, dass eine derartige Zuordnung niemals eindeutig sein kann; vgl. Putnam 1978, 125; 1980.

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Doch dieser Einwand beruht auf einem Missverständnis. Die disjunktive Konzeption besagt nicht, dass die Wahrheit unserer Überzeugungen davon abhängt, ob Wahrheitsbedingungen, die wir ihnen zugeordnet haben, erfüllt sind oder nicht. Die Wahrheit unserer Überzeugungen hängt einfach von dem ab, was der Fall ist – ohne dass wir eine Zuordnung vornehmen müssten. Eine solche Zuordnung wäre nur dann überhaupt möglich, wenn man Überzeugungen zunächst unabhängig von ihrem Inhalt identifizieren könnte. Doch wie bereits erwähnt, dürfte das im allgemeinen nicht möglich sein. Die disjunktive Konzeption verfährt daher genau umgekehrt: Um welche Überzeugung es sich handelt, ergibt sich daraus, welche Tatsache sie wahr bzw. falsch macht. Eine nachträgliche Zuordnung ist dann nicht notwendig: Wenn eine Überzeugung den Inhalt hat, dass es in Australien Kängurus gibt, dann bedeutet das nichts anderes, als dass ihre Wahrheit davon abhängt, ob es in Australien Kängurus gibt, was wiederum bedeutet, dass sie entweder deshalb wahr ist, weil es in Australien Kängurus gibt, oder aber deshalb falsch, weil dies nicht der Fall ist. In beiden Fällen ist es unmittelbar die Existenz von Kängurus in Australien (und nicht unsere Zuordnung von Tatsachen zu Überzeugungen), von der die Wahrheit der Überzeugung abhängt. Und diese Abhängigkeit hat (wiederum ohne irgendeine Zuordnung von Tatsachen zu Überzeugungen) zur Folge, dass es sich um eine Überzeugung über die Existenz von Kängurus in Australien handelt. Ein Erklärungszirkel besteht also nicht. (c) Tatsachen-Ontologie. Ist die disjunktive Konzeption auf eine unplausible und überbordende Ontologie von Tatsachen, insbesondere auch von negativen Tatsachen, angewiesen? – Nein, denn obwohl die Rede über Tatsachen für die disjunktive Konzeption unverzichtbar ist, legt uns das nicht auf die These fest, dass es Tatsachen „gibt“ – Tatsachen sind keine Objekte irgendeiner Art. Eine Tatsache besteht einfach darin, dass etwas der Fall ist, also zum Beispiel darin, dass es (hier und jetzt) regnet. Handelt es sich dabei nun um dieselbe Tatsache wie die, dass (hier und jetzt) Wasser in Tropfenform aus Wolken auf die Erde fällt? Und unterscheidet sie sich von der Tatsache, dass es (hier und jetzt) entweder regnet oder schneit? Wenn es jetzt regnet, aber nicht schneit, ist es offenbar genau deshalb eine Tatsache, dass es regnet oder schneit, weil es regnet. Doch handelt es sich damit in beiden Fällen um dieselbe Tatsache? Auf

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solche Fragen gibt es allem Anschein nach keine eindeutigen Antworten.15 In Übereinstimmung mit Quines Prinzip „No entity without identity“ scheint es daher auch nicht sinnvoll zu sein, Tatsachen als Entitäten (Gegenstände im weitesten Sinn) zu betrachten. Wenn es eine Tatsache ist, dass es regnet, so bedeutet das also nicht, dass es etwas gibt, das die Tatsache ist, dass es regnet. Und dann bedeutet die Tatsache, dass es nicht regnet, erst recht nicht, dass es etwas gibt, das die „negative Tatsache“ ist, dass es nicht regnet. Dass man in einer philosophischen Überlegung zum Realismus auf die Rede von Tatsachen nicht verzichten kann, spricht für die Auffassung, dass ein ontologisch adäquates Bild der Wirklichkeit neben Dingen und Eigenschaften auch Tatsachen enthalten muss. Doch es ist meines Erachtens ein durch Quines Kriterium ontologischer „commitments“ (vgl. Quine 1948) aufgekommenes Missverständnis, dass Tatsachen, um in einem adäquaten philosophischen Verständnis der Wirklichkeit eine Rolle zu spielen, selbst eine Art von Dingen (im weitesten Sinn) seien müssten. Quine zufolge spielen Tatsachen deshalb keine ontologische Rolle, weil wir in unseren besten Theorien nicht über sie quantifizieren müssen – d. h. wir müssen ihre Existenz nicht behaupten. Doch zu existieren (ein Gegenstand im weitesten Sinne zu sein) ist nicht die einzige Weise, eine ontologische Rolle zu spielen. Dass Dinge über Eigenschaften verfügen und dass etwas der Fall ist oder nicht, sind ebenfalls grundlegende, nicht auf die bloße Existenz von Gegenständen zurückführbare Aspekte der Wirklichkeit (vgl. dazu Willaschek 2003, §12). Sobald man die Angleichung von Tatsachen an Gegenstände vermeidet, erübrigt sich die Frage nach dem Status „negativer“, „disjunktiver“ oder anderer komplexer Tatsachen. Es kann zweifellos der Fall sein, dass es heute entweder regnet oder schneit. Doch das erfor-

15

Anders z. B. Armstrong 1997, 131 ff. Armstrongs Identitätsbedingungen für Tatsachen (“states of affairs”) setzen jedoch eindeutige (bei Armstrong: physikalistische) Identitätsbedingungen für Eigenschaften und Relationen voraus (vgl. ebd. Kap. 36), die mir jedoch nicht weniger fragwürdig zu sein scheinen als die Identitätsbedingungen von Tatsachen selbst. Dem kann ich hier allerdings nicht weiter nachgehen. – Armstrong vermeidet übrigens die Annahme von negativen Tatsachen durch die Annahme von umfassenden positiven Tatsachen („totality states of affairs“), die zugleich als „Wahrmacher“ negativer Aussagen dienen (ebd. Kap. 13). Dies ließe sich durchaus mit einer entsprechend modifizierten Version der disjunktiven Konzeption vereinbaren.

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dert nicht, dass es eine entsprechende disjunktive Tatsache gibt, sondern nur, dass es entweder regnet oder schneit. (d) Individuation von Überzeugungsinhalten. Überzeugungen, die scheinbar aufgrund derselben Tatsache wahr bzw. falsch sind, können sich in ihrem propositionalen Gehalt unterscheiden. So unterscheiden sich z. B. die Überzeugung, dass der Abendstern am Himmel steht, und die Überzeugung, dass der Morgenstern am Himmel steht, in ihrem propositionalen Gehalt; jemand, der nicht weiß, dass „Abendstern“ und „Morgenstern“ nur unterschiedliche Namen für denselben Planeten (die Venus) sind, kann die eine Überzeugung teilen und die andere nicht. Dennoch sind beide Überzeugungen entweder wahr, weil die Venus am Himmel steht, oder falsch, weil die Venus nicht am Himmel steht; müssten sie der disjunktiven Konzeption zufolge nicht denselben propositionalen Gehalt zu haben? Wie es scheint, sind Tatsachen als Wahrmacher von Überzeugungen nicht fein genug differenziert, um die Differenziertheit unserer Überzeugungsinhalte einzufangen. Genau das müssten sie jedoch tun, wenn, wie die disjunktive Konzeption es erfordert, der Weltbezug einer Überzeugung darin besteht, aufgrund einer bestimmten Tatsache wahr oder falsch zu sein, und ihr propositionaler Gehalt über eine Disjunktion zweier solcher möglicher Weltbezüge erklärt wird. Doch dieser Einwand geht davon aus, dass die Tatsache, dass der Morgenstern aufgegangen ist, und die Tatsache, dass der Abendstern aufgegangen ist, aufgrund der Identität von Abendstern und Morgenstern (Venus) identisch sind. Um das behaupten zu können, müsste man jedoch über eindeutige Identitätskriterien für Tatsachen verfügen, die es, wie wir gerade gesehen haben, nicht gibt. Wenn es der Fall ist, dass der Morgenstern aufgegangen ist, ist es zweifellos auch der Fall, dass der Abendstern aufgegangen ist. Das kann man ausdrücken, indem man sagt, beides sei doch „dasselbe“ oder „dieselbe (Tat-)Sache“. Doch wie bereits erwähnt, bedeutet das nicht, dass es etwas gibt, das die Tatsache ist, dass der Abendstern/Morgenstern/die Venus aufgegangen ist. Vielmehr ist es einfach der Fall, dass der Abendstern aufgegangen ist (und damit natürlich auch, dass der Morgenstern aufgegangen ist). Es spricht daher auch nichts gegen die Annahme, dass die Wirklichkeit (dasjenige, was der Fall ist) mindestens so fein differenziert ist, wie die Spezifizierung des Inhalts unserer Überzeugungen es erfordert.

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(e) Realismuskompatibilität. Dagegen könnte man allerdings einwenden, dass diese Lösung nicht mit dem Realismus vereinbar ist.16 Die Differenziertheit unserer Überzeugungsinhalte ist weitgehend von mentalen und sprachlichen Faktoren abhängig. Wir können nur deshalb zwischen Überzeugungen über den Abendstern und solchen über den Morgenstern unterscheiden, weil wir über die Ausdrücke „Abendstern“ und „Morgenstern“ verfügen. Wie sollte man erklären, dass solchen sprachlichen Differenzierungen Differenzen in der Wirklichkeit (unterschiedliche Tatsachen) entsprechen, wenn nicht dadurch, dass die Tatsachen von unseren Mitteln der Differenzierung abhängen? Doch auch dieser Einwand beruht auf einer falschen Ontologisierung dessen, was der Fall ist. Selbstverständlich handelt es sich bei der Unterscheidung zwischen Abendstern und Morgenstern primär um eine sprachliche Unterscheidung. Doch das schließt keinesfalls aus, dass es dann, wenn wir einmal über die Ausdrücke „Abendstern“ und „Morgenstern“ verfügen, ganz unabhängig von unseren sprachlichen Mitteln und mentalen Fähigkeiten der Fall ist, dass der Morgenstern aufgegangen ist (und damit auch, dass der Abendstern aufgegangen ist). Und mehr als die triviale Annahme, dass es unabhängig davon, was wir darüber denken, sagen oder wissen mögen, entweder der Fall ist, dass der Morgenstern aufgegangen ist, oder aber, dass er nicht aufgegangen ist − mehr ist der disjunktiven Konzeption zufolge nicht erforderlich, um den Weltbezug der entsprechenden Überzeugung in Übereinstimmung mit dem Alltagsrealismus zu erklären. (f) Fehlzuschreibungen. Hat die disjunktive Konzeption zur Folge, dass einer Personen Überzeugungen zugeschrieben werden, welche sie gar nicht hat? Dem Bikonditional DK1 zufolge glaubt jemand genau dann, dass p, wenn er eine Überzeugung hat, die wahr ist, weil p, oder wenn er eine Überzeugung hat, die falsch ist, weil nicht-p. Nun hat man aber dann, wenn man glaubt, dass der erste Mensch auf dem Mond ein Amerikaner war, eine Überzeugung, die deshalb wahr ist, weil Neil Armstrong ein Amerikaner ist. Mit DK1 scheint zu folgen, dass man damit auch glaubt, dass Armstrong Amerikaner ist; das aber ist nicht unbedingt der Fall (z. B.

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Auf diese Schwierigkeit hat mich Michael Esfeld hingewiesen; vgl. dazu Esfeld (in diesem Band).

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wenn man nicht weiß, dass Armstrong der erste Mensch auf dem Mond war).17 Anders als der vorherige beruht dieser Einwand nicht auf einer unzulässigen Ontologisierung, denn er besagt nichts darüber, ob die Tatsache, dass Neil Armstrong Amerikaner ist, mit der Tatsache, dass der erste Mensch auf dem Mond Amerikaner war, identisch ist. Er setzt aber voraus, dass die Überzeugung, dass der erste Mensch auf dem Mond Amerikaner war, tatsächlich deshalb wahr ist, weil Armstrong Amerikaner ist. Das aber lässt sich mit guten Gründen bestreiten. Strenggenommen ist die fragliche Überzeugung wahr, weil Armstrong der erste Mensch auf dem Mond war und Armstrong Amerikaner ist. Allgemein gesagt ist eine Überzeugung im hier relevanten Sinn nur dann wahr bzw. falsch, weil p, wenn die Tatsache, dass p, logisch hinreichend für die Wahrheit bzw. Falschheit der Überzeugung ist. Um so schlimmer, könnte man vielleicht einwenden, denn nun scheint zu folgen, dass jemand, der glaubt, dass der erste Mensch auf dem Mond Amerikaner war, damit zugleich glaubt, dass Armstrong der erste Mensch auf dem Mond war und dass Armstrong Amerikaner ist. Diese Konsequenz lässt sich jedoch vermeiden, wenn wir annehmen, dass eine Überzeugung nur dann wahr ist, weil p, wenn die Tatsache, dass p, nicht nur logisch hinreichend, sondern auch notwendig für ihre Wahrheit ist. Die einzige Tatsache, die diese Bedingung im Fall der Überzeugung erfüllt, dass der erste Mensch auf dem Mond ein Amerikaner war, ist die Tatsache, dass der erste Mensch auf dem Mond ein Amerikaner war. Nur logisch äquivalente Überzeugungen haben demnach denselben propositionalen Gehalt und werden durch dieselben Tatsachen „wahrgemacht“.18 (g) Bivalenz. Die disjunktive Konzeption besagt, dass eine Überzeugung, dass p, sich dadurch auf die Wirklichkeit bezieht, dass sie entweder deshalb wahr ist, weil p, oder deshalb falsch, weil nicht-p. Damit ist sie auf die uneingeschränkte Geltung des Bivalenzprinzips für Überzeugungen festge17 18

Dieser Einwand geht auf einen Diskussionsbeitrag von Jay F. Rosenberg zurück. Die disjunktive Konzeption ist daher nicht ohne weiteres auf nicht-empirische Überzeugungen, etwa in der Mathematik, anwendbar, da diese offenbar trotz logischer Äquivalenz unterschiedliche propositionale Gehalte haben können. Allerdings stellt sich die Frage des Weltbezugs, welche die disjunktive Konzeption beantworten soll, bei mathematischen Überzeugungen ohnehin nicht in derselben Weise wie bei empirischen Überzeugungen.

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legt. Überzeugungen, die weder wahr noch falsch sind, würden sich der disjunktiven Konzeption zufolge nicht auf die Wirklichkeit beziehen, was wiederum heißt, dass sie keinen propositionalen Gehalt haben würden – sie wären also auch keine Überzeugungen. Wenn es Überzeugungen gibt, die vage Begriffe oder leere Eigennamen enthalten, müssen auch diese somit eindeutig entweder wahr oder falsch sein. Die Zweiwertigkeit aller Überzeugungen lässt sich nach dem Prinzip sicherzustellen: Was nicht eindeutig wahr ist, ist falsch. Im Fall vager Begriffe würden dann nur klarerweise wahre Verwendungen als wahr gelten, alle anderen als falsch. Die Überzeugung, dass New York eine Weltstadt ist, ist demnach wahr, dass Münster eine Weltstadt ist, ist hingegen trotz der Vagheit dieses Begriffs falsch. Genauso würden auch alle Überzeugungen, die leere Eigennahmen enthalten, als falsch gelten. Die Überzeugung, dass Atlantis sieben Tore hatte, bezieht sich demnach dadurch auf die Wirklichkeit, dass sie falsch ist, weil es Atlantis nicht gegeben hat und es daher auch keine sieben Tore hatte. (h) Erstpersönliche Autorität. Externalistischen Konzeptionen der Gehaltfestlegung wird häufig entgegengehalten, sie müssten die Möglichkeit erstpersönlicher Autorität hinsichtlich des Inhalts der eigenen Überzeugungen bestreiten oder könnten sie zumindest nicht erklären.19 Der Einwand geht von der richtigen Beobachtung aus, dass man sich nur in Ausnahmefällen darüber täuschen kann, was man glaubt. In der Regel weiß man selbst ganz genau und besser als jeder andere, wovon man in welchem Grade überzeugt ist und wovon nicht. Wenn man nun den Inhalt der Überzeugungen von ihrer Beziehung zur „externen“ Wirklichkeit abhängig macht, scheint dies zur Folge zuhaben, dass man häufig nicht weiß, was der Inhalt der eigenen Überzeugungen ist. Doch hier hat die disjunktive Konzeption leichtes Spiel, denn die Identifizierung von Überzeugungen durch ihren propositionalen Gehalt bietet gerade die Möglichkeit, deren Inhalt anzugeben, ohne bereits wissen zu müssen, im welchem der beiden möglichen Verhältnisse die jeweilige Überzeugung zur Wirklichkeit steht. Ich muss also nicht wissen, ob meine Überzeugung tatsächlich wahr ist, sondern nur, wovon ihre Wahrheit abhängt. Um das festzustellen, brauche ich nicht meinen mentalen Zustand und dessen „Inhalt“ zu untersuchen, sondern kann mich, wie Collins zu Recht betont, der Wirklichkeit selbst 19

Vgl. die ausführliche Darstellung der Diskussion in Birke 2001.

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zuwenden. Um festzustellen, was der Inhalt meiner Überzeugungen ist, brauche ich mich nur zu fragen, wovon ich überzeugt bin: Wird es regnen oder nicht? Ist Milch gesund oder schädlich? Indem ich diese und ähnliche Fragen beantworte, erfahre ich alles, was es über den Inhalt meiner Überzeugungen zu wissen gibt. Und es spricht nichts gegen die Annahme, dass ich normalerweise selbst am besten weiß, welche Antworten ich auf diese Fragen gebe. 4. Wahrheit und Weltbezug Wenn die grundlegende Beziehung zwischen einem Überzeugungssubjekt und der empirischen Realität in den beiden Relationen des Wahrglaubens und des Falschglaubens besteht, was wird dann aus den Begriffen der Wahrheit und der Falschheit? Wie es scheint, kann es sich bei ihnen nicht ebenfalls um Relationen zwischen Denken und Wirklichkeit handeln. Doch dieser Anschein trügt. Um das zu sehen, ist es notwendig, zwischen den Begriffen der Wahrheit, der Falschheit, der Überzeugung und des Wahrbzw. Falschglaubens einerseits und den entsprechenden Relationen und mentalen Vorkommnissen, die wir mit diesen Begriffen erfassen, deutlich zu unterscheiden. Während die Begriffe der Wahrheit und Falschheit gegenüber den Begriffen des Wahrglaubens und des Falschglaubens primär sind (weil letztere nur mit Hilfe der ersteren eingeführt werden können), sind die Relationen der Wahrheit und Falschheit von Überzeugungen, die durch die entsprechenden Begriffe erfasst werden, der disjunktiven Konzeption zufolge sekundär gegenüber den Relationen des Wahrglaubens und des Falschglaubens: Die Wahrheit einer Überzeugung, dass p, ist demnach diejenige Relation, in der eine Überzeugung genau dann zur Tatsache steht, dass p, wenn das Überzeugungssubjekt in der Relation des Wahrglaubens zur Tatsache steht, dass p. (Entsprechendes gilt für die Relationen der Falschheit und des Falschglaubens.) Wahrheit, Falschheit und Überzeugung sind demnach begrifflich primär, aber ontologisch (realiter) sekundär gegenüber Wahrglauben und Falschglauben. Die disjunktive Konzeption ist also damit vereinbar, dass Wahrheit und Falschheit zweistellige Relationen zwischen Überzeugungen und der Wirklichkeit sind, wenn auch keine ontologisch grundlegenden Relationen. Zugleich ist die disjunktive Konzeption auf einen relationalen Wahrheitsbegriff festgelegt, denn nur der kann die Redeweise „ist wahr, weil p“ auf

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unproblematische Weise verständlich machen – eine Redeweise, die ja in der Definition der Grundrelationen des Wahrglaubens und Falschglaubens verwendet wird. Wenn Wahrheit eine zweistellige Relation ist, muss der Wahrheitsbegriff über das hinausgehen, was ein bloßes Disquotationsschema („p“ ist wahr gdw. p) erfassen kann. Die disjunktive Konzeption des Weltbezugs von Überzeugungen ist also nicht mit einer der sogenannten „deflationären“ Wahrheitstheorien vereinbar, wonach sich die Bedeutung des Prädikates „ist wahr“ darin erschöpft, dass es uns erlaubt, auf indirekte Weise Behauptungen aufzustellen – im einfachsten Fall, indem es aus dem Namen eines Satzes (z. B. „Der Satz des Pythagoras“) eine Behauptung macht, die mit dem identisch ist, was man mit dem Satz selbst behaupten würde („Der Satz des Pythagoras ist wahr“).20 Wenn „ist wahr“ Ausdruck einer zweistelligen Relation zwischen Denken und Welt ist, dann kann sich seine Bedeutung nicht in einer rein innersprachlichen Funktion erschöpfen.21 Dennoch haben die deflationären Auffassungen meines Erachtens insofern recht, als man die Frage, was eine bestimmte Überzeugung wahr macht, und die Frage, welchen Inhalt diese Überzeugung hat, nicht gleichzeitig informativ beantworten kann: Wenn ich weiß, was der Inhalt einer Überzeugung ist, dann weiß ich auch, welche Tatsache sie gegebenenfalls wahr macht und umgekehrt. Wenn Wahrheit eine zweistellige Relation ist, können ihre Relata also nicht einerseits der Inhalt einer Überzeugung und andererseits eine Tatsache sein, die diese Überzeugung „wahrmacht“, da die Relation des Wahrmachens gleichsam leer liefe. Es bleiben zwei Möglichkeiten: Die eine besteht darin, die Frage nach dem Inhalt der Überzeugung informativ zu beantworten und die Rede von einzelnen Tatsachen als „Wahrmachern“ fallen zu lassen. Was unsere Überzeugungen wahr macht (dasjenige, zu dem sie in der Wahrheitsrelation stehen), ist demnach immer dasselbe: „das Wahre“, 20

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Vgl. zu unterschiedlichen Varianten dieser Auffassung z. B. Quine 1970, 10–13; Franzen 1982, Kap. 5; Horwich 1990; Brandom 1994a, Kap. 5. Zum gegenwärtigen Stand der Diskussion um den Wahrheitsbegriff vgl. Schantz 2002. Das ist für sich genommen natürlich kein Argument gegen deflationäre Wahrheitsauffassungen, sondern nur die Feststellung, dass die disjunktive Konzeption des Weltbezugs auf einen inhaltsreicheren Wahrheitsbegriff festgelegt ist. Die Berechtigung, einen solchen Wahrheitsbegriff anzunehmen, soll sich im Rahmen dieser Arbeit daraus ergeben, dass er verständlich zu machen erlaubt, wie unsere Überzeugungen sich auf die Wirklichkeit beziehen.

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„The Great Fact“, „die Wirklichkeit“.22 Doch diese Antwort konfligiert mit dem Alltagsrealismus, da sie bedeutet, dass die Wirklichkeit nur relativ zu den Inhalten unserer Gedanken und Sätze in Tatsachen zerfällt: Ohne Gedanken (oder Sätze) keine Tatsachen, lautet die antirealistische Konsequenz dieser Auffassung. Die andere Möglichkeit besteht darin, eine informative Antwort auf die Frage zu geben, was eine Überzeugung wahr (bzw. falsch) macht, woraus sich dann trivialerweise auch der Inhalt der Überzeugung ergibt. Auf diese Weise gelangen wir zur disjunktiven Konzeption des Weltbezugs von Überzeugungen: Eine Überzeugung hat den Inhalt, dass p, wenn sie entweder in der Relation des Wahrseins zur Tatsache steht, dass p, oder in der Relation des Falschseins zur Tatsache, dass nicht-p. Und das wiederum heißt der disjunktiven Konzeption zufolge nichts anderes, als dass das Überzeugungssubjekt entweder in der Relation des Wahrglaubens zur Tatsache steht, dass p, oder in der Relation des Falschglaubens zur Tatsache, dass nicht-p.23 Wie bereits betont, behaupte ich nicht, dass diese Begriffe in jeder Hinsicht als Grundbegriffe betrachtet werden müssen. Sie stehen als Teil eines holistischen Begriffsclusters mit einer Reihe anderer Begriffe in einer Relation wechselseitiger Abhängigkeit, so dass unabhängig von den Erklärungszwecken, die man verfolgt, keiner der Begriffe grundlegender ist als die anderen. Doch wenn es um den Weltbezug von Überzeugungen geht, scheint es mir sinnvoll zu sein, die Begriffe der Wahrheit, der Falschheit und der Überzeugung zu verwenden, um mit ihrer Hilfe die Relationen des Wahrglaubens und Falschglaubens einzuführen und dann zu erklären, wie eine Überzeugung über einen wahrheitsneutralen Inhalt verfügen kann, statt diesen Inhalt vorauszusetzen und mit seiner Hilfe den Weltbezug zu erklären. Der Vorteil ist, dass Wahrglauben und Falschglauben unmittelbare Beziehungen zwischen uns und der Wirklichkeit sind und daher die Befürchtung, dass unsere Gedanken die Wirklichkeit vielleicht gar nicht erreichen, nicht aufkommen kann. 22 23

Vgl. zum Beispiel Frege 1892; Davidson 1969; Rohs 1996, Kap. 14. Dabei gilt erstens, dass jede Überzeugung zu mindestens einer Tatsache in genau einer der beiden Relationen steht („mindestens“ wegen der unklaren Identitätsbedingungen von Tatsachen); zweitens, dass es möglich ist, dass eine Tatsache zu keiner Überzeugung in einer der beiden Relationen steht; und drittens, dass es auch möglich ist, dass eine Tatsache zu mehreren Überzeugungen in jeweils genau einer der beiden Relationen steht.

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5. Schluss Wie ist es möglich, dass ich Überzeugungen über etwas in der Welt haben kann? Wie es scheint, muss ich dazu aus meinem eigenen Denken herausgreifen auf etwas, das außerhalb meines Geistes liegt. Die Möglichkeit dieser Bezugnahme kann mysteriös erscheinen: Hier sitze ich in Deutschland und glaube, dass es in Australien Kängurus gibt. Meine Überzeugung bezieht sich auf einen Ort am anderen Ende der Welt, an dem ich noch nie gewesen bin. Wie „trifft“ meine Überzeugung ihr Ziel? Wie erreichen meine Gedanken die Wirklichkeit? (Wenn man darin ein Problem sieht, dann stellt es sich natürlich nicht nur im Fall von Überzeugungen über Australien, sondern bereits im Fall von Überzeugungen über die eigene Nasenspitze.) Der disjunktiven Konzeption des Weltbezugs von Überzeugungen zufolge sind diese Fragen jedoch falsch gestellt. Eine Überzeugung ist kein Zustand oder Ereignis „in“ meinem Geist (oder gar in meinem Kopf), der in einer mysteriösen Beziehung zu etwas in der „Außenwelt“ steht. Die sogenannte „Außenwelt“ selbst ist ein Teil meiner Überzeugung; nicht etwa deshalb, weil die Wirklichkeit in Raum und Zeit nur ein Produkt (Konstrukt, internes Objekt, ...) meines Denkens ist, sondern deshalb, weil Tatsachen in der denkunabhängigen Wirklichkeit meine Überzeugungen mitkonstituieren und ihren Inhalt spezifizieren. Zu glauben, dass es in Australien Kängurus gibt, bedeutet, entweder deshalb eine wahre Überzeugung zu haben, weil es dort Kängurus gibt, oder deshalb eine falsche Überzeugung, weil es dort keine Kängurus gibt. Der Bezug meiner Überzeugung zur „Außenwelt“ besteht in diesem Fall einfach darin, dass ihre Wahrheit bzw. Falschheit unmittelbar davon abhängt, ob es in Australien Kängurus gibt oder nicht. Da die fragliche Überzeugung tatsächlich wahr ist, kann man in diesem Fall auch einfach sagen, dass sie sich dadurch auf die Wirklichkeit bezieht, dass sie wahr ist, weil es in Australien Kängurus gibt. Unsere Gedanken und Überzeugungen beziehen sich demnach dadurch auf die Wirklichkeit, dass ihre Wahrheit oder Falschheit unmittelbar, d. h. ohne Vermittlung durch einen propositionalen Gehalt, davon abhängt, wie es sich in Wirklichkeit verhält. Es liegt auf der Hand, dass wir anders als beim Telefonieren keine elektrischen Impulse um die halbe Welt senden müssen, um an Australien zu denken. Die disjunktive Konzeption des Weltbezugs von Überzeugungen

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zeigt, dass wir auch kein anderes Medium brauchen, insbesondere keine mentalen Repräsentationen, um uns im Denken auf die Welt zu beziehen. Literatur Armstrong, David M. 1997: A World of States of Affairs, Cambridge. Baldwin, Thomas 1991: „The Identity Theory of Truth“, in Mind 100, 35– 52. Birke, Marcus 2001: Wenn nicht im Kopf, wo dann? Der Externalismus als Problem in der Philosophie des Geistes, Münster. Brandom, Robert 1994a: Making It Explicit, Cambridge (Mass.). Brandom, Robert 1994b: „Expressing and Attributing Beliefs“, in Philosophy and Phenomenological Research 54, 905–912. Brentano, Franz 1874: Psychologie vom empirischen Standpunkt, Band 1, hg. von O. Kraus, Hamburg 1924. Collins, Arthur 1987: The Nature of Mental Things, Notre Dame. Collins, Arthur 1994: „Reply to Commentators“, in Philosophy and Phenomenological Research LIV, 929–945. Davidson, Donald 1969: „True to the Facts”, in Davidson 1984, 37–54. Fodor, Jerry 1990: „A Theory of Content (II): The Theory“, in ders., A Theory of Content and Other Essays, Cambridge (Mass.), 89–136. Franzen, Winfried 1982: Die Bedeutung von „wahr“ und „Wahrheit“, Freiburg/München. Frege, Gottlob 1892: „Über Sinn und Bedeutung“, in Frege 1962, 40–65. Frege, Gottlob 1962: Funktion, Begriff, Bedeutung, hg. v. G. Patzig, Göttingen, 66–80. Halbig, Christoph 2002: Objektives Denken, Stuttgart-Bad Cannstatt. Hornsby, Jennifer 1997: “Truth: The Identity Theory”, in Proceedings of the Aristotelian Society 97, 1–24. Horwich, Paul 1990, Truth, London.

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Michael Esfeld

Wie direkt soll ein Realismus sein?

Zusammenfassung Dieser Artikel soll zeigen, wie man einen direkten Realismus vertreten kann und dennoch zwischen dem Inhalt eines Gedanken und dessen Bezugsgegenstand in der Welt unterscheiden kann. Eine solche Unterscheidung ist erforderlich, um dem Rechnung zu tragen, dass der Inhalt von Gedanken feingliedriger ist als deren Referenz. Wenn man hingegen einen in der Weise direkten Realismus vertritt, dass der Inhalt eines Gedanken mit seinem Bezugsgegenstand zusammenfällt, dann kann man diese Unterscheidung nicht mehr machen; man ist dann auf eine extravagante Ontologie von Tatsachen festgelegt. Demgegenüber wird in diesem Artikel für einen Realismus plädiert, der nur in Bezug auf Referenz direkt ist, in Bezug auf den Inhalt von Gedanken aber eine inferentielle Semantik favorisiert. Die entsprechenden inferentiellen Beziehungen sind an die Welt gebunden, indem sie durch soziale, normative Praktiken bestimmt werden. 1. Direkter versus repräsentationaler Realismus Eine Position, die als ein Realismus in Bezug auf die physikalische Welt gelten soll, muss zumindest zwei Kriterien erfüllen. Sie muss erstens die ontologische Annahme enthalten, dass es eine physikalische Welt gibt, die ontologisch und kausal unabhängig von unseren Gedanken ist. Mit physikalischer Welt ist die gesamte nicht-menschliche Umwelt gemeint, wobei wir den Bereich der technischen Produkte von Menschen für den Zweck dieses Artikels beiseite lassen können. Ontologische Unabhängigkeit bedeutet hier, dass es eine physikalische Welt geben kann, ohne dass es Personen gibt, die Gedanken über diese Welt haben. Kausale Unabhängigkeit meint das Folgende: Die Gegenstände, auf die sich unsere Gedanken über die physikalische Welt beziehen, werden nicht dadurch hervorgebracht, dass wir Gedanken über diese Gegenstände bilden. Diese ontologische Annahme reicht noch nicht hin, um eine Position als Realismus zu kennzeichnen. Es bedarf noch einer Verbindung zwischen dem Gegenstandsbereich

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Michael Esfeld

und unseren Gedanken: Eine realistische Position muss die epistemologische Annahme enthalten, dass es von der physikalischen Welt abhängt, welche unserer Gedanken über die physikalische Welt wahr sind und welche falsch sind. Anders ausgedrückt, die physikalische Welt fungiert als Wahrmacher für unsere Gedanken über die physikalische Welt. Wie Marcus Willaschek (2003) zeigt, besteht das Problem um den Realismus nicht in der Annahme, dass es eine physikalische Welt gibt, die von unseren Gedanken unabhängig ist. Das Problem besteht in Folgendem: Wenn es eine solche Welt gibt, wie können wir in unseren Gedanken einen Zugang zu ihr haben? Personen haben Gedanken, indem sie in Glaubenszuständen sind. Wenn eine Person den Gedanken hat, dass es regnet, dann ist sie in dem Zustand, zu glauben, dass es regnet. Ich werde deshalb von Gedanken und von Glaubenszuständen in auswechselbarer Weise sprechen. Die in der neuzeitlichen Philosophie vorherrschende Antwort auf die Frage, wie wir uns in Glaubenszuständen auf etwas in der Welt beziehen können, ist ein repräsentationaler Realismus: Wir haben in unseren Gedanken Zugang zur physikalischen Welt kraft mentaler Repräsentationen, die als ein epistemisches Bindeglied fungieren zwischen den Glaubenszuständen einer Person und den Gegenständen in der Welt, auf die sich diese Glaubenszustände beziehen. Diese mentalen Repräsentationen sind zugleich dasjenige, worin die Bedeutung oder der Inhalt unserer Gedanken besteht. Sie sind die Weise, wie uns die Welt gegeben ist. Im Folgenden werde ich vorwiegend vom Inhalt von Gedanken sprechen, »Inhalt« und »Bedeutung« aber synonym verstehen. Diese Antwort führt von einer harmlosen Annahme zu einer problematischen philosophischen Position. Die harmlose Annahme ist, dass zumindest einige Gedanken – insbesondere Gedanken, die durch Wahrnehmung erworben werden – kausal verursacht sind und dass es kausale Bindeglieder zwischen dem Gegenstand des Gedanken und dem Glaubenszustand einer Person gibt. Wenn eine Person durch Wahrnehmung den Gedanken erwirbt, dass es regnet, dann sind Licht, Sinnesreize, Nervensignale etc. kausale Bindeglieder zwischen dem Regen und dem Zustand, zu glauben, dass es regnet. Aus einer harmlosen Annahme wird eine problematische Position, wenn man von kausalen zu epistemischen Bindegliedern übergeht und Folgendes vertritt: Der Gedanke, dass es regnet, bezieht sich vermittelt durch Regen-Repräsentationen auf den Regen in der Welt. RegenRepräsentationen treten zwischen den Glaubenszustand, dass es regnet,

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und dessen Bezugsgegenstand in der Welt. Wir haben es also mit einer dreistelligen Relation zu tun: dem Gedanken bzw. dem Glaubenszustand, der Repräsentation und dem Bezugsgegenstand in der Welt. Man muss dabei nicht vertreten, dass die Repräsentation selbst Gegenstand des Gedanken ist. Das, was in einem Gedanken gegenständlich ist, kann etwas in der Welt sein. Man kann den repräsentationalen Realismus als einen Versuch ansehen, zweierlei zu erklären: (a) wie wir uns in unseren Gedanken auf etwas in der Welt beziehen können, und (b) wie es sein kann, dass die Bedeutung oder der Inhalt unserer Gedanken feingliedriger ist als ihre Bezugsgegenstände in der Welt. Um das berühmte Beispiel von Gottlob Frege (1892) aufzunehmen, der Gedanke „Der Morgenstern ist F“ und der Gedanke „Der Abendstern ist F“ haben denselben Bezugsgegenstand, den Planeten Venus. Aber die Weise, wie sie sich auf diesen Gegenstand beziehen – und damit ihr Inhalt – ist verschieden. Der repräsentationale Realismus erklärt dieses so, dass zwischen diese beiden Gedanken und ihren Bezugsgegenstand je eine Repräsentation tritt, die für beide Gedanken verschieden ist und in der der Inhalt des jeweiligen Gedanken – im Unterschied zu seiner Referenz – besteht. Weshalb ist der repräsentationale Realismus eine problematische philosophische Position? Ein Grund ist, dass man es für fraglich halten kann, ob man dann, wenn man einmal ein epistemisches Bindeglied zulässt, mit diesem überhaupt noch zu etwas in der physikalischen Welt als dem Bezugsgegenstand von Gedanken kommt. Kurz, der Einwand ist, dass der repräsentationale Realismus es fraglich macht, wie wir in unseren Gedanken einen epistemischen Zugang zur Welt haben können (siehe Willaschek (2003)). Die Gegenposition zum repräsentationalen Realismus innerhalb des Realismus ist ein direkter Realismus. Dieser erkennt kausale Bindeglieder zwischen den Gegenständen in der Welt und Glaubenszuständen von Personen an, bestreitet aber, dass es epistemische Bindeglieder gibt: Glaubenszustände beziehen sich unmittelbar auf etwas in der Welt. Es gibt somit nur eine zweistellige Relation zwischen einem Gedanken bzw. einem Glaubenszustand und dem Bezugsgegenstand in der Welt. Im Folgenden akzeptiere ich diese Grundidee des direkten Realismus. Im Mittelpunkt wird die Frage stehen, wie ein direkter Realismus mit der Fregeschen Unterscheidung zwischen Inhalt und Referenz umgehen soll, die im repräsentationalen Realismus durch die epistemischen Bindeglieder

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berücksichtigt wird. Das Argument wird sein, dass ein Realismus, der so direkt ist, dass er nicht nur Referenz, sondern auch begrifflichen Inhalt in einem direkten Bezug zur Welt bestehen lässt, in ein Dilemma hineinläuft: Entweder kann eine solche Position einen Inhalt, der feingliedriger ist als Referenz, nicht zulassen, oder eine solche Position ist auf eine Ontologie festgelegt, welche die Welt so feingliedrig sein lässt, wie die Inhalte unserer Gedanken es sein können (2. Abschnitt). Gegen einen solchen direkten Realismus werde ich dann eine Fregesche Version eines direkten Realismus skizzieren, die zwischen Inhalt und Referenz unterscheidet: Unsere Gedanken beziehen sich unmittelbar auf etwas in der Welt. Aber ihr Inhalt besteht nicht in der Bezugnahme auf die Welt, sondern in inferentiellen Beziehungen untereinander, die durch normative, soziale Praktiken determiniert werden (3. Abschnitt). 2. Das Dilemma des starken direkten Realismus Ein direkter Realismus ist zunächst eine Theorie dessen, wie sich unsere Gedanken auf die Welt beziehen – eben ohne epistemische Bindeglieder und deshalb direkt. Wenn der direkte Realismus nur als eine Theorie des Weltbezugs von Gedanken verstanden wird, dann können wir von einem schwachen direkten Realismus sprechen. Schwach deshalb, weil mit dem Weltbezug von Gedanken noch nichts darüber ausgesagt ist, worin die Bedeutung oder der begriffliche Inhalt von Gedanken besteht. Die Aufgabe ist dann, eine Theorie des Inhalts von Gedanken zu entwickeln, die mit dem direkten Realismus vereinbar ist, die also nicht Inhalte als mentale Repräsentationen versteht, welche zwischen den Gedanken und seinen Bezugsgegenstand in der Welt treten. Ein Ansatz zur Lösung dieser Aufgabe ist das Thema des nächsten Abschnitts. Ein starker direkter Realismus ist dementsprechend nicht nur eine Theorie des Weltbezugs von Gedanken, sondern auch eine Theorie des Inhalts: der Inhalt von Gedanken wird mit deren direktem Weltbezug identifiziert. Das heißt: Dasjenige, worauf sich der Gedanke bezieht, das ist auch seine Bedeutung oder sein begrifflicher Inhalt. John McDowell vertritt offenbar eine solche Position in seinen John-Locke-Vorlesungen über Mind and World, indem er an Wittgenstein anknüpft: We can formulate the point in a style Wittgenstein would have been uncomfortable with: there is no ontological gap between the sort of thing one can mean, or

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generally the sort of thing one can think, and the sort of thing that can be the case. When one thinks truly, what one thinks is what is the case. So since the world is everything that is the case (as he himself once wrote), there is no gap between thought, as such, and the world. Of course thought can be distanced from the world by being false, but there is no distance from the world implicit in the very idea of thought. (McDowell (1994), S. 27)

Das Buch von Arthur Collins (1987) enthält eine Möglichkeit, wie man diese Idee etwas konkreter und etwas formaler fassen kann: man kann eine disjunktive Konzeption des Inhalts von Gedanken vertreten (S. 36–37). In Bezug auf Wahrnehmungsinhalte wurde eine disjunktive Konzeption bereits von John Hinton (1973) vorgeschlagen und später von Paul Snowdon (1981) und John McDowell selbst verfolgt. Ich übernehme die Formulierung, die Marcus Willaschek aufbauend auf Collins in seinem Beitrag zu diesem Buch (vgl. S. 58) vorschlägt: DK1 S glaubt (hat eine Überzeugung), dass p, gdw. (a) S eine Überzeugung hat, die wahr ist, weil p, oder (b) S eine Überzeugung hat, die falsch ist, weil nicht-p. Die Frage, was man zu falschen Gedanken sagen soll, soll im Folgenden außer Acht bleiben. Konzentrieren wir uns auf wahre Gedanken und deren begrifflichen Inhalt sowie deren Weltbezug. Knüpfen wir an eine Formulierung von Marcus Willaschek im ersten Abschnitt von seinem Beitrag zu diesem Band (vgl. S. 51 f.) an: Der unmittelbare Inhalt eines Gedanken soll jene Tatsache sein, welche den Gedanken gegebenenfalls wahr macht. Das heißt: Dasjenige, worauf sich ein Gedanke in der Welt bezieht (eine Tatsache) und dasjenige, was ihn wahr macht (wenn er wahr ist), ist zugleich seine Bedeutung oder sein begrifflicher Inhalt. Man kann es merkwürdig finden, dass die Bezugsgegenstände unserer Gedanken Tatsachen sein sollen. Brauchen wir Tatsachen in unserer Ontologie? Gedanken wie „Es regnet“ oder „Dieser Stein ist rechteckig“ scheinen sich doch vielmehr auf Ereignisse oder Dinge mit Eigenschaften zu beziehen. Tatsachen treten in dieser Konzeption jedoch zunächst als dasjenige auf, was unsere Gedanken wahr macht. Jede Form von Realismus ist, wie gesagt, auf die Annahme festgelegt, dass es von der Beschaffenheit der physikalischen Welt abhängt, welche unserer Gedanken über die Welt wahr sind. Man kann diese Position so ausführen, dass man sagt, es gibt in der physikalischen Welt etwas, das unsere Gedanken wahr macht. Man kann vertreten, dass nicht Ereignisse oder Dinge unsere Gedanken wahr

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machen, sondern Tatsachen. Ein Realist ist allerdings keineswegs auf eine solche Position festgelegt (vergleiche Dodd (1999)). Nehmen wir aber um des Argumentes willen an, dass es für einen Realisten sinnvoll ist, Tatsachen als Wahrmacher anzuerkennen. Es ist harmlos, das, was einen Gedanken wahr macht, mit seinem Bezugsgegenstand zu identifizieren. Wir gelangen so von Tatsachen als dem, was unsere Gedanken wahr macht, zu Tatsachen als dem, worauf sich unsere Gedanken beziehen. Der Punkt an dieser Stelle ist jedoch: Tatsachen im Sinne der Bezugsgegenstände und Wahrmacher unserer Gedanken sind nicht etwas, das ontologisch basal ist. Tatsachen in diesem Sinne sind aufgebaut aus Dingen oder Ereignissen mit Eigenschaften (oder Tropen, wenn man eine Festlegung auf Universalien vermeiden möchte, die mit der Anerkennung von Eigenschaften verbunden sein mag). Die Tatsache, dass dieser Stein rechteckig ist, kann ontologisch auf diesen Stein und eine Eigenschaft von ihm reduziert werden. In der Ontologie brauchen wir also Tatsachen nicht anzuerkennen. Erst wenn es zu der epistemologischen Frage kommt, was denn in der Welt unsere Gedanken wahr macht, kann es sinnvoll sein, auf Tatsachen Bezug zu nehmen – aber in einem Sinne, der es erlaubt, die Kategorie der Tatsachen aus den bereits anerkannten ontologischen Kategorien aufzubauen. Kurz: Falls eine realistische Position generell auf Tatsachen angewiesen sein sollte, dann nur auf Tatsachen in einem ontologisch harmlosen Sinne. Anders sieht es aus, wenn man die Bezugsgegenstände und die Wahrmacher unserer Gedanken mit deren Bedeutung oder deren begrifflichen Inhalt identifiziert. Tatsachen erhalten nun eine Funktion, die es nicht mehr erlaubt, sie auf Dinge und Eigenschaften (oder was man sonst als basal in der Ontologie akzeptiert) zu reduzieren. Von Tatsachen im Sinne des Inhalts unserer Gedanken – im Unterschied zu Tatsachen im Sinne der Bezugsgegenstände oder der Wahrmacher unserer Gedanken – kann man nicht sagen, dass sie aus Dingen mit Eigenschaften bestehen (vergleiche Dodd (1995)). Wenn Tatsachen also zugleich die Bezugsgegenstände und der Inhalt unserer Gedanken sein sollen, dann ist man auf eine Ontologie von Tatsachen festgelegt in dem Sinne, dass Tatsachen etwas ontologisch Basales sind. Man vertritt dann eine Ontologie von Tatsachen als Alternative zu zum Beispiel einer Ontologie von Dingen oder von Ereignissen mit Eigenschaften. Die Tatsachen gibt es unabhängig davon, ob es Personen

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gibt, die Gedanken bilden, deren Inhalt dann Tatsachen sind. Man mag dem Wittgenstein des Tractatus eine solche Ontologie zuschreiben. Aus dieser Konsequenz des starken direkten Realismus wird ein Einwand, wenn man sich vorstellt, was für verschiedene Tatsachen es alles in der Welt dieser Position zufolge geben muss. Wir sind im ersten Abschnitt von Freges Unterscheidung zwischen dem Inhalt eines Gedanken und seinem Bezugsgegenstand ausgegangen. Wir haben gesehen, wie ein repräsentationaler Realismus diesen Unterschied berücksichtigt, indem diese Position eine Repräsentation zwischen den Gedanken und seinen Bezugsgegenstand in der Welt setzt. Der starke direkte Realismus verlagert nun das, was für den repräsentationalen Realismus Repräsentationen sind, in die Welt hinaus, indem er den Inhalt unserer Gedanken mit deren Bezugsgegenständen identifiziert. Das heißt: Statt dass sich der Gedanke „Der Morgenstern ist F“ und der Gedanke „Der Abendstern ist F“ auf denselben Gegenstand beziehen und sich ihrem Inhalt nach unterscheiden, beziehen sie sich auf verschiedene Gegenstände (Tatsachen), weil ihr Inhalt verschieden ist. Es gibt also so viele verschiedene Tatsachen in der Welt unabhängig von unserem Denken, wie es verschiedene mögliche Inhalte unserer Gedanken gibt. Diese Konsequenz ist zunächst deshalb ein Einwand gegen den starken direkten Realismus, weil sie auf eine extravagante Ontologie hinausläuft, wenn man bedenkt, wie feingliedrig die Inhalte unserer Gedanken sein können. Mehr noch, mit der Konsequenz einer solchen Ontologie wird auch der Realismus selbst untergraben. Dass wir zwischen Abendstern und Morgenstern unterscheiden, ist eine Frage der Weise, wie wir auf einen bestimmten Gegenstand Bezug nehmen, aber nicht etwas im Gegenstand selbst. Unsere Weisen der Bezugnahme auf Gegenstände selbst als verschiedene Gegenstände anzusehen, fordert geradezu dazu auf, in Frage zu stellen, ob wir überhaupt auf von uns unabhängige Gegenstände Bezug nehmen. Ein starker direkter Realismus kann die genannte Konsequenz nur um den Preis dessen vermeiden, die Feingliedrigkeit der Inhalte unserer Gedanken aufzugeben. Man müsste dann sagen, dass der Gedanke „Der Morgenstern ist F“ und der Gedanke „Der Abendstern ist F“ denselben Inhalt haben, weil sie sich auf denselben Gegenstand beziehen. Damit würde man jedoch dem repräsentationalen Realismus in die Hände spielen: Man würde ihm das Tor öffnen als derjenigen feinkörnigeren Position, die einen Unter-

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schied zwischen solchen Gedanken rekonstruieren und erklären kann. Der starke direkte Realismus läuft somit in ein Dilemma hinein: Entweder ist er auf eine extravagante Ontologie festgelegt, die den Realismus selbst untergräbt. Oder er kann die Feingliedrigkeit des Inhalts unserer Gedanken nicht berücksichtigen und ist darin dem repräsentationalen Realismus unterlegen. Marcus Willaschek antwortet auf diesen Einwand in seinem Beitrag zu diesem Band (vgl. S. 68 ff.), indem er sagt, dass wir über keine eindeutigen Identitätskriterien für Tatsachen verfügten, ja dass Tatsachen keine Entitäten seien, die miteinander identisch sein könnten oder nicht. Das mag richtig sein. Das ist jedoch ein Problem für den starken direkten Realismus. Denn wir verfügen über Identitätskriterien für Gedanken. Wenn man einer Person den Gedanken zuschreibt, zu glauben, dass der Morgenstern F ist, dann kann man dieser Person nicht unbedingt salva veritate den Gedanken zuschreiben, dass der Abendstern F ist. Entweder identifiziert der direkte Realismus den Inhalt eines Gedanken mit seinem Bezugsgegenstand und ist damit eine Theorie auch des Inhalts unserer Gedanken und folglich eine Semantik (was ich hier starken direkten Realismus genannt habe); dann müssen wegen der behaupteten Identität die Bezugsgegenstände unserer Gedanken genauso sehr oder genauso wenig feingliedrig sein wie die Inhalte unserer Gedanken, was in das genannte Dilemma führt. Oder der direkte Realismus ist nur eine Theorie der Bezugnahme auf Gegenstände in der Welt, die in der Behauptung besteht, dass es keine epistemischen Bindeglieder zwischen einem Gedanken und seinem Bezugsgegenstand in der Welt gibt. Diese Position möchte ich »schwachen direkten Realismus« nennen. Denn ein solcher direkter Realismus lässt offen, worin der Inhalt unserer Gedanken besteht. Die Aufgabe ist dann, zusätzlich zum direkten Realismus als Theorie der Referenz eine Theorie des Inhalts unserer Gedanken zu entwickeln, die der direkten Bezugnahme auf Gegenstände in der Welt nicht im Wege steht. Ein Lösungsvorschlag für diese Aufgabe ist das Thema des nächsten Abschnitts.1

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Marcus Willaschek selbst stellt in Kommentaren zu einer früheren Fassung dieses Artikels klar, dass er nur das vertreten möchte, was ich schwachen direkten Realismus nenne. Für die Kommentare und diese Klarstellung bin ich Marcus Willaschek zu Dank verpflichtet.

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3. Inferentielle Semantik, normative Pragmatik und direkter Realismus Wir können die bisherigen Überlegungen so zusammenfassen: Ein direkter Realismus hat gute Argumente auf seiner Seite in puncto direkter Bezugnahme unserer Gedanken auf Gegenstände in der Welt. Er wird jedoch dann unplausibel, wenn er den begrifflichen Inhalt oder die Bedeutung unserer Gedanken mit deren Bezugsgegenständen identifiziert. Wenn wir jedoch einen Inhalt im Unterschied zum Bezugsgegenstand zulassen, dann scheinen wir in den repräsentationalen Realismus zurückzufallen; denn es scheint dann, dass wir den Inhalt zwischen den Gedanken und dessen Bezugsgegenstand in der Welt als epistemisches Bindeglied schieben. Die Aufgabe ist also diese: Wie können wir einen Inhalt für unsere Gedanken im Unterschied zu deren Bezugsgegenständen gewinnen, ohne dass dieser Inhalt als ein epistemisches Bindeglied fungiert? Es scheint, dass es eine einfache Lösung für diese Aufgabe gibt. Seit gut dreißig Jahren gibt es die Position der direkten Referenz: unsere Gedanken beziehen sich in der Weise direkt auf etwas in der Welt, dass diese Bezugnahme nicht vermittelt ist durch deren Inhalt (für einen Überblick siehe Almog et al. (1989) und Recanati (1993)). Ein wichtiges Argument für diese Position sind Beispiele, die zeigen sollen, dass sich ein Gedanke auf einen bestimmten Gegenstand x beziehen kann, auch wenn er mit einer falschen Beschreibung auf x Bezug nimmt, ja sogar wenn die Beschreibung, die er gibt, sich stattdessen auf einen anderen Gegenstand y bezieht. Als eine generelle Theorie der Bezugnahme ist diese Position jedoch systematisch unbefriedigend; denn sie lässt die Bezugnahme auf Gegenstände und den Inhalt als zwei verschiedene Merkmale eines Gedanken unvermittelt nebeneinander stehen. Es besteht jedoch die Möglichkeit, den Grundgedanken der direkten Referenz aufzunehmen und ihn in eine Fregesche Position zu integrieren. Das hat Gareth Evans (1982) getan. Evans hält mit Frege daran fest, dass die Bezugnahme unserer Gedanken auf Gegenstände von deren Inhalt abhängt. Aber Evans vertritt, dass der Inhalt bestimmter Gedanken nicht beliebig verfügbar ist: welche Inhalte die Gedanken einer Person haben können, hängt ab von der Beschaffenheit der Welt, in der die betreffende Person lebt. Nicht nur worauf sich der Gedanke bezieht, sondern auch sein Inhalt ist also von der Welt abhängig. Diese Abhängigkeit ermöglicht es, eine di-

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rekte Bezugnahme unserer Gedanken auf etwas in der Welt zu konzipieren, für die deren Inhalt wesentlich ist, ohne dass der Inhalt als ein epistemisches Bindeglied fungiert. An diese Position von Evans möchte ich im folgenden anknüpfen. Auf die Frage, wie Indexikalausdrücke zu verstehen sind, gehe ich nicht ein. Es geht nur darum, eine direkte Bezugnahme von Gedanken auf etwas in der Welt so zu verstehen, dass diese Bezugnahme vom Inhalt der Gedanken abhängt, ohne dass der Inhalt als epistemisches Bindeglied auftritt. Wenn man den Inhalt eines Gedanken über etwas in der Welt als eine Repräsentation von etwas in der Welt versteht und die Bezugnahme auf Gegenstände mit Frege so ansieht, dass sie durch den Inhalt des Gedanken bestimmt ist, dann mag man vielleicht auf einen repräsentationalen Realismus festgelegt sein. Es ist jedoch nicht zwingend, den Inhalt eines Gedanken als eine Repräsentation anzusehen. Die grundlegende Alternative zu einer repräsentationalen Semantik ist eine inferentielle Semantik. Gemäß einer solchen Semantik ist nicht Repräsentation, sondern Inferenz der semantische Grundbegriff. Der Inhalt eines Gedanken sind seine inferentiellen Beziehungen zu anderen Gedanken. Die heutige Diskussion über eine inferentielle Semantik in dem Kontext, der für das Thema dieses Abschnitts relevant ist, geht auf Sellars (1956) zurück. Die bisher am besten ausgearbeitete Version einer inferentiellen Semantik im Anschluss an Sellars legt Robert Brandom (1994) in seinem Buch Making It Explicit vor (insbesondere Kapitel 2). Brandom unterscheidet drei Arten von basalen inferentiellen Beziehungen zwischen Gedanken oder Aussagen: a) Implikation: Eine Aussage der Art p impliziert eine Reihe weiterer Aussagen in dem Sinne, dass diese aus jener deduziert werden können. Aus der Aussage, dass der Karneval in Rio de Janeiro weltbekannt ist, kann man zum Beispiel die Aussage deduzieren, dass in Rio Karneval gefeiert wird. b) Unterstützung: Eine Aussage der Art p stützt eine Reihe weiterer Aussagen in dem Sinne, dass eine Induktion zu diesen auf jene gestützt werden kann. Die Aussage, dass der Karneval in Rio de Janeiro weltbekannt ist, stützt zum Beispiel die Aussage, dass internationale Medien über den Karneval in Rio berichten werden. c) Ausschluss: Eine Aussage der Art p schließt eine Reihe weiterer Aussagen aus. Die Aussage, dass der Karneval in Rio de Janeiro weltbekannt

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ist, schließt zum Beispiel die Aussage aus, dass der Karneval in Rio ein bloßes Provinzspektakel ist. Wenn inferentielle Beziehungen in diesem weiten Sinne verstanden werden, dann stehen alle Aussagen oder Gedanken in einem System von Aussagen oder Gedanken in einer zumindest indirekten inferentiellen Verbindung. Eine solche Verbindung ist zumindest eine indirekte Beziehung dessen, Unterstützung zu geben oder auszuschließen. Wir gelangen damit zu einem semantischen Holismus: Der Inhalt einer Aussage oder eines Gedanken besteht in inferentiellen Beziehungen zu anderen Aussagen oder Gedanken in einem System von Aussagen oder Gedanken. Eine inferentielle Semantik kann erklären, wie der Inhalt unserer Gedanken feingliedriger ist als deren Bezugsgegenstände in der Welt: Inhalt ist feingliedriger als Referenz, weil inferentielle Beziehungen feingliedriger sind als die Bezugnahme auf Gegenstände. Für jede zwei Begriffe F und G – sogar Begriffe wie »Kaninchen« und »zeitliche Phase eines Kaninchen«, um das berühmte Beispiel von Quine (1960) aufzunehmen (Kapitel 2, insbesondere S. 51–53) – unterscheidet sich der inferentielle Kontext einer Aussage der Art „Dies ist F“ von dem inferentiellen Kontext einer Aussage der Art „Dies ist G“. Aus „Dies ist eine zeitliche Phase eines Kaninchen“, aber nicht aus „Dies ist ein Kaninchen“, kann man deduzieren „Dies hat zeitliche Teile“. Dabei kann man erklären, was es heißt, zeitliche Teile zu haben, ohne auf Kaninchen Bezug zu nehmen. Eine inferentielle Semantik kann also dem Unterschied zwischen Inhalt und Referenz Rechnung tragen, ohne auf Repräsentationen zurückgreifen zu müssen. Gedanken, welche die gleiche Referenz, nicht aber den gleichen Inhalt haben, unterscheiden sich in ihren inferentiellen Kontexten. Eine inferentielle Semantik macht im Unterschied zu einer repräsentationalen Semantik in folgendem Sinne den Weg frei für einen direkten Realismus: Da gemäß einer inferentiellen Semantik die Beziehungen zu anderen Glaubenszuständen der Inhalt eines Glaubenszustandes sind, besteht kein Raum für eine Unterscheidung zwischen einem Glaubenszustand und einer Repräsentation als dessen Inhalt. Folglich hindert uns nichts daran, zu sagen, dass Glaubenszustände sich direkt auf Gegenstände in der Welt beziehen. Eine inferentielle Semantik lässt von vornherein keinen Raum dafür, den Inhalt eines Glaubenszustands, eines Gedanken oder einer Aussage als ein epistemisches Bindeglied zu verstehen, das sich zwischen den Gedanken und seinen Bezugsgegenstand in der Welt schiebt.

