Urteilen lernen III: Räume des Urteilens in der Reflexion, in der Schule und in religiöser Bildung 9783737003445, 9783847103448, 9783847003441

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Urteilen lernen III: Räume des Urteilens in der Reflexion, in der Schule und in religiöser Bildung
 9783737003445, 9783847103448, 9783847003441

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Ingrid Schoberth / Christoph Wiesinger (Hg.)

Urteilen lernen III Räume des Urteilens in der Reflexion, in der Schule und in religiöser Bildung

Mit 7 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0344-8 ISBN 978-3-8470-0344-1 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Manfred-Lauterschläger-Stiftung. Ó 2015, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Wolfgang Schoberth: »messianische zeit« Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Hartmut Rupp und dem Religionspädagogischen Institut der Evangelischen Landeskirche Baden mit Dank für die Zusammenarbeit

Inhalt

Ingrid Schoberth / Christoph Wiesinger Einleitung: Urteilen lernen III. Räume moralischer Urteilsbildung in religionspädagogischer und religionsdidaktischer Perspektive . . . . . .

9

Silke Reiser-Deggelmann Dem Leben einen Spiegel vorhalten. Parabolische Kurzprosa bei Franz Kafka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil: Räume des Urteilens in der Reflexion Katja Boehme Unterscheidung der Geister. Impulse für eine Kriteriologie ethischer Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Marco Hofheinz Urteilen im Raum der Kirche. Theologische Einsichten des sog. »kirchlichen Kommunitarismus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Gerhard Marcel Martin Resonanzbereiche des Urteilens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

Christoph Wiesinger Authentische Glaubensräume im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Urs Espeel Du stellst meine Füße auf weiten Raum (Ps 31,9). Autorität und Urteilen

97

Gerhard Dannecker Urteilen-Lernen in der universitären Juristenausbildung

. . . . . . . . . 113

8

Inhalt

Hülya Erbil Erfahrungsbericht aus dem Studium der Rechtswissenschaft . . . . . . . 139

Zweiter Teil: Räume des Urteilens in der Schule und in religiöser Bildung Ingrid Schoberth Religionsdidaktische Konkretionen. Überlegungen zum Urteilen lernen im Religionsunterricht der Sekundarstufe II . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Philip Jonathan Geck Wer bin ich? Nach der eigenen Identität fragen in Auseinandersetzung mit Überlegungen Charles Taylors zu (post-) moderner Authentizität und Dietrich Bonhoeffer. Ein Unterrichtsentwurf für die Sekundarstufe II im Fach Evangelische Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Ann Sophie Huppers Urteilen lernen mit und an der Heiligen Schrift. Ein Unterrichtsentwurf mit Bezug auf Rudolf Bultmann und Gerd Theißen . . . . . . . . . . . . 167 Christian Jäcklin Christliche Verantwortung vor Gott und für die Menschen. Die Geschwister Scholl im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Ein Unterrichtsentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Wolfram Kerner »Was soll Line jetzt tun?« Jürgen Habermas’ diskursethisches Modell im Rahmen eines einführenden Unterrichtsgangs zur Ethik in der Oberstufe Simon Layer Eschatologie und Bildung

207

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Hartmut Rupp Assistierter Suizid als Inhalt ethischen Lernens im Evangelischen Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Ingrid Schoberth / Silke Wagner Vom Lesbarwerden der Zeit. Unterrichtswege im Diskurs mit Texten zu Giorgio Agambens Reflexionen zur messianischen Zeit . . . . . . . . . . 265

Ingrid Schoberth / Christoph Wiesinger

Einleitung: Urteilen lernen III. Räume moralischer Urteilsbildung in religionspädagogischer und religionsdidaktischer Perspektive

1.

Zur Fragestellung von Urteilen lernen III

Im dritten Band zum Urteilen lernen, der das fünfjährige Forschungsprojekt zum Thema abschließt, kommen die Räume in den Blick, in denen Urteilen gelernt wird; diese topographische Verortung des Urteilens hat seinen besonderen Grund. Sie dient dazu, eine Begehung1 zu versuchen und dabei die Orte genauer aufzusuchen und zu betreten, in denen immer neu die Aufgabe der moralischen Urteilsbildung ansteht. In solchen spezifischen Räumen finden Urteile ihre je eigene Gestalt. Sie sind einmal Ergebnis einsamer Reflexion aber zugleich auch aus einem gemeinsam geteilten Diskurs erwachsen, zu dem besondere Räume immer wieder Anlass geben, wie Schule-Räume und der Raum des Religionsunterrichts, Kirchen-Räume und der Raum der Verkündigung im Gottesdienst etc. Die Tagung im Juli 2014, die mit diesem Sammelband dokumentiert werden soll, hat es vermocht, in verschiedene Räume zu führen, um diese deutlicher zu beschreiben und wahrzunehmen in ihrem Vorhaben, Urteilskompetenz der Lernende zu eröffnen. Mit der topographischen Bestimmung verweisen die Räume jeweils auf ganz spezifische Formen der Ausbildung von Urteilen, die nicht austauschbar sind, sondern die ihren je eigenen Zugang zum Urteilen aufschließen: Im Religionsunterricht wird Urteilen unter anderen Bedingungen gelernt als im Gottesdienst, im Hören einer Predigt. Meine je eigenen Urteile haben eine Gestalt, die sich von Urteilen anderer unterscheiden, die sich im Diskurs mit anderen bewähren oder sich durch eine gemeinsam geteilte Praxis des Dialogs und des Austausches auch je neu formieren. Die verschiedenen Räume, die im Vortrag und im Diskurs dazu begangen wurden, haben gezeigt, wie in je spezifischer Hinsicht der jeweilige Raum Ausgangspunkt aber auch Bezugspunkt für die genaue Wahrnehmung des 1 Hier greife ich den von dem Religionspädagogen Christoph Bizer geprägten Begriff der Begehung auf. Vgl. dazu ausführlich Bizer, Christoph: Kirchgänge im Unterricht und anderswo. Zur Gestaltwerdung von Religion; Göttingen 1995.

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Ingrid Schoberth / Christoph Wiesinger

Urteilens sein kann: Insofern konnte die Tagung in dieser topographischen Perspektive zu einer differenzierten Wahrnehmung des Urteilens anleiten und Schwerpunkte setzen, die bisher noch nicht versucht und reflektiert wurden. Bereits im ersten Band zur Tagungsreihe2 kamen neben den Grundlagenfragen zum Urteilen lernen bereits die Kontexte in den Blick, die das Urteilen als abhängig von den Kontexten zu reflektieren ermöglichte, in denen sie anvisiert, erprobt und formuliert werden. Hier wurden übergreifende Kontexte aufgegriffen, die der Wirtschaft, Bildung und Recht, die Einblicke in das Lernen und den Vorgang der Ausbildung von Urteilen ermöglichten. Der zweite Band3 hat sich demgegenüber den Perspektiven moralischer Urteilsbildung angenähert und nicht so sehr in topographischer Hinsicht argumentiert, sondern Beschreibungen des Urteilens unternommen, indem die ästhetischen und politischen Bedingungen für das Urteilen reflektiert und dargestellt wurden. Vertieft wurde dabei die eschatologische Dimension des Urteilens, die als spezifisches Moment religiöser Urteile die Besonderheit moralischer Urteilsbildung bestimmt. Sie ermöglichte es, nach den Bedingungen des Urteilens im Horizont der Verheißungen Gottes für die Menschen zu fragen. Was bestimmt mein Urteilen, wenn es im Wissen darum formuliert wird, dass meine Lebens-Geschichte nicht mit dem Tod endet, sondern eingebunden ist in die verheißungsvolle Geschichte Gottes mit den Menschen, die über den Tod hinausweist und schließlich die Endlichkeit des Menschen aufhebt. In moralischer Hinsicht verwandelt das theologische Reden von Gottes Ewigkeit die Erfahrungen der Gegenwart und richtet sie neu aus; dass es um eine neue Welt geht, in der es kein Weinen und Klagen mehr gibt, lässt einen hoffnungsvollen Ausblick zu, der in der Wirklichkeit des gegenwärtigen Lebens bereits anbricht. In anthropologsicher Hinsicht hält Wolfgang Schoberth dazu fest: »Zur Geschöpflichkeit gehört unsere Zeitlichkeit und unsere Vergänglichkeit. Leben im Glauben ist aber auch die Gewißheit, daß diese Vergänglichkeit getragen ist von der unvergänglichen Hoffnung, daß das begrenzte Leben bei Gott Zukunft hat. Es wurzelt in der zugesagten Verheißung des ewigen Lebens. Sie hat ihre gegenwärtige Entsprechung in den Erfahrungen, daß sich auch dort Wege auftun, wo menschliches Ermessen nichts als Abbrüche und Scheitern erwartet. Die neuen Lebensmöglichkeiten im Scheitern und in den Abbrüchen des Lebens sind ein Vorschein der Auferstehung.«4

Theologisch ist immer dann vom Vorschein der Auferstehung die Rede, wenn auf ein Leben rekurriert wird, das nicht im Tode endet, sondern ausgestreckt ist 2 Urteilen lernen. Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung; hg. von Ingrid Schoberth, Göttingen 2012. 3 Urteilen lernen II. Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs; hg. von Ingrid Schoberth, Göttingen 2014. 4 Schoberth, Wolfgang: Einführung in die theologische Anthropologie; Darmstadt 2006, 146.

Einleitung: Urteilen lernen III

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auf eine Wirklichkeit hin, die den Menschen in der Auferstehung verheißen ist und doch zugleich das Leben im Hier und Heute formt. Das Leben bleibt ausgespannt auf die zukünftige Herrlichkeit bei Gott. Diese eschatologische Perspektive bleibt verschlossen und zugänglich zugleich. Das wird eindrücklich im Brief des Apostel Paulus an die Römer dargelegt, indem er Klärungsversuche für eine Gestalt des Lebens vorlegt, das als ein Leben in der Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde dargelegt wird. Die eschatologische Dialektik muss als eine Spannung wahrgenommen werden und wäre missverstanden, würde sie als eine Perspektive der Weltflucht und der Vertröstung aufgefasst. Darum eignen sich die Überlegungen des Philosophen Giorgio Agamben und seine Auslegung des Römerbriefes des Apostel Paulus, um dem unauflöslichen Zusammenhang von Leben und eschatologisch eröffneter bzw. (in der Semantik von Agamben) messianischer Zeit nachzugehen. In diesem zweiten Band eröffnet dazu Josef Wohlmuth einen Zugang zu den Interpretationen Agambens und eschließt ganz vorläufig Spuren einer messianischen Zeit, wie sie im Römerbrief gelegt sind als Spuren der Eschatologie, Spuren, die die Wirklichkeit in die zukünftige Hoffnung einzeichnen. Dabei werden die Erfahrungen des Lebens und der Geschichte mit der messianischen Zeit konfrontiert, als die Ermöglichung des Anbruchs der neuen Welt Gottes im Hier und Heute. Zur besonderen Herausforderung wird dabei die Frage nach der Rekapitulation der Ereignisse der Geschichte/Vergangenheit. Agamben hat dieses Thema immer berührt und formuliert dazu in seine Überlegungen Die Struktur der messianischen Zeit einen hoffnungsvollen Ausblick: »Und so wie die Vergangenheit in der Erinnerung wieder etwas gleichsam mögliches wird – das Vollendete wird unvollendet und das Unvollendete vollendet –, bereiten sich die Menschen in der messianischen Rekapitulation darauf vor, sich für immer von ihr zu verabschieden in Ewigkeit, die weder Vergangenheit noch Wiederholung kennt.«5

Die messianische Zeit hat eine humane Kontur, die ausgeschritten werden kann und als messianischer Lebensstil die Gegenwart erneuert. Paulus bringt sie ins Spiel und hält fest, dass dieser Zeit eine spezifische Qualität eigen ist: sie ist gerade in ihrer Bedeutung für das moralische Urteil zu würdigen, denn sie spricht jeweils von dem Hier und Heute so, dass das, was sich als Wirklichkeit zeigt, nicht alles ist.6 Denn was an Neuem zukommt ist freilich immer nur mit und an der Vergangenheit und nicht ohne sie verstehen zu lernen. Es geht um eine Zukunft, die mehr und anderes sein wird, als wir kennen, die im Abschied beginnt, ohne das zu leugnen, was war. Inmitten der nüchternen Tatsachen des 5 Agamben, Giorgio: Die Struktur der messianischen Zeit, in: Aisthesis. Zur Erfahrung von Zeit, Raum, Text und Kunst; hg. von Nikolaus Müller-Schöll u. a.; Schliengen 2005, 172 – 182, 181 f. 6 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1970, 15 – 400, 391.

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Lebens, eröffnen sich Horizonte eines Lebens auf Hoffnung hin, das den Tod überdauert und darauf zugeht, dass dieses Leben als ein Als –ob-nicht im Heute zur Erfahrung wird. In der Wirklichkeit der Auferstehung liegt auch der Trost für eine Zukunft, die »die Weinenden als ob nicht Weinende«7 erreicht und Menschen verstehen, aber auch spüren und erahnen lernen, auf welche Hoffnung bezogen sich ihre Urteilen zu gründen vermögen. Urteilen gewinnt so eine Gestalt, die, um es theologisch zu sagen, nicht von dieser Welt ist, nicht in den Kriterien der Beurteilungen dieser Welt aufgeht, sondern generiert Urteile, die sich von der begründeten Hoffnung christlichen Glaubens her verstehen, eine Hoffnung auf Überwindung, eine Hoffnung darauf, dass das, was ist, nicht alles ist. Diese Zusammenfassung des zweiten Bandes ist hier notwendig, weil sie die Zusammenhänge als Voraussetzung für den dritten Band markiert: Der Ausblick auf einen messianischen Lebensstil im Horizont der Auferstehung, der nun auch in seiner didaktischen Konsequenz gewürdigt werden soll. Mit der im zweiten Band noch stärker als im ersten Band herausgearbeiteten inhaltlichen Bestimmungen des Urteilens und seines Lernens, kann sich nun der dritte Band wiederum in interdisziplinärer Perspektive formieren, der die Bildungsaufgabe zum Urteilen befähigen nun ausdrücklicher als es bisher möglich war, bearbeitet. Er legt dar, welche unterrichtlichen Möglichkeiten Schülerinnen und Schüler im Urteilen lernen unterstützen. Dabei soll aber wiederum nicht nur danach gefragt werden Wie das gehen soll – im Sinne einer religionsdidaktischen Ausrichtung – sondern immer auch eine begründete Darlegung von Unterrichtswegen vorgenommen werden, indem das Was dieses Lernens und also die inhaltlich systematische Bestimmung der Lernwege dazu in Beziehung gesetzt werden. Im dritten Band zum Urteilen lernen liegt der Schwerpunkt darum auf der konkreten Durchdringung der topographischen Annäherungen des ersten Bands mit einer vertieften Ausweitung auf die religionspädagogischen und religionsdidaktischen Perspektive. Die bisherigen Veröffentlichungen haben zunächst auch zahlreiche Grundlagenreflexionen durchführen müssen, um das Thema Urteilen lernen abzustecken. Jetzt ist im dritten Band demgegenüber die Möglichkeit gegeben, die didaktische Reflexion auf das Lernen von Urteilsfähigkeit stärker zu berücksichtigen und entsprechend Akzente zu setzen. Eingedenk der messianischen Zeit werden darum Konkretionen versucht, die die Räume des Urteilens erschließen (Erster Teil). Das geschieht wiederum in der Absicht, diese Räume so wahrzunehmen, dass der Vorgang des Lernens von Urteilskompetenz erfasst wird. Da dieser dritte Band auch die didaktischen Bemühungen um diese Kompetenz in den Blick nehmen will, werden die Vorträge durch einen zweiten Teil ergänzt, die Möglichkeiten der unterrichtlichen 7 Agamben, Giorgio: Die Zeit die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Aus dem Italienischen von Davide Giuriato, Frankfurt/Main 2006, 81.

Einleitung: Urteilen lernen III

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Erschließung dieser Kompetenz darlegen. Das Besondere daran ist, dass dieser zweite Teil ein Moment aufgreift, dass auf allen bisherigen Tagungen von den teilnehmenden Lehrerinnen und Lehrern gewünscht wurde: Nämlich dazu anzuleiten, die Ausbildung von Urteilskompetenz an und mit solchen didaktischen Bezügen zu versuchen, die insbesondere die aktuellen theologischen wie philosophischen Diskurse einbeziehen. Im Kontext der Religionspädagogik und Religionsdidaktik wurde dem Urteilen lernen nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Zumeist ist es ein Aspekt innerhalb der Frage nach dem ethischen Lernen und wird in verschiedenen Publikationen als ein Aspekt des ethischen Lernens dargestellt. Eine eigentliche Monographie zum Thema gibt es bisher nicht. Demgegenüber ist freilich das Thema des Urteilenlernens im Zusammenhang vieler materialethischer Reflexionen aufgenommen und als Lernaufgabe markiert. Insbesondere mit dem Thema Sterbehilfe, mit der Aufgabe der Beurteilungen der Gentechnologie oder aber mit der Aufgabe zu diversen medizinethischen Herausforderungen Stellung zu beziehen, wurde gezeigt, dass es einen Bedarf an ethischer Reflexion gibt, um Schülerinnen und Schüler in der Ausbildung von Urteilskompetenz zu unterstützen. Damit auch die Reflexion auf das Urteilen lernen etwa in der Schule/im Religionsunterricht ankommt und nicht nur in der Abstraktheit einer theologischen/philosophischen Tagung hängen bleibt, geht der zweite Teil dieses Sammelbandes darum ausdrücklich diesem Anliegen nach, mit aktuellen theologischen und philosophischen Bezügen, Unterrichtswege darzulegen. Dazu werden auch Seminararbeiten aufgenommen, denen das gelungen ist, das Urteilen lernen anhand von neueren theologischen oder aber auch philosophischen Überlegungen zu untersuchen und für Lernwege in der Sekundarstufe II aufzubereiten. Ich danke daher den Studierenden, den Religionslehrerinnen und Religionslehrern und anderen, die sich bereiterklärt haben, sich nicht nur auf dieses schwierige Terrain einzulassen, sondern auch mit großer Mühe und mit vielen guten Ideen dieser Bitte nachgegangen sind. Dazu sind Unterrichtseinheiten entstanden, die im zweiten Teil des Bandes dokumentiert werden und hoffentlich auch den Weg in die Schule, in religiöse Bildungsprozesse finden. Herzlicher Dank gilt der Manfred-Lautenschläger-Stiftung, die es auch diesmal wieder möglich gemacht hat, eine fünfte Tagung im Juli 2014 in Heidelberg zu veranstalten. Verbunden mit großem Dank für die Förderung wird darum diese dritte Veröffentlichung die Ergebnisse der Tagung im Rahmen des Forschungsprojektes, das seit 2010 stattfindet, dokumentieren. Ich bin sehr dankbar über diese Möglichkeit, dass ich an einem so dringlichen Thema über die Perspektiven moralischer Urteilsbildung am Lehrstuhl Praktische Theologie/Religionspädagogik in Heidelberg im Diskurs mit Kolleginnen und Kollegen, mit Doktorandinnen und Doktoranden über fünf Jahre hinweg arbeiten konnte.

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Ingrid Schoberth / Christoph Wiesinger

Die erarbeiteten Aspekte sollen darum auch weitergeführt werden in einem Projekt zum moralischen Lernen. Dank gilt auch dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen, der wiederum die Veröffentlichung übernommen hat. In großzügiger Weise hat die Manfred-Lautenschläger-Stiftung auch den Druckkostenzuschuss übernommen. Dafür sei ganz herzlich gedankt.

2.

Vorstellung der einzelnen Beiträge

Abschließend sollen nun noch in aller Kürze die Beiträge des ersten Teils dieser Veröffentlichung vorgestellt werden, die die Räume des Urteilens aufgesucht haben. Diese Begehung vollzog sich in interdisziplinärer und interreligiöser Perspektive und hat sich zur Aufgabe gemacht, sehr konkret auf den Modus eines Lernens zuzugehen, das Räume braucht, um darin auch konkret das je eigene Urteil festzumachen. Mit Überlegungen zu Franz Kafkas parabolischer Kurzprosa führt Silke Reiser-Deggelmann in die Brüchigkeit allen Urteilens ein, an der die Schwierigkeiten und Strenge eines jeden Urteils deutlich wird. Jeder dieser Räume legt eine eigene spezifische Logik dar und eröffnet daraus Kriterien, die das Urteilen zu formen in der Lage sind. Durch Kafka sensibilisiert suchen die Beiträge die Ausgestaltung der Urteilsräume in je eigener Weise auf: Katja Boehme sucht in ihrem Beitrag Unterscheidung der Geister in theologischer Perspektive nach den Impulsen für eine Kriteriologie ethischer Urteilsbildung. Die katholische Systematikerin und Religionspädagogin erkennt in dieser Anleitung des Apostel Paulus zur Unterscheidung eine der wesentlichen Zugänge, entdecken zu lernen, von woher mir meine je eigenen Kriterien für das Urteilen erwachsen. Unterscheiden-Können beschreibt dabei den Ausgangspunkt einer ethischen Kriteriologie, die die Möglichkeit zum Urteilen eröffnet. Der evangelische, in Hannover lehrende Systematiker Marco Hofheinz nimmt Kirche als Raum des Urteilens wahr. Mit den theologischen Konzepten von John Howard Yoder und Stanley Hauerwas gelingt es ihm, Kirche als einen Ort zu beschreiben, an dem immer neu um angemessene Urteile gerungen wird. Diese politische Gestalt von Kirche schließt einmal ein das Auffinden von öffentlich bedeutsamen Urteilen in einer gemeinsam geteilten Praxis des Diskurses. Sie schließt aber zum anderen auch das je eigene Urteil ein, das aus dem subjektiven Bemühen entspringt, auch das je eigene Urteilen von der Geschichte Gottes und des Menschen formen zu lassen, wie sie in der Heiligen Schrift überliefert und weitergegeben wird (story shaped reality). Urteilen und Urteile führen zu Begegnungen aber auch zu notwendigen heilsamen aber auch schmerzlichen Unterscheidungen: Dem geht Gerhard Marcel Martin nach, indem er die Resonanzbereiche des Urteilens in interreligiöser Perspektive ausschreitet. In der Begegnung mit Japan und seinen Glau-

Einleitung: Urteilen lernen III

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benstraditionen zeigen sich wertvolle Möglichkeiten der Begegnung und Anerkennung. Die Überlegungen von Christoph Wiesinger mit seinem Beitrag Authentische Glaubensräume im Prozess gehen dem nach, wie sich inmitten religiöse vielfältiger Wahrnehmungen und Urteile das je eigene Urteil formt, und Menschen befähigt, ansprechbar und auskunftsfähig werden in Hinsicht der eigenen Glaubenstradition und ihrer authentischen Verortung in der je eigenen Glaubensgeschichte. Die spannungsvolle Dimension von Glauben zwischen Authentizität und je neuer Wahrnehmung erschließt sich im Prozess des Glaubens selbst, der darum auch nie abgeschlossen und auch nie habituell festgelegt werden kann. Zwei weitere Varianten von Räumen werden aufgesucht: die privaten Räume des Urteilens im Selbst wie die öffentlichen Räume an der Universität. Urs Espeel geht den Räumen des Urteilens im Selbst nach. Gerhard Dannecker reflektiert auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen der Lehre an der Universität das Urteilen lernen an der Universität und zeigt exemplarisch an der Ausbildung zukünftiger Juristinnen und Juristen, wie das Urteilen gelernt wird, das für ihren Beruf eine grundlegende und unverzichtbare Kompetenz ist. Hülya Erbil ergänzt diesen Aufsatz durch einen Erfahrungsbericht aus dem Studium der Rechtswissenschaft. Im zweiten Teil der Veröffentlichung werden Lernwege vorgestellt, die eine Realisierung der Befähigung zur Urteilskompetenz in religiösen Bildungsprozessen aufzuzeigen versuchen. Heidelberg und Mistelgau 2015

Silke Reiser-Deggelmann

Dem Leben einen Spiegel vorhalten. Parabolische Kurzprosa bei Franz Kafka

1. Es ist eine schöne und wirkungsvolle Vorführung, der Ritt den wir den Ritt der Träume nennen. Wir zeigen ihn schon seit Jahren, der welcher ihn erfunden hat, ist längst gestorben, an Lungenschwindsucht, aber diese seine Hinterlassenschaft ist geblieben und wir haben noch immer keinen Grund den Ritt von den Programmen abzusetzen, umso weniger, als er von der Konkurrenz nicht nachgeahmt werden kann, er ist, trotzdem das auf den ersten Blick nicht verständlich ist, unnachahmbar. (unveröffentlicht, im Februar 1922)

Ich beginne meinen Vortrag zum Thema »Dem Leben einen Spiegel vorhalten: parabolische Kurzprosa bei Franz Kafka« mit einem kurzen Überblick über das Leben und Wirken des Autors. Begleiten Sie mich auf dem Spaziergang entlang der von mir gesetzten biographischen Meilensteine: 1883 in Prag geboren lebt Kafka sein Leben vor allem in der Donaumonarchie in Prag als Sohn einer aufgeklärten jüdisch-großbürgerlichen Familie. Als ältester Sohn und nach dem Tod der beiden anderen Brüder steht Kafka im besonderen Fokus des Vaters, der ihn neben den drei Schwestern zu einem – in seinem Sinne – würdigen Nachfolger erziehen möchte. Die Familienstruktur steht gerade aufgrund des Ehrgeizes und des Erziehungsprinzips des Vaters von Anfang an in Bezug auf den Jungen Kafka unter keinem guten Stern. Das literarische Zeugnis des »Briefes an den Vater« zeigt uns sowohl auf der väterlichen Seite als auch auf der Seite des Sohnes die Problematik des Urteilens beider Parteien: Urteile über einander und Vorurteile und Verurteilungen durchziehen den ganzen Brief.1 Zur Entschuldigung von Hermann Kafka, Kafkas strengem Vater, muss man allerdings sagen, dass er schon als siebenjähriger Junge mit einem Handkarren durch böhmische Dörfer zog, um zum Unterhalt der Familie beizutragen. Als 141 Kafka, Franz: Brief an den Vater. Fassung der Handschrift. Mit einem Nachwort und Anmerkungen versehen von Roger Hermes, Frankfurt/Main 1999.

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Silke Reiser-Deggelmann

jähriger Junge war Hermann Kafka dann endgültig auf sich gestellt. Nach der späteren Heirat mit der wohlhabenden jüdischen Brauerstochter Julie Löwy gründete er bald ein Kurzwaren- und Gebrauchtwarengeschäft in Prag und arbeitete zusammen mit seiner Frau am sozialen Aufstieg in der damaligen aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaft. Zu den wichtigsten Prinzipien, die Kafkas Vater verinnerlicht hatte, gehörten das Erlangen einer angemessenen sozialen Stellung, Vermögen, eine gewisse Ellenbogenmentalität und eine in der Kindererziehung angewandte Sturheit. Gefühle wurden wenig gezeigt und vom Stammhalter der Familie wurde im Prinzip dieselbe Entwicklung bzw. Haltung erwartet. Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums in Prag und der Absolvierung des Abiturs beginnt Kafka zunächst ein einsemestriges Chemiestudium. Bald darauf wechselt er auf Drängen des Vaters zu einem Studium der Rechtswissenschaft an die deutsche Universität in Prag. Dazwischen studiert er Germanistik. 1906 verlässt er die Universität nach der Promotion zum Doktor der Rechte und beginnt bald darauf seinen Brotberuf auszuüben als Aushilfskraft bei einer privaten Versicherungsgesellschaft in Prag. 1908 tritt er in die »ArbeiterUnfall- Versicherungs-Anstalt« für das Königreich Böhmen in Prag ein zu einem Dienst mit einfacher Frequenz (von 8 Uhr bis 14 Uhr täglich), um juristische Gutachten zu erstellen. 1917 wird bei ihm die Diagnose Lungentuberkulose gestellt. 1922 wird Kafka vorzeitig pensioniert. Dazwischen liegen Kuraufenthalte und versuchte ärztliche Maßnahmen, um die Krankheit einzudämmen. Kafka stirbt 1924 an Kehlkopftuberkulose im Sanatorium und wird in Prag beerdigt. Sein Nachlass wird auf seinen persönlichen Wunsch hin von Max Brod verwaltet und von diesem auf abenteuerliche Weise durch die gefährliche Zeit des Nationalsozialismus gerettet.2

2. Wenden wir uns nun den zwei Beispielen der parabolischen Kurzprosa Kafkas zu, die ich für den heutigen Anlass ausgewählt habe. Als methodische Vorgehensweise habe ich mich für eine dreischrittige Texterschliessung entschieden: Der Text wird vorgelesen, kurz beschrieben, sprachliche Bilder werden erwähnt und zum Teil gedeutet, die Grundaussage des Textes angesprochen. Am Ende wird der Text kurz bewertet, be-urteilt im Sinne der Relevanz für den Leser, auch im Hinblick auf den jungen Leser. Wir bewegen uns stets im hermeneutischen Dreieck in der Beziehung Autor, Text und Leser. 2 Dietz, Ludwig: Kafka, Franz; in: Deutschsprachige Autoren. 100 Portraits, Stuttgart und Weimar 2004, 133 – 136.

Dem Leben einen Spiegel vorhalten

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Ich möchte dazu noch anmerken, dass sich die Wahrheit eines Textes – und gerade eines parabolischen Kafkatextes – immer erst aus einer Fülle von Interpretationsansätzen ergibt und das auch immer nur annähernd. Auch möchte ich noch kurz darauf hinweisen, was das Spezifikum einer parabolischen Kurzprosa gerade auch im Sinne Kafkas ausmacht. Dies kann natürlich aus Zeitgründen nur skizzenhaft geschehen. Die Parabel … ist ein zu einer kurzen Erzählung gestalteter Prosatext, der eine allgemeine Erkenntnis, Wahrheit oder Handlungsempfehlung zum Ausdruck bringen möchte. Die Parabel (paraballein: nebeneinander stellen) ist somit eine epische Kleinform. Sie erzählt eine Geschichte in knapper zugespitzter Form, in deren Zentrum ein Ereignis in einem menschlichen Leben steht. Dabei weist sie über diese Geschichte auf einen anderen Vorstellungsbereich, eine andere Bedeutung hin. Die beiden Vorstellungsbereiche – der sogenannte Bildteil und der sogenannte Sachteil – sind nicht in allen Einzelheiten, aber mindestens in einem Vergleichspunkt miteinander verknüpft, ohne dass der Vergleich explizit formuliert wird. Der Leser bzw. der » Exeget« dieser Parabel sollte das gewisse Tertium comparationis finden, damit er die Parabel ansatzweise zu deuten vermag.

2.1 Ich beginne nun mit dem ersten parabolischen Kurzprosatext von Franz Kafka: Ein Kommentar Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich dass schon viel später war als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: »Von mir willst Du den Weg erfahren? » »Ja«, sagte ich, »da ich ihn selbst nicht finden kann.« »Gib’s auf, gib’s auf«, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.

Dieser Text ist wohl von Kafka im Jahre 1922 als »Niederschrift im sogenannten ›Ehepaar‹-Heft, vermutlich zwischen Mitte November und Mitte Dezember« verfasst worden.3 Er selbst gab der Kurzprosa den Titel »Ein Kommentar«. Max Brod hingegen, der den Text Jahre nach Kafkas Tod veröffentlichte, versah ihn mit der Überschrift »Gibs auf« und betonte somit die Bedeutung eines Imperativs für den Leser. Der erste Eindruck des Textes ist die Verunsicherung des Protagonisten über mehrere Dinge: der Uhrenvergleich der subjektiven Zeit mit 3 Hermes, Roger : Überlieferungs- und entstehungsgeschichtliche Anmerkungen zu den einzelnen Texten; in: Kafka, Erzählungen, 573.

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Silke Reiser-Deggelmann

der objektiven Zeit, das Suchen des Weges und die Erscheinung des Schutzmanns, der Kraft seines Amtes schützen und bewahren sollte und doch so hämisch abweisend agiert. Der einfache Satzbau der Parabel fällt sofort auf, die stakkatoartige Reihung der Sätze. Kafka schreibt eine schnörkellose Prosa, er ist ein Meister der offenen Form, in dem er dem Leser mehr Informationen vorenthält als er ihm Informationen zur Verfügung stellt. Zeit, Ort und Handlung werden vorgegeben, dennoch erfahren wir nichts Genaues, und das ist intendiert. Die Bildebene mit ihrer bruchstückhaften Information lässt dem Leser dann auch mehrere Deutungsmöglichkeiten offen, die teilweise – wie begehbare Türen- ins Innere des Textes führen können. Der Schutzmann mit seiner Persönlichkeit erinnert an eine Textpassage Kafkas aus dem »Brief an den Vater«. Kafka schreibt: »Du dagegen ein wirklicher Kafka an Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer, Geistesgegenwart, Menschenkenntnis, einer gewissen Großzügigkeit, natürlich auch mit allen zu diesen Vorzügen gehörigen Fehlern und Schwächen, in welche Dich Dein Temperament und manchmal Dein Jähzorn hineinhetzen.«4

Die Grundaussage der Verunsicherung des Protagonisten führt uns zu einigen möglichen Deutungen, von denen ich hier zwei ansprechen möchte. Als erstes sei die biographische Deutung erwähnt. Gerade das Jahr 1922 entspricht dem Lebensjahr Kafkas, in dem er wochenlang von existentiellen Ängsten und Nöten geplagt wurde und dies auch im Freundeskreis immer wieder erwähnte. Wochenlang schläft er kaum oder gar nicht, familiäre Vorgaben des Vaters (Ehe, Existenzgründung, Kinder) lassen sich mit den individuellen Wünschen Kafkas kaum in Einklang bringen. Kafka leidet unter dem »übergroßen« Vater und dessen Erwartungshaltung. Er plant eine Auswanderung nach Palästina: »Die Quintessenz der gescheiterten Palästinapläne nimmt das parabelartige Prosastück Ein Kommentar vorweg.(…) In der düsteren Formel ›Gibs auf‹ offenbart sich der Angsttraum des Zurückgelassenen, für den Palästina nicht nur das gelobte, sondern auch das unerreichbare Land bleiben wird.«5 Des Weiteren könnte hier eine philosophisch-religiöse Deutung möglich sein: Der Mensch ist existentiell in die Welt geworfen und kann keine oder wenig Hilfe von Gott erwarten oder erhalten. Gott ist wenig hilfsbereit oder vielleicht gar nicht existent. Der nach Orientierung Fragende und Suchende ist auf sich selbst zurückgeworfen und muss sich selbstständig organisieren. Konkret heißt das: 4 Kafka, Franz: Brief an den Vater, 7. 5 Alt, Peter-Andr¦: Franz Kafka. Der ewige Sohn, 638.

Dem Leben einen Spiegel vorhalten

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Das Beurteilen eines anderen Menschen bzw. einer anderen Instanz deiner eigenen Situation, bedeutet, dass du selbst deinen Weg suchen musst, da dir kein anderer helfen kann, diesen Weg zu finden. Dieses Beurteilen deiner Situation durch einen anderen Menschen – wer immer dieser auch sei- führt letztendlich zu deinem eigenen selbstständigen Handeln und somit zur Entwicklung deiner Identität. Wer eine Wegbeschreibung durch andere braucht, kann für das eigene Leben nur die Antwort erhalten: »Gibs auf.«

2.2 Ich komme jetzt zum zweiten parabolischen Kurzprosatext von Franz Kafka: Der Aufbruch Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: »Wohin reitest Du, Herr?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.« »Du kennst also Dein Ziel?« fragte er. »Ja«, antwortete ich, »ich sagte es doch, ›Weg-von-hier‹, das ist mein Ziel.« »Du hast keinen Essvorrat mit«, sagte er. »Ich brauche keinen«, sagte ich, »die Reise ist so lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Essvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheuere Reise.«6

Der Text ist wohl 1921 von Kafka verfasst worden. Man nimmt an, dass er als Vorlage eine ostjüdische Erzählung benutzt hat. Max Brod gibt diesem Text den oben aufgeführten Titel »Der Aufbruch.« Kafka schreibt die Kurzprosa in sein »›Hungerkünstler‹-Heft.«7 Der Protagonist des Textes möchte seine Heimat mit ungewissem Ziel verlassen. Es wird dem Leser eine simple Handlung geschildert. Der Dialog zwischen Diener und Herrn zeichnet sich durch Freundlichkeit, aber auch durch Verständnislosigkeit im Sinne des Nicht-Verstehens bzw. des NichtHörens aus. Es scheint so, als ob der Diener und der Herr zwei verschiedenen Sphären angehören. Am Tor wird deutlich, dass diese Welten nicht kompatibel sind. Der Aufbrechende spricht zuversichtlich vom großen Aufbruch in ein neues Leben, in eine neue Lebensstation oder in eine andere Sphäre. Genau ist das nicht zu sagen, da Kafka auch hier die Kunst des Verschweigens beherrscht und Lücken im Text für den Leser lässt. Die Trompete, die als Signal nur vom Herrn gehört wird, zeigt die Aufbruchsbereitschaft und dass der Aufbrechende 6 Kafka, Franz: Der Aufbruch; in: ders.: Erzählungen, 384. 7 Hermes, Roger : Überlieferungs- und entstehungsgeschichtliche Anmerkungen zu den einzelnen Texten; in: Kafka, Franz: Erzählungen, 571.

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diesen Ruf zur Kenntnis nimmt und ihm folgen wird. Die Reise wird durch immense Mühen charakterisiert, die auf sich zu nehmen sich der Aufbrechende jedoch nicht scheut. Symbolisch zu deuten wäre die geplante Reise als neue Lebensstation oder andere Lebensweise oder als Änderung einer festgefahrenen Lebenssituation. Der plötzliche Aufbruch ist oftmals ein Motiv bzw. ein Topos in der Prosa Kafkas. Das, was bisher als ›Nahrung‹ gut war, ist nicht mehr nützlich. Ein neuer Lebensinhalt wird den Aufbrechenden satt machen oder er wird verhungern. Auch innerlich. Ganz im Sinne des Jesus-Wortes: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein!« Die Grundaussage der Parabel lautet: Steig aus, brich aus, mach etwas Neues, wenn es dir deine innere Stimme sagt! Der Aufbrechende wagt sich vor in ein neues Leben, einen neuen Lebensabschnitt, vielleicht bedeutet das auch das Beschreiten eines schmerzlichen Weges. Didaktisch etwas verkürzt bedeutet das meiner Meinung nach, dass solche parabolische Kurzprosatexte bei jungen Menschen eine Selbstreflexion auslösen können, die Ihnen dann – wenigstens partiell – einen Spiegel vorhalten kann, damit sie sehen, wo genau sie ihr Leben in die Hand nehmen müssen und auch können, um ihrer eigenen Identität bzw. ihrem Glück näher zu kommen.

Erster Teil: Räume des Urteilens in der Reflexion

Katja Boehme

Unterscheidung der Geister. Impulse für eine Kriteriologie ethischer Urteilsbildung

Im Juli 2014 gab ein Interview des scheidenden Ratspräsidenten Nikolaus Schneider und seiner Frau Anne Anlass zu heftigen Diskussionen.1 Während der Grund seines Ausscheidens, die Krebserkrankung seiner Frau, ihm vielfache Anerkennung zutrug, hatte seine Aussage, dass er aus Liebe zu seiner Frau, auch wenn dies nicht seiner eigenen persönlichen Meinung entspreche, diese in die Schweiz begleiten würde, wenn sie ihrem Wunsch nach assistiertem Suizid umsetzen wolle,2 kontroverse Reaktionen hervorgerufen. Die Begründung solchen Handelns, wie sie der Argumentation von Anne Schneider abzulesen ist, bietet für die Situationsethik, wie sie der Heidelberger Systematiker Heinz Eduard Tödt (1918 – 1991) am Anfang seiner Überlegungen seiner bekannten »Theorie ethischer Urteilsfindung« kritisch aufnimmt, ein aktuelles und anschauliches Beispiel. Sein »Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung«, wie der 1977 erstmals veröffentlichte Beitrag in seiner 1979 überarbeiteten Vortragsfassung heißt,3 wurde in der evangelischen Systematik vielfach rezipiert4 und noch heute von namhaften evangelischen Theo-

1 Das Interview ist in der ZEIT Nr. 30 vom 17. 7. 2014, 51 f. erschienen. 2 »Für Anne würde ich auch etwas gegen meine Überzeugung tun. Aber ich würde alles versuchen, Anne für einen anderen Weg zu gewinnen… (Anne Schneider lächelt).« Zitiert nach F.A.Z. vom 24. 7. 2014, S. 9. Zum assistieren Suizid vgl. den Beitrag von Hartmut Rupp in diesem Band. 3 Anlass zu der 1979 erneuten Fassung war die Debatte um den Einsatz der Kernenergie der 70ger Jahre gewesen. (Vgl. Mathwig, Frank, Konfliktfall Bibel – Wie kommt die Bibel in die ethische Praxis?, in: Hofheinz, Marco/Mathwig, Frank/Zeindler, Matthias [Hg.], Wie kommt die Bibel in die Ethik?: Beiträge zu einer Grundfrage theologischer Ethik, Zürich 2011, 285 – 322, 313.) Diese veränderte Vortragsfassung erschien jedoch erst 1988 unter dem Titel: »Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung« in: Tödt, Heinz E., Perspektiven theologischer Ethik, München 1988. Zu den beiden Fassungen des Schemas vgl. die mit dem Ökumenepreis der Universität Regensburg ausgezeichnete Dissertation von Schuhmacher, Wolfgang, Theologische Ethik als Verantwortungsethik. Leben und Werk Heinz Eduard Tödts in ökumenischer Perspektive. (Öffentliche Theologie 20), Gütersloh 2006, 323 und 327 – 336. 4 So z. B. von Diez Lange, Michael Wermke, Alexander Heck, Marco Hofheinz, Bernd Schröder

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logen als erste und – trotz nicht ausgebliebener Kritik – bisher konkurrenzlose Kriteriologie ethischer Urteilsbildung bezeichnet.5

1.