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Wenn man nun nicht die Bezugnahme auf Gegenstände und den Inhalt eines Glaubenszustandes, eines Gedanken oder einer Aussage einfach nebeneinander stellen möchte, sondern es vom Inhalt abhängen soll, auf welche Gegenstände Bezug genommen wird, dann ist das Problem für eine inferentielle Semantik, Referenz auf der Grundlage von Inferenz zu erklären. Wie gelangen wir von inferentiellen Relationen zwischen Gedanken untereinander zu referentiellen Relationen zwischen Gedanken und etwas in der Welt? Bloße Kohärenz der Gedanken in einem System von Gedanken ist dafür nicht hinreichend; denn alle möglichen Welten können durch ein kohärentes System von Aussagen beschrieben werden. Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage führt uns zu einer anderen Frage: Wodurch werden die inferentiellen Beziehungen zwischen Glaubenszuständen, Gedanken oder Aussagen determiniert? Die inferentiellen Beziehungen zwischen unseren Gedanken werden dann nicht ein Kreisen im Leeren sein, wenn die Welt schon in die Weise eingeht, wie diese Beziehungen determiniert werden. Die oben unter Hinweis auf Gareth Evans (1982) vorgestellte Idee, dass es von der Welt abhängt, welche Gedankeninhalte uns verfügbar sind, müssen wir an dieser Stelle einbringen. Wenn die Welt in die Bestimmung der Inhalte unserer Gedanken eingeht, dann ist es nachvollziehbar, wie diese Inhalte dann ihrerseits dafür wesentlich sein können, worauf sich unsere Gedanken beziehen – und dass sie sich überhaupt auf etwas in der Welt beziehen. Diese Überlegungen laufen darauf hinaus, die Semantik, die Theorie der Bedeutung sprachlicher Zeichen, von der Pragmatik, der Theorie des Gebrauchs sprachlicher Zeichen, aus aufzubauen. Die Debatte um das sogenannte Problem des Regelfolgens – das ist die Frage, wie wir überhaupt Gedanken mit einem bestimmten Inhalt haben können – ergibt gewichtige Argumente dafür, die Pragmatik normativ zu verstehen (Wittgenstein (1952), Kripke (1982)): Unter welche Normen stellen sich Personen, indem sie Gedanken bilden und Aussagen machen? Für die Frage nach dem, was die inferentiellen Beziehungen zwischen Gedanken oder Aussagen determiniert, gibt eine normative Pragmatik diese Antwort: Diese inferentiellen Beziehungen sind zurückzuführen auf Normen des Übergangs von einem Gedanken oder einer Aussage zu anderen Gedanken oder Aussagen. Robert Brandom (1994) leitet die drei genannten Arten von inferentiellen Beziehungen zwischen Gedanken oder Aussagen aus den folgenden Arten

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von Normen des Übergangs zwischen Gedanken oder Aussagen ab (Kapitel 1): a) Implikation geht zurück auf Normen der Festlegung (commitment): Eine Aussage der Art p zu machen legt eine Person darauf fest oder verpflichtet sie dazu, auf Anfrage eine Reihe weiterer Aussagen zu akzeptieren. Wenn man zum Beispiel die Aussage macht, dass der Karneval in Rio de Janeiro weltbekannt ist, ist man auf die Aussage festgelegt, dass in Rio Karneval gefeiert wird. b) Unterstützung geht zurück auf Normen der Berechtigung (entitlement): Eine Aussage der Art p zu machen berechtigt eine Person zu einer Reihe weiterer Aussagen. Die Aussage zu machen, dass der Karneval in Rio de Janeiro weltbekannt ist, berechtigt eine Person zu der Aussage, dass internationale Medien über den Karneval in Rio berichten werden. Wenn die letztere Aussage angegriffen wird, kann die erstere als Grund angeführt werden. c) Ausschluss geht zurück auf verschlossene Berechtigung (precluded entitlement): Eine Aussage der Art p zu machen verschließt einer Person die Berechtigung zu einer Reihe weiterer Aussagen. Sich auf die Aussage festzulegen, dass der Karneval in Rio de Janeiro weltbekannt ist, verschließt einer Person die Berechtigung zu der Aussage, dass der Karneval in Rio ein bloßes Provinzspektakel ist. Diese Normen bestimmen wir selbst, indem wir uns wechselseitig so behandeln, dass wir auf bestimmte Aussagen (und Handlungen) festgelegt und zu bestimmten Aussagen (und Handlungen) berechtigt sind. Wir können in dieser Position zwischen der Rede von Gedanken, der Rede von Aussagen und der Rede von Glaubenszuständen von Personen wechseln: Gedanken sind eo ipso aussagbar, weil nur ihre Aussage die Beziehungen der Festlegung und der Berechtigung, in denen ihr Inhalt besteht, bestimmen kann. Gedanken und Aussagen gibt es nur, insofern Personen in Glaubenszuständen sind und zum Ausdruck bringen, in welchen Glaubenszuständen sie sind. Die Logik besteht darin, Beziehungen der Festlegung, der Berechtigung und der verschlossenen Berechtigung zwischen Aussagen explizit zu machen. Es handelt sich bei dieser Position nur um eine soziale, pragmatische und normative Theorie des Inhalts unserer Gedanken, nicht jedoch um eine soziale Theorie der Wahrheit. Ob Gedanken mit einem Inhalt, der durch soziale Praktiken bestimmt wird, sich für auf etwas festgelegt und zu etwas berechtigt zu halten, wahr sind, hängt von der Beschaf-

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fenheit der Welt ab. Diese Position gibt also verschiedene Erklärungen für den Inhalt und für die Wahrheit von Gedanken. Inferentielle Beziehungen sind nicht freischwebend; sie bestimmen eine Bezugnahme unserer Gedanken auf Gegenstände durch die Art und Weise, wie diese Beziehungen in Praktiken, sich wechselseitig so zu behandeln, dass man auf bestimmte Gedanken festgelegt und zu bestimmten Gedanken berechtigt ist, determiniert werden. Diese Praktiken setzen voraus, dass die beteiligten Personen einen kognitiven Zugang zu ihrer Umwelt haben. Die Annahme eines solchen kognitiven Zugangs ist in diesem Zusammenhang harmlos, da damit kein begrifflicher Inhalt vorausgesetzt ist. Begrifflicher Inhalt wird dadurch determiniert, dass Personen wechselseitig auf ihre Handlungen in bestimmten Situationen durch Sanktionen im Sinne von Bestärkungen oder Zurückhaltungen reagieren. Der Zielpunkt solcher Sanktionen ist eine Konvergenz, welche dann die Festlegungen und Berechtigungen determiniert, die Personen mit ihren Aussagen eingehen (für eine ausführliche Darstellung siehe Esfeld (2002), Kapitel 3.2). Was eine Person dadurch erwirbt, dass sie Gedanken bildet und Aussagen macht, ist nicht ein freischwebendes Wissen von Inferenzen, sondern ein praktisches, situatives Wissen, das es ihr ermöglicht, Begriffe in unbestimmt vielen neuen Situationen korrekt zu verwenden. Das inferentielle Wissen ist als solches selbst ein situatives, praktisches Wissen. So verstanden kann der Inhalt von Gedanken qua inferentieller Beziehungen Referenz bestimmen. Es tritt in dieser Konzeption auch kein Gegensatz auf zwischen einer kausalen Einschränkung der Gedanken, die wir bilden, vonseiten der Umwelt, in der wir leben, und einer rationalen Einschränkung vonseiten der Welt (dazu McDowell (1994)). Denn Rationalität besteht dieser pragmatischen Konzeption ihrem Ursprung nach in dem genannten situativen Wissen, das die Umwelt unmittelbar involviert (siehe Esfeld (2002), Kapitel 5.3.2). Allerdings geht die Bindung an die Umwelt nicht so weit, dass spezifische Praktiken der Zuschreibung von Festlegungen oder Berechtigungen eo ipso abhängig sind von spezifischen Eigenschaften der Umwelt. Der inferentielle Kontexte kann Gedanken einer bestimmten Art einen Inhalt verleihen, auch wenn entsprechende Gegenstände fehlen. Der inferentielle Kontext kann zum Beispiele einen Inhalt für Gedanken der Art „Dies ist ein Baum“ bereitstellen, selbst wenn es keine Bäume in der Umgebung gibt. Für jeden einzelnen Gedanken und für jede einzelne Art von Gedanken gilt, dass der Inhalt dieser Gedanken nicht ontologisch abhängig ist

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davon, in Berührung mit entsprechenden Gegenständen zu sein, aber nicht für alle Gedanken zusammen. Schließlich haben auch Gedanken über Einhörner einen bestimmten begrifflichen Inhalt, und deren Inhalt allein sagt uns nicht, ob es Einhörner in der Welt gibt. Gemäß dieser Konzeption sind Gedanken insgesamt jedoch ontologisch abhängig davon, in eine physikalische Umwelt eingebettet zu sein; denn Inhalt wird durch die genannten Praktiken im direkten Umgang mit Gegenständen in der Umwelt bestimmt. Die skizzierte Position zeigt somit, (a) wie sich unsere Gedanken direkt auf etwas in der Welt beziehen können, (b) wie diese Bezugnahme von dem Inhalt unserer Gedanken abhängig ist, (c) wie aber dennoch der Inhalt unserer Gedanken feingliedriger ist als die Gegenstände in der Welt, auf die sie sich beziehen. Kurz, wir können mit der skizzierten Position die Argumente aufnehmen, die für einen direkten Realismus sprechen, und an der Fregeschen Unterscheidung zwischen dem Inhalt eines Gedanken und seinem Bezugsgegenstand in der Welt festhalten. Literatur Almog, Joseph, Perry, John und Wettstein, Howard (Hgg.) (1989): Themes from Kaplan. Oxford: Oxford University Press. Brandom, Robert B. (1994): Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment. Cambridge (Massachusetts): Harvard University Press. Collins, Arthur W. (1987): The Nature of Mental Things. Notre Dame (Indiana): University of Notre Dame Press. Dodd, Julian (1995): “McDowell and Identity Theories of Truth”. Analysis 55, S. 160–165. Dodd, Julian (1999): “Farewell to States of Affairs”. Australasian Journal of Philosophy 77, S. 146–160. Esfeld, Michael (2002): Holismus in der Philosophie des Geistes und in der Philosophie der Physik.. Frankfurt (Main): Suhrkamp. Evans, Gareth (1982): The Varieties of Reference. Hg. John McDowell. Oxford: Oxford University Press.

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Frege, Gottlob (1892): “Über Sinn und Bedeutung”. Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 100, S. 25–50. Wiederabdruck in Frege, Gottlob (1962): Funktion, Begriff, Bedeutung. Hg. Günther Patzig. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Hinton, John M. (1973): Experiences. An Inquiry into some Ambiguities. Oxford: Oxford University Press. Kripke, Saul A. (1982): Wittgenstein on Rules and Private Language. Oxford: Blackwell. McDowell, John (1994): Mind and World. Cambridge (Massachusetts): Harvard University Press. Quine, Willard Van Orman (1960): Word and Object. Cambridge (Massachusetts): MIT Press. Recanati, François (1993): Direct Reference. From Language to Thought. Oxford: Blackwell. Sellars, Wilfrid (1956): “Empiricism and the Philosophy of Mind”. In: H. Feigl und M. Scriven (Hgg.): The Foundations of Science and the Concepts of Psychology and Psychoanalysis. Minnesota Studies in the Philosophy of Science. Volume 1. Minneapolis: University of Minnesota Press. S. 253–329. Snowdon, Paul (1981): “Perception, Vision, and Causation”. Proceedings of the Aristotelian Society 81, S. 175–192. Willaschek, Marcus (2003): Über den mentalen Zugang zur Welt. Realismus, Skeptizismus und Intentionalität. Frankfurt (Main): Klostermann. Wittgenstein, Ludwig (1952): Philosophische Untersuchungen. Hgg. G.E.M. Anscombe, G.H. von Wright, Rush Rhees. In: Ludwig Wittgenstein. Werkausgabe in 8 Bänden. Band 1. Frankfurt (Main): Suhrkamp 1984.

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Realismus und Repräsentation Innerhalb der zeitgenössischen Debatte um das Problem des Geistes machen neuerdings repräsentationalistische Ansätze von sich reden, die mit dem Anspruch einer Externalisierung von Qualia und phänomenalem Gehalt auftreten. Ich denke hierbei besonders an die neueren Arbeiten von Dretske und Tye, im weiteren aber auch an Überlegungen von Armstrong (1968; 1980) und Lycan (1987; 1996). Der Gedanke eines repräsentationalen Charakters der Wahrnehmung hat eine seiner Wurzeln in den wissenschaftlich-realistischen Wahrnehmungstheorien, wie sie im 17. Jahrhundert von Autoren wie Descartes oder Locke entwickelt worden sind. Beiden Autoren zufolge verfügt die Außenwelt bekanntlich nur über sogenannte primäre Eigenschaften, nicht aber über sinnliche Merkmale wie Farbe, Geruch oder Geschmack. Letztere befinden sich in unserem Bewusstsein bzw. in unserem Geist, stehen aber zu bestimmten Merkmalen der externen Welt in einer Abbild- oder Repräsentationsbeziehung. Der Gedanke einer externen Lokalisierung des sinnlichen oder qualitativen Gehalts fußt dagegen auf einem der grundlegenden Theoreme des Alltagsverstands. Denn in unserem alltäglichen Umgang mit den Dingen gehen wir normalerweise nicht davon aus, dass sich die Farben, Gerüche oder Geschmäcker der Dinge an einem anderen Ort als die Dinge selbst befinden. Eine Theorie, welche beide Theoreme bedient, scheint auf eine Synthese von wissenschaftlichem und Alltagsrealismus zu zielen. Ob eine solche Synthese möglich ist, will der folgende Vortrag untersuchen. Wo es darum ging zu erklären, welche Funktion die von Locke als “Ideen sekundärer Qualitäten” bezeichneten sinnlichen Qualitäten besitzen, hatten die ‘Klassiker‘ unter den wissenschaftlich-realistischen Wahrnehmungstheoretikern vermutet, dass es sich bei jenen Ideen um Indikatoren handeln müsse. Dabei war ihnen klar, dass diese, anders als z. B. die Ideen primärer Gegenstandsmerkmale, nicht in einer einfachen Abbildfunktion zu bestimmten Merkmalen der objektiven Wirklichkeit stehen konnten. Nichts in der Welt externer physikalischer Gegenstände sollte nämlich über Eigenschaften wie Farbe, Geruch oder Geschmack verfügen, während Größe oder Gestalt diesen Gegenständen tatsächlich zukommen sollten.

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Mittels der Idee der Größe ließ sich folglich die Größe eines Gegenstandes abbilden, nicht aber mit der Idee der Farbe die Farbe desselben. Eine Option, mit diesem Problem umzugehen, bestand und besteht darin, Lockes Ideen sekundärer Qualitäten bzw. die heute an ihre Stelle getretenen Qualia in eine Art Repräsentationsverhältnis zu den sie verursachenden gegenständlichen Merkmalen zu bringen. Die beiden anderen Optionen, auf die ich in diesem Vortrag nicht eingehen werde, bestanden einerseits darin, von einem einfachen, aber irgendwie verschwommenen Abbildverhältnis zwischen Ideen sekundärer Qualitäten und gegenständlichen Merkmalen auszugehen, andererseits darin, jenen Ideen die Aufgabe zuzuweisen, uns über die Zu- oder Abträglichkeit der uns umgebenden Wirklichkeit zu unterrichten. Leitidee der zuerst genannten Option ist der Gedanke der indirekten Messung physikalischer Größen. Repräsentationstheorien der Wahrnehmung konzipieren Sinneswahrnehmung so, als ob der von uns erfahrene sinnliche Gehalt der Wahrnehmung den Ausschlägen eines Messgerätes entspreche. Wie bei einem Messgerät – man denke etwa an einen Tacho oder an ein Thermometer – stehen die sinnlichen Eigenschaften der Wahrnehmung für bestimmte Eigenschaften externer physikalischer Gegenstände ohne ihnen zu ähneln und ohne sie im wörtlichen Sinne abzubilden. Sofern sie sich mit den Kriterien oder Bedingungen von Repräsentationsverhältnissen auseinandersetzen, stützen sich Repräsentationstheorien sinnlicher Wahrnehmung im wesentlichen auf zwei Begriffe: den der Kausalität und den der Kovarianz. Ersterer besagt, dass die sinnlichen Eigenschaften der Wahrnehmung bzw. die Qualia die sie verursachenden Merkmale physikalischer Gegenstände repräsentieren. Mit dem Begriff der Kovarianz verbindet sich dagegen die Vorstellung einer eineindeutigen Zuordnungsbeziehung zwischen repräsentierenden und repräsentierten Eigenschaften. In den ersten beiden Teilen dieses Vortrages werde ich auf einige der Schwierigkeiten eingehen, die mit den Begriffen der Kausalität und der Kovarianz in Hinblick auf eine repräsentationalistische Erklärung von Wahrnehmung verbunden sind. Aus Gründen der besseren Übersicht beschränke ich mich dabei auf die Ansätze von Dretske und Tye. Beide Autoren haben in den zurückliegenden Jahren eine Art Grundform einer mentalen Repräsentationstheorie entwickelt, die, anknüpfend an zentrale Intuitionen Lockes, Qualia in ein einfaches Repräsentationsverhältnis zu

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bestimmten Merkmalen der physikalischen Umwelt eines Individuums setzt, dabei aber mit einer möglichst geringen Anzahl an Repräsentationsebenen auszukommen versucht. Im dritten Teil werde ich schließlich die Frage behandeln, ob und inwiefern es beiden Autoren gelingt, Repräsentationalismus und Externalismus zu einer Synthese zu bringen. 1. Die Kausalität der Wahrnehmung Sogenannte Repräsentationstheorien des Mentalen sind heute vielfach Teil eines philosophischen Projekts, das sich am treffendsten mit dem Wort ‘Naturalisierung‘ bezeichnen lässt. Auch wenn die Meinungen darüber, was alles als naturalistisch zu gelten habe, mitunter differieren,1 so herrscht doch weitgehend Einigkeit darin, dass in einer naturalistischen Erklärung nicht auf mentale Begriffe wie Intentionalität oder Subjektivität zurückgegriffen werden darf.2 Das erklärt teilweise den Stellenwert, den der Begriff der Kausalität in zeitgenössischen repräsentationstheoretischen Ansätzen einnimmt. Eine der Kernthesen derartiger Ansätze lautet, dass mentale Repräsentationen ihren repräsentationalen Gehalt einer kausalen Beziehung zwischen Repräsentation und physikalischer Wirklichkeit verdanken.3 Was die Wahrnehmung von Gegenständen betrifft – Gedanken und Überzeugungen als höherstufige Formen mentaler Repräsentationen4 bleiben hier ausgeklammert –‚ muss man sich mentale Repräsentation wie eine Art Umkehrschluss von einer verursachten Größe auf die sie verursachende Größe vorstellen. Die verursachte Größe ist im Falle der Wahrnehmung das Perzept,5 ein Quale oder eine Wahrnehmungserfahrung,6 die verursachende ein Merkmal bzw. ein Merkmalskomplex der externen Gegenstandswelt. Um zu diesem Bild von Wahrnehmung zu gelangen, können sich Repräsentationstheoretiker auf einen Gedankengang stützen, der inzwischen zu einem erkenntnistheoretischen Gemeinplatz geworden ist. Immer wieder ist nämlich in erkenntnistheoretischen Schriften sowie in Abhandlungen zur Philosophie des Geistes davon die Rede, dass jemand, 1

2 3 4 5 6

Eine Diskussion verschiedener Möglichkeiten der Bestimmung von ‘naturalistisch‘ findet sich bei Van Gulick 1995, 87. Vgl. z. B. Van Gulick 1995, 87; Kurthen 1995, 133. Vgl. zu dieser Einschätzung Cummins 1 989a, 21. Vgl. Tye 1995, 103 f. Vgl. Cummins 1989a, 26. Vgl. Dretske 1981, 156.

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der etwas wahrnimmt, eine Wahrnehmung, eine Sinneserfahrung oder dgl. hat.7 Diese nicht ganz unverfängliche Redeweise gestattet es dem Repräsentationstheoretiker, einen Unterschied zwischen der Wahrnehmung eines Gegenstandes auf der einen Seite, dem wahrgenommenen Gegenstand auf der anderen zu postulieren. Weiterhin, und dies ist der entscheidende Zug auf dem Weg zu einer Repräsentationstheorie des Mentalen, bietet sie ihm die Grundlage, um Wahrnehmung und wahrgenommenen Gegenstand als zwei verschiedene, miteinander interagierende Gegenstände zu behandeln, um daran schließlich die Behauptung anzuknüpfen, dass der eine Gegenstand – die Wahrnehmung – den anderen – den die Wahrnehmung verursachenden physikalischen Gegenstand – repräsentiert. Mein Hauptaugenmerk gilt dem letzten Schritt dieser Argumentation, bei der Wahrnehmung und Wahrgenommenes in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden. Meines Erachtens gibt es starke Gründe, die solch einen Schritt verbieten. Der Begriff der Wahrnehmung, zumal wenn er im Verein mit dem Wort ‘haben‘ auftritt, ist in der Hauptsache philosophische Währung. Umgangssprachlich würde man nicht sagen, dass man die Wahrnehmung eines roten Dreiecks hat. Richtig heißt es, dass man ein rotes Dreieck wahrnimmt. (Mit Erfahrungen verhält es sich ähnlich. Man hat sie nicht, wie Erkenntnistheoretiker sich ausdrücken; man macht sie.) Viele, wenngleich vielleicht nicht alle Erkenntnistheoretiker würden nun sicherlich mit mir darin übereinstimmen, dass die umgangssprachliche Entsprechung von ‘eine Wahrnehmung haben‘ schlicht und einfach ‘etwas wahrnehmen‘ ist. Räumt mir das der Erkenntnistheoretiker ein, dann hat er sich implizit bereits von der Idee einer Kausalrelation zwischen Wahrnehmung und Wahrgenommenem verabschiedet und sich den Weg zu einer Repräsentationstheorie des Mentalen verstellt. Eines der zentralen Merkmale kausaler Beziehungen ist nämlich einer Analyse Humes zufolge ihr kontingenter Charakter.8 Auf ein Ereignis A 7

8

So heißt es z. B. bei Sellars (1981, 6) in bezug auf ein Kind am Anfang seiner intellektuellen Entwicklung: “Junior has a something-looks-red-to-him experience.” William Seager (1999, 72) analysiert den Begriff der Wahrnehmung in einer Einführung zu Theorien des Bewusstseins folgendermaßen: “S perceives O iff (1) O exists, (2) S has an experience as of O, (3) S‘s experience is caused by O, (4) S‘s experience is properly immediately caused by O.” Vgl. Hume 1748/1965, 35 ff. sowie Hempel/Oppenheim 1948.

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muss, wenn es den Status einer Ursache besitzen soll, nicht notwendigerweise ein zweites Ereignis B folgen. Anders ausgedrückt: Die Beschreibungen von A und B dürfen einander nicht bereits implizieren. Erst unter Zuhilfenahme einer gesetzesartigen Aussage der Form ‘Für alle A gilt: Wenn A, so B‘ darf B aus A folgen. Ersteres ist nun aber genau bei der Beziehung von Wahrnehmung und wahrgenommenem Gegenstand der Fall. Fasst man z. B. ein rotes Dreieck als Ereignis A, die Wahrnehmung eines roten Dreiecks als Ereignis B auf, dann darf zwischen den Beschreibungen beider Ereignisse keine logische Implikationsbeziehung bestehen, wenn das eine die Ursache des anderen sein soll. Buchstabiert man jedoch ‘Wahrnehmung eines roten Dreiecks‘ in der oben vorgeschlagenen Art und Weise aus, schreibt man also anstelle von ‚X hat die Wahrnehmung eines roten Dreiecks‘ den Satz ‘X nimmt ein rotes Dreieck wahr‘, dann zeigt sich zwischen der Wahrnehmung eines roten Dreiecks und dem roten Dreieck dieselbe Art von logischer Implikationsbeziehung, wie sie z. B. zwischen einem Schachspiel und dem Gewinnen desselben oder zwischen einer Geldbörse und dem Verlust derselben besteht. Ebenso nämlich, wie das Gewinnen eines Schachspiels kein Gewinnen eines Schachspiels wäre, wenn man nicht Schach, sondern Poker spielte, und ebenso, wie der Verlust einer Geldbörse kein Verlust einer Geldbörse wäre, wenn man statt dessen seinen Schlüsselbund verlöre, ebenso wäre die Wahrnehmung eines roten Dreiecks keine Wahrnehmung eines roten Dreiecks, wenn man statt dessen einen grünen Kreis oder einen blauen Ball wahrnähme. Denn ‘die Wahrnehmung eines roten Dreiecks‘ steht für ‘ein rotes Dreieck wahrnehmen‘. Und man nimmt kein rotes Dreieck wahr, wenn man einen grünen Kreis oder einen blauen Ball wahrnimmt. Folglich lässt sich von einer Wahrnehmung und ihren begrifflichen Derivaten, den Sinnesempfindungen oder Sinneserfahrungen nicht sagen, dass sie mit bestimmten gegenständlichen Merkmalen in einem Kausalzusammenhang stehen. Eine der Grundlagen einer Theorie mentaler Repräsentation erweist sich damit als fragwürdig. Zwei Erwiderungen sind hier möglich. Einerseits kann man vorschlagen, Wahrnehmungen als dasjenige anzusehen, was jemand hat, wenn er einen Gegenstand tatsächlich wahrnimmt, was er aber auch hat, wenn er halluziniert oder träumt. Derartige Wahrnehmungen könnten dann z. B. erklären, warum jemand mit denselben Worten reagiert, wenn er ein rotes Dreieck

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wahrnimmt und wenn er nur von einem roten Dreieck halluziniert. Sellars begründet auf diese Weise z. B. die Einführung von Sinneseindrücken.9 Hierauf lässt sich entgegnen, dass, wer halluziniert, nichts wahrnimmt, sondern allenfalls etwas wahrzunehmen glaubt oder scheint. Aus diesem Grunde, so könnte man einem Verteidiger der Kausalitätsauffassung erwidern, ist es nicht gerechtfertigt oder zumindest nicht angemessen, Halluzinationen als Wahrnehmungen zu bezeichnen. Wer, wie Macbeth, der Halluzination eines Dolches erliegt, der sieht keinen Dolch. Er glaubt lediglich, einen Dolch zu sehen. Etwas sehen und etwas zu sehen glauben, sind jedoch nicht dasselbe. Darum sollte man für beide Fälle nicht denselben Ausdruck verwenden. Der Verteidiger der Kausalitätsauffassung könnte das zugestehen, dennoch aber darauf insistieren, dass es in Fällen der Wahrnehmung und Fällen der Halluzination etwas Gemeinsames gibt, sei es nun, dass man es als Sinneseindruck bezeichnet, sei es, dass man es ‚Wahrnehmung‘ nennt, ansonsten bliebe es ein Rätsel, warum z. B. Macbeth, würde man ihn fragen, dieselben Worte verwendete wie jemand, der tatsächlich einen Dolch vor sich sieht. Solch einer Art von Erwiderung kann man jedoch entgegen halten, dass die Postulierung von Entitäten allein noch keine Erklärungen liefert. Erinnert sei etwa an Molieres vis dormativa. Die Einführung von Sinneseindrücken oder Wahrnehmungen stillt vielleicht ein metaphysisches Bedürfnis nach einem greifbaren Gegenstand. Darüber hinaus leistet sie prima facie nicht mehr als eine Erklärung, die sagt, ‚Er nimmt einen Dolch wahr und äußert deshalb die entsprechenden Worte‘ bzw. ‘Er glaubt, einen Dolch wahrzunehmen und reagiert daher mit den entsprechenden Worten‘. Im zweiten Fall kann man sich freilich die Frage stellen, warum jemand, ohne tatsächlich mit einem Dolch konfrontiert zu sein, von einem Dolch und nicht etwa von einem Apfel spricht. Dabei bietet es sich an, auf ein Wahrnehmungsbild in seinem Innern zu rekurrieren. Solch ein Rekurs ist jedoch keineswegs zwingend. Anstatt nämlich innere Wahrnehmungsbilder einzuführen, kann man ebenso gut auf Erregungszustände des Gehirns oder, wie im Falle von Nachbildern, auf Rezeptorreizungen der Netzhaut verweisen. Diese Erklärungsstrategie hätte den Vorteil, dass hier der Begriff der Kausalität einen Angriffspunkt hat, da es zweifellos richtig ist, dass

9

Vgl. Sellars 1956/1999, 39 f.

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ein bestimmter Erregungszustand des Gehirns die kausale Folge eines Vorgangs auf der Oberfläche des wahrgenommenen Gegenstands sein kann. Auch damit muss sich der Anhänger einer Kausalitätsauffassung von Wahrnehmung und Wahrgenommenem nicht geschlagen geben. Ein Wahrnehmungsbild, so könnte er unter Verweis auf identitätstheoretische Konzeptionen von Geist und Gehirn zu bedenken geben, hat seine physische Entsprechung in einem bestimmten Erregungszustand des Zentralnervensystems. Folglich ist ein Vorgang auf der Oberfläche des wahrgenommenen Gegenstands zur Erzeugung eines Wahrnehmungsbildes in der Lage, wenn das physische Korrelat eines Wahrnehmungsbildes ein Gehirnzustand ist. Entgegen dem Augenschein wäre aber auch damit nicht bewiesen, dass der wahrgenommene Gegenstand Wahrnehmungsbilder auf Seiten des Wahrnehmenden erzeugt. Halluzinationen und Nachbilder betreten ja, wie man oben gesehen hat, immer erst dann die innere Bühne, wenn es in der Umgebung einer Person keinerlei Dinge gibt, auf die ihre Beschreibungen zutreffen würden. Deshalb müsste der Anhänger der Kausalitätsauffassung zudem noch den Nachweis erbringen, dass eine Analyse von Wahrnehmungsvorgängen demselben Muster zu folgen hat wie eine Analyse von Nachbildern und Halluzinationen. Die mögliche qualitative Ununterscheidbarkeit von Wahrnehmungen und Halluzinationen aus subjektiver Perspektive könnte hierbei als Argument fungieren.10 Wie jedoch schon mehrfach gegen diesen Zug eingewandt worden ist, folgt aus der subjektiven Ununterscheidbarkeit zweier Phänomene nichts in bezug auf deren objektive Gleichheit.11 Damit ist nun freilich kein zwingendes Gegenargument formuliert. Dazu müsste man weiter ausholen und insbesondere die semantischen Implikationen eines Bildes von Wahrnehmung in Rechnung stellen, das die Bezugsgegenstände von Wahrnehmungsurteilen stets im Innern des Wahrnehmenden lokalisiert. Wie bereits Wittgenstein gesehen hat, mündet dieses Bild in den Gedanken der Privatheit unserer gesamten Empfindungssprache, was eine intersubjektive Verständigungspraxis mit Blick auf die an den Gegenständen wahrgenommenen Eigenschaften zu einem Rätsel macht. Angesichts dieser nicht unbeträchtlichen Folgelasten ist es meiner 10 11

Ayer 1956, 90; Prauss 1980, 93; Robinson 1994, 151. Vgl. Austin 1964/1975, 69; Dretske 1969, 71.

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Meinung nach sinnvoll, die gegenteilige Auffassung zu beziehen und von einer Gleichsetzung der Analysen von Wahrnehmung und Halluzination abzusehen. Der zweite Einwand, der meiner Analyse der Wahrnehmung und ihrer vermeintlichen Kausalität gemacht werden kann, ist schwieriger zu beantworten, weil ihm eine ‚grammatische‘ Meinungsverschiedenheit zugrunde liegt. Im Zusammenhang mit der Diskussion der Logik mentaler Ereignisse bemerkt Michael Tye, dass mentale Ereignisse in einer notwendigen Beziehung zu ihren Besitzern stehen oder besser gesagt: zu stehen scheinen. Tye bringt dies mit der Privatheit mentaler Ereignisse in Verbindung. Sebastian, so Tyes Erläuterung, ist integraler Bestandteil des Spazierengehens von Sebastian. Verändert man den Besitzer des Ereignisses, lässt man also anstelle von Sebastian jemand anderes spazieren gehen, so verändert man einen Bestandteil des Ereignisses und damit das Ereignis selbst – so scheint es zumindest. Aus Tyes Sicht ist Sebastian nämlich nur ein kontingenter Bestandteil seines Spazierengehens, “the event of Sebastian‘s strolling might have been undergone by someone else, and hence might have had someone else as a constituent”.12 Tye hat sicherlich recht, dass auch jemand anderes anstelle von Sebastian hätte spazieren gehen können. Ich bin allerdings nicht der Meinung, dass das dann immer noch Sebastians Spaziergang gewesen wäre, ebenso wenig wie ich der Meinung bin, dass es sich noch um den Verlust einer Geldbörse handeln würde, wenn man anstelle der Geldbörse den Schlüsselbund verloren hätte. Soweit ich weiß, sind die englische und die deutsche Sprache in dieser Hinsicht identisch. Aus diesem Grund halte ich Tyes Einwand für falsch. 2. Kovarianz Der Gedanke einer zwischen Wahrnehmung bzw. ihrem sinnlichen Gehalt und der Beschaffenheit physikalischer Gegenstände bestehenden Kovarianzbeziehung existierte schon lange vor dem Aufkommen ausgereifter Repräsentationstheorien des Mentalen. Letztere bestimmen die wahrnehmungstheoretische Diskussion in stärkerem Maße erst seit den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Dagegen war, was beispielsweise die 12

Tye 1995, 90.

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Wahrnehmung von Farben betrifft, die stets im Zentrum der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Problem der Wahrnehmung gestanden hat, bereits mit der Herausbildung der Wellentheorie des Lichts eine Identifikation von Spektralfarbe und zugehöriger Wellenlänge vollzogen worden. Dies wiederum führte zu der verbreiteten, aber falschen Vorstellung, dass es sich bei der Farbe von Gegenständen mehr oder weniger unmittelbar um eine Sache der Wellenlänge handeln müsse.13 Als sich in den siebziger Jahren die ersten Repräsentationstheorien sinnlicher Wahrnehmung zu etablieren begannen, wusste man in philosophischen Kreisen bereits um die Falschheit des Gedankens einer Kovarianzbeziehung zwischen der Wellenlänge des Lichts und der wahrgenommenen Farbe.14 Wie seither von verschiedener Seite immer wieder betont worden ist, spielen bei der Farbwahrnehmung stets eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle, von denen die Wellenlänge des auf die Retina auftreffenden Lichts nur einer ist, wobei sich auch dieses Licht aus einer Vielzahl unterschiedlicher Wellenlängenbestandteile zusammensetzt. Insofern war es um die Erfolgsaussichten eines repräsentationstheoretischen Modells von Wahrnehmung von vornherein nicht besonders gut bestellt. Dennoch hat es sich in den zurückliegenden Jahren aus Gründen, über die sich nur mutmaßen lässt, eines wachsenden Zuspruchs erfreut. Ich werde im folgenden so vorgehen, dass ich versuche, den Gedanken der Repräsentation im Rückgriff auf eine von Dretske stammende Definition schärfer zu fassen. Im Anschluss daran werde ich Schritt für Schritt die Probleme thematisieren, die sich aus dem Zusammenspiel der bei der Farbwahrnehmung wirksamen Faktoren ergeben. Schließlich werde ich Dretskes Umgang mit diesen Problemen diskutieren. Unter der Überschrift “Die Natur der Repräsentation” heißt es bei Dretske: „Der Grundgedanke ist der, dass ein System S eine Eigenschaft F dann und nur dann repräsentiert, wenn S die Funktion hat, das F eines bestimmten Gegenstandsbereichs anzuzeigen (Informationen über es zu liefern). S erfüllt seine Funk13

14

Vgl. zu dieser Einschätzung Campbell 1979/1990, 567. David Armstrong vertritt diesen Gedanken z. B. in seinem Buch A Materialist Theory of the Mind aus dem Jahre 1968. Ansatzweise findet er sich auch bei Kripke (1972/1981, 160), wenn dieser den Vorschlag macht, Farbbegriffe als Begriffe für natürliche Arten zu behandeln. Vgl. Land 1977; Campbell 1979/1990; Averill 1985/1997, 21; Putnam 1987, 6; Nida-Rümelin 1993, 21; Dretske 1995/1998, 96.

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tion (wenn es sie erfüllt), indem es sich in verschiedenen Zuständen s1, s2, ... sn befindet, die den verschiedenen, genau bestimmten Werten f1, f2, ... fn von F entsprechen.“15

Dretske erläutert diesen Gedanken am Beispiel eines Geschwindigkeitsmessers. Entsprechend seiner Funktion hat solch eine Vorrichtung die Aufgabe, den Fahrer eines Autos über die Höhe der gefahrenen Geschwindigkeit zu informieren. Dabei korrespondieren jedem der verschiedenen Zustände des Geschwindigkeitsmessers (den Zeigerpositionen “40”, “60” usw.) jeweils verschiedene Geschwindigkeiten (40 km/h, 60 km/h usw.).16 Wie man Dretskes Beispiel entnehmen kann, fußt Repräsentation auf einer eineindeutigen Zuordnungsrelation. Jedem der Zustände des Geschwindigkeitsmessers korrespondiert genau ein Wert der gefahrenen Geschwindigkeit und umgekehrt. Laut der von Dretske vorgeschlagenen Definition müsste also jedem Wert einer wahrgenommenen Farbe – Dretske spricht in diesem Zusammenhang von Qualia oder Farberfahrungen17 – genau ein Wert einer objektiven und, da sich Dretske als Externalist mit Bezug auf den repräsentationalen Charakter der Wahrnehmung versteht,18 einer gegenständlichen Eigenschaft korrespondieren. Oberflächenreflektanzen sind die dabei von ihm ins Auge gefassten Kandidaten.19 Dretske selbst konzentriert sich bei seinen Überlegungen zu einer Repräsentationstheorie sinnlicher Wahrnehmung auf das Phänomen der Metamerie. Seine eigene Lösung werde ich später diskutieren. Zunächst will ich eine Skizze dieses und der daran angrenzenden Phänomene liefern. Metamerie besagt, dass die Farbe, die ein Gegenstand unter Standardbedingungen aufweist, durch verschiedene Kombinationen von Licht unterschiedlicher Wellenlänge realisiert sein kann. Das reine Gelb eines Gegenstandes kann beispielsweise durch monochromatisches Licht einer Wellenlänge von etwa 580 nm realisiert sein. Die Menge der gelben Gegenstände ist aber umfassender als die Menge derjenigen Gegenstände, die Licht einer Wellenlänge von 580 nm emittieren oder reflektieren. Reines Gelb kommt nicht nur durch monochromatisches Licht einer Wellenlänge 15 16 17 18 19

Dretske 1995/1998, 14. Vgl. Dretske 1995/1998, 14. Vgl. Dretske 1995/1998, 89 ff. Vgl. Dretske 1995/1998, 80. Vgl. Dretske 1995/1998, 96 f.

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von 580 nm, sondern auch durch mischchromatisches Licht zustande, bei dem der eine Wellenlängenbestandteil 540, der andere hingegen 670 nm beträgt. Jede beliebige Farbe kann durch unendlich viele verschiedene Mischungen von Licht mit unterschiedlichen Wellenlängenbestandteilen realisiert sein. Die unterschiedlichen, nicht miteinander identischen physikalischen Stimuli, die der Wahrnehmung ein und derselben Farbe zugrunde liegen können, bezeichnet man als Metamere.20 Für Dretske und seine Repräsentationstheorie erwächst daraus das Problem, dass es keine nichtdisjunktive physikalische Eigenschaft gibt, die all denjenigen Gegenständen zukommt, die bei Tageslicht eine gelbe Farbe besitzen.21 Von einer eineindeutigen Zuordnungsbeziehung, wie sie der Kovarianzgedanke fordert, kann mithin prima facie überhaupt keine Rede sein. Jedem Wert auf der einen Seite – der wahrgenommenen Farbe – entsprechen nämlich unendlich viele Werte auf der anderen. Konfrontiert mit einer bestimmten Farbe könnte man daher auch niemals wissen, welches die spezifischen Oberflächenbeschaffenheiten eines Gegenstandes sind und aus welchen Wellenlängenbestandteilen sich das von ihm reflektierte Licht zusammensetzt. Angesichts dieser für ihn prekären Lage könnte ein Repräsentationstheoretiker zunächst versuchen, aus seiner Not eine Tugend zu machen und Kovarianz auf Farben und Mengen disjunktiver Eigenschaften beziehen. Jedem Wert einer bestimmten Farbe entspräche dann zwar keine bestimmte Mischung von Licht verschiedener Wellenlängen, aber eine Menge verschiedener Mischungen.22 Würde der Repräsentationstheoretiker diesen Weg wählen, so müsste er allerdings auch einen Intensitätsparameter einführen, da der Wert einer Farbe nicht nur von der spektralen Zusammensetzung des ins Auge fallenden Lichts, sondern auch von dessen Intensität abhängt. Reines Rot wird z. B. nur dann wahrgenommen, wenn es sich um Licht mit einer geringen Strahlungsintensität handelt.23 Zudem müsste er 20 21 22

23

Vgl. u. a. Hardin 1983, 811 f.; Lanz 1996, 181-188. Vgl. Averill 1985/1997,21 sowie Putnam 1987, 6. Diesen Weg schlägt J. J. C. Smart (1971) ein, indem er behauptet, jede Farbe sei mit einer Menge von disjunktiven und idiosynkratischen Eigenschaften identisch. Vergleichbare Überlegungen finden sich bei Peter Lanz. Lanz zufolge zieht das visuelle System “aus dem auf die Netzhaut fallenden Licht z. B. Informationen über die Remissionseigenschaften von Oberflächen [...] und repräsentiert diese Informationen als Farbtonunterschiede”. Lanz 1996, 196. Vgl. Hurvich 1981, 72-75; Hardin 1983, 811.

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den Wert der jeweiligen Hintergrundfarbe berücksichtigen. Denn der Wert einer Farbe hängt nicht allein von der spektralen Zusammensetzung des von einem Gegenstand emittierten oder reflektierten Lichts ab, sondern auch vom Farbwert der an ihn angrenzenden Farbflächen.24 Vor einem schwarzen Hintergrund wirkt beispielsweise ein hellgrauer Farbfleck dunkler als vor einem weißen Hintergrund. Vor einem schwarzen Hintergrund kann er weiß aussehen, vor dem weißen Hintergrund dagegen hellgrau. Das Licht, welches der Farbfleck reflektiert, ist dabei in beiden Fällen dasselbe. Und ebenso sind die Reize dieselben, denen die jeweiligen Partien der Retina ausgesetzt sind.25 Weiterhin müsste er auch noch eine Möglichkeit finden, die sogenannten Gedächtnisfarben, Farben also, die, wie der Farbtheoretiker Ewald Hering schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zeigen konnte, nicht nur aufgrund des von den Gegenständen reflektierten Lichts, sondern teilweise auch aufgrund unseres Vorwissens wahrgenommen werden.26 Schließlich müsste der Repräsentationstheoretiker eine Strategie kennen, um auf die Abhängigkeit der Farbe eines Gegenstandes von seinem kulturellen Kontext zu reagieren.27 Wie diese Auflistung verschiedener Phänomene aus dem Bereich der Farbwahrnehmung deutlich macht, lässt sich der Gedanke der Repräsentation in der von Dretske vorgeschlagenen Fassung nicht ohne weiteres auf diesen Bereich beziehen. Aus heuristischen Gründen war bislang allerdings nur von den Erwiderungen eines fiktiven Repräsentationstheoretikers die Rede. Dretske ist mit seiner Lösung noch nicht zu Wort gekommen. Seit vor etwas mehr als zwanzig Jahren Repräsentationstheorien des Mentalen die Bühne der Philosophie des Geistes betreten haben, war es stets das Problem der Fehlrepräsentation, das die Anhänger jener Theorien beschäftigt hat. In seiner kürzesten Fassung lautet dieses Problem: Wie ist es innerhalb einer naturalistischen Erklärung des Mentalen – denn einer solchen fühlen sich die zeitgenössischen Repräsentationstheoretiker ver24

25 26 27

Vgl. u. a. Hering 1920, 24, 30; Küppers 1978/1988, 18-20; Hardin 1983, 808; 1990/1992, 599; 1997, 296. Vgl. Küppers 1978/1988, 18 f. Vgl. Hering 1920, 6-12. Vgl. Hardin 1983, 807. Hardin weist daraufhin, dass es keineswegs immer weißes Sonnenlicht sein muss, unter dem ein Gegenstand seine wirkliche Farbe zeigt. Die Wandbemalung mittelalterlicher Kirchen ist z. B. auf das Licht, welches durch die gefärbten Glasscheiben eindringt, abgestimmt worden. Tageslicht oder Kunstlicht würden die Farbe verfälschen. Die ‚richtigen‘ Farben wären nicht zu sehen.

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pflichtet – möglich, die normativen Größen von richtiger und falscher Repräsentation zu erklären. Ich werde an dieser Stelle nicht das Gesamtspektrum der zur Lösung dieses Problems gemachten Vorschläge diskutieren.28 Mir soll es lediglich den Ansatzpunkt liefern, um einen Zugang zu Dretskes Lösung der sich aus dem Phänomen der Metamerie für seine Repräsentationstheorie ergebenden Schwierigkeiten zu finden. Repräsentationsbeziehungen besitzen in den Augen der Anhänger repräsentationalistischer Ansätze die Form von kausalen Umkehrschlüssen. Mentale Repräsentationen bilden ihre Ursachen ab. Pferde verursachen nach dieser Doktrin auf Seiten eines kognitiven Systems mentale Repräsentationen von Pferden. Wie man jedoch aus dem Alltag weiß, müssen es nicht immer Pferde sein, die einen an Pferde denken lassen. Pferdeattrappen kommen dafür in Frage, aber auch Kühe, wenn man zu weit von ihnen entfernt ist, um deutlich ausmachen zu können, ob es sich um Kühe oder um Pferde handelt. Schließlich können auch Drogen im Spiel sein und jemandem ein Pferd vorgaukeln. Dabei ist jedes dieser drei Dinge auf seine Weise kausal für das Zustandekommen einer Pferd-Repräsentation verantwortlich, ohne darum von dieser Repräsentation repräsentiert zu werden. Aus den genannten Beispielen wird leicht deutlich, wie mögliche Integrationen falscher Repräsentationen in einen naturalistischen Erklärungsrahmen aussehen könnten. Einerseits lassen sich nämlich die nichtoptimalen Umstände für das Zustandekommen fehlerhafter Repräsentationen verantwortlich machen, andererseits aber auch eine Fehlfunktion des gesamten repräsentationalen Systems,29 wobei die zweite Option mehr Erfolg verspricht als die erste, die lediglich die Erklärung auf eine andere Ebene verschiebt. Immerhin liegt es ja nicht in der Natur der Bedingungen, dass diese optimal oder nicht-optimal sind. ‘Optimal‘ und ‘nicht-optimal‘ sind selbst wiederum normative Begriffe, die nicht weniger als der Begriff einer fehlerhaften Repräsentation einer Integration in einen naturalistischen Erklärungsrahmen bedürfen. Dretske entscheidet sich für die erste Strategie, allerdings nicht, um das Problem der Fehlrepräsentation zu lösen, sondern um auf die Schwierigkeiten, die dem von ihm vorgeschlagenen Modell mentaler Repräsentation aus dem Phänomen der Metamerie erwachsen, zu reagieren. Seiner Mei28 29

Ansatzweise geschieht das in Blume/Demmerling 1998, 229 ff. Vgl. Cummins 1989a, 24 ff.

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nung nach hat Metamerie etwas mit der Fehleranfälligkeit unseres visuellen Systems zu tun. Wiederum dienen ihm die Repräsentationsverhältnisse an einem Geschwindigkeitsmesser zur Veranschaulichung: Geschwindigkeitsmesser sind auf die Reifengröße der Fahrzeuge, in die man sie einbaut, abgestimmt. Nur bei Fahrzeugen mit einer bestimmten Reifengröße zeigen sie exakt die gefahrene Geschwindigkeit an. Baut man dagegen denselben Geschwindigkeitsmesser in Autos mit größeren oder kleineren Reifen ein, zeigt der Geschwindigkeitsmesser falsche Werte an. In Dretskes Worten: „Sobald wir einen Wagen haben, der mit einem solchen Gerät ausgerüstet ist, haben wir ein Geschwindigkeitsanalogon zur Metamerie. Es gibt eine Vielzahl von unterschiedlichen Geschwindigkeiten (tatsächlich unendlich viele), die eine Repräsentation von 125 km/h hervorrufen können: eine Geschwindigkeit von 125 km/h mit normalen Reifen, eine Geschwindigkeit von 100 km/h mit kleinen Reifen, eine Geschwindigkeit von 150 km/h mit großen Reifen usw. Wenn man anfinge, Reifen unterschiedlicher Größe zu benutzen, wäre dieses Gerät nicht mehr in der Lage, das zu tun, was seine Funktion ist – nämlich die Geschwindigkeit anzuzeigen.“30

Bei zu großen Reifen kann man den Angaben eines Tachos genauso wenig trauen wie bei zu kleinen Reifen. Der Tacho wäre unter diesen Bedingungen nicht mehr in der Lage, seine Funktion zu erfüllen. Das heißt aber nicht, so fährt Dretske in seinen Überlegungen fort, dass er damit seine ihm einmal übertragene Funktion der Geschwindigkeitsanzeige verlöre. „Es bedeutet lediglich, dass man zuweilen die Bedingungen feststellen muß, unter denen ein System für seine Aufgabe ausgewählt wurde, wenn man feststellen will, welche Funktion es hat. Für welchen Zweck es ausgewählt wurde – was daher seine Funktion ist – was es daher repräsentiert, hängt nämlich von den möglicherweise speziellen Bedingungen ab, die zu der Zeit, als es ausgewählt wurde, bestanden haben.“31

Auf Farben bezogen bedeutet das, dass Farben bzw. Farbempfindungen oder Qualia eigentlich schon verlässliche Indikatoren einer bestimmten Menge von Ursachen sind, zu denen sie in einer Kovarianzbeziehung stehen. Nur sind sie das eben nicht immer, sondern, folgt man Dretske, nur dann, wenn die Bedingungen der Wahrnehmung dieselben sind, die zu der Zeit, als unser visuelles System für seine Funktion ausgewählt wurde, bestanden haben. 30 31

Dretske 1995/1998, 98. Dretske 1995/1998, 98.

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„Urteile über die Funktion hängen davon ab, was ein System seiner Bestimmung nach tun soll, und was ein System seiner Bestimmung nach tun soll – was es demzufolge seiner Funktion nach tun soll – was es daher repräsentiert – kann man nicht immer daran erkennen, was es unter den vorliegenden Umständen gerade tut, selbst wenn man weiß, daß es das, was es gerade tut, auch tun soll. Es hängt außerdem davon ab, ob es das gerade unter solchen Umständen tut, die denen ähnlich sind, die zu seiner Auswahl geführt haben.“32

Letztlich gelangt Dretske damit selbst zu der Einsicht, dass sich das von ihm entwickelte Repräsentationsmodell nicht auf den Bereich der Wahrnehmung von Farben anwenden lässt. Farben bzw. Farbempfindungen stehen, wie sich aus Dretskes Argumentation ablesen lässt, nicht in einer Kovarianzbeziehung zu bestimmten Merkmalen externer Gegenstände, da man nicht annehmen kann, dass die Bedingungen, unter denen wir heute Farben wahrnehmen, mit denen identisch sind bzw. denjenigen ähneln, unter denen sich unser visuelles System (das der Gattung homo sapiens?) ursprünglich entwickelt hat. Erneut erweist sich der Gedanke der Repräsentation als fragwürdig. 3. Die Logik der Repräsentation und der Externalismus Ihrem Selbstverständnis nach sind Dretske und Tye wahrnehmungstheoretische Externalisten. Das rückt ihre Ansätze in die Nähe eines wahrnehmungstheoretischen Common Sense, wie ich ihn vertrete. Gleichsam als Reflex auf Putnams Slogan, “‘meanings‘ just ain‘t in the head”33 schreibt Tye “phenomenology ain‘t in the head”34 Die Qualia, mit denen wir uns konfrontiert sehen, wenn wir einen farbigen Gegenstand erblicken, sind seiner Meinung nach Merkmale externer Gegenstände. Laut Dretske handelt es sich bei ihnen um “erfahrene Eigenschaften”35 wahrgenommener Gegenstände. Meines Erachtens stimmt das. Dennoch wäre es voreilig, die wahrnehmungstheoretischen Konzeptionen beider Autoren mit alltagsrea-

32 33 34 35

Dretske 1995/1998, 99. Putnam 1975, 227. Tye 1995, 151. Dretske 1995/1998, 80.

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listischen Vorstellungen auf eine Stufe zu stellen.36 Denn neben dem Externalismus von Dretske und Tye steht ihr Repräsentationalismus. Fragt man, was den Qualia der Wahrnehmung als repräsentierten Eigenschaften auf der anderen Seiten der Repräsentationsbeziehung korrespondiert, erhält man sowohl von Dretske als auch von Tye die Antwort: Erfahrungen.37 Besagte Erfahrungen werden nun nicht wie noch bei Locke oder Descartes als innere Gegenstände, sondern als Zustände des Wahrnehmenden konzipiert.38 Ein roter Gegenstand versetzt also denjenigen, der diesen Gegenstand wahrnimmt, in den Zustand des Wahrnehmens oder Erfahrens eines roten Gegenstandes. Wenngleich Erfahrungen meiner oben durchgeführten Analyse zufolge nicht mit ihren Gegenständen – dem, wovon sie Erfahrungen sind – interagieren können, so stehen sie doch zumindest in einer Kovarianzbeziehung dazu – allerdings in einer solchen, die sich einer logischen Implikationsbeziehung verdankt und die insofern trivial ist. Um aber nicht den Anschein der Trivialität zu erwecken, vor allem aber, um Erfahrungen mit ihren Gegenständen in eine echte Repräsentationsbeziehung mit logisch verschiedenen Gliedern zu bringen, begeben sich Dretske und Tye auf die bekannten Pfade der Wahrnehmungstheorien von Locke und Descartes. Aus Tyes Sicht kann es nämlich nur eine Antwort auf die Frage nach dem Ort der Erfahrung geben: “Die Erfahrung, wenn sie überhaupt irgendwo ist, ist im Kopf.”39 Ihr Gegenstand dagegen ist draußen in der Welt. Dretske, bei dem es ebenfalls heißt: “Unsere Gedanken und Erfahrungen müssen im Kopf sein (oder wenigstens irgendwo im Körper)”,40 fügt dem noch hinzu, dass mentale Zustände ihre erklärende Funktion nur dann entfalten können, wenn sie sich im Innern des Systems befinden, dessen Verhalten sie erklären sollen.41 Als ob sich das Jucken im Kopf befinden müsste, um zu erklären, warum ich mich am Kopf kratze! 36

37 38

39 40 41

Diesen Fehler begeht Leopold Stubenberg in seinem Buch Consciousness and Qualia (Amsterdam/Philadelphia 1998), indem er Dretske und Tye als vollblütige Relokationalisten bezeichnet. Vgl. Stubenberg 1998, S. 157. Vgl. Dretske 1995/1998,40 u.ö. sowie Tye 1995, 135 f. Vgl. Dretske 1995/1998, 20 ff. sowie Tye 1995, 73. Beide Autoren folgen damit einer Analyse des Mentalen, wie sie etwa um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts aufkommt (vgl. Ducasse 1951, 250 f. sowie Smart 1959/1991, 173), die allerdings auch nicht unwidersprochen geblieben ist. Vgl. z. B. Jackson 1977. Tye 1998, 103. Dretske 1995/1998, 46. Dretske 1995/1998, 46.

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Dretske untermauert die These von der Innerlichkeit der Erfahrung mit dem bereits von Ryle kritisierten Argument,42 dass visuelle Erfahrungen mit dem Schließen der Augen aufhören und daher ihren Ort im Kopfe des Wahrnehmenden haben müssen.43 Eine Repräsentationstheorie des Mentalen fordert die Existenz zweier kausal miteinander interagierender Gegenstände. Dretske und Tye tragen dieser Forderung Rechnung, indem sie ein Innenreich von Erfahrungen postulieren. Der von ihnen vertretene Repräsentationalismus tritt damit aber in Widerspruch zu dem von beiden Autoren reklamierten Externalismus. Letzterer lokalisiert die sinnlichen Eigenschaften der Wahrnehmung auf Seiten des wahrgenommenen, physikalischen Gegenstandes. Der Gedanke der Repräsentation fordert dagegen, dass diese Eigenschaften durch eine zweite Menge davon verschiedener Eigenschaften repräsentiert werden. Beide Autoren setzen dafür den Begriff der Erfahrung ein. Um jedoch beiden Aspekten in Form einer externalistischen Repräsentationstheorie des Mentalen Rechnung zu tragen, bleibt dann Dretske und Tye keine andere Wahl, als Qualia an zwei verschiedenen Stellen ihrer Theorie auftreten zu lassen, nämlich einmal als die Eigenschaften, “mit denen die Dinge von der Erfahrung repräsentiert werden”, das andere Mal als “die qualitativen Aspekte der Erfahrung”,44 wie es bei Dretske sogar in ein und demselben Satz heißt und von denen Dretske dann auch noch annimmt, dass sie subjektiv und privat sind.45 Repräsentationalismus und Externalismus in Hinblick auf Wahrnehmung lassen sich nicht zusammen vertreten. Eine Synthese von wissenschaftlichem und alltäglichem Realismus scheint damit vorerst gescheitert. Der Repräsentationalismus selbst, der sich als eine von zwei Möglichkeiten des Rückzugs eröffnet, stößt mit seinen beiden Grundthesen der Kausalität von Wahrnehmung und Wahrgenommenem sowie der Kovarianz von Qualia und Merkmalen physikalischer Gegenstände seinerseits auf nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Daher spricht vieles für die Wahl der gegenteiligen Alternative: eines alltäglichen Realismus ohne Repräsentation.

42 43 44 45

Vgl. Ryle 1949/1969, 286. Vgl. Dretske 1995/1998, 46 sowie 1997/1998, 538. Dretske 1995/1998, 80. Vgl. Dretske 1995/1998, 80.

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Ludger Jansen

Dispositionen und ihre Realität

1. Einleitung Warum löst sich ein Zuckerwürfel in Wasser auf, eine Erbse aber nicht? Der Zucker, so eine möglich Antwort, ist eben wasserlöslich, die Erbse nicht. Warum zieht ein Magnet Büroklammern an, nicht aber Bleistifte? Weil der Magnet Eisen anziehen kann, aber nicht Holz und Graphit. Warum werden Hochspannungsisolatoren aus Keramik und nicht aus Metall gebaut? Weil Metall leitfähig ist, Keramik aber nicht. Und warum schlafe ich besser ein, wenn ich Baldriantropfen schlucke? Weil Baldrian eine beruhigende Wirkung hat. Alle diese Antworten haben etwas gemeinsam: Sie sind Erklärungsversuche. Und zwar versuchen sie, einen bestimmten Sachverhalt durch das Zu- oder Abschreiben bestimmter Fähigkeiten, bestimmter Eigenschaften, zu erklären. Solche Erklärungsversuche sind umstritten, aber oft werden sie sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft als Erklärungen akzeptiert. Die Eigenschaften, um die es in diesen Erklärungen geht, sind Dispositionen. Was sind Dispositionen? Vorläufig können wir sie als solche Eigenschaften charakterisieren, die ihrem Träger erlauben, eine bestimmte kausale Rolle zu spielen, die ihm also erlauben, etwas bestimmtes zu tun oder zu erleiden. Wird aufgrund des Vorhandenseins der Disposition eben dieses getan oder erlitten, wozu die Disposition ihren Träger befähigt, dann spricht man von der Manifestation einer Disposition: Löst der Zuckerwürfel sich im Wasser auf, manifestiert sich seine Wasserlöslichkeit. Leitet ein Metalldraht Strom, manifestiert sich seine Leitfähigkeit. Und wenn ich nach der Einnahme meiner Baldriantropfen einschlafe, manifestiert sich ihre beruhigende Kraft. Die Alltags- wie die Wissenschaftssprache enthält Dispositionsprädikate, mit denen wir Dispositionen einem Träger zuschreiben können. Sätze, in denen das geschieht, nenne ich Dispositionszuschreibungen. Es ist, wie gesagt, umstritten, ob Dispositionszuschreibungen als Erklärungen etwas taugen. Ich werde im folgenden unter anderem dafür argumentieren, dass Dis-

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positionen für solche Erklärungen nicht nur brauchbar, sondern sogar unverzichtbar sind. 2. Wie stellt sich das Realismusproblem für Dispositionen? Dispositionen sind spätestens seit der frühen Neuzeit umstritten. Es sind vor allem drei Vorwürfe, die gegen Dispositionen ins Feld geführt werden: (1) Dispositionen sind epistemisch unzugänglich oder „okkult“, da man ja stets nur ihre Manifestationen beobachten kann, nie die Dispositionen selbst. (2) Die unbeobachtbaren Dispositionen scheinen eine Art „Gespensterdasein“ neben den tatsächlich manifestierten und beobachtbaren Eigenschaften zu führen. (3) Dispositionen sind nutzlos und überflüssig: Sie liefern bloße Scheinerklärungen, an deren Stelle die Erklärungen der empirischen Wissenschaften treten müssen. Angesichts dieser Vorwürfe überrascht es, dass in der modernen Diskussion allgemein davon ausgegangen wird, dass Dispositionszuschreibungen wahr sein können. Niemand will heute alle Dispositionszuschreibungen für falsch erklären.1 Und auch eine Theorie, die Dispositionszuschreibungen als sinnvolle, aber nicht wahrheitsfähige sprachliche Einheiten ansieht, ist nicht umfassend ausgearbeitet worden.2 Alle im folgenden zu diskutierenden Positionen haben also die Annahme gemeinsam, dass Dispositionszuschreibungen wahrheitsfähig sind und dass einige Dispositionszuschreibungen tatsächlich wahre Aussagen sind.

1

2

In der frühen Neuzeit sind solche Positionen aber tatsächlich vertreten worden. Vgl. dazu Hutchinson 1991. Die Möglichkeit einer solchen Theorie wird von Mellor 1974, 168 angedeutet: Wenn man Dispositionszuschreibungen als Abkürzungen für kontrafaktische Konditionale versteht („löst sich auf, wenn es in Wasser gelegt wird“), kann man diese im Anschluss an Mackie 1962 als „condensed arguments“ verstehen, die selbst nicht wahr oder falsch, sondern nur gültig oder ungültig sind. Mackie selbst vertritt aber keine solche Theorie von Dispositionszuschreibungen; vgl. Mackie 1977. Zudem gibt es auch alternative Analysen kontrafaktischer Konditionale, die diese durchaus als wahrheitsfähige Aussagen ansehen; vgl. Lewis 1973.

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3. Können Dispositionszuschreibungen in nichttrivialer Weise wahr sein? Einige Philosophen sind aber immerhin so weit gegangen, alle Dispositionszuschreibungen zu Zeitpunkten, an denen die entsprechende Manifestation nicht vorliegt, für falsch zu erklären. Diese Position scheint zuerst im vierten Jahrhundert vor Christus eine Gruppe von Philosophen vertreten zu haben, die heute nicht mehr mit Sicherheit zu identifizieren ist.3 Aristoteles, der sich ausführlich mit dieser Position auseinandersetzt, nennt sie „die Megariker“: „Es gibt einige, wie zum Beispiel die Megariker (hoi Megarikoi), die sagen, daß etwas nur dann [etwas] vermag, wenn es dies tatsächlich tut (hotan energê monon dynasthai), wenn es aber [dies] nicht tut, dies nicht vermag (hotan de mê energê ou dynasthai); wie zum Beispiel jemand, der [gerade] kein Haus baut, auch nicht vermag, Häuser zu bauen, sondern nur derjenige, der ein Haus baut, zu der Zeit, zu der er ein Haus baut; entsprechend auch in den anderen [Fällen].“ (Met. IX.3, 1046b29-32; meine Übers.)

Die megarische Position wurde keineswegs nur in der Antike vertreten: Ein einflussreicher Vertreter einer megarischen Position im zwanzigsten Jahrhundert war Nicolai Hartmann mit seiner Lehre von der „Totalmöglichkeit“.4 Aristoteles bringt insgesamt vier Argumente gegen die Megariker vor. Sein erstes Argument ist, dass die Megariker nicht mehr sinnvoll über die gelernten Fähigkeiten etwa eines Handwerkers sprechen können. Denn für die Megariker ist nur derjenige vermögend zu bauen, der gerade baut. Damit aber nehmen sie sich die Möglichkeit, unter den vielen, die gerade nicht bauen, die Baumeister von denen zu unterscheiden, die die Baukunst nicht beherrschen. Aber nicht nur erworbene Fähigkeiten des Menschen, sondern auch die Dispositionen unbeseelter Dinge machen den Megarikern Probleme. Denn sinnenfällige Eigenschaften (etwa Farben, insofern sie Eigenschaften der 3

4

Vgl. dazu und zum Folgenden die ausführliche Diskussion in Jansen 2002, Kapitel 3. Vgl. Hartmann 1937, 1938. Hüntelmann 2000 bietet ein (leider sehr unkritisches) Referat von Hartmanns „Modalontologie“. Hartmann geht von der Überlegung aus, dass etwas nur dann möglich ist, wenn alle notwendigen Bedingungen vorliegen; dann sei es aber auch schon wirklich. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit Hartmann vgl. die kritische Studie von Seel 1982 (sowohl zu Hartmanns eigener Theorie als auch zu seiner Aristoteles-Interpretation).

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Dinge sind) sind Vermögen, im Wahrnehmenden gewisse Wahrnehmungen hervorzurufen (etwa Farben, insofern sie Qualia sind).5 Die Megariker müssten behaupten, dass diese sinnenfälligen Eigenschaften den Dingen nur dann zukämen, wenn sie wahrgenommen würden. Mithin wäre Protagoras’ Homo mensura-Satz eine (zumindest in Aristoteles’ und meinen Augen) unerwünschte idealistische Konsequenz der megarischen Lehre. Drittens würden Vermögen häufig und unmotiviert verloren gehen und erneut erworben werden. Ein Mensch würde erblinden, sobald er die Augen schließt und ebenso schnell von diesem körperlichen Mangel genesen, wenn er sie wieder öffnet. Denn Blindsein ist heißt ja nichts anderes, als „nicht über das Sehvermögen verfügen, obgleich es von Natur aus dazu geeignet ist und gerade auch zu diesem Zeitpunkt und in dieser Weise“ (1047a8-9). Wenn nun aber bei Nichtbetätigung des Sehvermögens sogleich auch das Vermögen selbst fehlen sollte, dann wären die Megariker auch verpflichtet zu sagen, dass man mit dem Schließen der Augen erblinde und mit dem Öffnen der Augen die Blindheit behoben werde. Offensichtlich ist es aber sinnvoll, zwischen Blindheit und vorübergehender Nichtbetätigung des Sehvermögens zu unterscheiden; dann aber muss die These der Megariker verworfen werden. Als stärksten Trumpf spielt Aristoteles schließlich sein letztes Argument aus. Da überhaupt das Fehlen eines Vermögens ein Unvermögen ist, „heben diese Thesen [der Megariker] Bewegung und Entstehung auf“ (1047a14), denn wenn alles, was nicht H-t, nicht zu H-en vermögend ist, ist alles, was nicht H-t, unvermögend zu H-en und wird daher nie H-en. Die Argumente des Aristoteles gegen die Megariker sind keine zwingenden Widerlegungen der bekämpften These, weil der Gegner immer noch die Möglichkeit hat, die absurde Konsequenz tatsächlich zu akzeptieren, selbst wenn sie etwa für Aristoteles klarerweise unakzeptabel ist, wie es beispielsweise beim Leugnen von Bewegung und Veränderung der Fall ist. Es handelt sich jeweils um sogenannte Konvenienz-Argumente: Sie zeigen, welchen denkökonomischen Nutzen das Akzeptieren einer von ihren Manifestationen unabhängige Realität von Dispositionen mit sich bringt und welche Kosten in Form des notwendigen Einwilligens in absurde Konsequenzen das Leugnen dieser Realität mit sich bringt.

5

Diese Unterscheidung führt Aristoteles in De Anima III ausführlich aus.

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4. Ryle: Dispositionen als „inference tickets“ Im zwanzigsten Jahrhundert war die von Gilbert Ryle vorgeschlagene Analyse von Aussagen mit Dispositionsprädikaten sehr einflussreich. Nach Ryles Analyse können Aussagen über Dispositionen zwar auch dann wahr sein, wenn die entsprechende Manifestation nicht vorliegt. Aber für Ryle sind Aussagen mit Dispositionsprädikaten keine Beschreibung von Zuständen in der Welt: Nach Ryles Analyse schreibt eine Dispositionsprädikation ihrem Subjekt gerade keine dispositionale Eigenschaft zu. Eine solche Aussage ist vielmehr als eine „SchlussFahrkarte“ zu verstehen („inference ticket“; dt. 160), die einem erlaubt, in bestimmten Situationen bestimmte Schlüsse zu ziehen: „Die Aussage, daß dieses Stück Zucker löslich ist, heißt, daß es sich auflösen würde, wenn es in Wasser getaucht würde, gleichgültig wo und wann und in welche Wassermenge. Die Aussage, daß dieser Schläfer Französisch kann, heißt, daß er, wenn er z. B. auf französisch angeredet wird oder wenn ihm eine französische Zeitung vorgelegt wird, sinngemäß auf französisch antwortet, sinngemäß handelt oder richtig in seine eigene Sprache übersetzt. [...] Dispositionale Behauptungen sind nicht Berichte über beobachtete oder beobachtbare Sachlagen, aber auch nicht über unbeobachtete oder unbeobachtbare Sachlagen.“ (Ryle 1949, 123-125; dt. 164-166)

Ryles These lautet also: Dispositionsbehauptungen sind nichts anderes als Schluss-Fahrkarten. Was Ryle mit dieser „Nichts-anderes-als“-These tut, ist die Realität von Dispositionen zu leugnen. Für Ryle sind dispositionale Aussagen abgekürzte Redeweisen über hypothetische Ereignisse in Situationstypen. Diese Aussagen erlauben einem dann, wenn eine Situation zu einem solchen Situationstyp gehört, auf das Stattfinden eines entsprechenden Ereignisses zu schließen. Ryle zufolge schreibt also beispielsweise die Aussage „Der Zuckerwürfel Zucki ist wasserlöslich“6 keineswegs einem bestimmten Zuckerwürfel eine Eigenschaft zu, sondern bedeutet soviel wie „Der Zuckerwürfel Zucki löst sich auf, wenn er in (ausreichend7) Wasser gelegt wird“. 6

Um hier Probleme mit Eigenschaftszuschreibungen zu natürlichen Arten zu vermeiden, verwende ich den Eigennamen „Zucki“, um über einen ganz bestimmten Zuckerwürfel reden zu können.

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Mit Hilfe dieser Paraphrase als Obersatz kann man gemeinsam mit dem Untersatz „Zucki wird um 12 Uhr in Wasser gelegt“ darauf schließen, dass Zucki sich kurz nach 12 Uhr auflösen wird. Entsprechende Überlegungen sind auch auf menschliche Fähigkeiten übertragbar, wie Ryles Beispiel des die französische Sprache beherrschenden Herrn Müller zeigt: „[...] jemand, der herausgefunden hat, daß Müller ausgezeichnet Französisch kann, braucht keinen weiteren Fahrschein, um ihm den Schluß aus der Tatsache, daß er ein französiches Telegramm gelesen hat, auf die Tatsache, daß er es verstanden hat, zu erlauben. Wissen, daß Müller Französisch kann, heißt: im Besitz dieses Fahrscheins sein. Und erwarten, daß er dieses Telegramm versteht, heißt: damit fahren.“ (Ryle 1949, 125; dt. 165-166)

Für Ryle ist also weder „Zucki ist wasserlöslich“ noch „Müller beherrscht die französische Sprache“ die Zuschreibung einer Eigenschaft. Ryle betrachtet beide Sätze als zusammenfassende Berichte darüber, was Zucki bzw. Müller in hypothetischen Situationen tun würden. Ist es aber sinnvoll anzunehmen, dass dies mit den Eigenschaften, die Zucki und Müller haben, nichts zu tun hat? Ryle zufolge können Dispositionsaussagen wahr oder falsch sein. Dispositionsaussagen können ihren Wahrheitswert nun aber ändern: Es ist möglich, dass ein Dispositionsprädikat einem Ding zu einem Zeitpunkt zukommt, zu einem anderen Zeitpunkt aber nicht. Es ist vorstellbar, dass ein Glas mit einem bestimmten chemischen Verfahren so behandelt wird, dass es in hypothetischen Situationen ein ganz anderes Verhalten zeigt als vor dieser Behandlung: Es würde nicht mehr zerbrechen, wenn man es fallen lässt.8 Umgekehrt können elastische Dinge tiefgefroren werden: Diese Dinge würden nun zerbrechen, wenn man auf sie schlagen würde. Ontologisch gesprochen würden wir diese Phänomene so beschreiben: Dispositionen können erworben werden und auch verloren gehen. Herr Müller hat Französisch irgendwann einmal gelernt und kann seine Sprachkenntnisse auch wieder vergessen. Und es ist sogar vorstellbar, dass Zucki durch eine bestimmte Art der Bestrahlung seine Fähigkeit verliert, sich in 7

8

Auf die Notwendigkeit einer solchen Ergänzung macht Mellor 1974, 159 Anm. 7 aufmerksam. Vgl. Mellor 1974, Mackie 1973.

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Wasser aufzulösen. Ryle integriert die Veränderbarkeit von Dispositionen dadurch in seine Redeweise, dass er für einige der „Schluss-Fahrkarten“ nur eine begrenzt Gültigkeit zulässt. Im Fahrkarten-Bild heißt dies: Es gibt Tages-, Wochen- und Dauerfahrkarten (1949, 125, dt. 166). Was also der Realist beschreibt als den Erwerb oder den Verlust einer dispositionalen Eigenschaft, das beschreibt Ryle als den Wahrheitswert-Wechsel eines Konditionals. Beide Ansichten implizieren dieselben Beobachtungssätze. Aber Ryles Reparaturversuch bleibt unbefriedigend. Zunächst besteht bei Konditionalanalysen stets die Gefahr einer Trivialisierung durch ein stets falsches Antezedens, das bereits hinreicht für die Wahrheit des Konditionals: Was ist, wenn der hypothetische Situationstyp nie instantiiert wird? Bzw. wenn er in der Gültigkeitszeit des SchlussFahrscheins nicht instantiiert wird? Wenn also gar kein Zug fährt, den man mit dem Fahrschein benutzen könnte? Die schnelle Antwort auf den Trivialisierungs-Einwand ist die, dass es sich eben nicht um ein wahrheitsfunktionales Konditional, sondern um ein kontrafaktisches Konditional handelt. Das ist auch gar keine schlechte Antwort, doch überschreitet man damit natürlich die Grenzen gerade desjenigen Empirismus, der die ontologische Zurückhaltung bei den Dispositionen motiviert hatte. Man fragt sich aber vor allem: Warum sollte das Konditional urplötzlich seinen Wahrheitswert wechseln? Gibt es dafür Anlässe, Gründe, Ursachen? Und: Woher wissen wir, wie lange eine „Schlussfahrkarte“ gültig ist? Wann genau wechselt das Konditional seinen Wahrheitswert? Gibt es Kriterien dafür, wann man den lizenzierten Schluss nicht mehr durchführen darf? Oder ist diese Frage gar sinnlos? Im Rahmen einer realistischen Dispositionentheorie können solche Fragen eine Antwort finden. Dann besteht die Wahrheit einer dispositionalen Aussage eben nicht in „nichts anderem als“ der Wahrheit eines Konditionals. Vielmehr beruhen sowohl die Wahrheit der Dispositionszuschreibung als auch die Wahrheit des entsprechenden kontrafaktischen Konditionals auf dem Vorliegen einer bestimmten Disposition. Diese Disposition kann erworben werden und verloren gehen wie andere Eigenschaften auch; und mit dem Wegfall ihres „Wahrmachers“ wird natürlich die entsprechende Dispositionszuschreibung falsch. Erwerb und Verlust von Dispositionen sind Ereignisse, die – wie andere Ereignisse auch – Ursachen und Wirkungen haben. Kausalerklärungen von Wahrheitswertwechseln bei dispositionalen Aussagen sind daher innerhalb des realistischen Rahmens problem-

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los möglich. Da innerhalb des realistischen Rahmens Erwerb und Verlust von Dispositionen tatsächlich vorkommende Ereignisse sind, bereitet es auch keine begrifflichen Probleme, diese Ereignisse zu datieren; der Realist kann also durchaus ein Kriterium dafür angeben, wann man den lizenzierten Schluss nicht mehr durchführen darf: Der Schluss ist nur solange erlaubt, wie die Disposition vorliegt. Nicht zuletzt kann der Realist natürlich auch erklären, wie sich das zerbrechliche und das unzerbrechliche Glas voneinander unterscheiden, obwohl sie augenfällig gleich zu sein scheinen: Ein Glas besitzt die Disposition, zerbrechlich zu sein, während das andere Glas unzerbrechlich ist. Mehr noch: Der Realist kann fortfahren und zu erklären versuchen, warum das eine Glas zerbrechlich ist, indem er auf seine mikrophysikalischen Strukturelemente und deren Dispositionen verweist. Auf diese Weise kann der Realist ein explikatives Netz aus Eigenschaftszuschreibungen knüpfen. Ein weiteres Problem einer antirealistischen Dispositionen-Auffassung ist, dass sie schnell zu einer idealistischen Position führt.9 Wenn man annimmt, dass alles Physikalische nur dispositional charakterisiert werden kann,10 Dispositionen „nichts anderes als“ hypothetische Ereignisse in hypothetischen Situationen sind, dann stellt sich die Frage, was dann überhaupt real ist. Das Physikalische ist es dann offensichtlich nicht. Als tatsächliche Ereignisse wären nur unsere Sinneswahrnehmungen gegeben; diese bildeten dann das allein Reale der Welt. Denn wenn das Physikalische tatsächlich nur dispositional beschreibbar ist, dann ist es für jemanden mit Ryles Position ja nicht real, sondern besteht lediglich in der Wahrheit bestimmter (möglicherweise kontrafaktischer) Konditionalsätze. Einiges spricht also dafür, Dispositionsaussagen als Zuschreibungen von Eigenschaften anzusehen. Nun ist es nicht ausreichend, zuzugeben, dass Dispositionen Eigenschaften sind. Man muss zusätzlich fordern, dass sie extensional verschieden sind von ihren Manifestationen, wie die Diskussion der megarischen Position im letzten Abschnitt gezeigt hat. 5. Spielarten des Dispositionen-Realismus Das Ergebnis der bisherigen Überlegungen ist also: Wenn man davon ausgeht, dass Dispositionszuschreibungen wahr oder falsch sein können, 9 10

Vgl. dazu Robinson 1982. Vgl. dazu die Fußnoten 13 und 23.

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dann ist es auch sinnvoll, dispositionale Eigenschaften (oder kurz: Dispositionen) als „Wahrmacher“ dieser Zuschreibungen anzunehmen. Damit ist aber noch nichts darüber entschieden, welchen genauen ontologischen Status man Dispositionen zuschreiben möchte und wie sich diese zu den nichtdispositionalen Eigenschaften (den sogenannten kategorialen Eigenschaften) verhalten. Wer Dispositionen auf ‚kleiner Flamme‘ halten möchte, könnte folgende Position vorschlagen: (KM)

Es gibt keine eigenständige ontologische Kategorie der dispositionalen Eigenschaften. Vielmehr sind Dispositionszuschreibungen nur eine vereinfachte Art und Weise, komplexe kategoriale Eigenschaften zuzuschreiben. Im fortgeschrittenen Zustand wird uns die Wissenschaft in die Lage versetzen, Dispositionsprädikate in komplexe Prädikate für kategoriale Eigenschaften zu übersetzen und dadurch aus der Sprache der Wissenschaft zu eliminieren.

In Analogie zur Philosophie des Geistes, in der ja monistische und dualistische Theorien unterschieden werden, kann diese Position als kategorialer Monismus bezeichnet werden.11 Die skizzierte Position vertritt einen Reduktionismus: Dispositionszuschreibungen können in Zuschreibungen komplexer kategorialer Eigenschaften übersetzt werden. Dispositionen gibt es dann zwar, aber sie sind nichts anderes als komplexe kategoriale Eigenschaften; das Sein von Dispositionen ist dann derivativ und leitet sich vom Sein der entsprechenden kategorialen Eigenschaften her. Man kann davon sprechen, dass diese kategorialen Eigenschaften eine bestimmte Disposition realisieren, so wie beispielsweise eine bestimmte molekulare Struktur die Wasserlöslichkeit von Zucker realisiert. Die realisierende kategoriale Eigenschaft nennt man auch die Basis einer Disposition. Die Übersetzbarkeitsthese verlangt, dass Arten von Dispositionen bestimmten Arten von (komplexen) kategorialen Eigenschaften entsprechen, dass also eine type-type identity vorliegt. Es gibt aber gute Gründe, die gegen eine solche Identität von Eigenschaftstypen sprechen. Erstens kann ein und dieselbe Disposition durch mehrere kategoriale Basen realisiert wer11

Die Analogie zur Philosophie des Geistes ist sehr schön von Mumford 1998 ausgearbeitet worden.

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den: Wasserlöslichkeit kann durch ganz andere Molekülstrukturen realisiert sein als die Struktur von Zuckermolekülen. Die Disposition, rot zu erscheinen, kann durch eine Oberfläche realisiert werden, die nur rotes Licht reflektiert, oder aber auf ganz andere Weise durch eine Oberfläche, die genau das Licht der Komplementärfarbe Grün absorbiert. Zweitens gilt die Entsprechung von einer kategorialen Eigenschaft (oder mehrerer derselben) und einer Disposition nur bei gleichbleibenden Naturgesetzen. Man kann sich durchaus eine Welt vorstellen, in der andere Naturgesetze herrschen und in der Moleküle mit der Struktur von Zucker sich nicht in Flüssigkeiten mit der Struktur von Wasser auflösen. Man kann daher Dispositionszuschreibungen nicht in bedeutungsgleiche Zuschreibungen kategorialer Eigenschaften übersetzen. Ein kategorialer Monismus ist deshalb nicht haltbar. Dispositionen muss eine stärkere Position zugebilligt werden. Eine Möglichkeit ist ein Dualismus von kategorialen und dispositionalen Eigenschaften: (D) Es gibt zwei distinkte Arten von Eigenschaften, kategoriale und dispositionale. Auch innerhalb eines solchen Eigenschaftsdualismus kann man die Rolle der Dispositionen relativ klein halten, wenn man fordert, dass Vorkommnisse von dispositionalen Eigenschaften stets durch Vorkommnisse kategorialer Eigenschaften (also ihrer Basis) realisiert werden. Diese Forderung ist schwächer als die Übersetzbarkeitsthese des kategorialen Monisten. Nicht mehr zwischen Arten von Eigenschaften aus den beiden Kategorien muss es eine Entsprechung geben, sondern nur zwischen einzelnen Vorkommnissen von Eigenschaften, wobei unterschiedliche Vorkommnisse einer Art von Dispositionen Vorkommnissen verschiedener Arten von kategorialen Eigenschaften entsprechen können. Ein solcher schwacher Dualismus verpflichtet also nur zu einer token-token-Entsprechung. Als eine Spielart eines solchen schwachen Dualismus begegnet oft der sogenannte Funktionalismus, der Dispositionen als funktional beschriebene Eigenschaften zweiter Stufe ansieht: Eine Disposition ist dem Funktionalismus zufolge das Haben einer kategorialen Eigenschaft (einer Eigenschaft „erster Stufe“) mit einer bestimmten kausalen Rolle. Vertreter einer

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solchen Position sprechen oft davon, dass kategoriale Eigenschaften Dispositionen „tragen“ oder „mit sich bringen“.12 Ein schwacher Dualismus – und daher auch der Funktionalismus – ist aber mit folgendem Problem konfrontiert: Kausale Relevanz billigt der schwache Dualist nur den kategorialen Eigenschaften zu. Der Funktionalist beispielsweise beschreibt eine Disposition ja ausdrücklich unter Verweis auf die kausale Rolle der kategorialen Eigenschaft, während es nicht zu sehen ist, wie eine Disposition als Eigenschaft zweiter Stufe ihrem Träger eine kausale Relevanz verleihen kann, die über die kausale Relevanz der Eigenschaft erster Stufe hinausgeht. Dispositionale Eigenschaften erscheinen so als bloße Epiphänomene, als nutzlose Anhängsel der kategorialen Eigenschaften. Der schwache Dualist kann also nicht verständlich machen, warum er nicht gleich völlig auf Dispositionen verzichtet. Mit diesem Problem konfrontiert, kann man natürlich den schwachen Dualismus durch einen starken Dualismus ersetzen, der auch Dispositionen kausale Relevanz zubilligt. Ein starker Dualist müsste allerdings einerseits erklären, wie die offensichtliche Harmonie zwischen den kausalen Rollen kategorialer und dispositionaler Eigenschaften einerseits und den Naturgesetzen andererseits zustande kommt. Andererseits stellt sich für den starken Dualisten das Problem der Überdeterminierung: Zucker würde sich etwa aufgrund seiner Molekülstruktur und aufgrund seiner Wasserlöslichkeit in Wasser lösen. Eine andere Möglichkeit ist es, statt eines kategorialen einen dispositionalen Monismus zu vertreten: (DM) Alle Eigenschaften sind dispositional. Einige Philosophen haben tatsächlich für einen solchen dispositionalen Monismus argumentiert.13 Ich möchte hier allerdings eine dritte Alternative vorschlagen, einen neutralen Monismus: 12

13

Z. B. Cartwright 1989, 141: „the property of being an aspirin carries with it the capacity to cure headaches.“ Vertreter des Funktionalismus sind z. B. Prior/Pargetter/Jackson 1982, Prior 1985, Lewis 1986. McLaughlin 1995, 123 bezeichnet den Funktionalismus sogar als „the leading theory of dispositions today“. Nicht alle funktionalistischen Ansätze sind einem Eigenschaftsdualismus verpflichtet; vgl. Mumford 1998, Kap. 9. Zum Beispiel Popper 1957, 70: „[...] all physical (and psychological) properties are dispositional.“ Vgl. auch Popper 1990 und (mit einer nicht ganz so starken These) Goodman 41983, 40-41. Dazu kritisch Averill 1990.

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(NM) Eigenschaften als solche sind weder dispositional noch kategorial. Für den neutralen Monisten ist die Dichotomie dispositional/kategorial keine Einteilung auf der Ebene der Eigenschaften selbst, sondern auf der Ebene der sprachlichen Ausdrücke, die wir für Eigenschaften verwenden. Es sind Beschreibungen für Eigenschaften, die dispositional oder kategorial sind. Daher zerfallen Eigenschaften auch nicht in zwei distinkte Bereiche; vielmehr kann auf Eigenschaften sowohl mit dispositionalen als auch mit kategorialen Beschreibungen verwiesen werden. Was unterscheidet nun eine dispositionale Eigenschaftsbeschreibung von einer kategorialen Eigenschaftsbeschreibung? Dies wird am deutlichsten, wenn man sich überlegt, auf welche Eigenschaften eine Eigenschaftsbeschreibung in unterschiedlichen möglichen Welten verweist.14 Eine dispositionale Eigenschaftsbeschreibung beschreibt eine Eigenschaft durch ihre kausale Rolle. Was auch immer (wenn überhaupt etwas) in einer möglichen Welt die von einer dispositionalen Eigenschaftsbeschreibung beschriebene Eigenschaft instantiiert, besitzt eine Eigenschaft mit ebendieser kausalen Rolle. Eine kategoriale Eigenschaftsbeschreibung hingegen legt sich nicht auf eine bestimmte kausale Rolle fest, sondern zum Beispiel auf die innere Struktur eines Dinges, wie es in der aktualen Welt ist. Was auch immer (wenn überhaupt etwas) in einer möglichen Welt die von einer kategorialen Eigenschaftsbeschreibung beschriebene Eigenschaft instantiiert, besitzt ebendiese innere Struktur, ohne dass damit irgend etwas über die kausale Rolle dieser Eigenschaft ausgesagt wäre.15 Wenn zum Beispiel Zucker und Wasser in allen möglichen Welten die gleichen Molekülstrukturen haben wie in der aktualen Welt, dann heißt dies noch lange nicht, dass Zucker in all diesen Welten auch wasserlöslich ist. Denn in einer möglichen Welt, die von der unseren hinreichend verschieden ist, können andere Naturgesetze gelten, so dass in dieser Welt Zucker trotz oder gerade wegen seiner Molekülstruktur nicht wasserlöslich 14

15

Ein solches Gedankenexperiment verpflichtet keineswegs zu der Annahme, daß es tatsächlich mehrere oder gar unendlich viele Welten gibt: Vielmehr sind diese Welten bloß „möglich“, nicht aber wirklich. Vgl. Kripke 1980. Vgl. Mumford 1998, 77. Die unterschiedlichen modalen Eigenschaften beobachtet auch Prior 1985, 64-65, die mit ihnen aber eine Unterscheidung von Eigenschaften, nicht von Eigenschaftsbezeichnungen etablieren möchte.

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ist.16 Hingegen sind natürlich in jeder Welt die jeweiligen Träger der Eigenschaft Wasserlöslichkeit wasserlöslich. Kategoriale und dispositionale Eigenschaftsbezeichnungen unterscheiden sich also deutlich hinsichtlich ihrer Referenzklassen in verschiedenen möglichen Welten. Wenn die Dichotomie dispositional/kategorial nun nicht mehr zwei distinkte Kategorien von Eigenschaften konstituiert, dann kann der neutrale Monist auch nicht länger im bisherigen Sinn von „dispositionalen Eigenschaften“ im Unterschied zu „kategorialen Eigenschaften“ reden. Wenn im folgenden dennoch von solchen die Rede ist, dann meine ich damit stets „Eigenschaft, auf die mit einer dispositionalen Eigenschaftsbeschreibung referiert wird“ bzw. „Eigenschaft, auf die mit einer kategorialen Eigenschaftsbeschreibung referiert wird“. Der neutrale Monismus hat ein wichtiges erkenntnistheoretisches Korollar: Eine dispositionale Beschreibung liefert implizit eine Messmethode mit, mit der man feststellen kann, ob die entsprechende Eigenschaft vorliegt. Wasserlöslichkeit kann eben dadurch getestet werden, dass man den mutmaßlichen Träger dieser Eigenschaft mit Wasser in Berührung bringt. Natürlich löst sich nun zum Beispiel Zucker nicht unter allen Bedingungen in Wasser auf.17 Dann zum Beispiel nicht, wenn bereits eine bestimmte Menge Zucker im Wasser gelöst ist. Umgekehrt ist Gummi unter normalen Umständen biegsam, bei tieferen Temperaturen aber ist auch Gummi zerbrechlich. Welche dieser Bedingungen soll nun aber für den vorgesehenen Dispositionen-Test gelten? Hier sind vor allem zwei Antworten vorgeschlagen worden. Die erste Antwort schlägt vor, das Zuschreiben von Dispositionen auf Normalbedingungen zu beschränken.18 Dann ergibt sich je16

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Ähnlich Mumford 1998, 91; vgl. dazu aber die Kritik in meiner Rezension, Jansen 2000. Diese Behauptung wird oft auch so formuliert: „Zucker ist nicht unter allen Bedingungen wasserlöslich.“ Dieser Satz ist aber in entscheidender Weise zweideutig. In seiner ersten Lesart ist er mit der Behauptung im Text äquivalent: Die Manifestation zeigt sich nur unter bestimmten Bedingungen. In seiner zweiten Lesart besagt er aber, dass Zucker die Eigenschaft der Wasserlöslichkeit nicht unter allen Bedingungen besitzt. Diese beiden Lesarten sind sauber auseinander zu halten: Es ist etwas anderes, ob ein Ding eine Disposition unter bestimmten Bedingungen manifestiert oder ob es sie nur unter bestimmten Bedingungen besitzt. Bedingungen der Manifestation und Bedingungen des Vorliegens einer Disposition sind nicht dasselbe; werden sie miteinander identifiziert, kommt dies einem Rückfall in die megarische Position gleich. Einer der interessantesten Vorschläge in dieser Richtung stammt von Spohn 1997.

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doch das Problem, dass Dispositionen für das Verhalten unter Normalbedingungen uns gar nichts sagen über das Verhalten ihrer Träger in extremeren Bedingungen. Mein Computer funktioniert bei Zimmertemperatur; funktioniert er aber auch, wenn ich ihn zu einer Arktisexpedition mitnehme? Die Dichtung hält bei normalem Außendruck; hält sie aber auch, wenn sie sich im Vakuum des Weltraums befindet? Es wäre seltsam, wenn das Verhalten eines Dinges nur in Normalbedingungen von seinen Dispositionen bestimmt wird, nicht aber unter anderen Bedingungen. Ich sympathisiere daher mit der zweiten Antwort: Dispositionsprädikate sind unvollständige Prädikate.19 Statt zu sagen „Zucker ist wasserlöslich“, müsste ich eigentlich sagen: „Zucker ist wasserlöslich-unter-den-Bedingungen-B.“20 Auf diese Weise fließen die unterschiedlichen Randbedingungen in eine genauere Beschreibungen der Dispositionen und damit in die jeweiligen Testbedingungen ein. Und so liefert jede Dispositionszuschreibung ihre Verifikationsmethode gleich mit.21 Eine Disposition ist also keineswegs eine qualitas occulta.22 Auch wenn ich den Unterschied zwischen Dispositionen und kategorialen Eigenschaften auf der Ebene der Beschreibungen gezogen habe, kann jetzt in neuer Form die Frage gestellt werden, ob nun Dispositionen oder 19

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Vgl. Prior 1985, 8-9. Andere Autoren wie Mumford 1998, 89-90 versuchen die Unvollständigkeit zu umgehen, indem sie die Bedingungen mit dem Kontext der Prädikation variieren lassen. Aber erstens wollen wir auch in ein und demselben Kontext über Dispositionen für Verhalten unter unterschiedlichen Bedingungen sprechen. Und zweitens ist dies eher eine Antwort auf die (wichtige) sprachphilosophische Frage, wie wir unvollständige natürlichsprachliche Prädikationen verstehen, nicht aber eine Antwort auf die ontologische Frage, welche Dispositionen denn nun ein Ding hat. Die Bindestriche machen noch einmal deutlich, dass es um Manifestationsbedingungen geht, nicht um Bedingungen für das Vorliegen der Disposition. Die Berücksichtigung der Manifestationsbedingungen vermag auch, die von Martin 1994 und Bird 1998 vorgebrachten Probleme („finkish dispositions“ und „antidotes“) zu lösen. Vgl. Lewis 1997, Gunderson 2000, Malzkorn 2000, Mellor 2000. Sehr viel komplizierter sind die Überprüfungen bei solchen Dispositionen, die ihre Manifestation nicht sicher, sondern nur wahrscheinlich machen. Die Zuschreibung einer solchen Disposition kann nur aufgrund einer Vielzahl von Beobachtungen getestet werden; für verschiedene Vorgehensweisen vgl. Cartwright 1989. Zum Okkultismus-Vorwurf vgl. Hutchinson 1982.

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kategoriale Eigenschaften (bzw. dispositonale oder kategoriale Eigenschaftsbeschreibungen) grundlegender sind. Der Standardfall ist wohl, dass ein Eigenschaftsvorkommnis sowohl dispositional als auch kategorial beschrieben werden kann. Schwer vorstellbar ist es, dass ein Eigenschaftsvorkommnis zwar kategorial, nicht aber dispositional beschrieben werden kann: Dafür müsste dieses Eigenschaftsvorkommnis kausal völlig irrelevant sein; und somit könnten wir weder empirische noch theoretische Gründe haben, überhaupt seine Existenz anzunehmen. Andererseits gibt es immer wieder den Vorschlag, die physikalischen Grundkräfte als solche Eigenschaften anzusehen, die zwar dispositional, aber nicht kategorial beschreibbar sind.23 Dieser Vorschlag ist heftig umstritten; akzeptiert man ihn aber, dann ist es klar, dass dispositionale Eigenschaftsbeschreibungen die grundlegenderen sind. 6. Dispositionszuschreibungen und wissenschaftliche Erklärungen Ich habe diesen Beitrag mit einigen Beispielen für dispositionale Erklärungen begonnen und dabei angemerkt, dass die Erklärungskraft dispositionaler Erklärungen durchaus umstritten ist. Nachdem bisher die Frage diskutiert wurde, welchen ontologischen Status Dispositionen haben, gilt es nun, auf die explanatorische Rolle von Dispositionen zurückzukommen. Einer der berüchtigtsten Einwände führt sich auf eine kleine Szene in Molières Komödie „Der eingebildete Kranke“ zurück. Dort findet sich die folgende kleine Satire auf ein medizinisches Examen: „[Der zu prüfende] Bakkalaureus: Ich bin von dem gelehrten Doktor gefragt worden nach der Ursache und dem Grund, warum Opium schlafen macht. Darauf antworte ich: Weil in ihm eine einschläfernde Kraft (virtus dormitiva) ist, deren Natur es ist, die Sinne einzuschläfern. Chorus [der examinierenden Doktoren]: Sehr gut, sehr gut so zu antworten. Würdig, würdig ist er, einzutreten in unseren gelehrten Lehrkörper.“24 23 24

Vgl. z. B. Mumford 1998, 233-235 im Anschluss an Davis 1995. J.-B. Molière, La Malade Imaginaire, Drittes Zwischenspiel: „Bachelierus: Mihi a docto Doctore / Domandatur causam et rationem quare / Opium facit dormire: / A quoi respondeo, / Quia est in eo / Virtus dormitiva, / Cujus est natura / Sensus assoupire. Chorus: Bene, bene, bene, bene, respondere. Dignus, dignus est entrare / In nostro docto corpore.“ (zit. nach Hutchinson 1991, 245) Meine Übersetzung berücksichtigt nicht, dass Molière seine Figuren ein wahres Küchenlatein mit aus dem Französichen entlehnten Wörtern („a quoi“, „assoupire“) sprechen lässt. Zum historischen Hintergrund der Stelle vgl. Hutchinson 1991, der sehr schön zeigt, dass es

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Molières Witz auf Kosten der medizinischen Fakultät ist eindeutig: Der Verweis auf eine einschläfernde Disposition des Opiums ist keine informative Antwort auf die Frage, „warum Opium schlafen macht“. Wird ein Prüfungskandidat, der eine solche Antwort gibt, auch noch gelobt, dann spricht das nicht für die wissenschaftlichen Standards dieser Disziplin. Einige Philosophen haben Molières Witz zu einem Argument verallgemeinert: Sie behaupten, alle Erklärungsversuche, die auf Dispositionen zurückgreifen, seien – wie die virtus dormitiva-Antwort des Bakkalaureus – uninformativ und ohne jede Erklärungskraft.25 Dem ist nun aber nicht so. Denn die dem Prüfling bei Molière vorgelegte Frage ist ja: (F1) Warum macht Opium schlafen? Es wird also nicht nur präsupponiert, dass man nach der Einnahme von Opium einschläft, sondern auch, dass das Opium dabei ein kausal relevanter Faktor ist. Die entsprechende Disposition ist also bereits eine Präsupposition der Frage, daher ist die Antwort uninformativ. Wäre der Prüfling aber gefragt worden: (F2) Warum schläft jemand ein, nachdem er Opium eingenommen hat? dann wäre der Verweis auf eine virtus dormitiva des Opiums durchaus eine gute Antwort. Denn im Gegensatz zu (F1) präsupponiert die Frage (F2) keineswegs, dass dem Opium die Rolle des Schlafauslösers zukommt: Der Schlaf könnte ebenso gut von der Flüssigkeit ausgelöst worden sein, in der das Opium aufgelöst worden ist oder von der Schluckbewegung, die zu seiner Einnahme nötig ist oder irgendwelchen weiteren Faktoren, die die Einnahme des Opiums begleiten. Hier ist die Antwort des Bakkalaureus durchaus angebracht: Es ist in der Tat eine Eigenschaft des Opiums, seine virtus dormitiva, die den Schlaf herbeiführt.26 Viele Philosophen, die dispositionale Erklärungen ablehnen, haben ein ganz bestimmtes Gegenmodell für wissenschaftliche Erklärungen vor Au-

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bei der Diskussion um „virtutes“ und „qualitates“ in der frühen Neuzeit nicht nur um methodologische sondern auch um wichtige inhaltliche Fragen geht. Vgl. Armstrong 1973, 16, Mackie 1973, 121 und 1977. Belege von Autoren der frühen Neuzeit bei Hutchinson 1991, 272 Anm. 3. Vgl. Hutchinson 1991, 247-248, Mumford 1998, 173.

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gen: die Rückführung auf mikrophysikalische Strukturen.27 Diesem Paradigma zufolge hat der Bakkalaureus die ihm gestellte Frage durch den Hinweis auf die verschiedenen chemischen Substanzen zu beantworten, die im Opium enthalten sind. Doch wie kann eine solche Aufzählung erklären, warum Opium schlafen macht? Doch nur, wenn man weiß, dass eine oder mehrere der aufgezählten Substanzen alleine oder in Kombination die Disposition haben, Schlaf herbeizuführen, also eine virtus dormitiva haben. Natürlich kann man dann auf die Molekularstruktur einer solchen Substanz verweisen. Der Verweis auf die Molekularstruktur ist aber nur dann hilfreich, wenn man zugleich weiß, dass ganz bestimmte Strukturen zu ganz bestimmten Dingen befähigen, wenn man also um die Dispositionen weiß, die eine solche Molekularstruktur mit sich bringt. Zuletzt könnte man auch versuchen, diese Dispositionen etwa auf die Ladungsverteilung im Molekül zurückzuführen – aber auch dies führt nur weiter, wenn man zugleich um die Disposition von Ladung mit gleichen Vorzeichen weiß, sich abzustoßen und um die Disposition von Ladung mit entgegengesetzten Vorzeichen, sich anzuziehen.28 Die Rückführung von Dispositionen auf mikrophysikalische Strukturen kann unser Wissen um Naturvorgänge in bemerkenswerter Weise erweitern, vernetzen und vertiefen. Aber sie kann ganz offensichtlich keinen Ersatz für dispositionale Erklärungen überhaupt liefern. Dispositionale Erklärungen können nie ersetzt werden durch solche Erklärungen, die nur kategoriale Eigenschaftsbeschreibungen verwenden. Sie können nur ersetzt werden durch Erklärungen, die kategoriale Eigenschaftsbeschreibungen und andere dispositionale Eigenschaftsbeschreibungen verwenden. Denn ohne ein Wissen darüber, welche kausale Rolle die kategorial beschriebenen Eigenschaften spielen, kann keine Erklärung zustande kommen.29 27 28

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Vgl. z. B. Quine 1960, § 46, O’Shaughnessy 1971, Mackie 1973. Viele Zeitgenossen Newtons haben auch dessen Gravitationskraft als eine Disposition angesehen; Newtons eigene Ansicht scheint dies allerdings nicht gewesen zu sein. Vgl. Hutchinson 1991, 251, 253, 274 Anm. 17. Diese Tatsache kann in solchen Fällen leicht übersehen werden, in denen die kausale Rolle der kategorial beschriebenen Eigenschaften in Form eines Naturgesetzes angegeben wird. Doch eine solche nomistische Erklärung kann in eine dispositionale Erklärung umgeformt werden, wie umgekehrt einer dispositionalen Erklärung immer eine deduktiv-nomistische Erklärung korrespondiert; vgl. Hempel 1978. Angesichts dieser Korrespondenz zwischen Dispositionszuschreibungen und Gesetzesaussagen argumentiert Cartwright 1989 dafür, dass erstens die Dispositionszu-

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7. Zusammenfassung: Empiristische Vorbehalte und ihre Widerlegung Von Seiten des Empirismus wurden traditionell drei grundsätzliche Einwände ins Feld geführt: Dispositionen sind erstens epistemisch unzugänglich oder „okkult“, da man ja stets nur ihre Manifestationen, nie aber sie selbst beobachten kann. Diese erkenntnistheoretische Kritik motivierte die zweite, ontologische Kritik: Die unbeobachtbaren Dispositionen scheinen eine Art „Gespensterdasein“30 neben den tatsächlich manifestierten und beobachtbaren Eigenschaften zu führen. Und drittens erschienen Dispositionen ohnehin wissenschaftstheoretisch überflüssig zu sein: Dispositionszuschreibungen schienen bloße Scheinerklärungen zu liefern und über kurz oder lang von den Erklärungen der quantifizierenden empirischen Wissenschaften abgelöst zu werden. Ich habe in diesem Beitrag dafür argumentiert, dass diese Vorbehalte unbegründet sind: Erstens sind Dispositionen zwar epistemisch indirekt, aber keineswegs epistemisch unzugänglich; vielmehr liefern dispositionale Eigenschaftsbeschreibungen das Verfahren zur Feststellung der von ihnen beschriebenen Eigenschaften gleich mit. Zweitens führen Dispositionen keineswegs ein von den kategorialen Eigenschaften losgelöstes „Gespensterdasein“. Nach der Position des neutralen Monismus, für die ich argumentiert habe, sind es nicht die Eigenschaften an sich, die kategorial oder dispositional sind, sondern die Beschreibungen, mit denen wir auf die Eigenschaften verweisen. Drittens habe ich gezeigt, dass die wissenschaftstheoretische Kritik an dispositionalen Erklärungen auf einem fundamentalen Missverständnis beruht: Erklärungen, die auf Dispositionen verweisen, können nie von Erklärungen abgelöst werden, die nur auf kategoriale Eigenschaften verweisen; stets müssen auch die neuen Erklärungen auf

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schreibung grundlegender ist als die Gesetzesaussage, da die Funktion der Gesetzesaussage letztlich auch in der Zuschreibung dieser Disposition besteht. Zweitens sind Cartwright zufolge Dispositonen deswegen vorzuziehen, da sie einen Realismus in Bezug auf Dispositionen überzeugend, einen Realismus in Bezug auf Gesetze aber für unbegründet hält. Ein Ausdruck von Hartmann 1938, 5.

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dispositionale Eigenschaften (z. B. der Mikrostruktur-Elemente) verweisen.31 Literatur Armstrong, David M. (1973), Belief, Truth, and Knowledge, Cambridge. Armstrong, David M., C.B. Martin, U.T. Place (1996), Dispositions. A Debate, hg. mit einer Einl. von Tim Crane, London/New York. Averill, Edward Wilson (1999), Are Physical Properties Dispositions?, in: Philosophy of Science 57, 118-132. Bird, Alexander (1998), Dispositions and Antidotes, in: Philosophical Quarterly 48, 227-234. Cartwright, Nancy (1989), Nature’s Capacities and their Measurement, Oxford. Davies, Paul (1995), Superforce, London. Goodman, Nelson (41983), Fact, Fiction, and Forecast, vierte Auflage, Cambridge MA. Gundersen, Lars (2000), Bird on Dispositions and Antidotes, in: Philosophical Quarterly 50, 227-229. Hartmann, Nicolai (1937), Der Megarische und der Aristotelische Möglichkeitsbegriff, Sitzungsbericht der Preußischen Akademie, ND in: ders., Kleinere Schriften II, Berlin 1957, 85-100. Hartmann, Nicolai (1938), Möglichkeit und Wirklichkeit, Berlin. Hempel, Carl Gustav (1978), Dispositional Explanation, in: Tuomela (ed.), 137-146. Hüntelmann, Raphael (2000), Möglich ist nur das Wirkliche. Nicolai Hartmanns Modalontologie des realen Seins, Dettelbach 2000 (= Neue ontologische Forschung 2). 31

Empfehlenswert zur weiteren Lektüre sind die Monographien von Prior 1984, Mumfurd 1998, die Diskussion in Armstrong/Martin/Place 1996 und der Sammelband von Tumomela (Hg.) 1978.

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Christian Suhm

Theoretische Entitäten und ihre realistische Deutung1 Vorschlag einer Strategie zur Verteidigung des wissenschaftlichen Realismus 1. Einleitung: Die Debatte um den wissenschaftlichen Realismus Seit nunmehr vier Jahrzehnten wird insbesondere in der angelsächsischen Wissenschaftstheorie eine kontroverse Debatte um den epistemologischen Status naturwissenschaftlicher Theorien geführt. Im Zentrum dieser Debatte steht der wissenschaftliche Realismus, der im Anschluss an die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschende logisch-empiristische Wissenschaftstheorie zur meistvertretenen Position in der Wissenschaftsphilosophie avancierte. Bis auf den heutigen Tagen reißt jedoch die Kette antirealistischer Auffassungen, in deren Rahmen verschiedene Ansprüche des wissenschaftlichen Realismus kritisiert werden, nicht ab. Aus unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen und philosophischen Quellen gespeist, wurden immer wieder ausgefeilte Argumente gegen den wissenschaftlichen Realismus vorgebracht. Die Diskussionen um ihre Stichhaltigkeit haben mittlerweile einen Verzweigungs- und Subtilitätsgrad erreicht, die eine umfassende und erschöpfende Behandlung des Themas in einer einzelnen Arbeit unmöglich machen. Die Kerngedanken des wissenschaftlichen Realismus sind jedem vertraut, der sich schon einmal intensiver mit der Frage auseinandergesetzt hat, welche Wissensansprüche mit naturwissenschaftlichen Theorien verbunden sind und welche Einstellungen Naturwissenschaftler selbst in der Regel gegenüber den Ergebnissen ihrer theoretischen Arbeit haben. Üblicherweise werden wissenschaftliche Theorien so interpretiert, dass wir mit ihnen Auskünfte über den Aufbau und die Eigenschaften der Natur geben können. Dabei wird das Verhältnis zwischen Theorien und Wirklichkeit als 1

Der vorliegende Beitrag basiert in weiten Teilen auf meiner 2003 an der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster eingereichten Dissertationsschrift Wissenschaftlicher Realismus. Eine Studie zur RealismusAntirealismus-Debatte in der neueren Wissenschaftstheorie. Voraussichtlich wird eine überarbeitete Fassung dieser Arbeit 2004 publiziert werden, in der die hier vorgestellten Überlegungen vertieft und gegen andere Ansätze der Debatte abgegrenzt werden.

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eines der Beschreibung (Deskription), nicht der Erschaffung (Konstruktion) gedeutet. Mit Hilfe von Theorien können wir Gegenstände und Strukturen in der Natur entdecken, die der nicht-wissenschaftlichen, alltagsweltlichen Perspektive verschlossen bleiben. Die Natur wird als unabhängig von den zu ihrer Beschreibung verwendeten Theorien aufgefasst. Ferner sind viele Wissenschaftstheoretiker, Naturwissenschaftler und auch Laien davon überzeugt, dass zumindest die am besten bestätigten Theorien der modernen Naturwissenschaften auch erfolgreich in der Beschreibung einer von den Theorien unabhängigen Natur sind. In der Regel – so die Überzeugung des wissenschaftlichen Realisten – sind naturwissenschaftliche Theorien mindestens annäherungsweise wahr, d. h. sie beschreiben die Wirklichkeit weitestgehend zutreffend. Die Gegenstände und ihre Eigenschaften, deren Realität in erfolgreichen Theorien behauptet wird, gehören nach dieser Auffassung also zum ‚Inventar’ der Wirklichkeit und werden in den Naturwissenschaften theoretisch korrekt erfasst. Mit dieser noch recht vagen und vorläufigen Bestimmung des wissenschaftlichen Realismus sind gleichwohl bereits seine zwei maßgeblichen Aspekte gegeben: zum einen der ontologische Aspekt der Unabhängigkeit der Wirklichkeit von unseren Theorien über sie, zum anderen der epistemologische Aspekt des Wissens, das in den erfolgreichen Theorien der modernen Naturwissenschaften zum Ausdruck kommt. Auf den ersten Blick mag es völlig unberechtigt erscheinen, an der Richtigkeit dieser beiden Gesichtspunkte des wissenschaftlichen Realismus zu zweifeln. Wer auch nur ein wenig Zeit und Mühe investiert, um sich die Erfolgsgeschichte der modernen Naturwissenschaften, vor allem die mit dieser verbundene enorme Ausweitung der technischen Anwendungsmöglichkeiten von Theorien, vor Augen zu führen, wird eine realistische Einstellung gegenüber naturwissenschaftlichen Theorien wohl zunächst als zwingend ansehen. Wie sollte man deren Erfolge und den durch sie erzielten Fortschritt auch anders erklären als durch die Annahme, dass mit ihnen eine unabhängige Wirklichkeit nach und nach immer umfassender und genauer beschrieben wird? Der wissenschaftliche Realismus kann heutzutage ohne Zweifel als eine geradezu natürliche Sichtweise des wissenschaftlichen Fortschritts bezeichnet werden. Erst im Licht wissenschaftstheoretischer Reflexionen und philosophischer Skepsis erscheint sie als problematisch oder sogar unhaltbar.

Theoretische Entitäten und ihre realistische Deutung

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Eine Reihe wissenschaftstheoretischer und wissenschaftshistorischer Arbeiten der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass die prima facie vernünftige und überzeugende Position des wissenschaftlichen Realismus alles andere als konkurrenzlos dasteht. Nicht zuletzt die in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch so prominente Wissenschaftstheoretiker wie Thomas S. Kuhn, Imre Lakatos und Paul K. Feyerabend angestoßene „historiographische Wende“ in der Wissenschaftstheorie hat sowohl konstruktivistischen als auch empiristischen Alternativen zum wissenschaftlichen Realismus den Weg bereitet. So finden sich heute neben einer Vielzahl wissenschaftlicher Realisten auch eine Reihe von Antirealisten unterschiedlicher Couleur unter den einflussreichsten Wissenschaftstheoretikern. Ein Ende der inzwischen weit verzweigten Debatte um den wissenschaftlichen Realismus ist nicht absehbar. Mit der vorliegenden Arbeit verfolge ich zwei Zwecke: Zum ersten ist mir an einer möglichst prägnanten und konzisen Formulierung des wissenschaftlichen Realismus gelegen. Damit soll das Feld für eine weiterführende Behandlung ausgewählter Probleme der Debatte bestellt werden. Zum zweiten möchte ich den Versuch unternehmen, eine Argumentation zu entfalten, die eine Strategie zur Verteidigung des wissenschaftlichen Realismus eröffnet. Diese Strategie soll sich dadurch auszeichnen, dass sie einigen typischen antirealistischen Argumenten nicht zum Opfer zu fallen droht. Das Ziel meiner Überlegungen ist also nicht, eine bestimmte Position in der wissenschaftstheoretischen Debatte um den Realismus vorzuschlagen bzw. zu verteidigen. Vielmehr geht es um den bescheideneren Zweck, wissenschaftlich-realistischen Projekten einen gangbaren Weg durch das argumentative Dickicht des wissenschaftlichen Antirealismus aufzuzeigen. Dieser Weg ist folglich in Zukunft noch – aufbauend auf die hier vorgeschlagene Strategie – mittels einer ausgestalteten wissenschaftlich-realistischen Position zu beschreiten. Im einzelnen umfassen die nachfolgenden Erörterungen die folgenden Teile: Auf die einführende Entfaltung der grundlegenden Thesen des wissenschaftlichen Realismus (Abschnitt 2) folgt zunächst eine kurze Darstellung der in der aktuellen Debatte am stärksten diskutierten antirealistischen Position des epistemologischen Typs und der zu ihren Gunsten vorgebrachten Argumente (Abschnitt 3). Daran anschließend werde ich mich mit der für verschiedene Argumentationsstränge in der Debatte bedeutsamen neue-

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ren Bestimmung der Beobachtbar/unbeobachtbar-Unterscheidung durch van Fraassen kritisch auseinandersetzen (Abschnitt 4) und ein Konzept wissenschaftlicher Beobachtung im Anschluss an Kosso vorschlagen, das die Position des wissenschaftlichen Realismus stärkt (Abschnitt 5). Abschließend soll auf der Grundlage der beiden vorangegangenen Abschnitte eine chancenreiche Strategie zur Verteidigung des wissenschaftlichen Realismus expliziert werden (Abschnitt 6). 2. Die Thesen des wissenschaftlichen Realismus Wie in der voranstehenden Einleitung bereits angemerkt wurde, lassen sich zwei wesentliche Aspekte des wissenschaftlichen Realismus voneinander unterscheiden, der ontologische und der epistemologische. Entsprechend zerfallen die in der Literatur angebotenen Formulierungen der Hauptthesen des wissenschaftlichen Realisten in zwei Gruppen. Die ontologischen Thesen, die auf die Unabhängigkeit der Wirklichkeit von naturwissenschaftlichen Theorien abzielen, teilt der wissenschaftliche Realismus im Wesentlichen mit dem Alltagsrealismus, der nicht auf wissenschaftliche, sondern auf alltagsweltliche Gegenstände bezogen ist. Kennzeichnend für die Diskussionen um den wissenschaftlichen Realismus sind indes die epistemologischen Thesen, die mit einer wissenschaftlich-realistischen Einstellung in Verbindung gebracht werden. Während der philosophische Realismus im Allgemeinen oder mit Blick auf bestimmte Gegenstandsbereiche bisweilen so formuliert wird, dass er nur die Komponente der ontologischen Unabhängigkeit erfasst, ist der epistemologische Aspekt des Wissens für den wissenschaftlichen Realismus unverzichtbar. Wissenschaftliche Realisten behaupten in der Regel nämlich nicht nur, dass die Wirklichkeit von unseren Theorien über sie unabhängig ist, sondern auch, dass mindestens die am besten bestätigten Theorien der modernen Naturwissenschaften approximativ wahr sind, in ihnen also annäherungsweise Wissen über die Wirklichkeit zum Ausdruck kommt. Damit ist es für den wissenschaftlichen Realisten gerade typisch, eine erkenntnisoptimistische, antiskeptische Position zu beziehen. Im traditionellen philosophischen Verständnis beinhaltet der Realismus nur den ontologischen Aspekt der Unabhängigkeit eines bestimmten Gegenstandsbereichs, z. B. der physischen Wirklichkeit. Damit blendet der Realist die epistemologische Schwierigkeit, zu erklären, ob und wie wir

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Wissen über etwas erlangen können, das von uns unabhängig ist, gerade aus. Im Unterschied zu dieser Auffassung von Realismus muss der wissenschaftliche Realist sich der skeptischen Herausforderung stellen, die auf die vollständige oder teilweise Unerkennbarkeit von Gegenständen, die als unabhängig von unseren Theorien verstanden werden, abzielt. Der wissenschaftliche Realist muss also begründen, wie die augenfällige Spannung zwischen der ontologischen Unabhängigkeit der Wirklichkeit von unseren Theorien und dem epistemologischen Optimismus mit Blick auf die mit unseren Theorien aufgestellten Wissensansprüche aufzulösen ist. Folglich kann der wissenschaftliche Realismus nur dann als eine überzeugende Position verfochten werden, wenn es gelingt, sowohl für die ontologische Unabhängigkeit der Wirklichkeit von naturwissenschaftlichen Theorien als auch für die mindestens annäherungsweise Wahrheit erfolgreicher Theorien der modernen Naturwissenschaften (und damit gerade für die Verträglichkeit der beiden Thesen) zu argumentieren. Für den ontologischen und den epistemologischen Aspekt des wissenschaftlichen Realismus lassen sich jeweils wiederum zwei grundlegende Thesen isolieren, die in den beiden folgenden Unterabschnitten erläutert werden sollen. 2.1 Der ontologische Aspekt des wissenschaftlichen Realismus Im Kontext der Auffassung, dass naturwissenschaftliche Theorien sich auf eine theorie-unabhängige Wirklichkeit beziehen, wird von wissenschaftlichen Realisten explizit oder implizit meistens zwischen einer semantischen These und einer Existenzthese unterschieden. Während mit ersterer eine realistische Semantik der Ausdrücke und Sätze einer Theorie unterstellt wird, wird durch letztere die theorieunabhängige Existenz einer Wirklichkeit behauptet, auf die sich unsere Theorien beziehen sollen. Sowohl die semantische These als auch die Existenzthese beziehen sich gleichermaßen auf beobachtbare und unbeobachtbare Entitäten. Problematisch ist im Rahmen der Debatte um den wissenschaftlichen Realismus gleichwohl nur die Semantik theoretischer Ausdrücke wie „Elektron“, „Gen“ oder „schwarzes Loch“ und die Annahme der theorieunabhängigen Existenz der korrespondierenden theoretischen Entitäten. 2.1.1 Die semantische These des wissenschaftlichen Realismus Gemäß der semantischen These des wissenschaftlichen Realismus sind die Beschreibungen der Wirklichkeit, die mit naturwissenschaftlichen Theo-

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rien gegeben werden, realistisch aufzufassen. Das bedeutet im Einzelnen, dass sich die theoretischen Ausdrücke einer Theorie auf theorieunabhängig existierende Entitäten beziehen sollen und die Sätze einer Theorie in einer korrespondenztheoretischen Wahrheitsrelation zu Elementen der Wirklichkeit, z. B. Tatsachen, stehen. Die semantische These des wissenschaftlichen Realismus korrespondiert damit mit der Theorie des semantischen Realismus, die üblicherweise als eine Kombination einer realistischen Theorie der Referenz und einer realistische Theorie der Wahrheit angesehen wird. Zweifelsohne liegt fast allen Fassungen der semantischen These des wissenschaftlichen Realismus ein nicht-epistemischer, in der Regel korrespondenztheoretischer Wahrheitsbegriff zugrunde. Stellvertretend für viele Realisten hebt Stathis Psillos den semantischen Aspekt des wissenschaftlichen Realismus wie folgt hervor: „The semantic stance takes scientific theories at face-value, seeing them as truthconditioned descriptions of their intended domain, both observable and unobservable. Hence, they are capable of being true or false“2

Die Wahrheit einer Theorie soll nach dem Verständnis vieler wissenschaftlicher Realisten nicht – wie es nach einem epistemischen Wahrheitsbegriff der Fall wäre – mit ihrer empirischen Bestätigung oder ihrem rationalen Gerechtfertigtsein zusammenfallen, sondern von der Wirklichkeit selbst und ihrer Beschaffenheit abhängen. Folgende Formulierung der semantischen These des wissenschaftlichen Realismus möchte ich vorschlagen: Semantische These des wissenschaftlichen Realismus Referierende Ausdrücke einer naturwissenschaftlichen Theorie beziehen sich auf theorieunabhängige beobachtbare und unbeobachtbare Gegenstände, Strukturen und Eigenschaften der Wirklichkeit. Die Wahrheit naturwissenschaftlicher Theorien ist durch die Wirklichkeit festgelegt. Wahrheit

2

Psillos (1999), S. xix. Psillos vertritt in Anlehnung an Boyd und Papineau explizit einen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff, demzufolge die Wahrheit einer Theorie durch die Wirklichkeit, auf die sich die theoretischen Ausdrücke der Theorien beziehen sollen (also durch den „intended domain“ einer Theorie), festgelegt sind. Entscheidend ist in der Formulierung Psillos’, dass Theorien ‚wahrheitsbedingte‘ Beschreibungen („truth-conditioned descriptions“) sowohl des beobachtbaren als auch des unbeobachtbaren Bereichs der Wirklichkeit sind. Auch theoretischen Sätzen, d. h. Sätzen die theoretische Ausdrücke enthalten, kommt also ein Wahrheitswert zu, auch für sie liegen Wahrheitsbedingungen fest.

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besteht in der Korrespondenz theoretischer Elemente (z. B. Sätzen der Theorie) mit Elementen der Wirklichkeit (z. B. Tatsachen). 2.1.2 Die Existenzthese des wissenschaftlichen Realismus Aus einem realistischen Verständnis der semantischen Kategorien der Referenz und der Wahrheit folgt noch nichts über die tatsächliche Existenz irgendwelcher theorieunabhängiger Gegenstände oder einer theorieunabhängigen Wirklichkeit, auf die sich theoretische Beschreibungen beziehen sollen. Mit der Formulierung einer realistischen Semantik für naturwissenschaftliche Theorien wird zwar zumeist die Existenz einer theorieunabhängigen Wirklichkeit unterstellt, logisch sind diese beiden Thesen jedoch voneinander unabhängig. Es ist durchaus eine Position denkbar, die eine realistische Semantik für naturwissenschaftliche Theorien für angemessen hält, aber beinhaltet, dass bestimmte Gegenstandsbereiche, auf die sich die theoretischen Ausdrücke dieser Theorien beziehen sollen (z. B. Elementarteilchen einer submikroskopischen Realität), gar nicht existieren.3 Folgerichtig nimmt daher Richard Boyd unabhängig von semantischen Aspekten die folgende Unabhängigkeitsthese in die Charakterisierung des wissenschaftlichen Realismus mit auf: „The reality which scientific theories describe is largely independent of our thoughts or theoretical commitments.“4

Boyd betont damit sowohl den in der allgemein-philosophischen Debatte um den Realismus relevanten Gesichtspunkt der Unabhängigkeit der Wirklichkeit von geistigen Entitäten („thoughts“) als auch den für den wissen3

Mit Blick auf unbeobachtbare Entitäten ist also mindestens logisch eine wissenschaftstheoretische „error theory“ denkbar. Ein Irrtumstheoretiker in der Wissenschaftstheorie könnte annehmen, dass sich die theoretischen Ausdrücke unserer naturwissenschaftlichen Theorien auf unbeobachtbare Entitäten beziehen sollen, dies aber niemals erfolgreich tun, da es die postulierten Entitäten gar nicht gibt. Nach der Irrtumstheorie wäre also die semantische These des wissenschaftlichen Realismus richtig, die Existenzthese hingegen falsch. Für den epistemologischen Aspekt des wissenschaftlichen Realismus hätte diese Auffassung natürlich auch gravierende Auswirkungen, da ihr zufolge naturwissenschaftliche Theorien immer falsch sind, der mit ihnen verbundene Wissensanspruch also prinzipiell uneinlösbar ist. Nicht denkbar ist es allerdings, an der semantischen These festzuhalten, aber die theorieabhängige Existenz der mit Theorien postulierten Entitäten zu behaupten. Denn die semantische These impliziert, dass die mit Theorien postulierten Entitäten theorieunabhängig aufzufassen sind. Und wovon sollten Entitäten wie Elektronen abhängig sein, wenn nicht von den Theorien, in denen sie postuliert werden?