Urteilsfindung nach Heinz Eduard Tödt

In der hier zugrunde gelegten ersten Fassung seines Schemas zur Urteilsfindung kritisiert Tödt gleich zu Beginn seiner Ausführungen Vertreter der Situationsethik wie Rudolf Bultmann (der bekanntlich seine Ethik unter bewusstem Ausschluss des Normenproblems entwickelt hatte)6 und zitiert zudem paradigmatisch aus dem 1967 erschienenen Werk »Moral ohne Normen« des Philosophen Joseph Fletcher, der davon ausging, dass sich »christliche Situationsethik […] das Gesetz von einem festgefügten Vorschriftenkatalog auf den ausschließlichen Kanon der Liebe«7 zurückführen lasse. Dass mit einer solchen Abwehr einer Normenethik durch Bultmann bzw. Fletcher reformatorische Apologie tangiert ist, deckt Tödt scharfsinnig auf und erklärt die Situationsethik als eine Reaktion auf ein »meist katholisches Naturrechtsdenken und katholische Kasuistik als ein Denken, das an eine verselbstständigte Normenwelt gebunden ist.«8 Dass Tödt letztlich konfessorisch argumentierend vernunftgeleitete Selbstbestimmung gegen entmündigende normative Sittlichkeit kontrastiert, wird hiermit deutlich. Wie aktuell Tödts prägnante Analyse jedoch nach wie vor ist, wurde von niemand Geringerem als Papst Benedikt XVI. bestätigt, der auf seiner Pastoralreise 2011 in seiner Predigt auf dem reformatorischen Boden des Erfurter Augustinereremitenklosters betonte, dass die dringendsten ökumenischen Fragen nicht vordringlich in der Systematik, sondern im Bereich der Ethik aufgearbeitet werden müssten.9 Und wie sehr Papst Benedikt XVI. mit seiner damaligen Einschätzung auch heute noch recht zu geben ist, bestätigt nicht zuletzt das erwähnte Interview mit Ratspräsidenten Nikolaus Schneider, mit

5 6

7 8 9

u. a.; zur kritischen Würdigung des Ansatzes von H.E. Tödt aus der Sicht katholischer Moraltheologen vgl. W. Schuhmacher, Theologische Ethik, 443. Vgl. Schröder, Bernd (Hg.), Religionsunterricht – wohin? Modelle seiner Organisation und didaktischen Struktur. Neukirchen-Vluyn 2014, 187. Vgl. Tödt, Heinz E., Versuch zu einer Theorie ethischer Urteilsfindung, in: ZEE 21 (1977) 81 – 93, hier: 81 »Seine [Bultmanns] Interpretation des Lebensvollzugs, die vom vor-gläubigen wie vom glaubenden Selbstverständnis des Menschen ausgeht, lässt Normen nur jenseits des Kernbereichs personaler Beziehungen zu, und dort gelten sie als theologisch irrelevant.« Zitiert nach Ebd. Ebd. Vgl. Deutsche Bischofskonferenz, Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg, 22.–25. September 2011. Predigten, Ansprachen und Grußworte (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 189), Bonn 2011.

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dem zusammen in Erfurt Benedikt XVI. Seite an Seite einen ökumenischen Gottesdienst gefeiert hatte. Tödt lehnt in seiner Verantwortungsethik nun Normen nicht grundsätzlich ab, sondern nur hinsichtlich ihrer Möglichkeit, »zu relativ eigenständigen, situations- und Zeit überdauernden Gebilden zu werden,«10 die dann als vorgängiges Sittengesetz evangelischen Theologen als gesetzlich erscheinen. Daher bevorzugt Tödt »ein Ethos, in welchem sich bestimmte Normen mit geschichtlichen Erfahrungen verbunden haben bzw. gar aus diesen hervorgehen.« Genau an diesen geschichtlichen Erfahrungen setzt er an und fragt, »welche Rolle der Umgang mit Normen in dem konkreten Prozess der ethischen Urteilsfindung spielt.«11 Dazu hat er idealtypisch ein Schema von sechs Schritten zur ethischen Urteilsfindung entworfen, das er mehrfach überarbeitete, so dass in drei Varianten zwei publizierte unterschiedliche Fassungen existieren.12 In seiner – für die folgenden Ausführungen grundgelegten – ersten Fassung setzt er im Vorfeld der eigentlichen Schritte der Entscheidungsfindung 1. die Problemfeststellung an, die von Aspekten ausgeht, die heutzutage auch im Mediationsverfahren angewandt werden.13 Die im 2. Schritt genannte Situationsanalyse betrifft sowohl die Einbeziehung des »realen Kontextes«, als auch die kritische Sicht auf die »inneren Probleme« der Beteiligten und die Verflochtenheit beider genannten Ebenen, für die Tödt ein Situationsschema anzulegen empfiehlt. In einem 3. Schritt werden Verhaltensalternativen auf ihre Konsequenzen hin überprüft. Ihre Beurteilung muss sich an der »Kontrollfunktion des Gewissens« und der »Frage nach der Identität oder Integrität des oder der Handelnden« messen lassen können. »Dabei kommen Normen ins Spiel.«14 Es folgt deswegen im 4. Schritt die Normenprüfung: Hierzu werden Normen her10 Ebenso wie für das folgende Zitate: H. E. Tödt, Versuch zu einer Theorie, 82. 11 Ebd. Tödt bedient sich der Definition von Heinrich Popitz bzw. Max Weber, der »soziale Normen definiert als (1) allgemeine Regel menschlichen Verhaltens, (2) die in einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe in Geltung sind und (3) die Chance haben, Zustimmung und Gehorsam zu finden (Max Weber).« 12 Vgl. Anmerkung 3. Hier wird die 1. Fassung zu Grunde gelegt, weil sich diese für den nun folgenden Vergleich mit den »Regeln der Unterscheidung der Geister« von Ignatius von Loyola besonders gut eignet. 13 Im Allgemeinen lässt sich festhalten, dass in einem Mediationsverfahren auf den ersten Schritt der 1. Arbeitsvereinbarung 2. die Themenfestlegung folgt, sodann 3. die Feststellung der Interessen und Bedürfnissen hinter den Positionen, 4. das Herausarbeiten von Lösungsoptionen, und in der Regel 5. die Verständigung auf eine Lösungsoption, die man auf Umsetzungsmöglichkeiten hin überprüft. 6. Hinsichtlich dieser gefundenen Lösung werden Vereinbarungen getroffen, die das jeweilige Ergebnis festhalten. 14 Zu den sechs Schritten seines Urteilschemas in der ersten Fassung vgl. H. E. Tödt, Versuch einer Theorie, 83; sowie in der letzten Fassung vgl. H. E. Tödt, Perspektiven theologischer Ethik, 53.

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angezogen, die den Anspruch erfüllen müssen, »in sittlich vertretbarer Weise« eine Situation mit einer Handlung (Verhaltensweise) verknüpfen zu können.15 Kriterium für ›Sittliche Normen‹ ist die Integrität der Handelnden, womit er den Normbegriff mit dem Aspekt der Subjektivität verknüpft. Der 5. Schritt, der Urteilsentscheid kommt zustande, in dem die vorhergehenden Schritte als drei Kriterien miteinander in Bezug gesetzt werden, und hierin liegt die eigentliche Leistung des Tödtschen Modells: Aus den drei Kriterien der Situation (die er gegen eine deduktive Ethik setzt), des Gewissens (gegen einen Dezisionismus Bultmannscher Couleur) und der einschlägigen Normen (gegen situative Ethik) erfolgt als einem synthetischen Akt das Resultat, das »Urteil(sergebnis)«, das eine selbstbestimmte Haltung und Handlung impliziert.16 Mit diesem fünften Schritt bezieht sich Tödt auf Immanuel Kant, der in seiner Theorie der Erfahrung aufgezeigt hat, »wie das empirische Anschauungsmaterial mittels der Verstandesbegriffe (Kategorien) und der Vernunftideen sowie der transzendentalen Einheit der reinen Apperzeption zur Synthesis gebracht wird.«17 In seiner letzten Fassung fügt Tödt vor dem Urteilsentscheid noch die Prüfung der sittlich-kommunikativen Verbindlichkeit der wählbaren Handlungsmöglichkeiten ein, womit Kants Universalisierbarkeitsmaxime um den Anspruch der gemeinschaftlichen Einsicht im Sinne der diskursiven Kommunikationsethik Karl Otto Apels ergänzt wird.18 Von Belang für die Urteilsfindung ist auch der letzte und 6. Schritt: »Die rückblickende Adäquanzkontrolle« beinhaltet die Bereitschaft, vor allem bei vorläufigen Urteilsentscheidungen weitere Faktoren aufzunehmen bzw. den Prozess der Urteilsfindung nochmals kritisch zu überdenken.19 Diese sechs Schritte bzw. Sachmomente des ethischen Urteils versteht Tödt

15 Ebd; vgl. ähnlich Demmer, Klaus, Urteil, in: Kasper, Walter/et al. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg im Breisgau, Basel, Wien 32006, 492: »Maximen und Normen suchen die Komplexität des Wirklichen aufzulösen. Konkrete Imperative treffen die einmalige Situation. Sittliche Urteilskraft verknüpft die Denkschritte, indem sie alle Handlungsalternativen auslotet.« Tödt definiert Norm sehr allgemein und ohne ethische Wertung: »eine Norm ist das, wodurch man im Urteil ein(e) Situation(-sschema) mit einer Handlung (Verhaltensweise) verknüpft.« H. E. Tödt, Versuch zu einer Theorie, 83. 16 Vgl. H. E. Tödt, Versuch zu einer Theorie, 83; vgl. Schröder, Bernd, Religionspädagogik, Tübingen 2012, 274 – 276. 17 H. E. Tödt, Versuch zu einer Theorie, 85. 18 Vgl. H. E. Tödt, Perspektiven theologischer Ethik, 76 f.; W. Schuhmacher, Theologische Ethik, 330 und 334. 19 Vgl. Ebd. 83. Dieser Schritt entfällt in den späteren Fassungen des Urteilsschemas. Eine Begründung für diese Änderung liefert Tödt nicht. Es liegt jedoch nahe, davon auszugehen, dass dieser Schritt letztlich in allen Stufen des Schemas berücksichtigt werden muss. Vgl. W. Schuhmacher, Theologische Ethik, 329.

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zugleich als »iterativen Prozess« und als »Schema ethischer Urteilsfindung«,20 das in dreifacher Hinsicht eingesetzt werden und als kommunikable Verständigungsbasis dienen kann: 1. Zur Strukturierung und Selbstprüfung eigener Entscheidungen 2. Für die Interaktion von Gruppen bei der Urteilsfindung 3. zur »kritischen Auseinandersetzung mit den Urteilen anderer.«21 In der Anwendung des Schemas ist es Tödt wichtig, dieses in der realen Lebenssphäre des alltäglichen Menschen anzusiedeln und eine Beeinflussung der vermeintlich eigenen Bedürfnisse und Interessen durch fremde Faktoren zu berücksichtigen. Daher betont er die Notwendigkeit, die Frage der Ethik »Was sollen wir tun?« keinesfalls von den weiteren Fragen der Ethik, »Wie können wir leben?« und »Wer sind wir, und was wollen wir werden?« zu trennen, weil nur so die individuelle Urteilsbildung in sozialer Verflochtenheit und Verantwortung geschehen kann. Folglich kommt er zum Schluss: »Gerade darum ist eine abstrakte Situationsethik, die von konkreten Normen absieht, nicht angebracht; denn soziale Normen vermitteln ja gerade zwischen Menschen, die meist nicht in rein personaler Beziehung zueinander stehen, sondern in Verhältnissen die durch den Bezug auf Sachen, oft auch durch den Streit um Sachen bedingt sind. Gerade im sozialen Konfliktfeld haben Normen ihre Funktionen.«22 Aus diesen Argumenten des Heidelberger Systematikers Tödt kann geschlossen werden, dass er bezüglich des eingangs erwähnten Beispiels zu einem anderen ethischen Urteil zur Frage der aktiven Sterbehilfe gekommen wäre, als Anne Schneider. Der Gewinn der Tödtschen Urteilsfindung liegt fraglos darin, »eine operationalisierbare und insofern überprüfbare Anleitung zur Urteilsfindung vorzulegen,«23 wie der Religionspädagoge Bernd Schröder unterstreicht. So sehr dieser nachhaltige Verdienst hervorzuheben ist, so sehr scheint es berechtigt, zur Diskussion zu stellen, ob sich Tödt nicht in einer Hinsicht irrt. Denn er schreibt: »Eine Theorie der Urteilsfindung aber scheint neu«24 und behauptet: »Eine Theorie solcher Urteilsfindung ist mir in der Ethik bisher nicht bekannt geworden.«25 Dabei ist ihm tatsächlich recht zu geben, dass unter dem Stichwort ›Urteilen‹ »uns die theologischen Lexika im Stich« lassen »und die philosophischen behandeln nur bestimmte ausgewählte Stränge aus der Logik, der Er20 Ebd. 85. Tödt setzt sein Schema von einem Problemlösungsverfahren mit der Begründung ab, dass ein solches denktechnische Modell für eine ethische Urteilsfindung zu einfach sei, »weil das urteilende Subjekt immer schon selbst involviert ist in das Sachproblem.« Ebd. 21 Ebd. 84. 22 Ebd. 86. 23 Schröder, Religionsunterricht, 2012, 187. 24 H. E. Tödt, Versuch zu einer Theorie, 86. 25 Ebd. 82. Ebenso Schröder : »Als solche ist seine Theorie bislang ohne Konkurrenz geblieben.« B. Schröder, Religionsunterricht – wohin, 187.

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kenntnislehre und Metaphysik, die mit dem ethischen, aber auch dem juristischen Urteil oder auch der Entscheidungsfindung […] wenig zu tun haben.«26 Seine berechtigte Kritik gilt auch für das ihm in der zweiten Auflage sicher bekannten katholischen Lexikon für Theologie und Kirche (1957 – 1968).27 Umso mehr ist es aber zu bedauern, dass Tödt die dritte Auflage des LThK (1993 – 2001)28 nicht mehr erlebt hat. Denn hätte er die Möglichkeit gehabt, hier unter dem Stichwort »Urteil« nachzuschlagen, wäre ihm der Hinweis auf die »Unterscheidung der Geister« mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht entgangen.29 Leider übersah der Heidelberger Ethiker Tödt mit seiner Einschätzung, dass die christliche Spiritualitätsgeschichte bereits auf eine lange Tradition von Kriteriologien ethischer Urteilsbildung – angefangen vom Alten Testament über die Gemeinde in Qumran, Paulus, Origines, Johannes Cassian, Jan Ruusbroec und vor allem Ignatius von Loyola – um nur einige zu nennen – zurückblickt.30 Zwar zitiert Tödt in seinem Beitrag zwar kurz 1 Kor 8 – 10,31 geht hier aber nicht auf die dort grundgelegte Kriteriologie ein. Dort heißt es bei Paulus »Ob ihr also esst oder trinkt oder etwas anderes tut: tut alles zur Verherrlichung Gottes! Gebt weder Jude noch Griechen, noch der Kirche Gottes Anlass zu einem Vorwurf! Auch ich suche allen in allem entgegenzukommen; ich suche nicht meinen Nutzen, sondern den Nutzen aller, damit sie gerettet werden. Nehmt mich zum Vorbild, wie ich Christus zum Vorbild nehme.« (1 Kor 10, 31 – 11,1) Die Entscheidungen für eine Urteilsfindung müssen sich dem Ersten Korintherbrief zufolge somit an theologischen, ekklesiologischen, anthropologischen und christologischen Kriterien messen lassen können, wie Paulus sie hier aufführt: 1. der Verherrlichung Gottes, 2. der Entsprechung mit der Kirche, 3. dem Nutzen für alle, 4. am Leitbild Christus. 26 H. E. Tödt, Versuch zu einer Theorie, 87. 27 Buchberger, Michael/Höfer, Josef/Rahner, Karl, Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg 2 1964. 28 Kasper, Walter et al., Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg im Breisgau, Basel, Wien 3 2006. 29 Vgl. K. Demmer, Urteil, 492. Es lässt sich nachweisen, dass Tödt durch seine Beschäftigung mit Barth die »Unterscheidung der Geister« bekannt war, jedoch offensichtlich nicht die »Regeln der Unterscheidung der Geister« des Ignatius von Loyola, die in der abendländischen Spiritualitätsgeschichte grundlegend geworden sind. Vgl. die Vorlesung Tödts aus dem Jahr 1973: »Karl Barths Ethik – als Dimension der Gotteslehre und als Handlungsorientierung aus dem Glauben«, in: Tödt, Heinz E., Theologie lernen und lehren mit Karl Barth. Briefe, Berichte, Vorlesungen zusammengestellt von Ilse Tödt (Entwürfe zur christlichen Gesellschaftswissenschaft Band 23), Berlin 2012, 139 – 170, 151. 30 Vgl. Mieth, Dietmar, Unterscheidung der Geister, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3 2006, 444; Schneider, Michael, »Unterscheidung der Geister«. Die ignatianischen Exerzitien in der Deutung von E. Przywara, K. Rahner und G. Fessard. (Innsbrucker theologische Studien 11), Innsbruck 21987. 31 H. E. Tödt, Versuch zu einer Theorie, 93.

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2.

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Urteilsfindung mit Ignatius von Loyola

Diese Kriterien bestimmen ebenso auch die »Regeln der Unterscheidung der Geister« des Ordensgründers Ignatius von Loyola. Diese Regeln legte er seinen Exerzitien zugrunde, die er »zwischen 1592 und 1535 langsam aus der mystischen Erfahrung (…) in Manresa, aus seinem Studium in Paris, aus der kirchlichen Situation seiner Zeit (Humanismus und Reformation) und seinen Erfahrungen als ›Exerzitienmeister‹«32 verfasste. Ignatius (1491 – 1556) stand, ebenso wie sein nur um acht Jahre älterer Zeitgenosse Martin Luther (1483 – 1546), am Beginn der Neuzeit, die sie beide auf ihre Weise jeweils maßgeblich prägten. Beide hatten ein einschneidendes geistliches Erlebnis, dass sie dazu veranlasste, ihre weltliche Laufbahn, die ihre jeweilige Familien ursprünglich für sie vorgesehen hatten, zu verlassen (Luther hatte bekannter Weise ein Jurastudium begonnen, Ignatius war entsprechend seines adligen Standes zum Ritter bestimmt gewesen.) Beide wurden daraufhin nicht nur Priester, sondern Ordensmänner. Die Spiritualität bzw. Theologie beider ist fraglos von ihrem jeweils ausgesprochen langen und intensiven Theologiestudium durchformt. Beide können als Wegbereiter der Subjektorientierung in der christlichen Religiosität bezeichnet werden, und beide wurden zu Opfern der katholischen Inquisition. Beide scharten eine Unzahl von Anhänger um sich.33 Beide haben mit Reformation und Gegenreformation, als deren Initiatoren sie jeweils bezeichnet werden können, Kirche und Christentum nachhaltig geprägt. Zweifellos hat aber mehr noch den adligen Spanier einerseits und den deutschen Bergmannssohn andererseits auch voneinander getrennt. Hier sei nur exemplarisch die für beide entscheidende Begebenheit ihrer Bekehrung genannt. Denn für Ignatius wurde der Prozess seiner Bekehrung grundlegend für die Entwicklung der »Regeln der Unterscheidung der Geister«, wie Ignatius’ Systematik ethischer Urteilsfindung seither lautet. Daher ist es naheliegend, sich dem biographischen Kontext des Ignatius’ zuzuwenden, weil die (Auto-)Biographie des spanischen Heiligen den Zugang zu seiner Lehre von der »Unterscheidung der Geister« erheblich vereinfacht.34 32 Rahner, Karl, Vorwort, in: Haas, Adolf (Hg.), Ignatius: Geistliche Übungen. mit einem Vorwort von Karl Rahner, Freiburg im Breisgau, Basel, Wien 91988, 9 – 10, 9. Die »Regeln der Unterscheidung der Geister« werden im Folgenden aus dieser Ausgabe zitiert. 33 Als Ignatius 1556 starb, zählte sein Orden bereits über 1.000 Mitglieder, heute sind es rund 17.000. 34 Vgl. die Autobiographie, die Ignatius unter dem Titel »Bericht des Pilgers« auf Drängen seiner engsten Mitbrüder verfasste. Im Folgenden wird sie zitiert nach der Ausgabe von Schneider, Burkhart (Hg.), Ignatius. Der Bericht des Pilgers. mit einem Vorwort von Karl Rahner, Freiburg im Breisgau 71991.

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Die militärische Laufbahn ließ Ignatius am Kriegsgeschehen Karls V. teilnehmen.35 1521 wurde ihm bei der Verteidigung von Pamplona durch eine Kanonenkugel ein Bein zertrümmert. Um seiner Laufbahn nicht zu schaden und um die Gunst der Damen des Hofes nicht zu verlieren,36 nimmt er nach der Heilung in Kauf, am schief zusammengewachsenen Bein ein herausstehendes Knochenstück absägen zu lassen. Die anschließende Genesungszeit verbringt er auf dem Schloss Loyola bei seiner frommen Schwägerin, die ihm nicht die gewohnte Auswahl von Ritterromanen, statt dessen jedoch die Vita Christi des Ludolph von Sachsen und die ›Flos Sanctorum‹, eine Heiligenlegende des Dominikaners Jacobus de Vor‚gine (1228 – 1298), zur Verfügung stellen konnte.37 An der Lektüre dieser Heiligenbiographien, insbesondere der von Dominikus und Franziskus, geht er nun seinen Gedankengängen nach und wird sich im Unterschied zur Lektüre von Ritterromanen der Nachhaltigkeit positiver Gedanken bewusst. Während die Spannung und Kurzweiligkeit der Gedanken an ritterliche Abenteuer eine schale Leere in ihm hinterlassen, fühlt sich Ignatius nach der Lektüre der Biographien von Dominikus und Franziskus mit positiven Gedanken beschäftigt. Er beschreibt das in seiner Autobiographie, die er in der dritten Person verfasste, folgendermaßen: »Indessen gab es dabei diesen einen Unterschied: wenn er sich mit weltlichen Gedanken beschäftigte, hatte er zwar großen Gefallen daran; wenn er aber dann, müde geworden, davon ab ließ, fand er sich wie ausgetrocknet und missgestimmt. Wenn er jedoch daran dachte, barfuß nach Jerusalem zu gehen und nur noch wilde Kräuter zu essen und alle anderen Kasteiungen auf sich zu nehmen, die, wie er las, die Heiligen auf sich genommen hatten, da erfüllte ihn nicht Trost, solange er sich in solchen Gedanken erging, sondern er blieb zufrieden und froh, auch nachdem er von ihnen abgelassen hatte. Allerdings gab er darauf nicht acht, und er hielt nicht inne, um diesen Unterschied richtig einzuschätzen, bis ihm schließlich eines Tages die Augen darüber ein wenig aufgingen. So fing er endlich an, diese Verschiedenheit als merkwürdig zu empfinden und darüber nachzugrübeln. Aus seiner Erfahrung ergab sich ihm, dass er nach den einen Gedanken trübsinnig und nach den anderen froh bestimmt blieb; und allmählich kam er dazu, darin die Verschiedenheit der Geister zu erkennen, die dabei tätig waren, nämlich einmal der Geist des Teufels und das andere Mal der Geist Gottes. Dies 35 Der von seinen Eltern bestimmte Name lautete »Inigo«. Zu seiner Biographie vgl. im Folgenden u. a. Kiechle, Stefan, Ignatius von Loyola. Meister der Spiritualität; [Mystiker und Manager] (Herder-Spektrum Bd. 5879), Freiburg, Basel, Wien 32007. 36 Ignatius gesteht in seiner Autobiografie seine Verehrung für eine besonders hoch stehende Adlige, so dass man vermutet, es könnte die Infantin Catalina de Austria gewesen sein; vgl. ebd. 23. 37 Vgl. Schneider, Ignatius, 137 f, Anm. 7.

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war die erste Überlegung, die er über die Dinge Gottes anstellte. Und als er später die Exerzitien verfasste, begann er von hier aus Klarheit über die Lehre von der Verschiedenheit der Geister zu gewinnen.«38 Es sollte noch weitere Erfahrungen – man denke an seine Zeit in Manresa – benötigen und lange dauern, bis Ignatius diesen intrinsischen Unterscheidungsprozess von positiven und negativen Gedankenregungen (deren Anregung er, der Sprache und dem Denken der damaligen Zeit verhaftet, personifizierten Geistern zuschrieb) in eine Systematik brachte. Über mehrere Jahre, von 1522 bis1535, entstanden die Exerzitien, die als Anleitung in die Hand des Exerzitienmeisters für die Begleitung eines Exerzitanden auf einem vierwöchigen Weg der Entscheidungsfindung gedacht sind. Dabei waren die »Regeln der Unterscheidung der Geister« von Ignatius bereits von Beginn an nicht nur für Einzelpersonen angelegt, sondern sind – wie die von ihm 1540 verfassten Konstitutionen des Jesuitenordens belegen (die übrigens bis 1762 streng geheim gehalten wurden) – damals wie heute – auch ebenso für die Entscheidungsfindung von Gruppen anwendbar.39

3.

Ein vorsichtiger Vergleich

Auch Heinz Eduard Tödt hatte das Konzept seines Urteilsschemas für Entscheidungsprozesse nicht nur Einzelner, sondern auch Gruppen vorgesehen. Beginnt man somit, die beiden Schemata zur Urteilsfindung zu vergleichen, so werden Parallelen und Unterschiede zwischen beiden Entwürfen deutlich, die es – auch in Hinblick auf sich daran anschließende religionspädagogische Erwägungen – hier aufzuzeigen lohnt. Während Tödt sein Schema ethischer Urteilsbildung im Dreieck von Situation (bzw. Kontext), Gewissen und Normen lokalisiert, ist der Raum der Urteilsfindung der ignatianischen Exerzitien auf den inneren Entscheidungsprozess des Individuums bzw. der Gruppe konzentriert. Damit werden die »Regeln der Unterscheidung der Geister«, so sehr sie auch einerseits den Kontext des Exerzitanden in den Blick nehmen und andererseits die Beachtung der Normen voraussetzen, im Bereich des Intrasubjektiven angewandt. Daher kann Ignatius’ Ansatz als einer der ersten psychologischen Erkenntniswege der Neuzeit bezeichnet werden, während Tödt sich mit seinem Modell jeder Psychologie enthält. Da es Ignatius aber nicht – wie unten noch weiter aufzuzeigen sein wird – 38 Ebd. 45. 39 Vgl. Meures, Franz, Unterscheidung der Geister in den Satzungen de Gesellschaft Jesu, in: Geist und Leben 79 (4) (2006) 261 – 275; Switek, Günter, Geistliche Unterscheidung in Gemeinschaft. Möglichkeiten und Grenzen, in: Geist und Leben 50 (1977) 92 – 105.

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um die Unterscheidung von moralisch unterschiedlich zu bewertenden Gütern, sondern um an sich gleichwertige Güter (z. B. des Lebensstandes der Ehe oder des Ordens) geht, aus denen der Exerzitand das je ihm Gemäße zu wählen habe, kann das innere Aktionsfeld der Unterscheidung nur im Inneren des Menschen lokalisiert werden, darf aber letztlich nur bedingt mit dem gleichgesetzt werden, was Tödt mit dem Bedeutungsfeld des Gewissens benennt.40 Bevor jedoch im Einzelnen auf die Lehre von der Unterscheidung der Geister eingegangen werden soll, sei kurz etwas zu den beiden anderen für Tödt grundlegenden Komponenten, den Normen und der Situation (bzw. dem Kontext) gesagt, die durchaus auch bei Ignatius eine gewichtige Rolle einnehmen. Für Ignatius sind Normen selbstverständlich theonom vorgegeben, sie leiten sich ihm zufolge vom göttlichen Schöpfungswillen und der Erlösungsordnung ab und werden durch die Autorität der Kirche vermittelt. Diesen Normen zu entsprechen, ist für Ignatius nicht eine Frage der Normenanalyse oder gar einer Normenkritik, wie sie der Ethiker des 20. Jahrhunderts Tödt als vierten Schritt seiner ethischen Urteilsfindung anberaumt, sondern stellt bereits die Voraussetzung dafür dar, in die Lage versetzt zu sein, unterscheiden zu können, wes ›Geistes Kind‹ die inneren Regungen des Menschen sind. Ist das Verhältnis Ignatius zu Normen somit aus seiner Zeit heraus zu bewerten, erweist er sich darin, der Situation bzw. dem Kontext einen hohen Stellenwert in der Entscheidungsfindung zuschreiben, bereits als neuzeitlicher Denker.41 Um diesen beiden Faktoren, und zwar sowohl den (göttlich vorgegebenen) Normen, als auch der jeweiligen Situation in aller Freiheit, d. h. ohne inneren oder äußeren Zwang, entsprechen zu können, erwartet Ignatius vom Exerzitanden die Haltung der Indifferenz. Diese ist »Prinzip und Fundament« der geistlichen Übungen und zugleich Inhalt der ersten Woche (vgl. GÜ 23).42 Indifferenz ist keineswegs mit Gleichgültigkeit oder gar Desinteresse gleichzusetzen,43 sondern bezeichnet einen Habitus, den sich Ignatius zufolge jeder Christ als Grundhaltung aneignen sollte, weil sie die für eine unbeeinträchtigte 40 Erich Przywara macht in seiner Auslegung der Exerzitien darauf aufmerksam, dass die Uneindeutigkeit von Normen, die durch unterschiedliche Kontexte und durch die jeweilige Einmaligkeit der Person bedingt sein kann, verlangt, dass der Mensch in Verantwortung vor seinem Gewissen dem Anruf Gottes zu entsprechen versucht. Vgl. M. Schneider, Unterscheidung, 44. 41 Als anschauliches biographisches Beispiel lässt sich sein Entschluss anführen, seinen Plan, mit seinen ersten Gefährten nach Jerusalem zu fahren, oder sich direkt den Papst zu unterstellen, davon abhängig macht, ob ein Pilgerschiff in Venedig zu finden ist. Vgl. Ignatius, Bericht des Pilgers, 183. 42 Vgl. Haas, Adolf (Hg.), Ignatius. Geistliche Übungen. mit einem Vorwort von Karl Rahner, Freiburg im Breisgau, Basel, Wien 91988, 25 f. Nr. 23. Im Folgenden werden die Geistlichen Übungen nach der üblichen Nummerierung im Text zitiert. 43 Vgl. Keller, Albert, Vom guten Handeln. In Freiheit die Geister unterscheiden (Ignatianische Impulse 45), Würzburg 2010, 57.

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Beobachtung und Beurteilung eines Sachverhalts notwendige Distanz ermöglicht. Somit bezeichnet Indifferenz eine freie, weder von inneren psychischen Ängsten und Engführungen, noch von äußeren Abhängigkeiten beeinflusste Haltung, von der Entscheidungen und Handlungen geprägt sein sollen. Dabei geht Ignatius sogar so weit, mit der Indifferenz eine innere Freiheit anzustreben, die bedeutet, »Gesundheit nicht mehr [zu] verlangen als Krankheit, Reichtum nicht mehr als Armut, Ehre nicht mehr als Schmach, langes Leben nicht mehr als kurzes (GÜ 23).« In dieser inneren Freiheit gegenüber der eigenen Vitalität (Gesundheit-Krankheit), der materiellen Ausstattung (Reichtum – Armut), des Grades der Anerkennung (Ehre – Schmach), ja der eigenen Existenz (langes – kurzes Leben) ist die Haltung einer so genannten »engagierten Gelassenheit« grundgelegt, die Voraussetzung dafür ist, die inneren Regungen wahrzunehmen und zu beurteilen, um einzig das zu »ersehnen und [zu] erwählen, was uns mehr zum Ziele hinführt, auf das hin wir geschaffen sind.« (GÜ 23)44 Dass innerhalb dieses Suchfeldes die inneren Regungen jedoch auch von Trieben, Interessen, Ängsten, Neigungen und Gewohnheiten beeinflusst sind, die auf eine ihnen entsprechende Erfüllung ausgerichtet sind, ist Ignatius dennoch bewusst.45 Doch im Unterschied zum »Versuch einer Theorie ethischer Urteilsfindung« des Ethikers Tödt, der die Interessen und Bedürfnisse des Subjekts in allen Schritten seiner sittlichen Urteilsfindung berücksichtigt,46 sind Ignatius zufolge zuerst die Interessen und Bedürfnisse des einzelnen zu läutern, damit die von solchen Irritationen befreiten inneren Regungen als Kriterien der Entscheidungsfindung herangezogen werden können. Denn es ist dem spanischen Seelenführer bewusst, dass nur derjenige, der sich – so weit wie irgend möglich – nicht von seinen Begierden und Interessen leiten lässt, nicht aus ungeordneten Motiven handelt oder intrinsischen oder extrinsischen Beeinflussungen ausgesetzt ist,47 überhaupt eine freie Entscheidung treffen kann.48 Ignatius fordert damit einen größtmöglichen Realismus, die eigenen Grenzen zu erkennen und sich – zwar nicht von seinen Anlagen (was gar nicht möglich wäre, insofern erweist sich Ignatius auch hier als Realist (vgl. GÜ 18)49 – sondern 44 Vgl. Schneider, Unterscheidung, 50. 45 A. Keller, Vom guten Handeln, 55. 46 »Es ist schon bei der Feststellung des Problems, dann bei der Analyse der Situation, bei den Verhaltensalternativen und den Normen zu berücksichtigen.« H. E. Tödt, Versuch zu einer Theorie, 86. 47 Vgl. S. Kiechle, Ignatius von Loyola, 133. 48 Im Vergleich zu Tödt ist Ignatius zufolge der erste Schritt einer Urteilsfindung nicht die Problemfeststellung im Sinne der Klärung der Bedürfnisse und Interessen, sondern die Klärung der Bedürfnisse und Interessen im Sinne einer Läuterung von ungeordneten Neigungen. 49 Vgl. aus der Achtzehnten Anweisung, die Ignatius jeweils den Exerzitien voranstellte: »Die vorliegenden Übungen haben sich den eigentümlichen Voraussetzungen (disposiciûn) derer

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von seinen Ungeordnetheiten und seinen Abhängigkeiten zu befreien, weswegen er für die erste Woche methodische Schritte für »die allgemeine Erforschung des Gewissens, um sich zu reinigen und besser zu beichten,« (GÜ 32) sowie eine Generalbeichte vorsieht (vgl. GÜ 44).50 Dem Sprachphilosophen und Jesuiten Albert Keller SJ zufolge sind diese Voraussetzungen, um die »Regeln der Unterscheidung der Geister« an den inneren Regungen anwenden zu können, in konzentrischen Kreisen angelegt.51 Denn das Ziel, die inneren Seelenregungen beobachten und aus ihnen den je für den Einzelnen individuell zugeschnittenen Willen Gottes erkennen zu können, kann erst dann erreicht werden, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: Zunächst muss geprüft werden, ob die zu vollziehende Wahl der Vernunft entspricht, die als innere Stimme des Gewissens wahrgenommen wird.52 »Dieser äußerste Kreis bestimmt also den zweiten nach innen und dieser den dritten und sofort, insofern die allgemeineren Normen den Rahmen abstecken, innerhalb dessen die jeweils spezielleren sich entfalten dürfen. Sie können indes von diesem Rahmen hier auch kritisiert werden, und die Vernunft behält als Grenzpächterin der äußersten Normen eine Rolle, aus der sie durch nichts vertrieben werden kann.«53 Was der allgemeinmenschlichen Vernunft und ihrem Sittengesetz entgegensteht, darf folglich nicht gewählt werden. Sodann muss – als zweiter der konzentrischen Kreise – geprüft werden, ob die Wahl dem allgemein christlichen Glauben entspricht, ob sie drittens der Kirche dienlich ist54 und viertens mit dem Gehorsam gegenüber der bisher getroffenen Lebensentscheidung vereinbar ist (vgl. GÜ 172).55

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anzupassen, die sich ihnen unterziehen wollen, nämlich ihrem Alter, ihrer Bildung oder ihrer geistigen Fassungskraft.« GÜ 18. Vgl. Ebd. 33 Nr. 44 Eine solche Situationsanalyse zielt Ignatius zufolge auf das Erreichen der Haltung der Indifferenz gegenüber dem, was Tödt den ›realen Kontext‹ nennt, sowie die innerseelischen Vorgänge zu beobachten, welche von Tödt als ›innere Probleme‹ bezeichnet werden. Vgl. dazu den zweiten Schritt im Tödtschen Urteilsschema H. E. Tödt, Versuch zu einer Theorie, 83. Die folgenden Ausführungen folgen dem Strukturvorschlag der konzentrischen Kreise von Albert Keller einschließlich der Voranstellung der Vernunft, vgl. A. Keller, Vom guten Handeln, 72 ff. Vgl. aus der ersten Regel: »Der gute Geist verfährt bei solchen Personen auf die entgegengesetzte Weise, indem er sie anstachelt und ihnen mit Gewissensbissen zusetzt durch die innere Stimme (sind¦rese) der Vernunft.« GÜ 314. A. Keller, Vom guten Handeln, 72. Zum Folgenden vgl. ebd. Vgl. den ersten Punkt »zur Erkenntnis über die Gegenstände der Wahl«: »Es ist notwendig, dass alle Dinge, über die wir eine Wahl anstellen wollen, in sich indifferent oder gut sind und dass sie innerhalb der heiligen Mutter, der hierarchischen Kirche, dienlich sind und nicht schlecht oder ihr widerstreitend.« GÜ 170. Vgl. den dritten Punkt »zur Erkenntnis über die Gegenstände der Wahl«: »in der unabänderlichen Wahl, die bereits einmal als Wahl vollzogen wurde, kann nichts weiter mehr

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Erst auf der Grundlage dieser Voraussetzungen können Ignatius zufolge nun die Kriterien angewandt werden, welche die eigentlichen »Regeln der Unterscheidung der Geister« (vgl. GÜ 313 – 336) beschreiben. Denn die konzentrischen Kreise der Vernunft, des Glaubens, der Kirchlichkeit und des Gehorsams geben nur den Rahmen vor, in dessen Zentrum nun die Seelenregungen des Einzelnen in Hinblick auf den für ihn je individuellen Willen Gottes beobachtet und beurteilet werden können. Zu diesem Mittelpunkt der Exerzitien kann somit erst durch die Erfüllung von äußeren Kriterien vorgedrungen werden, die – ähnlich wie bei Paulus (vgl. 1 Kor 10,31 – 11,1) – anthropologisch (Vernunft), theologisch (Glaube), ekklesiologisch (Kirche) und christologisch (Gehorsam) bestimmt sind. Weil sich somit erst im Innenraum dieser konzentrischen Kreise die eigentliche »Unterscheidung der Geister« vollzieht, beziehen sich die Exerzitien mit Beginn der zweiten Woche nicht mehr auf ethische Urteile. Denn sittliche Urteile über Gut und Böse haben nach diesem Schema bereits spätestens nach der ersten Woche die Überprüfung der Wahl durch die Vernunft, sowie die Übereinstimmung der Wahl mit dem christlichen Glauben und den Vorgaben der Kirche sowie das Kriterium des Gehorsams (als Verähnlichung mit Christus)56 bereits passiert. Im Innersten der konzentrischen Kreise geht es Ignatius nun um die Erkenntnis des Willen Gottes für den Einzelnen. Hier lässt sich der Wille Gottes, der sich für jeden individuell zeigt, nicht mehr normativ ableiten oder autoritativ bestimmen oder einfachhin aus einem Schriftwort erschließen, weil es in den Exerzitien letztlich nicht um sittliche Urteile, sondern um Wahlmöglichkeiten zwischen an und für sich guten und gleichwertigen Alternativen geht. Exerzitien werden auch heute noch im Rahmen solcher persönlichen Entscheidungsprozesse praktiziert und genießen – und dies nicht nur in katholischen Kreisen – in den letzten Jahrzehnten wieder einen großen Zulauf. Hier geht es (jedoch meist in einer kürzeren Zeitspanne von 5 – 10 Tagen) z. B. um die »Wahl des Studienfachs, des Berufs, der Arbeitsstelle; Entscheidung für oder gegen diesen Partner oder diese Partnerin; Entscheidung, ob überhaupt Partnerschaft oder doch lieber allein; Entscheidung, wo man lebt und wie man seine Freizeit gestaltet; Wahl dieser oder jener Bindung, vielleicht eines sozialen oder politischen oder religiösen Engagements; Entscheidung auch, ob man sich jetzt entscheiden soll oder doch lieber später ; schließlich Entscheidung in den vielen kleinen Dingen des Alltags, die dennoch das Leben betreffen und es bilden und

erwählt werden, da sie nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, wie z. B. bei der Ehe, beim Priestertum usw.« GÜ 172. 56 Vgl. Kiechle, Stefan, Sich entscheiden, (Ignatianische Impulse), Würzburg 62014, 76.

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gestalten.«57 Exerzitien sind auch dazu geeignet, eine bereits getroffene Entscheidung für eine Lebensform auf zukünftige Tragfähigkeit hin zu vertiefen.58 Dieser je individuelle Wille Gottes für den Einzelnen kann Ignatius durch das genaue Beobachten der »verschiedenen Bewegungen […], die in der Seele verursacht werden« (GÜ 313), erkannt werden, nachdem sie anhand der »Regeln der Unterscheidung der Geister« für die eigene Entwicklung und Authentizität des Exerzitanden als verstärkend oder behindernd identifiziert wurden. Karl Rahner betont, dass dieser »Ruf zur Nachfolge nicht eine von außen an ihn herangetragene Forderung oder ein Gesetz beinhaltet«,59 auch »nicht etwas total Fremdes und Anderes sein [wird], das nicht irgendwie auch zu ihm ›passt‹«60 sondern stets der »Ruf ins Eigene«61 ist. Die eigene Authentizität als Übereinstimmung mit sich selbst und damit – christlich gesprochen – mit dem Willen Gottes zu finden, so einmalig wie er für jede individuelle Person ist, ist der Weg der Exerzitien.62 Eben für diese entwickelte Ignatius die »Regeln der Unterscheidung der Geister«, die er aus der psychologischen Selbstbeobachtung innerer Gedankenbewegungen und -regungen erschlossen und in zwei Gruppen zusammengestellt hat, welche er vor allem der ersten, sowie der zweiten Woche der Exerzitien zuordnet. Für die erste Woche benennt er »Regeln, um auf irgendeiner Weise die verschiedenen Bewegungen zu verspüren und zu erkennen, die in der Seele verursacht werden: die Guten, um sie aufzunehmen, die schlechten um sie zu verwerfen« (GÜ 313). Die inneren Regungen unterscheiden zu lernen sowie in ihrer Ambivalenz wahrzunehmen, ist Aufgabe der ersten Woche. Der ersten Regel zufolge kann eine innere Unruhe zwei unterschiedliche Ursachen haben: Unruhe kann ein Aufruf zur Veränderung der bisherigen Gewohnheiten sein, in dem der Mensch, angeregt durch das Gewissen und die Argumentationen der Vernunft, eine Unruhe zur Änderung verspürt (vgl. GÜ 314). Unruhe kann aber auch – um es mit den Worten Ignatius zu sagen, der die Impulsgebungen der inneren Regungen personifiziert – »dem bösen Geist eigen [ist], Gewissensangst zu erregen (morder), traurig zustimmen und Hindernisse zu liegen, indem er mit falschen Gründen beunruhigt, damit man nicht weiter voranschreiten. Und dem guten Geist ist es eigen, Mut und Kraft, Tröstungen, Tränen, Einspre57 58 59 60 61 62

S. Kiechle, Sich entscheiden, 7 f. Vgl. A. Keller, Vom guten Handeln, 68. M. Schneider, Unterscheidung, 106. Ebd. 107. Ebd. 124 f. Damit ist eben jene Authentizität gemeint, die von Tödt im vierten Schritt seines Urteilsschemas, der Normenprüfung, als Bewahrung bzw. Gewinnung der Integrität des Handelnden grundgelegt wird. Vgl. H. E. Tödt, Versuch zu einer Theorie, 83.