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schaftlichen Realismus ausschlaggebenden Aspekt, dass die Wirklichkeit von theoretischen Voraussetzungen (beispielsweise theoriespezifischen Begriffen oder theoriegeleiteten Methoden) unabhängig ist. Wir können uns für die weitere Betrachtung jedoch auf den Gesichtspunkt der Theorieabhängigkeit beschränken und die mit dem ontologischen Aspekt des wissenschaftlichen Realismus verbundene Existenzthese wie folgt festhalten: Existenzthese des wissenschaftlichen Realismus Es existiert eine theorieunabhängige Wirklichkeit, die den intendierten Gegenstandsbereich naturwissenschaftlicher Theorien umfasst. Zu beachten ist noch, dass es logisch möglich, allerdings inhaltlich absurd ist, die Existenzthese des wissenschaftlichen Realismus zwar zu akzeptieren, aber eine antirealistische Semantik theoretischer Ausdrücke zu vertreten. Wenn man die theorieunabhängige Existenz eines unbeobachtbaren Bereichs der Wirklichkeit annimmt, ist es beinahe unausweichlich, wissenschaftliche Theorien im Sinne einer realistischen Semantik so zu interpretieren, dass sich ihre theoretischen Ausdrücke auch auf theorieunabhängige Gegenstände des unbeobachtbaren Bereichs der Wirklichkeit beziehen sollen. Konsequenterweise werden daher die semantische These und die Existenzthese des wissenschaftlichen Realismus stets gemeinsam vertreten und verteidigt. Wie wir noch sehen werden, bestreiten Antirealisten ihrerseits, sofern sie den ontologischen Aspekt des wissenschaftlichen Realismus attackieren, beide Thesen. 2.2 Der epistemologische Aspekt des wissenschaftlichen Realismus Nach gängiger Auffassung umfasst der wissenschaftliche Realismus nicht nur die Überzeugung, dass es eine theorieunabhängige Wirklichkeit gibt, auf die sich Theorien beziehen, sondern auch die These, dass die empirisch am besten bestätigten Theorien der reifen modernen Wissenschaften zumindest annäherungsweise wahr sind. Für den wissenschaftlichen Realisten ist es also nicht vorstellbar, dass die Wirklichkeit zwar von unseren Theoriebildungen unabhängig ist, wir aber von dieser Wirklichkeit keinerlei Wissen besitzen können und die besten der uns zur Verfügung stehenden Theorien nur unbegründete Meinungen oder ungerechtfertigte Vermutungen sind. Der epistemologische Realismus verlangt also, dass in den 4

Boyd (1983), S. 45.

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erfolgreichsten Theorien der Wissenschaften mindestens annäherungsweise Wissen über die Wirklichkeit zum Ausdruck kommt. Es ist damit klar, dass mit dem epistemologischen Aspekt des wissenschaftlichen Realismus nicht allein die Möglichkeit von Wissen über eine theorieunabhängige Wirklichkeit, sondern auch dessen faktisches Vorliegen in Form von wissenschaftlichen Theorien behauptet wird. Auch mit der These, dass es unter den tatsächlich bestehenden Erkenntnisbedingungen des Menschen (etwa bezüglich seiner Fähigkeiten zur Begriffs- und Theoriebildung) möglich ist, Wissen über die Wirklichkeit zu erlangen, gibt sich der wissenschaftliche Realist in der Regel nicht zufrieden. Er möchte die stärkere Behauptung aufstellen und verteidigen, dass zumindest die empirisch am besten bestätigten und instrumentell erfolgreichsten Theorien der reifen Wissenschaften approximatives Wissen darstellen. Damit behauptet der Realist in epistemologischer Hinsicht allerdings weder, dass für einen bestimmten Gegenstandsbereich der physischen Wirklichkeit, im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Disziplin oder gar der Wissenschaften insgesamt bereits vollständig und endgültig wahre Theorien entwickelt wurden, noch dass die wahre Beschreibung der Wirklichkeit durch eine einzelne Theorie oder durch eine einzelne Wissenschaft, etwa die Physik, geleistet werden kann. Bezüglich des Ziels der Wissenschaften und damit der Frage, wie eine vollständige und endgültig wahre Beschreibung der Wirklichkeit aussehen und ob sie durch eine fundamentale und allumfassende Theorie gegeben werden könnte, ist der wissenschaftliche Realismus neutral. Motiviert ist die epistemologische These des wissenschaftlichen Realismus im Wesentlichen durch den Erfolg und den Fortschritt der modernen Wissenschaften. Offensichtlich gelingt es den Theorien der Naturwissenschaften der letzten drei bis vier Jahrhunderte sukzessive immer präziser und umfassender, die Wirklichkeit zu erfassen und beobachtbare Phänomene zu erklären und zu prognostizieren. Der daraus resultierende instrumentelle Erfolg wissenschaftlicher Theorien und seine Vergrößerung durch fortschreitenden Theorienwandel sind nach Ansicht des Realisten nur auf der Grundlage einer in epistemologischer Hinsicht realistischen Interpretation wissenschaftlicher Theorien zu erklären. Die für den wissenschaftlichen Realismus maßgebliche epistemologische Komponente ist also an den Erfolg und Fortschritt der Wissenschaften geknüpft. Zwei Teilthesen sind jedoch im Sinn der oben angeführten Un-

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terscheidung der Möglichkeit und des faktischen Vorliegens theoretischen Wissens auseinander zu halten: Zum einen können wir in der Regel wissen, welche der uns zur Verfügung stehenden Theorien zumindest approximativ wahr sind, da wir über methodologische Kriterien für die Wahrheit von Theorien verfügen, etwa empirische Adäquatheit, Prognosefähigkeit oder logische Vereinbarkeit mit anderen als wahr vorausgesetzten Theorien. Zum anderen wissen wir tatsächlich, dass die empirisch am besten bestätigten und instrumentell erfolgreichsten Theorien der modernen Wissenschaften mindestens annäherungsweise wahr sind, da sie den methodologischen Wahrheitskriterien annäherungsweise bzw. in großem Umfang genügen. Während die erste Teilthese als kriteriologische These bezeichnet werden kann, da mit ihr die Möglichkeit von theoretischem Wissen auf der Grundlage bestimmter Wahrheitskriterien zum Ausdruck gebracht wird, beinhaltet die zweite Teilthese einen wissenschaftshistorischen Aspekt, da mit ihr von den erfolgreichsten Theorien der modernen Wissenschaften (und damit z. B. gerade nicht von gewissen als vormodern eingestuften Theorien) die annäherungsweise Wahrheit behauptet wird. Zur Bestimmung des epistemologischen Aspekts des wissenschaftlichen Realismus schlage ich daher die beiden folgenden Teilthesen vor. Kriteriologische These des wissenschaftlichen Realismus Im Allgemeinen können wir anhand logischer und methodologischer Kriterien (logische Vereinbarkeit, empirische Adäquatheit, Prognosefähigkeit, u. a.) entscheiden, ob eine wissenschaftliche Theorie zumindest annäherungsweise wahr ist, d. h. ob sie zumindest in großem Umfang und mit hinreichender Genauigkeit (beobachtbare und unbeobachtbare) Elemente der Wirklichkeit und ihre Beschaffenheit repräsentiert. Wissenschaftshistorische These des wissenschaftlichen Realismus Die empirisch am besten bestätigten und instrumentell erfolgreichsten Theorien der modernen Wissenschaften genügen diesen methodologischen Kriterien soweit, dass sie als annäherungsweise wahre Beschreibungen der (beobachtbaren und unbeobachtbaren) Wirklichkeit aufzufassen sind. Wie schon für den ontologischen Aspekt ist auch für den epistemologischen Aspekt des wissenschaftlichen Realismus zu berücksichtigen, dass sich der Dissens zwischen wissenschaftlichen Realisten und Antirealisten

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allein auf den unbeobachtbaren Bereich der Wirklichkeit bezieht. Der wissenschaftliche Antirealist bestreitet typischerweise, dass es Kriterien für die Wahrheit von Theorien bezüglich theoretischer Entitäten gibt. Damit bleibt er a fortiori skeptisch gegenüber dem mit faktisch vorliegenden Theorien behaupteten Wissen bezüglich theoretischer Entitäten. Klarerweise besteht zwischen den angeführten Teilthesen ein logisches Abhängigkeitsverhältnis. Wer behauptet, dass die erfolgreichsten Theorien der modernen Wissenschaften annäherungsweise wahr sind, muss auch annehmen, dass wir über Kriterien verfügen, anhand deren wir über die Wahrheit bzw. Wahrheitsnähe einer Theorie entscheiden können. Umgekehrt gilt jedoch nicht, dass aus der Annahme von Wahrheitskriterien für Theorien auch eine erkenntnisoptimistische Einstellung den Theorien der modernen Wissenschaften gegenüber folgt. Die fraglichen Kriterien könnten beispielsweise derart streng gefasst werden, dass auch die besten der uns heute zur Verfügung stehenden Theorien sie nicht erfüllen. Es ist also durchaus eine mit Blick auf den epistemologischen Aspekt eingeschränkt realistische Position denkbar, gemäß der für die Wissenschaften nur insofern Grund zum Erkenntnisoptimismus besteht, als wir mit ihnen theoretisches Wissen erlangen können – wir also in der Lage sind, anhand bestimmter Kriterien über die Wahrheit von Theorien zu entscheiden –, wir aber de facto noch keine Theorie entwickelt haben, die diesen Kriterien genügt.5 3. Der skeptische Antirealismus Wie bereits angedeutet spielen in der neueren Debatte um den wissenschaftlichen Realismus vor allem antirealistische Positionen des epistemologischen Typs eine prominente Rolle. Im Unterschied zu idealistischen oder konstruktivistischen Antirealismen bestreiten epistemologische Antirealisten nicht den ontologischen Aspekt des wissenschaftlichen Realismus, also die theorieunabhängige Existenz der physischen Wirklichkeit. Sie plädieren vielmehr für eine skeptische Haltung gegenüber den mit wissenschaftlichen Theorien verknüpften Wissensansprüchen, indem sie für die These argumentieren, dass wir über kein theoretisches Wissen über unbeobachtbare Entitäten verfügen. Der daraus resultierende Skeptizismus ist 5

In diese Richtung geht die von Leplin als „minimal epistemic realism“ bezeichnete Auffassung; Leplin (1997), S. 27.

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folglich selektiv. Epistemologische Antirealisten bestreiten nicht, dass Theorien wahr sind mit Blick auf beobachtbare Phänomene, ihre Skepsis bezieht sich lediglich auf den unbeobachtbaren Bereich der physischen Wirklichkeit. Zwei einflussreiche Argumentationen für eine in epistemologischer Hinsicht antirealistische Position in der Wissenschaftstheorie möchte ich in den folgenden beiden Abschnitten näher explizieren. Es handelt sich um die empirische Unterbestimmtheit von Theorien und die pessimistische Meta-Induktion. 3.1 Empirische Unterbestimmtheit von Theorien Der Grundgedanke der These der empirischen Unterbestimmtheit von Theorien (im Folgenden mit „EUT“ abgekürzt) besteht darin, dass zwischen theoretischen Alternativen oftmals keine begründete Entscheidung allein auf der Basis empirischer Belege getroffen werden kann. In einer schwachen Form besagt die EUT nur, dass es in der Geschichte der Wissenschaften immer wieder Fälle von Theorienkonkurrenz gegeben hat, die nicht durch empirische Befunde entschieden wurden. In der üblicherweise gegen den wissenschaftlichen Realismus vorgebrachten starken Form liegt der EUT die Überlegung zugrunde, dass es möglich ist, zu jeder vorgegebenen Theorie eine empirisch gleich gut bestätigte Theoriealternative zu konstruieren, so dass eine Entscheidung zwischen den dann vorliegenden Alternativen nicht mehr auf empirischer, sondern bestenfalls auf pragmatischer Grundlage (beispielsweise durch Theoriekriterien wie Einfachheit oder Eleganz) erreicht werden kann. Die auf die EUT aufbauende Standardargumentation gegen die Wissensansprüche des wissenschaftlichen Realisten kann wie folgt zergliedert werden: Empirische Unterbestimmtheit von Theorien (EUT) (1) Für eine empirisch adäquate Theorie T lässt sich stets mindestens eine zu T empirisch äquivalente Alternativtheorie T* angeben, die andere theoretische Entitäten zur Erklärung bestimmter beobachtbarer Phänomene postuliert als T und daher logisch unvereinbar mit T ist. (2) Zwei Theorien T und T*, die empirisch äquivalent sind, sind gleich gut empirisch bestätigt.

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(3) Zwischen empirisch gleich gut bestätigten Theorien T und T* lässt sich keine epistemisch begründete Wahl treffen. (4) Eine begründete Entscheidung zwischen empirisch gleich gut bestätigten Theorien T und T* lässt sich allein aufgrund unterschiedlicher pragmatischer Vorzüge von T und T* fällen.6 Aufgrund dieser Argumentation im Sinn der starken Form der EUT hält es ein epistemologischer Antirealist prinzipiell nicht für gerechtfertigt, an die beobachtungstranszendenten Entitäten zu glauben, die eine empirisch bestätigte Theorie postuliert. Da stets empirisch gleich gut bestätigte Theoriealternativen denkbar sind, mit denen die beobachtbaren Phänomene unter der Annahme anderer theoretischer Entitäten genauso gut erklärt werden können, ist es nicht möglich, theoretische Überzeugungen über den unbeobachtbaren Bereich der physischen Wirklichkeit zu begründen. Als epistemologische Konsequenz der starken EUT bleibt folglich nur eine skeptische Haltung gegenüber theoretischen Entitäten und eine Berufung auf pragmatische Theorieeigenschaften bei der Wahl zwischen Theoriealternativen. Die starke Form der EUT erweist sich damit als ein gegen die Wissensansprüche des wissenschaftlichen Realisten gerichtetes Prinzip, das zumindest auf einen selektiven Skeptizismus bezüglich der in wissenschaftlichen Theorien postulierten theoretischen Entitäten verpflichtet.7 Üblicherweise wird die EUT in engem Zusammenhang mit der DuhemQuine-These entfaltet. Indes ist die Verbindung zwischen beiden nicht sofort einsichtig. Die Duhem-Quine-These besagt zunächst, dass nicht einzelne Hypothesen oder Theorien empirisch überprüft werden können, sondern stets nur Komplexe von Theorien und Hypothesen. Duhem hat diese These vor allem durch die für jedes physikalische Experiment notwendige Voraussetzung von Hintergrundtheorien zur Beschreibung der erforderlichen Messinstrumente begründet. „... der Physiker [kann] niemals eine isolierte Hypothese, sondern immer nur eine ganze Gruppe von Hypothesen der Kontrolle des Experimentes unterwerfen ... Wenn das Experiment mit seinen Voraussagungen in Widerspruch steht, lehrt es

6 7

Vgl. zur Formulierung der starken Fassung der EUT auch Ladyman (2002), S. 174. Devitt hingegen argumentiert dafür, dass ein Antirealist, der die starke Form der EUT akzeptiert, einen radikalen Skeptizismus, der sich auch auf Alltagsgegenstände bezieht, nicht vermeiden kann; Devitt (2002), S. 40.

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ihn, daß wenigstens eine der Hypothesen, die diese Gruppe bilden, unzulässig ist und modifiziert werden muß.“8

Entscheidend für diese auch als Bestätigungsholismus bezeichnete Auffassung ist, dass das Experiment keinerlei Auskunft darüber gibt, welche der vorausgesetzten Theorien und Hypothesen im Fall der Nichtübereinstimmung mit den Voraussagen zu modifizieren oder sogar zu verwerfen ist. Während es bei Duhem noch der gesunde Menschenverstand des Physikers ist, der diese Entscheidung trifft, macht Quine pragmatische Gesichtspunkte geltend, die in epistemisch unterbestimmten Fällen den Ausschlag für oder gegen eine bestimmte Theorie geben sollen.9 Durch die Berufung auf pragmatische Kriterien der Theorienwahl wird auch die enge Verbindung der Duhem-Quine-These und der EUT deutlich. Aus dem Bestätigungsholismus der ersteren folgt nämlich, dass durch empirische Resultate nicht eindeutig festgelegt ist, welche Theorien aufrechterhalten werden können und welche nicht. Es ist also denkbar, dass verschiedene holistisch verstandene Theorien- und Hypothesensysteme in Einklang mit einer bestimmten Menge von Beobachtungsdaten gebracht werden können.10 Insbesondere erscheint es möglich, an zwei miteinander konkurrierenden (und miteinander unverträglichen) Erklärungshypothesen eines Phänomens durch die geschickte Wahl und Modifikation von Hintergrundtheorien und Zusatzhypothesen festzuhalten, ohne dass durch empirisches Belegmaterial eine epistemisch begründete Entscheidung zu Gunsten einer der beiden Alternativen getroffen werden kann. Dieses Resultat ent-

8 9 10

Duhem (1996), S. 248. Vgl. hierzu ebd., S. 290 ff. sowie Quine ²(1980), S. 42. Ob aus der Duhem-Quine-These – wie Quine es an einigen Stellen zu behaupten scheint (vgl. z. B. Quine ²(1980), S. 43) –, folgt, dass jede beliebige Theorie oder Hypothese (also z. B. der Glaube an die homerischen Götter) aufrechterhalten werden kann, wenn man nur bereit ist, weitreichende Veränderungen seines gesamten Überzeugungssystems zuzulassen, ist allerdings fraglich. Laudan bestreitet dies vehement. Nach seiner Auffassung unterscheidet Quine nicht zwischen der logischen Verträglichkeit eines Überzeugungssystems mit Beobachtungsresultaten und der empirischen Bestätigung, die eine Theorie durch Beobachtungen erhalten kann. Dass jedes beliebige System von Überzeugungen mit Erfahrungen kompatibel gemacht werden könne, heiße noch lange nicht, dass es im Licht dieser Erfahrungen auch rational begründet ist; Laudan (1996), S. 33 ff.

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spricht der oben ausgeführten skeptischen Schlussfolgerung aus der starken Form der EUT.11 3.2 Pessimistische Meta-Induktion In seinem äußerst einflussreichen Aufsatz „A Confutation of Convergent Realism“12 hat Laudan eine typische realistische Position in der Wissenschaftstheorie, die er als konvergenten epistemologischen Realismus („convergent epistemological realism“, im Folgenden abgekürzt mit „CER“) bezeichnet, einer ausführlichen Kritik unterzogen. Laudan schreibt CER so prominenten Realisten wie Putnam, Boyd oder Newton-Smith zu.13 Die Thesen von CER sind nach Laudan die folgenden: convergent epistemological realism (CER) (1) „Scientific theories (at least in the mature sciences) are typically approximately true and more recent theories are closer to the truth than older theories in the same domain.“ (2) „The observational and theoretical terms within the theories of a mature science genuinely refer (roughly, there are substances in the world which correspond to the ontologies presumed by our best theories).“ (3) „Successive theories in any mature science are such that they preserve the theoretical relations and the apparent referents of earlier theories (i.e., earlier theories are limiting cases of later theories).“ (4) „Acceptable new theories do and should explain why their predecessors were successful insofar as they were successful.“ (5) „Theses ... [(1)-(4); C. S.] entail that (mature) scientific theories should be successful; indeed, it is said that these theses constitute the best, if 11

12

13

In einigen neueren Arbeiten ist die EUT, die einige Jahrzehnte lang von vielen Skeptikern als unüberwindliche Hürde für eine epistemologisch anspruchsvolle Version des wissenschaftlichen Realismus angesehen wurde, einer grundlegenden Kritik unterzogen worden. Zu nennen sind hier u. a. Devitt (2002), Kukla (1996), Laudan (1996), Leplin (1997) und Psillos (1999). Laudan (1981); im Folgenden zitiere ich aus der überarbeiteten Fassung des Aufsatzes in Laudan (1984), S. 103-137. Laudan beansprucht zwar nicht, eine allgemein verbindliche Fassung des wissenschaftlichen Realismus zu formulieren, er geht jedoch davon aus, dass ein wissenschaftlicher Realist auf die eine oder andere Spielart von CER festgelegt ist; Laudan (1984), S. 106.

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not the only, explanation for the success of science. The empirical success of science (in the sense of giving detailed explanations and accurate predictions) accordingly provides striking empirical confirmation for realism.“14 Während die Thesen (1) bis (4) von CER den epistemologischen Optimismus des wissenschaftlichen Realisten und die enge Verbindung von wissenschaftlichem Fortschritt und Wahrheitsannäherung betonen, stellt These (5) eine Verbindung zwischen den Thesen (1) bis (4) und dem Erfolg15 wissenschaftlicher Theorien her. Zum einen, so die Argumentation des Realisten, folgt aus den ersten vier Thesen von CER, insbesondere aus der in (1) behaupteten Wahrheitsnähe von Theorien der modernen Wissenschaften, dass eben diese Theorien erfolgreich sind. Zum anderen stellen die Thesen (1) bis (4) die beste, wenn nicht sogar die einzige Erklärung dieses Erfolgs dar. Hinter dem zweiten Punkt verbirgt sich der Schluss auf den Realismus bzw. auf die ersten vier Thesen von CER als der besten bzw. einzigen Erklärung des Erfolgs von Theorien der modernen Wissenschaften. Nach Laudan muss ein Verteidiger von CER zur Begründung seiner Position die in (5) behaupteten Beziehungen zwischen dem wissenschaftlichen Realismus und dem Erfolg von Theorien durch folgende Nachweise untermauern. Erstens ist zu zeigen, dass Theorien, deren zentrale theoretische Terme referieren und die daher nach realistischem Verständnis annäherungsweise wahr sind, auch erfolgreich sind, damit die approximative Wahrheit von Theorien bzw. die Referenz ihrer zentralen Terme als Explanans des Erfolgs dieser Theorien überhaupt in Frage kommt. Zweitens muss, damit alternative Erklärungen des Erfolgs von Theorien ausgeschlossen werden, gewährleistet sein, dass erfolgreiche Theorien stets approximativ wahr sind und ihre zentralen Terme referieren. Der Realist, der mit These (5) einen abduktiven Schluss auf die Thesen (1) bis (4) von CER vollzieht, muss also, kurz gesagt, aufzeigen, dass Referenz und approxima14 15

Ebd., S. 106 f. Mit Erfolg ist hier und im Folgenden stets der empirische Erfolg einer Theorie gemeint, der u. a. darin besteht, dass sich die Beobachtungskonsequenzen einer Theorie bewahrheiten, dass eine Theorie in der Lage ist, unterschiedliche beobachtbare Phänomene zu erklären, oder dass eine Theorie neuartige Fakten korrekt prognostiziert.

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tive Wahrheit notwendige und hinreichende Bedingungen für den Erfolg einer Theorie sind. Beide Aufgaben des Realisten scheinen aber – und darin liegt die wesentliche Pointe der Laudanschen Argumentation – nicht erfüllbar zu sein, wenn man das Verhältnis von Wahrheitsnähe (bzw. Referenz) und Erfolg von Theorien einer wissenschaftshistorischen Analyse unterzieht. Durch eine Bestandsaufnahme empirisch erfolgreicher Theorien der modernen Wissenschaften hinsichtlich des Verhältnisses von approximativer Wahrheit (bzw. Referenz) und Erfolg kommt Laudan zu einem für CER vernichtenden Ergebnis. Zum einen ließen sich beinahe beliebig viele bedeutende Theorien aus der Vergangenheit der modernen Wissenschaften aufzählen, die als empirisch erfolgreich galten, teilweise über einen langen Zeitraum hinweg, die aber nach heutiger Auffassung grundlegend falsch sind, da ihre zentralen theoretischen Terme, die irrigerweise als referierend angesehen wurden, de facto gar nicht referieren. Zu diesen Theorien gehören solche prominenten Fälle wie die Äthertheorien des Elektromagnetismus, die Phlogistontheorie in der Chemie oder die Stofftheorien der Wärme, der Elektrizität oder des Magnetismus. Allen diesen Theorien ist gemein, dass einige ihrer zentralen theoretischen Terme („Äther“, „Phlogiston“, „Wärmestoff“ etc.) nach dem Wissensstand der heutigen Naturwissenschaften auf gar nichts referieren und dass die Theorien daher als falsch, zumindest aber nicht als approximativ wahr im Sinn von CER gelten müssen. Zum anderen, so Laudan, könne auch die These, dass Theorien, die approximativ wahr sind und deren zentrale Terme referieren, empirisch erfolgreich seien, einer eingehenden wissenschaftshistorischen Prüfung nicht standhalten. Viele Theorien, u. a. die Atomtheorie der Materie, die Wellentheorie des Lichts oder die kinetische Theorie der Wärme, wären lange Zeit nicht empirisch erfolgreich gewesen, obgleich wir heute annehmen, dass sie approximativ wahr sind und einige ihrer zentralen theoretischen Terme („Atom“, „Lichtwelle“, „Bewegungswärme“) referieren. Das Ergebnis seiner wissenschaftshistorischen Argumentation gegen CER fasst Laudan wie folgt zusammen:

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„The fact that a theory’s central terms refer does not entail that it will be successful, and a theory’s success is no warrant for the claim that all or most of its central terms refer.“16

Warum dieses Resultat für einen wissenschaftlichen Realisten, der sich auf die Thesen (1) bis (4) von CER stützt, so beunruhigend ist, lässt sich noch deutlicher erkennen, wenn man berücksichtigt, dass der wissenschaftliche Realismus von nahezu allen seinen Vertretern als empirische These aufgefasst wird. Der wissenschaftstheoretische Realismus zeichnet sich gegenüber dem allgemein-philosophischen Realismus gerade durch den Bezug auf den in den modernen Naturwissenschaften vermeintlich bereits erreichten Erkenntnisfortschritt aus. Wenn daher durch die wissenschaftshistorisch untermauerte Argumentation Laudans gezeigt werden kann, dass der wissenschaftliche Realismus den Fakten der wissenschaftlichen Theorienentwicklung nicht gerecht zu werden vermag, ist zumindest die epistemologische Komponente des wissenschaftlichen Realismus in Zweifel zu ziehen. Betrachten wir daher die Laudansche Argumentation gegen CER noch etwas genauer. Sie setzt in Übereinstimmung mit den meisten wissenschaftlichen Realisten voraus, dass die Thesen (1) bis (4) empirisch getestet werden können, nämlich anhand der ‚empirischen Daten‘, die die Wissenschaftsgeschichte uns zur Verfügung stellt. So wie sich wissenschaftliche Theorien an der Erfahrung, also an Beobachtungen, experimentellen Resultaten usf., bewähren müssen, muss der wissenschaftliche Realismus den für ihn wissenschaftshistorisch relevanten Fakten gerecht werden. So wie sich Beobachtungskonsequenzen einer wissenschaftlichen Theorie angesichts empirischer Belege als wahr oder falsch herausstellen können, stehen und fallen die epistemologischen Thesen des wissenschaftlichen Realismus (bzw. die Thesen (1) bis (4) von CER) mit den ‚Beobachtungen‘, die auf wissenschaftshistorischer Ebene gemacht werden. Der wissenschaftliche Realismus ist demnach eine Art MetaTheorie (oder Theorie zweiter Stufe) über die Wissenschaften und die Entwicklung ihrer Theorien und sollte an ähnlichen methodologischen Maßstäben gemessen werden wie einzelwissenschaftliche Theorien (Theorien erster Stufe) selbst. Insbesondere sollte er den induktiven Methoden der empirischen Bestätigung und Bewertung von Theorien unterliegen, die 16

Laudan (1984), S. 136.

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sich in den Wissenschaften als verlässlich erwiesen haben und daher akzeptiert werden. Wenn nun, wie Laudan behauptet, die wissenschaftshistorischen Fakten eindeutig gegen die Thesen (1) bis (4) von CER sprechen, dann muss der wissenschaftliche Realismus als eine falsifizierte, zumindest aber schlecht bewährte Theorie gelten – und dies umso mehr, als es pragmatistische und instrumentalistische Alternativtheorien gibt, die beanspruchen, eine korrektere Beschreibung des wissenschaftlichen Fortschritts und Theorienwandels zu geben als der wissenschaftliche Realismus. Nach Laudan ist es nämlich nicht so, dass die wissenschaftshistorischen Belege den wissenschaftlichen Realismus nur als modifikationsbedürftige Theorie erscheinen lassen, die z. B. durch Abänderung oder Aufgabe einiger ihrer Teilthesen in Übereinstimmung mit der wissenschaftshistorischen Datenbasis gebracht werden kann. Vielmehr lasse die wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme nur den meta-induktiven Schluss auf die Falschheit des wissenschaftlichen Realismus zu, und zwar auf die Falschheit aller seiner epistemologischen Thesen. Die Vielzahl erfolgreicher, nach aktuellem Wissensstand aber falscher naturwissenschaftlicher Theorien lässt gerade nicht die Schlussfolgerung zu, dass die heute erfolgreichsten Theorien der Wahrheit näher gekommen sind als ihre Vorgängertheorien oder überhaupt wahrheitsnah sind. Im Gegenteil kann das Urteil angesichts vieler erfolgreicher, aber falscher Theorien der Vergangenheit nur lauten, dass wir auch bezüglich der Wahrheit oder Wahrheitsnähe (und damit der Referenz zentraler theoretischer Terme) heutiger Theorien skeptisch sein sollten. Genau diese skeptische Schlussfolgerung wird als pessimistische Meta-Induktion (im Folgenden abgekürzt als „PMI“) von der Wissenschaftsgeschichte auf den Wahrheits- bzw. Falschheitsgehalt von Theorien bezeichnet.17 Die PMI stellt zwar kein zwingendes Argument für die Falschheit der aktuell jeweils bewährtesten Theorien dar. Sie entkräftet aber die für wissenschaftliche Realisten fundamentale epistemologische These, dass die empirisch am besten bestätigten und instrumentell erfolgreichsten Theorien der aktuellen Naturwissenschaften als annäherungsweise wahre Beschreibungen der physischen Wirklichkeit aufzufassen sind. Die ersten vier Thesen von CER sind dann ebenfalls nicht aufrecht zu erhalten. Die wissen17

Vgl. zur Rekonstruktion der pessimistischen Meta-Induktion auch Ladyman (2002), S. 236 ff. sowie Psillos (1999), S. 101 ff.

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schaftshistorische Inadäquatheit der Verknüpfung von Wahrheit bzw. Wahrheitsnähe und Erfolg einer Theorie gemäß These (5) von CER führt somit zu einer Unterminierung des gesamten epistemologischen Aspekts des wissenschaftlichen Realismus. Fassen wir die entscheidenden Argumentationsschritte der PMI noch einmal zusammen: Pessimistische Meta-Induktion (PMI) (1) In der Vergangenheit hat es unzählige empirisch erfolgreiche naturwissenschaftliche Theorien gegeben. (2) Diese Theorien wurden im Laufe des wissenschaftlichen Fortschritts verworfen und sind nach heutigem Wissensstand falsch. (3) Die Theorien der aktuellen Naturwissenschaften gelten ebenfalls als empirisch erfolgreich. (4) Durch Meta-Induktion kann von den wissenschaftshistorischen Fakten des Theorienwandels darauf geschlossen werden, dass die Theorien der aktuellen Naturwissenschaften in Zukunft ebenfalls verworfen und als falsch angesehen werden. 4. Kritik der van Unterscheidung

Fraassenschen

Beobachtbar/unbeobachtbar-

4.1 Van Fraassens konstruktiver Empirismus In der jüngeren Diskussion um den wissenschaftlichen Realismus spielt die von Bas van Fraassen vorgeschlagene antirealistische Position des konstruktiven Empirismus („constructive empiricism“) eine prominente Rolle.18 Für van Fraassen besteht das Ziel der Wissenschaft im Unterschied zum wissenschaftlichen Realisten nicht darin, wahre Theorien zu entwickeln, die den unbeobachtbaren Bereich der physischen Wirklichkeit adäquat repräsentieren.

18

Vgl. zum konstruktiven Empirismus van Fraassen (1980) und zur Diskussion um van Frassens zentrale Thesen Churchland u. Hooker (1985).

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„the aim of science can well be served without giving such a literally true story [of what the world is like; C. S.], and acceptance of a theory may properly involve something less (or other) than belief that it is true”19.

Der Empirist van Fraassen setzt an die Stelle der Wahrheit von Theorien als Ziel der Wissenschaft und an die Stelle des Für-wahr-Haltens als Bestandteil der Theorieakzeptanz entsprechende empiristische Begriffe, die die Fokussierung auf den beobachtbaren, den empirisch direkt zugänglichen Teil der Wirklichkeit unterstreichen, nämlich empirische Adäquatheit und das ‚Für-empirsch-adäquat-Halten’. Er gelangt damit zu der Hauptthese des konstruktiven Empirismus, den er dem wissenschaftlichen Realismus als Alternative gegenüberstellt. „Science aims to give us theories which are empirically adequate; and acceptance of a theory involves as belief only that it is empirically adequate. This is the statement of the anti-realist position I advocate; I shall call it constructive empiricism.”20

Empirische Adäquatheit wird von van Fraassen durch den Begriff der Beobachtbarkeit näher bestimmt. „a theory is empirically adequate exactly if what it says about the observable things and events in this world, is true – exactly if it ‚saves the phenomena’.“21

Damit ist klar, dass der konstruktive Empirist nicht den epistemologischen Optimismus des wissenschaftlichen Realisten teilt. Er verneint, dass wir wissen können, welche unserer Theorien (annäherungsweise) wahr sind, genauer: welche unserer Theorien eine (annäherungsweise) wahre Beschreibung unbeobachtbarer Gegenstände und Strukturen geben. Hinsichtlich des beobachtbaren Teils der physischen Wirklichkeit geht natürlich auch der konstruktive Empirist davon aus, dass wir in der Regel wissen, welche unserer Theorien ihn zutreffend erfassen, d. h. welche Theorien empirisch adäquat sind. Die skeptische Haltung gegenüber theoretischen Entitäten hat Auswirkungen darauf, was es bedeutet, eine Theorie zu akzeptieren. Während die Akzeptanz einer Theorie für den Realisten den Glauben bzw. die Überzeugung („belief“) beinhaltet, dass die Theorie wahr ist – wahr hinsichtlich beobachtbarer und unbeobachtbarer Entitäten –, involviert sie für den konstruktiven Empiristen nur die Überzeugung,

19 20 21

Van Fraassen (1980), S. 9. Ebd., S. 12. Ebd.

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dass die Theorie empirisch adäquat ist, dass sie also wahr ist bezüglich beobachtbarer Phänomene. 4.2 Kritik der Beobachtbar/unbeobachtbar-Unterscheidung Offensichtlich ist es für van Fraassens Position maßgeblich, zwischen beobachtbaren und unbeobachtbaren Phänomenen zu unterscheiden. Dieser Unterscheidung kommt in der empiristischen Herausforderung des wissenschaftlichen Realismus durch den konstruktiven Empirismus eine epistemologisch tragende Funktion zu. Betrachten wir daher die zentrale Passage, in der van Fraassen seine Interpretation des modalen Aspekts des Ausdrucks „observable“ vorstellt: „The human organism is, from the point of view of physics, a certain kind of measuring apparatus. As such it has certain inherent limitations – which will be described in detail in the final physics and biology. It is these limitations to which the ‚able‘ in ‚observable‘ refers – our limitations, qua human beings.“22

Van Fraassen rekurriert hiermit ausdrücklich auf eine physikalische und biologische Beschreibung des menschlichen Organismus als eines Messapparats. Über die „inherent limitations“ der biologischen Beobachtungsmittel der epistemischen Gemeinschaft der Spezies homo sapiens, also über die Begrenzung des menschlichen Beobachtungshorizonts und damit die Abgrenzung der Sphäre der beobachtbaren Gegenstände von der Sphäre der unbeobachtbaren, entscheiden naturwissenschaftliche Theorien selbst. Beobachtung geht für van Fraassen nicht – wie für viele logische Empiristen – im Gegebensein gewisser sinnlicher Gehalte, bestimmter Sinnesdaten, auf. Beobachtbarkeit ist daher nicht gebunden an eine theorieneutrale Beobachtungssprache. Vielmehr versteht van Fraassen unter Beobachtung im Sinn der Duhemschen Theoriebeladenheit der Beobachtung ein theoretisch voraussetzungsreiches Konzept, das sich im Wesentlichen auf die theoretische Beschreibung der Funktionsweise der Beobachtungsmittel – in diesem Falle menschlicher Sinnesorgane – stützt. Van Fraassen erweist sich damit als Vertreter einer internalistischen Beobachtungskonzeption, nach der man zur Beantwortung der Frage, welche Entitäten als beobachtbar gelten und welche nicht, Theorien analysieren muss, nicht aber auf apriorische philosophische Argumentationen rekurrieren darf.

22

Ebd., S. 17.

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161

„To find the limits of what is observable in the world described by theory T we must inquire into T itself, and the theories used as auxiliaries in the testing and application of T.“23

Dieses Zitat bringt die van Fraassensche Auffassung jedoch nur unvollständig zum Ausdruck, denn mit der Theorie T, die über die Frage der Beobachtbarkeit von Entitäten Auskunft gibt, kann nach van Fraassen nur die Theorie der „final physics and biology“ (oder zumindest eine ihrer Vorläufertheorien) gemeint sein, die die Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeiten des menschlichen Organismus beschreibt. Eine Theorie der Elementarteilchenphysik, die die von ihr postulierten Entitäten als beobachtbar ausweist, kann es für van Fraassen nicht geben, da er die Mikrogegenstände der modernen Physik als klare Fälle von „unobservables“ erachtet. Die internalistische Konzeption der Beobachtung wird von van Fraassen also – im Unterschied z. B. zu Achinstein, Shapere und Kosso24 – durch die Betonung des menschlichen Sinnesapparats und seiner Wahrnehmungsgrenzen eingeschränkt und damit durch ein empiristisches Manöver gegen die epistemologische Komponente des wissenschaftlichen Realismus gewendet. Dieses Manöver ist meines Erachtens jedoch inadäquat für eine Rekonstruktion des wissenschaftlichen Fortschritts, zu deren Adäquatheitskriterien sicherlich u. a. die folgenden drei Bedingungen gehören. (1) Der in den Wissenschaften selbst verwendete Beobachtungsbegriff und seine Verflechtung mit dem technisch-instrumentellen Fortschritt ist zu berücksichtigen. (2) Die in den Wissenschaften übliche epistemische Bewertung akzeptierter Theorien, die sich auf methodisch geleitete Beobachtungen in Experimenten stützt, darf nicht grundsätzlich konterkariert werden. (3) Der mit wissenschaftlichem Fortschritt verbundene Theorienwandel und der mit diesem wiederum einhergehende Wandel der akzeptierten wissenschaftlichen Methoden (insbesondere der für die Interpretation von Experimenten relevanten) darf nicht ausgeschlossen oder nennenswert eingeschränkt werden.

23

24

Ebd., S. 57. Vgl. zur Charakterisierung der internalistischen Konzeption der Beobachtung auch Wilson (1985), S. 222 f. sowie Kosso (1989), S. 2 f. Achinstein (1968), Shapere (1982) und (1985) sowie Kosso (1989).

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Die internalistische Beobachtungskonzeption sollte entgegen einer empiristischen Verkürzung im van Fraassenschen Verständnis viel eher zu einer Ausweitung des Beobachtungsbegriffs auf technisch vermittelte und theoretisch bedingte experimentelle Beobachtungssituationen, wie sie für naturwissenschaftliche Forschung typisch sind, führen. Warum sollte, wenn man den Beobachtungsbegriff an theoretische Vorgaben knüpft, ein prinzipieller epistemischer Unterschied zwischen menschlichen Beobachtungsmitteln, den biologischen Sinnesorganen, und den technischen Apparaturen naturwissenschaftlicher Experimente bestehen? Hält man allerdings mit van Fraassen an einer vermeintlich nicht-willkürlichen Beobachtbar/unbeobachtbar-Unterscheidung fest, die sich allein auf evolutionärbiologische Mittel der Beobachtung stützt, ergibt sich nach meinem Dafürhalten ein heilloser Zirkel. Die Theorien, mit deren Hilfe erst die „inherent limitations“ des menschlichen Sinnesapparats und damit seine natürliche Beobachtungsgrenze bestimmt werden können, setzen diese Grenzziehung selbst bereits voraus. Die Berufung auf die naturwissenschaftliche Untersuchung von Sinnesorganen hebt gerade die Bedeutung einer nichtwillkürlichen, epistemologisch gerechtfertigten Beobachtbar/unbeobachtbar-Unterscheidung hervor. Um die Begrenztheit der Funktionsweise eines Sinnesorgans naturwissenschaftlich zu bestimmen, müsste nach van Fraassen bereits geklärt sein, an welcher Stelle die entsprechenden theoretischen Beschreibungen selbst unter das Verdikt einer epistemologisch relevanten Beobachtungsschranke fallen. Was angesichts der sinnesphysiologischen Ausstattung einer epistemischen Gemeinschaft als beobachtbar bzw. unbeobachtbar gilt, kann nicht zirkelfrei unter Rückgriff auf Theorien bestimmt werden, deren epistemologischer Status selbst von der zu bestimmenden Beobachtbar/unbeobachtbar-Dichotomie abhängt.25 Man kann den Zirkelvorwurf gegen van Fraassens Beobachtbar/unbeobachtbar-Unterscheidung noch weiter treiben. Nehmen wir zunächst zu Gunsten van Fraassens an, dass die von mir bislang angemahnte Zirkelhaftigkeit seiner Beobachtungskonzeption nicht vitiös und hermeneutisch unproblematisch ist. Dann muss man allerdings berücksichtigen, dass es denkbar – und auch wahrscheinlich – ist, dass die theoretische Beschreibung des menschlichen Sinnesapparats gemäß einer Beobachtbar/un25

Vgl. zum Zirkelvorwurf gegen van Fraassen auch Psillos’ Argumentation gegen die Beobachtbar/unbeobachtbar-Unterscheidung in Psillos (1999), S. 191 ff.

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beobachtbar-Unterscheidung, die klare Fälle unbeobachtbarer Entitäten ausweist, beispielsweise solche mikrophysikalischen und mikrobiologischen (z. B. neurophysiologischen) Bereiche einschließen wird, die für die Funktionsweise von Sinnesorganen relevant sind. Diese Bereiche umfassen aber gewiss auch einige der theoretischen Entitäten, die nach van Fraassen unzweifelhaft als unbeobachtbar gelten; und gegenüber diesen Entitäten müssen wir uns, wenn wir konstruktive Empiristen sind, skeptisch verhalten. Das bedeutet, dass die epistemische Reichweite von Sinnesorganen gar nicht genau bestimmt werden kann, da die für diese Bestimmung erforderlichen Theorien selbst einer epistemisch relevanten Abgrenzung eines unbeobachtbaren Bereichs der physischen Wirklichkeit unterliegen. Dann ist allerdings nicht mehr einsichtig, wie eine trennscharfe und damit für die Realismusfrage bedeutsame Beobachtbar/unbeobachtbar-Unterscheidung überhaupt getroffen werden kann. Die zirkuläre Voraussetzung dieser Unterscheidung für ihre wissenschaftliche Bestimmung durch maßgebliche Theorien der menschlichen Sinnesorgane erweist sich somit unweigerlich als vitiös. Zur zirkelfreien Bestimmung seines Konzepts von Beobachtbarkeit benötigt van Fraassen ein theorieunabhängiges Kriterium der epistemischen Reichweite natürlicher Sinnesapparate, also biologischer Sinnesorgane. Ohne Rekurs auf sinnlich evidente Gegebenheiten und die damit verbundenen Probleme einer Sinnesdatentheorie steht ihm ein solches Kriterium aber offensichtlich nicht zur Verfügung. Da van Fraassen dies ablehnt, muss die von ihm vorgeschlagene empiristische Unterscheidung zwischen einer Sphäre des Beobachtbaren, des sinnlich Zugänglichen, und einer Sphäre des Beobachtungstranszendenten, des sinnlich Unzugänglichen, als wissenschaftstheoretisch inadäquat und willkürlich gelten; mehr noch, sie ist vitiös zirkulär. Einerseits setzt die Beobachtbar/unbeobachtbarUnterscheidung eine theoretische Beschreibung des menschlichen Sinnesapparats voraus. Andererseits muss die Unterscheidung selbst bereits unterstellt werden, wenn die epistemische Reichweite der für sie relevanten Theorien der Physik und Biologie ermittelt werden soll. 5. Vorschlag eines realistischen Beobachtungskonzepts Nach den kritischen Bemerkungen zur van Fraassenschen Beobachtbar/unbeobachtbar-Unterscheidung im vorangegangenen Abschnitt möchte

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ich nun einen Vorschlag für ein realistisches Beobachtungskonzept unterbreiten, der von einer Analyse der Begriffe der Beobachtung und Beobachtbarkeit ausgeht, die Peter Kosso anhand detaillierter Fallstudien aus der Physik durchgeführt hat.26 Kosso selbst beruft sich auf den internalistischen Beobachtungsbegriff von Shapere. Mit der hier vorgestellten Konzeption wird der Versuch unternommen, das Beobachtungskonzept als einen zentralen theoretischen Baustein einer wirkungsvollen Verteidigung des wissenschaftlichen Realismus zu etablieren. Kosso hat das internalistische Beobachtungskonzepts von Shapere zu einem interaction-information account (Interaktions-Informations-Modell) der Beobachtung ausgebaut. Im Sinn der von Shapere vorgeschlagenen Orientierung des Beobachtungsbegriffs an naturwissenschaftlichen Theorien und den von ihnen postulierten Wechselwirkungen zwischen physischen Gegenständen, legt Kosso das Hauptaugenmerk darauf, welche kausale Interaktionen zwischen einem physischen Gegenstand, der beobachtet werden soll, und anderen Gegenständen, insbesondere Versuchsapparaturen, gemäß den dafür zuständigen Theorien vorliegen können. Für Kosso stellt das in einer Beobachtung festgestellte Beobachtungsresultat einen Informationsgehalt oder propositionalen Gehalt dar, durch den einem bestimmten Gegenstand x eine bestimmte Eigenschaft P zugesprochen wird. Beobachtungen werden damit als eine besondere Klasse von Wechselwirkungen aufgefasst, die genau die kausalen Interaktionen enthält, die einen Informationsgehalt, nämlich dass x P ist, transportieren. Anders als Shapere bezieht Kosso jedoch den menschlichen Beobachter explizit in sein Beobachtungskonzept mit ein. Die Betonung des informationalen Aspekts von Beobachtung steht für Kosso gerade im Zusammenhang mit der Forderung, dass eine Beobachtung im Wesentlichen ein Ereignis ist, durch das einem menschlichen Beobachter (oder irgendeinem anderen sinnliche Erfahrungen machenden Wesen) Informationen über die physische Wirklichkeit vermittelt werden. „As an initial generalization ... one can say that observation is a manner of getting information of the physical world, from the physical world.“27

Die vollständigen Bestimmungen der Begriffe der Beobachtung und der Beobachtbarkeit sehen für Kosso damit wie folgt aus. 26 27

Die maßgebliche Studie für meine Ausführungen ist Kosso (1989). Ebd.

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„The ordered pair < object x, property P > is observable to the extent that there can be an interaction (or a chain of interactions) between x and an observing apparatus such that the information „that x is P“ is transmitted to the apparatus and eventually conveyed to a human scientist.“28 „The ordered pair < object x, property P > is observed to the extent that there is an interaction (or a chain of interactions) between x and an observing apparatus such that the information „that x is P“ is conveyed to a human scientist.“29

Hiermit werden zunächst nur Schemata gegeben, die einer weiteren Spezifizierung bedürfen, um in konkreten Fällen entscheiden zu können, ob eine Information über die physische Wirklichkeit an einen Beobachter vermittelt wurde bzw. ob die Tatsache, dass ein physischer Gegenstand diese oder jene Eigenschaft hat, beobachtet wurde. Bezüglich der relevanten Interaktionen (kausalen Wechselwirkungen) des Beobachtungsobjekts und des Beobachtungsapparats sind verschiedene Theorien zu Rate zu ziehen. Kossos besonderes Verdienst für die Bestimmung eines adäquaten wissenschaftlichen Beobachtungskonzepts besteht in der Differenzierung von vier Dimensionen des Begriffs der Beobachtbarkeit, hinsichtlich deren die Beobachtbarkeit eines Gegenstandes bzw. eines informationalen Gehalts, der von einem Gegenstand handelt, beurteilt werden kann: „immediacy“, „directness“, „amount of interpretation“ und „independence of interpretation“.30 Mit „immediacy“ bezeichnet Kosso den Grad oder das Maß der Vermittelbarkeit eines Informationsgehalts (dass x P ist) an den menschlichen Beobachter. Drei Kategorien sind im Kontext dieser Dimension des Beobachtungsbegriffs auseinander zu halten: „unobservable in principle“, „unperceivable in fact“ und „perceivable“31. Die zweite Dimension des Begriffs der Beobachtbarkeit ist die der „directness“. Durch sie wird die Länge der Wechselwirkungskette angegeben, die für die Übertragung einer Information von einem Gegenstand zum Beobachter vonnöten ist. Mit Länge ist hier kein räumlicher Abstand gemeint, sondern die Anzahl der physischen (kausalen) Interaktionen, vermittels deren ein Informationsgehalt übertragen wird. Bei den dabei zu berücksichtigenden Wechselwirkungen kann es sich sowohl um solche handeln, die mit einem Wechsel der Objektart verbunden sind – z. B. Umwandlungen eines 28 29 30

Ebd., S. 32. Ebd. Vgl. dazu und im Folgenden ebd., S. 39 ff.

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optischen in ein elektrisches Signal –, als auch um solche, die nur eine bestimmte Eigenschaft eines Information übertragenden Gegenstandes verändern – z. B. Ablenkungen oder Streuungen von Teilchen. Als dritte Dimension führt Kosso den „amount of interpretation“ ein. Während die „directness“ ein bestimmtes Maß für den physischen Abstand zwischen beobachtetem Gegenstand und Beobachter ist, bezeichnet die ‚Menge der Interpretation‘ eine Art epistemischen Abstand zwischen beiden. Dieser epistemische Abstand ist umso größer, je mehr Theorien herangezogen und als wahr vorausgesetzt werden müssen (je mehr ‚Interpretation’ erfolgen muss), um die Schlussfolgerung zu rechtfertigen, dass ein informationaler Gehalt von einem beobachteten Gegenstand zu einem Beobachter übertragen wurde. Während zur Rechtfertigung einer visuellen Beobachtung ohne technische Hilfsinstrumente vergleichsweise wenige theoretische Annahmen gemacht werden müssen – beispielsweise über die räumliche Ausbreitung und Reflexion von Lichtwellen und die elektrochemische Verarbeitung visueller Reize im Gehirn –, bedarf es im Falle der Beobachtung eines Elektrons in einer Blasenkammer zusätzlicher weitreichender Voraussetzungen. So muss etwa angenommen werden, dass Elektronen in einer bestimmten Weise mit anderen Partikeln wechselwirken und dabei charakteristische Spuren hinterlassen, die sich von denen anderer Wechselwirkungen unterscheiden. Der „amount of interpretation“ ist offensichtlich ein quantitatives epistemisches Maß, das – salopp formuliert – angibt, wie viel Theorie aufgeboten werden muss, um den Schluss von einer bestimmten Wirkung im Beobachter bzw. Beobachtungsinstrument auf einen bestimmten Zustand eines beobachteten Gegenstands als gerechtfertigt auszuweisen. Die vierte Dimension des Beobachtungsbegriffs, die „independence of interpretation“, stellt im Unterschied zum „amount of interpretation“ ein qualitatives epistemisches Maß für die Unabhängigkeit der für den Beobachtungsprozess unterstellten Theorien („theories of transmission“, „theories of the detector“) von der Theorie des beobachteten Gegenstands („theory of the source“) dar. Die Bedeutung dieser Dimension für die epistemische Relevanz eines Beobachtungsresultats liegt intuitiv auf der Hand und lässt sich in etwa wie folgt zum Ausdruck bringen: Je unabhängiger die theoretische Beschreibung der verschiedenen Wechselwirkungen, 31

Ebd., S. 39 ff.

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die eine Beobachtung ausmachen, von den theoretischen Annahmen ist, die sich auf den beobachteten Gegenstand beziehen, desto eher ist man bereit, einen beobachteten informationalen Gehalt als einen gültigen empirischen Beleg für (oder gegen) eine zu testende Theorie des beobachteten Gegenstands zu akzeptieren. Umgekehrt wird ein Beobachtungsresultat nur als eine schwache Bestätigung (oder Entkräftung) anzusehen sein, wenn die mit der Beobachtung zu überprüfende Theorie in der theoretischen Beschreibung der Beobachtung selbst vorausgesetzt wird. „It is a question of whether T [theory of the object x; C. S.] can be isolated from the process of observing x, whether, in other words, only theories which are not theories of the object itself can suffice to support the observation“32

Wichtig ist es, diese Bestimmung der epistemischen Unabhängigkeit von Beobachtungsresultaten zu unterscheiden von der in einer internalistischen Konzeption wissenschaftlicher Beobachtung generell akzeptierten Theorierelativität der Beobachtung. Dass Beobachtungen insofern theorierelativ sind, als nur durch Theorien der möglichen informationsübertragenden Interaktionen des beobachteten Gegenstands mit anderen Gegenständen und durch Theorien der Beobachtungsinstrumente und Beobachter festgelegt ist, wann überhaupt eine Beobachtung vorliegt, wird durch die gerade erläuterte epistemische Unabhängigkeit der Beobachtung nicht in Frage gestellt. Es wird mit ihr allerdings im Rahmen einer internalistischen Beobachtungskonzeption ein Differenzierungspotential ausgeschöpft, das es erlaubt, innerhalb der Klasse der Beobachtungen, die stets als theorierelativ gelten, zwischen theorieabhängigen bzw. theorieunabhängigen Beobachtungen zu unterscheiden – und zwar indem Bezug genommen wird auf das Verhältnis von zu testender Theorie und (experimentellen) Hintergrundtheorien. Als zwar theorierelativ, aber theorieunabhängig sind demnach solche Beobachtungen einzustufen, bei denen die zu testende Theorie nicht schon als Voraussetzung in die Beschreibung des Beobachtungsprozesses und des Beobachters mit eingeht. Für den auf Interaktion und Informationsübertragung abzielenden Beobachtungsbegriff Kossos heißt dies genauer, dass die Beobachtung, dass x P ist, logisch unabhängig ist von den Theorien, die kausale Wechselwirkungen der Informationsübertragung sowie der Informationsaufnahme durch ein Beobachtungsinstrument bzw. einen Beobachter beschreiben. 32

Ebd., S. 43.

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Gerade diese theorieunabhängigen Beobachtungen sind es, die für eine realistisch verstandene Methodologie und Epistemologie der Naturwissenschaften von zentraler Bedeutung und daher unbedingt in ein realistisches Beobachtungskonzept zu integrieren sind. Nur wenn es im dargelegten Sinn unabhängig von vorausgesetzten Theorien und den mit ihnen verbundenen etablierten Methoden empirischer Forschung und experimenteller Praxis möglich ist, Theorien zu testen, kann die konstruktivistische Konsequenz der Paradigma- oder Begriffsschemataabhängigkeit aller Erfahrung vermieden werden. Durch den methodologischen Aufweis theorieunabhängiger Beobachtungsresultate wird gleichsam eine Schneise geschlagen durch das Dickicht einer durch ein bestimmtes Paradigma theoretisch und methodisch immer schon vollständig ‚imprägnierten’ normalen Wissenschaft. Insbesondere wird auf diesem Weg die realistische Grundintuition, dass es die Wirklichkeit selbst ist, die über den Erfolg oder Misserfolg von Theorien entscheidet, in angemessener Weise zum Ausdruck gebracht. Dem Auftreten von Anomalien, also Nichtübereinstimmungen zwischen Theorie und Beobachtung, wird durch den hier favorisierten realistischen Beobachtungsbegriff eine überzeugende epistemische Rolle zugewiesen. Nach konstruktivistischem Wissenschaftsverständnis sind Anomalien ausschließlich Phänomene, die sich der Einbindung in den theoretischen Kontext eines Paradigmas versperren und die ein Paradigma gegebenenfalls in die Krise führen. Sie werden jedoch im Verlauf der normalen Wissenschaft nicht in der Weise methodisch bzw. epistemisch wirksam, dass an den theoretischen Grundüberzeugungen eines Paradigmas oder seinen methodischen Standards etwas geändert wird. Für den Realisten hingegen sind mit Anomalien, wenn sie eine Folge theorieunabhängiger Beobachtungen darstellen, weitreichende Konsequenzen für das Spektrum akzeptierter Theorien und verlässlicher Methoden verbunden – und zwar nicht erst, wenn eine Vielzahl von Anomalien über einen langen Zeitraum hinweg nicht in einen festen, durch ein Paradigma sanktionierten theoretischen Rahmen eingepasst werden kann, sondern immer schon dann, wenn es gilt, einzelne Theorien und Hypothesen theorieunabhängig im erörterten Sinn empirisch zu überprüfen. Kosso ist daher vollauf zuzustimmen, wenn er die besondere Bedeutung der vierten Dimension des Beobachtungsbegriffs, der „independence of interpretation“, hervorhebt und ihr als Maß der Verlässlichkeit von Beobach-

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tungen die maßgebliche epistemische Rolle bei der Überprüfung und Bestätigung von Theorien und ihrer realistischen Interpretation zuweist. „... the important dimension is the independence of interpretation. It is important as a measure of reliability in the account of information of an object. It bears the burden of epistemic significance as an aspect of scientific realism.“33

Zum Abschluss dieses Abschnitts möchte ich auf die Einsichten Kossos aufbauend nun selbst ein Beobachtungskonzept vorschlagen, das ein für ein realistisches Wissenschaftsverständnis angemessenes Instrument zur Abwendung skeptischer und konstruktivistischer Argumente abgibt. Realistischer Begriff der wissenschaftlichen Beobachtung Eine physische Entität E wird genau dann beobachtet, wenn 1. zwischen E und einem physischen Messgerät M eine Wechselwirkung W (kausale Interaktion) (oder eine Kette von Wechselwirkungen {Wi}) dergestalt stattfindet, dass dem Zustand ZM des Messgeräts nach der Wechselwirkung W ein bestimmter Zustand ZE der Entität E zugeordnet werden kann, und 2. ein epistemisches Subjekt S durch sinnliche Wahrnehmung des Zustands ZM und aufgrund der Zuordnung von ZM zu ZE eine Information IE (einen informationalen Gehalt) über E erhält, nämlich dass E sich im Zustand ZE befindet. Realistischer Begriff der wissenschaftlichen Beobachtbarkeit Eine physische Entität E ist genau dann beobachtbar, wenn 1. zwischen E und einem physischen Messgerät M eine Wechselwirkung W (kausale Interaktion) (oder eine Kette von Wechselwirkungen {WI}) dergestalt stattfinden kann, dass dem Zustand ZM des Messgeräts nach der Wechselwirkung W ein bestimmter Zustand ZE der Entität E zugeordnet werden kann, und, falls W stattfindet, 2. ein epistemisches Subjekt S durch sinnliche Wahrnehmung des Zustands ZM und aufgrund der Zuordnung von ZM zu ZE eine Information IE (einen informationalen Gehalt) über E erhalten kann, nämlich dass E sich im Zustand ZE befindet.

33

Ebd., S. 148.

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Eine Reihe von Gesichtspunkten gilt es für diese Bestimmungen zu beachten. Durch die Wahl des Ausdrucks „Entität“ möchte ich bewusst offen lassen, von welcher ontologischen Art die Elemente der physischen Wirklichkeit sind, die in einer Beobachtung erkannt werden bzw. die als beobachtbar gelten. Zwar halte ich Kossos Vorschlag, eine wissenschaftliche Beobachtung auf physische Elemente der Form zu beziehen, für durchaus sinnvoll, da Beobachtungsresultate in den Naturwissenschaften in der Regel in Aussagen formuliert werden, die einem Gegenstand x eine Eigenschaft P zusprechen.34 Allerdings soll mit dem Beobachtungsbegriff selbst noch keine bestimmte Ontologie des Physischen, etwa eine Tatsachen-Ontologie, festgelegt sein. Ob man Tatsachen, Ereignisse, individuelle Substanzen oder auch Eigenschaften (um nur einige Optionen zu nennen) für die fundamentalen Bausteine der physischen Wirklichkeit hält, darf nicht vom Beobachtungsbegriff abhängen. Auch die Frage, ob es eine adäquate Rekonstruktion wissenschaftlicher Beobachtungen zulassen kann, von der Beobachtung von Einzeldingen (ohne dass ihnen eine Eigenschaft zugesprochen wird) oder von der Beobachtung von Eigenschaften (ohne dass sie einem Individuum zugeordnet werden) zu sprechen, wird durch den neutralen Ausdruck „Entität“ offengelassen. Eine ähnliche Überlegung trifft auch auf das kausale Element zu, das in obige Bestimmungen eingeht. Mit Shapere und Kosso halte ich es für überzeugend, den Begriff wissenschaftlicher Beobachtung an eine Konzeption der kausalen Interaktionen (Wechselwirkungen) zwischen der beobachteten Entität und einer Messapparatur zu knüpfen. Dadurch wird das internalistische Moment der Bestimmungen hervorgehoben, denn es sind gerade naturwissenschaftliche Theorien, die über die vielfältigen Wechselwirkungen einer physischen Entität mit anderen physischen Entitäten und insbesondere mit Messapparaten Auskunft geben. Welche Wechselwirkungen aber im einzelnen für eine Beobachtungssituation unterstellt werden, ist damit abhängig vom theoretischen Wissensstand und geht nicht mit in die Bestimmung von Beobachtung ein. Genauso wenig liegt mit dieser eine bestimmte Theorie bzw. Ontologie der Kausalität fest. Ob man Er34

Typische Grundaussagen in der Physik schreiben beispielsweise einem physikalischen System einen bestimmten Zustand zu. Unter Zustand kann dabei generell diejenige komplexe Eigenschaft des Systems verstanden werden, die die maximale Information über das System enthält, aus der also alle bestimmbaren Eigenschaften des Systems abgeleitet werden können.

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eignisse, Prozesse oder Eigenschaften als die Relata der Kausalrelation annimmt, soll für die Formulierung eines realistischen Beobachtungsbegriffs keine Rolle spielen. Zwar lässt es die internalistische Perspektive angeraten erscheinen, ein wissenschaftstheoretisches Konzept von Kausalität zu favorisieren, das seine Plausibilität durch Orientierung an einzelwissenschaftlichen Theorien und den durch sie nahegelegten Kandidaten für die Kausalrelation gewinnt. Wie die kontroverse Debatte um eine den Naturwissenschaften adäquate Kausalkonzeption aber zeigt, ist durch diese Vorgabe noch keine wissenschaftstheoretische Auffassung von Kausalität ausgezeichnet. Insgesamt soll die Bestimmung wissenschaftlicher Beobachtung also weitestgehend unabhängig sein von speziellen Ontologien des Physischen, und zwar sowohl von den durch einzelwissenschaftliche Theorien postulierten Ontologien als auch von den philosophisch bzw. wissenschaftstheoretisch bevorzugten ontologischen Kategorien. Durch die Ausdrücke „Entität“ und „Wechselwirkung“ sind also gleichsam Leerstellen bezeichnet, deren Ausfüllung durch eine Ontologie des Physischen geleistet werden muss. Entsprechend muss auch offen bleiben, wie eine Zuordnung der Zustände ZM eines Messgeräts zu den Zuständen ZE der beobachteten physischen Entität genau vorzunehmen ist. Dazu bedarf es z. B. einer Messtheorie, die die spezifischen kausalen Interaktionen zwischen E und (Teilen von) M beschreibt. Und schließlich kann und soll durch obige Bestimmungen nicht präjudiziert werden, welche konkrete Form die Information IE, also der informationale Gehalt, den ein Erkenntnissubjekt durch die Beobachtung aufnimmt, hat. Wiederum scheint mir Kossos Konzeption, IE mit einem propositionalen Gehalt der Art, dass E P ist, (dass der physischen Entität E die Eigenschaft P zukommt) zu identifizieren, sinnvoll zu sein, da sie typischen Beobachtungsaussagen in den Naturwissenschaften gerecht wird. Aber diese Einschätzung ist gewiss diskutabel. 6. Eine Strategie zur Verteidigung des wissenschaftlichen Realismus Abschließend möchte ich eine Strategie zur Verteidigung des wissenschaftlichen Realismus skizzieren, die meines Erachtens geeignet ist, den vorgestellten antirealistischen Bedenken des epistemologischen Typs wirkungsvoll zu begegnen. Das Ziel meiner eher programmatischen Ausführung ist

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eine Verknüpfung des soeben erarbeiteten Konzepts wissenschaftlicher Beobachtung mit einer Argumentation für den wissenschaftlichen Realismus, die sich auf die Prognose neuer Fakten durch Theorien beruft.35 Ihr liegt die realistische Grundintuition zugrunde, dass nur solche Theorien, die unbeobachtbare Gegenstände und Strukturen der physischen Wirklichkeit mindestens partiell zutreffend beschreiben, in der Lage sind, neue beobachtbare Phänomene und Effekte (annähernd) korrekt zu prognostizieren. Eine Theorie, deren theoretische Elemente keinerlei Wahrheitsgehalt haben, die aber gleichwohl hinsichtlich der bekannten beobachtbaren Phänomene empirisch adäquat ist, vermag – so die realistische Überzeugung – dies nicht zu leisten. Die Eigenschaft einer Theorie, neue Phänomene vorherzusagen und sich dadurch neuen empirischen Tests auszusetzen, wird von vielen Wissenschaftstheoretikern sogar als Distinktionsmerkmal einer respektablen wissenschaftlichen Theorie angesehen.36 Das folgende Zitat von Psillos gibt das zentrale Anliegen, das wissenschaftliche Realisten mit der Berufung auf die Prognose neuer Fakten verfolgen, treffend wieder. „... the notion of empirical success should be more rigorous than simply getting the facts right, or telling a story that fits the facts. For any theory (and for that matter, any wild speculation) can be made to fit the facts – and hence to be successful – by simply ‚writing‘ the right kind of empirical consequences into it. The notion of empirical success that realists are happy with is such that it includes the generation of novel predictions which are in principle testable.“37

Man kann bereits an dem Beispiel der retrograden Erklärung der Merkurperihelpräzession durch die allgemeine Relativitätstheorie Einsteins ablesen, worauf es für einen wissenschaftlichen Realisten ankommt, wenn mit Hilfe des Konzepts der Vorhersage neuer Fakten ein möglichst strenges Kriterium für den Erfolg einer Theorie angegeben werden soll. Zum einen 35

36

37

Sie geht im Kern auf Arbeiten von Popper und Lakatos zurück und spielt vor allem in der Lakatos’schen Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme eine wichtige Rolle für die Fruchtbarkeit und Progressivität von Theorienfolgen; vgl. Lakatos (1978). Auch diese Auffassung ist typisch für die Vertreter des kritischen Rationalismus, insbesondere für Popper und Lakatos. Zu beachten ist jedoch, dass es nach Popper einzelne Theorien sind, die der Möglichkeit der Falsifikation unterliegen müssen, um überhaupt als wissenschaftlich zu gelten, während für Lakatos Theorienfolgen im Rahmen eines wissenschaftlichen Forschungsprogramms die für eine Falsifikation geeigneten ‚Objekte‘ darstellen; vgl. Popper 10(1994), S. 14 ff. sowie Lakatos (1978), S. 10 ff. Psillos (1999), S. 105.

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muss gewährleistet sein, dass die Erklärung bzw. Prognose eines neuen Phänomens durch eine Theorie erfolgt, die unabhängig von dem prognostizierten Phänomen entwickelt wurde. Insbesondere darf es sich bei ihr nicht um eine ad hoc-Hypothese handeln, die nur zur Erklärung eines bestimmten Phänomens vorgebracht wird und keinerlei davon unabhängigem empirischen Test unterzogen werden kann. Zum anderen muss sichergestellt sein, dass die Theorie, die die neuen Fakten erfolgreich prognostiziert, die einzige Theorie mit diesem prognostischen Erfolg ist. Diese Einschränkung ist erforderlich, um dem skeptischen Einwand vorzubeugen, dass in dem Fall, in dem zwei Theorien gleich gut ein neues Faktum prognostizieren, kein begründeter Schluss auf die partielle oder approximative Wahrheit einer der beiden Theorien möglich ist. Das Erfolgskriterium der Prognose neuer Fakten wäre ohne die Einzigkeitsbedingung nicht hinreichend, die Behauptung wissenschaftlicher Realisten, dass es eine enge Verknüpfung zwischen dem Erfolg und der Wahrheit einer Theorie gibt, zu stützen. Zwei Theorien, die dasselbe neue beobachtbare Phänomen erfolgreich vorhersagen, mit denen aber unterschiedliche Annahmen über die dem Phänomen zugrundeliegenden theoretischen Gegenstände verbunden sind, können nach realistischer Auffassung nicht beide (approximativ) wahr sein. Wenn also mit dem Konzept der Prognose neuer Fakten als entscheidendem Kriterium des Erfolgs einer Theorie der Schluss auf die (approximative) Wahrheit der Theorie als gerechtfertigt ausgewiesen werden soll, dürfen miteinander unverträgliche Theorien nicht gleichermaßen als erfolgreich gelten. Die beiden genannten Gesichtspunkte des Erfolgskriteriums der Prognose neuer Fakten hat Leplin in seiner Verteidigung des wissenschaftlichen Realismus als „Independence Condition“ und „Uniqueness Condition“ hervorgehoben.38 Nur wenn diese beiden Bedingungen bei der Vorhersage neuer Fakten erfüllt seien – so Leplin –, könne berechtigterweise von dem Erfolg der Theorie, auf deren Grundlage die Vorhersagen gemacht werden, auf ihre partielle oder approximative Wahrheit geschlossen werden. Den Grundgedanken seines Ansatzes beschreibt Leplin wie folgt:

38

Leplin (1997), S. 77. Die ausführliche Analyse und Diskussion des Konzepts der Neuheit von Prognosen, die Leplin durchführt, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Ich werde mich auf die für die Verteidigung des wissenschaftlichen Realismus wesentlichen Punkte konzentrieren.

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„The basic idea of my analyses is to provide that a theory uniquely explain and predict an observational result without itself depending on that result for its content or development. The point of this independence is to ensure that there be no explanation of how the theory manages to yield the result other than to invoke the entities or processes that the theory posits. The explanation of the theory’s explanatory success must be that the theoretical mechanisms it deploys are what actually produce the result.“39

Die Hauptschwierigkeit eines solchen, auf das Konzept der Prognose neuer Fakten gestützten Ansatzes zur Verteidigung der realistischen Interpretation erfolgreicher Theorien besteht darin, dass sie die Zuschreibung des Erfolgs von Theorien von wissenschaftshistorisch kontingenten Fakten abhängig macht. Ob eine Theorie unabhängig von dem durch sie prognostizierten neuen Phänomen entwickelt wurde, wird u. a. auch von den wissenschaftshistorischen Umständen zum Zeitpunkt der Entwicklung der Theorie und von den zu diesem Zeitpunkt akzeptierten Hintergrundtheorien, die zur Ableitung des fraglichen Phänomens erforderlich sind, bestimmt. Es scheint aber unter realistischen Gesichtspunkten unplausibel zu sein, den Erfolg einer Theorie und damit die Rechtfertigung für ihre realistische Interpretation vom Zeitpunkt ihrer Entwicklung abhängig zu machen. Schwerer noch wiegt das Problem, dass auch durch die Einzigkeitsbedingung (uniqueness condition) eine wissenschaftshistorische Abhängigkeit ins Spiel kommt, und zwar auch dann, wenn das Unabhängigkeitskriterium des prognostischen Erfolgs einer Theorie erfüllt ist. Es kann nämlich sein, dass die weitere theoretische Entwicklung Alternativtheorien hervorbringt, die ein durch eine ältere Theorie bereits erklärtes neues Phänomen unter Erfüllung der Unabhängigkeitsbedingung ebenfalls erklärt. Dann müsste der älteren Theorie der Erfolgsstatus aufgrund der Verletzung der Einzigkeitsbedingung wieder abgesprochen werden. Meines Erachtens lässt sich unter Rückgriff auf das im vorangegangenen Abschnitt entwickelte realistische Beobachtungskonzept die Leplinsche Argumentation für den wissenschaftlichen Realismus soweit ausdehnen und stärken, dass die über den minimalen epistemischen Realismus hinausgehenden Wissensansprüche eines wissenschaftlichen Realisten besser begründet werden können und nicht allein von wissenschaftshistorischen Umständen abhängen. Wir haben gesehen, dass es im Rahmen einer theo39

Ebd., S. 64.

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rierelativen, aber nicht theorieabhängigen Konzeption von Beobachtung möglich ist, immer wieder neue Beobachtungskonsequenzen einer zu testenden Theorie zu bestimmten. Relativ zum Korpus anerkannter Hintergrundtheorien (insbesondere Theorien kausaler Interaktionen und Theorien von Messinstrumenten) ändern sich auch die Prognosen, die mit Hilfe einer Theorie gemacht werden können. Das heißt aber, dass es einen großen Spielraum dafür gibt, zu überprüfen, ob und inwieweit eine Theorie in der Lage ist, neue Phänomene korrekt zu prognostizieren. Und dieser Spielraum wird in den Wissenschaften auch genutzt, wenn z. B. eine neue, vielversprechende Theorie auf den Plan tritt und zu testen ist, ob sie sich in unterschiedlichen Prüfsituationen behaupten kann. Nutzt man die Ressourcen des realistischen Beobachtungskonzepts voll aus, muss man nicht auf glückliche Umstände der kontingenten wissenschaftlichen Entwicklung für die realistische Interpretation erfolgreicher Theorien hoffen, sondern kann methodisch40 den Grad des empirischen Erfolgs einer Theorie41 bestimmen und zu sehr präzisen Angaben darüber gelangen, in welchen (experimentellen) Beobachtungssituationen sich eine Theorie bewährt und in welchen nicht. Damit ist es auch möglich, zu differenzieren, welche theoretischen Elemente einer Theorie realistisch interpretiert werden dürfen, d. h. welche ihrer ontologischen Verpflichtungen bezüglich theoretischer Entitäten tatsächlich eingelöst werden können. Bewährt sich beispielsweise eine Theorie in einem bestimmten Gegenstandsbereich und genügen ihre Prognosen von neuen Fakten in diesem Bereich sogar den Leplinschen Kriterien, ist es gerechtfertigt, darauf zu schließen, dass die Theorie partiell (d. h. gerade mit Blick auf den fraglichen Gegenstandsbereich) mindestens approximativ wahr ist. 40

41

Methodisch bedeutet in diesem Zusammenhang, dass gezielt neue Beobachtungen und Experimente durchgeführt werden, in denen unter Zuhilfenahme anerkannter Hintergrundtheorien beobachtbare Konsequenzen einer Theorie getestet werden. Nach dem in Abschnitt 5 vorgeschlagenen realistischen Beobachtungsbegriff können diese Tests im Prinzip alle theoretischen Entitäten betreffen, die nicht in die Kategorie der unobservables in principle fallen. Die Bestimmung des Grads des empirischen Erfolgs einer Theorie bringt eine Reihe von Spezialproblemen mit sich. Offensichtlich ist es schwierig, ein absolutes, quantitatives Maß dafür anzugeben, wie erfolgreich eine Theorie in der Beschreibung von Effekten in unterschiedlichen Phänomenbereichen ist. Ebenfalls dürfte es aussichtslos sein, die quantitative Genauigkeit von Prognosen einer Theorie mit ihrer Anwendungsbreite zu ‚verrechnen‘.

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Von besonderer Bedeutung ist, dass der hier mit Kosso entwickelte realistische Beobachtungsbegriff durch die Zurückweisung einer epistemisch gehaltvollen Beobachtbar/unbeobachtbar-Unterscheidung der Erkenntnis der physischen Wirklichkeit keinerlei prinzipielle Schranken auferlegt. Solange die von einer Theorie postulierten Entitäten nicht durch die Theorie selbst als unbeobachtbar ausgewiesen werden (also nach Kossos immediacy-Dimension als „unobservable in principle“ gelten), fallen sie grundsätzlich in den Bereich des empirisch Überprüfbaren. Zwar hängt es von geeigneten Hintergrundtheorien und auch von technisch-instrumentellen Entwicklungen ab, ob bestimmte Beobachtungen tatsächlich durchführbar sind. Ein Skeptiker kann sich allerdings angesichts eines realistischen Konzepts von Beobachtung nicht mehr darauf berufen, dass es prinzipiell keine Möglichkeit gibt, zwischen konkurrierenden Theorien, die für einen bestimmten Phänomenbereich empirisch äquivalent sind, aufgrund weiterer empirische Befunde eine epistemisch begründete Wahl zu treffen. Der Realist muss die vom Skeptiker geforderte Urteilsenthaltung bezüglich der Wahrheit erfolgreicher Theorien nur solange üben, wie es faktisch keine Beobachtungsresultate gibt, die empirisch äquivalente Alternativtheorien entkräften. Er kann aber darauf vertrauen, dass es durch die unterschiedlichen theoretischen Annahmen konkurrierender Theorien möglich ist, experimentelle Testsituationen zu konzipieren und konkret umzusetzen, die eine epistemisch gerechtfertigte Entscheidung zwischen den Theorien herbeiführen. Sind damit die Probleme die sich für den Realisten angesichts der empirischen Unterbestimmtheit von Theorien und der pessimistischen MetaInduktion stellen, bereits zufriedenstellend gelöst? Darauf lässt sich mit den hier angestellten methodologischen Überlegungen zur Verbindung von empirischem Erfolg und approximativer Wahrheit einer Theorie antworten, dass dem Realisten mit den hier angestellten methodischen Überlegungen zumindest ein leistungsstarkes Instrumentarium zur Verfügung steht, das es ermöglicht, den Schluss von falschen, aber erfolgreichen Theorien der Vergangenheit auf die Falschheit unserer heutigen Theorien zu blockieren. Der Realist ist mit Hilfe eines realistischen Beobachtungsbegriffs in der Lage, Kriterien dafür anzugeben, wann berechtigterweise vom empirischen Erfolg einer Theorie auf die (partielle oder approximative) Wahrheit bestimmter theoretischer Gehalte geschlossen werden darf. Ihm steht damit eine Strategie zur Verfügung, die nicht mehr dem Vorwurf ausgesetzt ist,

Theoretische Entitäten und ihre realistische Deutung

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ad hoc, d. h. bloß durch eine nachträgliche Bestandsaufnahme empirisch erfolgreicher Theorien in der Wissenschaftsgeschichte, den vermuteten Konnex von Erfolg und Wahrheit zu retten. Allerdings nimmt der Realist mit dieser Strategie auch eine große Hypothek auf. Er kann sich nämlich nicht mehr auf die epistemologisch schwächere Behauptung des minimalen epistemischen Realismus zurückziehen, sondern muss die wissenschaftshistorische These des wissenschaftlichen Realismus offensiv verteidigen. Leplin hat diese Aufgabe mit Blick auf die von ihm vorgeschlagene Konzeption der Prognose neuer Fakten klar formuliert und unmissverständlich herausgestellt, unter welchen wissenschaftshistorischen Bedingungen der antirealistische Skeptizismus unausweichlich ist. „... where past theories have met the standards I have imposed for warranting theoretical belief, their eventual failure is not total failure; those of their theoretical mechanisms implicated in achieving that warrant are recoverable from current theory. I stipulate that if theoretical mechanisms used to achieve prolonged records of novel success uncompromised by failure have regularly been obviated by subsequent theory, so that, from the perspective of current science, nothing of them survives, then the antirealist, inductive skeptic wins.“42

Ist man bereit, durch die hier vorgeschlagene Einbeziehung eines realistischen Beobachtungskonzepts auch weniger strenge Kriterien des Erfolgs von Theorien zuzulassen, als Leplin dies tut, muss man sogar eine noch anspruchsvollere epistemologische These vertreten. Denn es ist dann auch für Theorien, die nicht Leplins Einzigkeitsbedingung des prognostischen Erfolgs erfüllen, aber beispielsweise durch ihre vereinheitlichende Erklärungskraft als erfolgreich gelten, zu zeigen, dass Nachfolgertheorien genau die theoretischen Gehalte übernehmen, die aufgrund methodisch geleiteter Beobachtungen für den Erfolg ihrer Vorgänger verantwortlich gemacht und daher realistisch interpretiert werden. Nur wenn dies gezeigt werden kann, besteht Aussicht darauf, dass die hier vorgeschlagene Strategie von Erfolg gekrönt sein wird. Um die epistemologische Komponente des wissenschaftlichen Realismus in ihrem vollen Umfang gegen die pessimistische Meta-Induktion verteidigen zu können, ist der Realist also letztlich auf genaue wissenschaftshistorische Analysen angewiesen. Dieser Umstand verdeutlicht, dass der wissenschaftliche Realismus tatsächlich auch (nämlich in epistemologi42

Leplin (1997), S. 145.

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scher Hinsicht) eine empirische These ist, die sich am faktischen Theorienwandel der Wissenschaftsgeschichte messen lassen muss. Der Realist muss insbesondere zeigen, dass im Lauf der wissenschaftlichen Entwicklung aufeinander folgende empirisch erfolgreiche Theorien in einer Kontinuitätsrelation zueinander stehen. Diese Kontinuitätsrelation betrifft die von den Theorien postulierten theoretischen Entitäten (theoretische Gegenstände, Eigenschaften, Strukturen etc.). Wenn bestimmte theoretische Entitäten, die gemäß dem oben entwickelten realistischen Beobachtungsbegriff beobachtbar sind, tatsächlich beobachtet werden und dadurch eine Erklärung für den empirischen Erfolg der Theorie, die diese Entitäten postuliert, in einem bestimmten Phänomenbereich gegeben ist, müssen Nachfolgertheorien zumindest ähnliche Entitäten postulieren. Sequenzen empirisch erfolgreicher Theorien müssen durch die Bewahrung von partiell oder approximativ wahren theoretischen Gehalten und folglich durch referenzielle Kontinuität gekennzeichnet sein. 7. Abschließende Bemerkungen Auch wenn die hier angestellten Überlegungen nicht im mindesten als umfassende Verteidigung des wissenschaftlichen Realismus gelten dürfen, hoffe ich doch, mit der vorgeschlagenen Verteidigungsstrategie auf der Basis eines methodisch differenzierten realistischen Beobachtungsbegriffs einen gangbaren Weg gewiesen zu haben für zukünftige Advokaten eines realistischen Verständnisses wissenschaftlicher Theorien. Zumindest sollte der Eindruck entstanden sein, dass einige einflussreiche antirealistische Argumente, die auf eine generelle Erkenntnisskepsis bezüglich theoretischer Entitäten abzielen, nicht übermächtig sind und von Realisten entkräftet werden können. Der wissenschaftliche Realist kann durchaus methodisch begründen, warum er bestimmte theoretische Entitäten realistisch interpretiert, andere hingegen nicht; und er muss nicht fürchten, dass sein Urteil dem theoretischen Wandel in den Wissenschaften zum Opfer fällt. Eine absolute Absicherung gegen Irrtümer besitzt auch er indes nicht. Aber die prinzipielle Fallibilität wissenschaftlicher Theorien schließt nicht aus, dass er Wissen über theoretische Entitäten erlangen kann und in vielen Fällen auch erlangt. Vieles ist in diesem Zusammenhang natürlich noch zu zeigen und zu begründen. Insbesondere sind die bislang vorgeschlagenen und gegenwärtig

Theoretische Entitäten und ihre realistische Deutung

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recht populären naturalistischen Verteidigungen des wissenschaftlichen Realismus auf den Prüfstand zu stellen. Ich vermute, dass die hier vorgestellten Überlegungen gegenüber der Frage, ob der wissenschaftliche Realismus allein auf naturalistische Weise begründet werden kann, neutral sind. Aber dies wäre in einer eigenen Untersuchung genauer zu zeigen. Hervorzuheben ist noch, dass ich mich im Wesentlichen mit dem epistemologischen Typ des wissenschaftlichen Antirealismus auseinandergesetzt habe, konstruktivistische Gegenargumente hingegen, die auf den ontologischen Aspekt des wissenschaftlichen Realismus zielen, weitgehend ausgeblendet habe. Dabei ist indes zu berücksichtigen, dass viele der Standardargumente gegen die mit dem wissenschaftlichen Realismus verbundenen Wissensansprüche, etwa die These der empirischen Unterbestimmtheit von Theorie oder die pessimistische Meta-Induktion, auch konstruktivistisch gewendet werden können und dann für eine Auffassung zu sprechen scheinen, die derjenigen Kuhns recht nahe kommt. Auch der Aufdeckung dieser vielschichtigen Zusammenhänge, die eine genaue Unterscheidung ontologischer und epistemologischer Komponenten in den angesprochenen Argumenten voraussetzt, müsste in einer eigenen Arbeit geleistet werden. Angesichts der Vielzahl der noch offenen Streitpunkte zwischen Realisten und Antirealisten darf man ohnehin gespannt sein, wie sich die Debatte um den wissenschaftlichen Realismus weiter entfalten wird. Literatur Achinstein, Peter (1968): Concepts of Science. Baltimore. Achinstein, Peter u. Owen Hannaway (1985) (Hrsg.): Observation, Experiment, and Hypotheses in Modern Physical Science. Cambridge (Mass.) u. London. Boyd, Richard (1983): „On the Current Status of the Issue of Scientific Realism“, in Erkenntnis 19, S. 45-90. Churchland, Paul M. u. Clifford A. Hooker (1985) (Hrsg.): Images of Science. Essays on Realism and Empiricism, with a Reply from Bas C. van Fraassen. Chicago.

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Devitt, Michael (2002): „Underdetermination and Realism“, in E. Sosa u. E. Villanueva (Hrsg.): Realism and Relativism (Philosophical Issues 12). Boston u. Oxford. S. 26-50. Duhem, Pierre (1998): Ziel und Struktur der physikalischen Theorien. Hamburg. Kosso, Peter (1989): Observability and Observation in Physical Science. Dordrecht u. a. Kukla, A. (1996): „Does every theory have empirically equivalent rivals?“, in Erkenntnis 44, S. 137-166. Lakatos, Imre (1978): „Falsification and the methodology of scientific research programmes“, in ders.: The methodology of scientific research programmes. Philosophical Papers, Vol. 1. Cambridge u. a. S. 8-101. Ladyman, James (2002): Understanding Philosophy of Science. London u. New York. Laudan, Larry (1981): „A Confutation of Convergent Realism“, in Philosophy of Science 48, S. 19-48. Ders. (1984): Science and Values. Berkeley u. a. Ders. (1996): Beyond Positivism and Relativism. Boulder u. London. Leplin, Jarrett (1997): A Novel Defense of Scientific Realism. Oxford. Papineau, David (1996) (Hrsg.): The Philosophy of Science. Oxford. Popper, Karl R. 10(1994): Logik der Forschung. Tübingen. Psillos, Stathis (1999): Scientific Realism. How science tracks truth. London u. New York. Quine, Willard V. O. ²(1980): From a Logical Point of View. Cambridge (Mass.) u. London. Shapere, Dudley (1982): „The Concept of Observation in Science and Philosophy“, in Philosophy of Science 69, S. 485-525. Ders. (1985): „Observation and the Scientific Enterprise“, in Achinstein u. Hallaway (1985), S. 21-45.

Theoretische Entitäten und ihre realistische Deutung

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van Fraassen, Bas (1980): The Scientific Image. Oxford. Wilson, Mark (1985): „What Can Theory Tell Us about Observation?“, in Churchland u. Hooker (1985), S. 222-242.

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Epistemischer versus semantischer Realismus1

Zusammenfassung Der Unterschied zwischen epistemischer und semantischer Realismusthese – also Beobachterunabhängigkeit der Außenwelt versus Eindeutigkeit der Interpretation – wird analysiert. Es werden Beispiele aus der heutigen Physik angeführt, die geeignet sind, beide Thesen zu unterminieren. Anhand eines vermischten Beispiels sollen darüber hinaus vordergründige Schwierigkeiten der Unterscheidung beider Realismen aufgezeigt werden. Die abschließende Vermutung ist, dass sich diese Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Einwänden gegen die These der Theorienunterbestimmtheit beheben lassen. 1. Realismusthesen Ein „naiver Realismus“ könnte gekennzeichnet werden durch die These, die Außenwelt existiere beobachterunabhängig und sei zudem eindeutig beschreibbar. An den dabei verwendeten Schlüsselbegriffen Existenz, Beobachter und Beschreibung lässt sich eine dreifache Unterscheidung spezieller Realismusthesen vornehmen – sich keineswegs zufällig orientierend an den drei Grundthemata der theoretischen Philosophie: Ontologie, Epistemologie und Semantik. Da wäre zunächst die Existenzthese. Sie ist ontologischer Natur, da eine Seinsaussage gemacht wird: Es gibt einen Objektbereich oder Gegenstandsbereich (Reich der Entitäten) – hier als „Außenwelt“ bezeichnet. Ontischer Realismus: Die Außenwelt existiert.

1

Dieser Aufsatz ist eine stark erweiterte Version meines Beitrags „Über Möglichkeiten und Grenzen des wissenschaftlichen Realismus“, in C. Hogrebe (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen, Sinclair Press, Bonn, 2002.

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Die ontische Realismusthese besitzt in dieser Form wohl kaum Gegner, allenfalls ein extremer Solipsist wäre ontischer Antirealist. In diesem Aufsatz soll die ontische These schlicht undiskutiert vorausgesetzt werden. Am Begriff des Beobachters lässt sich des Weiteren die so genannte Unabhängigkeitsthese festmachen. Sie ist epistemologischer Natur, da ein Behauptung über die Unabhängigkeit (oder Trennbarkeit) von Erkenntnissubjekt und zu erkennendem Objekt (Erkenntnisgegenstand) getroffen wird. Epistemischer Realismus: Die Außenwelt ist beobachterunabhängig.2 Diese These kann nun durchaus mit triftigen philosophischen Argumenten attackiert werden. In der philosophischen Tradition bietet Kant das prominenteste Beispiel eines Vertreters des ontischen Realismus, der aber die epistemische These bestreitet. Schließlich erfordern die Begriffe der Erkennbarkeit und Beschreibbarkeit der Außenwelt eine These semantischer Natur, die sich auf die eindeutige Interpretierbarkeit, auf die Bedeutung und den Wahrheitsgehalt unserer Kenntnis der Außenwelt bezieht. Semantischer Realismus: Die Beschreibung der Außenwelt besitzt eine eindeutige Interpretation. Die vor allem in der angloamerikanischen Wissenschaftstheorie unter dem Stichwort „scientific realism“ diskutierten Fragen betreffen vornehmlich die These des semantischen Realismus. Eine Verletzung dieser Realismusvariante stellt aber bei weitem keine so tiefgehende philosophische Behauptung dar wie eine Verletzung der entsprechenden epistemischen Variante. In den drei folgenden Abschnitten werde ich diverse Beispiele aus der Physik zusammentragen, um an ihnen beide Realismusformen zu prüfen. Ich beginne mit dem semantischen Realismus.

2

Eine genauere Fassung dessen, wer oder was hier mit „Beobachter“ gemeint ist, soll weiter unten durch den präziseren Terminus "transzendentales Subjekt empirischer Erkenntnis" geleistet werden.

Epistemischer versus semantischer Realismus

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2. Semantischer Realismus Wie erwähnt betreffen die Fragestellungen der Realismus-AntirealismusDebatte in der neueren Wissenschaftstheorie vornehmlich die These des semantischen Realismus. Als wichtigste Stichwörter will ich hier nennen: Theorienunterbestimmtheit, Theorienholismus, Unbestimmtheit der Übersetzung, Unerforschlichkeit der Referenz – soweit also hauptsächlich zentrale Themen Quines3 –, wie auch Konventionalismus, Inkommensurabilität und Theorienreduktion. Anhand ausgewählter Beispiele aus der Physik werde ich nun speziell auf Konventionalismus und Theorienunterbestimmtheit – in dieser Reihenfolge – eingehen. 2.1 Konventionalismus in den Raumzeit-Geometrien Unsere fortgeschrittenste gültige Raumzeit-Theorie, die Allgemeine Relativitätstheorie (ART), besagt bekanntlich, dass die vierdimensionale Raumzeit-Arena der Welt eine pseudoriemannsche Geometrie besitzt, wobei die Krümmungsverhältnisse in dieser Raumzeit die Stärke des Gravitationsfeldes repräsentieren. Man hat daher im Zuge der Einsteinschen Theorie von einer „Geometrisierung der Physik“ gesprochen, genauer: Die Geometrie – in vorrelativistischer Zeit eine Domäne der Mathematik – wird durch die ART zum Gegenstand und mithin Teilgebiet der empirischen Wissenschaft, der Physik. Die Annahme des Konventionalismus ist nun, die solcherart behauptete Empirizität der Geometrie zu unterminieren mit dem Hinweis auf die Irreduzibilität konventioneller Elemente vor allem in der Wahl der Zuordnungsdefinition, die zwischen einer rein mathematisch konstatierten Abstandsrelation in der Geometrie und einem physikalisch realisierten Längenmaßstab vermittelt. Dass dabei in der Tat konventionelle Elemente auftreten, lässt sich sehr leicht klarmachen: Bei Transport eines Längenmaßstabs (Vektors) durch den Riemannraum entlang einer geschlossenen Kurve wird man i. Allg. eine Richtungsänderung des Vektors beobachten. Dies ist Ausdruck der Gravitation. Vorausgesetzt wird dabei jedoch die Invarianz der Länge des Maßstabs. Das ist aber strenggenommen keine überprüfbare Voraussetzung. Man könnte ebenso gut behaupten, der Maßstab 3

Quine ist beispielgebend für einen Vertreter des epistemischen Realismus, der jedoch – vielleicht eher aus Gründen philosophischer Aufrichtigkeit denn aus Leidenschaft – die These des semantischen Realismus als unhaltbar ansieht.

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würde entlang seines Weges schrumpfen oder wachsen – und zwar derart, dass seine Länge bei Rückkehr an den Ausgangspunkt (Schließen der Wegkurve) wieder in den Ausgangszustand zurückkehrt. Geschähe diese Deformation universell, so dass sie alle physikalischen Gegenstände gleichermaßen betrifft, gibt es keine Möglichkeit eines empirischen Tests, denn alle Eichmaßstäbe, die zur Überprüfung herangezogen würden, wären ja ebenso betroffen. Was bedeutet dies nun für die „wahren“ geometrischen Verhältnisse? Offenbar macht es keinen Sinn, von der Länge des Maßstabs zu sprechen. Metrische Angaben sind nur bis auf gewisse Zuordnungskonventionen zwischen mathematischen und physikalischen Größen festgelegt, die Geometrie als solche ist nicht eindeutig bestimmt. Dies wird nochmals deutlicher am Beispiel der so genannten „Hohlwelttheorie“. Die Idee geht auf den Amerikaner Cyrus Teed Ende des 19. Jahrhunderts zurück – vermutlich unter Rückgriff auf frühere Vorbilder (vgl. Gardner 1952, Kap. 2). Die Behauptung ist, die Erde hätte nicht die Gestalt einer Kugel, auf deren Außenfläche wir uns befinden, sondern die Gestalt einer Hohlkugel, deren Innenfläche von uns bewohnt wird (der englische Ausdruck „hollow earth theory“ ist deshalb präziser). Mathematisch lässt sich dies durch eine einfache Koordinatentransformation, die Inversion am Kreis, wiedergeben: Sei R der Radius der Erde, so lautet die Transformation der radialen Komponente in Polarkoordinaten einfach r' = R²/r. Dies führt dazu, dass Geraden, die Geodäten des konvexen, uns vertrauten Bildes, im konkaven Hohlweltbild übergehen in Kreise durch den Mittelpunkt. In der ART werden nun Geodäten durch Lichtstrahlen repräsentiert – eine Konvention, die sich (nur) durch Konsistenz rechtfertigt. Die Behauptung aber, Lichtstrahlen seien kreisförmig oder geradlinig ist empirisch bedeutungslos. Die Hohlwelttheorie ist eine lebensfähige Alternative zur gewöhnlichen konvexen Auffassung.4 Man wird ihr den Vorwurf des Mangels an Denkökonomie machen, dennoch sind beide Bilder empirisch äquivalent – eine Bevorzugung des einen Bildes vor dem anderen rein konventionell.5

4

5

Die Koordinatentransformation wird zwar am Punkt r = 0 singulär, dies lässt sich jedoch durch eine geeignete Symmetrieannahme beheben (Sexl 1983). Die früheren Anhänger der Hohlwelttheorie, meist Hobbywissenschaftler, haben bizarrerweise genau diesen Konventionalismus nie verstanden. Ihnen kam es darauf

Epistemischer versus semantischer Realismus

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Die Diskussion zeigt, dass die Geometrie der Raumzeit in Theorien wie der ART nicht eindeutig festgelegt ist, sondern dass es zwangsläufig konventionelle, bedeutungszuweisende Elemente gibt. Dies unterminiert die Semantik, nicht die Ontologie der ART – am Seinszustand der Welt ändert sich nichts. Dennoch ist es möglich, auch die Ontologie in Mitleidenschaft zu ziehen. Für den Vertreter einer substantialistischen Auffassung der Raumzeit etwa ändert eine Koordinatentransformation nämlich durchaus etwas am Zustand der Welt; denn einer solchen passiven Transformation korrespondiert mathematisch eineindeutig eine aktive Transformation, ein so genannter Diffeomorphismus. Ein Diffeomorphismus ist anschaulich eine Punkttransformation, also eine infinitesimale Verschiebung der Punkte der Raumzeit-Mannigfaltigkeit. Ungeachtet der in der Eichfreiheit der ART zum Ausdruck kommenden Tatsache, dass verschiedene diffeomorphe Modelle der Raumzeit empirisch ununterscheidbar sind, muss der Vertreter des Raumzeit-Substantialismus darauf beharren, dass eine solche Punkttransformation den Weltzustand geändert hat, insbesondere dann, wenn sein Substantialismus darin besteht, die Punkte der Mannigfaltigkeit als Entitäten per se aufzufassen (die naheliegendste Auffassung eines Raumzeit-Substantialismus). Das „hole argument“ in der neueren Philosophie der Physik zeigt, dass die ontologischen Kosten der substantialistischen Auffassung darin bestehen, einen hartnäckigen Indeterminismus in der ansonsten einwandfrei deterministischen ART in Kauf zu nehmen.6 Dies scheint mir eine vermutlich verallgemeinerbare Konsequenz zu sein: Verlagert man eine ehemals semantische Problematik in den Bereich der Ontologie (bei vorausgesetzter empirischer Unterbestimmtheit), so treten nochmals problematischere ontologische Konsequenzen auf. In diesem Sinne müssen die behandelten Fragen als semantisch angesehen werden.

6

an, empirische Unterschiede zur konvexen Beschreibung auszumachen – ein hoffnungsloses Unterfangen. In Anlehnung an Einsteins frühe konzeptionelle Schwierigkeiten mit der allgemeinen Kovarianz und ihrer physikalischen Bedeutung (die berühmte "Lochbetrachtung"), haben J. Earman und J. Norton einen "hole diffeomorphism" vorgeschlagen, der bis zur Gegenwart die Identität, dann aber eine glatte (n-mal differenzierbare) Abweichung davon darstellt. Die Welt spaltet also in der Zukunft – indeterminiert – in diffeomorphe Modelle auf (vgl. Norton 1993).

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2.2 Theorienunterbestimmtheit Hat man es mit ontologisch differenten, aber empirisch ununterscheidbaren Theorien zu tun, so liegt ein Fall von Theorienunterbestimmtheit vor, wie dies insbesondere Quine bemerkt hat. In diesem Falle rechtfertigt es sich, von rivalisierenden Theorien zu sprechen – im Gegensatz zu den im vorigen Abschnitt behandelten Fällen des Konventionalismus, der sich auf Modelle ein und derselben Theorie bezog. Der Unterschied liegt dabei in Folgendem: Verschiedene Modelle derselben Theorie, so wie sie in der Konventionalismusdebatte auftreten, lassen sich durch eine Übersetzungsregel ineinander überführen. Beispielsweise könnte man für den Fall der Hohlwelttheorie ein einfaches Lexikon zwischen konvexer und konkaver Sprechweise angeben: Gerade = Kreis, unendlich ferner Punkt = Mittelpunkt, Erdmittelpunkt = unendlich ferner Punkt. Allgemein gesprochen beruht Theorienunterbestimmtheit auf der Tatsache, dass die Menge der theoretischen Terme (sowie die mit ihnen z. T. einhergehenden ontologischen Verpflichtungen) faktisch stets größer ist als die Zahl der mit den direkt observablen Größen verknüpften Beobachtungsterme (gleich wie weitherzig man hier den Begriff der Beobachtbarkeit wählen will). So gesehen würde man den Effekt der Unterbestimmtheit in den empirischen Wissenschaften geradezu notorisch erwarten. Es ist aber tatsächlich kein leichtes Unterfangen, geeignete Beispiele aus der Physik – und wohl ebenso wenig aus anderen Gebieten – aufzuweisen.7 Eine Vermutung über den Grund für dieses Missverhältnis werde ich zum Schluss nennen, zunächst aber möchte ich jetzt diejenigen physikalischen Beispiele diskutieren, die mir als Kandidaten für Unterbestimmtheit überhaupt nur geeignet scheinen. Wir bleiben bei den Raumzeit-Theorien. Die Frage wäre, wie die Möglichkeit einer Übersetzungsregel ausgeschlossen werden kann bei gleichzeitiger Sicherstellung der empirischen Äquivalenz. Die Beispiele des 7

Triviale oder – besser noch – "pathologische" Beispiele der Unterbestimmtheit von Naturgesetzen, die offenkundig den Prinzipien der Einfachheit und Denkökonomie widersprechen, möchte ich hier gar nicht erst betrachten. Ein Beispiel hierfür wäre etwa dies: Sei G(X; t) = 0 ein mathematisch formuliertes Gesetz, das von beliebigen Parametern X und der Zeit t abhängt, dann ist G(X; t) + g(t) = 0 mit g(t) = go(t) (t-t1) (t-t2) ..., wobei go(t) eine beliebige Funktion und ti die Messzeitpunkte darstellen, ein banalerweise empirisch äquivalentes Gesetz; denn zu jedem Messzeitpunkt t = ti ist g(ti) = 0.

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Konventionalismus leisten dies nicht. Offenbar müssen die Differenzen der rivalisierenden Theorien in einem unterschiedlichen Bestand der theoretischen Terme – also einer irreversiblen Änderung der Semantik – zum Ausdruck kommen. Bas van Fraassen (1980) nennt als Beispiel den Fall der Newtonschen Theorie mit oder ohne Ätherkonzeption. In der Tat entzog sich die Ätherhypothese über Jahrhunderte der experimentellen Prüfung, ihre Überwindung stellte Anfang des 20. Jahrhunderts die Begründung der Speziellen Relativitätstheorie dar. Somit lässt sich dies für den Zeitraum der mechanistischen Ära vermutlich wirklich als Beispiel für Theorienunterbestimmtheit ansehen. Lassen sich aber auch Beispiele finden, die nicht nur vorübergehender Natur sind? Betrachten wir nochmals die ART als Theorie im Riemannraum, der zufolge unsere Raumzeit gekrümmt ist. Seit langem ist bekannt, dass das Gravitationsfeld ebenso als Feld im flachen Minkowskiraum (mit geeigneter Störungsentwicklung) analog zum elektrodynamischen Feld beschrieben werden kann (siehe z. B. Mittelstaedt 1963, Kap. II). Diese lorentzinvariante Gravitationstheorie mag mathematisch nicht so elegant wie die ART im Riemannraum sein, stellt aber klarerweise eine empirisch äquivalente Alternative zur orthodoxen ART dar. In ontologischer Hinsicht setzt sie sich jedoch von der ART ab durch die Annahme der flachen universellen Hintergrundraumzeit. Zwei weitere Rivalen erhält man, wenn man die eichtheoretische Struktur der ART in den Vordergrund rückt. Ihr zufolge repräsentieren Faserbündel, also geometrische Arenen bestehend aus Basisraum und lokalen Faserräumen, den Totalraum der Welt. Bemerkenswerterweise treten hierbei Unterbestimmtheiten sowohl hinsichtlich der Frage auf, ob die Bündelkrümmung in den Fasern oder im Basisraum aufgehoben ist, als auch hinsichtlich der Eichgruppe (Translations- oder Lorentzgruppe). Details werden in Lyre und Eynck (2001) diskutiert. Ebenso aus dem Umfeld der Eichtheorien stammt ein weiteres Beispiel, das sich am Aharonov-Bohm-Effekt festmachen lässt: Führt man ein Elektron entlang eines geschlossenen Weges um ein abgeschirmtes Magnetfeld, so kann man bei Änderung des Magnetfeldes eine Phasenverschiebung der Elektronenwellenfunktion beobachten. Man kann plausibel machen, dass dieser Effekt nicht durch eine lokale Wechselwirkung zwischen Wellenfunktion und Magnetfeld zustande kommt, da beide räumlich getrennt sind. Jedoch hat das magnetische Potential im Außenraum der Spule nicht-verschwindende Werte, so dass

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der „AB-Effekt" oftmals als Indiz für die Realität der Eichpotentiale zitiert wird. Zwingend ist dieser Schluss aber durchaus nicht. Man kann der „AInterpretation", die das Eichpotential A als Erklärung favorisiert, eine "BInterpretation" gegenüberstellen, in der das magnetische Feld B eben nichtlokal, und zwar unter Verletzung des Nahewirkungsprinzips, mit der Elektronenwellenfunktion koppelt. Die ontologischen Kosten der Aufgabe des Nahewirkungsprinzips werden dabei aufgewogen durch die Aufrechterhaltung einer Form der Separabilität, die in der A-Interpretation verletzt ist: dass nämlich, vereinfacht gesagt, zwei räumlich getrennte Objekte einen je eigenen physikalischen Zustand besitzen. Hinzu kommt, dass Eichpotentiale – da eichabhängig – nicht direkt observabel sind – offenkundig ein schwerwiegender Nachteil für eine vermeintliche physikalische Entität! Möchte man sowohl Nahewirkung als auch Observabilität beibehalten, empfiehlt sich eine dritte Option: die so genannten Holonomien. Dabei handelt es sich um Kreisintegrale, die die Phasendifferenz bei geschlossenem Weg darstellen. Wie auch die Eichpotentiale verletzen diese Größen die „topologische Separabilität“ im obigen Sinne, zudem das Prinzip der Punktwechselwirkung, das ansonsten die A-, nicht aber die BInterpretation erfüllt. Mit den Holonomien als C-Interpretation („closed curves“) ergibt sich folgende Bilanz (Details siehe Eynck et al. 2001): A-Interpretation

B-Interpretation

C-Interpretation

Nahewirkung

ja

nein

ja

Separabilität

nein

ja

nein

PunktwechselWirkung

ja

nein

nein

Observabilität

nein

ja

Ja

Auch dieses Beispiel erfüllt bestens die Kriterien der Theorienunterbestimmtheit: ontologische Differenz trotz empirischer Äquivalenz. Der ontologische Unterschied kommt jeweils zustande durch Unterschiede in den Interpretationen (Semantik der Eichtheorien), die nicht durch eine einfache Übersetzung der theoretischen Terme behoben werden können.

Epistemischer versus semantischer Realismus

191

Es dürfte also klar geworden sein, dass das Phänomen der Theorienunterbestimmtheit ein zentrales Argument gegen den semantischen Realismus darstellt. Generelle Einwände gegen die Theorienunterbestimmtheit diskutiere ich im letzten Abschnitt. Ich werde zuvor aber ein drittes Beispiel in einem eigenen Abschnitt behandeln (Kopenhagener vs. Bohmsche Quantenmechanik, Abschnitt 4), da sich in ihm Elemente des semantischen mit dem epistemischen Realismus mischen, dessen Grundzüge ich nun darstellen will. 3. Epistemischer Realismus Die epistemische Variante des Realismus beinhaltet die Beobachterunabhängigkeit der Welt, also eine prinzipielle Trennbarkeit von Subjekt und Objekt. Da es sich hierbei nicht einfach nur um konfligierende Beschreibungsweisen handelt, sondern ein echtes Abhängigkeitsverhältnis, ist diese Form des Realismus stärker als diejenige des semantischen Realismus. Wie in der Einleitung erwähnt, enthält vor allem die Transzendentalphilosophie Argumente gegen den epistemischen Realismus. Dies soll weiter unten angesprochen werden. Den Auftakt des Abschnitts bildet eine der zentralen Problematiken aus den Grundlagen der Physik: das Problem der Messung in der Quantenmechanik. 3.1 Die quantenmechanische Messung Die Besonderheiten der Quantenmechanik und speziell die Fragen des Messprozesses lassen sich bereits an einfachsten Experimenten vor Augen führen. Man betrachte die Messung eines Elektronenspins mit Hilfe eines Stern-Gerlach-Magneten: Im Gegensatz zum klassischen Drehimpuls zeigt der Spin bei seiner Messung die kurios anmutende Eigenschaft, dass seine Größe (Länge des Vektors) unveränderlich ist – wie immer der Experimentator die so genannte Quantisierungsachse wählt, also diejenige Raumrichtung, bezüglich derer der Spin gemessen werden soll. Kurios ist diese Eigenschaft, weil anschaulich zu erwarten wäre, dass ein Drehimpuls eine beobachterunabhängige Ausrichtung im Raume hat. Bei Rotation der Stern-Gerlach-Apparatur sollte dann i. Allg. nur eine Vektorkomponente des Vollausschlags gemessen werden. Der Spin aber behält immer die volle Vektorlänge bei! Lediglich die Ausrichtung parallel oder antiparallel zur Messachse ist kontingent (nur das Vorzeichen ist Messobservable). Dies

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demonstriert nach der Kopenhagener Standardauffassung eine irreduzible Einflussnahme des Beobachters auf die zu messende Größe, genauer, der Beobachter legt durch die Wahl der Messanordnung fest, was gemessen werden soll. In diesem Sinne ist der Beobachter an der Erzeugung von Elementen der Realität im Messakt beteiligt. Vor der Messung kann vom objektiven Vorliegen des Spins nicht gesprochen werden – zu einem Element der Realität wird er erst im Moment der Messung, also der irreversiblen Registrierung in einem Messapparat. Noch drastischer zeigt sich dies an der Möglichkeit des Experimentators, die Entscheidung über die Ausrichtung der Quantisierungsachse mit verzögerter Wahl zutreffen, denn nach klassischer Vorstellung kann das Elektron den Magneten bereits passiert, aber den Auswertungsschirm noch nicht erreicht haben. John Wheeler (1998, Kap. 15) diskutiert folgendes Gedankenexperiment: Man denke sich ein Photon, das in den Frühzeiten unseres Kosmos abgestrahlt wurde und zum jetzigen Zeitpunkt die Erde erreicht. Das Photon habe auf seinem Weg eine Galaxienkonstellation passiert, die gravitativ eine Strahlteilung bewirkt und deren Fokussionspunkt auf der Erde liegt. Ein irdischer Experimentator könnte dann mit diesem Photon ein "Welcher Weg-Experiment" durchführen. Er stellt hierzu entweder in einen der Strahlgänge einen Detektor und ermittelt so die Weginformation des Photons, oder aber er misst eine Interferenz des Photons mit sich selbst – unter zwangsläufigem Verlust der Weginformation. Hierbei handelt es sich um ein Experiment mit verzögerter Wahl mit einer zusätzlichen Pointe, denn das betrachtete Photon stammt ja aus den Frühzeiten des Kosmos – also aus einer Zeit weit vor der Existenz menschlicher Beobachter! Dennoch wird erst hier und jetzt, durch die Art des Experiments und seines Ausgangs ein entsprechendes Element der Realität konstituiert. Keine andere empirische Theorie führt auf ein derart tiefliegendes Element der Beobachterabhängigkeit. Die Quantentheorie stellt eine schwerwiegende Attacke auf die Position des epistemischen Realismus dar – und die Kopenhagener Standardauffassung trägt dem Rechnung durch eine prinzipielle SubjektObjekt-Verschränkung im dezidiert epistemisch antirealistischen Sinne. Eine genauere Betrachtung des Fragenkreises des quantenmechanischen Messprozesses macht noch stärker deutlich, inwieweit sich hier epistemische von rein semantischen Aspekten abheben. Vereinfacht besteht der Messprozess aus drei Schritten: Zunächst sind Messobjekt und Messgerät

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miteinander zu koppeln. Dabei tritt eine Wechselwirkung auf. Nach der Messwechselwirkung erfolgt eine Trennung von Messgerät und Messobjekt. Der letzte Schritt besteht darin, dass das Messgerät sich nun in einem Zustand befindet, in dem es den gemessenen Objektzustand irreversibel registriert (und entsprechend anzeigt). Vertrackterweise lässt sich eben dieser letzte Schritt im Rahmen der Quantenmechanik nicht vollständig erfassen (im physikalischen Jargon: reine Zustände können durch unitäre Transformationen nicht in Gemenge übergehen; vgl. Mittelstaedt 1963, Kap. IV). Dies bezeichnet man als quantenmechanisches Messproblem: die Theorie erklärt nicht das Zustandekommen irreversibler Messergebnisse, welche aber ja offensichtlich allerorten vorkommen. Zu den meistbeachteten Vorschlägen zur vermeintlichen Lösung des Messproblems zählen heutzutage diejenigen Auffassungen, bei denen das Konzept der Dekohärenz eine Rolle spielt. Es lassen sich nämlich Mechanismen angeben, mittels derer ein praktisches Verschwinden der typisch quantenmechanischen Korrelationen zwischen Messgerät und Messobjekt plausibel gemacht werden kann. Genau das ist es, was man bei einer Trennung von Messgerät und Objekt nach der Messwechselwirkung erwarten muss. „For all practical puposes“ – nach einem bekannten Slogan von John Bell (1990) – liegt dann eines der möglichen Messergebnisse vor – im Sinne echter Zufälligkeit. An dieser Stelle unterscheidet sich das Auftreten des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in der Quantenmechanik erheblich von seinem Auftreten in der klassischen Physik. Nicht die bloß subjektive Beobachterunkenntnis („Ignoranz“) führt zum Gebrauch von Wahrscheinlichkeitsvoraussagen, sondern prinzipieller Indeterminismus. In der Quantenmechanik ist daher die so genannte Ignoranzinterpretation der Zustandsbeschreibung nicht erfüllt. Wäre dies der Fall, so wäre das „Messproblem“ bloß semantischer Natur (und eigentlich kein Problem mehr). Das Versagen der Ignoranzinterpretation – das durch Dekohärenz nicht verhindert wird – ist das eigentliche, epistemologische Problem. 3.2 Kant in aller Kürze Da das quantenmechanische Messproblem epistemologischer Natur ist, muss man dies auch von den Lösungsversuchen erwarten. In der Tat lässt sich mit transzendentalen Argumenten eine epistemologische Lösung anbieten (Lyre 1998). Für unser jetziges Thema interessiert jedoch zunächst nur die Frage, was ein transzendentales Argument zentral ausmacht.

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Bekanntlich rekurriert Kant in seiner Erkenntnistheorie auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung: Um Erfahrung zu ermöglichen, müssen ihre Bedingungen vor aller Erfahrung – a priori – schon erfüllt sein. Kants Begriff des Apriori ist streng, seine modernen Varianten als stammesgeschichtliches Aposteriori, begriffsrelatives Apriori oder sonstige Naturalisierungsversuche des Apriori unterscheiden sich erheblich vom strengen kantischen Begriff. Nur ein strenges Apriori aber erlaubt die bei Kant zentrale Unterscheidung zwischen empirischem und transzendentalem Subjekt. Relativierungen und Naturalisierungen des Apriori überführen demgegenüber Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung in den Bereich des Empirischen – und öffnen sie somit dem kontingenten Wandel des Naturgeschehens. Kants Idee jedoch war es, die Allgemeinheit und Notwendigkeit der (fundamentalen) Naturgesetze auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zu gründen, und nicht, die Naturgesetze vom Naturgeschehen abhängig zu machen – das wäre zirkulär. Ich erläutere dies noch einmal kurz anhand der Frage des Messprozesses. Die Quantenmechanik erlaubt im Prinzip ein Ausufern der Messkette: Der Beobachter und alles, was ihn ausmacht (Sinnesorgane, Gehirn etc.), ist ebenso als physikalisches System ansehbar wie das Messobjekt selbst. Zur Überwindung der Subjekt-Objekt-Verschränkung ist es daher vonnöten, einen methodischen Schnitt zwischen Subjekt und Objekt vorzunehmen. Da dies kein Prozess in der Welt ist, findet letztlich ein Rückgriff auf das transzendentale Subjekt statt – und mithin ein Rückgriff darauf, dass die Irreversibilität eines Messergebnisses in der Möglichkeit von Erfahrungswissenschaft, die von messenden Beobachtern durchgeführt wird, immer schon vorauszusetzen ist. Es gehört zu den irreduziblen Voraussetzungen des Begriffs der Messung, dass, sofern Messungen möglich sind, diese nur irreversibel möglich sind (Lyre 1999). In erkenntnistheoretischen Ansätzen, in denen der Beobachter als transzendentales Subjekt irreduzibel ist, ist die Beobachterabhängigkeit der Realität prinzipiell nicht eliminierbar. Weichere Apriorismen lassen demgegenüber ein Schlupfloch für den epistemischen Realismus – erlauben aber eben umgekehrt keine vollständige Lösung des Messproblems.

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4. Ein vermischtes Beispiel Die Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik lässt sich im Kern durch die Notwendigkeit klassischer Begriffe charakterisieren. Darunter ist zu verstehen, dass Messungen letztlich wie in der klassischen Physik beschrieben werden müssen: mit eindeutigen, irreversiblen Messergebnissen. Andernfalls wären die Ergebnisse messender Physik nicht kommunikabel, man hätte es also kaum mit einer von Menschen betriebenen Wissenschaft zu tun. (Wer hätte auch jemals eine Überlagerung von Zeigerzuständen beobachtet?) Der Kopenhagener anerkennt die Beobachterabhängigkeit der Messung im epistemologischen Sinne, d. h. er weist die epistemische Realismusthese zurück. Die Kopenhagener Auffassung als Standardauffassung zu bezeichnen, lässt sich im Hinblick auf die Mehrheit der „practising physicists“ wohl immer noch weitgehend rechtfertigen. Unter den Fachleuten aber, die sich mit Grundlagen der Quantenmechanik befassen, herrscht heute ein gewisser Pluralismus. Eine nicht unbeträchtliche Fraktion ist dabei diejenige der Bohmianer. Zunächst lässt sich die Bohmsche Quantenmechanik als eine suggestive Umschreibung der gewöhnlichen Quantenmechanik auffassen: Bohm nutzte die zwei komplexen Freiheitsgrade der Schrödingergleichung, um sie in ein Paar reeller Gleichungen umzuschreiben. Eine dieser Gleichungen lässt sich als Hamilton-Jacobi-Gleichung mit zusätzlichem Potentialterm, dem „Quantenpotential“, ansehen (Schrödinger – unter Rückgriff auf de Broglie – hatte ja vormals im Rahmen der HamiltonJacobi-Formulierung seine berühmte Gleichung gefunden). In neueren Darstellungen wird eine Bewegungsgleichung mit einem von der Wellenfunktion abhängigen Geschwindigkeitsfeld bevorzugt. Bohmianer interpretieren nun diese Gleichung als Bewegungsgleichung für die Bahnen der Teilchen und die übliche Schrödingergleichung als Dynamik für deren "Führungsfeld", die Wellenfunktion. Ihrer Herleitung nach – lediglich durch Wahl einer anderen mathematischen Darstellung – ist evident, dass die Bohmsche Theorie in allen empirischen Belangen äquivalent zur Standarddarstellung sein muss. Die Interpretation freilich weicht erheblich von der Kopenhagener Deutung ab: Es werden theoretische Terme – insbesondere der Bahnbegriff – eingeführt, die keine Übersetzung in Terme der Standardtheorie erlauben. Daher bil-

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den Kopenhagener und Bohmsche Quantenmechanik ein weiteres gutes Beispiel für die These der Theorienunterbestimmtheit.8 Die von der Bohmschen Theorie behaupteten Teilchenbahnen haben zwangsläufig höchst bizarre Eigenschaften, die durch die weiterhin bestehende essentielle Nicht-Lokalität der Quantentheorie verursacht werden. Die Bohmsche Theorie ist also nicht-lokal, jedoch deterministisch und realistisch im epistemischen Sinne. Das aber bedeutet, dass sich scheinbar der epistemische Antirealismus der Kopenhagener Deutung auf semantischem Wege vermeiden lässt. Unterhöhlt dies dann nicht gravierend die bisher getroffene Unterscheidung epistemisch/semantisch in Bezug auf die Realismusfrage? Zum Verständnis müssen wir nochmals die Ignoranzinterpretation betrachten. Falls die Bohmsche Theorie eine epistemisch realistische Deutung liefert, muss sie die Ignoranzinterpretation in irgendeiner Weise wieder aufleben lassen. Wie aber ist das möglich? Das Versagen der Ignoranzinterpretation in der Standard-Quantenmechanik besagt ja, dass der Beobachter keine Möglichkeit hat, auf empirischem Wege zu entscheiden, ob die Korrelationen seines Messgeräts nach geeigneter Dekohärenz mit dem Messobjekt nur for all practical purposes verschwunden sind, oder ob eine im klassischen Sinne echte Trennung von Subjekt (bzw. Messgerät) und Objekt vorliegt.9 Nun gilt aber, dass ein Meta-Beobachter, der eine Messung am Gesamtsystem Beobachter/Messobjekt vornimmt, Observable betrachten kann, an denen der Unterschied empirisch zutage tritt (dies rechtfertigt überhaupt erst die Behauptung, die Ignoranzinterpretation wäre in der Standardauffassung verletzt). Klarerweise sind aber dem Meta-Beobachter wiederum seine Korrelationen mit dem Gesamtsystem „Beobachter und Messobjekt“ unbekannt. Nun lässt sich ein Meta-Meta-Beobachter einführen usw. Treibt 8

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Hier sei noch einmal hervorgehoben, dass das Phänomen der Unterbestimmtheit inkompatible Theoriensemantiken erfordert. Andere Interpretationen der Quantenmechanik, wie etwa die Everettsche Viele-Welten-Theorie, erfüllen dieses Kriterium im Hinblick auf die Standardauffassung häufig nicht. Bei der Everett-Theorie lässt sich z. B. durch die einfache Ersetzung "Welt = möglicher Zustand" semantische Kompatibilität erreichen. In der Darstellung mit Dichtematrizen unterscheidet man hier terminologisch zwischen Gemisch und Gemenge bzw. – nach d'Espagnat – zwischen improper und proper mixture (vgl. Mittelstaedt 1963, Kap. IV).