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chungen und Ruhe zu schenken, indem er alle Hindernisse leicht macht und weghebt, damit man im Gutestun immer weiter fortschreite« (GÜ 315). Auf diese Weise dienen die Regeln der ersten Gruppe dazu, die verschiedenen Bewegungen und innerseelischen Vorgänge zunächst wahrzunehmen, um sie sodann unterscheiden zu können.63 Dabei identifiziert Ignatius in der dritten Regel Freude und Friede als Kennzeichen des guten Geistes.64 Ignatius meint jedoch weder eine oberflächliche Freude ohne wirklichen inneren Frieden, noch einen äußeren Frieden, der ohne innere Freude ist. In der zweiten Woche, in der es ihm um »Regeln zum gleichen Zweck mit größerer Unterscheidung der Geister« (GÜ 328) geht, formuliert er daher ausdrücklich: »Es ist Gott und seinen Engeln eigen, in ihren Regungen wahre Fröhlichkeit und geistliche Freude zu geben, indem sie alle Traurigkeit und Verwirrung, die der Feind herbeiführt, entfernen« (GÜ 329). Zudem ist die richtige Entscheidung daran zu erkennen, dass sie eine »Zunahme an Hoffnung, Glaube und Liebe« (GÜ 316)65 zeigt. Der Jesuit Michael Schneider macht darauf aufmerksam, dass Ignatius um die Ambivalenz von Seelenregungen weiß und daher stets im Blick behält, dass an sich »das ›Je mehr‹ noch kein untrügliches Zeichen für den guten Geist [ist]. Denn eine noch so große Frömmigkeit und Heiligkeit eines Gegenstandes und Zustandes kann den ›Betrügereien des großen Häuptlings‹ (139) anheimgefallen sein, da dieser sich auch unter der Gestalt eines ›Engel des Lichts‹ in den Menschen begeben kann (332).«66 Daher ist letztlich nicht das ›Je mehr‹ (magis) als Kriterium entscheidend, sondern die größere Verfügbarkeit für den Willen Gottes und somit für den Nächsten (vgl. GÜ 330). Im Gebrauch der Kriterien wendet Ignatius in seinen Exerzitien die Methode einer vorausschauenden Überprüfung der Verhaltensalternativen auf ihre Konsequenzen hin an, wie sie Tödt, ohne Ignatius zu kennen, in der ersten Fassung seines Urteilsschemas – allerdings erst im Nachgang einer ethischen Entscheidung – als »rückblickende Adäquanzkontrolle« im sechsten Schritt vorsah.67 Nach Tödt umfasst diese die Fragen nach der Adäquanz des Ergeb63 Vgl. M. Schneider, Unterscheidung, 57. 64 »Schließlich nenne ich Trost jeglichen Zuwachs an Hoffnung, Glaube und Liebe und jede innere Freude, die zu den himmlischen Dingen und zum eigenen Seelenheil aufruft und hinzieht, indem sie der Seele Ruhe und Frieden in ihrem Schöpfer und Herrn spendet.« GÜ 316. 65 In der 14. Regel führt Ignatius aus, inwieweit die theologischen Tugenden, die Kardinaltugenden und übrigen sittlichen Tugenden auch ambivalente Züge annehmen können. Vgl. GÜ 327. 66 M. Schneider, Unterscheidung, 61. 67 Als eigenen Schritt gab Tödt in seinen späteren Fassungen die »rückblickende Adäquanzkontrolle« auf. Allerdings findet sich in seinen Schriften keine Begründung für die Aufgabe dieses Schrittes. Wolfgang Schuhmacher vermutet, »dass er in den allgemeinen Hinweis auf

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nisses mit dem Problem, nach der richtigen Lösung und nach weiteren Faktoren des Entscheidungsweges. Ignatius verlegt diese Überlegungen vorab in die gedankliche Vorstellungswelt des Exerzitanden. Durch Übungen der Phantasie, die vor allem durch die Betrachtung von Schriftstellen (zum Beispiel die Anfrage Jesu an den reichen Jüngling, Mt 19,16 ff.) und über längere Zeit – mindestens eine Stunde lang – erwogen werden sollen, soll es Ignatius zufolge möglich werden, die inneren Regungen zu beobachten, die sich beim Überdenken der alternativen Handlungsmöglichkeiten zeigen.68 Dabei macht Ignatius Vorschläge zu Phantasieübungen, von denen zwei hier beispielhaft zitiert seien: »Einen Menschen anschauen, den ich noch nie gesehen noch gekannt habe, und, indem nun ich seine ganze Vollkommenheit wünsche, erwägen, was ich selbst ihm sagen wurde, dass er zur größeren Ehre Gottes unseres Herrn und zur größeren Vollkommenheit seiner Seele tun und erwähnen solle. Und indem ich es ebenso mache, die Regel einhalten, die ich für den anderen aufstelle« (GÜ 185). Eine weitere Phantasieübung lädt zur Vorstellung ein, vom Sterbebett aus die eigene Entscheidung rückwirkend zu beurteilen: »Als wäre ich in meiner Todesstunde, die Form und das Maß erwägen, die ich dann in der Weise der gegenwärtigen Wahl eingehalten haben wollte. Und indem ich mich nach jener richtet, soll ich in allem meinen Entschluss treffen« (GÜ 186).

4.

Religionspädagogische Perspektiven

Albert Keller SJ hat darauf hingewiesen, dass die »Regeln der Unterscheidung der Geister« dem bekannten Dreischritt der Arbeiter Jugend: »sehen – urteilen – handeln« entsprechen.69 Nicht zuletzt deswegen haben sich viele Ansätze der ignatianischen Exerzitien in der Jugendpastoral bewährt. Dass sowohl die »ethische Theorie der sittlichen Urteilsfindung« von Heinz Eduard Tödt, als auch die »Regeln der Unterscheidung der Geister« religionspädagogisch umgesetzt werden können, steht außer Frage, wenn sie auch im Rahmen dieses Beitrags nicht einlösbar ist. Hätte Tödt, wenn er Ignatius Weg der Entscheidungsfindung gekannt hätte, die Aussage nicht gemacht, dass eine Theorie der Urteilsfindung neu zu sein scheint? Oder hätte er Ignatius als mögliche Verfeinerung zur Güterabwägung und Folgeabschätzung der Verhaltensalternativen herangezogen? Der Unterschied zwischen dem Ansatz Tödts und Ignatius’ kann besonders den iterativen Prozess-Charakter des Urteilsbildungsprozesses eingegangen ist und damit entbehrlich schien.« W. Schuhmacher, Theologische Ethik, 329 f. 68 Vgl. S. Kiechle, Sich entscheiden, 55. 69 Vgl. A. Keller, Vom guten Handeln, 64.

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anschaulich an dem Beispiel des Ehepaars Schneider deutlich gemacht werden: Anne Schneider bewegt die normative Frage nach aktiver Sterbehilfe. Diese kann mit den sechs Schritten des ethischen Urteils nach Tödt bearbeitet werden. Für Ignatius liegt eine solche Normenprüfung – wie dargelegt – außerhalb jedweden Ermessens. Seine itinerare Urteilsfindung anhand seiner »Regeln der Unterscheidung der Geister« könnte jedoch Nikolaus Schneider dazu verhelfen, in der Entscheidung, ob er seine Frau in die Schweiz begleiten solle, entweder im Wert der Liebe zu seiner Frau oder im Wert seiner Verantwortung als Ratspräsident den Willen Gottes zu erkennen. Als Beispiel für eine Kriteriologie ethischer Urteilsbildung, sei es nach Tödt oder sei es nach Ignatius,70 reicht das Interview des Ehepaars Schneider für eine Religionsstunde allemal.

70 Vgl. als gelungenes Beispiel einer schulischen Umsetzung, der Schülerinnen und Schüler das Urteilsschema nach H.E. Tödt vermittelt, den Baustein VII »Gerechtigkeit: ›Eine Welt ohne Armut ist möglich‹ – Ein Modell ethischer Urteilsbildung« , in: Orth, Gottfried, Siehst du den Balken nicht? Soziale Gerechtigkeit; Unterrichtsentwürfe und Arbeitshilfen für die Sekundarstufe II (Religionsunterricht praktisch), Göttingen 12008, 147 – 151.

Marco Hofheinz

Urteilen im Raum der Kirche. Theologische Einsichten des sog. »kirchlichen Kommunitarismus« Stanley Hauerwas zum 75. Geburtstag gewidmet

1.

Einführung: Urteilen im Raum der Kirche oder: Was ist »kirchlicher Kommunitarismus«?

Moralisches Urteilen im Raum der Kirche – diese thematische Vorgabe provoziert unwillkürlich die Rückfrage: Warum ausgerechnet hier, im Kontext der Kirche? Bereits vor einigen Jahrzehnten machte Gerhard Sauter eine entsprechende Verortung im Blick auf die theologische Ethik geltend: »[D]ie Gewinnung ethischer Aussagen gehört zur Ekklesiologie, weil die Kirche der Ort des kommunikativen Urteils theologischer Ethik«1 ist. Ungefähr zeitgleich bemerkte Dietrich Ritschl: »[D]ie Gläubigen handeln primär im Rahmen der Mission ihrer Gemeinde (d. h. ihr Lebensstil und -ziel ist ekklesiologisch bestimmt) und wollen von daher die Probleme ihrer Lebenswelt erkennen. […] Die Einbettung der Entscheidung bzw. der Routine in die Story, in den ekklesiologischen Zusammenhang […], heißt nichts weniger als daß die Gläubigen letztlich keine ›Individualethik‹ kennen.«2 Seit diesen Anfängen kirchlich-ethischen Denkens im deutschsprachigen Raum ist viel Zeit verstrichen, die nicht zuletzt auch zur Lagerbildung genutzt oder auch vertan wurde – je nachdem, wie man dies beurteilen mag. Längst hat sich im angelsächsischen Diskurskontext eine eigene Bewegung herauskristallisiert, die man hierzulande als sog. »kirchlichen Kommunitarismus«3 be1 Sauter, Gerhard: Was heißt »christologische Begründung« christlichen Glaubens heute?; in: EvTh 35 (1975), 407 – 421, 421. 2 Ritschl, Dietrich: Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München, 21988, 292. Dort z. T. kursiv. 3 Vgl. dazu überblicksartig: Andersen, Svend: Einführung in die Ethik, Berlin / New York, 2 2005, 254 – 262; 323 – 330; Anselm, Reiner : Herausforderung Kommunitarismus. Ethik, Theologie und Kirche an der Jahrhundertwende; in: NELKB 51 (1996), 241 – 244; Arens,

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zeichnet. Bisweilen wird auch von »ekklesiozentrischer Ethik«4 oder schlicht »kirchlicher Ethik«5 gesprochen. Beim sog. »kirchlichen Kommunitarismus« handelt es sich um eine Fremd- statt Selbstbezeichnung, die von den Vertretern selbst zumeist abgelehnt wird.6

Edmund: Kirchlicher Kommunitarismus; in: ThRev 94 (1998), 487 – 500; Bedford-Strohm, Heinrich: Theological Ethics and the Church. Reconsidering the Boundaries Between Practical Theology and Theological Ethics in Light of the Debate on Liberalism and Communitarianism, in: Reconsidering the Boundaries Between Theological Disciplines, hg. von Michael Welker / Friedrich Schweitzer, , Münster, 2005, 175 – 186; Hofheinz, Marco: Gezeugt, nicht gemacht. In-vitro-Fertilisation in theologischer Perspektive, , Münster, 2008, 547 – 559; Plasger, Georg: Einladende Ethik. Zu einem neuen evangelischen Paradigma in einer pluralen Gesellschaft; in: KuD 51 (2005), 126 – 156; Rasmusson, Arne: Ecclesiology and Ethics. The Difficulties of Ecclesial Moral Reflection, in: ER 52 (2000), 180 – 194; Schoberth, Ingrid: Glauben-lernen. Grundlegung einer katechetischen Theologie, , Stuttgart, 1998, 102 – 107; Schoberth, Wolfgang: Art. Kommunitarismus III. Religionsphilosophisch, fundamentaltheologisch, praktischtheologisch, 4RGG 4 (2001), 1532 f.; Schöpsdau, Walter : Wie der Glaube zum Tun kommt. Wege ethischer Argumentation im evangelisch-katholischen Dialog und in der Zusammenarbeit der Kirchen, , Göttingen, 2004, 55 – 59; Wannenwetsch, Bernd: Ecclesiology and Ethics; in: The Oxford Handbook of Theological Ethics, hg. von Gilbert Meilaender / William Werpehowski, Oxford, 2005, 57 – 73. Ob der Begriff »kirchlicher Kommunitarismus« glücklich gewählt ist, lässt sich indes bezweifeln. So etwa Ulrich, Hans G.: Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, , Münster, 2005, 316. John Webster (Locality and Catholicity. Reflections on Theology and the Church, in: SJTh 45 (1992), 1 – 17) betont, dass gegen die Nomenklatur »communitarian Christianity« theologisch auf die Lokalität und Katholizität der Kirche hinzuweisen sei. Vgl. auch Rommel, Birgit: Ekklesiologie und Ethik bei Stanley Hauerwas. Von der Bedeutung der Kirche für die Rede von Gott, , Münster u. a., 2003, 194 – 197. 4 So etwa Grotefeld, Stefan: Religiöse Überzeugungen im liberalen Staat. Protestantische Ethik und die Anforderungen öffentlicher Vernunft, , Stuttgart, 2006, 132; ders.: Distinkt, aber nicht illegitim. Protestantische Ethik und die liberale Forderung nach Selbstbeschränkung; in: ZEE 45 (2001), 262 – 284, 263. 5 So etwa Hütter, Reinhard: Bound to Be Free. Evangelical Catholic Engagements in Ecclesiology, Ethics, and Ecumenism, Grand Rapids, 2004, 151; 161; ders.: Ecclesial Ethics, the Church’s Vocation, and Paraclesis, in: Pro Ecclesia 2 (1993), 433 – 450; ders.: The Ecclesial Ethics of Stanley Hauerwas; in: Dialog 30 (1991), 231 – 241; ders.: Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis. Interpretationen zu Schlüsselfragen theologischer Ethik in der Gegenwart, , Neukirchen-Vluyn, 1993; Körtner, Ulrich H.J.: Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, Göttingen 32012, 72 – 75; Wannenwetsch, Bernd: Gottesdienst als Lebensform – Ethik für Christenbürger, Stuttgart u. a., 1997, 55 – 59. 6 John H. Yoder (For the Nations. Essays Public and Evangelical, Grand Rapids, 1997, 49) etwa lehnt eine solche Selbstbezeichnung ab, zumal er den »Kommunitaristen« vorwirft: »They will not risk the challenge of telling the world that servanthood, enemy love, and forgiveness would be a better way to run a university, a town, or a factory. They pull back on the grounds that only they have already experienced the power and novelty of that threefold evangelical cord in the worship and ministry of the church. They affirm integrity but at the cost of witness.« Vgl. fernerhin etwa Stanley Hauerwas, Dispatches from the Front. Theological Engagements with the Secular, Durham / London, 1994, 156 – 163.

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Edmund Arens definiert: »Mit Kommunitarismus ist eine Denkbewegung angesprochen, der ein Gemeinschaftsdenken eigen ist, welches die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft, die Verwurzelung in dieser mitsamt deren Geschichte als konstitutiv für menschliches Leben und Handeln begreift. Mit ›kirchlichem Kommunitarismus‹ bezeichne ich theologische Auffassungen, die die Gemeinschaft der Kirche als konstitutiv und prägend für christliche Existenz betrachten. Allen kommunitaristischen Positionen ist eine Wertschätzung des Narrativen, ein von Aristoteles her kommendes teleologisches Handlungsverständnis, eine Ethik des guten Lebens sowie eine Kritik des liberalen neuzeitlichen Individualismus und Atomismus gemeinsam.«7 Die Vertreter des kirchlichen Kommunitarismus lehnen diese Definition indes ab,8 zumal sie nicht hinreichend deren genuin theologisches Anliegen erfasst,9 das in der Ausgangsfrage besteht: Wie wird die Geschichte (»story«) Gottes in der Welt präsent?10 Im Bereich der Ethik werden dem Lager der »kirchlichen Kommunitaristen« 7 Arens, Edmund: Kirchlicher Kommunitarismus, 487 f. 8 So etwa Ulrich, Hans G.: Wie Geschöpfe leben, 601: »Der politische Ort ist für die christliche Gemeinde auch dadurch gegeben, dass die gottesdienstliche Gemeinde der Ort ist, an dem die Geschichte Gottes erinnert und bezeugt wird, die in den Geschichten mit Menschen präsent wird, deren Leben mit Gottes Wirken verbunden ist. Dies kann nicht in der Wahl einer Lebensform verschwinden. Die Ethik, die sich auf diesen Zusammenhang einlässt, ist nicht als kommunitaristische zu kennzeichnen, weil sie die Gemeinde nicht irgendwie durch das soziale Zusammenleben und auch nicht auf ein solches hin konstituiert sieht. Es geht nicht um eine aristotelische Logik des gelungenen Zusammenlebens. Es geht vielmehr darum, dass die gottesdienstliche Gemeinde der Ort ist, an dem Menschen als Geschöpfe in Erscheinung treten und die Gemeinde selbst sich als Geschöpf verstehen kann.« Vgl. auch Wannenwetsch, Bernd: Political Worship. Ethics for Christian Citizens, Oxford, 2004, bes. 1 – 14. 9 Vgl. Ulrich, Hans G.: Ethos als Zeugnis. Konturen christlichen Lebens mit Gott in der »Welt« bei Stanley Hauerwas und Karl Barth; in: ZDTh 29 (2013), 50 – 73, 65: »Im Blick auf die Kennzeichnung der christlichen Ethik als Zeugnis von einem Ethos wird im Zusammenhang von Ethik-Konzeptionen auch von ›Kommunitarismus‹ gesprochen. ›Kommunitarismus‹ betrifft jedoch die Kennzeichnung von Ethik-Theorien in Bezug auf die Frage der Begründung und Generierung von ›Ethos‹. Hier ist aber von einem ›Ethos‹ die Rede, das weder kommunitär begründet noch generiert wird, sondern eben in der Gemeinschaft und mit der Gemeinschaft bezeugt, weitergegeben, weitergelebt wird. Es geht in diesem Sinne um die communio sanctorum.« 10 Vgl. Ulrich, Hans G.: Kirchlich-politisches Zeugnis vom Frieden Gottes. Friedensethik zwischen politischer Theologie und politischer Ethik ausgehend von John Howard Yoder, Stanley Hauerwas und Oliver O’Donovan; in: ÖR 55 (2006), 149 – 170, 152: »Theologie hat dieser Tradition zufolge dort einzusetzen, wo Menschen im Medium dieser Praktiken in Gottes Geschichte hineingenommen sind, also mit Gottes Volk und mit seiner Kirche. Angelpunkt ist somit nicht diese oder jene ›Begründung‹ oder ›Grundlegung‹ für eine Ethik, sondern diese real existierende Loyalität.« Zu Yoders Verhältnis zur sog. »narrativen Ethik« vgl. Huebner, Chris K.: A Precarious Peace. Yoderian Explorations on Theology, Knowledge, and Identity, Waterloo / Scottdale, 2006, 49 – 68.

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– neben John Milbank11 – im englischsprachigen Kontext12 zumeist die der täuferischen Tradition entstammenden oder ihr nahestehenden Theologen John H. Yoder, Stanley Hauerwas und James W. McClendon zugerechnet. Im Folgenden möchte ich mich diesen drei Exponenten zuwenden. Sie betonen die konstitutive Bedeutung der Kirche für die christliche Ethik. Wie wir noch sehen werden, verweist ihr Leitgedanke »Kirche als Diskursgemeinschaft« zurück auf die theologische Ausgangsfrage nach der Präsenz der »story« Gottes in der Welt. Sicherlich wäre es noch verfrüht, Bilanz zu ziehen, wenngleich die »Gründervätergeneration« im englischsprachigen Kontext bereits verstorben oder emeritiert ist. Im deutschsprachigen Raum verlief die Debatte in den letzten 20 Jahren recht heftig und war m. E. von vielen Missverständnissen geprägt. Wenig schmeichelhafte Begriffe wie Wagenburgmentalität, Sektenethos, Tribalismus und Klerikalismus fielen. Die Missverständnisse können im Folgenden natürlich nicht im Einzelnen aufgearbeitet werden. Ich möchte mich stattdessen der »Gründervätergeneration« zuwenden und mit konstruktivem Interesse danach fragen, wie deren Beitrag zu unserer Ausgangsfrage nach der Rolle des »Raumes Kirche« für die Urteilsbildung aussieht. Um es gleich summarisch vorweg zu nehmen: Der Kontext »Kirche« ist nach dieser Auffassung im Blick auf das Urteilen deshalb zu berücksichtigen, ja, in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen, weil die Urteile von Gläubigen jener Wahrnehmung13 entspringen, die geformt und geprägt ist durch die Erzählgemeinschaft der Kirche.14 Die Urteile sind gleichsam eingebunden in die fortlaufende Geschichte, in die »story« einer Erzählgemeinschaft, die ihrer Überzeugung nach an der »story« Gottes partizipiert. Wenn das Urteilen betrachtet würde, ohne dabei die Partizipation der Gläubigen an dieser »story« und der auf 11 Vgl. vor allem Milbank, John: Theology and Social Theory. Beyond Secular Reason, Oxford, 2 2006. 12 Vgl. Ulrich, Hans G.: Theologische Ethik im englischsprachigen Kontext. Zur neueren Diskussion in Nordamerika; in: VuF 38 (1993), 61 – 84; ders.: Theologische Ethik im englischsprachigen Kontext (II); in: VuF 39 (1994), 60 – 81. Fernerhin: Gestrich, Christof: Ekklesiologie auf zwei Kontinenten. Theologische Reflexionen über die Situation der Kirche in Nordamerika und in Deutschland (seit 1980), in: Vom Zentrum des Glaubens in die Weite von Theologie und Wissenschaft. FS für Dietrich Braun zum 70. Geburtstag, hg. von Heribert Süttmann u. a., Rheinfelden, 1998, 241 – 274. 13 Die Wahrnehmungsaufgabe der Ethik wird hier gemeinschaftlich wahrgenommen. Das Bemühen, die Dinge angesichts der Blickverzerrung durch die menschliche Aneignungsperspektive zu sehen, will hier lokalisiert sein. Sich die Augen öffnen zu lassen, sie anderen zu öffnen, gehört zu den Lernerfahrungen im Kontext dieser Gemeinschaft. Zur Kirche als formativem Kontext der Wahrnehmung siehe Zeindler, Matthias: Gotteserfahrung in der christlichen Gemeinde. Eine systematisch-theologische Untersuchung, , Stuttgart, u. a. 2001, 134 – 138. 14 Vgl. Hofheinz, Marco u. a. (Hg.): Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, Zürich, 2009.

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sie bezogenen Praktiken zu berücksichtigen, wäre diese Betrachtung unzureichend. Mit ihren »story«-bezogenen Praktiken wirkt die Kirche traditionsbildend. Von Traditionen gilt, mit L. Gregory Jones gesprochen: »Traditionen sind Träger spezifisch moralischer Vorstellungen. Darin eingeschlossen sind Urteile, daß z. B. dieses Mord ist und jenes Tötung in Selbstverteidigung, oder daß Großmut eine Tugend und Demut ein Laster ist, wie die aristotelische Tradition behauptet, während es die christliche Tradition bestreitet.«15

2.

John H. Yoder: »Body Politics« – kirchliche Praktiken des Urteilens

Wenngleich die philosophischen, anthropologischen und soziologischen wie theologischen Hintergründe des sog. kirchlichen Kommunitarismus vielfältig sind,16 kann doch der mennonitische Theologe John H. Yoder als dessen eigentlicher »Gründungsvater«17 gelten. Einflussreich ist u. a. sein Aufsatz »The Hermeneutics of Peoplehood«18 (1982) geworden und im Blick auf sein Spätwerk die vor kurzem ins Deutsche übersetzte Studie »Body Politics«. Yoder beschreibt dort fünf Praktiken der Kirche,19 die im Neuen Testament wurzeln, aber vor allem durch die täuferische Tradition wiederentdeckt wurden. Man vergleiche etwa die »Schleitheimer Artikel«20 (1527). Namentlich nennt 15 Jones, L. Gregory : Transformed Judgment. Toward a Trinitarian Account of the Moral Life, Notre Dame, 1990, 57 (Übersetzung: Bernd Wannenwetsch). 16 Vgl. dazu: Michener, Robert T.: Postliberal Theology. A Guide for the Perplexed, London / New York, 2013, 19 – 47. 17 So Rainer Mayer (Rezension zu R. Hütter, Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis; in: ThBeitr 26 (1995), 180 – 182, 182), demzufolge »die geistigen Linien zurück auf die Position des mennonitischen Theologen John H. Yoder [gehen], der im Rahmen der friedenskirchlichen Ethik die Kirche als gewaltfreie Gemeinschaft dem Staat gegenüberstellt. Von Yoder führen die Einflüsse über Hauerwas zu Hütter.« Siehe fernerhin: Cartwright, Michael G.: Practice, Politics, and Performance. Toward a Communal Hermeneutic for Christian Ethics, Eugene 2006, VII; Hofheinz, Marco: »Er ist unser Friede«. Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder, , Göttingen, 2014, 56. 18 In: Yoder, John H.: The Priestly Kingdom. Social Ethics as Gospel, Notre Dame, 1984, 15 – 45. Siehe dazu: Cartwright, Michael G.: Practices, Politics, and Performance, 222 – 233; Hauerwas, Stanley : Christian Existence Today. Essays on Church, World and Living In Between, Grand Rapids, 1995, 72 – 74; Martens, Paul: The Heterodox Yoder, Eugene, 2012, 130 – 132. 19 Vgl. auch die Kurzbeschreibung von Enns, Fernando: Friedenskirche in der Ökumene. Mennonitische Wurzeln einer Ethik der Gewaltfreiheit, , Göttingen, 2003, 179. Fernerhin: Carter, Craig A.: The Politics of the Cross. The Theology and Social Ethics of John Howard Yoder, Grand Rapids, 2001, 194 – 205. 20 Brüderliche Vereinigung etlicher Kinder Gottes, sieben Artikel betreffend (1527), in: Der

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Yoder 1. das »Binden und Lösen« als Verfahren der Konfliktlösung und Versöhnung; 2. Das gemeinsame Brotbrechen, in dem er ein Alternativmodell ökonomischen Handelns etabliert sieht; 3. Die Taufe als Gründungsakt einer neuen Schöpfung bzw. neuen Gesellschaft, die »interethnische Inklusivität«21 realisiert; 4. Die »Fülle Christi« als Erkenntnis und Berufung der Gaben (Charismen), die jeder zur Auferbauung des Leibes mitbringt; 5. Die »Regel des Paulus«, die Yoder in 1Kor 14 als herrschaftsfreien Dialog, genauer : Konsens hinsichtlich des Willens Gottes, identifiziert. Hinsichtlich des Urteilens sind die erste und die letzte Praktik von besonderer Relevanz. Ich gehe in besonderer Weise auf diese beiden ein:

2.1

Die regula Christi – Die gemeindliche Vergebungs- und Urteilspraktik des »Bindens und Lösens« (Mt 18,15 – 20)

Hinter der regula Christi verbirgt sich ein Verfahren konstruktiver Konfliktbearbeitung, das in Mt 18,15 – 20 (Zürcher Bibel) umschrieben wird: »Wenn dein Bruder an dir schuldig wird, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. Hört er nicht auf dich, so nimm noch einen oder zwei mit dir, damit alles durch zweier oder dreier Zeugen Mund festgestellt werde. Hört er nicht auf sie, so sag es der Gemeinde. Hört er auch nicht auf die Gemeinde, so sei er für dich wie ein Heide und ein Zöllner. Amen, ich sage euch: Was immer ihr auf Erden bindet, wird auch im Himmel gebunden sein, und was immer ihr auf Erden löst, wird auch im Himmel gelöst sein. Weiter sage ich euch: Wenn zwei von euch auf Erden übereinkommen, um etwas zu bitten, dann wird es ihnen von meinem Vater im Himmel zuteil werden. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.« Das Ziel dieses Verfahrens ist die Wiedereingliederung in die Gemeinschaft.22 Mit V. 19 gesprochen: das sympho¯nein – das Übereinstimmen, Übereinkommen. Yoder erkennt hier ein methodisches Verfahren, wie innerhalb einer Glaubensgemeinschaft mit Schuld als Verletzung und Störung der Integrität und Identität derselben auf der Verhandlungsbasis der gemeinsamen »Glaubenserfahrung Vergebung« gewaltfrei umgegangen werden kann. Niemand innerhalb der Glaubensgemeinschaft, weder Täter noch Opfer noch die scheinbar Unbelinke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier, hg. von Heinold Fast, Bremen, 1962, 60 – 71. 21 Yoder, John H.: Die Politik des Leibes Christi. Als Gemeinde zeichenhaft leben, übers. von Wolfgang Krauß, Schwarzenfeld, 2011, 74 (Original: Body Politics. Five Practices of the Christian Community Before the Watching World, Nashville, 1992). 22 Vgl. a. a. O., 28; 30.

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teiligten, sind »von der Verantwortung zur Versöhnung ausgenommen«23, zumal Interdependenz zwischen allen Gemeindegliedern als zum »body of Christ« Gehörenden besteht und jedem insofern nolens volens eine »Aktantenrolle« zukommt. Nur gemeinsam kann die Aufgabe des »embodying forgiveness«24 wahrgenommen werden. Yoder sieht in diesem Verfahren der Versöhnung und Konfliktlösung zugleich ein Modell der ethischen Urteilsfindung beschrieben, das sich hinter dem terminus technicus »Binden und Lösen« verberge: Was meint das »Binden«, das deein (»für verboten erklären«) und das »Lösen«, das lyein (»für erlaubt erklären«)? Yoder erläutert: »›Binden‹ im rabbinischen Sprachgebrauch heißt, auf eine ethische Fragestellung zu antworten. In unserem Wort ›verbindlich‹ wird das Anliegen deutlich. ›Lösen‹ heißt, von Verbindlichkeit freisprechen. […] Dieses Handeln hat also zwei Dimensionen: ethische Urteilsfindung und Versöhnung.«25 Das »Binden und Lösen« knüpft – wie Yoder fortfährt – an eine alte rabbinische Praktik an: »Der rabbinische Prozess des Bindens und Lösens schafft einen Vorrat von Präzedenzfällen und Prinzipien, bekannt als Halakah, als ›Weg‹ der evangelischen Überlieferung. Die genaue Bedeutung seiner Richtlinien wird durch den Austausch über die konkrete Anwendung von Angesicht zu Angesicht ständig verfeinert und aktualisiert. Ethische Entscheidungsfindung und Vergebung bedingen und befähigen einander auf komplexe Weise. Ermahnung setzt ethisches Urteilsvermögen voraus; sonst gäbe es bei den Beteiligten keine gemeinsamen Kriterien der Ermahnung. Das auf Versöhnung zielende Gespräch ist für eine Gemeinschaft das stärkste Mittel herauszufinden, ob die angewandten Regeln noch stimmen oder ob sie geändert werden müssen. Die Frage, ob wirklich ein Verstoß vorliegt, hilft bei der Entscheidung, welche Differenzen durch einen auf Einmütigkeit zielenden Prozess mit den Mitteln des Gesprächs und der Vergebung geklärt werden müssen, und welche eine Vereinbarung brauchen, dass man hierbei verschiedener Ansicht sein kann. Wo eine Gemeinde Vergebung erfahren hat, befähigt sie das, in einer sonst kaum zugänglichen Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens weiter miteinander zu beraten.«26 23 A.a.O., 31. 24 Vgl. Jones, L. Gregory : Embodying Forgiveness. ATheological Analysis, Grand Rapids, 1995, 192 – 197; McClendon, James W.: Ethics. Systematic Theology Vol. 1, Nashville, 22002, 222 – 232; Martens, Paul: The Heterodox Yoder, 126 – 130; Sider, J. Alexander: To See History Doxologically. History and Holiness in John Howard Yoder’s Ecclesiology, Grand Rapids, 2011, 133 – 159. 25 Yoder, John H.: Die Politik des Leibes Christi, 29. 26 A.a.O., 33 f. Das Programm einer »Dogmatik als Evangelische Halacha« vertritt Marquardt, Friedrich-Wilhelm: Von Elend und Heimsuchung der Theologie. Prolegomena zur Dogmatik, München, 1988, 166 – 262, übrigens unter Berufung auf Mt 18,19 f. Vgl. a. a. O., 210; 213.

50 2.2

Marco Hofheinz

Die regula Pauli (1Kor 14): Die Praktik der Konsensbildung in der Diskursgemeinschaft Kirche

Eine weitere für das Urteilen bedeutsame Praktik stellt die Regel des Paulus dar, wie Yoder sie in 1Kor 14 grundgelegt sieht.27 Ausgehend von der Frage: »Wie soll eine Versammlung der Gemeinde ablaufen?«28, sieht Yoder bei Paulus nicht nur ein Plädoyer für prophetische Rede (gegenüber der Glossolalie), sondern auch für das offene Gespräch als Form der Entscheidungsfindung auf der Grundlage einer allgemeinen Redefreiheit entfaltet: »Paulus schreibt, jeder, der etwas zu sagen habe, das der Heilige Geist ihm zu sagen eingegeben habe, solle das Wort erhalten.«29 Yoder versteht die Gemeinde, wie Paulus sie konzipiert hat, zweifellos als Diskursgemeinschaft. Denn das von Yoder skizzierte offene Gespräch weist alle Merkmale des Diskurses im Sinne einer durch Argumentation gekennzeichneten Form der Kommunikation auf, in der problematisch gewordene Geltungsansprüche auf ihre Berechtigung hin thematisiert werden. Die Ähnlichkeit zum »herrschaftsfreien Dialog« von J. Habermas ist frappant.30 Yoder pointiert mit der allgemeinen Redefreiheit die Hauptregel des Diskurses.31 Wie radikal im Sinne von radikal-basisdemokratisch Yoder Paulus votieren sieht, veranschaulicht Yoders Beschreibung des paulinischen Gemeindeverständnisses: »Konsens entsteht ohne Ausübung von Zwang aus dem offenen Gespräch heraus. Es gibt keine Abstimmung, in der eine Mehrheit eine Minderheit überstimmt, ebensowenig die Entscheidung eines amtlich autorisierten Leiters. Als Struktur benötigt dieser Prozess nur eine Moderation, die eine gewisse

27 Zur Paulusexegese Yoders vgl. Harink, Douglas: The Anabaptist and the Apostle: John Howard Yoder as a Pauline Theologian, in: A Mind Patient and Untamed. Assessing John Howard Yoder’s Contributions to Theology, Ethics, and Peacemaking, hg. von Ben C. Ollenburger / Gayle Gerber Koontz, Telford / Scottdale, 2004, 274 – 287. 28 Yoder, John H.: Die Politik des Leibes Christi, 113. 29 Ebd. Fernerhin: a. a. O., 124: »Es gibt keine direktere Methode, bisher vernachlässigten Anliegen Gehör zu verschaffen, als sich an die simple Regel des Paulus zu erinnern, dass jeder seine Stimme erheben darf.« 30 Zu Habermas vgl. einführend: Lienemann, Wolfgang: Grundinformation Theologische Ethik, Göttingen, 2008, 131 – 139; 146 f. Zur Diskursethik im Allgemeinen vgl. auch meine kritische Würdigung in: Hofheinz, Marco: Gezeugt, nicht gemacht, 180 – 182. 31 Jürgen Habermas (Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt, a.M. 61996, 99) schlägt im Anschluss an Robert Alexy folgende zur allgemeinverbindlichen Normenfindung notwendige Diskursregeln vor: »(3.1) Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen. (3.2) a. Jeder darf jede Behauptung problematisieren. b. Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. c. Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern. (3.3) Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang gehindert werden, seine in (3.1) oder (3.2) festgelegten Rechte wahrzunehmen.«

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Ordnung bewahrt, und die Dokumentation seiner Ergebnisse.«32 Yoder versteht die Urteilsbildung in der Gemeinde offenkundig konsens- bzw. verhandlungsdemokratisch: Diskutiert wird, bis alle zustimmen können. Man kann die Analogien zur Diskursethik kaum überstrapazieren, zumal Yoder Paulus tatsächlich eine Verfahrensethik fordern sieht, basierend auf dem formalprozeduralen Prinzip: Inhalte, d. h. alles, was zur Lösung eines Konfliktes getan werden soll, wird im praktischen Diskurs der Betroffenen verhandelt. Paulus kennt nach Yoder zwar Überzeugungsvoraussetzungen, wenn man so will: »Normen«, etwa die folgende: »Weil Gottes Geist in der Versammlung spricht, ist das Gespräch der Kontext, um die Wahrheit zu finden.«33 Freilich kann auch diese »Norm« de iure der Verhandlung unterzogen werden, was dem Diskursprinzip von Habermas entspricht, wonach »nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten).«34 Wenngleich Yoder auch die Überzeugung, dass der Geist Gottes in der Versammlung spricht, grundsätzlich für verhandelbar hält, geht er davon aus, dass de facto alle Diskursteilnehmer in der »Diskursgemeinschaft Kirche« diese Überzeugung teilen. Dies tut Habermas – und hier wird die Differenz zu Yoder ansichtig – freilich nicht. Habermas setzt vielmehr – auch an diesem Punkt Voraussetzungszurückhaltung übend – eine Überzeugungsvielfalt voraus. Doch auch Yoder erklärt, wie gesagt, solche grundlegenden Überzeugungen de iure für verhandelbar, wenngleich er nicht damit rechnet, dass die grundlegende Überzeugung von Wirken Gottes in der Gemeinde de facto verworfen wird. Der Geist Gottes selbst verbürgt dies gleichsam. Geschähe dies trotzdem, so wäre diese Gemeinde wohl nicht mehr »Gemeinde Gottes«. Yoder weiß indes im Blick auf die diversen zu verhandelnden Einzelfragen um die drohende Gefahr des Diskursabbruchs, ja, letztlich des Endes der Diskursgemeinschaft. In seiner »Hermeneutic of Peoplehood« sieht Yoder eine Reihe von Ämtern bzw. Diensten in der Gemeinde gefordert, die als entsprechendes Präventiv fungieren: Yoder spricht hinsichtlich der prophetischen Rede von »Agents of Direction«35, denen der »process of weighing the words of prophets«36, mithin das dokimazein obliegt. Yoder identifiziert außerdem »Agents of Memory«37, die als Haushälter der »Schatzkammer« des kollektiven Gedächtnisses fungieren (vgl. Mt 13,52): »The scribe as practical moral reasoner does not judge or decide anything, but he (or she) remembers expertly, cha32 33 34 35 36 37

Yoder, John H.: Die Politik des Leibes Christi, 121. A.a.O., 125. Habermas, Jürgen: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 103. Yoder, John H.: The Priestly Kingdom, 29. Ebd. A.a.O., 30.

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rismatically the store of memorable, identity-confirming acts of faithfulness praised and of failure repented.«38 Des Weiteren nennt Yoder »Agents of Linguistic Self-Consciousness«39, denen eine Art Wächteramt im Blick auf den Missbrauch der Sprache obliegt (vgl. Jak 3,18; 2Tim 1,13; 2,16); und schließlich »Agents of Order and Due Process«40 (vgl. Apg 5,13; 15,28), die sicherstellen sollen, dass jeder gehört wird und »Entscheidungen im Konsensverfahren getroffen werden.«41 Hier wird indes eine Spannung sichtbar, in der eine solche Ämter- bzw. Dienstestruktur mit dem Prinzip allgemeiner Beteiligung steht. Wenn Yoder sich mit Paulus die Gemeinde als »a body needing to have each member do a different thing«42 vorstellt, liegt eben nicht nur Kompetenzbildung, sondern auch Expertokratie und Fachmenschentum nahe. Hat jedes Mitglied der Gemeinde einen unterschiedlichen Platz in dem Prozess der Urteilsbildung inne, so partizipieren zwar alle, ob aber alle tatsächlich entscheiden, wäre zu (hinter-)fragen, zumal wenn etwa das Amt des Prüfens einzelnen vorbehalten wird.43 Paulus reserviert dieses Amt indes gerade nicht für die kritische Urteilskraft einzelner, wenn er bemerkt: »Zwei oder drei sollen prophetisch reden, die anderen aber urteilen« (1Kor 14,29). Trotz des benannten Unterschiedes wurde, und in einer entsprechenden Demonstration bestand meine Intention, eine tiefgreifende Übereinstimmung von Yoders Ausführungen mit der Diskursethik von Habermas sichtbar. Diese Übereinstimmung betrifft, insofern auch Hauerwas und McClendon sich immer wieder affirmativ auf Yoders einschlägige Ausführungen berufen, allgemein den sog. »kirchlichen Kommunitarismus« täuferischer Provenienz. Unverständlich ist mir angesichts dieser grundlegenden Konvergenz mit der Habermas’schen 38 39 40 41 42 43

Ebd. A.a.O., 32. A.a.O., 33. Yoder, John H.: Die Politik des Leibes Christi, 124. Ders.: The Priestly Kingdom, 29. Bernd Wannenwetsch (Gottesdienst als Lebensform, 172) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die neutestamentliche ekklesia zwar »auch besonders berufene Amtsträger [kennt], doch deren Ämter sind selbst im Gegenüber zur Gemeinde stets so aufgefaßt, daß sie die Ämter der ›Menge der Gläubigen‹ nicht marginalisieren oder gar ersetzen, sondern ihnen dienen.« Ähnlich auch Herlyn, Okko: Sache der Gemeinde. Studien zu einer Praktischen Theologie des »Allgemeinen Priestertums«, Neukirchen-Vluyn, 1997, 145: »Die neutestamentliche Gemeinde lehrt ›einander‹; ihre Unterweisung ist keine Einbahnstraße von bestimmten, womöglich ›beamteten‹ Mehr-Wissenden zu bestimmten, womöglich ausschließlich jugendlichen Weniger-Wissenden, sondern ein kommunikatives Miteinander, in welchem prinzipiell jeder jeden lehren und jeder von jedem lernen kann, eben sofern jemand wirklich ›das Wort Christi‹ und nicht seine eigene Weisheit in der Gemeinde ›wohnen läßt‹: ›Wenn ihr zusammenkommt, hat jeder [!] einen Psalm oder eine Lehre oder eine Offenbarung oder eine Zungenrede oder eine Auslegung … damit alle [!] Belehrung empfangen‹ (1Kor 14,26.31).«

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Diskursethik, wie man zu dem Urteil gelangen kann, dass Habermas »mit Hauerwas vermutlich kaum mehr verbindet als eine leichte Ähnlichkeit im Nachnamen«44. Nein, darin erschöpft sich die Ähnlichkeit mitnichten – bei aller Unterschiedlichkeit.

2.3

Näherbestimmungen der politischen Praktiken des Urteilens und Vergebens

Betrachtet man Yoders konzeptionelle Prägung des Praktik-Begriffs, so fällt auf, dass er eine große Nähe zu Alasdair MacIntyres einschlägiger Definition des Begriffes »practice« (Praktik) besitzt. MacIntyre definiert: »Mit ›Praktik‹ meine ich jegliche kohärente und komplexe Form sozial etablierten menschlichen Miteinanderhandelns, durch das diejenigen Güter, die dieser Handlungsform inhärent sind, im Laufe des Versuchs, die dieser Handlungsform angemessenen und sie charakterisierenden Vorzüglichkeitsstandards zu erreichen, verwirklicht werden, mit dem Ergebnis, dass die menschliche Fähigkeit, diese Vorzüglichkeit zu erreichen und die menschlichen Konzeptionen der Zwecke und Güter, die darin impliziert sind, kontinuierlich erweitert werden.«45 Praktiken sind also bestimmte, beschreibbare und sinnvolle Handlungszusammenhänge, die kooperativ und implizit regelgeleitet und an bestimmten Gütern bzw. Zielen ausgerichtet sind.46 Das trifft auch auf Yoders Praktiken zu. Auch sie besitzen ein inhärentes Ziel, ein Telos. Insofern sprengen die Yoder’schen Praktiken die Habermas’sche Distinktion/Antinomie zwischen teleologischem und verständigungsorientiertem, »kommunikativem Handeln«.47 Gerade dieser Umstand prägt die besondere Valenz der beiden beschriebenen urteilsbezogenen Praktiken, die Yoder entfaltet. In diesen Praktiken sind Versöhnung und Urteilsfindung korreliert, genauer : der urteilsbasierten brüderlichen Ermahnung inhäriert das Ziel der »Versöhnung, der Wiederherstellung der Gemeinschaft«48 ; dem offenen, versöhnungsbasierten Prozess wiederum inhäriert das Ziel der konsensuellen Urteilsfindung. 44 Bedford-Strohm, Heinrich: Kirche – Ethik – Öffentlichkeit. Zur ethischen Dimension der Ekklesiologie; in: VF 51 (2006), 4 – 19, 12. 45 MacIntyre, Alasdair: After Virtue, Notre Dame / London, 21984, 187. Hier direkt aus dem englischen Original übersetzt. Anders die dt. Übersetzung: ders.: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, übers. von Wolfgang Rhiel, Frankfurt a.M., 21997, 251 f. Vgl. Hütter, Reinhard: Theologie als kirchliche Praktik. Zur Verhältnisbestimmung von Kirche, Lehre und Theologie, , Gütersloh, 1997, 57 f.; 179. 46 Vgl. a. a. O., 58. 47 Vgl. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M., 1981, 525. 48 Yoder, John H.: Die Politik des Leibes Christi, 28. So auch ders.: The Royal Priesthood, 362.

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Marco Hofheinz Regula Christi: urteilsbasierte geschwisterliche Ermahnung

Versöhnung, Vergebung

Regula Pauli: versöhnungsbasierter, offener Diskurs

Konsensuelle Urteilsfindung

Beide Praktiken verhalten sich komplementär zueinander. Der Zusammenhang beider Praktiken ist insofern bedeutsam. Denn im Zusammenhang, in der gemeinsamen Durchführung beider Praktiken wird Versöhnung und Urteilsfindung bewirkt und erweitern sich – wie MacIntyres Praktik-Definition hervorhebt – zugleich die menschlichen Fähigkeiten der Konfliktlösung und der Urteilskraft. Die Korrelation von Versöhnung und Urteilsfindung, die in jeder der beiden Praktiken für sich, aber auch im Zusammenhang beider besteht, ist bedeutsam.49 Yoder expliziert den Zusammenhang in vier Thesen in seinem Aufsatz »Binding and Loosing«50 (1967): »(1) Forgiving presupposes prior discernment. […] (2) Forgiving furthers discernment. […] (3) Discernment necessitates forgiveness. […] (4) Forgiving concern sets limits of our responsibility for one another’s decision.«51

Im Blick auf das Urteilen lässt sich von Yoder u. a. zweierlei lernen: Zum einen, dass das Wagnis des Urteilens aufgrund der Vergebungsbereitschaft eingegangen werden kann, die es nämlich nicht zu einem unkalkulierbaren Risiko macht: »Practical moral reasoning is a conversation of a community that can risk judgment because of its willingness to forgive.«52 Dies pointiert Yoder mit der Aussage, Vergebung fördere Urteilsbildung. Zum anderen lässt sich von Yoder lernen, dass »[d]ie Aneignung einer korrekten moralischen Urteilsbildung […] mit dem Erlernen besonderer Verhaltensweisen zusammen[hängt]«53. Das heißt, mit Yoder gesprochen: »[I]n every right decision there must be an element of reconciliation.«54 Dies ist deshalb der Fall, weil Urteile diakritischen Charakter haben, mithin zur »Scheidung« tendieren. Weil Praktiken die Orte der Urteile 49 Vgl. ders.: The Royal Priesthood, 329: »›Forgiveness‹ and ›discernment‹ do not point to two alternative meanings of the same words, whereby one would always need to choose which meaning applies. Forgiveness and discernment are not two poles of a tension but two sides of a coin. Each presupposes and includes the other.« 50 In: ders.: The Royal Priesthood, 323 – 358. 51 A.a.O., 328. 52 Hauerwas, Stanley : Christian Existence Today, 73. 53 Jones, L. Gregory : Transformed Judgment, 64 (Übersetzung: Bernd Wannenwetsch). 54 Yoder, John H.: Royal Priesthood, 328 f.

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sind, ist es gemäß Yoder wichtig, diese Orte der Vergebungsbereitschaft entstehen zu lassen, sprich: die Praktiken ein- und auszuüben. An solchen Orten werden nach Yoder richtige Urteile gebildet. Um Urteilen zu lernen, kommt es deshalb darauf an, die richtigen Orte aufzusuchen. Eine Topologie der Urteilsbildung hat gleichsam solche Orte auszuweisen. Aus eben diesem Bemühen resultiert Yoders kartographisch anmutender Versuch seiner Aufteilung in Praktiken, sprich: seine etwas willkürlich erscheinende Pentalogie der Praktiken. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass es bei diesen Praktiken zugleich um ein internes wie externes Verhalten geht.55 Es wirkt über die Gemeinde hinaus. Es weist – mit anderen Worten – transpartikularen56 und nicht etwa esoterischen Charakter auf: »Wenn das Vertrauen, dass die Wahrheit im offenen Gespräch finden lässt, über die messianische Gemeinschaft hinaus ausgedehnt wird, gibt es zwar weniger gemeinsame Wegzeichen. Die gemeinsame Sprache wird ›säkularer‹ werden. Der ethische Konsens, auf den solcher Dialog sich gründen kann, wird schmaler. Doch der Grund, den Dialog zu führen, liegt immer noch in der Überzeugung, dass im Zeitalter von Jesus dem Messias die heilenden Kräfte seines Wirkens ihrem Wirken nach weiter reichen als die Kenntnis seines Namens. Zu diesen heilenden Kräften zählt die Verpflichtung, nicht nur den Nachbarn, sondern auch den Feind anzuhören.«57 Yoder ist also weit davon entfernt, den Praktiken ausschließlich innerkirchliche Relevanz zuzuschreiben. Vielmehr sind sie in ihrer Paradigmatik gesamtgesellschaftlich bedeutsam: »Übersetzt man den Gehalt der Praktiken in eine nichttheologische Sprache, dann versucht die Gemeinde eine Gemeinschaft zu leben, in welcher alle gleiche Würde genießen, in welcher ökonomischer Ausgleich angestrebt wird, in welcher Konflikte durch Vergebung reguliert 55 So auch Enns, Fernando: Friedenskirche in der Ökumene, 179. 56 Ich übernehme diesen Begriff von Dabrock, Peter : Zugehörigkeit und Öffnung. Zum Verhältnis von kultureller Praxis und transpartikularer Geltung; in: GuL 16 (2001), 53 – 65, 61; ders.: Das Gute und des öffentlichen Vernunftgebrauchs. Aktuelle Herausforderungen im Verhältnis von Kirche und Staat, in: Das Gute und die Güter. Studien zur Güterethik, hg. von Hans-Richard Reuter / Torsten Meireis, , Münster 2007, 231 – 261, 246. Dabrock wendet diesen Begriff allerdings kritisch gegen den sog. »kirchlichen Kommunitarismus«. Vgl. Dabrock, Peter : Antwortender Glaube und Vernunft. Zum Ansatz evangelischer Fundamentaltheologie, , Stuttgart u. a. 2000, 144 – 159. 57 Yoder, John H.: Die Politik des Leibes Christi, 123 f. Vgl. Hauerwas, Stanley : Christian Existence Today, 74: »Yoder, however, does not discount the importance of public comprehensibility or appeal to outside audiences but rather questions whether those first seek a ›natural,‹ ›public,‹ or ›universal‹ ground for practical reason can sustain their assumption that such a position can stand alone. From Yoder’s perspective such ›universal‹ starting points cannot help but reflect the provincialism of the status quo which the practical moral reasoning of Christians must always be expected at some point to subvert.«

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werden, in welcher Probleme durch offenen Diskurs erarbeitet werden und damit gerechnet wird, dass jeder einen unverzichtbaren Beitrag zum gemeinsamen Leben zu leisten imstande ist. Jede dieser Praktiken gibt m.a.W. einen Impuls für die menschliche Gesellschaft. Jede von ihnen konkretisiert auf ihre Weise den Weltbezug der Kirche«58. Nochmals Yoder : »Jede dieser Praktiken [sc. der apostolischen Gemeinschaft] kann als Paradigma dafür dienen, wie andere soziale Gruppen funktionieren könnten. […] Menschen, die nicht den Glauben teilen oder der Gemeinschaft beitreten, können daraus lernen. ›Binding and loosing‹ kann Modelle zur Konfliktlösung, Alternativen zum Streit, und andere Perspektiven für ›Verbesserungen‹ liefern. Das Brot zu teilen, ist ein Paradigma nicht nur für Armenküchen und Wärmestuben, sondern auch für die Sozialversicherung und negative Einkommensteuer. Jedes Mitglied des Leibes hat eine Gabe, ist eine unmittelbare Alternative zu vertikalen ›Geschäfts‹-Modellen des Managements. Die Solidaritätsmodelle des Paulus bei der gemeinsamen Überlegung haben etwas mit den Gründen zu tun, daß die Japaner bessere Autos machen können als Detroit.«59 Die Praktiken sind mithin bereits als politische Rituale zu begreifen,60 nicht als Motivation zur eigentlichen Politik im Raum der Öffentlichkeit.61 Die 58 Zeindler, Matthias: Die Kirche des Kreuzes – John H. Yoders Ekklesiologie als Modell von Kirchesein in einer pluralistischen Gesellschaft, in: Jesus folgen in einer pluralistischen Welt. Impulse aus der Arbeit John Howard Yoders, hg. von Hanspeter Jecker, Weisenheim am Berg, 2001, 63 – 88, 79. 59 Yoder, John H.: The Royal Priesthood, 369 f. So auch ders.: Die Politik des Leibes Christi, 136 f. 60 So auch Ulrich, Hans G.: Kirchlich-politisches Zeugnis vom Frieden Gottes, 152 f.: »Kirche ist also nicht durch das definiert, was sie repräsentiert, sondern durch das, was sie immer neu in Gottes präsentes Wirken versetzt sein lässt. Die Praktiken sind zugleich als politische zu sehen, die – so ist das Politische hier zu bestimmen – das Zusammenleben tragen und ausmachen. Die Christen sind auf diese Weise per se nicht nur Christenmenschen, sondern Christenbürger. […] Entscheidend für das Politische ist, dass das Zusammenleben nicht auf Kampf beruht, sondern auf den gemeinsamen Praktiken.« So auch a. a. O., 155. 61 A.a.O., 158: »Die politia Gottes ist freilich – wenn wir der von Yoder und Hauerwas erinnerten Tradition folgen – nicht zu realisieren, aber auch nicht abzubilden, nicht repräsentativ oder symbolisch darzustellen. Sie ist stattdessen in den Praktiken der Kirchen Christi präsent, sie ist in diesen Praktiken lebendig. Die ist der alles tragende Angelpunkt dieser politischen Theologie, die als politische Ekklesiologie erscheint.« So, nämlich gegen die letztlich theokratische Vorstellung von der Repräsentanz von Gottes Regentschaft durch die Kirche gerichtet, auch a. a. O., 160: »Sie [sc. die Kirche] kann Gottes Regentschaft nur in den Praktiken bezeugen, die ihr entsprechen.« Fernerhin auch: a. a. O., 155: »Nicht weil die Kirche Gottes Regentschaft repräsentiert, sondern weil sie in seiner Erwartung die Praktiken ausführt, die zu ihm gehören, steht sie für die polis ein.« H.G. Ulrich (a. a. O., 164) kann diesen Gedanken auch rechtsethisch ausziehen: »Die Kirche und die Christen in der Kirche mit ihren Praktiken erscheinen nicht als Ort des politischen Tuns in der Annahme der Zuwendung Gottes und in der Erwartung des Kommen Gottes. Deshalb gibt es auch kein

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Praktiken sind ein sozial und politisch hochwirksames Werk: »Es ist eine a posteriori politische Praxis, die der Welt etwas mitteilt, das sie nicht wusste und vorher nicht glauben konnte. Sie sagt der Welt, was deren eigene Berufung und Schicksal ist, nicht durch die Ankündigung eines utopischen oder realistischen Ziels, das der ganzen Gesellschaft übergestülpt wird, sondern durch das pionierhafte Vorangehen im beispielhaften Aufzeigen der Macht und der Praktiken, die die Gestalt einer wiederhergestellten Menschlichkeit ausmachen. Das bekennende Volk Gottes ist die neue Welt, die sich aufgemacht hat.«62 Man kann im Einzelnen an Yoders Modell, seiner Pentalogie der Praktiken, die als eine Art »Verflüssigungsversuch« der gängigen Ämter- und überkommenen Hierarchiestrukturen der Kirche verstanden werden kann, einiges hinterfragen und kritisieren: Warum wählt bzw. benennt Yoder ausgerechnet diese fünf Praktiken und diese vier Ämter und keine anderen? Überhaupt bleibt die Frage, ob und inwiefern es sich bei den »Praktiken« um »Sakramente« handelt, was Yoder erwägt,63 recht ungeklärt. Freilich sollte man insbesondere seitens der Mehrheitskirchen nicht übersehen, dass die von Yoder angeführten Praktiken eine desavouierende Funktion gewinnen können, wenn man sie als Hintergrundfolie für heutige kirchliche Wirklichkeit gebraucht. In diesem Sinne bemerkt etwa der katholische Theologe Thomas Ruster : »Bei den Kirchen hierzulande sollten diese Beschreibungen [ sc. Yoders] besondere Aufmerksamkeit finden, weil sie, das lässt sich jedenfalls für die katholische Kirche ohne falsche Verallgemeinerung sagen, in allen fünf Punkten genau das Gegenteil dessen tun, was für Y. das Handeln der Kirche ausmacht: Sie halten sich an vorgegebene ethischen Normen und lösen Konflikte durch Ausgrenzung, wie etwa bei den wiederverheirateten Geschiedenen (1), sie feiern Eucharistie ohne jeden Bezug zur ökumenischen Realität (2), sie praktizieren Taufe als Aufnahme in eine religiöse Gemeinschaft, ohne damit einen Beitrag zur gesellschaftlichen Exklusionsproblematik zu leisten (3), sie lassen das Potenzial der Gaben aller Gläubigen ungenutzt und unberufen und reservieren den Berufungsbegriff auf das Priestertum (4) und sie pflegen einen hierarchisch ›göttlich autorisiertes Recht‹, das Menschen zu verwalten hätten, sondern es gibt eine menschliche Rechtsfindung in der Erwartung des Urteilens Gottes.« 62 Yoder, John H.: The Royal Priesthood, 373. So auch ders.: Die Politik des Leibes Christi, 22 ff. Vgl. fernerhin: Wannenwetsch, Bernd: »Einer des anderen Glied …« Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie politischer Repräsentation, in: Kirche – Ethik – Öffentlichkeit. Christliche Ethik in der Herausforderung, hg. von Wolfgang Schoberth / Ingrid Schoberth, , Münster u. a., 2002, 136 – 162, 162: »Und wenn der politische Charakter der Kirche in derselben Weise verborgen ist wie die Herrschaft Christi in der Welten, sollten wir nicht allzu überrascht sein, auf mehr oder minder sublime Wege zu stoßen, in denen bestimmte Aspekte der Ekklesiologie überschießen in die Imagination politischer Theorie und Praxis.« So auch ders.: Political Worship, 11. 63 Vgl. Yoder, John H.: Die Politik des Leibes Christi, 28; 127; 136 u. ö.

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strukturierten Kommunikationsstil, der das, was als Gottes Wille für heute gelten soll, an die Entscheidungen amtlicher Autorität zurückbindet (5). Ist das der Grund dafür, dass sich die Kirchen hierzulande in einer so tiefen Krise befinden?«64

3.

James W. McClendon: Das täuferische Leitbild – »baptist Vision« als Referenzrahmen der Urteilsbildung

James McClendon versteht Yoders Praktiken als Konkretionen dessen, was er als »baptist Vision« bezeichnet. Am treffendsten wird man diesen terminus technicus »baptist Vision« mit »täuferisches Leitbild« übersetzen. Bereits die Schreibweise »baptist Vision« (statt »Baptist Vision«) verrät das konfessionelle Selbstverständnis McClendons und den Referenzrahmen seiner Theologie: McClendon versteht sich als täuferischer Theologe bzw. als »Anabaptist Baptist«. Sein Denken ist in der Tradition der radikalen Reformation bzw. der »Believers Church« verortet, zu der er die diversen Gruppen von Täufern, Baptisten, Pietisten und Pfingstlern rechnet.65 Im Vorfeld der Abfassung seines dreibändigen Hauptwerkes »Systematic Theology« besuchte McClendon fünfundzwanzig »baptistische« Ausbildungsstätten, um die »baptist Vision« als das organisierende Zentrum66 seines auszuarbeitenden »Entwurfs« in einem umfassenden Lern- und Beratungsprozess zu validieren bzw. validieren zu lassen.

64 Ruster, Thomas: Rezension zu J.H. Yoder, Die Politik des Leibes Christi; in: ThRev 108 (2012), 429 f., 429. Ob es im Mehrheitsprotestantismus so viel besser aussieht, wäre sicherlich vermessen zu behaupten. Jedenfalls wäre es sehr spannend, Yoders Praktiken mit der Lehre des späten Luthers von den sieben »Heiltümern« in seiner Schrift »Von den Konziliis und Kirchen« (1539) zu vergleichen, was hier indes nicht geschehen kann. Vgl. dazu Goebel, Hans Theodor : Notae ecclesiae. Zum Problem der Unterscheidung der wahren von der falschen Kirche, in: EvTh 50 (1990), 222 – 241; Hütter, Reinhard: Theologie als kirchliche Praktik, 175 – 180. 65 Einführend in McClendons Theology vgl. Freeman, Curtis W.: A Theology for Radical Beliefers and Other Baptists, in: Brethren Life and Thought 50 (2006), 106 – 115; Hofheinz, Marco: Art. James William McClendon, Jr.; in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL) Bd. XXIX (2008), 1094 – 1103. 66 Vgl. McClendon, James W.: Ethics, 333: »I claim, in sum, that the vision so understood is a necessary and sufficient organizing principle for a (baptist) theology.« Dort z. T. kursiv.

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1. awareness of the biblical story as our story

5. mission as responsibility for costly witness

4. community as daily sharing in the vision

2. liberty as the freedom to obey God without state help or hindrance

3. discipleship as life transformed into obedience to Jesus’ lordship

Was verbirgt sich hinter der sog. »baptist Vision«? Das baptistische Leitbild umfasst fünf Kennzeichen: »first of all the awareness of the biblical story as our story, but also of liberty as the freedom to obey God without state help or hindrance, of discipleship as life transformed into obedience to Jesus’ lordship, of community as daily sharing in the vision, and of mission as responsibility for costly witness.«67 Diesem Leitbild liegt eine (applikations-)hermeneutische68 Doppelstrategie zugrunde, die von McClendon zugleich als die grundlegende Existenzweise der Kirche Jesu Christi und als der gemeinsame Nenner täuferischer Theologie verstanden wird. Sie basiert auf dem organisierenden Doppelprinzip »This-isthat« und »Then-is-now«: »[T]he vision can be expressed as a hermeneutical principle: shared awareness of the present Christian community as the primitive community and the eschatological community. In a motto, the church now is the primitive church and the church on judgment day ; the obedience and liberty of the followers of Jesus of Nazareth is our liberty, our obedience, till time’s end«.69 Damit ist das »Then-is-now«-Prinzip erklärt. Das »This-is-that«-Prinzip verdeutlicht McClendon an der Pfingstgeschichte. Petrus verweist in seiner Pfingstpredigt auf die Verheißung des Propheten Joel: 67 A.a.O., 34. Vgl. ders.; The Believers Church in Theological Perspective, in: The Wisdom of the Cross. Essays in Honor of John Howard Yoder, hg. von Stanley Hauerwas u. a., Grand Rapids / Cambridge, 1999, 309 – 326, 320. 68 Zur Applikationshermeneutik vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen, 41975, 290 – 295. 69 McClendon, James W.: Ethics, 30. Dort z. T. kursiv.

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»Und danach werde ich meinen Geist ausgiessen über alles Fleisch, und eure Söhne und eure Töchter werden weissagen, eure Alten werden Träume, eure jungen Männer werden Schauungen haben.« (Joel 3,1; Zürcher Bibel)

In der Pfingstpredigt wird das Schriftzitat eingeleitet mit der Wendung: »Die ist das, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist« (Apg 2,16). Beim »This-isthat-Prinzip«, das McClendon als ein immer widerkehrendes Motiv biblischer Literatur erkennt, geht es um einen Identifikationsvollzug, der auf Wiedererkennen70 basiert. McClendon fasst zusammen: »›This is that‹ declares the present relevance of what God has previously done, while ›then is now‹ does not abolish the future but declares the present relevance of what God will assuredly do […]. Moreover, these two, typical past and prophetic future, are not alternative visions between which to choose; they are and must remain one vision, one faith, one hope.«71 Das Doppelprinzip des »This-is-that« und des »Then-is-now« fungiert als hermeneutischer Schlüssel für das Verständnis biblischer Texte: »Dies deshalb und insofern, als er [sc. dieser Schlüssel] den entsprechend disponierten Leser instand setzt, sich nicht nur als Adressat des Gesagten zu identifizieren (›der Text redet zu mir‹), sondern sich auch auf den Inhalt des Gesagten als ein immer auch ihn, den Leser, Betreffendes zu verpflichten (›der Text redet von mir‹) […] McClendon kann in diesem Zusammenhang auch von der rezeptionstheoretisch selbstinvolvierenden Logik der Vision sprechen.«72 Über den »garstigen historischen Graben« hinweg werden Ereignisse aus Vergangenheit und Gegenwart und unterschiedliche soziale Größen wie die heutige Gemeinde und die damalige Urgemeinde miteinander identifiziert. Dieser Identifizierungsakt, der als hermeneutischer Kurzschluss erscheinen mag, hat einen eminent praktischen Sinn: Er entbindet gleichsam von der Aktualisierungsstrategie, das historisch Ferne, weil Vergangene in der Gegenwart zu aktualisieren. Es geht McClendon nicht um das Vergangene, sondern um eine angemessene Interpretation der gegenwärtigen Situation. Sie ist es, die ihm dunkel, ver70 Zum Wiedererkennen im Blick auf das Gotteserkennen vgl. Ritschl, Dietrich: Gotteserkennen durch Wiedererkennen, in: Einfach von Gott reden. Festschrift für Friedrich Mildenberger zum 65. Geburtstag, hg. von Jürgen Roloff / Hans G. Ulrich, Stuttgart u. a., 1994, 144 – 152; zum Wiedererkennen im Blick auf den »Nächsten« vgl. Johannes Fischers (Zum narrativen Fundament der sittlichen Erkenntnis. Metaethische Überlegungen zur Eigenart theologischer Ethik, in: Theologische Ethik der Gegenwart. Ein Überblick über zentrale Ansätze und Themen, hg. von Friederike Nüssel, Tübingen, 2009, 75 – 100, 85 f.) Interpretation des Samaritergleichnisses (Lk 10,25 – 37). 71 McClendon, James W.: Doctrine. Systematic Theology Vol. 2, Nashville, 1994, 69. 72 Schulz, Heiko: Narrative Ethik und Sprachanalyse. Die Ethik James William McClendons, in: Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, hg. von Marco Hofheinz u. a., Zürich 2009, 113 – 142, 119.

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schlossen und interpretationsbedürftig erscheint, nicht etwa der Text. Deshalb muss nicht etwa der vermeintlich dunkle, verschlossene Text aktualisiert werden und zwar in der Gestalt, dass die klar und plausibel erscheinende Gegenwart den Text erschließt. Vielmehr votiert McClendon für eine Umkehrung – gegen den gewöhnlichen Richtungssinn applikationshermeneutischer Aktualisierungsund Vermittlungsstrategien, wie sie oftmals der Homiletik zugrunde gelegt werden. McClendon tritt auch für eine Applikationshermeneutik ein, aber unter verändertem Vorzeichen. Man kann dies eine invertierte Applikationshermeneutik nennen. In homiletischem Zusammenhang macht Martin Hailer deutlich, um was es hier geht: »Pfarrerinnen und Pfarrer etwa haben den Predigttext für Sonntag vor sich und fragen sich, wie sie ihn ›für heute‹ aktualisieren könnten. Der Bibeltext gilt ihnen als das Schwere, Dunkle und Verschlossene und auf der anderen Seite erscheint ihnen relativ klar, was in der Gegenwart plausibel und vermittelbar ist. Es entstehen dann die Anschluss- und Vermittlungsfragen: Kann ich das heute noch so predigen? Was aus meinem Text kann ich vermitteln, was hingegen nicht (mehr)? […] Ich meine, dass es anders herum gehen muss. Gefragt ist nicht, wie die lange vergangene Welt der Bibel für das heute aktualisiert werden kann, gefragt ist vielmehr, wie unsere Gegenwart im Licht der biblischen Botschaft aussieht.«73 Entsprechend heißt es bei George A. Lindbeck: »Der Text absorbiert sozusagen die Welt und nicht die Welt den Text.«74 McClendon bemerkt, dass solch ein Lesen der Bibel, »read as interpreting the present situation, is characteristic of the baptist vision wherever we find it«75. Das Doppelprinzip als »hermeneutical key to church and Bible«76 bezeichnet den Kern der »baptist Vision«. Das erste Kennzeichen der »baptist Vision«, nämlich 73 Hailer, Martin: Götzen, Mächte und Gewalten, , Göttingen, 2008, 61 f. Vgl. auch: Hofheinz, Marco: Radikale Weihnacht oder : Weihnachten als »Götterdämmerung«. Eine Weihnachtspredigt zu Joh 1,14a als Beispiel theologischer Religionskritik, in: Theologische Religionskritik. Provokationen für Theologie und Kirche, hg. von dem. / Raphaela Meyer zu Hörste-Bührer, , Neukirchen-Vluyn, 2014, 206 – 232, 230. Richard Lischer (The Preacher King. Martin Luther King, Jr. and the Word that Moved America, New York / Oxford, 1995) hat die Umsetzung dieser hermeneutischen Strategie durch Martin Luther King, Jr. herausgearbeitet. 74 Lindbeck, George A.: Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter. Mit einer Einleitung von Hans G. Ulrich und Reinhard Hütter, , Gütersloh, 1994, 172. 75 McClendon, James W.: Ethics, 33. 76 Ders.: Doctrine, 44. Vgl. a. a. O., 45: »The baptist vision is the way the Bible is read by those who (1) accept the plain sense of Scripture as its dominant sense and recognize their continuity with the story it tells, and who (2) acknowledge that the finding the point of that story leads them to its application, and who also (3) see past and present and future linked by a ›this is that‹ and ›then is now‹ vision, a trope of mystical identity binding the story now to the story then and now to God’s future yet to come.«

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»the awareness of the biblical story as our story«, ist insofern entscheidend. Es umschreibt nichts anderes als das Doppelprinzip. Die übrigen vier Kennzeichen und das Doppelprinzip verhalten sich zueinander wie die materiale und die formale Seite der »baptist Vision«, wobei die formale der materialen Seite insofern übergeordnet ist, als dass die Kennzeichen gleichsam aus der Anwendung des Prinzips resultieren und durchaus eine gewisse Variabilität besitzen. In McClendons eigenen Worten: »I claim that this understanding of the vision is sufficiently encompassing and sufficiently distinctive to enable us to interpret baptist practices by it; I claim that this sense of vision adequately incorporates the other four senses reviewed above«77. Die »baptist Vision« ist McClendon zufolge notwendig, um die täuferischen Praktiken zu interpretieren. Ausdrücklich nimmt er dabei Bezug auf die von Yoder identifizierten fünf Praktiken.78 Sie entspringen der »baptist Vision«, insofern sie durch das Doppelprinzip generiert wurden; zugleich lassen sich McClendons fünf Kennzeichen der »baptist Vision« als Interpretamente von Yoders fünf Praktiken verstehen. Was bedeutet dies nun im Blick auf moralische Urteile? McClendon schreibt: Urteile im Sinne moralischer Entscheidungen »können nicht einfach als isolierte Akte eines natürlichen (oder rationalen, gesellschaftlichen oder gehorsamen) Willens angesehen werden. Sie stellen nicht weniger den Ausweis eines Charakters mit seinen spezifischen Tugenden und Untugenden vor, die Entfaltung einer integralen Vision als Teilnahme an einem Verbund von Praktiken, dessen Ziel die Güter sind, die jene Praktiken mit sich bringen; mit einem Wort: Elemente einer fortlaufenden erzählten Geschichte, in deren Episoden der moralisch Handelnde eine bestimmte Rolle spielt, einen Charakter verkörpert, und gegen deren Duktus der Wert einer Entscheidung abgewogen werden kann.«79 Urteile sind demzufolge als die Entfaltung einer integralen Vision zu verstehen, im Blick auf täuferische Gemeinden also der »baptist Vision«. Vollzieht sich nun die Entfaltung dieser Vision als Teilnahme an einem Verbund von Praktiken, so kann man daraus schließen, dass die Urteile nicht ohne diese Praktiken zu gewinnen sind. Dabei will beachtet werden, dass solche Urteile nur unter Berücksichtigung ihrer narrativen Einbettung möglich sind: »McClendon zufolge kann nämlich die Möglichkeit des visionären Identifikationsvollzuges von einst und jetzt nur dann einleuchten und dieser auch nur dann Wirklichkeit

77 Ders.: Ethics, 33. 78 Vgl. ders.: Witness. Systematic Theology Vol. 3, Nashville, 2000, 379 f. 79 Ders.: Narrative Ethics and Christian Ethics, in: FaPh 3 (1986), 383 – 396, 383 (Übersetzung: Bernd Wannenwetsch). Vgl. auch McClendon, James W.: Biography as Theology. How Life Stories Can Remake Today’s Theology, Neuausgabe, Philadelphia, 1990, 1 – 23.

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werden, wenn er narrativ, d. h. durch traditions- und gemeinschaftskonstitutive Erzählungen vermittelt und bedingt ist«80.

4.

Stanley Hauerwas: Urteilsbildung im Raum der Kirche als Kunst narrativer Kasuistik81

Wie vollzieht sich nun aber Urteilsbildung im Raum von Kirche? Wie kann die Aufgabe der Kirche als Diskursgemeinschaft konkret wahrgenommen werden? Stanley Hauerwas hat in dieser Hinsicht einen Vorstoß unternommen. Wie McClendon wendet er sich gegen die Fixierung auf »Entscheidungen« (»decision-making«) im Zusammenhang einer »Dilemmaethik« (»Quandary Ethics«).82 Das ist für einen Tugendethiker nicht überraschend, richtet sich sein Augenmerk doch in erster Linie auf die gut handelnde Person, die bestimmte charakterprägende Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten mitbringt. Der Entscheidungsträger als Person wird durch die Orientierung der ethischen Debatte an Dilemmata bzw. »Entscheidungsproblemen« zumeist reduktionistisch wahrgenommen. Eine Einordnung in den Zusammenhang der erzählten Geschichte (»story«) einer Person erfolgt vielfach nicht. Vielmehr manifestiert sich gerade in den Beschreibungen der »Fälle« oftmals eine deterministische Sichtweise. Hauerwas leugnet nun keineswegs die Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen.83 Er weist jedoch darauf hin, dass wir in den meisten uns begegnenden Situationen gar keine Entscheidungen treffen müssen: »In moralischer Hinsicht sind die wichtigsten Dinge […] jene Angelegenheiten, über die wir niemals eine ›Entscheidung‹ treffen müssen.«84 Gewaltlose Menschen müssen sich nicht entscheiden, ob sie Gewalt anwenden oder nicht, mutige nicht, ob sie mutig sein sollen. Die meisten sog. »Entscheidungen« erweisen sich bei Lichte betrachtet als bewusstgemachte Bestätigungen dessen, was wir geworden sind. Auch Situationen sind nicht einfach in einem objektiven Sinne gegeben, sondern sie erscheinen uns so, wie wir sind und sie wahrnehmen, gleichsam im Vorgriff be-

80 Schulz, Heiko: Narrative Ethik und Sprachanalyse, 120. Vgl. McClendon, James W.: Ethics, 30; 36; 331. 81 Zum Hauerwas-Abschnitt vgl. auch Hütter, Reinhard: Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis, 239 – 265. 82 Vgl. McClendon, James W.: Ethics, 73 – 75; 331 u. ö.; ders.: Narrative Ethics and Christian Ethics, 383 – 385. 83 Vgl. Hauerwas, Stanley : Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, hg. von Reinhard Hütter, , Neukirchen-Vluyn, 1995, 185; 192. 84 A.a.O., 189.

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urteilen. Aus diesem Umstand folgert Hauerwas: »Die Frage, was ich tun soll, handelt tatsächlich davon, was ich bin oder sein soll«85. Wenn ich nun im Kontext der Erzählgemeinschaft Kirche geprägt werde, so ist diese Prägung zu prüfen und zwar anhand der »story«, auf die sich diese Erzählgemeinschaft beruft, sprich: die Geschichte Gottes mit seinem Volk, bestehend aus Israel und der Kirche. Die Gestalt dieser Überprüfung nennt Hauerwas »narrative Kasuistik«. Mittels derselben nimmt die Kirche als Diskursgemeinde ihre Überprüfungsaufgabe wahr und zwar als Aufgabe einer Überprüfung hinsichtlich der Implikationen jener erzählten Geschichte Gottes. Was meint jedoch Hauerwas näherhin mit »Kasuistik«? In Abgrenzung zur traditionellen Kasuistik86 definiert er : »Was ich mit Kasuistik meine, ist […] nicht nur der Versuch, schwierige Fälle des Gewissens innerhalb eines Systems moralischer Prinzipien zu entscheiden, sondern ist ein Prozeß, durch den eine Tradition prüft, ob ihre Praktiken im Lichte ihrer grundlegenden Gewohnheiten und Überzeugungen konsistent (das heißt der Wahrheit entsprechend) oder inkonsistent sind oder aber diese Überzeugungen neue Praktiken und ein neues Verhalten erfordern. […] Kasuistik ist die Reflexion einer Gemeinschaft in Hinsicht auf ihre Erfahrung, um die oft unbemerkten und nicht anerkannten Implikationen ihrer narrativen Verpflichtung auf phantasievolle Weise zu prüfen.«87 Narrativ ist die Kasuistik, weil sie sich auf die »story« bezieht, also nicht, weil sie im Modus des Erzählens daherkommt, sondern auf die »story« hin reflektiert. Diese Reflexion vollzieht sich als diakritische Praxis, die keineswegs maßstabslos oder irrational88 und deshalb auch nicht schutzlos dem Intuitionismus

85 A.a.O., 180. Das hier zutage tretende Anliegen einer Identitätsethik teilt auch Frey, Christofer: Theologische Ethik, , Neukirchen-Vluyn, 1990, 14: »Die Ethik muß nach der Identität derjenigen, die sich entscheiden, sich verhalten, die handeln, fragen. Das ist einer der wichtigsten Gesichtspunkte […]: Die Ethik behandelt nicht nur die Frage ›Was sollen wir tun?‹, sondern auch ›Wer wollen wir in unserem Tun und Verhalten sein?« Vgl. jetzt auch ders.: Wege zu einer evangelischen Ethik. Eine Grundlegung, Gütersloh, 2014. 86 Traditionelle Kasuistik erweist sich nach S. Hauerwas (a. a. O., 195) als individualistisch enggeführt: »Eine der Schwierigkeiten der Kasuistik in ihrer traditionellen Form, oder wenn sie in einem eher säkularen Kontext die Form einer ›normativen Theorie‹ annimmt, liegt in ihren impliziten individualistischen Voraussetzungen. Es ist, als ob ein Individuum einfach ohne irgendeinen gemeinschaftlichen Kontext auf Entscheidungen trifft.« 87 A.a.O., 183. 88 Vgl. ders.: Christian Existence Today, 73: »Practical reason is not a disembodied process based on abstract principles but the process of a community in which every member has a role to play. Such a process does not disdain the importance of logical rigor for aiding in their deliberation, but logic cannot be a substitute for the actual process of discernment.«

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preisgegeben ist: »[D]er Maßstab des Dissenses ist immer die Treue zu der Gottesherrschaft, die wir in Leben und Tod Jesu finden«89. Bei der Überprüfung spielen übrigens – wie Hauerwas bemerkt – Analogien eine wichtige Rolle. Diese Einsicht knüpft weniger ans Barthsche Erbe, als vielmehr direkt an Paulus an, der in Röm 12,6 von einem prophetischen Urteilen »gemäß der Analogie des Glaubens« spricht. Wir analogisieren moralische Vorstellungen, indem wir sie einem Vergleich auf Entsprechung hin unterziehen: »Denn Kasuistik ist nur eine erweiterte Diskussion der Bedeutung bestimmter Vorstellungen, indem diese ständig gegenüber neuen Umständen bzw. in Beziehung zu anderen Vorstellungen überprüft werden.«90

Narrative Kasuistik nach Stanley Hauerwas

Story Gottes: Israel & Jesus Prüfung: truthfulness

Urteilspraktik Erzählgemeinschaft Kirche

Über diese allgemeine Einsicht hinaus, dass Analogiebildung zum Instrumentarium der praktischen Vernunft gehört und wir Analogiebildungen im Sinne von Vergleichen zwischen bereits Dagewesenem, also paradigmatischen Beispielen, die in der Erinnerung verankert sind, und neuen Herausforderungen anstellen,91 bezieht Hauerwas die Analogiebildung auf ein spezifisches Analogon, nämlich die »story« Gottes, wie sie in Israel und Jesus Christus mitgeteilt 89 Ders.: Selig sind die Friedfertigen, 200. 90 Ebd. 91 Vgl. ders.: Christian Existence Today, 71: »As a community develops over time, new and unanticipated problems arise which require reconsideration of those paradigms and their relation to one another, as well as of what was thought to be their implications. The testing of the analogies and disanalogies at once may confirm as well as change assumptions about the meaning of the examples. The crucial point, however, is that the rationality of their process is finally determined by how well the analogical comparisons serve to draw out the implications of those examples for the community.«

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ist: »Die jeweiligen Urteile müssen von der Geschichte Israels und der Geschichte Jesu Christi her geprüft werden, d. h. es gilt sie so zu begründen, daß die überzeugende Konsistenz zwischen ihnen und der ›Geschichte Gottes‹ plausibel wird, so daß sie im Idealfall die Geschichte Gottes, wie sie sich in Israel und Jesus Christus mitteilt, spiegeln.«92 In Hauerwas’ eigenen Worten: »Unsere moralischen Überzeugungen hängen von der Erfahrung und der Weisheit eines Volkes ab, das auf einem Weg des Entdeckens ist und weiterhin bleibt, den Gott festgelegt hat und den wir durch Israel und das Leben, den Tod und die Auferstehung Christi kennengelernt haben. Die Beurteilungen dieser Menschen hinsichtlich solcher Angelegenheiten wie die Wahrheit zu sagen, Scheidung, Tötung usw. reflektieren die Geschichten von Israel und Jesus und müssen auch an ihnen überprüft werden. Eine solche Überprüfung ist aber nicht einfach eine Ableitung von Handlungen aus einem Text, sondern eine Überprüfung durch andere, die auch durch diese Geschichte geformt worden sind und vielleicht angemessenere Wege entdeckt haben, unsere Praktiken, Gewohnheiten und Entscheidungen zu formen.«93

5.