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man diese Überlegung an ihre Grenzen, so ist jeder Beobachter letztlich nur ein innerer Beobachter im Universum. Innere Beobachter aber können die Frage der Ignoranzinterpretation bezüglich des „Restsystems“ nicht testen. Für den Bohmianer ist dieser Sprung auf die größtmögliche Ebene selbstverständlich, denn es gehört zu seinen Ausgangsannahmen, dass das Universum – nach Art eines nicht-lokalen Laplaceschen Dämons – mit einer gegebenen Menge von Anfangsbedingungen für alle Teilchen startet, um dann getreu der Bohmschen Dynamik abzulaufen. Auf diese Weise kann der Bohmianer die weder prüf- noch belegbare Behauptung aufstellen, die Ignoranzinterpretation wäre global nicht verletzt. 5. Fazit Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun aus den vorgetragenen Überlegungen ziehen? Betrachten wir noch einmal die These der Theorienunterbestimmtheit. In Abschnitt 2.2 war bereits aufgefallen, dass hierfür in der Wissenschaftstheorie recht wenige überzeugende Beispiele existieren. Ich habe versucht, dem ein wenig Abhilfe zu verschaffen – mit vier Darstellungen der ART, drei Interpretationen des AB-Effekts sowie Kopenhagener und Bohmscher Quantenmechanik. Gemessen an der Herkunft der These ist dies aber immer noch eine recht magere Ausbeute (eingedenk Fußnote 6). Denn in Strenge bedeutet die These der Theorienunterbestimmtheit, dass sich zu einer gegebenen Theorie im Prinzip beliebig viele Kandidaten rivalisierender Theorien finden, ja gewissermaßen sogar automatisch generieren lassen müssten. Es sollte möglich sein, aufgrund der behaupteten Unterbestimmtheit der theoretischen Terme durch die Beobachtungsdaten, beliebige ontologisch differente Umänderungen herbeiführen zu können – etwa durch Hinzuoder Wegnahme theoretischer Terme oder deren je unterschiedliche Rückführung auf den Korpus der Beobachtungsdaten. Warum aber begegnet uns das Phänomen der Unterbestimmtheit in der Praxis dann nur so selten? Einen wichtigen Hinweis stellt die Forderung der inter-theoretischen semantischen Konsistenz und Einheit der empirischen Wissenschaften in ihrer Ganzheit dar. Wir ziehen mögliche Alternativtheorien für einzelne Teilgebiete erst gar nicht ins Kalkül, wenn sie mit Grundannahmen, die sich in (fast) allen anderen Bereichen als brauchbar und konsistent ergeben

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haben, in Konflikt stehen. So wird wohl kaum ein Physiker die in Abschnitt 2.2 aufgestellte B-Interpretation im Rahmen der Eichtheorien verwenden, da sie das Nahewirkungsprinzip verletzt. Da dieses Prinzip aber in so vielen Teilbereichen der Physik erfolgreich unterstellt werden kann, müssten weit schwerwiegendere empirische Evidenzen zu seiner Aufgabe zwingen, als die Möglichkeit einer Alternativformulierung eines Teilbereichs. Hinzu kommt ein weiterer Einwand: Fälle von Unterbestimmtheit für Einzeltheorien könnten schlichtweg Artefakte unvollständiger wissenschaftlicher Kenntnis sein – van Fraassens Beispiel der Newtonschen Theorie mit oder ohne Äther fällt aus heutiger Sicht ja genau in diese Kategorie. Die gerade durch die jüngere Physikgeschichte nahegelegte größere Hoffnung der Einheit der Physik – namentlich in Form einer Vereinheitlichung aller Wechselwirkungen – führt also (im Zusammenspiel mit den üblichen metatheoretischen Forderungen der Einfachheit, Denkökonomie etc.) zum faktischen Ausschluss einer Vielzahl alternativer Teiltheorien. Die noch verbleibenden echten praktischen Fälle von Unterbestimmtheit – so sie denn nicht wie im Fall des geometrischen Konventionalismus triviale Umformulierungen darstellen – sollten daher vielleicht eher als Hinweise auf offene Forschungsfronten angesehen werden. Praktische Unterbestimmtheit wie in den von mir benannten Beispielen ist gewissermaßen ein Indiz für unvollständiges Wissen und wird so zu einem Forschungsindikator, gerade weil Unterbestimmtheit als allgemein behauptetes Phänomen mit Skepsis zu beurteilen ist (Lyre und Eynck 2001). Indem die These der Theorienunterbestimmtheit ihres prinzipiellen Charakters beraubt ist, tritt die Unterscheidung von epistemischem und semantischem Realismus wieder in ihr Recht. So könnte eine Entscheidung zwischen Kopenhagener und Bohmscher Quantenmechanik auf Dauer durch die Tatsache zustande kommen, dass es etwa im Rahmen der Bohmschen Formulierung fortgesetzt nicht gelingt, eine lorentzinvariante Quantenfeldtheorie aufzubauen (ein Indiz semantischer Inkonsistenz, das von Anbeginn an auch von Bohm-nahestehenden, epistemisch-realistisch ambitionierten Interpreten wie John Bell ins Feld geführt wurde). Nun hat Quine wiederholt betont, dass die Unterbestimmtheitsthese auch und gerade für den hypothetischen Fall gilt, dass wir im Besitz allen empirisch zugänglichen Wissens sind: ein system of the world (Quine 1975). Ich möchte hier nicht darüber spekulieren, ob diese "globale" These zutreffen-

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der ist als ihre "lokale" Anwendung. Ich vermute jedoch, dass die dann noch auftretenden Rivalen keine Theorien mehr sein werden, die einmal realistisch, einmal anti-realistisch im epistemischen Sinne gedeutet werden können. Die Unterscheidung von epistemischem und semantischem Realismus sollte m. E. in der wissenschaftstheoretischen Debatte stärker Beachtung finden, um die weitaus profundere Realismuskritik, die sich am Versagen der epistemischen These festmacht, genauer zu beleuchten. Manch Schattenboxen auf dem bloß semantischen Level erwiese sich dann womöglich als obsolet. Danksagung Herzlichen Dank an Brigitte Falkenburg und Christian Suhm für hilfreiche Hinweise und Diskussion. Literatur Bell, J. S. (1990). Against ‘Measurement’. Physics World, 8: 33-40. Deutsche Übersetzung in Phys. Bl. 48: 4 (1992). Eynck, T. O., H. Lyre und N. v. Rummell (2001). A versus B! Topological nonseparability and the Aharonov-Bohm effect. Int. J. Theor. Phys, im Druck. (E-print PITT-PHIL-SCI00000404). Gardner, M. (1952). Fads and Fallacies in the Name of Science. Dover, New York. (Second edition 1957). Lyre, H. (1998). Quantentheorie der Information. Springer, Wien, New York. Lyre, H. (1999). Against Measurement? On the Concept of Information. In Blanchard, P. und A. Jadczyk, Hg.: Quantum Future. Springer, Berlin. (E-print quant-ph/9709059). Lyre, H. und T. O. Eynck (2001). Curve It, Gauge It or Leave It? Practical Underdetermination in Gravitational Theories. Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie – Journal für General Philosophy of Science, im Druck. (E-print: PITT-PHIL-SCI00000514)

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Mittelstaedt, P. (1963). Philosophische Probleme der modernen Physik. B.I.-Wissenschaftsverlag, Mannheim. 7. Auflage 1989. Norton, J. D. (1993). General Covariance and the Foundations of General Relativity: Eight Decades of Dispute. Reports of Progress in Physics, 56: 791-858. Quine, W. V. (1975). On Empirically Equivalent Systems of the World. Erkenntnis, 9: 313-328. Sexl, R. U. (1983). Die Hohlwelttheorie. Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht, 36 (8): 453-460. van Fraassen, B. C. (1980). The Scientific Image. Clarendon Press, Oxford. Wheeler, J. A. und K. Ford (1998). Geons, Black Holes and Quantum Foam: A Life in Physics. Norton & Company, New York.

Daniela M. Bailer-Jones

Realist-Sein im Blick auf naturwissenschaftliche Modelle

1. Modelle versus Theorien Wer unter den Wissenschaftsphilosophen Realist ist, ist dies zumeist mit Blick auf naturwissenschaftliche Theorien. Salopp lässt sich die Realismusfrage dann folgendermaßen formulieren: Ist die empirische Wirklichkeit tatsächlich so, wie unsere naturwissenschaftlichen Theorien sie beschreiben? Diese Frage ist im Rahmen eines Verständnisses formuliert, gemäß dem die Hauptarbeit naturwissenschaftlichen Erkennens und Beschreibens von Theorien geleistet wird. Diese Theoriendominanz hat in der Wissenschaftsphilosophie ein lange Tradition, die z. B. schon bei Duhem, aber auch später bei den Logischen Positivisten deutlich ausgeprägt war. Die andere Hälfte des Gegensatzpaars Modell/Theorie, das Modell, war deshalb lange Zeit zu einem Stiefmütterchendasein verdammt (BailerJones 1999a). Modelle wurden nicht selten als rein hypothetisch eingestuft (Hesse 1953, S. 201; Harré 1960, 1970), was impliziert, dass es sich bei ihnen nicht um ‚echtes Wissen‘ oder ‚echte Information‘ über die empirische Welt handle. Häufig wurden sie als ‚nicht wörtliche‘ Beschreibungen der Natur bezeichnet (Hesse 1953, S. 202) oder als nicht die Wirklichkeit wiedergebend (Hutten 1954, S. 286). Trotzdem konnte ihre Bedeutung für die wissenschaftliche Praxis, gerade in ihrer heuristischen Funktion, nicht völlig übersehen werden (z. B. Hesse 1953, 1966). Die heuristische Funktion ließ sie zumindest zwischenzeitlich im wissenschaftsphilosophischen Geschehen eine gewisse Bedeutung erlangen. Zu den PhilosophInnen, die für eine prominentere Stellung von Modellen innerhalb der Wissenschaftsphilosophie plädierten, gehören maßgeblich Mary Hesse, Rom Harré und Peter Achinstein. Inzwischen hat sich das Blatt fast vollständig gewendet. Während die Anhänger von Modellen in den Sechzigerjahren für eine Beachtung von Modellen neben den im Logischen Empirismus alles dominierenden Theorien kämpfen mussten, gibt es heute immer mehr WissenschaftsphilosophInnen, die Modellen, im Gegensatz zu Theorien, zentrale Bedeutung im Beschreiben und Analysieren naturwissenschaftlicher Phänomene zuspre-

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chen (Cartwright et al. 1995; Cartwright 1999; Beiträge zu Morgan und Morrison 1999; Giere 1999a,b). Damit bildet sich ein neues Modellverständnis heraus, das automatisch auch das Verständnis von Theorien revidiert. Nach diesem veränderten Verständnis sind es Modelle, die die empirische Wirklichkeit beschreiben, und nicht Theorien. Laut Morgan und Morrison (1999) vermitteln Modelle zwischen Theorien und der empirischen Welt. Theorien sind so etwas wie Hülsen, die, entsprechend mit Zusatzinformationen, z. B. Randbedingungen und Approximationen, versehen, durchaus auf die empirische Welt anwendbar werden, aber sich als solche nicht auf die empirische Welt beziehen. Modelle dagegen beziehen sich konkret auf empirische Phänomene. Einer der Hauptunterschiede zwischen Modellen und Theorien besteht demnach darin, dass Theorien zwar das Potential haben, auf empirische Phänomene angewendet zu werden, aber das eigentliche Anwenden von Theorien auf Phänomene im Rahmen von Modellen stattfindet. Prägnant zusammengefasst, “while a theory may function as a pure form, a model has its content ‚built in‘“ (Suárez 1999, S. 79). Nach diesem revidierten Modellverständnis beziehen sich Theorien in einer ausgesprochen allgemein gehaltenen Weise auf die empirische Welt. Sie tun dies durch das Darstellen allgemeingültiger Prinzipien wie Naturgesetzen, deren Anwendungsbedingungen aber nicht weiter spezifiziert sind. Ihre prinzipiell globale Anwendbarkeit steht dem lokalen Angewendetsein von Modellen gegenüber. Will man eine allgemeine Theorie auf einen speziellen Fall, ein bestimmtes empirisches Phänomen, (also lokal) anwenden, so entwickelt man ein Modell, in dem die Theorie den empirischen Verhältnissen des Phänomens angepasst wird. Entsprechend formuliert Giere: “On my interpretation, the model/theory distinction is mainly a reflection of the extent to which a branch of enquiry is guided by broad general principles. Where there are such principles, as in many areas of physics and biology, the models employed often, though not always, embody these principles.“ (1999a, S. 54). Cartwright (1999, S. 182) geht noch weiter und lässt für die Modellkonstruktion ganz verschiedene, nicht weiter spezifizierte Elemente neben Theorien zu, ganz gleich, ob sich diese nun auf empirische Informationen oder im Einzelfall auch auf Spekulationen stützen. Aus dieser Art von Gewichtung, bei der Theorien einzig innerhalb von Modellen zur Anwendung auf empirische Phänomene kommen, ergibt es sich, dass Theorien nur auf dem Umweg über Modelle

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empirisch überprüfbar sind und sich damit auf die empirische Welt beziehen. 2. Realismus bezüglich Modellen Eine Konsequenz dieser Verschiebung des Schwerpunktes von Theorien zu Modellen ist, dass Fragen des Realismus hinsichtlich naturwissenschaftlicher Beschreibungen eigentlich im Blick auf naturwissenschaftliche Modelle diskutiert werden sollten. Wie ich noch zeigen werde, bringt dies gewisse Herausforderungen mit sich, welche sich aus der wissenschaftlichen Praxis ergeben. Wenn ich hier von realistischen Positionen spreche, so ist mir bewusst, dass es mir natürlich kaum gelingen wird, den verschiedenen Ausformungen und subtilen philosophischen Differenzierungen realistischer Positionen auch nur annähernd gerecht zu werden. Deshalb beschränke ich mich darauf, Realismus nach einem grob vereinfachten und recht allgemeinen Raster zu behandeln, das ich von Franzen (1992) übernehme. Mit Hilfe seiner Teilthesen zum Realismus wird es mir dann im folgenden möglich sein, verschiedene Antworten auf die Frage nach den Implikationen für Realismus, die sich aus der Verwendung von Modellen ergeben, zumindest auf einer sehr allgemeinen Ebene einzuordnen. Franzen (1992, S. 23) gliedert die Beschäftigung mit dem Realismus in drei Teilbehauptungen: R1: Es gibt eine Welt, die der Existenz nach von uns und unserem Bewusstsein unabhängig ist. R2: Die Wirklichkeit weist Beschaffenheiten und Strukturen auf, die von unserem Bewusstsein unabhängig sind. R3: Nennenswerte Teile der Wirklichkeitsstrukturen sind unserem Erkennen zugänglich und werden in unserem Wissen erfasst. Auf diese werde ich mich als Behauptung der unabhängigen Existenz der Wirklichkeit, der Strukturhaftigkeit der Wirklichkeit und der Erkennbarkeit von Strukturen beziehen. In erster Linie geht es bei Modellen um die Frage der Erkennbarkeit von Strukturen. Sind wir in der Lage, die Struktur der Welt mit Hilfe von Modellen zu erkennen? Können die in Modellen beschriebenen Strukturen die Strukturen der Welt sein? Die Frage, ob die von Modellen zu beschreibenden Gegenstände und Phänomene überhaupt unabhängig von der wissenschaftlichen Beschreibung existieren (R1), kann

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natürlich aufgrund der Analyse von Modellen auch nicht beantwortet werden. Deshalb steht sie hier nicht zur Disposition; eine positive Antwort wird vielmehr stillschweigend vorausgesetzt, da sonst die Diskussion über die Erkennbarkeit von Strukturen der Welt (R3), die vom Bewusstsein unabhängig sind (also Behauptung R3), unsinnig wäre. Verschreibt man sich hingegen der Erkennbarkeit der Strukturen der Welt, so impliziert das, dass die in Modellen postulierten unbeobachtbaren Entitäten und Prozesse auch tatsächlich existieren (R2). R3 legt den Schluss auf die Strukturen der Wirklichkeit, um die es in R2 geht, nahe. Richard Boyd, wenngleich er sich auf Theorien und nicht auf Modelle bezieht, fasst diesen Punkt folgendermaßen zusammen: “According to realists, when a well-confirmed scientific theory appears to describe unobservable ‚theoretical entities,‘ it is almost always appropriate to think of its ‚theoretical terms‘ as really referring to real unobservable features of the world, which exist independently of our theorizing about them, and of which the theory is probably approximately true“ (Boyd 1991, S. 11). Nun gibt es einige Gründe dafür, warum Modelle nicht gerade Traumkandidaten für eine realistische Beschreibungsform naturwissenschaftlichen Wissens sind. Modelle sind häufig gezeichnet von Ungenauigkeit, Inkonsistenz und Aspekthaftigkeit, Eigenschaften, um deren willen man Modelle leicht für unzureichend in ihren Möglichkeiten der realistischen Beschreibung von empirischer Wirklichkeit halten mag – deshalb auch das traditionelle Herunterspielen von Modellen als hypothetisch und als rein heuristische Werkzeuge. Allerdings können diese Eigenschaften von Modellen auch kaum negiert werden angesichts der Tatsache, wie naturwissenschaftliche Modelle sich in der naturwissenschaftlichen Praxis darstellen. (i) Modelle beschreiben die empirische Wirklichkeit häufig nur ungenau, d. h. beruhen lediglich auf Annäherungen und Vereinfachungen. Will man z. B. die Umlaufbahn der Erde um die Sonne modellieren, benutzt man zur Vereinfachung die Annahme, dass außer Sonne und Erde keine anderen Körper existieren, die Gravitationskräfte auf Sonne und Erde ausüben. Diese Zusatzannahme ist natürlich nicht korrekt. (ii) Manchmal stehen Modelle im Widerspruch zu anerkannten Prinzipien, zu bekannten Tatsachen oder zu anderen Modellen. So bewegen sich z. B. Elektronen laut Bohrschem Atommodell auf festgelegten Kreisbahnen um den Atomkern, obwohl sie nach klassischem Verständnis dabei ei-

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gentlich Energie verlieren und sich auf niedrigere Energiestufen mit kleineren Radien begeben müssten. (iii) Die meisten Modelle konzentrieren sich lediglich auf Aspekte eines Phänomens und geben damit keine vollständige Beschreibung desselben Phänomens. Um z. B. den Wasserfluss in einem Rohr zu beschreiben, beschreibt man Wasser als ideale Flüssigkeit, kontinuierlich und inkompressibel, gemäß der Bernoulli-Gleichung. Will man hingegen modellieren, wie ein Tropfen Tinte in Wasser diffundiert, behandelt man Wasser als aus diskreten Teilchen bestehend, die sich in Wärmebewegung befinden. Keines dieser Teil-Modelle leistet eine vollständige Beschreibung des Phänomens Wasser, ja ihre Grundannahmen widersprechen sich sogar. Durch diese Aspekthaftigkeit von Modellen ergibt sich, dass mehrere Modelle ein und desselben Gegenstandes, sogenannte multiple Modelle, existieren können, und sich diese in ihrer ‚Existenzberechtigung‘ nicht gegenseitig ausschließen. Im Rückgriff auf Boyds Beschreibung des wissenschaftlichen Realismus kann man sich jetzt überlegen, was die Eigenschaften (i)-(iii) von Modellen konkret bedeuten, wenn man davon ausgeht, dass Modelle durchaus auch unbeobachtbare Entitäten oder Prozesse postulieren und sich diese auf echte (unabhängig von der modellhaften Beschreibung) Züge der Wirklichkeit beziehen sollen, im Sinne von R2. Man stelle sich also vor, dass es für ein bestimmtes Phänomen zwei verschiedene Modelle gibt, A und B, ohne dass eines dem anderen augenscheinlich überlegen ist, vielleicht gerade, weil die beiden Modelle verschiedene Schwerpunkte in der Beschreibung des Phänomens setzen. Dann kann es z. B. der Fall sein, dass Modell A eine unbeobachtbare Entität α postuliert, während Modell B die Existenz einer solchen Entität α negiert. Dies wäre z. B. der Fall, wenn A eine Entität oder einen Prozess α postuliert und B eine Entität oder einen Prozess β, wobei es physikalisch nicht plausibel ist, dass sowohl Aussagen bezüglich α als auch Aussagen bezüglich β wahr sind. Man denke hier an das unter (iii) besprochene Beispiel von Wasser, das einerseits als kontinuierliche Flüssigkeit und andererseits als aus diskreten Teilchen aufgebaut modelliert wird. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass ein Modell A eine Entität (oder einen Prozess) α postuliert, von der wir nicht nur nicht wissen, ob sie existiert (weil nicht beobachtbar), sondern bei der wir sogar Anhaltspunkte haben, dass so eine Entität nicht existieren kann. (Man denke an so einfache Idealisierungen wie die, dass man die Masse eines Pendels als in einem

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Punkt vereinigt annimmt.) Neben der in Modellen manchmal fehlenden Genauigkeit und Vollständigkeit ist es gerade der Umstand, dass akzeptierte naturwissenschaftliche Modelle eines und desselben Phänomens sich in Einzelheiten sogar widersprechen können, durch den man zu der Auffassung gelangen mag, dass Modelle nicht als ‚angemessene‘, d. h. als, im Sinne von R3, die Struktur der Welt erfassende Beschreibungsform der Wirklichkeit gelten können. Dieser antirealistischen Sichtweise von Modellen steht wiederum die Tatsache entgegen, dass Modelle in den Naturwissenschaften nahezu überall und erfolgreich zur Erforschung und Beschreibung der empirischen Wirklichkeit verwendet werden, was für R3 spräche. In der Praxis lassen sich offensichtlich derartige ‚Defizite‘ in Grenzen halten bzw. durch andere Vorteile aufwiegen, so dass wir trotz dieser Defizite keine Schwierigkeiten haben, Modelle als aussagekräftig über die empirische Wirklichkeit aufzufassen (vgl. Bailer-Jones 2000a). Die Frage ist nun, ob eine realistische Einstellung, die die in Modellen postulierten Prozesse und Entitäten ‚für bare Münze‘ nimmt, haltbar ist. Dann muss es dem Realisten jedenfalls ausreichen, dass die Strukturen der Welt im Einzelfall ungenau, aber auch unvollständig oder gar widersprüchlich dargestellt werden. Dies entspräche R3 mit Einschränkungen. In jedem Fall muss man sich damit arrangieren, dass Modelle sich ganz häufig nur auf ausgewählte Aspekte der Wirklichkeit beziehen – wobei bezüglich anderer Aspekte wahrscheinlich andere Modelle verwendet werden. Kurz, es handelt sich immer nur um ein ‚partielles Erkennen‘ (Franzen 1992, S. 58). 3. Repräsentation Um zu beschreiben, in welcher Weise Modelle sich auf die Wirklichkeit beziehen, und dabei ihre bereits erwähnten Charakteristika zu berücksichtigen, wird häufig der Begriff der Repräsentation herangezogen. Modelle mögen ungenau, unvollständig und/oder aspekthaft sein, doch was zählt, ist, dass sie ein empirisches Phänomen ‚repräsentieren‘. Was mag das nun genau heißen? Wenn eine Sache A eine andere Sache B repräsentiert, so dürfte es eine Minimalanforderung sein, dass die eine Sache A für die andere B steht. A muss dabei kaum mehr als ein Symbol für B sein. R.I.G. Hughes (1997, S. S330) spricht in diesem Zusammenhang, Nelson Goodman folgend, von Denotation. Über eine solche symbolische Beziehung kann im Prinzip je-

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der ganz willkürlich und von anderen unabhängig entscheiden. So kann ich frei entscheiden, dass mein Taschentuch von jetzt ab für den Mond stehe. Die fehlende Ähnlichkeit zwischen Mond und Taschentuch ist dabei zunächst kein Hindernis. Auch die Konventionen für viele Verkehrsschilder sind recht willkürlich gewählt, man denke nur an das rot umrandete und auf der Spitze stehende weiße Dreieck für ‚Vorfahrt Achten‘. Man denke aber auch an Situationen, in denen z. B. mit Geldbeutel und Zigarettenschachteln auf dem Tisch Verkehrsunfälle nachgestellt werden. Eine andere Frage ist natürlich, ob die Annahme einer Denotationsbeziehung zwischen Taschentuch und Mond von irgendwelchem praktischen Nutzen ist, denn eigentlich sollte man erwarten, dass mit der Einführung einer Repräsentationsbeziehung irgendein Zweck verfolgt wird. Andernfalls ist Repräsentation nicht mehr als eine leere Konvention darüber, dass zwischen A und B eine besondere Beziehung bestehen soll. Oft geht es darum, eine Repräsentationsbeziehung dafür zu verwenden, etwas zu demonstrieren. Wenn z. B. Geldbeutel und Zigarettenschachtel für bestimmte Autos stehen, ein Glas für die Straßenecke usw., dann lässt sich die Situation eines Autounfalls so nachstellen, dass die Konstellation der Schachteln, Geldbeutel etc. mit der wirklichen, repräsentierten Situation etwas gemeinsam hat. Natürlich mag der Geldbeutel mit dem repräsentierten Auto weder Farbe noch Form noch vieles andere gemeinsam haben. Andererseits scheint es doch zumindest einen Aspekt bezüglich der Unfallsituation zu geben, der sich durch die Repräsentation besonders gut darstellen lässt und für den die gewählte Repräsentationsform gut geeignet ist, nämlich die räumliche Konstellation, in der sich die betroffenen Autos zueinander befanden. Ähnlich kann man, verwendet man ein Wellenmodell des Lichts, erläutern (‚demonstrieren‘ im weiteren Sinne), wie bei Beugung am Doppelspalt ein Interferenzmuster zustande kommt. Entsprechend schlägt Hughes (1997) vor, die Repräsentationsweise von Modellen in den drei Schritten Denotation, Demonstration und Interpretation (DDI) zu analysieren. Denotation ist z. B. die Entscheidung, dass der Geldbeutel für den roten Ford Fiesta steht und die Zigarettenschachtel für den schwarzen Mercedes, Demonstration ist zu zeigen, wie der Geldbeutel ‚um die Kurve fährt‘ und Interpretation, vorauszusagen, welcher Schaden wohl bei einem Zusammenstoß mit der Zigarettenschachtel entsteht (oder wie sich die Welleneigenschaften des Lichts im Doppelspaltexperiment o. ä. auswirken). Entscheidend ist, dass eine Modellwelt als für die richtige Welt ste-

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hend verwendet wird, um dann über einen Aspekt der richtigen Welt bestimmte Schlüsse ziehen zu können. So bestechend Hughes’ DDI-Ansatz in seiner Einfachheit auch erscheinen mag, so muss doch im Blick behalten werden, dass sich die Wechselwirkungen zwischen Modellwelt und wirklicher Welt vielleicht auch um einiges komplizierter verhalten mögen. Es geht hier allerdings nur darum anzuerkennen, dass jede ‚ernsthafte‘ Repräsentationsbeziehung weit über Denotation hinausgeht, also auch die Möglichkeiten zu Demonstration und Interpretation einschließen sollte. Nur wenn Modelle gezielt gewählt werden, wenn es also mehr als nur willkürliche Kriterien für die Wahl eines Modells gibt, wird es möglich, über die empirische Welt mit Hilfe von Modellen etwas herauszufinden bzw. etwas Gehaltvolles auszusagen. Dabei ist eine überprüfbare Übereinstimmung des Modells mit bekannten empirischen Daten von zentraler Bedeutung. Durch den Erwerb dieser Daten können Modelle nach und nach immer weiter überprüft und im Idealfall weiter bestätigt werden. Ein Teil der empirischen Experimente, die als Tests fungieren, waren häufig direkt vom Modell inspiriert. Dadurch wird gewährleistet, dass es sich bei Modellen, wenn es heißt, dass sie repräsentieren, um mehr als nur um willkürlich gewählte Konventionen handelt. Hier deutet sich schon an, dass Modelle nicht als statisch und unveränderlich verstanden werden dürfen, denn die Informationsmenge, auf die sie sich beziehen, ist selbst stetig der Veränderung unterworfen, eine Tatsache, der ein angemessener Repräsentationsbegriff gerecht werden sollte. Ob ein Modell einen empirischen Sachverhalt repräsentiert, hängt von seiner Übereinstimmung mit den verfügbaren empirischen Informationen ab; diese verändern sich im Lauf der Zeit, also kann auch die Tatsache, welches Modell den Sachverhalt oder das Phänomen repräsentiert, der Veränderung unterworfen sein. J.J. Thomsons Modell des Atoms als eine Art Rosinenkuchen, in dem die negativen Ladungen wie Rosinen gleichmäßig in einem positiv geladenen ‚Teig’ verteilt waren, mag das Atom gemäß dem damaligen Kenntnisstand völlig zureichend repräsentiert haben. Dies war jedoch nicht mehr der Fall, nachdem 1911 Streuexperimente große Streuwinkel an Atomen aufwiesen und damit die Vermutung nahe legten, dass sich die gesamte positive Ladung geballt im Zentrum des Atoms befinde. Damit wurde Rutherfords Atommodell, in dem die Elektronen in einiger Entfernung um den Atomkern kreisen, das Atom größtenteils also praktisch ‚leer‘ ist, sehr viel plausibler. Dies heißt

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jedoch nicht, dass Thomsons Modell nicht vorher Atome vollkommen angemessen repräsentieren mochte. Ein Modell verliert seinen Status als Repräsentation zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht dadurch, dass es zu einem späteren Zeitpunkt der Datenlage eventuell nicht mehr gerecht wird und durch einen erfolgreicheren Konkurrenten verdrängt wird; ist ein Modell überholt, dann repräsentiert es lediglich zu dem späteren Zeitpunkt nicht mehr. Betrachtet man Modelle als etwas, das Phänomene oder Sachverhalte in Anbetracht der verfügbaren empirischen Daten repräsentiert, dessen Repräsentationseigenschaft also an empirischer Adäquatheit gemessen wird, so bringt dies einen gewaltigen Vorteil mit sich: Modelle können immer wieder auf den neuesten Stand gebracht werden, ohne dass dadurch an ihrem jeweiligen Bezug auf die empirische Wirklichkeit gerüttelt wird. Es braucht ihnen nicht abgesprochen werden, dass sie auch zu einem früheren Zeitpunkt das modellierte Phänomen repräsentierten, eben in Anbetracht der damals verfügbaren Daten. Ein so eingeführter Repräsentationsbegriff erlaubt uns, Modelle als dynamische, sich der sich verändernden Datensituation anpassende Wissensform zu verstehen, deren Anspruch auf Aussagekräftigkeit über Phänomene der Welt immer wieder erneuert wird bzw. erhalten bleibt. Würde man erwarten, dass Modelle unveränderbare und gleichzeitig noch nicht empirisch falsifizierbare Aussagen über die Wirklichkeit machten, wären sie meistenteils zum Scheitern verurteilt. Wäre nicht die Möglichkeit der Veränderbarkeit und Anpassung von Modellen gegeben, könnte man sich wohl nur schwer dazu entschließen, sie überhaupt zu formulieren, denn man kann kaum an der Tatsache vorbei, dass naturwissenschaftliches Wissen recht regelmäßig einer Revision zu unterziehen ist. Soweit wäre alles gut, wenn fehlende Übereinstimmung mit den Daten tatsächlich das einzige zugkräftige Kriterium für die Beurteilung von naturwissenschaftlichen Modellen wäre. Nun begegnet man allerdings häufig Fällen, in denen an Modellen festgehalten wird, obwohl ihre fehlende Übereinstimmung mit den empirischen Daten bekannt ist. Modelle machen zum Teil einfach auch falsche Aussagen. So verlieren Elektronen auf ihren Umlaufbahnen um den Atomkern schlicht keine Energie, sondern bleiben auf einer Energiestufe, obwohl sie als geladene und beschleunigte Teilchen Energie emittieren müssten. Warum wird dies akzeptiert? Es gibt zwei pragmatische Gründe: Zum einen führt oft die

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Einfachheit oder Handlichkeit eines Modells dazu, es trotz seiner sachlichen Defizite beizubehalten. Dann überwiegen offensichtlich die Vorteile im Umgang mit dem Modell die Nachteile, zumindest aus der Sicht der Modellbenutzer; z. B. mag das Modell leicht verständlich oder leicht veranschaulichbar sein. Ein anderer Grund besteht manchmal darin, dass kein besseres Modell zur Verfügung steht. Dann wird die fehlende Übereinstimmung mit der Empirie hingenommen mangels Alternativen. (Ein Beispiel für diesen Fall stelle ich in Bailer-Jones 2000b vor.) Neben diesen pragmatischen Gründen muss man sich jedoch überlegen, wie sich derartige Defizite epistemologisch einordnen lassen, wenn man, wie behauptet, davon ausgehen will, dass Modelle die Weise schlechthin sind, in der wir Aussagen mit Realitätsanspruch über die empirische Wirklichkeit machen. Warum Falschheit in Modellen vorkommen darf, kann man mit zwei Hinweisen motivieren. Erstens haben wir bereits festgestellt, dass Modelle sich häufig nur mit ausgewählten Ausschnitten oder Aspekten eines Phänomens befassen. In diesem Fall kann man argumentieren, dass es legitim ist, wenn Modelle tatsächlich nur einen kleinen Bereich des Phänomens korrekt wiedergeben bzw. ‚repräsentieren‘, nämlich den, für den sie auch tatsächlich gedacht sind und über den sie überhaupt eine Aussage machen sollen. An den Rändern, also da, wo Modelle Bereiche berühren, die nicht im Zentrum des Interesses der Modellbenutzer stehen, können Modelle also ruhig auch einmal inkorrekt sein. Ein weiterer Punkt ist, dass die Beurteilung von Modellen auch davon abhängt, was von ihnen erwartet wird bzw. welche Funktion sie erfüllen sollen. Damit kann bei ‚optimaler Funktionserfüllung‘ durchaus das Kriterium der Übereinstimmung mit den empirischen Daten in den Hintergrund treten. Dass Übereinstimmung mit Daten nicht alles ist, dass Modelle vielmehr auch im Lichte des Aspekts des Phänomens, auf den sie sich beziehen, und der Funktion, für die sie intendiert sind, beurteilt werden müssen, lässt sich an Ronald Gieres (1999a,b) Landkarten-Analogie illustrieren. Giere führt diese Analogie ein, um die Grundidee dessen, was er mit Repräsentation meint, zu illustrieren. Landkarten müssen auf die Welt passen (“fit“) (Giere 1999b, S. 73ff.). Dabei haben sie immer nur zum Ziel, bestimmte Aspekte der Welt wiederzugeben, nie alle. Also müssen sie auch danach beurteilt werden, ob sie diese Aspekte korrekt wiedergeben. Tun sie dies, macht es nichts, wenn sie andere Aspekte außer Acht lassen oder missrepräsentieren.

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Touristenkarten geben selten Hausnummern an, weil diese als wenig relevant beurteilt werden. Dagegen sind Sehenswürdigkeiten oft überdimensional und bildlich dargestellt. Die repräsentierten Details der empirischen Welt sind sorgfältig ausgewählt. Z. B. mag auf einer Straßenkarte der Verlauf bestimmter Straßen markiert sein, und ob es sich um Feldwege, Landstraßen oder Autobahnen handelt, aber wahrscheinlich nicht, was für ein Getreide am Straßenrand angepflanzt ist. Das Kriterium für die getroffene Auswahl ist die Funktion der Karte. Zum Zweck des Findens des richtigen Wegs ist die Information über Getreidesorten nebensächlich. Straßenkarten bemühen sich normalerweise um genaue Wiedergabe von Entfernungen und Verlauf, U-Bahn-Karten hingegen vernachlässigen oft eine getreue Darstellung von Entfernungen, um darauf abzuheben, wo man in welche Linien umsteigen kann und so seine Zielstation erreichen kann. Ob es sich um eine gute Karte handelt, hängt dabei immer davon ab, ob die Karte ihre Funktion gut erfüllt (z. B. anzuleiten, um den Weg zur nächsten Stadt zu finden oder in der U-Bahn richtig umzusteigen), nicht was sie an sich leistet. Dabei wird in Kauf genommen, dass andere Informationen als nebensächlich (angesichts der gewählten Funktion) eingestuft werden. Werden diese weggelassen, z. B. Entfernungen bei U-Bahn-Karten, gelingt es um so eher, die Informationen, um die es geht, präzise und deutlich darzustellen. Um also zu beurteilen, wie gut eine Karte die empirische Welt repräsentiert, muss man in Betracht ziehen, welche Aspekte der empirischen Welt sie wiederzugeben sucht und mit welcher Funktion sie das tut. Passt die Landkarten-Analogie nun auf naturwissenschaftliche Modelle? Dass Modelle selegieren, also nur jeweils Aspekte von Phänomenen behandeln, ist weithin bekannt. Nur so kann es überhaupt zu dem Phänomen multipler Modelle desselben Gegenstandes kommen, die koexistieren, aber auch nicht miteinander konsistent sind. Ein viel zitiertes Beispiel dafür sind die verschiedenen Modelle des Atomkerns, welche jeweils verschiedene Aspekte dieses Gegenstandes separat voneinander modellieren. Versteht man den Atomkern als ein geladenes Flüssigkeitströpfchen mit einer Oberflächenspannung, so dient dieses Tröpfchenmodell dazu, die Bindungsenergie der Nukleonen untereinander zu beschreiben. Wie beim Flüssigkeitstropfen ist die Bindungsenergie ungefähr proportional zur Masse des Atomkerns, weshalb dieses Modell nur für Eigenschaften des Atomkerns taugt, die sich monoton mit der Ordnungszahl der Kerne ändern. Das Schalenmodell hingegen erklärt, warum Kerne bestimmter Ordnungszahlen, den

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sogenannten magischen Neutronenzahlen, besonders stabil sind. So wie bei den Elektronenschalen im Bohrschen Atommodell ist eine Konfiguration immer dann besonders stabil, wenn in einer Schale gerade alle Plätze mit Nukleonen belegt sind. Umgekehrt erklärt das gewöhnliche Schalenmodell nicht, wie sich die Bindungsenergie mit der Masse des Kerns verändert. Darüber hinaus gibt es weitere Kernmodelle, die z. B. den Drehimpuls und demzufolge das magnetische Moment des Kerns erklären. (Für weitere, weniger geläufige Beispiele, s. auch Hartmann 1998 und Bailer-Jones 2000a) Die Verschiedenartigkeit der Modelle desselben Phänomens führt unmittelbar zu der Vermutung, dass die Modelle verschiedene Funktionen erfüllen. Mit Funktionen von Modellen kann gemeint sein, dass Modelle z. B. dem Erklären oder dem Veranschaulichen dienen. Manchmal ist ihre Funktion, den Hintergrund eines Experiments zu bilden oder eine technische Anwendung zu implementieren. In wieder anderen Fällen handelt es sich um reine ‚Lernmodelle‘, die anleiten sollen, ein Gerät richtig zu bedienen, ohne es unbedingt in seiner eigentlichen Funktionsweise zu verstehen. Im engeren Sinne haben verschiedene Teilmodelle, z. B. das Tröpfchenmodell oder das Schalenmodell des Atomkerns, dann wiederum verschiedene Funktionen, aber eben innerhalb eines gemeinsamen ‚Projekts‘ wie dem Beschreiben und Erklären eines empirischen Phänomens. Die Tatsache an sich, dass multiple Modelle gang und gäbe sind, dass wir also z. B. verschiedene Modelle benutzen, um die Waschmaschine zu bedienen oder um sie zu reparieren, zeigt, dass Modelle mit Blick auf die jeweils von ihnen zu erfüllende Funktion formuliert werden und auch in ihrer ‚Brauchbarkeit‘ von dieser abhängen und an ihr gemessen werden müssen. Natürlich ist das einfache Schalenmodell ein schlechtes Modell, wenn es darum geht, die Bindungsenergie im Atomkern zu verstehen, aber eben nicht grundsätzlich. Ob ein Modell etwas getreu über die empirische Welt wiedergibt, hängt einfach davon ab, was es über die Welt wiedergeben soll oder, in Gieres Metapher, welche Perspektive auf ein bestimmtes Phänomen gewählt wird. Erst dann kann man entscheiden, ob ein Modell angesichts dieser seiner Funktion ein Phänomen, bzw. einen ausgewählten Aspekt davon, repräsentiert.

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4. Repräsentation realistisch interpretieren? Zurück zur Ausgangsfrage: Beziehen sich Modelle in einer Weise auf empirische Phänomene, die realistisch interpretiert werden kann? Wenn R3 gilt, also nennenswerte Teile der Wirklichkeitsstrukturen unserem Erkennen zugänglich sind und in unserem Wissen erfasst werden, können das, wenn unser Wissen die Form von Modellen annimmt, plausiblerweise von unserem Bewusstsein unabhängige Wirklichkeitsstrukturen gemäß R2 sein? Wenn sich der Übergang von R3 zu R2, wie Boyd nahe legt, empfiehlt, was für ein Verständnis von der Struktur der Wirklichkeit legt dann das Ernstnehmen von Modellen als etwas, das die empirische Welt repräsentiert, nahe? Ich werde kurz rekapitulieren, was alles festzuhalten ist über Modelle, von denen man sagt, dass sie repräsentieren. 1. Das Modell wird als etwas behandelt, das für etwas steht, meist für ein empirisches Phänomen. 2. Der Umstand, dass es ein Modell gibt, das für ein bestimmtes Phänomen steht, kann so verwendet werden, dass mit Hilfe des Modells etwas bezüglich des repräsentierten Phänomens demonstriert werden kann, was dann auf das Phänomen hin zu interpretieren ist. 3. Bedingung dafür, dass die beschriebene Vorgehensweise überhaupt akzeptabel ist, ist, dass das vorgeschlagene Modell sowie die daraus folgenden Voraussagen mit den über das empirische Phänomen bekannten Daten im Einklang steht. 4. Dabei kann es allerdings der Fall sein, dass bestimmte pragmatische Erwägungen, wie z. B. einfache Handhabbarkeit des Modells, dazu führen, dass bezüglich des Passens des Modells zu den Daten Zugeständnisse gemacht werden. 5. Grundsätzlich wird nicht erwartet, dass ein Modell ein Phänomen in allen seinen Zügen und Eigenschaften beschreibt, sondern es selegiert bestimmte Aspekte mit der Übereinkunft, dass das Modell nur für diese Aspekte des Phänomens aussagekräftig ist und nicht für andere herangezogen werden darf. 6. Ob ein Modell ein Phänomen repräsentiert, kann außerdem nur im Lichte der intendierten Funktion des Modells beurteilt werden. Es zeigt sich hier, dass zumindest die letzten drei Punkte interessenabhängig sind. Damit ergeben sich Bedingungen für die Erkennbarkeit von Strukturen (R3), die den Übergang zur Annahme bewusstseinsunabhängi-

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ger Strukturen, wie in R2, konzeptuell schwierig macht. Interessenabhängigkeit äußert sich dort, wo man darüber übereinkommt, dass ein Modell (weiter) für ein Phänomen verwendet wird, und zwar aufgrund bestimmter pragmatischer Erwägungen, obwohl es im Widerspruch zu bestimmten empirischen Daten steht (4.), dass es sich auf bestimmte Aspekte eines Phänomens bezieht und für andere nicht aussagekräftig ist (5.), und dass seine Repräsentationsfähigkeit von seiner intendierten Funktion abhängig ist (6.). Damit ist das Kriterium der empirischen Adäquatheit für Modelle zwar ein Ideal, aber kein zwingendes. So werden Modelle interessanterweise nicht der von van Fraassen (1980) postulierten antirealistischen Position des konstruktiven Empirismus gerecht, denn sie sind nicht immer empirisch adäquat. Andererseits gehen sie aber in ihrem Anspruch – und dies entspricht der Intuition des Repräsentationsbegriffs – auch über empirische Adäquatheit hinaus, denn Modelle versuchen, die Strukturen der Welt so zu beschreiben, wie sie auch wirklich sind, im Sinne von R2. Die angedeutete Intuition des Repräsentationsbegriffs legt also durchaus, und trotz der nicht einmal unbedingt erfüllten empirischen Adäquatheit, so etwas wie ein realistisches Verständnis der Modelle, welche empirische Phänomene beschreiben, nahe. Diese Intuition spiegelt sich sowohl in den Positionen von Ronald Giere als auch der von Nancy Cartwright wider, deren Ziel zu sein scheint, auch angesichts von Modellen eine realistische Position zu vertreten und aufrecht zu erhalten. Tatsächlich beginnt Giere seine Ausführungen mit einem Bekenntnis zum Realismus im weiteren Sinne, “the conviction that there exists much genuine scientific knowledge“ (1999b, S. 3), die Frage ist dabei nur, wie man ‚naturwissenschaftliches Wissen‘ wissenschaftsphilosophisch zu verstehen habe: “The problem is not with current scientific theories of the world, but with current theories (or meta-theories) of what it is to acquire good scientific theories of the world“ (Giere 1999b, S. 3). Es geht darum anzuerkennen “that there are other ways of conceiving scientific knowledge“ (Giere 1999b, S. 5); wissenschaftliches Wissen ist nicht nur das, was in Theorien erfasst ist, denn laut Giere handelt es sich bei Modellen und nicht bei Theorien um “primary representational entities in science“ (Giere 1999b, S. 5). Dabei bleibt zu akzeptieren, dass Modelle auf die Welt nicht immer perfekt und manchmal nur zum Teil passen, denn Modelle sind einfach nicht so geschaffen, dass sie sowohl perfekt als auch in allen Details

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vollständig sind (Giere 1999b, S. 6). Der Grad, bis zu dem R3 leistbar ist, wird als eingeschränkt anerkannt. Der Realismus, zu dem Giere sich bekennt, erfordert, dass das Verständnis des Realismus selbst umgedeutet wird. Die Frage lautet jetzt: Welches Verständnis von Realismus ist einer Wirklichkeit gewachsen, wie sie in Modellen zur Beschreibung kommt? Giere verficht die Ansicht, dass ein realistisches Verständnis von Naturwissenschaft perspektivisch sein sollte, eben so, wie sich ein Gebäude aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich darstellt und dabei immer dasselbe Gebäude bleibt. Alle Perspektiven umfassende Modelle kommen in der Praxis nicht vor, und die Gründe dafür liegen letztlich in der Welt selbst: “Imagine the universe as having a definite structure, but exceedingly complex, so complex that no models humans can devise could ever capture more than limited aspects of the total complexity. Nevertheless, some ways of constructing models of the world do provide resources for capturing some aspects of the world more or less well. Other ways may provide resources for capturing other aspects more or less well. Both ways, however, may capture some aspects of reality and thus be candidates for a realistic understanding of the world“ (Giere 1999b, S. 79). Mit andern Worten, die Welt hat durchaus eine Struktur (R2), aber ihrer Erkennbarkeit (R3) für uns sind Grenzen gesetzt. Die Schwierigkeit, die Giere mit seinem perspektivischen Ansatz in den Griff zu bekommen sucht, ist eine epistemische: Letztlich ist die Welt so, wie sie ist, für uns nicht zu erkennen – bzw. nur auf eine unseren kognitiven Möglichkeiten angepasste Art. Gieres Bestreben scheint es zu sein, diesen die Erkennbarkeit der Struktur der Welt betreffenden Antirealismus doch in ein realistisches Verständnis des Modellgeschehens aufzulösen, nicht umsonst die Bezeichnung ‚perspektivischer Realismus‘. In üblicher Terminologie hat Gieres Position deutlich antirealistische Anklänge, gerade weil er die Interessengebundenheit beim Modellieren berücksichtigt. Auch Nancy Cartwright (1999) sieht letztlich die Lösung darin, angesichts der Praxis naturwissenschaftlichen Modellierens unsere Vorstellungen von Realismus zu verändern. Sie tut dies, indem sie die Anforderungen an eine Ontologie, umfassend und eindeutig zu sein, verändert. Nach ihrer These sind es Modelle eines empirischen Phänomens, die die speziellen, ja geradezu künstlichen Bedingungen angeben, unter denen ein Naturgesetz in einer bestimmten Situation zur Geltung gelangt. Außerhalb dieser von Modellen klar abgesteckten

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Bereiche haben wir keinen Anlass, die Gültigkeit der entsprechenden Naturgesetze anzunehmen: “the general exists only in the particular“ (Cartwright 1999, S. 38). Die Welt ist ‚gesprenkelt‘ (“dappled“), da sich in ihr nicht allgemein die Gesetzmäßigkeiten wiederfinden lassen, an die die traditionell privilegierte Stellung von Naturgesetzen uns glauben machen soll. Eine angemessene Sichtweise der Welt kommt einem aus Gesetzen zusammengestückelten ‚Flickenteppich‘ gleich (“patchwork of laws“), in dem, je nach ‚Flicken‘, eine andere Ontologie Gültigkeit haben kann. R2 gilt, aber eben immer wieder anders, je nach Modell. Wieder sind es Modelle, die Aspekte der empirischen Welt repräsentieren und in denen Gesetze lokal zur Anwendung kommen. Bei ‚representative models‘ handelt es sich um “models that we construct with the aid of theory to represent real arrangements and affairs that take place in the world – or could do so under the right circumstances“ (Cartwright 1999, S. 180). Wieder bildet der Umstand der Existenz multipler Modelle den Anlass zu weiterreichenden Aussagen über die Beschaffenheit der Welt, allerdings vorwiegend in ontologischer Hinsicht. Cartwrights Beispiel ist die Quantentheorie, die sie nur genau in den Bereichen für gültig hält, in denen es interpretierende Modelle gibt, die von ihr Gebrauch machen: “Sticking to Messiah’s [Standardlehrbuch der Quantenmechanik] catalogue of interpretative models as an example, that means that quantum theory extends to all and only those situations that can be represented as composed of central potentials, scattering events, Coulomb interactions and harmonic oscillators“ (Cartwright 1999, S. 196). Interessant sind nun die Fälle, in denen sowohl quantentheoretische wie klassische Theorien zur Anwendung kommen: “we really do use quantum mechanics to understand [superconductivity]. Yet superconducting devices are firmly embedded in classical circuits studied by classical electronics.“ (Cartwright 1999, S. 223) Daraus folgt für Cartwright, dass eine realistische Beschreibung der empirischen Wirklichkeit mehr als nur Quantenzustände berücksichtigt und sich auf keinen Fall auf diese reduzieren lässt. Wird die Realität klassischer Zustände einfach übergangen, so handelt es sich dabei, laut Cartwright, um eine fehlgeleitete Festlegung darüber, wozu Realismus, und zwar in seiner ontologischen Ausprägung, uns verpflichte (Cartwright 1999, S. 231). Nicht weiter in Frage gestellt wird dabei die prinzipielle Erkennbarkeit der Strukturen der empirischen Welt (R3). Andernfalls wäre es wohl kaum denkbar, dass die von uns zu Erkenntniszwecken

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entwickelten Modelle Anlass und Ausschlag gäben, einen Realismus angesichts und trotz multipler Modelle zu postulieren – R2, aber nach Bedarf verdoppelt und verdreifacht. Eigentlich darf es, laut Cartwright, kein Problem sein, verschiedene, auch sich widersprechende Beschreibungsweisen nebeneinander bestehen zu lassen, weshalb Cartwrights Vorschlag lautet: “assigning two different kinds of descriptions and counting both true“ (Cartwright 1999, S. 232). Mit andern Worten, ‚mixed modelling‘ soll, bei all seinen antirealistischen bzw. instrumentalistischen Anklängen, niemanden daran hindern, Realist bezüglich aller verwendeter Modelle zu sein. Damit postuliert Cartwright, dass in Modellen die Struktur der Wirklichkeit für uns erkennbar wird, wobei die sich ergebenden Strukturen sicher nicht leicht zu verdauen sind, ja geradezu absurd anmuten: die synchrone Postulierung verschiedener, nicht miteinander im Einklang stehender Ontologien. Gemeinsam ist den Positionen von Giere und Cartwright, dass sie den Begriff der Repräsentation (s. auch Giere 1999a) einführen, von dem sie sich zu versprechen scheinen, dass er die Weise erfasst und beschreibt, in der naturwissenschaftliche Modelle sich auf empirische Phänomene beziehen, auch angesichts der bekannten Ungenauigkeit, Inkonsistenz und Aspekthaftigkeit von naturwissenschaftlichen Modellen, wie sie ja auch gerade in multiplen Modellen zum Ausdruck kommen. Gieres und Cartwrights Ansätze konzentrieren sich weniger darauf, worin Repräsentation besteht, sondern sie wollen durch diese Feststellung von Repräsentation vor allem in die Lage versetzt werden, darüber etwas auszusagen, wie die der Beschreibung durch Modelle zugrundeliegende Welt tatsächlich ist. Dabei wird nun deutlich, dass es angesichts der Eigenschaften von naturwissenschaftlichen Modellen schwierig ist, eine realistische Position tatsächlich aufrechtzuerhalten. Giere endet als Antirealist bezüglich der Erkennbarkeit der Struktur der Welt, und Cartwright verficht eine Position des Realismus, die schwer nachzuvollziehen ist. Zwingen uns die Eigenschaften von Modellen, denen wir in der naturwissenschaftlichen Praxis begegnen, also letztlich zu einem antirealistischen Verständnis der in ihnen durchgeführten Wirklichkeitsbeschreibung? Dies wäre ja in gewisser Weise genau das, was mit der Intuition des Repräsentationsbegriffs vermieden (oder verschleiert?) werden sollte. In der Tat verhält es sich mit dem Antirealismus so, dass ihm die Modelle mit den genannten Eigenschaften

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nicht in die Quere kommen. Bas van Fraassen (1980, S. 9) definiert ihn folgendermaßen: “anti-realism is a position according to which the aim of science can well be served without giving such a literally true story, and acceptance of a theory may properly involve something less (or other) than belief that it is true”. Es ist klar, dass naturwissenschaftliche Modelle uns nicht immer ausreichend Gründe liefern, an ihre Wahrheit zu glauben. Andererseits versteht van Fraassen ‚literal‘ als ‚capable of being true or false‘ (S. 10), was man von den diskutierten Modellen ja tatsächlich sagen könnte. In diesem Sinne könnten Modelle als ‚wörtlich‘ verstanden werden, ohne dass damit der Glaube an ihre wörtliche Wahrheit verbunden ist. Ob Realist oder Antirealist, der Repräsentationsbegriff auf Modelle angewendet konfrontiert uns konzeptuell mit einigen Schwierigkeiten. Diese müssen nicht unlösbar sein, aber eine Lösung liegt auch nicht auf der Hand. Soweit ich den Repräsentationsbegriff für Modelle analysiert habe, deutet sich folgendes an: Die Verwendung von Modellen, so wie wir sie in der naturwissenschaftlichen Praxis vorfinden, ist nicht zu verstehen, wenn wir ausschließlich nach von Modellbenutzern unabhängigen Kriterien dessen, wie Modelle sich auf empirische Phänomene beziehen, fragen. Dieser Umstand macht es schwierig, im Wissen aus R3 die bewusstseinsunabhängigen Strukturen aus R2 zu vermuten. Natürlich ist das Passen zu empirischen Daten wichtig, es ist aber bei Modellen eben auch nicht alles, nicht das einzige Kriterium. Darüber hinaus muss man beachten, dass Modelle nur Aspekte von Phänomenen darzustellen suchen und dass sie dies mit Blick auf eine bestimmte Funktion tun. Dem Anspruch, ein Phänomen nicht aspekthaft, sondern in seiner Gesamtheit und funktionsunabhängig darzustellen, kann wohl nur selten genügt werden, höchstens etwa durch ‚Zusammensetzen‘ verschiedener Modelle (Bailer-Jones 1999b). Der heikle Punkt liegt bei der Funktionsabhängigkeit und der Aspekthaftigkeit von Modellen. Diese bedingen, dass erst entschieden werden kann, ob ein Modell ein Phänomen repräsentiert, wenn jemand da ist, der der Entscheidung Ausdruck gibt, für welchen Aspekt eines Phänomens ein Modell verwendet werden soll und in welcher Funktion. An das Wissen aus R3 werden Bedingungen gestellt, die das modellbenutzende Subjekt so grundsätzlich miteinbeziehen, dass der Schluss auf bewusstseinsunabhängige Wirklichkeitsstrukturen fragwürdig wird. Interessen bei der Modellverwendung spielen eine nicht zu vernachlässigende Rolle, und es müssen

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Modellbenutzer, also die entsprechenden Wissenschaftler, da sein, die diese Interessen vertreten. Ohne sie kann jede Repräsentationsbeziehung zwar behauptet werden, sie bleibt aber letztlich uninteressant. Dieser explizite Bedarf an der Einbeziehung derer, die Modelle verwenden, ist zentral für den Repräsentationsbegriff, zugleich aber eine Sichtweise, deren Platz man in Realismusdebatten vergeblich sucht. Dass der Repräsentationsbegriff erforderlich ist und dass es tatsächlich Modelle und nicht Theorien sind, mit denen empirische Phänomene dargestellt werden, daran kann meines Erachtens, wenn man sich an der naturwissenschaftlichen Praxis orientiert, wenig Zweifel bestehen. Zur Klärung dieses Repräsentationsbegriffs bleibt allerdings zu analysieren, wie Modellbenutzer, als einzelne, aber vor allem auch als Gruppen, zur Entscheidung gelangen, dass eine Sache für eine andere steht. Sie tun dies vorwiegend aus guten empirischen Gründen, aber eben keinesfalls ausschließlich. Repräsentation ist etwas Interessengebundenes. Damit sind die Kriterien für das Vorliegen von Repräsentation nicht ausschließlich objektiv festlegbar, weil dieses Vorliegen auch der subjektiv beeinflussten Beurteilung bedarf. Auf irgendeine Weise scheint eine Kombination des Passens zu den Daten, der Auswahl des modellierten Aspekts und des Übereinkommens über die Funktion eines Modells dazu zu führen, dass sich viele Individuen, also ganze Gruppen von Wissenschaftlern, über das Erfüllen der Repräsentationsbeziehung von Modellen – dass sie sich auf die Wirklichkeit beziehen – einig werden können. Unsere Möglichkeiten des Wissenserwerbs und des Wissensausdrucks sind offensichtlich nicht auf die Kriterien der Genauigkeit, Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit angewiesen. Es geht deshalb darum, unser Verständnis von Erkennbarkeit der Strukturen, R3, im Lichte von Modellen neu zu fassen. Die Frage nach dem RealistSein im Hinblick auf Modelle erfordert wahrscheinlich tatsächlich eine Revision des Realismusbegriffs – oder eben, dass man sich dem Antirealismus stellt und dabei das Einbeziehen der Modellbenutzer mit ihren kognitiven Kapazitäten stark macht. Offensichtlich hat man also doch nur die Wahl, entweder sein Verständnis von Realismus neu zu fassen, wie dies an verschiedenen Stellen bereits versucht wird, oder anzuerkennen, dass die Repräsentationseigenschaften von Modellen nicht ohne weiteres nach objektiven und generalisierbaren epistemischen Kriterien zu fassen sind (vgl. auch Bailer-Jones 2003) – was nicht heißen soll, dass sie unverständlich

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sind. Es zeigt sich allerdings, dass sie der Untersuchung und Analyse in besonderem Maße bedürfen. Literatur Bailer-Jones, D. M. (1999a): Tracing the Development of Models in the Philosophy of Science, in: L. Magnani, N. J. Nersessian and P. Thagard (Hrsg.), Model-Based Reasoning in Scientific Discovery, New York: Plenum Publishers, S. 23-40. Bailer-Jones, D. M. (1999b): Creative Strategies Employed in Modelling: A Case Study, Foundations of Science 4, S. 375-388. Bailer-Jones, D. M. (2000a): Modelling Extended Extragalactic Radio Sources, Studies in History and Philosophy of Modern Physics 31B, S. 49-74. Bailer-Jones, D. M. (2000b): Scientific Models as Metaphors, in: F. Hallyn (Hrsg.), Metaphor and Analogy in the Sciences, Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, S. 181-198. Bailer-Jones, D. M. (2003): When Scientific Models Represent, International Studies in the Philosophy of Science 17/1, S. 59-74. Boyd, R. (1991): Confirmation, Semantics, and the Interpretation of Scientific Theories, in: R. Boyd, P. Gasper und J. D. Trout (Hrsg.), The Philosophy of Science, Cambridge, Mass.: MIT Press, S. 3-35. Cartwright, N. (1999): The Dappled World, Cambridge: Cambridge University Press. Cartwright, N., Shomar, T., and Suárez, M. (1995): The tool box of science: Tools for the building of models with a superconductivity example, in: W. E. Herfel, W. Krajewski, I. Niiniluoto and R. Wojcicki (Hrsg.), Theories and Models in Scientific Processes, Poznan Studies in the Philosophy of the Sciences and the Humanities, Amsterdam: Rodopi, S. 137-149. Franzen, W. (1992): Totgesagte leben länger. Beyond Realism and AntiRealism: Realism, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.), Realismus und Antirealismus, Frankfurt: Suhrkamp, S. 20-65.

Realismus und naturwissenschaftliche Modelle

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Meinard Kuhlmann

Zum Zusammenhang der Debatten um wissenschaftstheoretischen und Universalien-(Anti-)Realismus

1. Einleitung Es gibt in der gegenwärtigen Philosophie mindestens zwei RealismusDebatten, die sich schon rein äußerlich dadurch unterscheiden, dass sie in verschiedenen scientific communities geführt werden. So wird die Realismusdebatte in Bezug auf den ontologischen Status von Universalien in der Metaphysik und zwar speziell in der Ontologie geführt. Am intensivsten wird dies heute in der Analytischen Ontologie diskutiert, die sich durch eine sprachanalytisch geläuterte Rückwendung zu traditionellen Themen der Metaphysik bzw. Ontologie auszeichnet. Eine andere Realismusdebatte wird in der Wissenschaftstheorie geführt, weswegen die eine mögliche Grundposition dieser Debatte 'wissenschaftstheoretischer Realismus' genannt wird. Hierbei geht es insbesondere um den Status sogenannter theoretischer Entitäten wie etwa Quarks oder Eichfeldern, um ein aktuell umstrittenes Beispiel zu nennen. Wenn sich, was selten vorkommt, dieselben Philosophen an beiden Debatten beteiligen, liegt das meist daran, dass sie in beiden scientific communities ein Standbein haben. In dieser Arbeit möchte ich untersuchen, ob und wie die beiden genannten Realismusdebatten verknüpft sind. In einem ersten Schritt werde ich das Feld möglicher Kombinationsmöglichkeiten ausloten. In einem zweiten Schritt werde ich in einer Fallstudie die Typen von Argumenten in den beiden Realismusdebatten vergleichen. Das Fazit meiner Untersuchungen wird sein, dass es zwischen den in den jeweiligen Debatten eingenommenen Positionen keinen zwingenden Zusammenhang gibt. Zwei Ergebnisse haben zu diesem Fazit beigetragen. Das erste Ergebnis ist die schlichte Tatsache, dass zur Zeit alle Kombinationsmöglichkeiten von Positionen in den beiden Realismusdebatten von namhaften Philosophen eingenommen werden und dass auch sinnvolle Argumente für die jeweiligen Kombinationen vorgebracht werden können. Das andere Ergebnis besteht darin, dass die Art der in den beiden Realismusdebatten vorgebrachten Argumente es

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auch nicht erwarten lässt, dass sich Kombinationsmöglichkeiten zwingend ausschließen lassen. Das Fazit meiner Untersuchungen lässt allerdings trotz allem Raum dafür, dass ein solcher notwendiger Zusammenhang irgendwann einmal erkannt und anerkannt werden könnte. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint mir das aber erstens nicht der Fall zu sein und zweitens gibt es Gründe dafür, warum dies wohl auch so bleiben wird. Völlig unberührt von diesem Fazit ist die Feststellung, dass bestimmte Kombinationen näherliegend sind als andere und folglich auch häufiger vertreten werden. Mir geht es hier aber nur um die Frage, ob es einen notwendigen Zusammenhang der beiden Realismusdebatten gibt. Diese Thematik wird relativ wenig explizit diskutiert und so hat die vorliegende Untersuchung das Ziel, die verschiedenen möglichen Positionen darzustellen und zu sondieren. 2. Probleme und Begriffe der Realismusdebatten Die Grundidee des Realismus besteht darin, dass die Existenz und die Eigenschaften der als existierend angenommen Dinge unabhängig sind von uns und der Art, wie wir Kenntnis von ihnen erlangen. Der von Michael Dummett geprägte Begriff ‚Antirealismus’ bezeichnet die Gegenposition, welche zwar nicht unbedingt die Existenz einer von uns unabhängigen Außenwelt bestreitet, jedoch prinzipiell die Möglichkeit der Erfassbarkeit von Strukturen und Eigenschaften negiert, die von uns unabhängig sind. Die Realismus/Antirealismus-Debatte hat also wenigstens zwei relevante Komponenten. Die eine Komponente ist eine metaphysische bzw. ontologische und bezieht sich auf die Existenz von bestimmten Entitäten. Die andere Komponente ist eine erkenntnistheoretische und bezieht sich auf die Erkennbarkeit dieser Entitäten. Gemäß dieser Einteilung ist also etwa Kant ein Antirealist, da er gerade den unhintergehbaren Einfluss z. B. von Raum und Zeit als Formen unserer Anschauung betont hat, welcher einen von uns unabhängigen Zugriff auf die Dinge an sich prinzipiell ausschließt. Kant selbst bezeichnet seinen Antirealismus als transzendentalen Idealismus. Dass Kant sich obendrein auch noch als empirischen Realisten bezeichnet, tut seiner Einordnung als Antirealist im oben skizzierten Sinne keinen Abbruch. Ebenso wie Kants empirischer Realismus ist nach dem obigen Klassifizierungsschema auch Putnams ‚interner Realismus’ als Antirealismus einzuordnen, da nach die-

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ser Position Wahrheit immer nur relativ ist bezüglich unserer Sprache bzw. unserer Begriffsschemata (‚conceptual scheme’). Will man den Selbsteinschätzungen verschiedener Philosophen bezüglich der Einordnung Realist/Anti-Realist Rechnung tragen, so bietet sich als kleinster gemeinsamer Nenner dessen, was die Position des Realismus in den verschiedenen Realismusdebatten ausmacht, die Position von Chisholm (1996) an, der sich selbst als "extremen Realisten" bezeichnet. Chisholm charakterisiert sein realistisches Programm folgendermaßen: If we can show how the mind – or, better, the person – may be said to have a belief that is directed on a thing other than itself and only on that thing, then we can solve the problem of objective reference. This is what we attempt to do. (S. 35)

Und nach erfolgter Skizzierung, wie dies gelingen kann, schließt Chisholm: We have, then, an account of the way in which a person "gets outside the circle of his own ideas." We have also answered Wittgenstein's question, „What makes my belief about you a belief about you?” (S. 37)

Es lässt sich allerdings bezweifeln, ob man hierbei überhaupt noch von Realismus sprechen sollte, da sich die Frage stellt, was man dann noch als Anti-Realismus bezeichnen soll. Ich werde in Abschnitt 3.2 genauer darauf eingehen, wie meiner Ansicht nach eine differenziertere Einordnung Chisholms bezüglich Realismus/Antirealismus aussehen sollte. 2.1 Die Debatte um den wissenschaftstheoretischen Realismus Die Position des wissenschaftstheoretischen Realismus wird gewöhnlich durch eine Kombination mehrerer Ingredienzien gekennzeichnet. Auf diese Weise ist es möglich, verschiedene Stärkegrade des wissenschaftstheoretischen Realismus zu unterscheiden. Bartelborth (1997) führt die folgenden drei Kernbehauptungen des wissenschaftstheoretischen Realismus auf: Die meisten der in unseren akzeptierten wissenschaftlichen Theorien postulierten Entitäten existieren, und zwar in einer Weise, die unabhängig ist von unseren Meinungen und Erkenntnisfähigkeiten, wobei die postulierten Entitäten in etwa die in unseren Theorien geforderten Eigenschaften haben. Bei den „in unseren akzeptierten wissenschaftlichen Theorien postulierten Entitäten“ spricht man häufig auch von theoretischen Entitäten. Starke Realisten stehen zu allen drei Behauptungen, wogegen Vertreter eines

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schwachen Realismus nur einige dieser Behauptungen akzeptieren, wie Ian Hacking z. B. nur die ersten beiden. Eine weitere Differenzierung wird in Abschnitt 3.1 folgen, einige Argumente für und wider den wissenschaftstheoretischen Realismus werde ich in Abschnitt 4.3 besprechen. 2.2 Die Realismusdebatte um Universalien Der größte Teil unseres Denkens und Sprechens sowie unserer wissenschaftlichen Theorien über die Welt ist durchzogen von mindestens zwei verschiedenen Arten von sprachlichen Entitäten. Einerseits sind dies die Einzeldinge wie z. B. konkrete Alltagsgegenstände, aber auch Fußballspiele und Elektronen zählen zu den Einzeldingen. Andererseits sprechen wir von Eigenschaften, die mehrere Einzeldinge gleichzeitig haben können, wie z. B. Rundsein, Grünsein oder Flüssigsein. Dass dies so ist, wird kaum jemand bestreiten. Die Frage ist jedoch, ob es sich bei dieser Ausdrucksweise um mehr handelt als um bloß nützliche sprachliche Instrumente. Entsprechen diesen beiden grundlegenden Typen sprachlicher Entitäten auch reale Entitäten in der Welt? Bei dieser Frage scheiden sich natürlich die Geister und zwar nicht nur bezüglich ihrer Beantwortung, sondern schon in Hinsicht auf die Bedeutung der Frage selbst. Was heißt ‚real’? Von welcher Welt ist hier die Rede? Wie ist die ‚Entsprechung’ von sprachlichen Ausdrücken und außersprachlichen Entitäten zu verstehen? Wenn also zwei Ontologen sich als ‚Universalienrealisten’ bezeichnen, so meinen sie einerseits beide, dass den – oder zumindest einigen – Ausdrücken unserer Sprache tatsächlich Eigenschaften oder Universalien in der Welt entsprechen. Was sie mit dieser Behauptung andererseits noch meinen, kann sehr unterschiedlich ausfallen. Trotz der genannten Probleme lassen sich einige Grundpositionen zum sogenannten Universalienproblem relativ klar unterscheiden. Der Universalien-Realist behauptet, dass in dem Fall, dass zwei Einzeldinge dieselbe Eigenschaft haben, also z. B. beide rund sind, dies im Sinne von strikter Identität zu verstehen ist. Das Rundsein der beiden Einzeldinge ist – nach Meinung des Universalien-Realisten – ein und dasselbe Rundsein. Hier stellt sich natürlich die Frage, wie dies zu verstehen ist. Ist das Rundsein Teil dieser Dinge oder sind vielleicht die Dinge Teile des Rundseins? Universalien-Realisten sprechen in diesem Zusammenhang von der Instantiierung der Universalien in den Einzeldingen. Extreme UniversalienRealisten, wie z. B. Platon, gehen davon aus, dass Universalien unabhän-

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gig von den Einzeldingen existieren können. Armstrong (1978) spricht hier auch von transzendentem Universalien-Realismus. Gemäßigte Universalien-Realisten dagegen, wie Aristoteles und heute Armstrong, meinen, dass Universalien immer nur zusammen mit Einzeldingen existieren können. Armstrong nennt diese Position auch immanenten Universalien-Realismus. Gegen beide Versionen des Universalien-Realismus sind insbesondere seit Ockham Einwände erhoben worden, die spätestens seit dem Entstehen der modernen Mengenlehre starken Rückenwind bekommen haben. Die sogenannten Nominalisten argumentieren z. B. in der folgenden Weise. Wenn etwa das Rundsein als Universalie ‚Teil’ der runden Dinge sein soll, wie können dann zwei vollkommen getrennte Dinge dasselbe Rundsein enthalten? Wenn überhaupt Eigenschaften existieren, müssen auch sie Einzelnes sein, das nicht ‚wiederholt existieren’ kann. Klassen-Nominalisten gehen noch weiter und behaupten, dass Eigenschaften überhaupt nicht in die Ontologie aufgenommen werden sollten, auch wenn sie als sprachliche Hilfsmittel akzeptabel und vielleicht praktisch auch unverzichtbar sind. Der Klassen-Nominalist meint, dass Eigenschaften letztlich ersetzbar sind durch natürliche Klassen von Einzeldingen, welche – in konventioneller Sprechweise – alle dieselbe Eigenschaft besitzen. Der Klassen-Nominalist behauptet, dass das Zerfallen aller Einzeldinge in verschiedene natürliche Klassen ein Faktum ist, welches nicht weiter erklärt werden kann. Ein entscheidendes Motiv für den Nominalismus besteht darin, eine Ontologie zu haben, die so ökonomisch wie möglich ist. Das bedeutet insbesondere, dass möglichst wenige Kategorien von Entitäten angenommen werden sollen, und zwar im Idealfall sogar nur eine, wie etwa die der Einzeldinge. In Abweichung von der üblichen Literatur zum Universalienproblem werde ich im Folgenden den Nominalismus als ‚Universalien-AntiRealismus’ bezeichnen, um die beiden hier untersuchten Realismusdebatten auch terminologisch möglichst symmetrisch zu bearbeiten. 3. Die Matrix möglicher Kombinationen Ich werde mich im Folgenden hinsichtlich des Universalienproblems auf die Erörterung in der Analytischen Ontologie beschränken. Nach Runggaldier und Kanzian (1998) lassen sich innerhalb der Analytischen Ontologie drei Grundströmungen unterscheiden, die naturalistischen, die phänomeno-

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logischen und die deskriptiven Richtungen. Hauptvertreter der historisch insbesondere auf Carnap zurückgehenden naturalistischen Richtungen in der Analytischen Ontologie sind Quine und Davidson. Die naturalistische Richtung Quines zeichnet sich insbesondere durch ihre stark reduktionistischen Tendenzen aus, die sich darin manifestieren, dass nach Möglichkeit alles Existierende auf nur eine Kategorie von Grundentitäten reduziert wird. Die phänomenologischen Richtungen sind zunächst einmal durch Rückgriffe auf ihre historischen Vorläufer Brentano und Husserl bestimmt. Dabei orientiert sich z. B. Chisholm mit seiner Betonung des Primats des Intentionalen deutlich an Brentano, während etwa Simons sowohl methodisch als auch inhaltlich stark auf Husserl rekurriert. Im Gegensatz zum Naturalismus Quines sind die phänomenologischen Richtungen dezidiert anti-reduktionistisch, was übrigens auch schon bei Husserls zentralem Konzept der „regionalen Ontologien“ zum Ausdruck kam. Der dritte Typ von Richtungen innerhalb der Analytischen Ontologie, die deskriptiven Richtungen, sind mit Strawson am allerstärksten durch einen einzigen Vertreter dominiert. Die Unterscheidung verschiedener Grundrichtungen in der Analytischen Ontologie ist für die Frage des Zusammenhangs der wissenschaftstheoretischen Realismusdebatte einerseits und der Realismusdebatte in Bezug auf Universalien andererseits deshalb von Bedeutung, da die Art des Zusammenhangs bei verschiedenen Philosophen mitunter stärker von der ontologischen Grundrichtung als von der Einstellung hinsichtlich der Realismusdebatte um Universalien abhängt. Zu diesem Zweck erscheint es mir sinnvoll, die Verortung der jeweiligen Einzelpositionen im Spektrum der drei oben skizzierten übergeordneten ontologischen Grundpositionen im Auge zu behalten. Zumindest die Feststellung lässt sich relativ schnell und eindeutig treffen, dass die bloße Einordnung pro oder kontra Universalienrealismus nicht durch die Positionierung in einer der drei Grundströmungen innerhalb der Analytischen Ontologie festgelegt ist. Dies wird sich im Folgenden durch vergleichende Erörterungen verschiedener Einzelpositionen zeigen. 3.1 Wissenschaftstheoretischer Realismus + Universalien-Realismus Bei Runggaldier und Kanzian (1998, S. 61-63) findet sich eine der relativ wenigen expliziten Erörterungen des Zusammenhanges der wissenschaftstheoretischen und erkenntnistheoretischen Realismusdebatte einerseits und

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der Realismusdebatte in Bezug auf Universalien andererseits. In Anlehnung an Armstrong führen Runggaldier und Kanzian ein Argument dafür vor, dass eine wissenschafts-theoretisch realistische Grundeinstellung auch eine realistische Einstellung hinsichtlich Universalien nahe legt. Der Kern des Arguments dreht sich um das Verständnis kausaler Regelmäßigkeiten in der Natur. Sieht man solche Regelmäßigkeiten nicht wie Kant als durch das erkennende Subjekt begründet, sondern durch bestimmte Übereinstimmungen in bewusstseinsunabhängigen Ereignisabläufen selbst, so gelangt man zu der Vorstellung, dass „dieselben kausalen Eigenschaften“ (S. 62) vorliegen müssen, damit dieselbe Wirkung eintritt. Um aber das reale Vorliegen kausaler Regelmäßigkeiten (wissenschaftstheoretischer Realismus) mit Hilfe des realen Vorliegens identischer kausaler Eigenschaften zu erklären, ist es am überzeugendsten, die strikte Identität dieser Eigenschaften anzunehmen (Universalien-Realismus): Da immer wieder ein und dieselbe kausale Eigenschaft vorliegt, tritt auch regelmäßig immer dieselbe Wirkung ein. Runggaldier und Kanzian deuten den von mir etwas stärker ausformulierten Zusammenhang der Realismusdebatten nur an, da ihnen wohl bewusst ist, dass es sich nicht um einen zwingenden Zusammenhang handelt. Man könnte sagen, dass der geschilderte Zusammenhang zwischen dem Universalien-Realismus als Voraussetzung für den wissenschaftstheoretischen Realismus nur für denjenigen zwingend ist, der sowieso schon Universalien-Realist ist. Wenn die Erklärung des Vorliegens identischer kausaler Eigenschaften dem Universalien-Anti-Realisten Probleme macht, wird er auch schon bei der Erklärung der Identität gewöhnlicher Eigenschaften bei verschiedenen Einzeldingen Probleme haben. Zumindest der moderate Universalien-Antirealist leugnet schließlich nicht das Vorliegen objektiver Gemeinsamkeiten in den Eigenschaften bei verschiedenen Einzeldingen. Der Unterschied zwischen Universalien-Realisten und (gemäßigten) Anti-Realisten besteht lediglich in der Art, wie diese Gemeinsamkeiten erklärt werden. Die größere suggestive Kraft des UniversalienRealismus bei der Argumentation bezüglich kausaler Eigenschaften besteht wohl darin, dass kausale Eigenschaften als Bindeglieder zwischen Einzeldingen empfunden werden, die sich ‚auflösen’, wenn nur Einzeldinge in der Ontologie zugelassen werden. Ein engerer Zusammenhang zwischen den beiden Realismusdebatten könnte in Bezug auf den ontologischen Status von Naturgesetzen bestehen. Werden Naturgesetze als etwas angesehen, das mehr ist als nur ein Progno-

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seinstrument, so gibt es auf dieser Grundlage eventuell einen erfolgreichen „wissenschaftstheoretisch motivierten Universalien-Realismus“ (Runggaldier, Kanzian 1998, S. 62). Ein wissenschaftstheoretischer Realist sieht in Naturgesetzen etwas, das objektive Strukturen der Natur beschreibt. Da Naturgesetze per definitionem allgemeingültig sind, müssen sie, so kann nun argumentiert werden, auch etwas Allgemeines sein, sofern ihre Realität angenommen wird. Dieses Allgemeine lässt sich aber am besten mit Bezug auf Universalien erklären. Wie Armstrong (1989, S. 138) aus Sicht des Universalien-Realismus ausführt, handelt es sich bei Naturgesetzen um Relationen höherer Ordnung, die zwischen Universalien bestehen, da Naturgesetze Zusammenhänge zwischen bestimmten Eigenschaften (Universalien erster Ordnung) von Einzeldingen darstellen1. Armstrong behauptet übrigens weiter (S. 139), dass sich auf dieser Grundlage das Induktionsproblem in einer Weise lösen lässt, die z. B. dem Tropenontologen, welcher Eigenschaften als Einzeldinge und nicht als Universalien sieht, verwehrt ist. Runggaldier und Kanzian (1998, S. 62) führen als mögliches Gegenargument gegen Armstrong Überlegungen von Davidson sowie von Quine ins Feld, nach denen Naturgesetze als rein sprachliche Verallgemeinerungen zu verstehen sind, so dass sich die Frage nach dem ontologischen Status des mit den Naturgesetzen verbundenen Allgemeinen gar nicht stellt. Für die hier untersuchte Frage (und nach meinem Eindruck übrigens auch schon bei Runggaldier und Kanzian selbst) sind die von Davidson und Quine vorgebrachten Einwände allerdings nicht direkt von Belang. Die Frage ist ja nicht, welche Argumente es für oder gegen den wissenschaftstheoretischen Realismus gibt. Die Frage ist vielmehr, ob es unter der Voraussetzung des wissenschaftstheoretischen Realismus auch Gründe für die Annahme eines Realismus in Bezug auf Universalien gibt. Spätestens an dieser Stelle scheint mir die Frage, ob der wissenschaftstheoretische Realismus auch zum Universalien-Realismus führt, zu undifferenziert zu sein. Die Antwort hängt nämlich entscheidend davon, in Bezug worauf man wissenschaftstheoretischer Realist ist. Ian Hacking (1983) hat die Unterscheidung von (Anti-) Realismus in Bezug auf Theorien und (Anti-)Realismus in Bezug auf Entitäten eingeführt. Mit Hilfe dieser Unterscheidung könnte man eine Teilantwort auf die Frage nach dem Zu1

Eine detaillierte Darstellung findet sich in (Armstrong 1983).

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sammenhang der beiden Realismusdebatten geben. Sollte sich Armstrongs Argumentation zur Bedeutung von Naturgesetzen für die Debatte um den Universalien-Realismus als nicht widerlegbar erweisen, so könnte gefolgert werden, dass ein wissenschaftstheoretischer Realist in Bezug auf Theorien auch Realist in Bezug auf Universalien sein muss (sofern man annimmt, dass Gesetze Bestandteile naturwissenschaftlicher Theorien sind). Da die Armstrongsche Argumentation aber wesentlich davon abhängt, dass Gesetze Universalien höherer Ordnung voraussetzen, lässt sich das Argument nicht auf den wissenschaftstheoretischen Realismus in Bezug auf Entitäten übertragen, wo Universalien höherer Ordnung keine Rolle spielen. Man könnte also zusammenfassen, dass eine bestimmte Art von wissenschaftstheoretischem Realismus auch zu einem Realismus in Bezug auf Universalien führt, dies aber nicht allgemein für den wissenschaftstheoretischem Realismus gilt. Wohlgemerkt würde auch dieses Teilergebnis nur unter der Voraussetzung stimmen, dass es keine Alternative zu Armstrongs oben skizzierter Argumentation gibt. Wie kaum anders zu erwarten war, kann dies aber nicht ohne weiteres angenommen werden, da z. B. David Lewis (1983, S. 39-45) Armstrongs Argumentation im Detail angegriffen hat. Da die Gegenargumente von Lewis allerdings relativ technisch sind, möchte ich diese Diskussionslinie mit dem Hinweis auf Lewis verlassen und lediglich resümieren, dass über die Analyse von Naturgesetzen eine Verbindung zwischen den beiden Realismusdebatten gefunden werden könnte, dass gegenwärtig aber meines Erachtens in diesem Punkt keine Einigung erzielt werden kann.2 3.2 Wissenschaftstheoretischer Anti-Realismus + Universalien-Realismus Der Universalien-Realist Armstrong und der Universalien-Anti-Realist Simons haben bei der Ausgestaltung der Ontologie gemeinsam, dass sie den empirischen Einzelwissenschaften große Bedeutung beimessen. Diese Einstellung unterscheidet Armstrong deutlich von dem ebenfalls bekennenden Universalien-Realisten Chisholm, welcher die Ontologie bis in die Einzelheiten primär von erkenntnistheoretischen Erwägungen her aufzieht. In seinem Buch A Realistic Theory of Categories – An Essay on Ontology (1996) charakterisiert Chisholm den sowohl für seine nicht-aristotelische 2

Eine weitere kritische Diskussion der Armstrongschen Argumentation durch einen Universalien-Anti-Realisten, genauer einen Tropenontologen, findet sich in (Campbell 1990, 3.11, S. 74-79).

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Kategorienlehre wie auch für seine gesamte Philosophie grundlegenden „Primat des Intentionalen“ folgendermaßen: By reflecting on the nature of ourselves, we can best understand the ultimate categories of reality – substances, states, and attributes. (S. 35)

Interessanterweise fällt dabei übrigens in der Erwägung der Unterklasse von Kategorien notwendiger Entitäten noch ein Gottesbeweis ab (S. 127132). Chrisholm steht damit nach den gängigen Klassifikationen auf der Seite der Idealisten beziehungsweise der erkenntnistheoretischen AntiRealisten. Methodisch steht Chrisholm dabei deutlich in der Tradition der analytischen Philosophie, was insbesondere an seiner "logical mark of the intentional" (1996, S. 41) zu erkennen ist. In ontologischen Fragen jedoch (und damit natürlich auch bezüglich Universalien) bezeichnet sich Chisholm selbst als „extremen“ Realisten, was sich darin ausdrückt, dass die Rückführung der als existierend angenommenen Entitäten auf das Spektrum möglicher intentionaler Einstellungen zu einer sehr reichhaltigen Ontologie führt. Alles, was Gegenstand intentionaler Einstellungen sein kann, wird in die Ontologie aufgenommen. Das bedeutet einerseits in Bezug auf Universalien, dass Chisholm auch nichtinstantiierte Universalien als existent anerkennt (S. 3), in betontem Gegensatz zum moderaten Realismus von Armstrong. Andererseits beinhaltet der extreme Realismus von Chisholm, dass Ergebnisse empirischer Einzelwissenschaften für die Ontologie keine Rolle spielen. Zu Chisholms Position ist noch anzumerken, dass sie u. a. innerhalb der analytischen Philosophie des Geistes auf Widerstand gestoßen ist. 3.3 Wissenschaftstheoretischer Realismus + Universalien-Anti-Realismus Für den wissenschaftstheoretischen Realisten sind naturwissenschaftliche Theorien keine bloßen Instrumente, um Prognosen zu erstellen, sondern ihre Bedeutung geht weit über die Minimalbedingung der empirischen Adäquatheit hinaus. Gemäß der realistischen Einstellung sagen anerkannte Theorien etwas Substanzielles über die Welt aus. Die „besten verfügbaren naturwissenschaftlichen Theorien“ werden als die zuverlässigste Informationsquelle über die Beschaffenheit der Welt angesehen. Folglich stellen sie einen herausragenden und unumgänglichen Gegenstand für die Untersuchungen eines Ontologen dar. Wenn die Theorien der Ontologen schon nicht bei der Untersuchung naturwissenschaftlicher Theorien starten, so

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müssen sie ihre Ergebnisse zumindest auf ihre Haltbarkeit angesichts des state of the art der Naturwissenschaften hin überprüfen. Eine in diesem Zusammenhang besonders ernst zu nehmende naturwissenschaftliche Theorie ist die Quantentheorie. Wie u. a. von Simons (1994) aufgezeigt wurde, gibt es auf dieser Grundlage gute Argumente dafür, eine anti-realistische, genauer tropenontologische Einstellung, in Bezug auf Eigenschaften wie elektrische Ladung oder den Spin einzunehmen. Um nur ein Stichwort zu nennen, geht es bei dem Argument um die Frage der Individualität von Elementarteilchen in quantenmechanischen Vielteilchensystemen.3 Akzeptiert man das Ergebnis dieses Argumentes, so lässt sich folgender Zusammenhang zwischen den beiden Realismusdebatten herstellen. Der wissenschaftstheoretische Realist sieht in anerkannten Theorien wie der Quantentheorie nicht nur ein Instrument zur Vorhersage von Messergebnissen, sondern er hat die Ansicht, dass solche Theorien etwas über die Struktur der Welt und der in ihr enthaltenen Entitäten aussagen. Dies gilt für den wissenschaftstheoretischen Realisten insbesondere für die Eigenschaften der in dieser Theorie postulierten theoretischen Entitäten, wie z. B. den Elementarteilchen. Nimmt man nun aber mit Blick auf das oben erwähnte Ergebnis an, dass ein befriedigendes Verständnis dieser Entitäten als individuierbare Gegenstände nur möglich ist, wenn ihre Eigenschaften nicht als Universalien verstanden werden, so könnte hiermit ein Zusammenhang zwischen den beiden Realismusdebatten hergestellt werden. Als wissenschaftstheoretischer Realist wäre man durch das Ernstnehmen einer bestimmten Theorie (der Quantentheorie) dazu gezwungen, in Bezug auf Universalien Anti-Realist zu sein. Auch wenn es hierbei viele ‚wenn’s und ,aber’s gibt, kann kaum bestritten werden, dass ein solcher Zusammenhang durchaus denkbar ist und zumindest gegenwärtig nicht zurückgewiesen werden kann. Dies ist aber auch schon alles, was für das Gesamtziel dieser Arbeit wichtig ist. 3.4 Wissenschaftstheoretischer Anti-Realismus + Universalien-AntiRealismus Angesichts des skizzierten Argumentes im letzten Abschnitt denke zwar noch, dass ein wissenschaftstheoretischer Realist Anti-Realist bezüglich 3

Eine Diskussion von Simons’ Sicht findet sich in Kuhlmann 2002.

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Universalien sein sollte, allerdings nicht weil er wissenschaftstheoretischer Realist ist. Denn auch der wissenschaftstheoretische Anti-Realist sollte Anti-Realist bezüglich Universalien sein und zwar dann, wenn er als guter Empirist naturwissenschaftlichen Theorien eine hohen Wert beimisst. Denn der Stellenwert, den man naturwissenschaftlichen Theorien in ontologischen Fragen zuspricht, ist eigentlich der entscheidende Punkt in der obigen Argumentation dafür, dass man Anti-Realist bezüglich Universalien (genauer Tropenontologe) sein sollte. Es ist aber so, dass sowohl der wissenschaftstheoretische Realist als auch der wissenschaftstheoretische AntiRealist naturwissenschaftliche Theorien in ontologischen Fragen für wichtig erachten kann, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Es gibt ein sehr interessantes Beispiel dafür, wie wenig Bedeutung die Grundausrichtung hinsichtlich der wissenschaftstheoretischen Realismusdebatte haben kann, wenn es um die Ausgestaltung ontologischer Überlegungen in Bezug auf eine gegebene naturwissenschaftliche Theorie geht. Der wissenschaftstheoretische Anti-Realist van Fraassen hat mit seiner Modalinterpretation der Quantenmechanik einen Ansatz geliefert, der von dem wissenschaftstheoretischen Realisten D. Dieks ausgebaut und weiterentwickelt werden konnte, ohne dass die unterschiedlichen Einstellungen bezüglich der wissenschaftstheoretischen Realismusdebatte sich groß niederschlagen würden. 3.5 Zusammenfassung Da die Untersuchung der Kombinationsmöglichkeiten von Positionen in der wissenschaftstheoretischen Realismusdebatte mit solchen in der Realismusdebatte in Bezug auf Universalien zu dem Ergebnis geführt hat, dass – zumindest beim jetzigen Forschungsstand – alle vier formal möglichen Kombinationen haltbar sind und sich auch tatsächlich für jede Kombination Vertreter finden lassen, möchte ich die Frage des Zusammenhangs der zwei Realismusdebatten im nächsten Abschnitt noch einmal anders angehen. 4. Argumente in Realismusdebatten: Eine Fallstudie Im Folgenden werde ich zunächst getrennt jeweils innerhalb einer beiden hier diskutierten Realismusdebatten exemplarisch einige Argumentationsstränge erörtern. Da im vorliegenden Band die wissenschaftstheoretische

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Realismusdebatte im Vordergrund steht, werde ich mich auf Argumente zum Universalienproblem konzentrieren und die Beispielargumente zur wissenschaftstheoretischen Realismusdebatte nur skizzieren. Nach separater Erörterung verschiedener Argumentationszüge, werde ich schließlich untersuchen, von welcher Art die vorgebrachten Argumente jeweils sind. Es wird dabei etwa um die Fragen gehen, woran in den vorgebrachten Argumenten jeweils appelliert wird und was jeweils vorausgesetzt wird. Das Ziel dieser Vorgehensweise besteht darin, durch den Vergleich der Argumentationstypen Hinweise auf das Verhältnis der beiden Realismusdebatten zu erhalten. Da durch den vorhergehenden Abschnitt über die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten die Vermutung einer relativ großen logischen Unabhängigkeit der beiden Realismusdebatten nahegelegt wird, wäre nun weiter zu fragen, wodurch diese Unabhängigkeit begründet ist. Bei der Untersuchung von Argumenten zum Universalien(Anti-)Realismus werde ich mich auf Argumente für und wider eine bestimmte Position beschränken, und zwar für und wider die klassennominalistische Lösung des Universalienproblems. Der Grund für diese Beschränkung auf nur eine Spielart des Nominalismus besteht darin, dass sich die wesentlichen Typen von Argumenten schon innerhalb dieser begrenzten Diskussion finden lassen. 4.1 Argumente zur Realismusdebatte um Universalien Als exemplarische Diskussion zur Realismusdebatte in Bezug auf Universalien möchte ich ein schlagkräftiges Argument gegen die einfachste und bekannteste Version des Nominalismus, den Klassen-Nominalismus, erläutern. Weiter werde ich zeigen, wie in der sich anschließenden Diskussion versucht wurde, dieses Argument auszuhebeln. Nicholas Wolterstorff (1970, S. 173-193) argumentiert in einer anerkennenden, aber sehr kritischen Beschäftigung mit Ockhamschen Ideen gegen die Möglichkeit einer Identifizierung von predicables mit Klassen von Fällen, auf welche diese predicables zutreffen. Ein modernes Beispiel für ein predicable wäre etwa ein Elektron sein4. Der Klassen-Nominalist behauptet, dass sich alle sinnvollen Aussagen letztlich verständlich machen lassen, indem nur auf Einzeldinge Bezug genommen wird. So bedeutet z. B. ein Elektron sein für den Klassen-Nominalisten nichts anderes als Element der

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Klasse aller Elektronen zu sein. Ein Elektron sein wird also identifiziert mit der Klasse aller Einzeldinge, die Elektronen sind, also kurz mit der Klasse aller Elektronen. Die Klasse der Elektronen bestimmt damit, was es heißt, ein Elektron zu sein. Wird diese Erklärung aber ernst genommen, so bedeutet dies, dass ein Elektron sein davon abhängt, welche Elektronen tatsächlich existieren. Da Elektronen aber kontingente Dinge sind, würde sich an der Welt und insbesondere am ein Elektron sein gar nicht Prinzipielles ändern, wenn es nun mehr oder weniger Elektronen gäbe. Zu dieser Konsequenz wäre der Klassen-Nominalist aber gezwungen. In einer Welt, in der es nur zehn Elektronen gibt, müsste ein Elektron sein für den KlassenNominalisten etwas anders sein als in einer Welt, in der es 100 Elektronen gibt. Diese Konsequenz ist aber nicht akzeptabel und führt daher zu einem schwerwiegenden Einwand gegen den Klassen-Nominalismus. Der Universalien-Realist benutzt dieses Argument als Hinweis dafür, dass man nicht ohne die Annahme der Existenz von Universalien auskommt, um eine befriedigende Erklärung von Eigenschaften oder Typen wie ein Elektron sein geben zu können. Aus Sicht des dem Klassen-Nominalismus nahestehenden David Lewis5 sieht die Sache jedoch nicht so schlecht für den Klassen-Nominalismus aus. Lewis analysiert Eigenschaften über natürliche Klassen von Einzeldingen nicht nur aus unserer tatsächlichen Welt, sondern über Klassen von Dingen aus allen möglichen Welten. Lewis (1986a) nimmt dabei die Position des "modal realism" ein. Dies bedeutet, dass er die möglichen Welten nicht nur als denkbare Alternativen versteht, sondern als aktual existierend. Würde er dies nicht tun, so wäre die Identifizierung einer Eigenschaft mit einer Klasse von Dingen in allen möglichen Welten wenig überzeugend. Denn dann würden Eigenschaften identifiziert mit Dingen, die es nur in unserem Kopf gibt. Dies spricht aber gegen die Überzeugung des KlassenNominalisten, dass es nur Einzeldinge gibt, welche in diverse natürliche Klassen fallen, die wir aus pragmatischen Gründen als Eigenschaften bezeichnen. Die Frage Viele-Welten-Lösung von Lewis kann dem Einwand von Wolterstorff entgehen. Wenn ein Elektron sein identifiziert wird mit der 4

5

Ich folge hier zum Teil der sehr kompakten und eingängigen Darstellung sowie Einschätzung des Argumentes von Wolterstorff durch Armstrong (1989, S. 27). Zur Erläuterung und Relativierung der Selbsteinschätzung von Lewis als KlassenNominalist siehe Lewis (1983, S. 10, Fn 4).

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Klasse aller Elektronen in allen möglichen Welten, so lässt sich der Einwand von Wolterstorff nicht mehr anführen, da diese ‚Viele-WeltenKlasse’ von Elektronen nicht mehr kontingent ist. In dieser Klasse sind die oben erwähnten zehn Elektronen enthalten, genauso aber auch die 100 Elektronen, die es hätten sein können. Interessanterweise wirft der Viele-Welten-Ontologe Lewis (1986b, S. 80) sowohl Universalien-Realisten als auch Tropen-Ontologen ausgerechnet mangelnde ontologische Sparsamkeit vor. Der Grund für diesen aus dem Munde eines Modal-Realisten zunächst erstaunlichen Vorwurf liegt darin, dass Lewis als (Fast)-Klassen-Nominalist natürlich, wie alle Nominalisten, höchsten Wert auf das am stärksten mit Ockham verbundene Prinzip der ontologischen Sparsamkeit legt. Obwohl der Vorwurf von Lewis gegen diejenigen, die Eigenschaften in der einen (als Universalien) oder anderen Weise (als partikularisierte Eigenschaften oder ‚Tropen’) ernstnehmen, damit verständlicher wird, stellt sich natürlich die Frage, ob hier nicht doch ein gewisser Widerspruch vorliegt. Ist es sinnvoll, Eigenschaften aus Sparsamkeitsgründen aus der Ontologie zu verbannen, wenn man gleichzeitig bereit ist, eine üppige Vielfalt möglicher Welten als real existierend zu akzeptieren? Nach dieser exemplarischen Darstellung einer speziellen Diskussion aus der Realismusdebatte um Universalien, möchte ich noch einmal hervorheben, wieso es sich hierbei um Argumente zur Realismusdebatte um Universalien handelt. Der Universalien-Realist behauptet, dass neben Einzeldingen auch noch allgemeine Entitäten, die Universalien, existieren und zwar unabhängig von unserem klassifizierenden Denken. Der Nominalist oder Universalien-Anti-Realist bestreitet dies und behauptet, dass es nur Einzeldinge gibt. Damit ist der Universalien-Anti-Realist aber in Zugzwang. Er muss erklären, was es mit unseren zweifellos sinnvollen Aussagen auf sich hat, die von Eigenschaften handeln. Und er muss weiter erklären, wie es zu verstehen ist, dass verschiedene Einzeldinge dieselbe Eigenschaft haben können. Kann der Universalien-Anti-Realist dies nicht leisten, so ist seine Behauptung nicht haltbar, das es keine Universalien gibt. In diesem Sinne haben die oben vorgebrachten Argumente alle unmittelbare Relevanz für die Realismusdebatte um Universalien.

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4.2 Argumente zur wissenschaftstheoretischen Realismusdebatte Hinsichtlich der Debatte um den wissenschaftstheoretischen Realismus erscheint es mir am sinnvollsten, damit anzufangen, aus welchen Gründen man bezweifeln kann, dass unsere naturwissenschaftlichen Theorien eine von unserem Bewusstsein unabhängige Natur beschreiben, und es die von uns mehr oder weniger gut erkannten Naturgesetze und Entitäten auch dann gäbe, wenn wir sie nicht erkannt hätten. Man kann zwei Typen von Argumenten gegen den wissenschaftstheoretischen Realismus unterscheiden. Die eine Gruppe dieser antirealistischen Argumente stützt sich auf generelle erkenntnistheoretische Erwägungen, die sich auch schon im Hinblick auf die objektive Erkennbarkeit von Alltagsgegenständen anführen lassen. Die zweite Gruppe von antirealistischen Argumenten, die man als spezifische Argumente für den wissenschaftstheoretischen Anti-Realismus bezeichnen könnte, beschäftigen sich speziell mit der Tätigkeit des Naturwissenschaftlers, z. B. mit der Funktion von Theoriebildung, der experimentellen Überprüfung, der Rolle von Modellen usw. Ich möchte mich hier auf die zweite Gruppe von Argumenten konzentrieren, wobei eine präzise Aufteilung der Argumente nicht immer möglich ist. Ein wesentliches Argument gegen den wissenschaftstheoretischen Realismus ist die These der prinzipiellen Unterbestimmtheit von Theorien durch Beobachtung. Eine beliebte wissenschaftsnahe Illustration dieser sehr allgemeinen These ist der Hinweis darauf, dass sich durch eine noch so große endliche Anzahl von Messpunkten immer unendlich viele Kurven legen lassen. Hierbei stehen die Messpunkte für die endlich vielen Beobachtungen und die Kurven für die möglichen Theorien, die sich auf Grundlage der gemachten Beobachtungen aufstellen lassen. Eine Entscheidung für die einfachste der möglichen Theorien bzw. Kurven kann hier dem Realisten auch nicht weiterhelfen, da nicht klar ist, was ein Einfachheitsprinzip mit Wahrheit zu tun hat. Das prominenteste Argument der wissenschaftstheoretischen Realisten gegen die Anti-Realisten ist wohl das auf Putnam zurückgehende sogenannte Wunder-Argument. Mit diesem Argument weist der Realist darauf hin, dass die überaus erfolgreiche technische Anwendung bzw. Prognosefähigkeit unserer naturwissenschaftlichen Theorien ein Wunder wäre, wenn sie sich nicht auch tatsächlich auf das bezögen, was da technisch manipuliert wird. Eine vielleicht noch schlagkräftigere Abwandlung dieses

Wissenschaftstheoretischer und Universalienrealismus

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Pro-Realismus-Argumentes besagt, dass es erst recht ein Wunder wäre, dass naturwissenschaftliche Theorien scheitern können, wenn es nicht sinnvoll wäre, einige Theorien als falsch zu bezeichnen.6 Diese zweite Variante des Wunder-Argumentes ist übrigens nicht symmetrisch zur ersten Variante und zwar aus demselben Grunde, warum Falsifikation nicht symmetrisch ist zur Verifikation. Eine Allaussage kann zwar logisch gesehen eindeutig falsifiziert, aber prinzipiell nicht verifiziert werden. Beide Varianten des Wunder-Argumentes haben die Form eines Schlusses auf die beste Erklärung: Die beste Erklärung dafür, dass naturwissenschaftliche Theorien erfolgreich sein können (bzw. scheitern können) besteht darin anzunehmen, dass sie wahr (oder falsch) sein können. Wie Thomas Bartelborth (1997, S. 28) betont, hängt eine endgültige Beurteilung der Debatte um den wissenschaftstheoretischen Realismus damit zentral von einigen metatheoretischen Fragen ab, wie z. B. von der Reichweite des Schlusses auf die beste Erklärung. 4.3 Vergleich der Argumente Einerseits gibt es zwischen der Debatte um den wissenschaftstheoretischen Realismus und der Realismusdebatte in Bezug auf Universalien zweifellos diverse Berührungspunkte. So tritt in beiden Fällen immer wieder die Frage auf, welche Rolle bestimmte metatheoretische Prinzipien spielen. In der Realismusdebatte um Universalien ist ein solches Prinzip z. B. das der ontologischen Sparsamkeit, welches in der Debatte um den wissenschaftstheoretischen Realismus eine gewisse Entsprechung im Prinzip der größtmöglichen Einfachheit von Theorien findet. Andererseits lassen sich in der Art der angeführten Argumente auch deutliche Unterschiede ausmachen. Im Zusammenhang der Realismusdebatte in Bezug auf Universalien geht es um die Frage, wie die Welt beschaffen sein könnte, wenn unsere sinnvollen Aussagen über die Welt als wahr angenommen werden. Kommt man damit aus, nur die Existenz von Einzeldingen anzunehmen oder muss auch noch die Existenz von Universalien angenommen werden, um unsere sinnvollen Aussagen ‚wahr zu machen’. Es geht kurz gesagt um die Wahrmacher der als sinnvoll akzeptierten Aussagen. Dabei kann es sich bei diesen Aussagen sowohl um 6

Die zweite Variante des Wunder-Argumentes geht wohl auf Gerhard Vollmer zurück, der sie als das Hauptargument zugunsten des wissenschaftstheoretischen Realismus betrachtet.

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Aussagen in unserer Alltagssprache handeln als auch um Aussagen wissenschaftlicher Theorien. Wie sieht es nun mit der Art der Argumente in der Debatte um den wissenschaftstheoretischen Realismus aus? Hier wird die Wahrheit von Theorien nicht vorausgesetzt, sondern ihre Wahrheit ist gerade das Thema der Debatte. Man könnte sagen, dass es bei den Argumenten in der Realismusdebatte um Universalien um bedingte Existenz geht und bei der Debatte um den wissenschaftstheoretischen Realismus um absolute Existenz. Im Fall der bedingten Existenz geht es um die Frage, was als Grundinventar der Welt vorstellbar ist, falls unsere anerkannten Theorien als wahr angenommen werden. Im Fall der absoluten Existenz geht es dann um die Frage, ob unsere anerkannten Theorien wahr sind, in dem Sinne, dass sie die Welt mehr als nur empirisch adäquat beschreiben. Es bietet sich hier noch eine andere Ausdrucksweise an. Während es sich bei der Universalienproblematik um die Suche nach einer Theorie von Wahrmachern dreht, geht es bei der wissenschaftstheoretischen wie auch schon bei der älteren erkenntnistheoretischen Realismusdebatte um eine Theorie von Wahrheit selbst. 5. Fazit Es hat sich gezeigt, dass zwischen der Debatte um den wissenschaftstheoretischen Realismus und der Realismusdebatte in Bezug auf Universalien sowohl in inhaltlicher wie auch in metatheoretischer Hinsicht verschiedene Verbindungen bestehen. Dies war kaum anders zu erwarten. Allerdings scheinen die Verbindungen zwischen den beiden Realismusdebatten schwächer zu sein als man zunächst erwarten könnte. Es hat sich gezeigt, dass sich für alle vier formal möglichen Kombinationen von Realismus und Anti-Realismus bezüglich der beiden Realismusdebatten Argumente finden lassen. Vor diesem Hintergrund erscheint es so, dass es lediglich mehr oder weniger starke Anziehungskräfte zwischen den jeweiligen Grundpositionen in den beiden Debatten gibt, jedoch keine festen Paare. Ein exemplarischer Vergleich der jeweiligen Argumentationstypen in den beiden Realismusdebatten konnte die These der relativen Unabhängigkeit der beiden Debatten durch die Beobachtung erhärten, dass in den bei-

Wissenschaftstheoretischer und Universalienrealismus

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den Bereichen auch strukturell anders argumentiert wird und zwar in einer Weise, die es nahe legt, keine notwendige Verbindung zwischen beiden Debatten anzunehmen. Literatur Armstrong, D. M. (1978): Universals and Scientific Realism, Bd. I: Nominalism and Realism, Cambridge u. a.: Cambridge University Press. Armstrong, D. M. (1983): What is a Law of Nature? Cambridge: Cambridge University Press. Armstrong, D. M. (1989): Universals – An Opinionated Introduction, Boulder: Westview Press. Bartelborth, T. (1997): Wissenschaftlicher Realismus – Ein Forschungsbericht, Information Philosophie, 2: 18-29. Campbell, K. (1990): Abstract Particulars, Oxford (GB), Cambridge (USA): Basil Blackwell. Chisholm, R. M. (1996): A Realistic Theory of Categories – An Essay on Ontology, Cambridge: Cambridge University Press. Hacking. I. (1983): Representing and Intervening, Cambridge u. a.: Cambridge University Press. Kuhlmann, M. (2002): Analytical Ontologists in Action: A Comment on Seibt and Simons, in Kuhlmann, M., Lyre, H., und Wayne, A. (Hrg.), Ontological Aspects of Quantum Field Theory, World Scientific, New Jersey et. al. Lewis, D. (1983): New work for a theory of universals, The Australasian Journal of Philosophy, 61: 343-377. Hier angebebene Seitenzählung bezieht sich auf Nachdruck (S. 8-55) in Lewis, D. (1999): Papers in Metaphysics and Epistemology, Cambridge: Cambridge University Press. Lewis, D. (1986a): On the Plurality of Worlds, Basil Blackwell: Oxford, New York. Lewis, D. (1986b): Against structural universals, The Australasian Journal of Philosophy, 64: 25-46. Zitierung hier nach Lewis (1999), s. o.

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Runggaldier, E., Kanzian, C. (1998): Grundprobleme der Analytischen Ontologie, Paderborn u. a.: Schöningh. Simons, P. (1994): Particulars in Particular Clothing: Three Trope Theories of Substance, Philosophy and Phenomenological Research, 54: 553575. Simons, P. (1998): Metaphysical Systematics: A Lesson From Whitehead, Erkenntnis, 48: 377-393. Wolterstorff, N. (1970): On Universals – An Essay in Ontology, Chicago, London: The University of Chicago Press.

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Wie viel Realismus ist berechtigt? Minkowski – Poincaré

1. Das Problem Physikalische Theorien machen Aussagen über Grundbegriffe und Grundprinzipien, wie Raum, Zeit, Materie, Kausalprinzip, Invarianzprinzip, Induktionsprinzip etc. Die klassischen Begriffe und Prinzipien sind eng an die Intuition geknüpft; diese Anbindung soll den Wirklichkeitsbezug garantieren. In den physikalischen Theorien des 20. Jahrhunderts erweist sich die klassische Begriffsstruktur als inadäquat, sie wird durch allgemeinere Begriffe abgelöst. Die Relativitätstheorie führt neue Grundbegriffe ein, verkoppelt Raum und Zeit und ersetzt die euklidische Geometrie durch eine Riemann-Geometrie. Die Frage ist, inwiefern die modifizierten Begriffe und Prinzipien von der scientific community realistisch gedeutet werden, d. h. welchen Realismus-Anspruch die Physiker mit ihren Theorien verbinden. Diese Frage soll im folgenden am Beispiel der höchst gegensätzlichen Auffassungen Minkowskis und Poincarés erörtert werden. Poincaré und Minkowski haben einige bemerkenswerte Gemeinsamkeiten: (α) Als Mathematiker sind beide im besonderen Maße an den mathematischen Strukturen physikalischer Theorien interessiert. (β) Beide erkennen die grundlegende Bedeutung von Symmetrien und Invarianzen. (γ) Beide beschäftigen sich im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie mit der Auswertung von Invarianzeigenschaften und leisten wesentliche Beiträge zur Entwicklung der neuen Theorie. Es wäre demnach zu erwarten, dass die beiden Wissenschaftler zu einem Konsens hinsichtlich der Beurteilung der Relativitätstheorie gekommen sind. Trotz dieser Gemeinsamkeiten vertreten sie aber gegensätzliche Positionen: Minkowski akzeptiert die neue Theorie, Poincaré hingegen lehnt sie ab.1

1

Diese Aussage bezieht sich zunächst nur auf die Spezielle Relativitätstheorie. Die Formulierung der Allgemeinen Relativitätstheorie haben sowohl Minkowski als auch Poincaré nicht mehr erlebt. Dennoch lässt sich unschwer begründen, dass Minkowski die Theorie akzeptiert und dass Poincaré sie abgelehnt hätte.

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Die Gründe für die unversöhnlichen Standpunkte der beiden Mathematiker liegen in ihren unterschiedlichen metaphysischen Überzeugungen zur Naturbeschreibung. Minkowski konzentriert sich in seinen Untersuchungen systematisch auf alle Symmetrieeigenschaften, die eine physikalische Theorie aufweist. Eine Invarianz, die sich im mathematischen Formalismus zeigt, ist für ihn ein notwendiges und auch hinreichendes Kriterium für eine realistische Deutung, sofern der empirische Befund dem nicht ausdrücklich entgegensteht. Poincaré hingegen reicht diese Begründung nicht aus. Für ihn müssen stärkere Argumente vorliegen, damit eine realistische Deutung gerechtfertigt ist. Wo diese stärkeren Argumente nicht vorzuliegen scheinen, sieht er sich nicht zu einer realistischen Deutung verpflichtet. Im Gegenteil: Seine tiefe Einsicht in die eigenartigen epistemologischen Probleme der Naturbeschreibung veranlassen ihn zur Einnahme eines vorsichtigen Standpunktes. Poincaré verhält sich daher ablehnend hinsichtlich einer modifizierten Begriffsstruktur, einer Verkopplung von Raum und Zeit und einer nicht-euklidischen Geometrie. Seine Gründe gegen die Annahme der Relativitätstheorie sind weder empirisch noch methodologisch, sondern epistemologisch. Minkowski

Poincaré (α) Interesse an mathematischen Strukturen (β) Betonung der Bedeutung von Symmetrien (γ) Beschäftigung mit der Relativitätstheorie Erkenntnis-Optimismus: Erkenntnis-Pessimismus: hEinfachheit mathematischer Struk- hEpistemisches Dilemma turen hGeschlossene kompensierende EfhEmpirischer Befund fekte Gültigkeit der Naturerkenntnis: Gültigkeit der Naturerkenntnis: hEntitäten-Realismus hEntitäten-Instrumentalismus hAllgemeiner Strukturen-Realismus hPartieller Strukturen-Realismus Die Überzeugungskraft einfacher mathematischer Strukturen und der empirische Befund, der diesen mathematischen Strukturen nicht entgegensteht, begründet Minkowskis Erkenntnis-Optimismus und als Konsequenz seinen allgemeinen Realismus. Poincarés Erkenntnis-Pessimismus hingegen beruft sich darauf, dass Naturerkenntnis immer wieder in ein epistemisches

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Dilemma gerät und dass oft die Möglichkeit geschlossener kompensierender Effekte besteht. Dies führt ihn zu einem partiellen Realismus. 2. Metaphysische Elemente in physikalischen Theorien Die Metaphysik in der Physik2 umfasst allgemeine Theorie-übergreifende Elemente zur Naturbeschreibung. Darunter sind Begriffe, Entitäten, Prinzipien und Strukturen zu verstehen, die bereits auf einer Vorstufe zur eigentlichen Theorienbildung als grundlegende Vorentscheidungen festgelegt werden. Zu diesen vor-theoretischen Elementen gehören die Begriffe von Raum, Zeit, Substanz, Materie, Vakuum, Kontinuum, Kausalität und Determinismus. Die metaphysischen Elemente in der Physik bilden somit das eigentliche Fundament der physikalischen Theorienbildung – ein Fundament, das unter dem Anspruch steht, eine adäquate Beschreibung von realen Dingen und Vorgängen in der Natur zu liefern, und daher mit einem wie auch immer zu spezifizierenden Realitätsverständnis verknüpft ist. Diese Theorie-übergreifenden Elemente haben zwei Wurzeln: Zum einen beruhen sie auf allgemeinen Vorannahmen über die Beschaffenheit der Natur; zum anderen beruhen sie auf allgemeinen Vorannahmen über die Möglichkeit, die Quellen und die Gültigkeit von Erkenntnis. Die metaphysischen Elemente sind durch folgenden Eigenschaftenkatalog charakterisiert: (i) Sie leiten die Heuristik der Theorienbildung. (ii) Sie können formalisiert werden und legen dann Klassen von Theorien fest. Die physikalischen Theorien sind im Sinne von Spezialfällen dieser Theorienklassen zu verstehen. (iii) Sie lassen sich weder empirisch noch logisch begründen. Ihre Annahme ist im Sinne vernünftiger Überzeugungen zu verstehen. (iv) Sie schließen die Lücken, die durch die empirische Unterbestimmtheit der Theorien entstehen. (v) Sie sind hinsichtlich ihrer Adäquatheit indirekt experimentell überprüfbar. Dies ist in dem Sinne zu verstehen, dass es in vielen Fällen möglich ist, Experimente zu entwickeln, die zwischen diesen Klassen von Theorien entscheiden können, ohne dass bereits eine weitergehende Festlegung auf eine spezifische Formulierung nötig ist. (vi) Sie sind entscheidungseffektiv für die Theorienwahl. (vii) Sie sind im Theorienwandel der Veränderung unterworfen. (viii) Sie sollen als Elemente ei2

Vergl. Huber 2000.

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ner wirklichkeitsgetreuen Beschreibung einer physikalischen Realität aufgefasst werden. Damit ist eine Verpflichtung zu einer realistischen Interpretation von Theorien verknüpft. Diese Sichtweise sucht die Wesenseigenschaften und wahren Ursachen zu erkennen, die den Naturerscheinungen zugrunde liegen. Die letzten beiden Bestimmungsmerkmale sind besonders hervorzuheben: Eine adäquate Metaphysik will von vornherein auf den Anspruch der Endgültigkeit und Abgeschlossenheit des Wissens verzichten; sie will sich als vorläufig, offen und revidierbar verstehen. Eine adäquate Metaphysik will aber die Frage nach der Wirklichkeit dennoch nicht ausklammern – im Gegenteil: Sie erhebt den Wirklichkeitsbegriff selbst zum Forschungsgegenstand; das klassische Realitätsverständnis steht hier auf dem Prüfstand. 3. Minkowskis Erkenntnis-Optimismus Einstein hat in seiner Arbeit Zur Elektrodynamik bewegter Körper von 1905 neue begriffliche Grundlagen geschaffen. Er beginnt seine Ausführungen mit speziellen Symmetrieüberlegungen und nennt zwei Gründe für seine Untersuchungen. Der erste Grund ist der Sachverhalt, dass die Elektrodynamik in ihrer Anwendung auf bewegte Körper zu Asymmetrien führt, die auf der Ebene der Phänomene nicht nachweisbar sind. Demzufolge wird eine symmetrische Phänomen-Situation in der Elektrodynamik durch eine asymmetrische theoretische Beschreibung wiedergegeben. Der zweite Grund liegt in den misslungenen Bemühungen, die Relativgeschwindigkeit zwischen Erde und Äther empirisch festzustellen. Diese speziellen Probleme veranlassen Einstein zu einer Infragestellung des absoluten Gleichzeitigkeitsbegriffs der klassischen Physik und zu einer Neuformulierung im Sinne eines, durch ein operationales Messverfahren definierbaren Begriffs. Damit verknüpft ist die Forderung, dass die Gesetze der klassischen Mechanik und die Gesetze der Elektrodynamik einem gemeinsamen Relativitätsprinzip genügen müssen. Das Problem ist für Einstein somit durch Symmetrien gegeben, die sich zwar im empirischen Befund, nicht aber in der Theorie manifestieren. In seinen beiden berühmten Abhandlungen Das Relativitätsprinzip von 1907 und Raum und Zeit von 1908 formuliert Minkowski ein vierdimensionales Raum-Zeit-Konzept mit einer modifizierten Kausalstruktur.

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Er ergänzt damit Einsteins Reflexionen, die zur Neuformulierung der begrifflichen Grundlagen von Raum und Zeit geführt haben um einen weiteren wichtigen Aspekt: die Verkopplung von Raum und Zeit. Minkowski entwickelt eine vier-dimensionale Formulierung, die es erlaubt, die manifeste Kovarianz physikalischer Gesetze unmittelbar abzulesen; die Gültigkeit des Relativitätsprinzips ist dann evident. In seinen einleitenden Worten zur Arbeit von 1907 bringt Minkowski seine Überzeugung von der Fruchtbarkeit der mathematischen Methode für die Naturbeschreibung klar zum Ausdruck. „Von der elektromagnetischen Lichttheorie ausgehend, scheint sich in der jüngsten Zeit eine vollkommene Wandlung unserer Vorstellungen von Raum und Zeit vollziehen zu wollen, die kennen zu lernen für den Mathematiker jedenfalls von ganz besonderem Interesse sein muss. Auch ist er besonders gut prädisponiert, die neuen Anschauungen aufzunehmen, weil es sich dabei um eine Akklimatisierung an Begriffsbildungen handelt, die dem Mathematiker längst äußerst geläufig sind, während die Physiker jetzt diese Begriffe zum Teil neu erfinden und sich durch den Urwald von Unklarheiten mühevoll einen Pfad durchholzen müssen, indessen ganz in der Nähe die längst vortrefflich angelegte Straße der Mathematiker bequem vorwärts führt. Überhaupt würden die neuen Ansätze, falls sie tatsächlich die Erscheinungen richtig wiedergeben, fast den größten Triumph bedeuten, den je die Anwendung der Mathematik gezeitigt hat. Es handelt sich [...] darum, dass die Welt in Raum und Zeit in gewissem Sinne eine vierdimensionale nichteuklidische Mannigfaltigkeit ist. Es würde zum Ruhme der Mathematiker, zum grenzenlosen Erstaunen der übrigen Menschheit offenbar werden, dass die Mathematiker rein in ihrer Phantasie ein großes Gebiet geschaffen haben, dem [...] eines Tages die vollendetste reale Existenz zukommen sollte.“3

Er lässt keinen Zweifel daran, dass der neuen Theorie von der Welt als vier-dimensionalen Mannigfaltigkeit eine realistische Deutung beigelegt werden sollte. In seinen weiteren Untersuchungen konzentriert er sich auf alle Symmetrieeigenschaften, die die elektrodynamischen Gleichungen besitzen. Er steht hier hinsichtlich der Betonung von Symmetrieüberlegungen zwar in der Tradition Einsteins, allerdings bezieht sich sein Symmetrieansatz auf einen mathematischen Kalkül, der über die physikalisch motivierten Symmetrieüberlegungen Einsteins weit hinausgeht. Minkowski fasst Skalare und drei-dimensionale Vektoren mit einem analogen Transformationsverhalten zusammen und führt vier-dimensionale Vektoren und Tensoren ein, die es ihm ermöglichen, die Invarianz der Elektrodynamik unter den orthogonalen Transformationen des vier-dimensionalen Raumes sicht3

Minkowski 1907, S. 927f.

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bar zu machen. Damit macht Minkowski die verborgene Kovarianz der Gleichungen manifest und verdeutlicht eine Symmetrie, deren Aufdeckung Poincaré in seiner Arbeit Sur la Dynamique de l’Électron von 1906 nur ansatzweise, aber eben nicht in dieser Klarheit gelingt. Er weist daher auch ausdrücklich darauf hin, dass selbst Poincaré diese Symmetrie nicht ausgewertet hat. Des weiteren stellt sich Minkowski auf den Standpunkt Einsteins, demzufolge die Elektrodynamik und die Mechanik – als die beiden fundamentalen Theorien – einem gemeinsamen Invarianzverhalten genügen sollten. Er bezeichnet das Relativitätsprinzip als „wirkliches neues physikalisches Gesetz“, das im Sinne einer allgemeinen Strukturbedingung auch für andere Bereiche der Physik Gültigkeit beanspruchen darf. Seinen Vortrag von 1908 beginnt Minkowski mit den berühmt gewordenen, dramatischen Worten: „Die Anschauungen über Raum und Zeit, die ich ihnen entwickeln möchte, sind auf experimentell-physikalischem Boden erwachsen. Darin liegt ihre Stärke. Ihre Tendenz ist eine radikale. Von Stund an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.“4

Seine revolutionäre vier-dimensionale Raum-Zeit-Struktur gründet Minkowski auf speziellen Invarianzuntersuchungen der relativistischen Mechanik. Die Verschmelzung der beiden Invarianzen führt ihn zur Annahme einer verkoppelten Raum-Zeit-Struktur. Obwohl Minkowski vorwiegend auf der Grundlage mathematischer Symmetrieüberlegungen argumentiert, sieht er auch gewichtige epistemologische Gründe für die unauflösbare Verknüpfung von Raum und Zeit. „Gegenstand unserer Wahrnehmung sind immer nur Orte und Zeiten verbunden. Es hat niemand einen Ort anders bemerkt als zu einer Zeit, eine Zeit anders als an einem Orte.“5

Hier wird klar, dass Minkowski die Formulierung eines vier-dimensionalen Raum-Zeit-Konzeptes nicht nur als zweckmäßigen mathematischen Kalkül zur Verdeutlichung einer speziellen Symmetrieeigenschaft der mechanischen Gleichungen auffasst, sondern als adäquate Beschreibung der RaumZeit-Struktur. Er vertritt damit eine realistische Position hinsichtlich der neuen Strukturen. Es handelt sich also gerade nicht um ein nachträgliches mathematisches Arrangement, auf das auch verzichtet werden könnte, son4 5

Minkowski 1908, S. 104. Minkowski 1908, S. 104.