Fazit

Es wird darauf ankommen, dahingehend einen Konsens zu finden, dass wir im Urteil einstimmen in die Gottesherrschaft, in die »story« Jesu. Damit dies geschehen kann, braucht es die Erzählgemeinschaft der Kirche. Denn die Kirche »ist jene Gemeinschaft, die sich verpflichtet hat, die Implikationen der Geschichte Gottes für ihr gemeinsames Leben ebenso wie das Leben der Welt, wie sie durch Israel und Jesus Christus bekannt geworden ist, ständig auszuarbeiten und zu überprüfen.«94 Ich bin mit der Frage eingestiegen, warum der Raum der Kirche für das moralische Urteilen bedeutsam ist? Die Antwort des sog. »kirchlichen Kommunitarismus« lautet: Der Raum der Kirche spielt deshalb eine entscheidende Rolle, weil und sofern die Kirche gebunden ist an die »story Gottes«. Um es auf den Punkt zu bringen: Die ekklesio-ethische Einsicht des sog. »kirchlichen Kommunitarismus« besteht darin, dass moralische Urteile eingebettet sind bzw. eingebettet sein wollen in die gemeinschaftlichen Praktiken der »story«-geprägten und »story«-gebundenen Kirche Jesu Christi. Es geht in diesem Kontext nicht nur um die Bildung von moralischen Urteilen, 92 Hütter, Reinhard: Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis, 246. 93 Hauerwas, Stanley : Selig sind die Friedfertigen, 199. 94 A.a.O., 197.

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sondern auch um die Bildung in moralischen Urteilen.95 Wenn man Urteilsbildung auf die Bildung von Urteilen reduziert, dann wird die Urteilsbildung zur Poiesis und die Urteile werden zu deren Produkt. Urteilsbildung ist, wie die sog. »kirchlichen Kommunitaristen« betonen, gebunden an bestimmte Praktiken, die das Entdecken und Begründen von moralischen Urteilen im Kontext der Kirche ermöglichen.96 Natürlich können auch anderswo moralische Urteile gebildet werden als in der Kirche. Christenmenschen haben Freunde auch außerhalb der Kirche, mit denen der Dialog hinsichtlich der Urteilsbildung lohnt, wie Hauerwas ausdrücklich betont.97 Wie bereits zitiert, reichen nämlich, mit Yoder gesprochen, »die heilenden Kräfte seines [sc. des Messias Jesus] Wirkens ihrem Wesen nach weiter […] als die Kenntnis seines Namens.«98 Die Praktiken der Kirche sind jedoch gebunden an die Kenntnis seines Namens und dieser Bezug ist es, der den Raum der Kirche für die moralische Urteilsbildung unverzichtbar macht.

95 So auch Jones, L. Gregory : Transformed Judgment, 65: »[A]n adequate account of the activity of moral judgment needs to attend not only to the formation of moral judgment but also to the formation in moral judgment.« 96 Zu den kirchlichen Praktiken als Entdeckungs- und Begründungszusammenhang von moralischen Urteilen vgl. auch Hütter, Reinhard: Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis, 239 – 247. 97 Vgl. dazu Hofheinz, Marco: Kirche als »Society of Friends«. Überraschende freundschaftsekklesiologische Koinzidenzen bei Jürgen Moltmann und Stanley Hauerwas, in: Freundschaft. Zur Aktualität eines traditionsreichen Begriffs, hg. von Marco Hofheinz u. a., Zürich, 2014, 153 – 205. 98 Yoder, John H.: Die Politik des Leibes Christi, 124.

Gerhard Marcel Martin

Resonanzbereiche des Urteilens

Nachdem ich kürzlich im Krankenhaus bei der ersten persönlichen Begegnung vom Chefarzt mit dem Satz begrüßt wurde »Wenn ich ehrlich bin – warum Sie hier sind, weiß ich eigentlich nicht so genau«, bin ich mir noch weniger sicher als ohnehin, ob ich jeweils am richtigen Ort bin. So hier und heute. Klar ist: Ich bin dankenswerterweise zur aktiven Teilnahme eingeladen worden mit der Erwartung, dass ich etwas von meinen Erfahrungen und Reflexionen zum Tagungsthema beizutragen habe. Aber Faktum bleibt auch, dass ich von außen in einen ongoing process komme. Zwar habe ich viele, aber eben nicht alle vorliegenden Materialien durchgearbeitet, und vor allem kenne ich die mündlichen offiziellen und auch persönlicheren Konferenz-Verhandlungen nicht und bin insofern ein Quer- und Neueinsteiger. Ich komme nicht nur von außen, sondern ich präsentiere auch Materialien, Eindrücke und Erfahrungen von außen. Trotzdem hoffe ich, dass mein Papier nicht nur privat ist, liegen ihm doch weite und verschiedenste persönliche, experimentelle und akademische Interaktionen zugrunde. Einsetzen möchte ich mit einigen Bemerkungen zu dem Handlungs- und Erfahrungsbereich, aus dem zu berichten ich von der Frau Kollegin Schoberth eingeladen worden bin – erklärtermaßen mit der Erwartung, dass Ihr Projekt dadurch auf die eine oder andere Weise stimuliert werden könnte. Ob dabei »Resonanz«, die zentrale Metapher im Arbeitstitel meines Beitrags, optimal gewählt war und bleibt, möchte ich nicht diskutieren. Jedenfalls habe ich mich im Laufe meiner Vorbereitungen dazu entschieden, nicht mit diesem Terminus zu operieren. Täte ich es, bedürfte es vieler zusätzlicher Klärungen in Bezug auf Wort- und Bedeutungsfeld dieses Begriffs und seiner Anschlussfähigkeit und in Bezug auf den operativen Gewinn.

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1.

Gerhard Marcel Martin

Christlich-buddhistischer Dialog

Eingruppiert ist mein Beitrag in den Themenbereich »Kirche als Raum des Urteilens«. Diese Zuordnung ist angemessen. Aber in gewissem Maße überschreite ich dieses Territorium, indem meinem Beitrag Dialogerfahrungen zwischen Repräsentantinnen des Reinen Land Buddhismus (Jo¯do-shinshu¯) und der Evangelischen Theologie / Religionswissenschaft zugrunde liegen, die sich ¯ tani seit 1999 an der Philipps Universität Marburg und an der buddhistischen O University (Kyoto/Japan) entwickelt haben. Im Mai 1999 fand in Marburg das III. Internationale Rudolf-Otto-Symposium unter dem Titel »Buddhismus und Christentum. Jodo Shinshu und Evangelische Theologie« statt. Dem folgte im Frühjahr 2003 die Internationale Fachkonferenz »Buddhismus und Christentum vor der Herausforderung der Säkularisierung«1 Im Rahmen von Gegeneinladungen nach Kyoto bot ich 2000 ein Seminar zu jüdischen und christlichen apokalyptischen Traditionen an2 und hielt eine Vorlesung über akademische Konzepte von »Praktischer Theologie«. Von 2006 bis 2008 war ich als Visiting Professor zu Kompaktseminaren und Blockvorlesungen eingeladen. Eine der den Dialog zentrierenden Vorlesungen »Love, Hate, Compassion: A Buddhist Depth Psychological Dialogue« ist 2009 im »Eastern Buddhist« und 2013 in Deutsch erschienen.3 Zum Lehrprogramm 2008 gehörte auch die Einladung, einen von den buddhistischen Kollegen vorgegebenen Text ihrer Tradition in einem vierstündigen workshop szenisch / dramatisch auf der äußeren Bühne und in inneren Vorstellungen (Imagination) existenzialer religiöser Erfahrung zugänglich zu machen.4 Auf der Basis all dieser Dialogerfahrungen veröffentlichte ich 2010 die deutsche Übersetzung und einen spirituellen Kommentar zu einer Sammlung von Aussprüchen mittelalterlicher japanischer Wandermönche

1 Buddhismus und Christentum. Jodo Shinshu und Evangelische Theologie, hg. von Barth, Hans-Martin, Minoura, Eryo und Pye, Michael; Hamburg, 2000. Buddhismus und Christentum vor der Herausforderung der Säkularisierung,; hg. von Barth, Hans-Martin, Kadowaki, Ken Minoura, Eryo, Pye, Michael; Schenefeld, 2004. Vgl. Jäger, Stefan S.: Glaube und Religiöse Rede bei Tillich und im Shin-Buddhismus. Eine religionshermeneutische Studie, Berlin/Boston, 2011, bes. 478 – 490. 2 Vgl. Martin, Gerhard Marcel: Weltuntergang. Gefahr und Sinn apokalyptischer Visionen, Stuttgart 1984 (jap. Übersetzung, Tokyo, 1997). 3 Martin, Gerhard Marcel: Love, Hate, Compassion. A Buddhist-Christian Depth Psychological Dialogue; in: The Eastern Buddhist 40, No.1& 2, Kyoto, 2009, 1 – 24. Martin, Gerhard Marcel: Liebe, Hass, Barmherzigkeit (karuna¯): Ein Beitrag zum buddhistisch-christlichen Dialog; in: WzM65, Göttingen, 2013, 19 – 32. 4 Martin, Gerhard Marcel: Interreligiöses Zusammenspiel. Sutradrama an der buddhistischen Otani-Universität / Kyoto (Japan); in: Moderne Religionsgeschichte im Gespräch, hg. von Adelheid Herrmann-Pfandt, Berlin, 2010, 146 – 160.

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(Ichigon Ho¯dan)5, in der eine drastische, existenziell radikale Spielart des Shin Buddhismus zum Ausdruck kommt.6 Translationswissenschaftlich markant mag das Faktum sein, dass die Umgangssprachen und Sprachen der Fachdiskussion Englisch, Japanisch und Deutsch und die Sprachen der Arbeitsmaterialien von östlicher Seite Sanskrit, Japanisch und Chinesisch, von westlicher Seite Hebräisch, Griechisch, Lateinisch, Englisch und Deutsch waren. Interdisziplinär betrachtet waren im akademischen Austausch jedenfalls folgende wissenschaftliche Zugänge mit im Blick: Religions- und Geschichtswissenschaft, Philosophie, Theologie / Buddhologie, Sprach- und Textwissenschaften, Religionspsychologie und -soziologie, Ästhetik, Theaterwissenschaft / Theaterpädagogik. Set und setting interreligiöser Dialoge können sehr verschieden sein. Perry Schmidt-Leukel, Professor für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster erarbeitet in seinem Werk »Gott ohne Grenzen – Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen« eine Typologie religionstheologischer Standpunkte und unterscheidet dabei durchgängig: – »Exklusivismus: Die Vermittlung heilshafter Erkenntnis/Offenbarung einer transzendenten Wirklichkeit gibt es nur in einer einzigen Religion. – Inklusivismus: (Diese) Vermittlung … gibt es in mehr als einer Religion, aber nur in einer einzigen Religion in einer alle anderen überbietenden Form. – Pluralismus: (Diese) Vermittlung … gibt es in mehr als einer Religion, ohne dass dabei eine einzige Religion alle anderen überbietet.«7 Schmidt-Leukels pluralistisch orientierte Grundüberzeugung ist, »dass sich die großen religiösen Traditionen der Menschheit zwar unterschiedlich, aber prinzipiell gleichwertig auf eine letzte transzendente Wirklichkeit beziehen«, dass sie »Heilswege« sind und »heilshafte Transzendenzerkenntnis« vermitteln.8 Ein solcher soteriologischer Ansatz reicht nach seiner Einsicht weiter als rationale Wahrheitsdispute und der Vergleich ethischer Wertvorstellungen und Handlungsnormen, so wichtig diese auch sind. Wobei eine pluralistische Position natürlich von jeder Religion je aus ihren Traditionen heraus im Dialog selbst entwickelt werden muss. Die hier nicht weiter entfaltete, aber implizite Grundatmosphäre meiner 5 Hirota, Dennis: Plain Words on the Pure Land Way. Sayings of the Wandering Monks of Medieval Japan. A Translation of Ichigon Ho¯dan. Kyoto, 1989. 6 Martin, Gerhard Marcel: Buddhismus krass. Botschaften der japanischen Hijiri-Mönche, München, 2010. 7 Schmidt-Leukel, Perry : Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh, 2005, 67. 8 Schmidt-Leukel, Perry : Gott, 24, 37.

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Dialogpraxis war pluralistisch orientiert – zugunsten einer offenen Begegnung. Dies war historisch auch dadurch konstelliert, dass sich seit dem Beginn der Meiji Zeit im Jahre 1868 viele japanische buddhistische Schulrichtungen dazu herausgefordert sahen, angesichts der allseitigen (politischen, kulturellen und ökonomischen) Öffnung zum Westen und angesichts des aufkommenden militarisierten Nationalismus, verbunden mit der Etablierung eines Staats-Shintoismus, ihre eigene Position neu zu bestimmen. Das ist der Ursprungsort einer erstaunlich frühen existenzialen – im Gegensatz zu einer rein historisch distanziert doktrinären – Interpretation der eigenen Tradition. Die Basis religiösen Verstehens bleibt dann verbunden mit und zielt auf persönliche subjektive Erfahrung.9 Entsprechend dieser Ausgangslage konnten aus der Religionswissenschaft und der Religionspsychologie bekannte und in ihr praktizierte Kommunikationsmodelle zur hermeneutischen Selbstvergewisserung des Dialog-Vorgehens diskursiv erörtert werden: – das Konzept des Ethnologen Bronislaw Malinowkski (1884 – 1942): »teilnehmende Beobachtung« (participant observation), von dem Religionswissenschaftler Michael Pye erweitert um »beobachtende Teilnahme« (observant participation)10, – das tiefenpsychologisch fundierte Verfahren der »Spiegelkommunikation«, so wie es von Peter Schellenbaum entworfen und praktiziert worden ist11, und – die von Theo Sundermeier und anderen entwickelte »praktische Hermeneutik« mit der Grundparole »Den Fremden verstehen« – wobei das Fremde des Fremden (und bisweilen noch des Eigenen) in jedem Fall respektiert bleibt.12

2.

Kurze Grund-Sätze zum interreligiösen Dialog

Der interreligiöse Dialog ist ein reichlich abstraktes und artifizielles Unterfangen, wenn sich die daran Teilnehmenden so verhalten, als erwarte man von ihnen, »offizielle« Lehräußerungen kontrovers auszutauschen. Dann müssen nämlich die Repräsentanten verschiedener Religionen versuchen, sich als gut informierte Vertreter einer religiösen Institution und ihrer Tradition so neutral wie möglich zu verhalten. Auf diese Weise aber werden ihre Lebensgeschichte, 9 Vgl. Textauswahl und Kommentierung bei Blum, Mark L. / Rhodes, Robert F. (Hg.): Cultivating Spirituality. A Modern Shin Buddhist Anthology. Albany, 2011. 10 Pye, Michael, Religionswissenschaft und Religionen. Eine riskante Nähe und ihre Notwendigkeit; in: Marburger Journal of Religion Vol. 9, No.1, Marburg, 2004, 1 – 17. 11 Schellenbaum, Peter : Stichwort: Gottesbild, Stuttgart, 1981. 12 Sundermeier, Theo: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Göttingen, 1996.

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ihre eigene existenzielle Haltung gegenüber dieser Tradition und deren verschiedene – reale und mögliche – gegenwärtige Erscheinungsformen künstlich ausgeblendet. Gewöhnlich, zumindest in der Moderne, entwickeln Menschen aber eine offene und kritische, wiewohl irgendwie balancierte Haltung von mehr oder weniger voller Identifikation und von mentaler und ritueller Distanz gegenüber dem Religionssystem, in dem sie leben. Das trifft jedenfalls auf ihre persönliche bewusste oder auch unbewusste Aneignung zu. Und in der jeweiligen religiösen Institution selbst gibt es – in allen Bereichen religiösen Existenzvollzugs: in liturgischer und alltäglicher Lebenspraxis, im kognitiven wie im meditativen Zugang – durchaus verschiedene Profilierungen. Menschen treffen – notwendigerweise – eine eigene positive Auswahl, stellen neue Verbindungen her und schließen bestimmte Aspekte aus. Sie entwickeln im Denken, Fühlen und Handeln eine eigene »Gestalt« und ein »persönlichkeitsspezifisches Credo«, wie der Pastoraltheologe Klaus Winkler das genannt hat. Winkler geht es um »die Einbindung der individuellen Glaubensmodalität in die psychogenetisch bedingte und charaktertypisch ausgeprägte Erlebensart. Im Einzelnen lässt sich das etwa so beschreiben: Charakterprägungen, Grundhaltungen, Lebenseinstellungen formen sich dort aus, wo das Individuum sich in aufeinander folgenden Kindheitsphasen die Möglichkeit zu immer weitergehend selbständiger Lebensbewältigung erwirbt«13. Diese Perspektive muss freilich erweitert werden um Lebensphasen, die weit über das Kindesalter hinaus- oder prä- und perinatal ihm gar vorangehen, und um soziale, politische, kulturelle und religiöse Einflussfaktoren. Für mich ist es äußerst wichtig, auch in die Atmosphäre »offizieller« interreligiöser Dialoge diese persönlichkeitsspezifischen Gegebenheiten mit einzubeziehen. Darum sind rein dogmatische Debatten, Abklärungen über kontroverse Lehrmeinungen, weder ein angemessener Ausgangspunkt noch ein geeigneter Fokus oder gar Zielpunkt interreligiöser Dialoge. Dogmatische Lehrgebäude sind historische und manchmal auch aktuelle Ergebnisse theoretisch theologischer Streitpunkte in sozialen und ideologischen (Macht)konflikten innerhalb einer religiösen Organisation und / oder gegenüber einem gesellschaftlich politischen System. Zu einem bestimmten Zeitpunkt einer geschichtlichen Entwicklung mögen sie für diese Situation notwendige und verbindliche Positionen markieren. Aber gerade darum eignen sie sich nicht als Ausgangspunkt für Austausch und Begegnung in historisch gänzlich anderen Situationen.

13 Winkler, Klaus: Das persönlichkeitsspezifische Credo; in: WzM 34/1982, 159 – 163.

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3.

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Das persönliche setting

Ich bin davon überzeugt, dass es für meine Dialogerfahrungen der letzten Jahre außerordentlich wichtig war, dass unsere Kommunikation nicht nur aus Vorlesungen, Seminaren und – jedenfalls auch und einmal – aus szenischer Arbeit (Sutradrama, mit Momenten der Selbsterfahrung) bestanden hat, sondern dass wir auch wechselseitig an religiösen Zeremonien teilgenommen haben – ganz zu schweigen von den social events. Dazu zähle ich mehr oder weniger offizielle akademische Festessen und informelle parties, auch mit den Studierenden. Darüber hinaus möchte ich auch persönliche Begegnungen mit KollegInnen mehr privater Art, z. B. bei Stadtführungen oder auf längeren Fahrten (z. B. zur Wartburg oder beim Flughafentransfer), bisweilen unfreiwillig ausgedehnt durch Verkehrsstaus, erwähnen. Die persönlichen Begegnungen und der akademische Gesprächsaustausch mit buddhistischen Priestern und Laien wie auch mit anderen JapanerInnen sind beglückend, schaffen eine positive Grundatmosphäre und schärfen den Blick auch für Fachdiskussionen.

4.

Die aktuelle Gesprächslage

2013 wurde ich von der Eastern Buddhist Society (Kyoto) dazu eingeladen, angesichts der ausgiebigen Dialogerfahrungen zwischen Kyoto und Marburg unter dem Titel »Refocusing the Dialogue« Gedanken dazu vorzutragen, wie dieser Austausch weitergehen könnte. Nach hermeneutisch grundsätzlicheren Erwägungen habe ich vier Medienbereiche bzw. Verfahren genannt und näher charakterisiert, die mir geeignet erscheinen, existenziale Zugänge im interreligiösen Dialog zu befördern – Zugänge, die dominant nicht verbal und mental zentriert bzw. eingeengt sind, sondern Kreativität, Affektivität und Handlungsmomente mit einbeziehen. Diese kurze Zusammenstellung würde ich gerne nach Heidelberg ex-, bzw. importieren. Und ich bitte Sie darum, schon beim Zuhören zu fragen, welche dieser Zugänge auch im Arbeitsfeld des Urteilen-Lernens bereits immer schon mit im Blick und auch in der Praxis sind, aber auch zu erwägen, welche Medien verstärkt oder auch innovativ eingesetzt und auf diese Weise wechselseitig Inhalts- und Verfahrensimpulse ausgetauscht werden könnten.

4.1

Spielen / szenische Arbeit

Spielen ist eine zentrale Dimension religiöser Lebenswelten. Dabei sind Rollenspiel, Theaterübungen und alle Spiel-arten von Ritualen und Liturgien we-

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sentlich mit körperlicher Erfahrung und körperlichem Ausdruck verbunden. Um tief und ganzheitlich mit einer Religionstradition in Kontakt zu kommen, reicht eben nicht der mentale Zugang, sondern der leibliche Annäherungsweg gehört unabdingbar hinzu. Nur so ist die Verbindung der Teilnehmenden zu komplexen Assoziationen und Erinnerungen, Gefühlen und Affekten möglich, die durch reines Bücherstudium und im intellektuellen Austausch unzugänglich bleiben oder mehr oder weniger bewusst abgewiesen werden. Das ist der Grund dafür, dass mir ebenfalls und gerade im interreligiösen Dialog liturgische Übungsprogramme (etwa: »Liturgische Präsenz«14) und der hermeneutisch ganzheitliche Zugang des Bibliodramas so wertvoll und auch wirkungsvoll erscheinen. Bibliodrama ist eine experimentelle, textorientierte spielerische Interaktion in und mit der Gruppe. Es basiert auf Körper- und Theaterarbeit, auf Methoden der linguistischen Textanalyse, der Humanistischen Psychologie (das Psychodrama eingeschlossen) und der Spiel- und Theaterpädagogik im weitesten Sinn. Hier sind Chancen, die Ebenen des Austausches zu erweitern und zu vertiefen. Diese Theater-Arbeit ist eine besondere Art und Weise der Öffnung des Verstehens nicht nur religiöser Texte, sondern auch religiöser Riten. Wobei es in der Textarbeit um Gattungen aller Art, nicht nur um Narrationen geht. Was meine eigenen diesbezüglichen Experimente im interreligiösen Dialog anbetrifft und auch, um diesen Zugang zu veranschaulichen, möchte ich folgende Berichtsdaten kurz zusammenstellen: Bei der 5th International Lotus Sutra Conference in Marburg (Mai 2002) bot ich einen Theaterworkshop zum 4. Kapitel dieses Sutras an, vornehmlich mit Skulpturenarbeit, die Situationen und Begegnungen ganzheitlich, das heißt auch durch »szenisches Verstehen«15, mit- und nachvollziehbar machen sollte. Während meiner längeren Aufenhalte in Kyoto (2006 – 2008) war ich u. a. dazu eingeladen, ein »Sutra-Drama« zu der Geschichte von Aja¯tas´atru aus dem »Sutra on Visualisation of the Buddha of Infinite Life«16 zu leiten. Kollegen und graduierte Studierende ließen sich auf vorbereitende Körper- und Theaterübungen ein, analysierten Textabschnitte linguistisch, übernahmen Rollen und gingen auf der im Raum installierten Landkarte der im Text genannten Orte hin und her, die Räume und Wege des Geschehens erkundend: z. B. die Adlerhöhe in Ra¯djagriha, den Königsplast, das Land des äußersten Segens von Buddha Amita¯yus. 14 Dazu umfassend vgl. Friedrich, Marcus A.: Liturgische Körper. Der Beitrag von Schauspieltheorien und -techniken für die Pastoralästhetik, Stuttgart, 2001. 15 Vgl. Herms, Eilert: Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes; in: Beck, Rainer / Volp, Rainer / Schmirber, Gisela (Hg.): Die Kunst und die Kirchen. Der Streit um die Bilder heute, München, 1984, 242 – 259. 16 Inagaki, Hisao: The Three Pure Land Sutras. A Study and Translation from Chinese, Kyoto, 1994, 317 – 350.

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All dies waren Übungen, den eigenen Spielraum und den eigenen Platz im Narrativ der Erzählung oder sogar über ihn hinaus oder quer zu ihm zu finden.17 Im Joint Research Project der Japanischen Tenri University / Nara und der Philipps-Universität Marburg »Prayer as Interaction« (in Marburg im September 2006) gab es einen offenen Liturgie-Workshop, in dem wir kulturelle und religiöse Körperausdrücke und -erfahrungen in Bezug auf verschiedene Formen von Gebet erkundeten – z. B. Anrufung / Anbetung / Bitte / Schuldbekenntnis und Klage.18 Für mich war dies ein wichtiger Beitrag zu unserem Austausch – zumal in der Liturgie der Religion Tenrikyo¯ (die religionswissenschaftlichen japanischen Gesprächspartner gehörten weitgehend dieser Religion an) ein Gebetstanz mit sehr elaborierten Handbewegungen praktiziert wird.19 Wir bewegten uns also in einem durchaus bewussten, ästhetisch-medial vergleichbaren liturgischen Handlungsfeld.

4.2

Gebet und Meditation

Ich möchte mich im Folgenden kurz explizit mit der Aktivität »Gebet« befassen. Beten kann insofern als eine Unterform von Spiel verstanden werden, als von einem anthropologischen Standpunkt aus betrachtet Beten – jedenfalls auch und unübersehbar – eine religiöse Körperübung ist: bezogen auf bestimmte körperliche Ausdrucksformen, Bewegungsmuster und Techniken, besonders im Hinblick auf Herzschlag, Atem, Singen und andere Stimmäußerungen. Dabei kann Beten natürlich rein privat bleiben, aber es ist auch ein wesentlicher Teil von öffentlichen Liturgien in religiösen Gemeinschaften. Im interreligiösen Dialog ist interessant, dass es durchaus vergleichbare Gebetstypen gibt – ein markantes Beispiel: Wie es das »Herzensgebet« in der Tradition der orthodoxen Kirche gibt (das auch in den Westkirchen immer wieder auf Interesse stößt) so gibt es einen mantra-artigen Anruf Buddha Amidas (das nembutsu) in der Tradition des Buddhismus des Reinen Landes. Insgesamt ist Liturgie ein weiteres weites Feld von Körpererfahrungen und körperlicher Erscheinungsformen religiöser Traditionen und der in ihnen lebendigen Affekte, Gedanken und Handlungs- / Ausdrucksimpulsen.20 Aber nicht nur das Gebet, sondern auch die Meditation können unter dem 17 Vgl. Martin, Gerhard Marcel: Interreligiöses Zusammenspiel, 2010. 18 Martin, Gerhard Marcel: Prayer: Its Concepts and Horizons; in: Tenri University and Marburg University Joint Research Project (Hg.): Prayer as Interaction, Nara 2007, 31 – 41. 19 Morishita, Saburo Shawn: Teodori: Cosmological Building and Social Cons,olidation in a Ritual Dance, Roma 2001. 20 Friedrich, Marcus A.: Liturgische Körper ; Koll, Julia: Körper beten. Religiöse Praxis und Körpererleben, Stuttgart, 2007.

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Aspekt der Leiblichkeit und seiner Erfahrungs- und Ausdrucksmöglichkeiten in den Blick kommen. Denn selbst wenn der Zielpunkt mancher Meditationen das gänzliche Verlassen des Körpers ist, bleibt der Körper doch das Medium oder – anders ausgedrückt – das Instrument dieser Bewegung. Dabei können sich auf einem solchen Weg der Entgrenzung der physische und energetische Status des Körpers und seiner Wahrnehmung radikal verändern. In jedem Falle aber geschieht es leibhaftig.

4.3

Schweigen / Stille

Obwohl es starke und interessante Verbindungen zwischen Spiel, Beten und Meditation gibt, bleiben Beten und Meditation doch auch deutlich voneinander unterschieden und haben ihre je eigene Dynamik. Aber es gibt noch eine andere Größe, die beide (und bisweilen sogar alle drei) verbindet: stille zu werden und in der Stille zu verharren. Stille und Schweigen sind eine mediale oder passive Aktivität ohne, unterhalb und / oder über die Sprache hinaus. Sie sind nichtverbal / trans-verbal und gerade ihrerseits eine Körpertechnik. Schweigen ist eine religiöse Übung im klösterlichen Alltagsleben und in Liturgien der Mönche und Nonnen mit der Absicht, zunehmend Abstand zur alltäglichen Welt zu gewinnen und Kommunikation neu zu fokussieren. In der protestantischen Tradition feiern Quäker lange Zeiträume von sog. »silent worship«. Dabei warten sie darauf, dass der Heilige Geist sich einstellt und er zu sprechen beginnt. Über diese Praxis noch hinausgehend hat Rudolf Otto in seinen Gottesdienstentwürfen ein »einendes Schweigen« vorgesehen »als inwendige Einung und Gemeinschaft mit dem Gegenwärtig Unsichtbaren«, auch im Sinne einer »mystischen« Gemeinschaft.21 Religionsgeschichtlich kann auffallen, dass sich gemäß vieler Traditionen alles, auch die Worte der Gottheit aus dem grenzenlosen abgründigen Schweigen (griech.: sig¦) erhebt und in dieses zurückgeht.

5.

Schluss: Wechselseitiger Transfer?

Im letzten Teil meines Beitrags möchte ich einige Gedanken zur Frage eines wechselseitigen Transfers zwischen dem Projekt »Urteilen lernen« und meinem Praxis- und Theoriemodell eines interreligiösen Dialogs vortragen. Wobei ich weitgehend Spuren (und oft mehr als Spuren) aufnehme, verstärke und ggf. 21 Otto, Rudolf: Schweigender Dienst; in: ders.: Aufsätze das Numinose betreffend, Stuttgart, Gotha 1923, 171 – 178, 173.

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variiere, die in den Dokumentationen zum »Urteilen lernen« zu finden sind – ohne dies hier jeweils explizit machen zu können. 1) Die doppelte Grundfrage bleibt natürlich, ob überhaupt und wenn ja, welche Impulse aus dem Procedere des interreligiösen Dialogs für das Projekt »Urteilen lernen« kommen könnten. Und vice versa: Ob und wie »Urteilen lernen« – zumal in der Fokussierung auf ethische Urteilsbildung – ein Programmbereich des interreligiösen Dialogs sein könnte. Dass hier keine Anschlusslosigkeit vorliegt, ist unübersehbar. Ich bin beeindruckt von der interdisziplinären Weite und theoretischen Reflexionshöhe Ihrer Forschung. In den Dokumentationen wird klar, dass Fragen ethischer Urteilsbildung immer und notwendigerweise ästhetische und religiöse Perspektivierungen mit einschließen. Und auch vice versa: In den Kyotoer Dialogen blieben Fragen nach der buddhistischen und christlichen Ethik (vgl. etwa die erwähnte Themenstellung »Liebe, Hass, Barmherzigkeit«) keineswegs außen vor. Jedenfalls gibt es auch im interreligiösen Dialog Prozesse, die der ethischen Urteilsbildung zweifelsohne affin sind. Auch in ihm bilden sich Partner im Laufe der Begegnungen schließlich vorläufige, revisionsfähige, aber eben Urteile über die Religion des Gegenübers. Diese Urteile sind kommunikativ, kreativ und akademisch erarbeitet und auch erspielt, darum belastbar und tragfähig. Und dabei ist positiv auch zu erwarten, dass sich das Urteil über die eigene Religion – möglicherweise kritisch – verändert, indem es weiter differenziert und profiliert wird. 2) Aber zunächst geht es im interreligiösen Dialog ja nur um die wechselseitige Begegnung, um die zunehmend vor-urteilsfreiere wechselseitige Wahrnehmung und darin gerade um die epoch¦, um die aufgeschobene Urteilsbildung – zugunsten vertiefter Fremd- und Selbstwahrnehmung. In Aufnahme hermeneutischer Modelle Ihres Projekts ließe sich sagen, dass sich interreligiöse Begegnungen zwischen eher offenbarungstheologisch konfessorischen Positionierungen (mit der Tendenz allenfalls zum Inklusivismus) und einem variierten Ansatz von Levinas bewegen. Dann ginge es um die wechselseitige Begegnung zweier einander fremder, anderer Antlitze. In diesem Plural (»Antlitze«) stecken die notwendige Modifikation und die besondere Herausforderung. Meine explizite Frage ist, wieweit auch in Ihrem Forschungsprojekt die Dynamik der aufgeschobenen Urteilsbildung eine wesentliche Rolle spielt. 3) Wichtig für das Gelingen scheinen mir in beiden Fällen die bewusste Wahrnehmung und eine entsprechende Bereitstellung der Rahmenbedingungen, des settings und der Horizonte. Darum würde ich gerne die Frage stellen, wie und wie weit auch am Lernort Schule eine die Arbeit positiv unterstützende Grundatmosphäre befördert werden kann, in der auch persönlichere und privatere Begegnungen im Umfeld, social events u. ä., so wie ich davon aus Kyoto berichtet habe, möglich werden. 4) Ich wiederhole die Frage von weiter oben: Wie weit sind die medial-äs-

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thetischen (und auch religiösen) Zugänge: spielen / szenische Arbeit, Gebet und Meditation, Schweigen und Stille auch im Arbeitsfeld des Urteilen-Lernens mit im Blick oder (wie) könnten sie verstärkt oder innovativ eingesetzt werden? Dabei habe ich mit Respekt und großer Zustimmung wahrgenommen, wie sehr in den Lernweg-Skizzen der beiden Sammelbände »Urteilen lernen« ästhetische Medien und das mit ihnen verbundene »Artifizielle« immer wieder einbezogen werden.22 Darüber hinaus frage ich aber, in welchem Umfang meine Katalogposten eingesetzt werden könnten. Theoretisch gehören sie nach meinem Ansatz in das weite Feld einer performativen Religionspädagogik, die mit verschiedenen medialen Vermittlungsprozessen dominant eben nicht nur die ethische Dimension der Religion im Fokus hat, sondern das Zusammenspiel von zumindest vier, wenn nicht fünf elementaren Erscheinungsformen der Religion.23 5) Nicht nur im Urteilen lernen, auch im interreligiösen Dialog bleibt natürlich die Frage nach den Realisierungsorten, aber auch nach den akademischen und religions-institutionellen Ausbildungsschritten in Bezug auf die performativen Bereichen von Spiel, Gebet, Meditation und Stille/Schweigen – wenn sie denn eingesetzt werden. Sind diese im Schulbereich weitgehend anschlusslos zu anderen religiösen und kulturellen Praxisorten, haben sie auch in ihm wenige Chancen. Dazu noch einmal eine Bemerkung aus der interkulturellen Erfahrung: Ich habe den Eindruck, dass es in westlichen und christlichen Traditionen sehr viel mehr besondere, in dem Sinn artifiziellere Orte der Ausbildung gibt als im Osten und in fernöstlichen Religionsgemeinschaften. Dort scheint mir – auch in klösterlichen und religiös anders organisierten Gruppierungen – an vielen Stellen immer noch das reine »Imitationslernen« vorherrschend zu sein, d. h. die Aneignung und Übernahme von Verhaltensweisen direkt von den Eltern und Lehrenden: von Erziehern, Ausbildern und signifikant anderen. Nicht nur in der zurückliegenden Kulturgeschichte, sondern auch heute ist Imitationslernen immer noch der üblichste und ein durchaus effektiver Weg auf allen Entwicklungsstufen des einzelnen Lebens und der kulturellen und religiösen Erziehung.

22 Urteilen lernen – Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung, hg. von Schoberth, Ingrid, Göttingen 2012, z. B. 17, 35 f, 234, 301; Urteilen lernen II. Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs, hg. von Schoberth Ingrid, Göttingen, 2014 und dort der Bezug auf Überlegungen von Martina Blasberg-Kuhnke (9), Dietrich Zilleßen (13 f.) und Christoph Bizer (306). 23 Martin, Gerhard Marcel: Was es heißt: Theologie treiben, Stuttgart, 2005, bes. 9 – 13.

Christoph Wiesinger

Authentische Glaubensräume im Prozess

Authentizität stellt sich in Bezug auf Glauben als Aufgabe zur steten Bewältigung dar. Dieser dynamische Charakter soll durch eine genealogische Einordnung der Kategorie der Authentizität dargestellt und in Bezug auf die aktuellen Verfasstheit unserer Gegenwartslage erörtert werden. Besondere Berücksichtigung findet der Bezug auf Raumkonzepte, wie sie sich nach dem sogenannten »spatial turn« darstellen. Nach einer allgemeinen Analyse wird auf die spezifische Fragestellung nach Raum auf der einen und Authentizität auf der anderen Seite in Bezug auf religiöser Kommunikation eingegangen und als Aufgabe für den Subjektträger der Religion erfasst. In der Rolle des Religionslehrers findet die Auseinandersetzung in der Spannung zwischen Authentizität und Glauben ihren konkreten Niederschlag.

1.

Authentizität als Begriff der Romantik

Authentizität ist ein Begriff, der aus der griechischen Kultur ragt und einen langen Weg zurückgelegt hat.1 Aqh]mtgr bedeutet Urheber, aqhemtij|r zuverlässig, eigenhändig, richtig und das lateinische authenticus steht für verbürgt, echt, maßgeblich. Im griechischen Wort steckt aqt|r, also zu Deutsch »selbst« und ein zweiter Stamm, der umstritten ist. Es kommt eQli in Frage und würde damit »selbst seiend« oder 6m und dann »eines mit dem selbst« bedeuten. In beiden Fällen kann der Sinn so verstanden werden, dass das vorgestellte Objekt zusammenfällt mit dem Subjekt d. h. dem Urhebers und dass dieser darin sichtbar wird. Vor allem in der antiken Briefliteratur wurde damit das Übereinstimmen des vorgegebenen mit dem tatsächlichen Autor bezeichnet. Seine große Konjunktur in der Moderne verdankt sich die Kategorie der Authentizität 1 Vgl. Knaller, Susanne: Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs; in: Authentizität – Diskussion eines ästhetischen Begriffs; hg. von Susanne Knaller, Harro Müller, München 2006, 17 – 35.

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jedoch dem Kontext der Aufklärung. Durch das Ende der Metaerzählungen und der Kritik an den religiösen Systemen war das Ende des Glaubens an ein gesichertes metaphysisches System eingeleitet. Der Mensch ist in eine sogenannte metaphysische Obdachlosigkeit2 geraten. In dieser ist er nun gezwungen zu wählen, was er glauben wolle und unter welchen metaphysischen Horizont er oder sie sich beherbergt, oder eben auch nicht. Der Glaube an die eine Wahrheit und die Hoffnung auf ein statisches Gehäuse der Geborgenheit ist verloren und abgelöst worden durch eine Kultur, die sich als systemisch fluide erfassen lässt. In ihr öffnen und verschieben sich ständig Räume, die die vom Subjekt hervorgebrachte Architektur des pluralen Systems als unabschließbar erfahren lassen. In den verschiedenen Anschauungen, auf das nicht einzufangende Ganze, ist im Laufe der Zeit dann ein Markt an scheinbar unendlichen Möglichkeiten der Weltanschauungen und der mit ihr einhergehenden mal mehr, mal weniger metaphysischen Geborgenheiten entstanden. Der Mensch ist zum Wanderer geworden, der gleichzeitig verschiedene Geborgenheiten in sich vereint, die immer wieder neu zu entgleiten drohen. Der kanadische Philosoph Charles Taylor bezeichnet aus diesem Grund Authentizität in seiner Schrift »Das Unbehagen der Moderne«3 als Zauberwort der Krise. Er schließt an die Beobachtung jener »Entzauberung der Welt« die These des Vorrangs der instrumentellen Vernunft an. Sie ist die Konsequenz aus dem Ende der heiliger Ordnung. Die sozialen, weltanschaulichen und politischen Räume entspringen nicht mehr dem Willen Gottes. Sie werden der Vernunft unterworfen und sind damit kritisierbar, veränderbar und zu rechtfertigen geworden. Taylor zeigt in seiner Analyse, dass jene Sicherheit, die dem Mensch geblieben ist, nur noch er oder sie selbst sind. Der Mensch ist auf sich selbst geworfen. Die cartesianische Wende bildet die Spitze, die die Philosophie prägt und von nun an den Mensch als letzte Sicherheit verkündet. Wird diese Annahme der Sicherheit in der anthropologischen Grundlegung nun mit der Forderung verbunden, »jeder müsse in eigener Verantwortung und selbständig denken«4, bahnt sich hier eine ethische Aufladung an und führt ab der Romantik zu einer moralischen Erweiterung. Die Innerlichkeit des Menschen und seiner Gefühle, inklusiver seine Abgründe, werden in den Vordergrund gestellt. Hier ist nun auch der Ort, an dem die Authentizität ihre Konjunktur als Kategorie der Moderne erfährt. Taylor arbeitet heraus, wie das Selbstbild und die Authentizität sich den Aufstieg als gesellschaftliche Leitnorm erarbeitet haben. So mussten die Frage nach dem Menschen und seinem Bewusstsein in den Vordergrund drängen. Die moralische 2 So z. B. Reichenbach, Roland: Demokratisches Selbst und dilletantisches Subjekt: Demokratische Bildung und Erziehung in der Spätmoderne, New York, München, Berlin, 2001. 3 Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt am Main 1995. 4 A.a.O., 34.

Authentische Glaubensräume im Prozess

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Forderung, die formuliert wurde, war die der Treue zu sich selbst. Es lief darauf hinaus, das Selbst, um seiner selbst willen, als wertvoll zu erachten. Dabei beruft sich Taylor besonders auf die Werke Rousseaus. In diesen wird das Paradigma vertreten, dass das »Gefühl des Daseins« ein vollkommenes moralisches Lebewesen mache, »wenn es […] nur gelänge, eine vollständige Verbindung zu diesem Gefühl aufzunehmen.«5 Da Rousseau die Moral in eine Innerlichkeit des Individuums gründet, die es zu suchen gilt, leistet er damit dem Schema Vorschub, das mit Authentizität verbunden wird. Die Entfaltung des Selbst ist der Beitrag des Einzelnen zum Gesamten und damit Aufgabe und Verheißung der Erfüllung des Lebens. Das Gefühl wird gegenüber dem bisher herrschenden Verstandesvorrang als eigentlich hervorgehoben. Der Mensch ist Schöpfer seiner selbst, indem er wird, was er ist. In den Worten von Taylor : »Diese Idee ist ganz tief in das moderne Bewußtsein eingedrungen. […] Wenn ich mir nicht treu bleibe, verfehle ich den Sinn meines Lebens; mir entgeht, was das Menschsein für mich bedeutet.«6

Die Treue zu sich selbst als Kennzeichen einer authentischen Existenz und damit einer positiven Zuschreibung ist gesellschaftlich anerkannt. Das jeweils eigene, was mich persönlich ausmacht und von anderen unterscheidet, wird durch die Erfahrung der Differenz vom mir zu der mir erfahrenen Allgemeinheit hergeleitet. Ich definiere mich selbst in Unterscheidung zu anderen. Damit werde ich mir selbst und meinen Sinn gewiss. Für die Erfahrung von Authentizität ist die Erfahrung von Differenz daher konstitutiv, auch wenn diese nicht immer bewusst gemacht wird. Dies führt in wissenschaftlicher Reflexion jedoch häufig zum Gedanken, dass das Streben nach Authentizität zu einer asozialen Existenz führt, wenn der Differenzaspekt stark betont wird. Demgegenüber kann Authentizität nicht nur als »atomistische«, d. h. in sich selbst abgeschlossene Kategorie gefasst werden, die vermeintlich zu einer Kultur des Hedonismus und der Selbstsucht führt, sondern der Wert der Authentizität für die je eigene Persönlichkeit betont werden, der in der soziale Vermittlung stattfinden muss. Dann kann Authentizität auch als sozial positive Kategorie erfasst werden. Konstituiert durch die soziale Kategorie der Anerkennung erweist sie sich so, als sozial verträglich und förderlich. Sie wird sie als positiver Mehrwert für das Individuum und der sozialen Gruppe wahrgenommen. Im Sinne des Zuspruchs, »Du bist einmalig«, als Ausdruck positiver Wertschätzung des Einzelnen, der von außen zugesprochen wird und eine soziale Struktur voraussetzt und festigt. Authentizität würde so die Notwendigkeit der Vergemeinschaftung bedingen, um als solche erkannt zu werden. 5 A.a.O., 74. 6 A.a.O., 38.

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2.

Christoph Wiesinger

Religiöse Authentizität

Ich möchte diese These, dass Authentizität in Differenz erkennbar wird und sozialer Vermittlung zugeschrieben wird, mit Blick auf den Soziologen Armin Nassehi vertiefen, der den Religionsmonitor der Berthelsmann Stiftung von 2008 kommentiert. Er geht von einer qualitativen Studie aus, d. h. ein Format, bei dem die Fragen vorgegeben waren, aber die Antworten frei formuliert werden konnten. Auffällig dabei ist die Art der gewählten Fragen. Es wird nach persönlichen, wie alltäglichen Erfahrungen des Religiösen und nach ihrer Bedeutung gefragt7. Es schließen sich eine Frage zur Kategorie des Religiösen und eine nach Differenzierung der Religionen, eine nach der konkreten Instanz und schließlich nach eigener Einschätzung der Bedeutung der Religion für Deutschland an. Nassehi stellt bei der Analyse der Antworten fest, wie sehr sich Religiosität im religiösen Erleben kommuniziert. Aus dem Erleben des Religiösen und der damit beschriebenen Phänomene schließt er auf eine authentische Religiosität im Gegensatz zu einer Volksreligiosität. In den Interviews ist es die Volksreligiosität, die sich als »eine Form, die letztlich ohne Bekenntnisse und Reflexion auskommt«8, darstellt. Somit dient ihm die Kategorie der Authentizität als beschreibende Darstellung einer inneren Haltung, um sie von praktischer, d. h. liturgisch-ritueller Religiosität abzugrenzen. Damit steht Bekennen und Erleben gegenüber. Nassehi sieht den Grund für diese authentische Art von Religiosität in der Verfasstheit gesellschaftlicher Ordnung. Die Inkonsistenzen in der Grundordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse wirken so stark auf die individuelle Biographie ein, dass sie in die Persönlichkeit eingegangen sind. Damit wird auch Religiosität durch Inkonsistenz des Individuums gegenüber der festen Form und den rituellen Handeln nicht als problematisch, sondern als authentisch empfunden.

7 Der Interviewleitfaden lautet wie folgt: »1. Wann hatten Sie das letzte Mal persönlich etwas mit Religion zu tun? 2. Gibt es etwas Religiöses, das in Ihrem Alltag vorkommt? Geben Sie bitte Beispiele dafür an! Welche konkreten Auswirkungen hat dies auf Ihren Alltag? 3. Welche Bedeutung hatte Religion früher für Sie? Können Sie dafür Beispiele bringen? Welche Bedeutung hat Religion heute in Ihrem alltäglichen Leben? Können Sie dafür Beispiele bringen? 4. Was ist für Sie ein religiöses Thema? 5. Allah, Gott, Jahwe – was hat das / was haben sie miteinander zu tun? 6. Wer ist Experte in religiösen Fragen? 7. Glauben Sie, dass Religion in Deutschland zukünftig eine stärkere oder eine geringere Bedeutung haben wird als heute?« Nassehi, Armin: »Erstaunliche religiöse Kompetenz – Qualitative Ergebnisse des Religionsmonitors.«; in: Religionsmonitor 2008, hg. von Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2007, 113 – 132. 132. 8 A.a.O., 118.

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»Inkonsistenz ist dann nicht mehr das Problem – sondern die Lösung für authentische, unverwechselbare Präsentierbarkeit.«9.

Gerade im religiösen Angesprochensein zeigt sich, dass es einen Zug zur individuelle Abgrenzung bzw. Zustimmung gibt, die mit persönlicher Erfahrung verbunden werden will. Dies bedeutet, dass die Idee der Religiosität in den Kategorien »Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Verantwortung und Toleranz«10 als gelungen dargestellt werden. Nassehi macht darauf Aufmerksam, dass die persönliche Differenz, die zum authentischen Erleben führt, eine Kontrastfolie benötigt, die er in der Studie in der kindlichen und familiären religiösen Sozialisation findet. Er schreibt, »dass ein individualisierter Stil keineswegs ohne soziale Bestätigung und ohne soziale Anschlussfähigkeit auskommt«11. Er spitzt damit die Frage zu: »Wie lässt sich religiöse Sozialisation über die Kindheit hinaus fortsetzen? Und wo?«12 Zusammenfassend stellt die Analyse somit fest, dass die die Interviewpartner religiös auskunftsfähig sind und auf eigenes Erleben verweisen. Authentizität spielt dabei eine große Rolle, die sich nicht an konfessioneller Eindeutigkeit oder Konsistenz orientiert, sondern im Gegenteil sich in postbürgerlicher Form von einem Allgemeinen abhebt und durch die eigene Unterscheidung dazu, zu einer je individuellen religiösen Rede führt13. Dieses Eigene und Unabhängige, abseits von Konsistenz, macht das Empfinden von authentischer Rede aus.

3.

Inkonsistenz und Authentizität

Bernhard Dressler nimmt in seinem Aufsatz »Inkonsistenz und Authentizität. Ein neues religiöses Bildungsdilemma?«14 die Analyse von Nassehi auf und stellt das daraus resultierende Bildungsdilemma dar. Da in der Inkonsistenz der Schlüssel zur authentischen Erzählung der eigenen Erfahrung liegt, bezieht sich die kategoriale Religiosität nicht auf bestimmte Inhalte, sondern auf den kommunikativen Modus. Dressler stellt fest: »Authentizität ist ein Kommunikationsformat, keine Wendung des Innersten nach Außen.«15 Damit ist Authentizität in dieser Perspektive eine bestimmtes Ausdrucksmittel religiöser Kommuni9 10 11 12 13 14

A.a.O., 120. A.a.O., 126. A.a.O., 129. Ebd. Vgl. a. a. O., 131 f. Dressler, Bernhard: Inkonsistenz und Authentizität. Ein neues religiöses Bildungsdilemma? Bildungstheoretische Überlegungen zu Armin Nassehis religionssoziologischen Beobachtungen; in: ZfPTh 2/2012: 121 – 135. 15 A.a.O., 125.

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kation, das den Vorteil bietet, dass gerade das Unsagbare und Unendliche durch Inkonsistenzen auszudrücken sind, »im Sinne[, dass] ›unscharfe Ränder‹ überhaupt erst die Bedingung der Möglichkeit religiöser Transzendenzerfahrungen«16 sind. Das Dilemma, das daraus resultiert, ist, dass je mehr sich Menschen selbst als religiös bezeichnen, sie sich umso distanzierter zu ihren Umgang mit tradierten Formen gewachsener Religiosität und Formen institutioneller Kirche äußern. Das Problem, das nun hinzukommt, ist, dass bestimmte Interviewäußerungen dann zwar als authentisch empfunden werden, aber durchaus einen gewissen Obskurantismus – wie Dressler es nennt – andeuten. Wenn nicht mehr Inhalt und Reflexion, sondern nur noch Authentizität gilt, dann ist Tür und Tor der inhaltlichen Entgleisung geöffnet, so die Diagnose. Darum fordert Dressler : »Es geht in Bildungsprozessen nicht um die Bestärkung authentischer, sondern um die Förderung urteilsfähiger religiöser Praxis.«17

Doch die Frage, die offen bleibt, ist: Steht Authentizität der Urteilsfähigkeit wirklich entgegen, als zwei verschiedene Ziele religiöser Praxis? Denn wenn es sich hier um zwei kategorial unterschiedliche Fragen handelt, die einerseits durch Stil andererseits durch Inhalt zu bestimmen sind, dann muss das Verhältnis zwischen Stilfrage und Inhaltsfrage reflektiert werden. Als Kern der Herausforderung religiöser Bildung sieht Dressler die Kompetenzen der »Ambiguitätstoleranz und Ambiguitätskompetenz«18, um genau diese Problem zu bearbeiten. Es ist das Bewusstsein der unscharfen Ränder, in denen sich Religion zeigt, aber Inkonsistenzen zulässt und sich so in einen Rahmen konsistenter Begrifflichkeit verbinden und damit zu religiöser Stimmigkeit führt. Die urteilsfähige religiöse Kommunikation muss damit zweierlei leisten: Sie muss sich ihrer eigenen Kontingenz bewusst sein und in diesem Bewusstsein Konsistenz suchen. Kontingenz als die Bedingung der Möglichkeit religiöser Rede und Konsistenz als die Bedingung der Möglichkeit reflektierter Urteilspraxis. Dressler reagiert damit auf Nassehi, indem er dessen empirischen Befund anerkennt, aber Religion in Fragen der Bildung zwar vor der Herausforderung der Authentizität sieht, diese aber mit dem Bildungsfokus auf Reflexion zu lösen sucht. Ich möchte diese These aufnehmen und erweitern, indem eine Lösung für das vermeintliche Dilemma im Bewusstsein der Gleichzeitigkeit von Authentizität und Reflexion bzw. Urteilsfähigkeit gesucht wird. Auf diese Art und Weise wäre es vermieden, zwischen Urteilsfähigkeit und Authentizität den Anschein eines gegensätzlichen Dualismus zu wecken. Religiosität ist damit kein rein 16 A.a.O., 128. 17 A.a.O., 131. 18 A.a.O., 134.

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subjektives, sondern sowohl subjektives als auch als intersubjektives oder authentisch-reflexives Phänomen. Gerade so könnte es an Bedeutung gewinnen. In dieser Hinsicht wäre dem Religionsbegriff sowohl Deutungsleistung, als auch Erfahrung zugeschrieben. Religion müsste dann nicht nur vom Subjekt selbst hervorgebracht und reflektiert werden, sondern ist schon immer sozial vermittelt und muss sich auch in jener sozialen Interaktion bewähren. Die von Nassehi beschriebene authentische Religiosität beinhaltet nämlich einen sozialen Aspekt, der schon bei Taylor begegnet. Der religiöse Überschuss, der die Differenz zwischen tradierter und eigener Religion bildet, dient der sozialen Anerkennung durch Bestimmung des eigenen Selbst in jener Abgrenzung. Den obskuren Anschauungsformen wird insofern entgegengewirkt, als dass sie im kommunikativen Geschehen sich zwar als authentisch erweisen, aber in der kommunikativen Reflexion Anerkennung hemmen. Ich werde mir selbst religiös sichtbar, indem ich gegenüber einer sozialen Instanz durch meine je spezifische Erfahrung und der damit verbundenen Konsequenzen und Reflexionen Kontur gewinne. Sowohl meine Erfahrung und Reflexion, als auch die Zuschreibung der Gruppe in jener Auseinandersetzung bestimmen die religiöse Identität. Dieses Sichtbarwerden muss eine soziale Vermittlungsinstanz durchschreiten, um dort als authentisch erfahren zu werden. Hier liegt schon eine Gleichzeitigkeit von Gemeinsamkeit und Individualität vor, denn die gewonnene religiöse Individualität, die die Authentizität kennzeichnet, ist aus der gemeinsamen religiösen Überzeugung und Praxis gewonnen und muss auf sie zurück, reflexiv zu Bewusstsein kommen. Im Grunde wäre es gerade eine Stärke protestantischen Verständnisses von Religiosität, nicht nur auf kollektive, sondern auch auf individuelle Perspektiven ein Verständnis von Religiosität zu gewinnen und im Sozialen zu reflektieren. Bliebe der Authentizitätsbegriff jedoch nur auf den Gedanken des religiösen Überschuss begrenzt, so würde das durchaus problematische Phänomene erzeugen, da ja, wie Dressler es kritisiert, auch jeglichen »Obskurantismus« als positive Bestimmung des Authentischen ansehen müsste. Aber dies muss eben nicht zwingend mit der positiven Wertschätzung von Authentizität einhergehen und zwar dann, wenn sie nicht als ontologische, als intersubjektive Zuschreibungskategorie angesehen wird. Zusammengefasst heißt das, ein Subjekt stellt in Bezug auf seine Erfahrung Religiosität vor, die dadurch wahrgenommen werden und in Blick auf Konsistenz beurteilt werden kann und dadurch eine Zuschreibung erfährt. Die Kohärenz in diesem Prozess wäre damit die Bedingung der Möglichkeit von Authentizität als sozial anerkannte Zuschreibungskategorie.

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4.

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Glaubensraum

Ich möchte mich nun dem Raum zuwenden. Wenn wir die Gedanken über die Konstitution der Authentizität in Glaubensfrage nun auf die Raumhaftigkeit von Glauben übertragen, müssen wir zuerst die Frage nach dem Raum des Glaubens stellen. Dazu möchte ich auf den sogenannten »spatial turn« der Kulturwissenschaften eingehen. Die Kulturwissenschaften drücken damit die Entdeckung des Raumes als Ort von Präsenz aus. »Raum ist demnach keine eigenständige Entität«, so Stephan Günzel, »sondern Kultur und Natur sind in einer Funktionsbeziehung miteinander verbunden, wodurch Räumlichkeit allererst hervorgebracht wird.«19. Das Paradigma Raum sei ein Container, in dem sich etwas ereignet, wird abgelöst und nun nach Relationen der präsenten Subjekte und Objekte befragt. Raum ist nicht mehr einfach eine fest gefasst Größe, die es nach Ausdehnung und Beschaffenheit zu bestimmen gilt und in dessen Grenzen sich Geschichte ereignet, sondern Raum ist Beziehung, Raum ist Verwirklichung von Regel, Konvention, Macht und Tradition.20 Räume sind entstanden und haben eine Geschichte. »Raum wird im Zuge dessen nicht mehr als eine dreifach dimensionierte Entität oder formale Einheit gefasst, sondern anhand von Elementen beschrieben, die relational zueinander bestimmt werden.«21

Doch was bietet der Raum, so er als authentischer Glaubensraum wahrgenommen werden soll? Zielt er auf die Einwohnung und Bewohnung, die Versammlung und Bewahrung? Kann ich das Unendlichen oder das Heilige domestizieren und zumindest die Ausrichtung darauf als Inhalt bestimmbar machen? Oder zielt der Glaubensraum vielmehr auf Verunheimlichung, Deterritorialisierung und Entwurzelung?22 Verweist Glaube in seiner eschatologisch ausstehenden Dimension nicht gerade auf jenes, das noch nicht ist, aber ins Dasein drängt. Unter der Bedingung, dass Religion auf das drängt, was noch nicht ist, ist ja noch nichts über ihren Inhalt gesagt. Gerade unter der Berücksichtigung der Bedin19 Günzel, Stephan: Raum – Topographie – Topologie; in: Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften; hg. von Günzel, Stephan, Bielefeld 2007. 13 – 32. 15. 20 »Da die Aneignung und die Beherrschung von Räumen Bourdieu zufolge eine der privilegiertesten Formen von Herrschaft ist, vermag eine Machtanalyse des Raumes zugleich eine Mikrologie von Herrschaft zu sein.« (Neckel, Sighard: Felder, Relationen, Ortseffekte: Sozialer und physischer Raum; in: Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem ›Spatial Turn‹ hg. von Mortitz Cs‚ky und Christoph Leitgeb, Bielefeld 2009. 45 – 55. 53). 21 Günzel, Stephan: Raum – Topographie – Topologie, 17. 22 Vgl. Busch, Kathrin: Die Kraft der Räume; in: Die Religion des Raumes und die Räumlichkeit der Religion, hg. von Thomas Erne und Peter Schüz, Göttingen 2010, 53 – 65, 60.

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gung religiöser Erfahrung ist die Frage von christlicher Authentizität nicht ohne eine Bestimmung des Inhalts zu machen, so sie sich von einer allgemeinen unbestimmten Religiosität abheben will. Schon beim Verweis Taylors auf Rousseau schwingt eine augenscheinlich idealistische Lesart mit, Authentizität würde zu einem vollkommen moralischen Sein führen. Das Sein ist aus christlicher Sicht jedoch nicht einfach aus sich selbst hervorzubringen, sondern von Gott her qualifiziert. Christliche Authentizität würde sich damit nicht in sich selbst, sondern ich Christus gründen. Paulus’ Formel in Gal 2,20, »Ich lebe aber ; doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir«, verweist genau auf diese Fundierung der Authentizität im qualifizierten Anderen meiner selbst – in Christus. Was ich bin, bin ich nicht, indem ich mich auf mich selbst richte, sondern indem ich mich von Christus her erkenne, indem ich mich in Christus gründe. Um im christlichen Sinne von Authentizität sprechen zu können, müsste somit nicht nur vom hervorbringenden und vom rezipierenden Subjekt, sondern eine inhaltliche Referenz bedacht werden. Auf dieser Ebene erweist sich Authentizität, indem sie sich im Modus der Kommunikation in Christus gründet. Dies ist als christologische Referenz der religiösen Kommunikation zu definieren. Sie ist authentisch im christlichen Sinne dort, wo sie von Christus her und zu Christus hin ihre Bedeutung erfährt. Authentizität als spezifisch religiöse Kategorie muss unter Berücksichtigung des Standpunktes und der Beziehungsebene somit versuchen, Kohärenz zwischen dem hervorbringenden Subjekt, dem christologisch Gehalt und dem rezipierenden Subjekt zu suchen. Erst wenn sich der Inhalt kongruent mit der Sache der christlichen Religion zeigt, kann er als authentisch christlich angesehen werden. Damit ist unter Bestimmung des spezifischen Inhalts christlicher Religion ihr spezifischer Raum, der, der auf die die Einwohnung und Bewohnung Gottes verweist, die Versammlung und Bewahrung hervorbringt, aber in den Modus der Verunheimlichung und der Deterritorialisierung setzt und damit hoffend in die Zukunft strebt.

5.

Gegenwart als Authentizität des Werdenden

Ich kehre damit wieder zu der eingangs erwähnten Authentizität als Differenz zurück, wie sie Nassehi formuliert hat. Denn Nassehi ist in seiner Interpretation soweit zuzustimmen, dass Authentizität Differenz erfordert und dass diese unablässig für eine Gruppe ist, die nicht nur aus gleichen, sondern auch aus differenten Individuen besteht, die sich unter einem gemeinsamen Horizont finden, aber unterschiedliche Erfahrungen dabei machen. Die Authentizität ringt es der Tradition ab, dass sie sich selbst der Gefährdung aussetzt, ihre Identität aufs Spiel zu setzen, aber eben nur, wenn diese rein in der Vergangenheit zu finden ist. Doch gerade die christliche Religion in ihrer eschatolo-

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gischen Heilserwartung sucht ihre Identität nicht ausschließlich in einer Erinnerungskultur, sondern in Beziehung zwischen der Tradition und ihrer Erinnerungskultur hinein in die Zukunft und die damit verbundene Erwartungskultur. So lebt die Theologie lebendig im Modus der Hoffnung in ihre Zukunft hinein. Wer den Glauben als reinen Akt der Erinnerung fasst, der verfehlt diese Lebendigkeit des Glaubens. Lebendig ist Glaube daher da, wo dieser seine eigenen Grenzen überschreitet. Der Glaube muss daher in die Fremde23 gehen. So erweist er sich als lebendig. Andersherum gesagt, überschreitet er sich selbst nicht mehr auf das Fremde hin, ist er erstarrt. Diese Erfahrung der Lebendigkeit ist nicht einfach ein Zustand, sondern im Grunde eine Gefährdung. Etwas trifft von außen auf das, was ist. Das ist kein objektives Ereignis und noch nicht mal ein subjektiver Akt, sondern ein beteiligt sein.24 Dem folgt eine Reaktion, die in drei Grundtypen unterscheidbar sind: Flucht, Stillstand oder Eingehen. Der Organismus reagiert lebendig, indem er entweder hineingeht oder flieht. Der Stilstand wäre das Zurückziehen in sich selbst und die Selbstabschottung vor dem, was außerhalb des eigenen selbst ist. Im Rückzug wäre eine Reaktion auf Impulse von außen maximal klischeehaft bzw. reflexhaft-mechanistisch festgelegt. Das Hineingehen jedoch erschüttert die Normalität. Dies kann in Erstaunen oder Erschrecken versetzen. Der Organismus wird in seiner Lebendigkeit erschüttert und muss darauf adäquat reagieren. Es kommt zu einer Anpassung. Der Prozess der Entdeckung des Fremden als Fremdes führt zu einer Antwortbereitschaft. Diese konstituiert die Kommunikations-situation mit dem anderen, als anderer. Es zielt nicht auf Kontingenz, auf zwingende Responsivität, sondern auf eine lebendige Möglichkeit. Es kommt somit zu einer Umstrukturierung des Organismus. »Jede Neuformung realisiert sich daher als Verformung bestehender Formationen.«25

Es findet eine Öffnung zum anderen, d. h. zum Fremden statt, der intentional erkannt werden will und darin Veränderung bewirkt. In diesem intentionalen Zuwenden tritt mir ein Anforderungscharakter im Sinne eines Anspruchs ent-

23 Der Begriff des Fremden und die Ausführungen dazu folgen den Studien von Bernhard Waldenfels und seiner Phänomenologie des Fremden. Eine sehr guten Überblick bietet: Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 4. Aufl. Frankfurt 2012. 24 Der Affekt setzt ein Fremdes voraus. Es ist ein Einbruch in die Normalität, wie es Bernhard Waldenfels in seiner Phänomenologie des Fremden beschreibt. Es ist eine Affezierung im Sinne des lateinischen afficere, in der der Mittelpunkt außerhalb des Eigenen liegt und mit eingeschlossen wird. Waldenfels erweitert damit die phänomenologische Betrachtung, indem nicht er das apriori des Bewusstseinsstroms der Affizierung parallel stellt. 25 Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 31.

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gegen26, der eine ihm entsprechende Reaktion erwartet. Hier ist der Raum im Prozess. Hier wäre Authentizität unfestgelegt und muss dynamisch erst hervorgebracht werden. Im dialogischen Prozess steht noch nicht fest, wie ich für den anderen authentisch bin, sondern muss dies erst in Abgleich mit dem Anderen hervorbringen. Das ist ein Risiko und eine Praxis, die mich gefährdet und zwingend mit Veränderung verbunden ist. Sie stellt auch für mein Gegenüber eine Zumutung dar. Dieser könnte seinerseits mit Flucht oder Abwehr reagieren. Was ist und wie es authentisch zur Darstellung gelangt, ist noch nicht mal für mich selbst festgelegt, sondern in der jeweiligen Situation erst hervorzubringen und dem Möglichkeiten des Gegenübers wahrnehmend anzupassen. Daher ist Authentizität keine reine Abbildung, die etwas zeigt was schon anwesend ist, sondern ein schöpferischer Akt, da etwas hervorgebracht werden muss. Authentisch ist nicht etwas per se, sondern es muss sich im Prozess als solches erweisen. Das Subjekt bedient sich seiner schöpferischen Kraft lebendig auf etwas reagieren zu können und dabei adäquat zum Vorschein zu bringen, was in die Anwesenheit drängt. Der authentische Glaubensraum ist der Raum, den das Subjekt zur vertrauensvollen Begegnung eröffnet und dem die Kontingenz der eigenen Existenz, die zur Anwesenheit drängt, Kohärenz mit dem sucht, was es in der Praxis des Glaubens erfährt und in dieser Vermittlung dialogfähig wird. Aus der Konstitution der Vergangenheit eröffnet sich der Raum der Möglichkeiten für die Gegenwart und Zukunft, den das Subjekt hervorbringt, sich mit seiner Geschichte darin einträgt und überschreitet. Anstatt in einer Funktion der Repräsentation von bestehende Strukturen, die Formen von Apathie verlangen, sucht der authentische Glaubensraum Beziehung zu konstituieren. Er lädt zur Gemeinschaft, zur kritischen Distanznahme und zur Partizipation ein. In seiner Offenheit nach vorne lädt er zur Gestaltung ein und bietet den partizipierenden Subjekten Möglichkeit der Veränderung. Die Art und Weise, wie wir uns einen Raum aneignen, lässt ihn zu unserem Raum werden. »Die Welt ist nicht, sie bildet sich.«27

6.

Schulraum

Ich möchte nun versuchen, die Überlegungen zur Authentizität und des Raumes auf die konkrete Situation des Schulraumes zu übertragen. Dazu gehe ich von einem Text von Ingrid Schoberth aus. Sie fragt in ihrem Aufsatz »Der unwillige 26 »Im Anspruch, den ich vernehme, erhebt sich ein Anspruch, der mir etwas abverlangt.«, a. a. O., 59. 27 Waldenfels, Bernhard: Topographie der Lebenswelt; in: Topologie. Zur Raumbestimmung in den Kultur- und Medienwissenschaften; hg. von Günzel, Stephan, Bielefeld 2007. 69 – 84. 73.

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Zeuge?«, wie der Untertitel verrät, nach der »›Identität‹ der Religionslehrer« und der »›Sache‹ des Religionsunterrichts«. Dabei stellt sie fest28, dass es mit »der Sache« nicht so einfach ist. Niemand hat die Sache der Religion, denn niemand hat das Evangelium in seinem Besitz. Aber der Sache des Religionsunterrichts wird sich insofern angenähert, dass Religion Raum gegeben wird und dass das Raum-geben die Sache des Religionsunterrichts ist. Raum geben ist das entscheidende Stichwort, das ich hier aufnehmen möchte. Was soll das genau heißen? Raum geben heißt die »Bereitschaft, den Glauben ins Gespräch zu bringen, seinen Glaube befragen zu lassen und sich am Glauben abzuarbeiten.«29 Der Raum wird also als ein kommunikatives Geschehen gefasst. Doch bleiben wir noch einen Moment beim Text, bevor wir den Raum vertiefen. Denn genauso fragt Ingrid Schoberth nach der Identität der Religionslehrer und definiert dabei, dass es sich dabei »um ein Geflecht von Selbst-, Kollegen- und Schülerwahrnehmung«30 handelt. Es wird hier also in zwei Richtungen dynamisiert. Sowohl die Rolle des Lehrers bzw. der Lehrerin, als auch ist die Sache des Religionsunterrichts ist nicht festgelegt. Wir haben die Religion nicht. Es bleibt ein Ringen, eine persönliche Auseinandersetzung mit ihr. Wir haben auch keine fertige feststehende Rolle, sondern bleiben in einem steten Fluss von Werden und Vergehen, Zuschreibungen und Erwartungen, genauso wie Enttäuschungen und Ab- und Ausschlüssen. Die Rolle ist nicht festgelegt, dennoch ist sie nicht beliebig, sondern von gewählten Bezugsgrößen bestimmt. Im Besonderen ist das der Glaube, die Religion, die Kirche und die eigene Persönlichkeit, die zwar alle keine unumstößlich festen Größen sind, aber ihnen zumindest im Regelfall eine tragende Konstanz innewohnt. Doch zurück zum Raum. Wie kann es denn nun gelingen, der Sache des Religionsunterrichts Raum zu geben, Raum zu eröffnen oder wie wir gesehen haben, ein Gespräch darüber in Gang zu setzen? Schoberth geht auf das relationale System ein und bezieht die Rolle des Zeugens auf den Lehrer. Der Lehrer oder die Lehrerin ist Zeugin, indem sie von etwas zeugt, dass nicht ihres ist, aber sie dennoch betrifft. Sie ist Teil der Gleichung, ist mit ihrem Standpunkt subjektiv auf das System bezogen, dient als Vorbild, muss es aber nicht verbürgen, da es nicht von ihr abhängt, sondern auf welches verwiesen wird. Darum der Zeuge. Vielleicht wäre es sogar passend, vom beteiligten Zeugen zu sprechen, wobei offen bleiben darf und vielleicht soll, wie weit die Beteiligung gehen soll, muss oder darf. Ich möchte aber, bevor der Religionslehrer Zeuge ist, noch einen Schritt vorschalten. Denn der Religionslehrer befindet sich mehr als die anderen Leh28 Schoberth verweist dabei auf Überlegungen Karl Barths. 29 Schoberth, Ingrid: Der unwillige Zeuge? – Die Sache des Religionsunterrichts und die Identität der Religionslehrer; in: ZfPuTh 54/2002, 118 – 133. 129. 30 A.a.O., 122.

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rerinnen und Lehrer in einem Beziehungsgeschehen, wie wir mit Verweis auf die Bezugsgrößen Glaube, Religion und Kirche gesehen haben, deren Repräsentation Gegenstand der Rollenbestimmung ist. Der Lehrer steht in Bezug auf das Fach Religion in einer Spannung genauso wie als Lehrer in der Spannung zwischen Lehrer und Schüler in Bezug auf das Sein als Lehrer. Es ist ein Beziehungsgeschehen, das Vermittlung bedarf. Sollen die Schüler nicht als Objekt in dieser Gleichung vorkommen, sondern als Subjekte Bezugsgröße sein, dann muss der Prozess mit der Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler beginnen. Denn das Bewusstsein, das ein Lehrer vom Schüler hat, sollte immer mit der Wahrnehmung des Schülers beginnen und nicht mit der eigenen Vorstellung. Denn mit der eigenen Vorstellung zu beginnen wäre auf Projektion zu setzen. In ihr ist nur sichtbar, was in der Lehrerperson vorhanden ist und auf das Gegenüber als Vorstellung gelegt wird. Der Schüler und die Schülerin als Subjekte sind aber keine feststehenden Objekte31. Daher muss die Begegnung mit ihnen mit der Wahrnehmung dessen beginnen, was in lebendiger Auseinandersetzung vorgestellt, gezeigt wird. Der Raum für die Sache der Religion im Modus der Kommunikation wird damit eröffnet, dass den Schülerinnen und Schülern Raum gegeben wird, sich zu äußern, sich zu zeigen, vorkommen zu können. Damit kommt es zur Erfahrung, dass ihnen zugehört wird. Es stellt sich eine Erfahrung des Wahrgenommen-werdens ein, die eine besondere Beziehungsqualität darstellt.32 Im selben Modus des Wahrnehmens beginnt meiner Meinung nach das Sein des Religionslehrers. Er fängt nicht bei sich selbst an. Bernhard Waldenfels drückt dies in seiner Phänomenologie des Fremden treffend aus: »Freiheit bedeutet dann nicht die Fähigkeit, schlechthin bei sich selbst anzufangen, sie bedeutet vielmehr, daß man selbst anderswo anfängt. Wer glaubt, bei sich selbst anfangen zu können, wiederholt nur, was schon ist und was er schon kann; er fängt also gerade nicht an.«33

Was Waldenfels hierzu herausstellt, ist, dass es darum geht, nicht schon die Schülerinnen und Schüler besser zu kennen, als sie sich selbst, sondern ihnen zuzugestehen, dass sie erst wahrgenommen werden müssen, bevor sie erkannt werden können. Doch um den Religionsunterricht als christlich-evangelisch zu qualifizieren, muss nach dem ersten Schritt der zweite kommen. Nach der Wahrnehmung wird der Schüler und die Schülerin nicht in ihrem Selbstbezug 31 Von Projektion auszugehen, würde bedeuten Schülerinnen und Schüler zu einem Objekt zu verdinglichen. Ein Schüler ist kein Ding in der Welt als ein objektives Faktum, das ist. Diesen Fehler sollten gerade Religionslehrer nicht mit Schüler passieren. 32 Theologische ist z. B. auf die Haltung Jesu im Umgang mit den blinden Bartimäus zu verweisen, indem er fragt: »Was willst du, daß ich für dich tun soll?« (Mk 10,51). 33 Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 65.

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bestätigt und damit wiederrum in ihrer je eigenen Selbstbezüglichkeit festgelegt, sondern im Raum, der eröffnet wurde, findet Begegnung statt. Das heißt, ein Gespräch, das in Gang gesetzt wurde, beginnt. Ich plädiere dafür, dass hier einsetzt, was Ingrid Schoberth beschrieben hat. Wir steigen in das Gespräch ein, aber nicht indem wir uns selbst präsentieren, sondern als Zeugen, die betroffen sind von der Sache der Religionsunterrichts, die die Sache aber nicht haben, sondern um sie ringen. Die Sache, das Evangelium wird ins Spiel gebracht. Nachdem die Schülerinnen und Schüler den Raum eröffnet haben, bekommt das Evangelium Raum, wahrgenommen zu werden, indem es vom Religionslehrer als Zeugen ins Spiel gebracht wird. Damit wird einer Authentizität auf mehreren Ebenen Vorschub geleistet. Der Schüler und die Schülerin bekommen die Möglichkeit ihrerseits authentische Räume der Begegnung zu schaffen, der Lehrer bzw. die Lehrerin kann Möglichkeiten der authentischen Begegnung als Religionslehrerin schaffen und das Evangelium kann – so es ebenfalls als nicht festgesetzt, sondern in seiner Beweglichkeit und Unverfügbarkeit zur Sprache kommt – auch in seiner spezifischen Ausprägung authentischen Raum gewinnen. Doch damit stellt sich wiederum die Frage, wie es praktisch aussehen kann, dieser Lebendigkeit des Evangeliums Rechnung zu tragen, um mit ihm als authentischen Gegenstand gemeinsam zu ringen? Wird dieser Umstand ernst genommen, dann tritt der Lehrer oder die Lehrerin als Spezialistin per se zurück und vertraut auf die Eigendynamik des Evangeliums. Sie ist nur Spezialistin für ihre Relation zum Evangelium in ihrer Rolle in ihrer Situation. Die Wahrheit ist nicht im Besitzt der Lehrer, sondern die Wahrheit steht und fällt im christlichen Sinne mit Jesus Christus. In der symbolischer Sprache der Evangelien und des Neuen Testaments folgend: Jesus Christus ist als der Auferstandene nicht festgelegt, sondern der Lebendige. Und Paulus formuliert diesen Umstand pointiert »Ist aber Christus nicht auferweckt worden, so ist unserer Verkündigung leer, leer auch euer Glaube.« (1Kor15,14) D.h. nicht wir sind es, die für die Wahrheit einstehen müssen oder sogar bürgen, sondern als Zeugen verweisen wir darauf. Es ist ein Vertrauen auf eine Wahrheit, die wir selbst nicht haben, sondern nur im Verweis als Eigendynamik der Sache selbst Lebendigkeit gewinnt. Ein Beispiel dafür sind die biblischen Texte. Sie sind nicht Christus, aber verweisen auf ihn. Sie sind Zeugen. Die Narration des biblischen Kanons in seiner Polyphonie und das Vertrauen auf die Wirkmächtigkeit des Zeugnisses, das auf diese Kraft verweist. So wird ernstgenommen, selbst nicht Habende zu sein. Es ist die Anerkennung der eigenen Kontingenz und der Verweis auf das Wirken Gottes – nicht naiv, sondern reflektiert und das heißt nicht festgelegt auf, aber in Kohärenz mit dem biblischen Zeugnis und sich selbst in die Zukunft entwerfend. Es ist die Erkenntnis, dass durch alle Erkenntnis hindurch, es nicht um Macht und Selbstsetzung, um den vermeintlichen Besitzt von Wahrheit, sondern um den Verweis von sich weg und die Anerkennung Gottes, als der Gott, der uns gesetzt

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hat, geht. Im Vertrauen auf den auferweckten Christus geben wir den Glauben Raum, uns darin zu erkennen, wie wir erkannt sind. Authentizität kann im Klassenzimmer damit nicht erzeugt werden. Es kann nur der Raum dafür geschaffen werden, dass sich so etwas wie Authentizität ereignet, im Erproben und dem Umgang mit den eigenen Widerständen und Sehnsüchten; in Nähe und Distanz und deren Bewegungen im Raum; im Respekt vor dem anderen und der Fremdheit die entzogen bleibt; im Konflikt und Widerstand, der diesen Respekt Ausdruck verleiht; im gemeinsamen Bemühen um das Fremde, das wir nicht haben, im Sein, im Anderen, in der Rolle, im Evangelium.34 In diesem Prozess verbinden sich Prozesse der Authentizität mit denen reflexiver Urteilspraxis. Ein authentischer Glaubensraum ist darin lebendig, dass er nicht in unserer Verfügbarkeit steht, dass er sich aber ereignen kann. Der Glaubensraum ist das Verhältnis der Kontingenz menschlichen Seins und Vermögens zu einer Macht, die nicht verfügbar ist, aber in deren Verhältnis wir stehen, die uns betrifft, die uns trifft, die wir aber nie im Besitz haben. Sie wirft uns zurück auf das Verhältnis zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit. Der Mensch als endliches Wesen, als definierter Körper im Raum und in seiner begrenzten Zeitlichkeit ist unendlich in seiner Möglichkeit der Überschreitung seines Selbst in die Zukunft hinein. Was ist, setzt die Grenzen der Möglichkeiten was wird, die darin wiederum unendlich sind. Das unterscheidet den Menschen als Subjekt von einem Objekt in der Welt. Darin ist sein authentischer Glaubensraum zu ergründen. So steht der Religionsunterricht vor der Aufgabe, reflektierte Rahmen zu schaffen, in denen Räume entstehen, die Authentizität zum Vorschein kommen lassen, um so die eigene Existenz in Bezug auf das Unverfügbare in die Zukunft zu entwerfen und im Sozialen zu erproben und in Kohärenz mit den biblischen Zeugnissen und der sozialen Urteilspraxis reflektieren.

7.

Fazit

Authentizität ist nicht, sie ereignet sich. Sie ist ein Bedürfnis, das aus dem Ende des Glaubens an die großen metaphysischen Systeme gewachsen ist, in der der Mensch auf sich selbst geworfen ist. Es ist mit der Treue zu sich selbst gesucht worden. Doch da dieses Selbst nicht als Objekt zu bestimmen ist, fällt es schwer, darauf hin zu leben. Authentizität ist nicht mehr etwas, das als potentiell Vorhandenes gesucht, sondern situativ immer erst hervorgebracht werden muss. Der Wunsch nach Authentizität ist der Wunsch nach wahrnehmender Begegnung, die eine besondere Qualität an Beziehung konstituiert. Die Herausforderung, die im Wunsch nach Authentizität liegt, ist es einen Raum zu schaffen, 34 Vgl. Schoberth, Ingrid: Der unwillige Zeuge, 130 ff.

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indem Wahrnehmung und Begegnung ermöglicht wird. Authentisch wird diese Begegnung empfunden, wo eine Kohärenz zwischen Historizität und Möglichkeit intersubjektiv hergestellt wird und diese dialogisch erprobt wird. Christlich authentisch wird ein Raum dort, wo in der Begegnung Raum in sich geschaffen wird, der Lebensraum ermöglicht, um dem Fremden im anderen eine Möglichkeit der Präsenz in der Begegnung mit dem eigenen zu ermöglichen. Gerade im daraus entstandenen Dialog wird die Transzendenzmöglichkeit durch den Verweis von sich selbst weg und der daraus resultierenden Identitätsfindung durch den anderen in Christus ermöglicht. Im Verhältnis der Kohärenz menschlichen Seins und der Offenheit der Kontingenz auf mögliches Werden entstehen Räume des Glaubens. Christlich qualifiziert werden sie in der Verwirklichung der Zusage Gottes als eschatologisches Moment und zwar als existentiell bedeutungsvolles wahrgenommenes Moment des Glaubens. Sich darin zu erkennen und sozial zu erproben, führt zur Vergemeinschaftung. So entstehen Glaubensräume, die als authentisch wahrgenommen werden können und im steten Prozess der Veränderung immer neu hervorgebracht werden müssen.

Urs Espeel

Du stellst meine Füße auf weiten Raum (Ps 31,9). Autorität und Urteilen

1. Mit der geistigen Tätigkeit des Urteilens wird eine ganz bestimmte Form von Autorität erlebbar. Das ist die These der folgenden Überlegungen. Ein Urteilen ohne diese Autorität gibt es nicht. Wenn demnach die Frage im Raum steht »Wie urteilen?«, und damit gemeint ist, dass es überhaupt fraglich ist, was dies bedeutet, dass »Urteilen« in seinem Gebrauch nur noch vage, vom Hören-Sagen, nur noch von Ferne ans Ohr dringt, dann kann dies durchaus ein Anzeichen für den mit ihr verbundenen, verloren gegangenen Autoritätsbegriffs sein. Mit anderen Worten: Weil Autorität nicht mehr wahrgenommen werden kann, kann auch nicht geurteilt werden. Die Dekonstruktion und Fraglichkeit von Autorität wäre dann ein Grund für die Frage »Wie urteilen?« in ihrer radikalen, das heißt bis zu ihrer Wurzel vordringenden Form. Desgleichen kann dann aber auch, wenn beides stets zusammen auftritt, gesagt werden: Weil nicht geurteilt wird, kann Autorität nicht mehr erfahren werden in dem, was sie sein kann. Es gehört zu den erlebten Widersprüchen auch im Kontext der Autorität, dass je argwöhnischer sie beobachtet wird, desto lauter der Ruf nach ihr erschallt. Ihr wahrgenommener Missbrauch, der dazu führt, sie am liebsten völlig zu destruieren, sie aus den öffentlichen Diskursen zu verbannen, gelingt nicht. Sie taucht auf emotionaler Ebene plötzlich wieder auf. Dies kann direkt in der Sehnsucht nach Erlöserfiguren geschehen oder auch in der Forderung, weil das Wort »Autorität« verboten ist, nach Authentizität. So sollen Politiker, Lehrer und Pfarrer authentisch sein. Wie Christoph Wiesinger in seinem Aufsatz in diesem Band vorschlägt, ist dieser Ruf eine Formel für die Sehnsucht nach Begegnung.1 Weil aber im Alltag Authentizität in der Mehrzahl der Fälle die Forderung an den Anderen ist, ist der Verdacht nicht ganz von der Hand zu weisen, dass, wenn solche Authentizität wahrgenommen würde, sich diejenigen, die sie forderten, sich ihr unterwerfen könnten. Freilich ist dieser Schluss nicht zwingend. 1 Siehe dazu den Aufsatz von Christoph Wiesinger in diesem Band.