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dern um die Verdeutlichung eines revolutionären Elementes der neuen Theorie. Minkowski stellt klar, dass er – motiviert durch seine mathematischen Invarianzüberlegungen – über Einstein hinausgehen will, indem er den Sinn des Relativitätsprinzips um einen weiteren Aspekt ergänzt. Durch die Phänomene ist eine vier-dimensionale Raum-Zeit gegeben, die Zerlegung in einen drei-dimensionalen euklidischen Raum und eine eindimensionale Zeit ist eine Projektion, die noch mit einer gewissen Freiheit vorgenommen werden kann. „Nun ist die Frage, welche Umstände zwingen uns die veränderte Auffassung von Raum und Zeit auf, widerspricht sie tatsächlich niemals den Erscheinungen, endlich gewährt sie Vorteile für die Beschreibung der Erscheinungen?“6

Nach Minkowski muss eine begründete Neuformulierung von Raum und Zeit zwei Kriterien genügen: (α) Das neue Konzept darf den Phänomenen nicht widersprechen. (β) Die Phänomene müssen sich vorteilhafter, d. h. einfacher beschreiben lassen. Sorgfältig weist Minkowski nach, dass die neue Theorie beide Kriterien erfüllt. „[...] so wird man nicht umhin können zuzugeben, dass die hier in Betracht kommenden Verhältnisse ihr inneres Wesen voller Einfachheit erst in vier Dimensionen enthüllen, auf einen von vornherein aufgezwungenen dreidimensionalen Raum aber nur äußerst komplizierte Projektion werfen. In der dem Relativitätspostulate gemäß reformierten Mechanik fallen die Disharmonien, die zwischen der Newtonschen Mechanik und der neueren Elektrodynamik gestört haben, von selbst aus.“7

Für Minkowski ist die Widerspruchsfreiheit mit dem empirischen Befund und die Einfachheit der mathematischen Struktur hinreichend für eine realistische Deutung der neuen Theorie. Poincaré sieht dies anders: Prinzipielle epistemologische Probleme erfordern stärkere Argumente um eine realistische Deutung zu rechtfertigen. Diese epistemologischen Probleme der Naturbeschreibung sollen im folgenden dargestellt werden. 4. Das Poincarésche Dilemma Nach Poincarés Naturverständnis bewahrt die Natur Geheimnisse, d. h. die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten sind beschränkt. Poincaré hält daher eine rigorose realistische Position bezüglich der Entitäten und Struktu6 7

Minkowski 1908, S. 106. Minkowski 1908, S. 110.

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ren einer Theorie für unangemessen. Seine Reflexionen zu den Grundlagen physikalischer Theorienbildungen bringen ihn zu der Einsicht, dass die Naturbeschreibung bezüglich ihrer Grundbegriffe und Grundprinzipien immer wieder in ein unauflösbares Dilemma führt. Das Problem besteht darin, dass sowohl die Annahme als auch die Ablehnung dieser Grundbegriffe und Grundprinzipien streng genommen unannehmbar ist, weil sie auf schwerwiegende Folgeprobleme führt. Dieses epistemische Dilemma weist folgende Struktur auf: p ∨ ¬p, p → r, ¬p → s, also: r ∨ s Es gibt ein Problem y. p:

Es gibt die Entität x. / Es gilt das Prinzip X.

¬p: Es gibt die Entität x nicht. / Es gilt das Prinzip X nicht. r:

Die Existenz der Entität x / die Gültigkeit des Prinzips X führt auf das Problem des experimentellen Nachweises der Existenz der Entität x / der Gültigkeit des Prinzips X, löst aber das Problem y.

s:

Die Nicht-Existenz der Entität x / die Nicht-Gültigkeit des Prinzips X erspart dem Wissenschaftler das Problem des experimentellen Nachweises der Existenz der Entität x / der Gültigkeit des Prinzips X, lässt aber das Problem y ungelöst.

1. Horn: Nach Poincaré errichtet die Wissenschaft ihre Theorien auf der Grundlage gewisser allgemeiner Entitäten x und Prinzipien X – also einer speziellen Metaphysik. Erst diese Vorannahmen ermöglichen Naturerkenntnis und sind somit Voraussetzung für die wissenschaftliche Tätigkeit überhaupt. Die Existenz dieser Entitäten und die Gültigkeit dieser Prinzipien können jedoch nicht aus dem empirischen Datenmaterial gefolgert werden; insofern führen diese Vorannahmen zu ungesichertem Wissen. 2. Horn: Wenn die Wissenschaft auf die Annahme dieser allgemeinen Entitäten x und Prinzipien X verzichten würde, dann bliebe ihr natürlich die Notwendigkeit eines experimentellen Nachweises erspart. Allerdings wäre dann keine Naturerkenntnis möglich und somit würde eine notwendige Voraussetzung für die wissenschaftliche Tätigkeit fehlen.

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Die Problematik soll an einigen charakteristischen Beispielen, die Poincaré in seinem Buch Wissenschaft und Hypothese von 1902 behandelt, spezifiziert werden: (i) Das Kausalprinzip und die Ordnung durch Verknüpfung: Das Problem y ist die Ordnung der empirischen Daten durch eine Verknüpfung. Das Prinzip X ist das Kausalprinzip. Der Mensch sucht angesichts der Mannigfaltigkeit von Beobachtungen und Erfahrungen nach allgemeinen Grundsätzen, durch die diese Mannigfaltigkeit nicht als ein Chaos, sondern als ein strukturiertes Ganzes, als Zusammenhang und Einheit verstanden werden kann. Gilt das Kausalprinzip, dann können empirische Daten untereinander verknüpft werden. Diese Ordnungsstrukturen können nicht aus dem empirischen Datenmaterial gefolgert werden; insofern führt ihre Anwendung zu ungesichertem Wissen. Die Gültigkeit des Kausalprinzips lässt sich also weder empirisch noch logisch beweisen. Auf die Annahme seiner Gültigkeit kann aber nicht verzichtet werden, weil dann die empirischen Daten ohne Zusammenhang nebeneinander bestehen würden. (ii) Das Induktionsprinzip und die Ordnung durch Verallgemeinerung: Das Problem y ist die Ordnung der empirischen Daten durch Verallgemeinerung. Das Prinzip X ist das Induktionsprinzip. Der Mensch kann nur eine gewisse Anzahl von Beobachtungen anstellen; die daher nur teilweise vorliegende Erfahrung muss durch induktive Schlüsse ergänzt werden. Gilt das Induktionsprinzip, dann können empirische Daten auf gleichartige Situationen verallgemeinert werden. Diese Ordnungsstrukturen können nicht aus dem empirischen Datenmaterial gefolgert werden; insofern führt ihre Anwendung zu ungesichertem Wissen. Die Gültigkeit des Induktionsprinzips lässt sich also weder empirisch noch logisch beweisen. Auf die Annahme kann aber nicht verzichtet werden, weil dann die empirischen Daten nicht verallgemeinerungsfähig wären.8 (iii) Das Prinzip der Einfachheit: Das Problem y ist die Art der Verallgemeinerung, die im Zusammenhang mit dem Induktionsprinzip gewählt wird. Das Prinzip X ist das Einfachheitsprinzip. Die Verallgemeinerung wird in der Weise vorgenommen, dass die Gesetzmäßigkeiten dem Prinzip der Einfachheit – im Sinne einer mathematischen Einfachheit – genügen. Das Prinzip der Einfachheit spielt demzufolge eine notwendige Bedingung für die Anwendbarkeit der empirischen Induktion; das Einfachheitsprinzip 8

Poincaré 1902, S. 151.

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und das Induktionsprinzip sind miteinander verkoppelt. Das Prinzip der Einfachheit ist unverzichtbar, wenn Wissenschaft möglich sein soll; aber die Gültigkeit dieses metaphysischen Prinzips ist empirisch nicht entscheidbar.9 (iv) Der absolute Raum und die Drehung im Raum: Das Problem y ist die absolute Drehung im Raum (Newtonsches Eimer-Experiment). Die Entität x ist der absolute Raum. Gibt es einen absoluten Raum, dann kann eine absolute Drehung im Raum erklärt werden. Die Existenz des absoluten Raumes lässt sich aber empirisch nicht belegen.10 (v) Der Äther und die Trägersubstanz für elektromagnetische Wellen: Das Problem y ist die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen. Die Entität x ist der Äther. Gibt es einen Äther, dann kann die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen erklärt werden. Die Existenz des Äthers lässt sich aber empirisch nicht belegen.11 Poincaré trifft die Entscheidung immer in derselben Weise: Die Wahl des zweiten Horns erscheint ihm nicht als erwägenswerte Option, denn sie schließt die wissenschaftliche Tätigkeit aus. Demzufolge bleibt nur die Entscheidung für das erste Horn. Diese Option verpflichtet den Wissenschaftler aber keineswegs bereits auf die Annahme der wirklichen Existenz der Entitäten x und die Annahme der wirklichen Gültigkeit der Prinzipien X. Die metaphysische Frage nach der wirklichen oder scheinbaren Gültigkeit von Prinzipien – z. B. das Relativitätsprinzip – ist verknüpft mit der Frage nach geschlossenen kompensierenden Effekten. Die metaphysische Frage nach der wirklichen oder scheinbaren Existenz von innertheoretischen Entitäten schließt Poincaré aus dem Fragenkatalog eines Physikers aus. Der Physiker darf und muss sich für die Konstruktion physikalischer Theorien allgemeiner Entitäten bedienen; die Frage ihrer Existenz muss er aber nicht beantworten, weil er sie gar nicht beantworten kann. Diesen Sachverhalt verknüpft Poincarè mit einem partiellen Strukturen-Realismus und einem allgemeinen Entitäten-Instrumentalismus. Zu betonen ist, dass das Dilemma natürlich keine wirklich befriedigende Lösung gestattet. Naturwissenschaft ist demzufolge eine nie endende Reflexion über immer dieselben metaphysischen Fragen. Wenn aber die begrifflichen und strukturellen Grundlagen der Physik in das angedeutete Di9 10

Poincaré 1902, S. 147. Poincaré 1902, S. 116.

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lemma führen, dann kann die Möglichkeit und Gültigkeit von Erkenntnis – so Poincaré – nur noch pessimistisch beurteilt werden. Minkowski hätte sicherlich Poincaré darin zugestimmt, dass die Naturwissenschaft sich in einer gewissen „Zwickmühle“ hinsichtlich ihres Fundaments befindet. Auf die Frage aber, ob dieser Sachverhalt den Wissenschaftler bereits zu einem Erkenntnis-Pessimismus verpflichtet, hätte er jedoch eine höchst gegensätzliche Antwort gegeben. 5. Poincarés Erkenntnis-Pessimismus Auf dem Hintergrund dieses epistemischen Dilemmas lässt sich die erkenntnistheoretische Haltung Poincarés folgendermaßen charakterisieren: (α) Die Möglichkeit von Erkenntnis: Die Begreiflichkeit der Natur gilt nicht im vollen Umfang; die Natur behält ihre Geheimnisse. Die menschliche Erkenntnismöglichkeit ist beschränkt. (β) Die Quellen der Erkenntnis: Die Erkenntnis kann nicht ausschließlich auf empirischen und rationalen Elementen beruhen; Erkenntnislücken müssen durch Konventionen aufgefüllt werden. Die Theorienkonstruktion ist nicht eindeutig. (γ) Die Formulierung von Erkenntnis: Erkenntnisinhalte sollen in einer bequemen Sprechweise ausgedrückt werden. Dieses Kriterium umfasst zwei Aspekte: Es beinhaltet sowohl die Forderung nach mathematischer Einfachheit als auch die Forderung nach begrifflicher Einfachheit. Der Anschluss an die klassische Physik wird dann durch die Bedeutungsstabilität der klassischen Begriffe gewährleistet. Die nur instrumentalistische Deutung der inner-theoretischen Entitäten verpflichtet nicht zu einer Begriffskonstitution durch operationale Messvorschriften. Dies verträgt sich mit Poincarés Begriffs-Konservatismus. (δ) Die Gültigkeit von Erkenntnis: Als Konsequenz seines Erkenntnis-Pessimismus vertritt Poincaré einen partiellen Strukturen-Realismus. Mathematische Strukturen dürfen bestenfalls dann im Sinne des Realismus interpretiert werden, wenn sie zumindest zwei Bedingungen genügen: Die Strukturen müssen zum einen ausdrücklich durch den empirischen Befund gefordert werden und zum anderen einen eventuellen Theorienwandel unbeschadet überleben. Ein strikter Realismus wäre mit Poincarés Erkenntnis-Pessimismus nicht verträglich. Auf dem Hintergrund dieser metaphysischen Überzeugungen 11

Poincaré 1902, S. 212.

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ergibt sich für Poincaré keine zwingende Notwendigkeit für die Akzeptanz der Speziellen Relativitätstheorie. Im Gegensatz zu Minkowski argumentiert Poincaré nur für einen partiellen Strukturen-Realismus. Er bejaht grundsätzlich die Wichtigkeit von Invarianzüberlegungen; aber nach seiner Auffassung muss die Invarianz durch Induktion aus dem empirischen Befund erschlossen werden können. Eine Invarianz, die sich nur im mathematischen Formalismus zeigt, ist für Poincaré zwar ein notwendiges aber nicht hinreichendes Kriterium für eine realistische Deutung. [...] the essential thing is to notice that in the new conception space and time are no longer two entirely distinct entities which can be considered separately, but two parts of the same whole, two parts which are so closely knit that they cannot be easily separated. [...] What shall be our position in view of these new conceptions? Shall we be obliged to modify our conclusions? Certainly not; we had adopted a convention because it seemed convenient [...]. Today some physicists want to adopt a new convention. It is not that they are constrained to do so; they consider this new convention more convenient; [...]. And those who are not of this opinion can legitimately retain the old one in order not to disturb their old habits.12

Nur wenn der empirische Befund immer wieder auf das Vorliegen derselben Invarianz schließen lässt und nur wenn im Falle einer nichtrealistischen Deutung ein merkwürdiger Zufall als Erklärung dieses Sachverhalts angenommen werden müsste, nur dann akzeptiert Poincaré eine realistische Deutung. Diese Haltung hat Poincaré im Zusammenhang mit dem Relativitätsprinzip sehr deutlich eingenommen. 6. Poincarés kompensierende Effekte Die Duhem-Quine-These besagt, dass der empirische Befund die Theorienbildung empirisch und logisch unterbestimmt lässt. Es besteht demnach grundsätzlich die freie Wahl zwischen mehreren, begrifflich verschiedenen, aber empirisch übereinstimmenden Beschreibungen von Phänomenen. Ein wichtiger Spezialfall ergibt sich durch die Möglichkeit, geschlossene kompensierende Effekte einzuführen. Grundsätzlich können in einer Theorie immer Hypothesen eingeführt werden, sofern ihre physikalischen Auswirkungen durch geeignete Sekundärmaßnahmen wieder neutralisiert werden. Diese Theorien können mit empirischen Kri-

Wie viel Realismus ist berechtigt?

255

terien nicht zu Fall gebracht werden. Die Theorie prognostiziert einen Effekt (+A). Das Experiment liefert ein, von der Theorie abweichendes Ergebnis (¬A). Die Theorie wird ergänzt durch eine kompensierende Hypothese, die einen Effekt (–A) prognostiziert. Die Effekte (+A) und (–A) kompensieren sich gegenseitig zu einem Null-Resultat: (+A) ∧ (–A) → (¬A) Damit ist die Übereinstimmung von Theorie und Experiment gewährleistet. Die Unterbestimmtheit der Theorie durch geschlossene kompensierende Effekte bezieht sich auf Elemente einer Theorie, die nicht empirisch unterbestimmt wären, wenn sie getrennt messbar wären. Geschlossene kompensierende Effekte bringen die metaphysische Überzeugung zum Ausdruck, dass wesentliche Aspekte der Natur dem menschlichen Erkenntnisvermögen verschlossen sind. Der Zugang zu diesen kompensierenden Effekten ergibt sich dann – wenn überhaupt – nur aus mathematischen Strukturüberlegungen. Die Frage nach der grundsätzlichen Akzeptanz geschlossener kompensierender Effekte wird nicht einheitlich beantwortet. Insbesondere besteht Uneinigkeit darüber, ob die Wirklichkeit der Messung vollständig zugänglich ist oder ob geschlossene kompensierende Effekte dies ausschließen. Poincaré hat eine besondere Vorliebe für geschlossene kompensierende Effekte. Für ihn besitzen geschlossene kompensierende Effekte grundlegende methodologische und erkenntnistheoretische Vorteile. (α) Geschlossene kompensierende Effekte erlauben eine Theorienwahl unter den Kriterien der Einfachheit und Bequemlichkeit. (β) Geschlossene kompensierende Effekte ermöglichen im günstigsten Fall die Rettung der klassischen Prinzipien und erlauben damit eine Theorienmodifikation mit einer einfachen Anbindung an eine gut bestätigte Vorgängertheorie. Hierin zeigt sich die konservative Haltung, die Poincaré stets im Hinblick auf Theorienmodifikationen einnimmt. (γ) Geschlossene kompensierende Effekte belegen die Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens – die Natur verbirgt ihre Geheimnisse. Eine Naturbeschreibung ist nur dann adäquat, wenn sie die Möglichkeit geschlossener kompensierender Effekte berücksichtigt. Dabei erscheint es dem Mathematiker Poincaré einleuchtend, dass es gerade die Analyse mathematischer Strukturen ist, die deutlich machen 12

Poincaré 1912, S. 23f.

256

Renate Huber

kann, wo und in welcher Weise geschlossene kompensierende Effekte auftreten können. An ganz unterschiedlichen Beispielen führt Poincaré aus, dass geschlossene kompensierende Effekte für die Naturbeschreibung eine grundlegende Rolle spielen. Die Akzeptanz geschlossener kompensierender Effekte ermöglicht die Formulierung einer Konkurrenztheorie (Lorentz-Poincaré-Theorie) zur Speziellen Relativitätstheorie.13 7. Poincarés Beispiel für kompensierende Effekte Am Beispiel des geometrischen Raumbegriffs14 erläutert Poincaré das Auftreten geschlossener kompensierender Effekte. Damit wird deutlich, dass bereits auf einer sehr elementaren Ebene der Naturerkenntnis geschlossene kompensierende Effekte eine Rolle spielen. Poincaré unterscheidet zwischen einem geometrischen Raum und einem VorstellungsRaum. Der geometrische Raum zeigt bestimmte charakteristische Eigenschaften: (i) Er ist ein mathematisches Kontinuum. (ii) Er ist unendlich ausgedehnt und unbegrenzt. (iii) Er ist drei-dimensional. (iv) Er ist homogen. (v) Er ist isotrop. In einer gründlichen Analyse stellt Poincaré dar, dass der Vorstellungs-Raum in drei verschiedenen Formen auftritt und zwar als Gesichts-Raum, als Tast-Raum und als Bewegungs-Raum, wobei sich alle drei Formen des Vorstellungs-Raumes in ihren Eigenschaften erheblich vom geometrischen Raum unterscheiden. Der Gesichts-Raum ist ein physikalisches Kontinuum, begrenzt, nur zwei-dimensional und weder homogen noch isotrop. Insbesondere liefert erst das Zusammenwirken von Gesichtsempfindungen und Muskelempfindungen (Akkomodation und Konvergenz) die dritte Raum-Dimension. Die Vorstellungen, als Reproduktionen der Empfindungen, können nur in den Vorstellungs-Raum, aber nicht in den geometrischen Raum eingeordnet werden. Der VorstellungsRaum ist ein „deformiertes Bild“ des geometrischen Raumes im Sinne einer speziellen Art von Projektion. Es bleibt daher die Frage: Wie kommt dann der Mensch zur Idee eines geometrischen Raumes? Die Idee eines geometrischen Raumes ist weder dem Verstand eingeprägt, noch wird sie durch eine einzelne Empfindung geliefert, sondern sie wird aus einer Folge von Empfindungen abgeleitet. Erst die Feststellung, dass die Abfolge der Gesamtheit der Eindrücke gewissen 13

Vgl. Huber 2000.

Wie viel Realismus ist berechtigt?

257

Gesetzmäßigkeiten unterliegt, führt schließlich zum geometrischen Raumbegriff. Ein äußeres Objekt A verursacht einen bestimmten Eindruck B. Die Änderung des Objekts A → A* zieht die Änderung des Eindrucks B → B* nach sich. Die Änderung des Objekts kann entweder eine Ortsänderung A(x) → A(x*) oder eine Zustandsänderung A(x) → A*(x) sein. Wodurch lassen sich diese beiden verschiedenen Arten von Änderungen unterscheiden? Im Falle einer Ortsveränderung ist die ursprüngliche Gesamtheit von Eindrücken reproduzierbar, indem geeignete Bewegungen ausgeführt werden, welche die ursprüngliche relative Stellung zum Objekt wieder herstellt. Die äußere Veränderung wird demnach korrigiert und der Anfangszustand durch eine innere Veränderung wieder erreicht. Um eine Änderung am Objekt als Ortsänderung identifizieren zu können, muss die Änderung durch eine kompensierende Bewegung B → B* → B rückgängig gemacht werden können. Ist dies möglich, liegt eine Ortsänderung vor; ist dies nicht möglich, liegt eine Zustandsänderung vor. Diese beiden Bewegungen – die äußere Bewegung und die innere Bewegung – sind zwar logisch unabhängig voneinander, sie können sich aber dennoch kompensieren. Damit will Poincaré nachweisen, dass (i) der geometrische Raumbegriff wesentlich auf kompensierenden Effekten beruht und (ii) die Kompensationsphänomene zwei logisch unabhängige Teilbereiche betreffen. Naturerkenntnis kommt offensichtlich ohne kompensierende Effekte nicht zustande. Für Poincaré ist damit die Annahme kompensierender Effekte gerechtfertigt. Literatur Einstein A. (1905): Zur Elektrodynamik bewegter Körper; Annalen der Physik 17, S. 891 – 921. Giedymin J. (1982): Science and Convention. Essays on Henri Poincaré’s Philosophy of Science and the Conventionalist Tradition; Oxford: Pergamon Press, 1982. Heinzmann G. (Hrg.) (1994): Henri Poincaré. Science et philosophie, Science and Philosophy, Wissenschaft und Philosophie; Berlin: Akademie Verlag, 1994. 14

Poincaré 1902, S. 53 – 62.

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Renate Huber

Huber R. (2000): Einstein und Poincaré, Die philosophische Beurteilung physikalischer Theorien; Paderborn: Mentis, 2000. Miller A.I. (1973): A Study of Henri Poincaré’s „Sur la Dynamique de l’Electron“; Archive for History of Exact Sciences 10, S. 207 – 328. Miller A.I. (1981): Albert Einstein’s Special Theory of Relativity. Emergence (1905) and early Interpretation (1905 – 1911); Massachusetts: Addison-Wesley, 1981. Minkowski H. (1907): Das Relativitätsprinzip; Annalen der Physik 47, S. 927 – 938. Minkowski H. (1908): Raum und Zeit; Physikalische Zeitschrift 10, S. 104 – 111. Poincaré H. (1902): Wissenschaft und Hypothese; Leipzig: Teubner, 1914. Poincaré H. (1906): Sur la dynamique de l'électron; Œuvres de Henri Poincaré 9, S. 494 – 550. Poincaré H. (1913): Mathematics and Science. Last Essays; New York: Dover Publ., 1963. Zahar E. (1989): Einstein’s Revolution; Illinois: Open Court, 1989.

Frank Köhler

Bemerkungen zu dem Verhältnis zwischen Protophysik und wissenschaftlichem Realismus*

1. Einleitung1 Seit einigen Jahren werden wieder verstärkt realistische Positionen innerhalb der Wissenschaftstheorie vertreten, deren Protagonisten eine objektive Existenz theoretischer Entitäten behaupten.2 Während die Debatte um den Realismus ihren Ausgangspunkt v. a. in Entwicklungen der angloamerikanischen Wissenschaftstheorie hat, konnte sich innerhalb der deutschsprachigen Philosophie mit der PP allen Kontroversen zum Trotz eine konstruktivistische Position etablieren.3 Bei der PP handelt es sich um eine Theorie des physikalischen Messens, deren Ziel die Fundierung der messtheoretischen Voraussetzungen der Physik ist. Die Kontrastierung einer Theorie der messtheoretischen Voraussetzungen der Physik mit einer philosophischen Interpretation derselben dürfte ganz reizvoll erscheinen. Es bietet sich daher an, das Verhältnis der konstruktivistischen PP zu realistischen Positionen zu beleuchten. Im folgenden soll zunächst das Programm der PP kurz skizziert werden; dabei steht ihre Rolle als methodologische Grundlage der Physik im Vordergrund. Daraufhin werden die Hauptkomponenten des wissenschaftlichen Realismus genannt und erläutert; diese fallen in den Bereich der Epistemologie bzw. der Ontologie. Am Beispiel der verschiedenen Deutungen der RT werden anschließend einige mögliche Konfliktpunkte zwischen der PP einerseits und wissenschaftlichem Realismus andererseits untersucht. Dabei werden die Protophysiker als eine mehr oder weniger homogene Gruppe verstanden; es werden die für die *

1

2

3

Für Korrekturen, Anmerkungen und Kritik sei an dieser Stelle Mareike Heinritz herzlichst gedankt. Folgende Abkürzungen finden Verwendung: PP = Protophysik, RT = Relativitätstheorie, ART = allgemeine Relativitätstheorie, SRT = spezielle Relativitätstheorie. Zu realistischen Positionen innerhalb der Wissenschaftstheorie vgl. den Beitrag von Suhm in diesem Band. Zu der Debatte um die Protophysik vgl. Böhme 1976 sowie Kamlah 1981 und Janich 1984, 1997.

260

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hier besprochene Problematik relevanten Positionen diskutiert, ohne darauf einzugehen, ob sie auch von allen Vertretern der PP vertreten werden. Insgesamt soll dabei für die Kompatibilität der beiden Positionen argumentiert werden: Die PP, verstanden als methodologische Fundierung der Physik, lässt sowohl einen epistemologischen als auch ontologischen Realismus in Bezug auf theoretische Entitäten zu; das gegenseitige Verhältnis bleibt aber gespannt. 2. Programm und Aufbau der Protophysik Bei der PP (die praktisch nur im deutschen Sprachraum vertreten ist)4 handelt es sich um eine Theorie des physikalischen Messens, deren Ziel die Fundierung der messtheoretischen Voraussetzungen der Physik ist.5 Ausgangspunkt des protophysikalischen Programms ist eine funktionierende Physik, die als Resultat und Bestandteil einer umfassenderen Kultur verstanden wird. Nach diesem Verständnis verfolgt die Physik als objektive Wissenschaft das Ziel der Erklärung und Beherrschung von Vorgängen in der Welt. Im Gegensatz zu formalen Wissenschaften basiert die Physik nicht nur auf Logik und Mathematik, sondern auch auf Experimenten: Messungen liefern das Interpretationsmaterial, um physikalische Theorien zu bestätigen, zu modifizieren und gegebenenfalls auch zu verwerfen. Dabei richtet der Protophysiker sein Hauptaugenmerk auf die Funktionsweise und Voraussetzungen von Messgeräten: Damit ein Messgerät als solches funktionieren kann, muss es als Realisierung eines starren Körpers ausgewiesen werden können. Dieser Ausweis erfolgt in der Laborpraxis nicht willkürlich, sondern nur solche Apparate werden zu Messungen verwendet, die den mit einem starren Körper verbundenen Normen unterliegen. Diese Normen sind unabhängig von den Gegenständen der Physik, denn die Hypothesen der letzteren werden erst durch die Bestätigung von Messungen, die mittels normativ konstruierter Messgeräte durchgeführt werden, konfirmier- bzw. widerlegbar. Mit anderen Worten: Funktionierende Messgeräte gehen der messenden Physik voraus. Daher können die Funktionsnormen für Messgeräte nicht aus dem Bereich der Physik resultieren, 4

5

Die wichtigsten Vertreter sind Lorenzen und Janich, auch einige Arbeiten von Tetens gehören zur PP. Die folgende Darstellung orientiert sich an Janich 1995 und 1997; dort findet sich die wohl aktuellste Darstellung des protophysikalischen Programms.

Protophysik und wissenschaftlicher Realismus

261

sondern bilden den Gegenstand einer eigenen Wissenschaft, eben der PP. Mit dieser Konzeption des Messvorgangs wenden sich die Protophysiker gegen die empiristische Auffassung. Demnach werden die den Messvorgängen zugrunde liegenden starren Körper sozusagen direkt in der Natur vorgefunden und unter Rückgriff auf die bekannten Naturgesetze ausgewählt und modifiziert. Diese Auffassung führt allerdings zu einem „methodischen Zirkel“: Die Funktion eines Messgeräts erkennt man daran, dass es entsprechend den Naturgesetzen funktioniert. Naturgesetze werden aber ihrerseits wieder durch Messungen bestätigt. Erst die protophysikalische Loslösung der Messgerätfunktion aus dem Bereich der Physik verhindert diesen Zirkel.6 Als Konsequenz können Messergebnisse auch nicht so interpretiert werden, dass die sie erklärende Theorie den Grundlagen der Messfunktion widerspricht. Die Protophysiker reden daher in bewusster Anlehnung an Kant von „apriorischen“ Normen. Die de facto existierende Physik befolgt in ihrer Praxis die Vorgaben der PP, da ansonsten Physik als experimentelle Wissenschaft nicht funktionieren könnte. Ziel der PP ist die methodische Rekonstruktion dessen, was in praxi erfüllt sein muss. In Anlehnung an Dingler spricht man auch von dem „Prinzip der methodischen Ordnung“: eine Folge von Handlungen soll in der Theorie in der Abfolge dargestellt werden, in der sie auch in der physikalischen Praxis abläuft. Umgekehrt gibt die PP keine positiven Vorgaben, welche Größen Bestandteile physikalischer Theorien sein können, denn sie legt nur Normen für den Ablauf der Messvorgänge fest, ohne jedoch deren Resultate oder die theoretische Erklärung letzterer zu restringieren.7 Die PP ist hierarchisch strukturiert: Grundlage bildet die normativ verstandene Charakterisierung der Wissenschaftlichkeit der Physik: Wissenschaftlichkeit impliziert z. B. Universalität der Experimente, Widerspruchsfreiheit etc. Universalität wiederum beinhaltet Nachvollziehbarkeit der Experimente, die Unabhängigkeit der Messvorrichtung von kontingenten Faktoren wie Personen, Ort und Zeit etc. (die sog. Situationsinvarianz). Als direkte Konsequenz aus den zugrunde gelegten Normen ergibt sich die nächste Stufe von Normen, z. B. die Norm der Reproduzierbarkeit und Konstanz von Messvorrichtungen. Um diese zu gewährleisten, werden im 6 7

Janich 1985, S. 7. So auch Tetens 1984.

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technischen Bereich Möglichkeiten der Realisierung dieser Normen gesucht. Auf diese Art und Weise gelangt man über die Realisierungen geometrischer Begriffe zum starren Körper, der die Grundlage aller Messoperationen bildet. Der Bezug auf prinzipiell überall realisierbare Normen soll eine prototypenfreie Grundlegung der elementaren Formen ermöglichen, so dass überall die gleichen Experimente durchgeführt werden können. Eine weitere Konsequenz der normativen Grundlage ist die Forderung nach der Eindeutigkeit der realisierten Grundformen, so dass z. B. die Handlungsanweisungen, die Normen für die Realisierung einer Ebene umzusetzen, bei jeder Befolgung zu demselben Typ von Ebene (die den Gesetzen der euklidischen Geometrie unterliegt) führt. Unter den Vertretern der PP ist umstritten, welche physikalischen Grundgrößen in welchem Ausmaß operational definiert werden sollen. Unstrittig ist, dass (in dieser Reihenfolge) die physikalischen Größen Länge, Dauer, Masse und elektrische Ladung protophysikalisch eingeführt werden müssen, um Geometrie, Chronometrie, Hylometrie und eine Theorie der Ladungsmessung protophysikalisch zu rekonstruieren. Zu den ersten drei Bereichen liegen auch Entwürfe vor.8 An dieser Stelle soll die Bedeutung der euklidischen Geometrie besonders hervorgehoben werden: Nur die euklidische Geometrie erlaubt die Konstruktion formgleicher und damit kongruenter Gegenstände (die über Parallelenkonstruktion eingeführt werden), die ihrerseits wiederum Voraussetzung für die Einführung der Metrik und damit des starren Körpers sind. Wie oben bereits angesprochen wurde, bilden die protophysikalischen Normen das Fundament empirischer Messungen und können daher von diesen nicht widerlegt oder korrigiert werden. Dennoch sind die Normen durch die Notwendigkeit von Realisierungsangaben an den Bereich der Empirie geknüpft: Wenn sich eine Norm nicht anhand geeigneter Geräte realisieren lässt, dann ist sie als Bestandteil der PP ungeeignet. 3. Wissenschaftlicher Realismus und seine Stellung zur Protophysik Die Debatte um den wissenschaftlichen Realismus hat ihren Ausgangspunkt in der Debatte um den Status theoretischer Termini genommen, setzt also die Unterscheidung zwischen „theoretisch“ und „beobachtbar“ voraus. Diese Unterscheidung resultiert aus den Entwicklungen des logischen Em8

Vgl. die Literaturangaben bei Janich 1995 und 1997.

Protophysik und wissenschaftlicher Realismus

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pirismus, die ihrerseits ihren Ursprung interessanterweise u. a. in der Debatte um die Interpretation der RT haben dürften.9 Gewöhnlich werden drei Hauptkomponenten des wissenschaftlichen Realismus in der Debatte genannt, aber dabei verschieden rubriziert:10 (1) Die Welt hat eine definite und geistunabhängige Struktur. (2) Die Naturwissenschaften können diese Struktur offen legen. (3) (Erfolgreiche) naturwissenschaftliche Theorien sind wahr und ihre Elemente referieren auf Entitäten in der Welt. In dieser Form gehört (3) in den Bereich der Semantik, (2) in den Bereich der Epistemologie und der Wissenschaftstheorie und (1) in den Bereich der Ontologie.11 Für die Frage nach dem Verhältnis zur PP sind in erster Linie die Punkte (1) und (2) relevant, da die Klärung von (3) hauptsächlich von der verwendeten Semantik abhängig ist und weniger von Aussagen oder Implikationen der PP. Generell werden drei Argumente für den wissenschaftlichen Realismus angeführt:12 (1) Erfolgsargument („Wunderargument“): Nur der wissenschaftliche Realismus kann erklären, dass naturwissenschaftliche Theorien Phänomene in der Welt erfolgreich erklären und vorhersagen können. (2) Praxisargument: Der wissenschaftliche Realismus benennt die Grundlagen, von denen der Naturwissenschaftler in seiner Tätigkeit ausgeht.

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12

Über die Hintergründe der Unterscheidung „theoretisch“-„beobachtbar“ und den Zusammenhang mit der RT vgl. Friedman 1983, insbes. S. 3-31. Nach Psillos 2000, S. 706. Bei Mittelstrass 1995 fehlt (3), Fine 1998 führt (2) nicht gesondert auf. Nach Kukla 1998 vertritt der epistemologische Realismus (= (2)) die stärkste, der semantische Realismus (= (3)) die schwächste Position: (2) impliziert (1), (1) impliziert (3) (Kukla 1998, S. 8). Folgende Darstellung nach Kukla 1998, S. 12ff., S. 27ff., S. 43ff. In ähnlicher Form werden die Argumente für den wissenschaftlichen Realismus auch von Fine 1998 genannt.

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(3) Vereinheitlichungsargument: Der wissenschaftliche Realismus kann erklären, warum Elemente einer bestimmten Theorie auch als Elemente anderer Theorien auftreten und somit zu einer Vereinheitlichung von Theorien führen. Die PP macht zunächst einmal Aussagen über die Grundlagen der Messvorgänge, also über Methodologie; es ist daher nicht zu erwarten, dass sich ihre Thesen im direkten Widerspruch zum Realismus der Form (1) oder (2) befinden. Wissenschaftstheoretisch betrachtet, geht auch die PP von der prinzipiellen Zugänglichkeit der Welt für die Naturwissenschaften aus, so dass sich hier kein Widerspruch ergibt. Allerdings erhebt die PP den weitergehenden Anspruch, empirische Theorien methodologisch revidieren zu können: Verstößt eine naturwissenschaftliche Theorie gegen die methodologischen Normen der PP, dann muss – die empirische Bestätigung der fraglichen Theorie vorausgesetzt – eine entsprechend protophysikalischer Normen erfolgende Rekonstruktion durchgeführt werden. Sollten ontologische oder epistemologische Interpretationen direkt an die aus Sicht der PP widersprüchlich konstruierten Theorien geknüpft sein, wären auch sie von der protophysikalischen Rekonstruktion betroffen. Wie zu erwarten war, liegen daher zu der weitergehenden Frage nach Widersprüchen zwischen der PP und der Ontologie oder Epistemologie des wissenschaftlichem Realismus keine direkten Aussagen der jeweiligen Protagonisten vor, denn beide Debatten verlaufen mehr oder weniger unbeeinflusst voneinander. Um das gegenseitige Verhältnis zu klären, soll im folgenden das protophysikalische Programm auf mögliche ontologische Konsequenzen, die in Bezug auf realistische Positionen relevant sein können, untersucht werden. Solche Betrachtungen würden unter einer pauschalen Gegenüberstellung leiden, denn die Position des wissenschaftlichen Realismus birgt die Gefahr einer mangelnden Begriffspräzisierung: Zwar wird darin von einer objektiven Struktur der Welt ausgegangen, die durch erfolgreiche naturwissenschaftliche Theorien wiedergegeben wird. In dieser Skizzierung bleibt jedoch unerwähnt, dass die Strukturen naturwissenschaftlicher Theorien einen begrifflichen „Überschuß“13 besitzen. Nun wird sich kaum ein Rea13

Dieser „Überschuß“ enthält Elemente verschiedener Art: Singularitäten, Fiktionen wie Massenpunkte, oder verschiedene Formulierungen derselben Theorie, die zu verschiedenen Existenzannahmen führen.

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list dazu verpflichten, alle in einer Theorie auftretenden Strukturelemente als existierend anzunehmen, geschweige denn alle Theorieelemente aller erfolgreichen (und sich nicht widersprechenden) Theorien. Zudem kann in einem sehr weiten Sinn auch die PP als „wissenschaftlich realistisch“ bezeichnet werden: Schließlich werden nicht die Grundgrößen der PP selbst erzeugt, sondern lediglich Verfahren zu ihrer Messung angegeben, die gewissen Normen genügen müssen. Es empfiehlt sich daher eine kontrastierende Gegenüberstellung der beiden Positionen im Kontext einer bestimmten naturwissenschaftlichen Theorie vorzunehmen, um zu einer exakteren Topographie beider Positionen zu gelangen. Hierfür bietet sich die Beleuchtung des Verhältnisses von PP und RT aus folgenden Gründen an: Historisch gesehen spielt die RT eine Schlüsselrolle in der Entwicklung sowohl der PP als auch des wissenschaftlichen Realismus. So war der von den Protophysikern als „geistiger Vater“ reklamierte Hugo Dingler einer der prominentesten Kritiker der RT in Deutschland.14 Das protophysikalische Programm hat einerseits Teile seiner Kritik aufgenommen und modifiziert und ist andererseits in direkter Auseinandersetzung mit Positionen der RT entwickelt worden.15 Aber auch die Entwicklung des wissenschaftlichen Realismus ist von der RT entscheidend geprägt worden. Auf die Entstehung des Begriffspaars „theoretisch“-„beobachtbar“ im Kontext der philosophischen Auseinandersetzung mit der RT ist schon hingewiesen worden. Von Anfang an haben sowohl Vertreter des logischen Positivismus16 als auch Vertreter realistischer Positionen17 die RT als exemplarisches Beispiel ihrer jeweiligen Auffassung (Konventionalismus bzw. Realismus in Bezug auf theoretische Entitäten) in Anspruch genommen. Darüber hinaus ist unbestritten, dass Einstein seine Theorien in dem Bemühen entwickelte, die Verwendung unbeobachtbarer („metaphysischer“) Elemente zu vermeiden.18 Zudem stellte sich im Kontext der Interpretation der RT heraus, dass ihre Inanspruchnahme für verschiedene wissenschaftstheoretische bzw. naturphilosophische Positionen aus ihrer besonderen Struktur resultiert: Die 14 15 16 17 18

Vgl. Willer 1973 und Hentschel 1990. Vgl. die Beiträge in Pfarr 1981. Reichenbach 1928. Weyl 1993. Friedman 1983, S. 204-215.

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Konventionalisten konnten sich auf Einsteins Postulat der Gültigkeit von Relativitätsprinzipien, die die Möglichkeit (unbeobachtbarer) ausgezeichneter Bezugssysteme ausschließen, sowie auf seine Uhrensynchronisation durch Lichtsignale als zweckmäßige und ökonomische Konventionen berufen. Dagegen sahen die Realisten in der eindeutigen Bestimmung der Raum-Zeit-Struktur durch die Materie-Energie-Verteilung sowie in der Tatsache, dass die Gleichungen der ART Lösungen für eine materiefreie Raum-Zeit zulassen, Bestätigungen für eine realistische Deutung.19 An dieser Stelle sei von konventionalistischen Interpretationen abgesehen. Das andere große Theoriengebäude, das eine fruchtbare Konfrontation mit der PP zu versprechen scheint, ist die Quantenmechanik. Aber aus zwei Gründen erweist sich eine Gegenüberstellung als sehr schwierig: Einerseits haben die Protophysiker weit seltener Stellung zu der Quantenmechanik genommen als zu der RT,20 andererseits hat sich die Quantenmechanik so komplex weiterentwickelt (sowohl hinsichtlich ihres Umfangs als auch hinsichtlich der verschiedenen Formulierungen), dass eine Konfrontation der PP mit realistischen Deutungen der Quantenmechanik in einem überschaubaren Rahmen äußerst kompliziert wäre. Daher zurück zu der RT. Die Spannung zwischen PP einerseits und Realisten andererseits lässt sich für die RT folgendermaßen darstellen: Die RT enthält einige theoretische Größen z. B. die durch die Materie-Energie-Verteilung strukturierte Raum-Zeit, die sich realistisch deuten lassen. Aber der Protophysiker sieht darin eine Inkohärenz: Die betreffenden Größen werden innerhalb der Theorie eingeführt, um die Ergebnisse von Messungen zu erklären. Diese Messungen jedoch setzen ihrerseits voraus, dass bestimmte Verhältnisse in der Realität gelten. Und diese Verhältnisse widersprechen der Existenz jener Größen.21

19 20

21

Zu der Debatte um die Deutung der RT vergl. Hentschel 1990. Es liegt nur eine Arbeit aus dem Bereich der PP zur Quantenmechanik vor (Tetens 1986), die sich zudem nicht umfassend mit ihr auseinandersetzt. Der Vorwurf der Inkohärenz trifft auch den Verfechter konventionalistischer Interpretationen der RT. Zwar behauptet dieser nicht die Existenz jener Größen (im Gegensatz zum Realisten), sondern versteht sie als Resultate von Konventionen, um die Theorie möglichst einfach zu halten. Aber der Protophysiker hingegen leugnet, dass die Voraussetzungen der entsprechenden Messungen Konventionen überhaupt zulassen.

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Da der Raum-Zeit-Realismus, der mit einigen Deutungen der RT verbunden ist, in der Debatte um den wissenschaftlichen Realismus an prominenter Stellung steht, sei das Hauptaugenmerk auf diesen Punkt gerichtet. Aus Sicht des Realisten sprechen gute Gründe für eine realistische Deutung der Raum-Zeit:22 (1) Kausale Relationalität: Raum und Zeit stehen mit Materie und Energie in kausaler Wechselwirkung. (2) Ontologische Autonomie: Möglichkeit der Existenz von Raum und Zeit ohne Materie oder Energie (sog. „Vakuumlösungen“ der ART). (3) Explanatorische Funktion: Raum-Zeit fungiert als Bezugsobjekt absoluter Bewegungen (Beschleunigung und Rotation) in relativistischer Dynamik.23 Diese drei Punkte können als theoriespezifische Modifikationen des Theorienvereinheitlichungsarguments (Argument (3)) angesehen werden: Deutet man die Raum-Zeit realistisch, lässt sich erklären, wie verschiedene naturwissenschaftliche Theorien (im Fall der RT Mechanik und Elektrodynamik) dadurch vereinheitlicht und somit vereinfacht werden können, dass ihnen gemeinsame theoretische Elemente zugeordnet werden.24 Darüber hinaus gibt diese Deutung auch die Praxis der zahlreichen Vereinheitlichungsprogramme der Physik wieder, die durch den Erfolg der RT motiviert worden sind (= Argument (2)). Was spricht aus der Sicht des Protophysikers gegen eine realistische Deutung der RT? Seiner Meinung nach handele es sich bei der realistischen Deutung der Raum-Zeit um das Produkt einer verfehlten Theorie: Zwar gebe es die sogenannten relativistischen Effekte (z. B. Uhrenverlangsamung, Längenkontraktion, etc.), aber deren Erklärung könne nur innerhalb der normativen Grundlagen der PP erfolgen, denn diese seien ihrem Anspruch nach a priori gültig. Und dagegen verstoße die Methodik der RT. 22 23

24

Folgende Darstellung nach Bartels 1996, S. 35ff. Ganz im Gegensatz zu den ersten Deutungen der RT durch die Positivisten (und anfangs wohl auch durch Einstein selbst). Diese waren davon ausgegangen, dass durch die ART die vollständige Relativität aller Bewegungen theoretisch erreicht worden sei. Vgl. zu dieser Deutung Hentschel 1990. Nach Friedman 1983, S. 236-250.

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Ausgangspunkt der Kritik ist das Vorgehen Einsteins, das sich schematisiert so wiedergeben lässt: Ziel Einsteins war die Klärung eines Problems der Elektrodynamik: Bei einigen Phänomenen kommt es nur auf die Relativbewegung zweier Körper zueinander an, obwohl die Theorie fordert, dass nur die Bewegung gegenüber einem ausgezeichneten Bezugssystem relevant ist. Für die Lösung greift Einstein auf die Maxwellsche Elektrodynamik zurück, die sich empirisch bewährt hat und eine (für den Physiker) äußerst elegante Form hat. Darüber hinaus benutzt Einstein das spezielle Relativitätsprinzip: In allen Inertialsystemen25 laufen physikalische Vorgänge in gleicher Weise ab. Als Konsequenz verzichtet Einstein auf die Auszeichnung eines besonderen Inertialsystems als Bezugssystem und postuliert so die Invarianz von c (= Lichtgeschwindigkeit) in allen Inertialsystemen.26 Resultat ist die Ersetzung der in der klassischen Mechanik für Koordinatentransformationen zwischen verschiedenen Inertialsystemen verwendeten Galilei-Transformationen durch die Lorentz-Transformationen (in die c als Faktor eingeht) und somit die Ersetzung der klassischen Mechanik durch die SRT. Darüber hinaus wurde in der ART das Relativitätsprinzip auf alle Bewegungsformen verallgemeinert: in allen Bezugssystemen laufen ungeachtet ihres Bewegungszustands physikalische Vorgänge in gleicher Weise ab. Ausgehend von dieser Annahme kam Einstein schließlich zur Geometrisierung der Gravitation: Die Struktur von Raum und Zeit wird durch die Stärke des Gravitationsfeldes bestimmt. Die PP kritisiert mehrere Punkte an Einsteins Procedere, da die Konstruktion der SRT dem Prinzip der methodischen Ordnung widerspreche: Ausgehend von der Elektrodynamik revidiert Einstein Mechanik und Geometrie. Aber die Messungen, die die Elektrodynamik empirisch bestätigten, setzten mechanische und geometrische Grundformen schon voraus und könnten daher nicht von deren Messergebnissen widerlegt werden.27 Zudem mache Einsteins Ableitung der Lorentz-Transformationen Gebrauch

25

26

27

D. h. in allen Systemen, die ruhen oder sich kräftefrei bewegen, also weder beschleunigt werden noch rotieren. In der klassischen Elektrodynamik bewegte sich das Licht mit der Geschwindigkeit c nur relativ zu einem ausgezeichneten Bezugssystem (dem Äther). So insbesondere Lorenzen 1981a, S. 97ff.

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vom Begriff des Inertialsystems, ohne dass dieser Begriff methodisch korrekt eingeführt worden sei.28 Darüber hinaus würden die Realisierungsvorschriften für Uhren und Längenmaßstäbe verletzt: Damit ein Messgerät im Sinne der PP Längen bzw. Zeiten messen kann, muss es die protophysikalischen Herstellungsziele, d. h. Euklidizität und Gleichförmigkeit der Bewegung, realisieren. Die an den Messgeräten auftretenden relativistischen Effekte wie Längenkontraktion und Zeitdilatation werden nach dem Verfahren der Exhaustion behandelt: Abweichungen von den zu erwartenden Messwerten werden als Störungen aufgefasst und behoben. Im einzelnen sind es folgende Punkte, die zwischen RT und PP strittig sind: (1) Gültigkeit des speziellen und allgemeinen Relativitätsprinzips. (2) Herleitung und Interpretation der Lorentz-Transformationen. (3) Euklidizität des Raumes. ad (1) Das spezielle Äquivalenzprinzip fordert die Gleichberechtigung von ruhenden und sich gleichförmig bewegenden Körpern, das allgemeine Relativitätsprinzip darüber hinaus die Gleichberechtigung aller Bewegungen. Damit wäre es also nicht möglich, von einem Körper zu sagen, dass er in realiter ruhe bzw. sich in irgendeiner Weise bewege. Die Gründe für diese Forderungen sind methodologischer Natur: Wenn sich allein anhand von empirischen Beobachtungen nicht entscheiden lässt, welche Körper sich relativ zu welchen bewegen oder ruhen, dann dürfen in einer physikalischen Theorie auch keine Größen auftreten, die trotz fehlender empirischer Bestätigung einen Unterschied zwischen verschiedenen Bewegungsformen behaupten. Als Voraussetzung dieser Forderung fungiert die universale Gültigkeit der Naturgesetze; diese sollen in allen Bezugssystemen dieselbe Form besitzen. Die Forderung nach der Geltung eines Relativitätsprinzips widerspricht allerdings den Maßgaben der PP. Hier gilt weder das spezielle noch das allgemeine Relativitätsprinzip, da alle Bewegungen auf ein ausgezeichne28

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass auch die klassische Mechanik vom Vorwurf des methodisch unzureichend fundierten Aufbaus betroffen ist: Begriffe wie „Masse“ und „Inertialsystem“ sind dort ebenfalls weder zirkelfrei noch unter Verweis auf ein Konstruktionsverfahren eingeführt (Janich 1995).

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tes Bezugssystem mit der Erde als Mittelpunkt bezogen werden. Darüber hinaus gibt es eine „absolute Zeit“ in der PP: die entsprechend protophysikalischen Verfahren konstruierten Uhren sind aufgrund der universalen Gültigkeit des Verfahrens synchronisiert und zeigen alle die gleiche Zeit an, die dadurch für Messprozesse ausgezeichnet ist.29 ad (2) Die Herleitung der (für die SRT fundamentalen) LorentzTransformationen lässt sich mit dem Programm der PP ebenfalls nicht vereinbaren (s.o., S. 268 f.). Für eine innerhalb der PP akzeptable Einordnung der Lorentz-Transformationen bestehen zwei Möglichkeiten. Entweder behält man die Ableitung auf Grundlage von Zusammenhängen innerhalb der Elektrodynamik bei, dann können die LorentzTransformationen aber nicht die Galilei-Transformationen der klassischen Mechanik30 ersetzen. Oder es wird eine Möglichkeit angegeben, die LorentzTransformationen innerhalb der klassischen Mechanik abzuleiten. Dies setzt jedoch voraus, dass nur solche Größen verwendet werden dürfen, die durch die PP bereits „abgesichert“ sind. Das trifft insbesondere auf die Verwendung des Begriffs „Inertialsystem“ zu, für den ein zirkelfreies Konstruktionsverfahren angegeben werden muss.31 Je nach durchgeführter Ableitung ändert sich auch der Status der SRT: die erste Ableitung impliziert eine dynamische Interpretation der LorentzTransformationen und damit der SRT. Bewegen sich Körper mit hoher Geschwindigkeit, dann treten universale Kräfte (= unabhängig von den Eigenschaften des bewegten Körpers) auf, deren Wirkung mittels der LorentzTransformationen bestimmt werden kann. In dieser Interpretation werden

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So Lorenzen 1981c (zum Relativitätsprinzip); das Verfahren zur Uhrenkonstruktion soll hier nur kurz skizziert werden (Vgl. hierzu Janich 1980, 1997): Vorausgesetzt wird die Kenntnis starrer Körper und der geometrischen Grundformen (für die die Konstruktionsvorschriften bereits angegeben sind). Dann wird das Abrollen von Zylindern auf einer schiefen Ebene als Grundmuster gewählt, um ein Maß für gleiche Ganggeschwindigkeiten zu erhalten. Immer vorausgesetzt, dass sich für die Galilei-Transformationen hinreichend gut fundierte Konstruktionsvorschriften angeben lassen. Gewöhnlich wird „Inertialsystem“ als ein System, dass sich kräftefrei bewegt, definiert und für die Kraftmessung herangezogen. Aber um zu bestimmen, ob ein System sich kräftefrei bewegt, müssen vorher Kräfte gemessen werden. Diese Definition ist daher zirkulär.

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Geometrie und Kinematik beibehalten, lediglich die Dynamik wird erweitert.32 Wenn die Lorentz-Transformationen hingegen innerhalb der klassischen Mechanik abgeleitet werden, stellt sich das Problem, wie diese Ableitung motiviert ist; schließlich gibt es bereits die Galilei-Transformationen. Den Grund für die Ableitung einer weiteren Transformation findet man in den Auswirkungen der relativistischen Effekte auf die protophysikalisch geeichten Messgeräte: Diese können unter hohen Geschwindigkeiten nicht bezugssystemübergreifend Messwerte vorlegen. Damit aber sichergestellt werden kann, dass es sich bei Messungen, die in verschiedenen Bezugssystemen vorgenommen werden, auch wirklich um Messungen derselben Messgröße handelt, werden die Lorentz-Transformationen benötigt.33 ad (3) Gemäß der RT gilt, dass die Geometrie des Raumes (bzw. der Raum-Zeit) nur empirisch bestimmbar ist. Weiterhin habe sich durch Messungen herausgestellt, dass der Raum nichteuklidisch sei, dass also Euklids Parallelaxiom nicht gelte. Vielmehr strukturiere die Verteilung von Materie und Energie die Verteilung von Raum und Zeit. Hierin sind zwei Behauptungen enthalten: (1) Die Raum-Zeit besitzt eine geometrische Struktur und (2) diese geometrische Struktur kann nichteuklidisch sein. Die PP dagegen sieht die Euklidizität des Raumes in der Euklidizität des Messens verankert. Verantwortlich hierfür ist die originäre (letztlich auf Dingler zurückgehende) Uminterpretation des Verhältnisses von Euklidizität und starrem Körper: Seit Helmholtz versteht man unter der Euklidizität des Raumes die Tatsache, dass sich ein starrer Körper im Raum frei bewegen lässt. Einen starren Körper wiederum erhält man, indem in erster Annäherung ein harter Körper verwendet wird. Diese Verfahren ist seitens der PP scharf kritisiert worden: Wie kann auf diese Weise sichergestellt werden, dass Veränderungen in der Form des Körpers nur durch den Ortstransport bedingt sind (und ergo auf das Vorhandensein einer nichteuklidischen Struktur hinweisen)? Sollten solche Veränderungen auftreten, könnten sie aus den unterschiedlichsten Ursachen resultieren. Die PP hingegen definiert unter Verweis auf die Messpraxis den starren Körper über 32

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So der Vorschlag von Lorenzen (Lorenzen 1981a, b), dem sich Tetens angeschlossen hatte (Tetens 1985). So Schonefeld (Schonefeld 2000), im Anschluss an Arbeiten Janichs zum Inertialsystem (Janich 1975, 1997).

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die euklidische Geometrie. Damit lautet die Vorgabe, dass zwei auf einem starren Körper befindliche Punkte ihren Abstand zueinander nicht ändern. Nach dieser Norm werden Messgeräte konstruiert. Wenn sich der Abstand dennoch ändern sollte, dann muss exhauriert, d. h. nach Störungen gesucht und selbige beseitigt werden. Sollte dies nicht gelingen, ist das Herstellungsverfahren zur Realisierung eines starren Körpers ungeeignet und es bleibt nur die Suche nach einem besseren. Da Euklidizität auf diese Weise im Messprozess verankert ist, kann durch Messungen keine nichteuklidische Struktur nachgewiesen werden. Die realistische Interpretation einer Theorie steht und fällt mit deren wissenschaftlicher Akzeptanz. Und sollten sich gravierende Inkonsistenzen in der betreffenden Theorie nachweisen lassen, sollte sie keine Anhänger finden können. Unter diesem Gesichtspunkt wirkt die obige Gegenüberstellung beider Positionen ernüchternd: Aus Sicht der PP ist der Aufbau der RT durchsetzt mit gravierenden methodologischen Fehlern und daher in der vorliegenden Form abzulehnen. Aber auch Anhänger der RT (und das schließt ihre realistischen Interpreten mit ein) haben an den Einwänden und Kritiken ihrerseits einiges auszusetzen:34 Demnach werden die Protophysiker der Tatsache nicht gerecht, dass die relativistischen Effekte universal auftreten, also an allen sehr schnell bewegten Körpern. Und es sind keine Verfahren auch nur denkbar (zumindest nach dem gegenwärtigen Stand der Physik), geschweige denn von der PP angegeben worden, wie sich die als „Störungen“ bezeichneten Effekte eliminieren lassen. Somit stünde man vor der Wahl: Entweder man verzichtet bei hohen Geschwindigkeiten auf alle physikalischen Messungen, denn es sind keine Verfahren bekannt, die nötigen Elementarformen (im Vokabular der PP) bei hohen Geschwindigkeiten zu realisieren. Oder die physikalischen Theorien werden derartig geändert, dass sie für den Fall hoher Geschwindigkeit Transformationen für die fraglichen Messgrößen bereitstellen. Und genau das leisten die Lorentz-Transformationen. Darüber hinaus enthält der Verschlag von Lorenzen und Tetens zur dynamischen Interpretation ebenfalls einige unplausible Punkte, die mit der Annahme einer universalen Kraft zusammenhängen: Woher soll diese kommen? Aus welchem Grund soll das mit dem Auftreten dieser Kraft verbundene Bezugssystem ausgezeichnet sein? Warum soll gerade die Er34

Vgl. hierzu die Beiträge in Pfarr 1981.

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de dieses ausgezeichnete Bezugssystem sein?35 Aus diesen Gründen dürfte sich auch Janich nicht dem Vorschlag von Lorenzen angeschlossen haben. Ähnlich ist auch der Verweis auf die Euklidizität des Raumes zu bewerten: Selbst wenn man die Konstruktion eines starren Körpers nach Vorgabe der PP akzeptiert, folgt daraus nicht, dass sich dessen Realisierung überall durchführen lässt, und soweit man weiß, ist dies tatsächlich nicht der Fall (z. B. in starken Gravitationsfeldern).36 Es besteht zwar die Möglichkeit, einen euklidischen Raum zu postulieren, in dem Kräfte für die Effekte wie die Krümmung von Bahnen etc. verantwortlich sind, aber dieser Raum wäre sozusagen eine nachträgliche „Zutat“, ohne anderweitige physikalische Bedeutung. Dennoch scheint es einen Spielraum für eine gegenseitige Annäherung oder zumindest Akzeptanz beider Positionen zu geben: So scheint der Vorschlag von Schonefeld, die Lorentz-Transformationen quasi als „Ersatz“Transformationen zu verwenden, wenn sich aufgrund relativistischer Effekte die Realisierungen der Messapparaturen verschiedener Inertialsysteme nicht mehr durch Galilei-Transformationen miteinander vergleichen lassen, ein vielversprechender Ansatz für die Angliederung der SRT an die PP zu sein.37 Darüber hinaus gilt in der ART lokal die euklidische Geometrie, so dass sich hier eine Möglichkeit böte, den starren Körper als Grundlage für alle Messungen zumindest lokal zu bestätigen und hingegen Messwerte, die in der Astronomie ermittelt worden sind, anders zu interpretieren. Umgekehrt sind nicht nur die Relativitätstheoretiker, sondern auch ihre realistischen Anhänger gut beraten, die methodologische Kohärenz der zugrunde liegenden Theorie stärker als bisher zu berücksichtigen. Denn sobald Unstimmigkeiten im Aufbau einer Theorie nachgewiesen werden können, besteht die Möglichkeit, die entsprechende Theorie umzu35

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Nach Lorenzen fungiert die Erde als ausgezeichnetes Inertialsystem, weil von ihr aus protophysikalische Größen konstruiert werden (Lorenzen 1981c, S. 120). Diesen Einwand hat schon v. Weizsäcker (und andere) gegen ähnliche Kritiken Dinglers an der RT gemacht (Weizsäcker 1974). Dieser Ansatz lässt natürlich viele Fragen offen. So ist z. B. nicht klar, ob und wie Minkowskis vierdimensionale Formulierung der SRT sich zu der LorentzTransformation unter dieser Ableitung verhält. Und auch die Alternative von Galilei- und Lorentz-Transformation, deren Anwendung von der Messsituation abhängt, dürfte dem Relativitätstheoretiker, der gewöhnlich die Gallileo-Transformationen als Sonderfall der Lorentz-Transformationen betrachtet (für v