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In diesem Kontext weist Richard Sennett in seinem Buch »Autorität«2 auf ein modernes Dilemma hin, das seinen Ursprung im Auseinandertreten zwischen Authentizität und Legitimität hat. Hatten sich frühere Modelle im Kontext der Autorität vor allem von der Seite der Legitimität genähert, so besteht heute das Problem darin, »daß wir uns zu starken Gestalten hingezogen fühlen, die wir nicht für legitim halten«, und zur gleichen Zeit gilt, »daß die formell legitimen Mächte in den dominierenden Institutionen bei denen, die ihnen unterworfen sind, einen nachhaltigen Eindruck von Illegitimität hervorrufen.«3

Deutlich wird an dieser Beschreibung, dass die Sehnsucht nach Begegnung ohne Legitimierung auskommt und so noch der einwandfreiesten Legitimierung misstraut wird. Die Basis beider in sich widersprüchlich erscheinenden Strukturen, ist das Fehlen erlebbarer Autorität, weil sie auf emotionaler Ebene aus einem Gegensatz von Zustimmung und Ablehnung beruht. Wenn nun angenommen wird, dass Urteilen und Autorität zusammen auftreten, dann kann gesagt werden: Zu dem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber legitimierten Autoritäten kommt es, weil mit ihrem Urteil nicht das verbunden ist, was von Urteilen erwartet wird. Und es ist diese Erwartung an ein Urteil, die zu Erlösungsphantasien führt, die Projektion der Erfüllung dieser Erwartung in eine Person. Auffällig an dieser Beschreibung ist nicht nur, dass Autorität von Anderen erwartet wird. Auffällig ist zudem, dass Autoritäten, mit denen gute Erfahrungen gemacht wurden, nicht explizit in Erscheinung treten. Ingrid Schoberth zitiert in diesem Kontext in ihrem in Urteilen lernen II erschienenen Aufsatz eine Kindheitserinnerung an einen Kindergarten, in welchem die Erzieherinnen nicht vorkommen.4 Dies kann Anlass dafür sein, ihr Ausbleiben gerade als gelungene Form der Ausübung von Autorität zu bezeichnen. Überall da ist Autorität im Guten zu vermuten, wo sie in der direkten Erinnerung verschwinden kann. Wenn das richtig ist, dann zeigt sich gelungene Ausübung von Autorität zum einen in dem Guten, was durch sie erlebbar wurde und wird, und zum anderen, dass sie übersehen werden kann. Beruht dieses Übersehen-werden-Können nicht auf strategische Verschleierung – das wäre Manipulation – dann ist damit aber nicht eine prinzipielle Unsichtbarkeit verbunden.5 2 3 4 5

Sennet: Autorität, aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser, Berlin 22012. Sennett, Richard: Autorität, 34. Siehe dazu den Aufsatz von Ingrid Schoberth in Urteilen lernen II. Auf den Gedanken des Dankes laufen die gesamten Ausführungen dieser Überlegungen zu. Es ist der Dank, der die sich bis in den Abgrund steigernde Gabenlogik durchbricht, mit der sich die französische Philosophie (Vgl. H¦naff, Marcel: Die Gabe der Philosophie. Gegenseitigkeit neu denken; Bielefeld 2014) intensiv beschäftigt hat. Dass der Dank nicht nur aus theologischer Sicht, aber hier besonders, den Weg zu einer Urteilstheorie eröffnet, hat Karl Barth

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Der Unterschied zu funktionalen Theorien liegt im Verzicht auf Legitimation. Da Autorität auf dem tatsächlichen Urteilen als Vollzug beruht und nicht auf der ihr zugetrauten überlegenen Urteilskraft, beruht ihr Vollzug nicht auf der eigenen Selbstbehauptung. Sie tritt als Ereignis auf und kann daher nur im Nachhinein als solche erkannt werden.6 Ihre Beschreibung könnte wie folgt lauten: Autorität lässt durch Urteilen einen Raum erlebbar werden, in welchem Dinge jenseits von Zustimmung und Ablehnung für eine Gemeinschaft und die Mitglieder dieser Gemeinschaft in Erscheinung treten können. Eine Autorität steht damit selbst handelnd dafür ein, dass noch selbst das nicht verleugnet werden muss, was man am liebsten verdecken oder funktional überschreiben wollen würde. Sie lässt dadurch einen öffentlichen Raum entstehen, der nicht durch eine Deutung gesetzt wird, sondern in seiner Weite erlebbar wird. Urteilen ist nicht Deuten, nicht Festsetzung oder Grenzsetzung, sondern durch Urteile wird dem durch Deutung überschriebene und besetzte Raum seine Weite (Ps. 31, 9)7 wiedergegeben. Es ist dieser öffentliche Raum, in welchem Dinge erscheinen können. Dieser verschwindet nach den Beschreibungen Sennetts in seinem Buch »Civitas« immer mehr.8 Das In-Erscheinung-Treten wird nicht nur durch Inszenierung, sondern auch durch das Hervorzerren von vermeintlich Wichtigem ersetzt. Der öffentliche Raum wird zu einer moralisch aufgeladenen Bühne der Aushandlung von privaten Interessen und Begierden, die als öffentliche Aufgeregtheit den Raum in seiner Weite nicht mehr erlebbar werden lassen und nach Sennett bis in die Städteplanung nachvollzogen werden kann: »Im Erscheinungsbild der Städte spiegelt sich eine mächtige, weitgehend unbeachtete Angst davor, sich ›preiszugeben‹. Mit Worten wie ›sich aussetzen‹ oder ›Ausgesetztsein‹ verbinden wir die Vorstellung von möglicher Verletzung eher als die von möglicher Anregung. Die Angst davor, sich ›auszusetzen‹ ist in gewisser Hinsicht Teil einer militärischen Auffassung der Alltagserfahrung.«9

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besonders hervorgehoben. (Siehe dazu: Trowitzsch, Michael: Karl Barth heute, Göttingen 2 2012, 436 – 471.) Diese Struktur teilt die Autorität z. B. mit der Kunst. Sie kann analysiert werden, aber aus den Methoden der Analyse und ihrer Ergebnisse kann sie zwar imitiert werden nicht aber geschaffen werden. Es ist diese Nicht-Methodisierbarkeit des Urteilens, die in einer Welt, in der die Methode alles ist, nach dem Urteilen fragen lässt. Eine Auslegung dieses Psalms vor diesem Hintergrund wäre ein vielversprechendes Unternehmen. Ganz konkret würden z. B. die »Hände des Feindes« als diejenigen Menschen, die handgreiflich mit der Welt deutend umgehen und auf diese Weise den wirklich Urteilenden mit Spott übergießen. Ein Spott, der durchaus wie folgt lauten könnte: »Ja, bist du denn überhaupt wissenschaftlich?« Richard Sennett: Civitas, Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser, Berlin 22011. Sennett, Richard: Civitas, 14 f.

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Der gemeinsame Raum, den Menschen miteinander teilen, verschwindet zunehmend, weil sie keine Räume mehr finden, in denen sie in Erscheinung treten können. Wenn nun Urteilen genau die geistige Tätigkeit ist, worin Menschen beisammen sind und bestimmen, was ist – nicht zu verwechseln mit Kooperationsräumen,10 folgt daraus dann nicht, dass das Sich-Schließen von öffentlichen Räumen auf das Fehlen von Urteilen zurückgeht? Und wenn der Zusammenhang zwischen Urteilen und Autorität angenommen wird, bedeutet der verschlossene, durch Deutung besetzte Raum nicht, dass erlebte Autorität kaum noch wahrgenommen wird? Dass Menschen sich nicht mehr preisgeben oder aussetzen, sondern rechtfertigen, ist vielleicht der Grund für die Sehnsucht nach Authentizität, weil Urteilen tatsächlich keine einfache Tätigkeit und Autorität dadurch rar geworden ist. Die Angst, missverstanden oder übersehen zu werden, nicht zu seinem Recht zu kommen, ist dann nur noch die Folge des gänzlich (selbst-) verschuldeten Lebens.

2. 1. Die Sehnsucht nach Begegnung könnte auch in andere Worten gefasst als die Sehnsucht nach einem gemeinsam geteilten Raum in seiner Weite formuliert werden oder schlicht und knapp: Der Ruf nach Authentizität ist ein Ruf nach Sachlichkeit.11 Mit ihr ist ein bestimmtes Einstehen für den öffentlichen Raum verbunden, in welchem die gemeinsame Sache in Erscheinung treten kann. Im Neuen Testament wird diese Fähigkeit der Lehrtätigkeit Jesu zugeschrieben. Am Ende der Bergpredigt heißt es im Matthäusevangelium 7, 28 f.: Und es begab sich, als Jesus diese Rede beendet hatte, dass die versammelte Menge über seine Lehre ins Erstaunen geriet; denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten. (eigene Übersetzung)12

Das griechische Wort für »Vollmacht« lautet 1nous¸a.13 Dieses wird im Lateinischen mit »potestas« und in den englischen Übersetzungen meistens mit »(real)

10 Kooperationsräume unterscheiden sich von einem Raum in seiner Weite z. B. dadurch, dass jene festlegen, was für eine umgrenzte Gruppe in Konkurrenz und Abgrenzung zu anderen Gruppen wirklich werden soll. 11 An dieser Stelle wäre an die hegelsche Unterscheidung einer Sache und einem Ding zu erinnern, sowie an den Ruf der Phänomenologie, zu den Sachen zurückzukehren und nicht etwa zu den Dingen. 12 Revid. Lutherbibel: »28 Und es begab sich, als Jesus diese Rede vollendet hatte, daß sich das Volk entsetzte über seine Lehre; 29 denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten.« 13 Dieses Wort kommt in der LXX erst in den sehr späten Schriften vor. Eine Verbindung zur

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authority« wiedergegeben. Nun ist dieser Befund bei einem ambivalenten Begriff wie »Autorität« zum Verstehen der Bedeutung nicht gerade hilfreich. Wenn aber die Urteilskraft an die Autorität gebunden wird, und des Weiteren gilt, dass durch das Urteilen, die Sache, in welcher Menschen zusammenfinden, in Erscheinung treten kann, dann kann wie folgt übersetzt werden: »Denn er lehrte sie aus der Sache (= 1n-ous¸a) heraus, nicht wie ihre Schriftgelehrten.« Wenn in einem weiteren Schritt, das Kennzeichen der Sachlichkeit und nicht irgendeine abgeleitete Entscheidung aus metaphysischen Setzungen, vielleicht aus einem »Wesen«, Urteilen heißt, dann ergibt sich: »Denn er urteilte, nicht wie diejenigen, die lediglich der Welt eine Deutung geben.« Wie immer auch übersetzt wird, Kennzeichen der Erzählung ist, dass die Hörer das Gefühl haben, angesprochen zu sein. Dies sogar in einer Weise, die im Vers 28 mit dem griechischen Verb für »sich entsetzen« oder »in Erstaunen versetzt werden« (1nepk¶ssomto oR ewkoi 1p· t0 didaw0 aqtou) formuliert wird. Das Volk erlebt etwas, das für es neu ist, macht eine Erfahrung, die zunächst einmal nicht nach Zustimmung oder Ablehnung fragt. Darin liegt die erlebte Autorität. Der mit ihr verbundene Vollzug des Urteilens durchbricht Wahrnehmungsgewohnheiten auf eine Weise, die etwas Neues oder vielleicht auch nur Verdecktes wieder erlebbar werden lässt. Dabei geht es bei der hier angesprochenen Sachlichkeit weder um Authentizität in einem einfachen Sinn (= »Jesus ist überzeugt von dem Ursprünglichen seiner Lehre.«) noch um eine legitimierte Form der Autorität (= »Weil Jesus Gottes Sohn ist, hat er Recht.«), sondern darum, dass Jesus als Lehrer in seinem Vollzug des Urteilens als Autorität wahrgenommen wird. Er hat sie nicht irgendwie in der Hand oder fühlt sich in ausgezeichneter Weise berechtigt zu urteilen. Er urteilt und tritt daher, wie es der griechische Text besser als die gängige deutsche Übersetzung nach Luther wiedergibt, wie jemand, der Autorität hat, in Erscheinung (= ¢r 1nous¸am 5wym), die sich von den bisherigen sich durch Titel und Funktion zur Schau stellenden Autoritäten unterscheidet (= oqw ¢r oR cqallate?r aqt_m). Weil er etwas zu sehen gibt, dem man nicht widersprechen kann und Denkgewohnheiten durchbricht, drängt sich seinen Zuhörern dieser Vergleich auf. Da die Sache im Fokus steht und nicht derjenige, der die Sache zur Sprache bringt, eröffnet sich der Raum in seiner Weite. 2. Das berühmte Bild von Lucas Cranach, das Martin Luther zeigt, wie er auf das Kreuz weist,14 hat sein Moment darin, dass der Reformator von sich weg weist. Mit dem Evangelium wird deutlich, wie der Lehrer, auf den Luther weist, hebräischen Wurzel 7S5? wäre denkbar, ergäbe sich aber nicht über den Wortbestand, sondern über die Sache. 14 Altarbild der Predella des Altars der Stadtkirche St. Marien in Wittenberg von Lucas Cranach dem Älteren.

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ebenfalls urteilend von sich weg weist auf das, was in diesem Moment Sache ist. Dieses Zurücktreten, damit etwas anderes in Erscheinung tritt, dieses Gefühl für Raum ist biblisch theologisch kein Können im Sinne einer Kompetenz. Vielmehr zeigt sich in ihm ein aristokratisches Moment, wenn damit keine äußere Legitimation verbunden ist. Auf dieses verweist der Lehrer Jesus im Matthäusevangelium am Ende von Kap. 5: »Werdet nun vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.« Im vorlaufenden Kontext befinden sich nicht nur die Seligpreisungen, sondern direkt zuvor befindet sich die Lehre von der Feindesliebe. Das vereinzelnde und das heißt aristokratische Moment, das den Menschen aus der alltäglichen Weltwahrnehmung herausreißt, liegt nun genau in der Überwindung der unmittelbaren Gewohnheit, den Freund zu lieben und den Feind zu hassen. Wenn nun die Feindesliebe gelehrt wird, dann wird allem voran etwas über das Wesen der Liebe gelehrt. Denn es geht hier gerade nicht darum, auch im Feind das Liebens-, Bemitleidens- oder Begehrenswerte zu entdecken, sondern die Liebe als ein Urteil zu fassen, durch welches ohne (emotionale) Zustimmung oder Ablehnung der Raum in seiner Weite erlebt werden kann. Die Liebe wird dadurch befreit und lässt eine Haltung vernehmbar werden, die in Anlehnung an Immanuel Kant »erhaben« genannt werden kann. Nicht eine Erhabenheit in der Negierung negativer Gefühle, sondern Erhabenheit in der Überwindung eines Widerstandes. Dass Liebe nicht ein reines Gefühl ist, sondern ein Urteil und damit auch für das Nichtgeliebte gilt, lässt es möglich werden, dass das Negative als negativ in Erscheinung treten kann und nicht vernichtet werden muss, sondern ihm Einhalt geboten werden kann. Aristokratie ist also diese Stärke für einen Raum einzustehen, in welchem der Satz aus Vers 44 f. gilt: Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters, der in den Himmeln ist, werdet, denn für seine Sonne gilt: sie geht auf über Böse und Gute und es regnet über Gerechte und Ungerechte. (eigene Übersetzung)15

Ohne die Liebe, die sich auch auf die Feinde erstreckt, wirkt das Handeln Gottes absurd. Im schlimmsten Fall könnte auf eine Gleichgültigkeit geschlossen werden. Dies ist aber nicht die Intention des Textes. Dass das liebende Handeln in Sonne und Regen den Bösen und Guten sowie den Gerechten und Ungerechten gilt führt auch nicht zu dem Schluss, der Mensch könne und dürfe diese Unterscheidung nicht treffen. Das würde bedeuten, dass der Mensch letztlich nicht urteilen kann. Würde dies angenommen, die Überlegungen zum Thema wären 15 Revid. Lutherbibel: »44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, 45 damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.«

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an ihrem Ende.16 Wenn jedoch an der geistigen Tätigkeit des Urteilens festgehalten wird, dann ist die Liebe auch zum Feind die Voraussetzung für den weiten Raum, in welchem diese Unterscheidungen bestimmt werden können. Paradox ausgesagt: Dass der Böse als böse bestimmt werden kann, setzt die Liebe auch zum Feind voraus, die nicht auf Zustimmung oder Ablehnung beruht. 3. Diese Liebe, weil nicht auf innerer Zustimmung beruhend, ist nach Franz Rosenzweig das Einzige, was befohlen werden kann. Die Liebe ist es, die die Liebe befiehlt.17 Dieses aristokratische Moment, welches gerade keine Authentizität meint, ist die Vollkommenheit aus Vers 48. Rein von der Formulierung erinnert der Satz an Leviticus 19, 2.18 Die Vollkommenheit wäre dann auf die Heiligkeit bezogen, von der in diesem Vers im Kontext die Rede ist. Wiewohl dieser Zusammenhang besteht, entfaltet der Vers seine weitere Bedeutung dann, wenn danach gefragt wird, auf welche hebräische Wurzel die Septuaginta (LXX) mit dem griechischen Adjektiv t´keior übersetzt. Der Befund ist äußerst interessant. Denn die Wurzel ASBN kommt vor allem in der Opferpraxis zur Bestimmung der Opfertiere vor. In diesem Kontext steht im Griechischen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle %lylor für »ohne Fehl« oder »untadelig«. Zwar kann dieses Adjektiv auch auf den einzelnen Menschen angewandt werden, wenn es aber um den zwischenmenschlichen Bereich geht, dann wählt die LXX t´keior. In Deuteronomium 18, 13 findet sich eine besonders aufschlussreiche Stelle für das Urteilen und die mit ihr verbundenen Autorität, in welcher im hebräischen Text die Wurzel ASBN mit t´keior wiedergegeben wird. In ihr geht es vor allem darum, falsche Autoritätsansprüche zurückzuweisen. Diese zeigen sich in der Vorgabe der Behauptung einer Deutungshoheit. So geben Magier, Toten16 Das berühmte »Richtet nicht, auf das ihr nicht gerichtet werdet« aus Matthäusevangelium 7, 1 kann in diesem Kontext zu Missverständnissen führen. Richten und Urteilen sind nicht nur zu unterscheidende Tätigkeiten, sondern auch auf einander bezogen. Die Kritik bezieht sich auf eine mögliche Eigengesetzlichkeit des Richtens, das als solches ohne Urteil wäre. Ein mit dieser Möglichkeit verbundenes Urteil wäre immer eine Verurteilung, in ihr zeigt sich, was gelten soll und nicht was gilt. 17 »Die Liebe zu Gott soll sich äußern in der Liebe zum Nächsten. Deshalb kann die Nächstenliebe geboten werden und muß geboten werden. Nur durch die Form des Gebots wird hinter ihrem Ursprung, den sie im Geheimnis des gerichteten Willens nahm, die Voraussetzung des Gottgeliebtseins sichtbar, durch die sie sich von allen moralischen Taten unterscheidet.« (In: Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, in: Der Mensch und sein Werk Band 2, Haag 41976, S. 239.) Auf phänomenologischer Grundlage im Anschluss an Emmanuel Levinas Alain Finkielkraut: »Il est donc vain de vouloir opposer les rigueurs de la Loi — la ferveur de l’Amour. Le visage me harcÀle, m’engage — me mettre en soci¦t¦ avec lui, me subordonne — sa faiblesse, bref me fait loi de l’aimer.« In: Alain Finkielkraut: La sagesse de l’amour, Paris 1984, S. 33. 18 Revid. Lutherbibel: » 2 Rede mit der ganzen Gemeinde der Israeliten und sprich zu ihnen: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott.«

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beschwörer und Zauberer vor, die Zukunft lesen zu können. Sie beziehen sich nicht auf die Sache im Hier und Jetzt, sondern deuten das Jetzt von einer abgeleiteten Prognose her. Sie leiten ihre Hoheit von einer nur ihnen zugänglichen Macht ab. Der Frevel solcher Deutungen liegt dabei nicht darin, dass sie im Ergebnis vielleicht recht behalten werden oder nicht, sondern darin, dass sie nicht urteilen. Sie verstecken sich hinter einem Konstrukt, ihren Deutungen. Diese sind, als weitgehend geheime Fachwissenschaften, für viele nicht analysierbar und daher nicht in der Gemeinschaft teilbar. Prophetie unterscheidet sich von diesen Praktiken im Gegenzug nicht etwa darin, dass die Prophetie in der richtigen aber ebenso undurchsichtigen Gottheit gegründet ist, sondern darin, ob die Urteile verstanden werden können, Menschen in den Raum der Weite versetzen und nicht einengen. Gegen diese Unterwerfung unter eine Deutung – in heutiger Sicht vielleicht unter zahlreiche Studien der Bildung und ihre Zahlenakrobatik wie PISA oder VERA oder der Umgang mit ihnen, die ganze Länder in ihrer Bildungspolitik gefangen nimmt – wendet sich die Thorah unmissverständlich. Israel soll vollkommen sein gerade dadurch, dass falsche Deutungshoheit zurückgewiesen wird und damit als falsche Deutungshoheit in Erscheinung treten kann. Auf diese Weise kann sich eine urteilende Gemeinschaft einstellen. Vollkommenheit ist das Eintreten für diesen Raum, so dass es in Deuteronomium 18, 13 f. heißt: Du sollst vollkommen mit dem Herrn deinem Gott sein. Denn die Völker, die du beerbst, hören auf Himmelsdeuter und Magier. Der Herr dein Gott hat es dir gegeben, nicht so zu sein. (eigene Übersetzung)19

Vollkommenheit ist also keine moralische Kategorie, keine »bessere Gerechtigkeit« oder anderweitige Überlegenheit. Mit ihr wird gerade keine Hoheit etabliert, die dann wieder zu deuten beginnt, sondern sie besteht in der schlichten Wahrung des Raumes, in welchem geurteilt werden kann. Vollkommenheit ist also nicht inhaltlich bestimmt, sondern eröffnet die Möglichkeit, dass es gemeinsam geteilte Welt geben kann. Sie besteht nicht in einer Unterwerfung unter das Wort Gottes. Sie ist ein Hören auf Gottes Wort ohne Gefälle.

19 Revid. Lutherbibel: »13 Du aber sollst untadelig sein vor dem HERRN, deinem Gott. 14 Denn diese Völker, deren Land du einnehmen wirst, hören auf Zeichendeuter und Wahrsager; dir aber hat der HERR, dein Gott, so etwas verwehrt.«

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3. 1. Die Vollmacht, mit und aus der Jesus lehrt, hängt mit der Vollkommenheit, die er lehrt, zusammen. Mit den Worten zu Beginn der Überlegungen: Die Autorität hängt mit der Tatsache für den Raum in seiner Weite einzutreten zu können, mithin zu urteilen, sodass Unterscheidungen getroffen werden können, zusammen. Urteilen ist nicht Richten, sondern allem voran Unterscheiden.20 Dietrich Bonhoeffer weist in diesem Kontext in seinem Buch »Nachfolge«21 auf die Verbindung zwischen Vollkommenheit und Urteilskraft hin. Dies geschieht über den Gebrauch eines nicht weniger ambivalenten Wortes, das mit der Wahrnehmung von Autorität verbunden ist: Bonhoeffer unterscheidet den einfältigen Gehorsam von einem alltäglichen Verständnis des Gehorsams und damit zwischen einem Verständnis von Autorität in der Nachfolge Christi und einer angemaßten Form. Nur im zweiten Fall gibt es einen blinden Gehorsam. Der einfältige Gehorsam, »einfältig« vielleicht eine Übersetzung des griechischen t´keior, das über die hebräische Wurzel ASBN auch mit »einfach« übersetzt werden könnte?, visiert eine konkrete Situation an, bei der vorausgesetzt ist, dass evident ist, was in ihr gilt. Diese Evidenz, die nicht auf Erklärung beruht, wird »Glaube« genannt. Diese ist keine Weltdeutung, sondern entspricht einer Nachfolge dessen, was sich in Christus konkret und unverstellt zeigt, was für Deutungshermeneutiker ein schlichter Skandal ist. »Der konkrete Ruf Jesu und der einfältige Gehorsam hat seinen unwiderruflichen Sinn. Jesus ruft damit in die konkrete Situation, in der ihm geglaubt werden kann; darum ruft er so konkret (= ohne Deutungsangebot und ohne Versprechen, Anmerk. des Verfassers d. A.) und will eben verstanden sein.« Und etwas vorher : »… der Ruf in die Situation, in der geglaubt werden kann, hat tatsächlich nur das eine Ziel, den Menschen zum Glauben an ihn, d. h. in seine Gemeinschaft zu rufen.«22

Der Nachfolgende folgt also keinem Prinzip im Sinne einer festgelegten Struktur, die eine feste Ortsbestimmung möglich macht, sondern steht in der konkreten Situation, in welcher Dinge in Erscheinung treten können. In ihr stehen heißt, zum Urteilen aufgerufen zu sein, sodass Glauben im einfältigen Gehorsam 20 Auf diesen Punkt macht Hans-G. Ulrich in Antwort auf Oliver O’Donovan aufmerksam. Während dieser in seinem Buch »The ways of judgment« (O’Donovan, Oliver : : The Ways of Judgment, The Bampton Lectures, 2003, Cambridge 2005.) auf die Struktur und Institutionalisierung des Urteilens seinen Fokus legt, hebt jener den Punkt der sich im Urteil sich zeigenden Unterscheidungen hervor, sodass seine Replik die Überschrift trägt: »Ways of discernment«. (Zur Zeit der Abfassung des Aufsatzes gerade auf dem Weg der Veröffentlichung.) 21 Dietrich Bonhoeffer: Nachfolge, hg. von Martin Kuske und Ilse Tödt; in: Dietrich Bonhoeffer Werke Band 4, hg.: von Eberhard Bethge u. a., Gütersloh 32008. 22 Bonhoeffer, Dietrich; Nachfolge, 73.72.

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den Vollzug des Urteilens meint. Jesus nachfolgen heißt Urteilen und nicht rechtfertigen, heißt, sich der konkreten Situation aussetzen, und nicht, sie deutend zu beherrschen. Durch die Autorität Jesu, im Folgen des Rufes in die konkrete Situation, erscheint dem Nachfolgenden nicht nur die Sache, die Menschen miteinander teilen, sondern er wird sich seiner selbst ansichtig. Das Ausgesetztsein in der Situation ist ohne Schutz viel mehr freie Erscheinung. Es ist diese Zumutung, die den reichen Jüngling aus Matthäus 19,16 – 22 überfordert. Nicht nur diesen. Zu Beginn des Aufsatz wurde schon auf Sennett mit seiner These, Menschen hätten gegenwärtig das Problem, sich einer Situation auszusetzen, hingewiesen. Die phänomenologischen Analysen der Begegnung durch Emmanuel Levinas riefen und rufen ebenfalls Widerstand in der Folge einer Überforderungsangst hervor. Das Ausgesetztsein im Angesicht des Anderen, ist bei L¦vinas aber nicht unangenehm, weil man selbst gesehen wird und vielleicht, sich lieber verbergen möchte. Es hat seinen herausfordernden Charakter nicht in der Peinlichkeit oder Scham,23 sondern in der mit der Begegnung verbundenen Eindeutigkeit, die allen alltäglichen Konzepten widerspricht. Wie Bonhoeffer denkt auch Levinas einen einfältigen Gehorsam im Angesicht des Anderen und bezeichnet diese Struktur mit dem Wort »substitution«.24 Sie ist dabei an einer Stelle in seinem Werk direkt von der hebräischen Wurzel ASBN abgeleitet. »Droiture qui s’appelle Temimouth (…). L’integrit¦, prise au sens logique et non pas comme caract¦ristique d’un naturel enfantin, dessine, quand on la pense jusqu’au bout, une configuration ¦thique.« Und etwas weiter : »La Temimouth consiste dans une substitution aux autres. Ce qui n’indique aucun asservissement, car la distinction du ma„tre et de l’esclave pr¦suppose d¦j— un moi institu¦.«25

Dies kann natürlich ›wörtlich‹ übersetzt werden.26 Zu einem besseren Verständnis des Aufsatzes bietet sich jedoch noch eine andere Weise der Übertragung an, nämlich: Die Begrifflichkeit der hier entfalteten Gedanken wird zur verstehenden Übersetzung des Zitats in Anspruch genommen. 23 Siehe dazu: Greiner, Ulrich: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur, Reinbek 2014. 24 In: Levinas, Emmanuel: La tentation de la tentation; in: ders.: Quatre Lectures Talmudiques, Paris 1968, 65 – 110. 25 Levinas, Emmanuel: Quatre Lectures Talmudiques, 105. 107. 26 Eine etwas einfachere und allgemeiner Übersetzung könnte lauten: »Redlichkeit, die Themimuth heißt (…). Integrität in seiner logischen Bedeutung genommen und nicht als Merkmal eines kindlichen Naturels, breitet, wenn man sie bis zu Ende denkt, eine ethische Konfiguration aus.« »Die Themimuth besteht in einer Stellvertretung für die Anderen. Dies deutet in keinster Weise eine Unterwürfigkeit an, denn die Trennung zwischen Herr und Knecht, setzt bereits ein installiertes Ich voraus.« (eigene Werkstattübersetzung) Interessant für Levinasexegeten ist, dass die Stellvertretung hier im Kontext der Mehrzahl formuliert wird.

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»Ereignis des Rechts (= droi-ture(!)), das Themimuth genannt wird (…). Das Ausgesetztsein (= in-tegrit¦: ohne Schutz), in seiner logischen Bedeutung und nicht als Merkmal einer sprachlosen (= en-fantin: unmündig) Natürlichkeit, entfaltet sich, wenn sie bis zu Ende gedacht wird, als Erlebnis des Raums in seiner Weite (= configuration ¦thique).« Und etwas weiter : »Die Themimuth besteht im Einstehen dafür, dass Andere im Raum erscheinen können (= subsitution). Damit ist keine Deutungshoheit (= asservissement) gemeint, denn der Unterschied zwischen Herr und Knecht setzt bereits eine angemaßte Autorität (= moi institu¦) voraus.« (eigene Übersetzung)

2. Dass Autorität ein Ereignis ist, das gerade nicht auf der Logik eines Wettstreites zwischen Herr und Knecht beruht, kann mit einer Debatte verbunden werden, die die französische Philosophie ausführlich beschäftigt hat. Die Schwierigkeit, die Gabe zu verstehen und sie systematisch zu erfassen, hängt vielleicht auch mit dem Umstand zusammen, dass sie etwas erlebbar werden lässt, das durch alltägliche Deutungen nicht aufklärbar ist. So weist Jacques Derrida im Anschluss an Marcel Mauss darauf hin, dass die Gabe aufgrund des unerreichbaren Ausgleichs durch eine Gegengabe eine exzessive Struktur in Gang setzt, die in dem Maße, wie versucht wird, einen Ausgleich zu schaffen, das Gelingen der Gabe unmöglich macht.27 Das reine Geben, die selbstlose Gabe wird damit zu einem Problem, da die Selbstlosigkeit selbst nicht eindeutig von außen festgestellt werden kann. Theoretisch wird nur der gegeben haben, der selbst nicht weiß, dass er gegeben hat. Doch gilt noch mehr : Selbst wenn der Geber sich seines Gebens nicht bewusst ist, darf eigentlich auch der Empfänger der Gabe nicht wissen, dass ihm gegeben wurde. Die Folge ist dann: Sich darauf einlassen, dass die Gabe nicht gesichert werden kann, ist ihr Merkmal selbst. Dem ökonomischen Denken des Ausgleichs, das auf seine Weise eine Situation beruhigen will, ist die Gabe ein beunruhigender Gedanke. Sie setzt eine Dynamik in Gang, die auf einen weiteren Punkt hinweist: Der Unterschied zwischen einer Gabe und einem Warentausch liegt darin, dass bei jener der Geber sich selbst gibt. Durch sie wird nicht ein Vetrag geschlossen, sondern wie Marcel H¦naff hervorhebt ein Bund.28 Ein Vertrag hat bei seiner Erfüllung oder Nicht-Erfüllung ein Ende, wohingegen 27 Siehe dazu die kritische und ausführliche Diskussion durch H¦naff, Marcel: Die Gabe der Philosophie, 27 – 34. Aus soziologisch-ethnologischer Perspektive haben die kritischen Anmerkungen H¦naffs sicher einiges an Gewicht. Worum es Derrida allerdings geht, ist nicht die Einnahme einer Position, sondern über die Dekonstruktion etwas sichtbar werden zu lassen, das von den Thematisierungsbedingungen der analysierten Textgrundlage nicht in Erscheinung treten konnte. 28 Der Haupteinwand H¦naffs ist denn auch gegen die moralisch-philosophische Überinterpretation der Gabe, dass sie den liturgischen Kontext gleich in mehrer Hinsicht nicht beachtet und damit in konkreten Kontext, in welchem die Gabe durch Mauss beschrieben wurde, missachtet. Vgl.: H¦naff, Marcel: Die Gabe der Philosophie, 56 f.

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einem Bund nicht in gleicher Weise Grenzen gesetzt sind. Jedenfalls von der Tradition der Bibel und der auf sie bezogenen Frömmigkeit her kann es ein einseitiges Festhalten am Bund geben.29 Der Bruch des Bundes ist nicht zwingender Grund für seine Auflösung, selbst wenn Merkmale seiner Beendigung genannt werden können. Die Folge eines Vertragsbruches unterscheidet sich von der eines Bundesbruches. Im ersten Fall steht die Sanktion oder Auflösung, im zweiten Fall die Vergebung. Wird die Beschreibung der Gabe für die Entfaltung dessen, was Autorität bedeuten kann, übernommen, dann zeichnet sie sich durch diese Form der Einseitigkeit aus. Eine Autorität gibt sich selbst, wird von dem Gedanken des Bundes her verständlich und nicht von der alltäglich übermächtigen Praktik des Vertrages.30 Ihre Gabe ist das Urteil, das keine Ware ist. Es bezieht sich auf eine Wirklichkeit, in die sowohl die Autorität als auch das oder die Gegenüber hineingestellt sind, sich in ihr vorfinden und nicht durch einen Vertrag hergestellt wird. Das führt zur Konsequenz, dass ein Bund prinzipiell offen ist. Selbst wenn er ausdrücklich zwischen zwei Menschen geschlossen wird, treten Dritte in ihm in Erscheinung, wohingegen ein Vertrag nur die Vertragspartner bindet. Das ist der Fall, weil der Vertrag zielgerichtet ist, wohingegen ein Bundesschluss performativ sein »Ziel« immer schon erreicht hat, lediglich öffentlich werden lässt, was schon gilt. Dies kann auch anders gesagt werden: Verträge ordnen private Interessen, sind exklusiv und inklusiv, Bünde hingegen lassen Öffentlichkeit als solche erfahrbar werden.

4. Urteilen setzt eine Subjektivität voraus, die mit dem Moment der Selbsthingabe oder der Stellvertretung beschrieben werden kann. Ihm wohnt damit ein aristokratisches Moment inne, das sich dadurch auszeichnet, sich nicht hinter 29 Das Aufregende am Buch Exodus rund um die Sinaiperikope ist denn auch, wie auf argumentativer Ebene Mose und Gott sich damit auseinandersetzen, wessen Volk Israel nun sei, im Endeffekt aber ein Bund nicht gekündigt werden kann. Die Treue Gottes und die Treue Moses’ zur Treue Gottes hält die Geschichte im ›Rollen‹. Der Bund ist die Voraussetzung für die Geschichte und nicht lediglich ein Ereignis in irgendeiner Geschichte. Das ist denn auch die Basis, von der her dann die Tempelliturgie und die prophetischen Bücher und ihre Aussagen zum Bund verstanden werden können. 30 Auf diesen Unterschied weist schon Aristoteles im Kontext der Freundschaft hin, wenn er Lust- und Nutzfreundschaft von der Tugendfreundschaft in der Nikomachischen Ethik unterscheidet. Diese unterscheidet sich von jenen allem voran dadurch, dass sie letztlich nicht inhaltlich gesichert werden kann, wohingegen die ersten beiden einen abgegrenzten Inhalt haben. Siehe dazu: Aristoteles: Nikomachische Ethik, hg. Günther Bien, (=Philosophische Bibliothek 5), Hamburg 41985, Buch VIII.

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Mehrheiten zu verstecken, sondern für die im Urteilen erscheinende Sache einzutreten so, dass anderen Menschen ihm dem Anspruch nach zustimmen müssten. Anders als bei einer bestimmten Lesart Hegels, die das aristokratische Moment in der Fähigkeit sieht, sich in dem Kampf um Leben und Tod zu behaupten, das eigene Leben im Konkurrenzkampf mit dem Anderen zu riskieren und dadurch gerade zu erhalten,31 geht es beim Urteilen als geistiger Tätigkeit nicht darum, die Macht zu erlangen, zwischenmenschliche Grenzen letztlich willkürlich durch Stärke setzen oder verschieben zu können. Durch Urteile wird der Raum nicht begrenzt oder in seinen Grenzen neu geordnet, sondern wird der bestimmte Raum in seiner Weite wieder frei von den Deutungsansprüchen, die sich durch den Kampf zwischen Herr und Knecht ergeben haben. Aristokratie ist nicht ein wie auch immer legitimierter Anspruch auf Genuss, sondern zeigt sich im Vollzug der geistigen Tätigkeit, die Sache, in der Menschen sich zusammenfinden, in Erscheinung treten lassen zu können. Dass sie auch von dieser Autorität durchgesetzt werden kann, liegt nicht mehr in ihrem Einflussbereich allein. Damit ist sie weder an Durchsetzungskraft noch an Überzeugungen gebunden. Weil ein Urteil etwas zu sehen gibt, ist es darauf angewiesen, dass es in der Sache, die es zu erkennen gibt, anerkannt oder kritisch bewährt wird. An diesem Punkt hat das Erhabene aus der ästhetischen und politischen Theorie seinen Ort. Dieses zeichnet sich bei Kant aus der »Kritik der Urteilskraft«32 in der Überwindung eines inneren Widerstandes aus, die im Anblick des Unbegrenzten der Natur sich auf Ideen richtet, die der Mensch schon haben muss, damit er die Natur in ihrer sublimen Größe als Anschauung dieser Ideen wahrnehmen kann: Denn »das eigentliche Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft, welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen lässt, rege gemacht und ins Gemüt geführt werden. So kann der weite, durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannt werden. Sein Anblick ist gräßlich; und man muß das Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben, wenn es durch eine solche Anschauung zu einem Gefühl gestimmt werden soll, welches selbst erhaben ist, indem das Gemüt die Sinnlichkeit zu verlassen und sich mit Ideen, die höhere Zweckmäßigkeit enthalten, zu beschäftigen angereizt wird.« (Kant, Kritik der Urteilskraft, B 77.) 31 Geistigkeit und Selbstbewusstsein im Sinne Hegels wären dann unterschieden. (Siehe dazu:. Hegel, Georg W.F: Phänomenologie des Geistes; hg. von: Hans Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont (= Philosophische Bibliothek 414), Hamburg 1988, 120 – 126.) Ist das nicht ein Gesichtspunkt auf den Nietzsche aufmerksam macht? Siehe Motto des Aufsatzes. 32 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. von Heiner F. Klemme, (= Philosophische Bibliothek Band 507), Hamburg 2009.

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Urs Espeel

Das heißt: Nicht die Natur ist erhaben, sondern an der Natur wird veranschaulicht, worin der Mensch sich in seiner Welt als Mensch in seinem Unmaß gegen einen inneren Widerstand wiedererkennt. Mit Levinas kann gesagt werden: Die unendliche Verantwortung, die in der ethischen Situation von Angesicht zu Angesicht analytisch in Erscheinung tritt, ist von einer endlichen Perspektive aus gesehen »gräßlich«. Der Widerstand gegen das Unendliche, gegen das Einstehen für die Idee folgt einer anderen Logik als derjenigen des Überlebens. Diese muss erst überwunden werden. Am Erhabenen wird der Raum in seiner Weite erlebbar, ohne dass von außen gefordert werden könnte, für ihn einzustehen. Es drängt sich der Subjektivität auf. Aristokratie ist damit keine legitimiert ausgeübte Macht, sondern vollzieht sich gerade ohne äußere Legitimation im Vollzug des Urteilens. Es ist dieses Moment, von dem erzählt werden und das verstanden, wenn auch nicht auf- oder erklärt werden kann. Legitimiert ausgeübte Macht, die sich von Aristokratie in ihrem Verständnis, wie es hier vorgeschlagen wird, unterscheidet, heißt im Alltagssprachgebrauch Elite. Diese zeichnet sich gerade dadurch aus, als herausgehoben wahrgenommen werden zu wollen und von diesem Status dann, sich das Recht abzuleiten, etwas sagen zu dürfen. Sie gründet sich auf Kompetenzen, den weiten Raum mit Deutungen durchsetzen zu dürfen. Wie sehr es ihr nicht an Legitimation mangelt, sie ist aufgrund fehlender Aristokratie ohne Autorität. Wenn aber Autorität und Urteilen zusammengehören, dann ist der Schluss unvermeidlich: Eine kompetenzlegitimierte Elite oder Exzellenz kann nicht urteilen. Von ihnen gibt es auch keine Erzählungen, wenn überhaupt, nur Klatsch und Tratsch. In diesem Zusammenhang soll nun gegen Ende auf eine letzte begriffliche Unterscheidung hingewiesen werden. Sie steht im Zusammenhang mit der hebräischen Wurzel ASBN und dem griechischen Adjektiv t´keior : Vielleicht ist eine Unterscheidung zwischen »vollkommen« und »perfekt« einzubeziehen, die das Urteilen von der Entscheidungsfindung unterscheiden hilft. Urteile wären zwar nicht perfekt, dennoch vollkommen, wohingegen Entscheidungen am Paradigma des Optimums des Perfekten ausgerichtet sind. Zwar mögen auch Entscheidungen nicht optimal sein. Ein Kompromiss wurde geschlossen, der für alle Beteiligten tragbar ist. Sie unterscheidet sich aber von dem Urteil darin, dass dieses niemals allein auf einen Kompromiss zurückzuführen ist. In einem Urteil muss das auffindbar sein, das gilt, ohne Wenn und Aber. Damit stößt man bei Urteilen auf die grundlegenden Unterscheidungen, in denen sich eine Gemeinschaft wiedererkennt, die den Raum in seiner Weite bewahren kann und als solche nicht verhandelbar sind. Ein Urteil trifft die Sache. Darin ist es vollkommen. Ist nicht dies auch das Merkmal, mit dessen Hilfe Kunst von purer Unterhaltung unterschieden werden kann? Nicht dass Kunst nicht auch unterhaltend

Du stellst meine Füße auf weiten Raum (Ps 31,9)

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sein kann. Sie ruht aber immer auf einem Urteil oder fordert zu einem solchen heraus, wohingegen Unterhaltung durchaus nicht auf Urteilen beruht, sondern im schlimmsten Fall Vorurteile weiterträgt. Wenn das richtig ist, dann tritt mit der Kunst ein Autoritätsbegriff in Erscheinung, der nicht mit Unterwerfung unter sie verbunden ist. So kann die von Schoberth zitierte Erzählung beides sein. Wird sie rein im Hinblick auf kulturell vermittelte Emotionalität hin erzählt, ist sie sentimental und bewegt sich in den bekannten Mustern des Mythos Kindergarten. Wenn aber nach den KindergärtnerInnen gefragt wird, wird aus einer einfachen Nacherzählung im Kontext der geistigen Auseinandersetzung aus ihr eine Erzählung.33 Sie lässt etwas sehen und vernehmbar werden, das weit über geteilte Erlebnisse hinausgeht. Die Gabe der KindergärtnerInnen, die auf direkte Anerkennung verzichtet, bis in die Erzählung der Erinnerung hinein, lässt dann einen Begriff von Dankbarkeit erahnen, der durchaus in der Lage ist, die Aporien der Gabenlogik zu hinterfragen. Urteilen und Autorität könnte mit Dankbarkeit enger zusammenhängen als Anerkennung. Denn die Dankbarkeit kann die Gabe Gabe sein lassen. Dank nimmt Bezug auf den Geber in einer ganz besonderen Form. Im Dank eröffnet sich der Raum in seiner Weite, wird aus der gedeuteten Welt Schöpfung. Durch Urteile tritt die Welt als Schöpfung in den Blick.34

33 So ist der Erzähler nach Walter Benjamin auf jeden Fall »ein Mann, der dem Hörer Rat weiß.« (Benjamin, Walter : Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows; in: ders.: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa, ausgewählt und mit einem Nachwort von Alexander Honold, Frankfurt/Main 2007, 103 – 128, 106.) Der Rat stellt sich ein, wenn aufgrund der Erzählung danach gefragt wird, was denn zu tun sei! Diese »Ausrichtung auf das praktische Interesse ist ein charakteristischer Zug bei vielen geborenen Erzählern«. (ebenda). Die Antwort könnte dann sein: »Einen Raum bewahren, in dem Menschen im Guten in Erscheinung treten können.« »Er weiß Rat – nicht wie das Sprichwort, für manche Fälle, sondern wie der Weise: für viele. (…) Der Erzähler ist die Gestalt, in welcher der Gerechte sich selbst begegnet.« (Benjamin, Walter : Der Erzähler, 128) Er hat Autorität, weil er urteilt. 34 Vgl. dazu schon Kant im Kontext der Geltung des moralischen Gottesbeweises: Kant: Kritik der Urteilskraft, B 430 ff.

Gerhard Dannecker

Urteilen-Lernen in der universitären Juristenausbildung

A.

Ausbildung des Juristen – aber für welchen Beruf ?

Die Rechtswissenschaft gehört – ebenso wie die Theologie, Medizin oder Pharmakologie – zu den so genannten Professionsfakultäten. Als akademische Fächer kennzeichnet sie – so der Wissenschaftsrat in seinen »Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen«1 – »eine enge Theorie-Praxis-Verklammerung, durch die sie als Teil des Wissenschaftssystems zugleich in besonderer Weise auch an das betreffende gesellschaftliche Teilsystem gekoppelt sind. Die fachliche und organisatorische Entwicklung der Rechtswissenschaft vollzieht sich deshalb unter besonderen Rahmenbedingungen. So hat die Rechtswissenschaft nicht nur die Aufgabe, das Recht in seinen vielfältigen Bezügen zu durchdringen und zu reflektieren, sie bereitet auch die rechtliche Entscheidungsfindung mit vor und gestaltet sie mit. In Deutschland ist die Rechtswissenschaft auf ein Rechtssystem kontinentaleuropäischer Tradition bezogen und bildet Absolventinnen und Absolventen aus, die vor allem auf einem national ausgerichteten, zu großen Teilen rechtlich speziell geregelten Arbeitsmarkt Beschäftigung finden.«2

I.

Ausrichtung der Juristenausbildung an der »Befähigung zum Richteramt«: unzulängliche Berufsorientierung der juristischen Ausbildung?

Die Kritik des Wissenschaftsrats an der juristischen Ausbildung, die aber auch generell am Studium der Rechtswissenschaft geübt wird, stützt sich darauf, dass es an einer der Praxis Rechnung tragenden Berufsorientierung bei der Ausbildung fehle. Diesbezüglich führt der Wissenschaftsrat weiter aus: 1 Drs. 2558 – 12. 2 Drs. 2558 – 12, S. 5.

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Gerhard Dannecker

»In den zurückliegenden Jahrzehnten war die so genannte ›Befähigung zum Richteramt‹ leitend für den Aufbau des rechtswissenschaftlichen Studiums. Diese Perspektivierung wird immer wieder, insbesondere von den Anwaltsverbänden, kritisiert. Man geht davon aus, dass rund 75 % der Absolventinnen und Absolventen eines volljuristischen Studiums den Anwaltsberuf ergreifen.«

Bis zu 15 % der Assessorinnen und Assessoren sind anschließend bei Verbänden und Unternehmen tätig, 6 % in der öffentlichen Verwaltung, 4 % in der Justiz, ca. 75 % ergreifen den Anwaltsberuf.3 Diese Kritik findet teilweise auch im Schrifttum Zustimmung.4 Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Ausbildung nicht genau das richtige Ziel verfolgt: die Studenten, entsprechend den gesetzlichen Vorgaben, auf die Befähigung zum Richteramt, für die Rechtsanwaltschaft und für den höheren allgemeinen Verwaltungsdienst vorzubereiten. Dabei steht außer Frage, dass die Ausbildung vorrangig auf die Befähigung zum Richteramt ausgerichtet ist. Nach § 1 JAPrO5 besteht die juristische Ausbildung aus dem Universitätsstudium, das mit der Ersten juristischen Prüfung abgeschlossen wird, und dem Vorbereitungsdienst, der mit der Zweiten juristischen Staatsprüfung abgeschlossen wird. Die Erste juristische Prüfung dient der Feststellung, ob das rechtswissenschaftliche Studienziel erreicht und die fachliche Eignung für den juristischen Vorbereitungsdienst vorhanden ist. Das Zweite juristische Staatsexamen dient der Feststellung, ob die Befähigung zum Richteramt, für die Rechtsanwaltschaft und für den höheren allgemeine Verwaltungsdienst vorliegt. Studium und Vorbereitungsdienst sind nach § 5 Abs. 2 DRiG inhaltlich aufeinander abzustimmen. § 5a Abs. 3 DRiG hebt hervor, dass die Inhalte des Studiums die rechtsprechende, verwaltende und rechtsberatende Praxis berücksichtigen.

II.

Universitätsstudium und Vorbereitungsdienst auf die Zweite juristische Staatsprüfung: Inhalte und Ausbildungsabschnitte

»Im Studium sollen sich die Studierenden«, so § 3 JAPrO Baden-Württemberg, »in wissenschaftlicher Vertiefung exemplarisch mit den wichtigsten Gebieten des Zivilrechts, des Strafrechts und des Öffentlichen Rechts sowie mit einem 3 Vgl. Bericht des Ausschusses der Justizministerkonferenz zur Koordinierung der Juristenausbildung. Der Bologna-Prozess und seine möglichen Auswirkungen auf die Juristenausbildung [http://www.justiz.nrw.de/JM/justizpolitik/schwerpunkte/juristenausbildung/bologna_prozess/berichte2005/abschlussbericht.pdf], S. 30. 4 Wolf, Perspektiven der Rechtswissenschaft und der Juristenausbildung, ZRP 2013, 20 ff. 5 So die Baden-Württembergische Verordnung des Justizministeriums über die Ausbildung und Prüfung der Juristen, Gesetzesblatt 2002, S. 391.

Urteilen-Lernen in der universitären Juristenausbildung

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Schwerpunktbereich, jeweils unter Einschluss internationaler, insbesondere europarechtlicher, sowie verfahrensrechtlicher Bezüge, befassen. Grundlagenfächer (Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie, Juristische Methodenlehre, Rechtsvergleichung, Allgemeine Staatslehre) sind angemessen zu berücksichtigen. Die Lehrveranstaltungen berücksichtigen die praktische Bedeutung und Anwendung des Rechts einschließlich der Rechtsgestaltung und Rechtsberatung. Die Vorlesungen in den Pflichtfächern werden durch Lehrveranstaltungen begleitet und ergänzt, in denen in Kleingruppen der behandelte Lehrstoff aufbereitet wird (Fallbesprechungen). Die Universitäten bieten außerdem Lehrveranstaltungen an, in denen aus Sicht der beruflichen Praxis der Lehrstoff in Kleingruppen exemplarisch aufbereitet wird.« Die rechtlichen Vorgaben für das Referendariat finden sich vornehmlich im Deutschen Richtergesetz. In § 5 Abs. 1 Hs. 1 wird die »Befähigung zum Richteramt« von einem »Vorbereitungsdienst mit der Zweiten Staatsprüfung« abhängig gemacht. Diese Prüfung ist wiederum Voraussetzung für die übrigen juristischen Berufe (§ 4 Satz 1 BRAO). Das für alle juristischen Berufe obligatorische Referendariat kann auf eine lange Tradition verweisen: Es wurde in Preußen 1849 unmittelbar im Anschluss an die Revolution von 1848 bzw. deren Eindämmung durch die Reaktion eingeführt.6 Im »Vormärz« galt der »liberale preußische Kreis Richter« als sprichwörtliche gesellschaftliche Symbolfigur.7 Die Richterschaft diente daher als Träger der Forderungen nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die letztlich in der gescheiterten Revolution mündeten. Vor diesem Hintergrund kann die Einführung des obligatorischen Referendariats als Versuch der monarchischen Obrigkeit gedeutet werden, durch das Einwirken auf die Zusammensetzung der Richterschaft deren politische Ausrichtung zu verändern.8 Die heutige Referendarausbildung ist von solchen schlichten Manipulationen, wie sie im 19. Jahrhundert stattgefunden haben, weit entfernt. Auch der in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von der Justizsoziologie beschriebene Befund, dass die Justiz als geschlossener Stand agierte und den Vorbereitungsdienst gezielt nutzte, um den Nachwuchs auf Linie zu bringen,9 trifft heute nicht mehr zu.10 Dennoch ist der Vorbereitungsdienst Teil eines längerfristigen 6 Zur Geschichte der Juristenausbildung Hattenhauer, Juristenausbildung – Geschichte und Probleme, JuS 1989, 513 ff.; Roellecke, Erziehung zum Bürokraten? Zur Tradition der deutschen Juristenausbildung, JuS 1990, 337 ff.; Schmidt-Räntsch, DRiG, vor § 5, Rn. 15 ff. 7 Näher dazu von Hodenberg, Die Partei der Unparteiischen. Der Liberalismus der preußischen Richterschaft 1815 bis 1848/49, 1996. 8 Wittreck, Das Referendariat »Erziehung zum Establishment«?, Ad Legendum 4/2014, 249, 250. 9 Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung, 1969, S. 183 ff. 10 Bryde, Juristensoziologie, in: Dreier (Hrsg.), Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts, 1999, S. 137, 145.

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Eingewöhnungsprozesses, in dem der Nachwuchs über informelle Regeln orientiert wird, wie man in der Justiz Beförderungschancen wahrnimmt oder auch nicht. Die bundesdeutsche Justiz zählt zu den Gerichtsorganisationen, die ihren Nachwuchs – ganz anders als die englische Justiz – sehr früh rekrutiert,11 und dies spiegelt sich in den Richterpersönlichkeiten wider. Allen Bestrebungen, dieses System zu ändern – den Einheitsjuristen abzuschaffen und eine berufsbezogene Ausbildung zum Richter oder Rechtsanwalt einzuführen, wie dies in den meisten europäischen und außereuropäischen Staaten der Fall ist –, wurde eine Absage erteilt. Ebenso haben sich die Universitäten, unterstützt durch die Justizministerien der Länder, erfolgreich geweigert, den Bologna-Prozess mitzumachen und ein Bachelor-/Mastersystem für das Fach Rechtswissenschaft einzuführen. All das hat damit zu tun, dass es notwendig ist, in der Ausbildung darauf vorzubereiten, fundierte Entscheidungen zu treffen und diese eingehend – auf der Grundlage der Rechtsdogmatik – zu begründen. Dem Vernehmen nach funktioniert das ambitionierte deutsche Modell, ungeachtet aller berechtigten Kritik, nach wie vor bemerkenswert gut.12

B.

Die Gesetzesbindung und Notwendigkeit der Rechtsdogmatik und Methodenlehre

I.

Bindung der Judikative und Exekutive an Gesetz und Recht

Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. In einem Staatswesen, in dem die Staatsgewalt zum Zweck der Machtbegrenzung und zur Sicherung von Freiheit und Gleichheit auf mehrere Staatsorgane – Legislative, Exekutive und Judikative – verteilt ist, ist das Verhältnis von Gesetzgebung und Rechtsprechung von zentraler Bedeutung. Aufgabe des Richters ist es, nach Gesetz und Recht, ohne Ansehen der Person, zugleich aber auch in Zuwendung zur Person zu urteilen. Wir alle kennen Justitia, die schöne Frau mit verbundenen Augen und der Waage in der Hand, als Personifikation der Gerechtigkeit, die für das Rechtswesen steht. Justitias Waage ist weder Federwaage noch römische Waage, mit der das Gewicht eines zu wiegenden Gegenstands bestimmt werden kann. Justitia hält eine Balkenwaage 11 Wittreck, Das Referendariat »Erziehung zum Establishment«?, Ad Legendum 4/2014, 249, 252. 12 Dazu Schöbel, Einführung des Bologna-Modells in der deutschen Juristenausbildung?, in: Baldus/Finkenauer/Rüfner (Hrsg.), Bologna und das Rechtsstudium, 2011, S. 253 ff.; Ischdonat, Die deutsche Juristenausbildung unter dem Einfluss des Bologna-Prozesses, 2010.

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mit zwei Schalen in der Hand, in die zwei Objekte gelegt werden können, deren Gewicht gegeneinander zu bestimmen ist. Justitia wägt ab. Sie ist blind, sie hat ohne Ansehen der Person abzuwägen und zu entscheiden und dabei doch den Menschen in den Blick zu nehmen. Darin liegt die Befähigung zum Richteramt.

II.

Vom »Gesetzgeber als Herr und Richter als Diener« zum »Gesetzgeber als Komponist und Richter als Pianist«

1.

Zur gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative

Der Richter ist bei der Rechtsanwendung an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3, 2. HS. GG) und darf die gesetzgeberischen Wertungen nicht durch eigene Bewertungen ersetzen und unterlaufen. Dem an die verfassungsmäßige Ordnung gebundenen Gesetzgeber (Art. 20 Abs. 3, 1. HS. GG) steht eine breite Einschätzungsprärogative zu, die ihm die rechtliche Gestaltung der verschiedenen Lebensbereiche ermöglicht. Dies soll anhand eines Beschlusses zur Organlebendspende verdeutlicht werden, in dem das Bundesverfassungsgericht die gesetzliche Regelung für verfassungskonform erklärte, nach der eine Lebendspende von Organen, die sich nicht wieder bilden können, nur zum Zweck einer Übertragung auf Verwandte, Ehegatten, Verlobte oder andere Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen, zulässig ist (§ 8 Abs. 1 S. 2 TPG). Gegen diese Regelung wandte sich ein an einer terminalen Niereninsuffizienz und an Diabetes leidender Patient, dem zwei Personen aus altruistischen und humanitären Gründen die dringend benötigte Niere spenden wollten. Beide Personen erfüllten jedoch die Anforderungen des § 8 Abs. 1 S. 2 TPG nicht, wonach nur eine mit dem Empfänger verwandte oder ihm besonders nahestehende Person als Organspender in Betracht kommt. Das Bundesverfassungsgericht13 erklärte es für verfassungsrechtlich zulässig, dass der Gesetzgeber die Lebendspende auf Verwandte, Ehegatten, Verlobte oder andere Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offensichtlich nahestehen, beschränkt hat. Zwar greife der Gesetzgeber durch diese Regelung mittelbar in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ein. Dieser Eingriff sei jedoch verhältnismäßig. Der Gesetzgeber habe bei der verhältnismäßigen Zuordnung der Rechtsgüter, die bei der Organtransplantation in Frage stehen, einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum, um im Grenzbereich von medizinischen Möglichkeiten, ethischen Anforderungen und gesellschaftlichen Vorstellungen einen Ausgleich zu schaffen. Hiervon habe er Gebrauch gemacht, 13 BVerfG, NJW 1999, 3399 ff.

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als er die Organentnahme bei einer lebenden Person gegenüber der postmortalen Organentnahme für subsidiär erklärt habe, weil die Organentnahme für den lebenden Spender kein Heileingriff sei, sondern ihn körperlich schaden und gesundheitlich gefährden könne. Außerdem habe der Gesetzgeber die Freiwilligkeit der Organspende sicherstellen und jeder Form des Organhandels vorbeugen wollen. Alle drei Ziele beruhten auf vernünftigen Gründen des Allgemeinwohls, die den Gesetzgeber grundsätzlich zu einem Grundrechtseingriff berechtigten. An die gesetzlichen Vorgaben des Transplantationsgesetzes sind Richter und Exekutive gebunden, auch wenn in der Literatur ganz überwiegend Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung geäußert werden14. Wenn ein Richter diese Sicht der Literatur teilt, darf er sich nicht über das Gesetz hinwegsetzen. Er muss das Gesetz dem Bundesverfassungsgericht im Wege eines Vorlagebeschlusses vorlegen; das Verwerfungsmonopol für nachkonstitutionelle Gesetze hat allein das Bundesverfassungsgericht (Art. 100 Abs. 1 GG). Geht der Richter von der Vereinbarkeit des Gesetzes mit der Verfassung aus, so muss er die gesetzliche Regelung anwenden: »Der Gesetzgeber ist Herr und der Richter sein Diener.«

2.

Notwendigkeit gesetzlich bestimmter Gesetze

Der Gesetzgeber muss aber die Aufgabe als Herr auch tatsächlich wahrnehmen und hinreichend bestimmte gesetzliche Vorgaben treffen. Der Präsident des Bundesgerichtshofs, Professor Dr. Günter Hirsch, veröffentlichte einen diesbezüglich aufschlussreichen Beitrag unter dem Titel: »Zwischenruf: Der Richter wird’s schon richten«15. Anlass für diesen Beitrag war die Reaktion eines Rechtspolitikers auf einem Juristenkongress, als die geplante Reform des Versicherungsvertragsrechts vorgestellt wurde. Zum Regelungsinhalt einer bestimmten Generalklausel des Entwurfs (§ 28 I E-VVG) hatte jener Politiker angemerkt: »Dabei gehe ich davon aus, dass die gerichtliche Praxis hierfür handhabbare Abgrenzungskriterien entwickeln wird«. Der Präsident des Bundesgerichtshofs führt hierzu aus:16 Montesquieu, der erstmals die Gewaltenteilung zum Verfassungsgebot erhoben, dogmatisch be14 Gutmann, in: Schroth et al. (Hrsg.), TPG, 2005, § 8, Rn. 29; Höfling, Stellungnahme, Ausschussdrucksache 599/13, Deutscher Bundestag Ausschuss für Gesundheit, S. 6 ff.; Schreiber, 10 Jahre Transplantationsgesetz – Notwendigkeit einer Weiterentwicklung?, in: Böse/ Sternberg-Lieben (Hrsg.), Festschrift für Knut Amelung, 2009, S. 487, 494; Schroth, Lebendspende, insbesondere Cross-over – die juristische Perspektive, in: Middel et al. (Hrsg.), Novellierungsbedarf des Transplantationsrechts, 2010, S. 141, 154. 15 G. Hirsch, Der Richter wird’s schon richten, ZRP 2006, 161 ff. 16 G. Hirsch, Der Richter wird’s schon richten, ZRP 2006, 161 ff.

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gründet und gegen den Absolutismus gesetzt hat, würde sich im Grabe umdrehen angesichts eines Gesetzgebers, der es den Richtern überlässt, seine Gesetze »handhabbar« zu machen. Nach Montesquieu sei die Rechtsprechung als dritte Gewalt strikt auf das buchstabengetreue Nachsprechen des Gesetzes beschränkt, Auslegung der Gesetze sei ihr versagt. Die Auffassung, es sei nicht Aufgabe der Richter, sondern des Gesetzgebers, bei Unklarheiten der Norm die richtige Auslegung zu bestimmen, sei lange Zeit herrschend gewesen. Könige und Diktatoren hätten ihre Macht durch Richter, die die konkreten Wirkungen ihrer Gesetze in persönlicher Unabhängigkeit bestimmten, gefährdet gesehen; Parlamente seien bis heute misstrauisch gegenüber zu viel Rechtsfortbildung durch Richterrecht geblieben. 3.

Richterliche Gesetzesanwendung als rechtsschöpferischer Akt

Diese Sichtweise teilt das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht.17 Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Gesetze sind aber abstrakt-generelle Regeln, unter die konkret-individuelle Sachverhalte zu subsumieren sind. Die gesetzlichen Regeln sind statisch, formuliert vor dem Erkenntnishorizont des historischen Gesetzgebers, der im Gesetz seinen Willen zum Ausdruck bringt. Das Leben verändert sich jedoch. Deshalb darf der Gesetzgeber keine überpräzisen Formulierungen wählen, er muss der Rechtsanwendung Entscheidungsspielräume eröffnen, damit im Einzelfall gerechte Entscheidungen erzielt werden können und der Richter den Willen des Gesetzes zeitgerecht fortentwickeln kann. Der Gesetzgeber kann weder die Fülle noch die Besonderheiten der Fälle vorhersehen, die auf der Grundlage des Gesetzes zu entscheiden sein werden. Deshalb müssen die Gesetze hinreichend allgemein sein, um richterliche Entscheidungsspielräume zu eröffnen.18 Hier wird deutlich, dass Richtersprüche das Recht nicht nur anwenden, sondern materielles Recht schaffen, das neben dem formellen Gesetzesrecht steht und die Rechtswirklichkeit nicht weniger prägt als die Gesetze. Damit verschiebt sich aber die Grenze, und es stellt sich die Frage, ab wann die richterliche Rechtssetzung zur unzulässigen Rechtsfortbildung wird.19 Selbst im Strafrecht, in dem die Bindung des Richters an das Gesetz besonders ausgeprägt ist und in dem Verfassungssatz »nullum crimen sine lege« (Art. 103 Abs. 2 GG) seinen Ausdruck findet, der eine straferweiternde Analogie verbietet 17 Siehe nur BVerfGE 105, 135, 157. 18 Dazu Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, 1980, S. 287; Schünemann, Spirale oder Spiegelei? Vom hermeneutischen zum sprachanalytischen Modell der Rechtsanwendung, in: Herzog/Neumann (Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer, 2010, S. 239, 243; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 6. Aufl. 2011, Rn. 166. 19 Hillgruber, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 71. Aufl. 2014, Art. 97, Rn. 63 ff.

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und die Bestimmtheit des Strafgesetzes verlangt, hält das Bundesverfassungsgericht eine Vorschrift schon dann für hinreichend bestimmt, wenn sie durch eine lang anhaltende Rechtsprechung konkretisiert wurde oder bei restriktiver Auslegung wenigstens so erscheint.20 Bei dieser Relativierung wird aber die Bestimmtheit des Gesetzes durch die Bestimmbarkeit durch den Richter ersetzt.21 Durch diese Relativierung trägt das Bundesverfassungsgericht den neueren rechtstheoretischen Einsichten Rechnung, dass zwischen dem Gesetz und dem Fall keine schlichte Ableitungsbeziehung, sondern ein kompliziertes Verhältnis wechselseitiger Entsprechung besteht.22 Methodische Schwierigkeiten treten weiterhin auf, wenn ein Normenkonflikt vorliegt, in dem zwei sich widersprechende Normen gleichzeitig angewendet werden sollen, dies aber aus logischen Gründen nicht möglich ist. In solchen Fällen ist eine der beiden Normen abzuwerten und der anderen der Vorrang einzuräumen, ohne dass der Richter hierfür demokratisch-rechtsstaatlich legitimiert ist. Auch in diesen Fällen ist der Normtext lediglich verbindlicher Ausgangspunkt, von dem aus mit Blick auf den zu entscheidenden Fall die normorientierten sachbezogenen Argumente zur Begründung einer Entscheidungsnorm entwickelt werden müssen. Die Abwägung stellt einen differenzierten Schritt innerhalb des Prozesses der Herstellung der Entscheidungsnorm dar, der insbesondere bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen werden muss. Die richterliche Entscheidung erfordert einen Verstehensprozess, der das Gesetz zum Fall hin und den Fall zum Gesetz hin »entwickelt«. Juristisches Entscheiden ist also nicht nur Befolgung von Normanwendungsregeln, sondern beruht in hohem Maße auf »professionellen Routinen«, auf »habituellem« Handeln des erfahrenen Praktikers.23 Insoweit ist die juristische Hermeneutik um einen professionssoziologischen Aspekt zu erweitern.24

20 BVerfGE 45, 363, 371 f.; 48, 48, 56 f.; 85, 69, 73; 93, 266, 292; 94, 372, 394; 96, 68, 98 f. 21 Dazu LK-StGB/Dannecker, 12. Aufl. 2007, § 1, Rn. 185 ff. 22 Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011, S. 26, 134; Neumann, Theorie der juristischen Argumentation, ebd., S. 333, 340; Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, in: Müller-Dietz (Hrsg.), Festschrift für Heike Jung, 2007, S. 231, 240. 23 NK-StGB/Hassemer/Kargl, 4. Aufl. 2013, § 1, Rn. 102; näher dazu Morlok/Kölbel, Rechtstheorie, 2001, S. 304; Löschper, Bausteine für eine psychologische Theorie richterlichen Urteilens, 1999, S. 62, 277; Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011, S. 251, 266; Schneider, Theorie des juristischen Entscheidens, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011, S. 348, 367; Schulz, Neues zum Bestimmtheitsgrundsatz – Zur Entscheidung des BVerfG vom

Urteilen-Lernen in der universitären Juristenausbildung

III.

121

Notwendigkeit der Rechtsdogmatik und Methodenlehre

Damit muss das Postulat der Gesetzesbindung, müssen die Sicherungen der Rechtsordnung, um Gesetzesanwendung und Fallentscheidung einander anzunähern, neu bestimmt werden: Die Instrumente dieser Sicherung finden sich in der Rechtsdogmatik und Methodenlehre des Rechts, die beide der Aufgabe dienen, den Inhalt der Gesetze zu konkretisieren und für die Fallentscheidung aufzubereiten. Rechtsdogmatik und Methodenlehre sind für die Durchsetzung des Gesetzlichkeitsprinzips unverzichtbar :25 Während die Rechtsdogmatik die Kluft zwischen Gesetz und Gesetzesanwendung durch komplexe, aber handhabbare und durchsichtige Konkretisierungen der Gesetze sowie durch Verallgemeinerungen der Fälle überbrückt, regelt die Methodenlehre das Verfahren der Anwendung von Gesetzen in differenzierter Weise. Nimmt man dies ernst, so ist unter der Geltung des Grundgesetzes das Bild, mit dem Phillip Heck, der große Methodenlehrer (1858 – 1943), das Verhältnis vom Gesetzgeber zum Richter als ein solches vom Herrn zum Diener beschrieben hat, nur noch begrenzt richtig. Es entspricht nicht mehr unserer Verfassungswirklichkeit. Wenn man ein Bild für das Verhältnis von Gesetzgeber und Richter sucht, passt, um nochmals G. Hirsch zu zitieren, eher das Bild vom Pianisten zum Komponisten für das Verhältnis des Richters zum Gesetzgeber : Der Richter interpretiert die Vorgaben, mehr oder weniger virtuos, er hat Spielräume, darf aber das Stück nicht verfälschen.

C.

Rechtsdogmatik in der universitären Juristenausbildung

Im Vordergrund der Rechtswissenschaft steht ihre Bedeutung für die Rechtsfindung, ihre dogmatische Funktion. Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es, den Rechtsstoff zu ordnen und zu systematisieren,26 um so dem Gebot der Gerech23. Juni 2010, in: Heinrich/Jäger/Achenbach (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin, 2011, S. 305, 324. 24 NK-StGB/Hassemer/Kargl, 4. Aufl. 2013, § 1, Rn. 102; ähnlich Wenzel, Die Bindung des Richters an Gesetz und Recht, NJW 2008, 345, 348; Strauch, Die Bindung des Richters an Recht und Gesetz – eine Bindung durch Kohärenz, KritV 2002, 311 ff.; Kudlich/Christensen, Zum Relevanzhorizont strafgerichtlicher Entscheidungsbegründungen, GA 2002, 337 ff.; Klatt, Theorie und Wortlautgrenze, 2004, S. 31; Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 449. 25 Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 536; Zippelius, Das Wesen des Rechts, 6. Aufl. 2012, S. 74, 78; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 7. Aufl. 2012, S. 326 ff. 26 Kotsoglou in: Schuhr (Hrsg.), Rechtssicherheit durch Rechtswissenschaft, 2014, S. 73 ff. mit weit. Nachw.; Wolf, Perspektiven der Rechtswissenschaft und der Juristenausbildung, ZRP

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tigkeit, das untrennbar mit der Idee des Rechts verbunden ist, zu entsprechen. Außerdem ist Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.27 Zugleich dient die Systematisierung der denkökonomischen Entlastung und Verständlichmachung der rechtlichen Regelungen.28 Aufgabe der Rechtsdogmatik ist damit die Kontrolle und Disziplinierung der Rechtsprechung, mit der die dogmatischen Disziplinen der Rechtswissenschaft im Dialog stehen.29 Gerade dieser Dialog zwischen Wissenschaft und Rechtsprechung und die damit verbundene Einhegung der Rechtsprechung in die Rechtsdogmatik, so der Wissenschaftsrat30, hat die deutsche Rechtswissenschaft weltweit stark gemacht. In Deutschland wird die Rechtsdogmatik deshalb als »Kernstück«31, als »Herzstück«32, als »Lebensnerv«33 der Rechtswissenschaft charakterisiert. Die rechtsdogmatische Arbeitsweise wird als spezifisch juristischer Umgang mit dem positiven Recht gesehen. Dabei sind der Begriff der Rechtsdogmatik und das Selbstverständnis der Rechtswissenschaft, eine dogmatische Wissenschaft zu sein, ein spezifisch deutsches Phänomen, um das Recht mit den Mitteln der Wissenschaft als ein System zu etablieren.34 Entsprechend ist die Rechtsdogmatik, die bisher jede Grundsatzkritik überlebt hat35, zentraler Gegenstand der universitären Ausbildung der Juristen.

I.

Begriff und Funktionen der Rechtsdogmatik

Rechtsdogmatik als »ein System von Sätzen, mit denen das geltende Recht begrifflich-systematisch durchdrungen und auf abstraktere Institute zurückge-

27 28 29 30 31 32 33 34 35

2013, 20 ff.; ders., in: Gaier/Wolf/Göcken (Hrsg.), Anwaltliches Berufsrecht, 2. Aufl. 2014, §4 BRAO, Rn. 38. Canaris, Systemdenken und Systembegriff der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 16. Ernst, Gelehrtes Recht. Jurisprudenz aus der Sicht des Zivilrechtslehrers, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 23, 42. Schünemann, Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 1, 8. Drs. 2558 – 12, S. 27, 29, 31, 33, 37; Wolf, Perspektiven der Rechtswissenschaft und der Juristenausbildung, ZRP 2013, 20 ff. So Dreier, Recht – Staat – Vernunft. Studien zur Rechtstheorie 2, 1971, S. 37, 41. Schoch, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Die Verwaltung Beiheft 7, 2007, 177, 209. Krebs, Die Juristische Methode im Verwaltungsrecht, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 209, 220. So Jansen, Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie, 2007, S. 1263, 1289 ff. und Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die »Begriffsjurisprudenz«, 2004, S. 118 ff., 196 ff., 221 ff., 274 ff., 292 ff. So Stürner, JZ 2012, 10.

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führt wird, um so seine Anwendung zu steuern«36, will nicht nur vernünftige praktische Argumentationen und wohlbegründete Lösungen liefern. Rechtsdogmatik geht weit darüber hinaus, indem verbindliche Grundbegriffe, Deutungsmuster und Ordnungsvorstellungen etabliert werden, die neben verbindliche Auslegungs- und Argumentationsmethoden treten. Dogmatische Lehrsätze beschränken sich nicht darauf, einzelne Normen zu beschreiben. Sie bringen übergreifende gedankliche Zusammenhänge begrifflicher oder systematischer Art zum Ausdruck oder formulieren strukturelle und begriffliche Festlegungen, die gleichermaßen für zukünftige Normen gelten. Hierbei geht es zum einen um die Formulierung allgemeiner Rechtsgrundsätze und zum anderen um die Darstellung normativer Zusammenhänge, die also Rechtsnormen in einer typischerweise generalisierenden Form juristisch erklären.37 Solche Synthesen führen nicht selten zu grundlegenden Rechtsbegriffen wie dem der Rechtswidrigkeit, der Schuld, subjektiver Rechte, des Eigentums, des Rechtsgeschäfts, der juristischen Person, des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung etc., deren Bedeutung und Kenntnis für das Verständnis des Rechts unverzichtbar sind und die deshalb in der juristischen Ausbildung vermittelt werden müssen. Mit Hilfe von Rechtsprinzipien sollen normativ verbindliche, gebietsübergreifende Rechtsgedanken erfasst werden, um sie bei der rechtlichen Bewertung von Sachverhalten anwenden zu können. Dabei können Rechtsprinzipien auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen angesiedelt sein und unterschiedliche inhaltliche Dignität haben und entsprechend unterschiedlich starke Wirkungen auf die Rechtsanwendung entfalten.38 Neben Rechtsprinzipien sind als weitere Figuren zur Ordnung des positiven Rechtsstoffs insbesondere das Rechtsinstitut als sachlich zusammenhängender, von einem gemeinsamen Zweck getragener Normenkomplex (z. B. Verjährung), die Theorie, mithilfe derer ein Grund- und Gesamtverständnis für einen Normenkomplex oder eine einzelne Norm entwickelt wird und die den Zugang zum Verständnis der Regeln eröffnet39, der Typus40, das auf politische Ordnungsvorstellungen bezogene Leitbild, das seinen Niederschlag im Gesetz gefunden hat41, der zur Charakterisierung eines spezi36 Volkmann, Veränderungen der Grundrechtsdogmatik, JZ 2005, 261, 262. 37 Esser, Dogmatik zwischen Theorie und Praxis, in: Baur (Hrsg.), Festschrift für Ludwig Raiser, 1974, S. 517, 533 f. 38 Grundlegend dazu Esser, Grundsatz und Norm, 4. Aufl. 1990; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 46 ff., 112 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 75 ff. 39 Näher dazu mit weiteren Nachweisen Bumke, JZ 2014, 641, 645, Fn. 39. Allerdings wird der Begriff der Theorie auch häufig verwendet, wenn dieser schlicht durch »Lehre« ersetzt werden könnte. 40 Näher Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 460 ff. 41 Dazu Baer, Schlüsselbegriffe, Typen und Leitbilder als Erkenntnismittel und ihr Verhältnis

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ellen Bereichs verwendete Schlüsselbegriff wie z. B. die von Forsthoff geprägte »Daseinsvorsorge«, zu nennen42. Recht ist somit mehr als die Summe einzelner Normen, Recht umfasst auch deren begriffliche und gedankliche Ordnung. Komplexe Grundbegriffe sowie Annahmen über normative Zusammenhänge werden zu einem wesentlichen Element des Rechts.43 Für das rechtsdogmatische Denken sind prägend: die Vorstellung vom »Recht als einem geordneten Ganzen«44 sowie der »Richtigkeitsanspruch des positiven Rechts«45 : Demokratisch legitimiertes Recht beansprucht nicht nur, befolgt zu werden, sondern auch legitim zu sein, weil es auf dem demokratisch legitimierten politischen Mehrheitswillen beruht und weil die Regeln beanspruchen, problemangemessen zu sein oder die gesellschaftliche Ordnung zu gewährleisten und Chaos verhindern zu können. Soweit trotz eines gemeinsamen disziplinären Grundverständnisses divergierende Vorstellungen bestehen, wird auf die »Systemidee« – den Gedanken einer widerspruchsfreien Rechtsordnung –, den Anspruch auf inhärente Richtigkeit und die Bedeutung des Parlamentsgesetzes verwiesen.46 Hierbei wird dem Gesetz, je nach Rechtsgebiet, unterschiedliche Bedeutung beigemessen: Während im Strafrecht eine besonders strikte Gesetzesbindung gilt und auch im Verwaltungsrecht der Vorbehalt des Gesetzes dem Parlamentsgesetz zentrale Bedeutung verleiht, besteht im Privatrecht die Möglichkeit und Notwendigkeit, das Recht zur angemessenen Bewältigung gesellschaftlichen Wandels fortzubilden, wenn dies erforderlich ist, um dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung zu tragen und diesen durch praxistaugliche und angemessene Lösungen zu bewältigen. Mit anderen Worten: Die Sicherungen, welche die Rechtsordnung entwickelt hat, um Gesetzesanwendung und Fallentscheidung einander anzunähern, finden sich in der Rechtsdogmatik, die von der lex lata ausgeht und Anweisungen für den Inhalt der Gesetze entwickelt, um so dazu beizutragen, den Inhalt der Gesetze zu konkretisieren und für die Fallentscheidung aufzubereiten und Regeln für den argumentativen Umgang mit den Gesetzen bereitzustellen47

42 43 44 45 46 47

zur Rechtsdogmatik, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 223 ff.; Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2. Aufl. 2012, § 1, Rn. 42. Dazu Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2. Aufl. 2012, § 1, Rn. 40 f. Bumke, Rechtsdogmatik. Überlegungen zur Entwicklung und zu den Formen einer Denkund Arbeitsweise der deutschen Rechtswissenschaft, JZ 2014, 641, 645. Näher dazu ders., Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 23 ff. Ders., Rechtsdogmatik. Überlegungen zur Entwicklung und zu den Formen einer Denk- und Arbeitsweise der deutschen Rechtswissenschaft, JZ 2014, 641, 647. Näher dazu ders., Rechtsdogmatik. Überlegungen zur Entwicklung und zu den Formen einer Denk- und Arbeitsweise der deutschen Rechtswissenschaft, JZ 1014, 641, 647 m.w.N. Busse, Juristische Semantik – Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht, 1993, S. 172.

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125

und damit die Bedingungen und Grenzen des juristisch Vertretbaren zu bestimmen.48 Die Rechtsdogmatik sichert das Gesetzlichkeitsprinzip ab, indem es die Kluft zwischen Gesetz und Gesetzesanwendung durch komplexe, aber handhabbare und durchsichtige Konkretisierungen der Gesetze einerseits sowie durch Verallgemeinerungen der Fälle andererseits überbrückt.49

II.

Juristische Methodik als Arbeitsweise der Juristen

Fragt man nach der Arbeitsweise der Rechtsdogmatik, so wird auf die juristische Methode verwiesen,50 die sich aber im Wesentlichen mit der Auslegung und Anwendung von Gesetzen und der richterlichen Rechtsfortbildung befasst und hierbei auf die Rechtsdogmatik zurückgreift, um deren Ziele zu verwirklichen.51 Zum Teil setzt sich die Methodik auch mit Fragen des richtigen Argumentierens auseinander.52 Auch die Methodenlehre – Methodenfragen sind Verfassungsfragen53 – sichert das Gesetzlichkeitsprinzip ab, indem sie das Verfahren der Anwendung von Gesetzen differenziert regelt.54 Während die Strafrechtsdogmatik vom geltenden Gesetz ausgeht, entwickelt die Methodenlehre ihre Anweisungen unabhängig vom jeweiligen Gesetzesinhalt. Die rechtsdogmatische Begriffs- und Systematisierungsarbeit als solche 48 Zur Steuerungs- und Innovationsfunktion dogmatischer Begriffe Pawlowski, Methodenlehre, 1999, S. 24; Seelmann, Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2010, § 4, Rn. 9; Zippelius, Das Wesen des Rechts. Eine Einführung in die Rechtstheorie, 6. Aufl. 2012, S. 94. 49 NK-StGB/Hassemer/Kargl, 4. Aufl. 2013, § 1, Rn. 103; zu weiteren Funktionen der Rechtsdogmatik Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, Rn. 321; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 141. 50 Krebs, Die Juristische Methode im Verwaltungsrecht, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 209, 213 ff.; Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 18 ff.; Ernst, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 3, 15 ff.; Jestaedt, ebd., S. 241, 261 f.; Engel, ebd., S. 205, 232 f.; Frisch, ebd., S. 156, 157 ff. 51 Repräsentativ Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2. Aufl. 2012, § 1, Rn. 6; Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 11 ff. 52 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 1967; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2012; Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986; Gast, Juristische Rhetorik, 4. Aufl. 2006. 53 Dazu Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, Rn. 704 ff; Rüthers, Methodenfragen als Verfassungsfragen, in: Rechtstheorie 40 (2009), S. 253, 272; Rückert/Seinecke, Methodik des Zivilrechts, 2. Aufl. 2012 Rn. 38 ff., 40, 43; Waldhoff, in: Fleischer (Hrsg.), Mysterium »Gesetzesmaterialien«, 2013, S. 75 ff., 85. 54 Dazu Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 7. Aufl. 2012, S. 326 ff.; Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildung im Zivilrecht, 2007, S. 536; Zippelius, Das Wesen des Rechts. Eine Einführung in die Rechtstheorie, 6. Aufl. 2012, S. 74, 78.

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kommt hingegen allenfalls am Rande zur Sprache.55 Entsprechend führen die Aussagen über die juristische Methode kaum über die skizzierte Charakterisierung der Rechtsdogmatik hinaus: Es handelt sich um eine Tätigkeit, die das Ziel verfolgt, den Rechtstoff zu durchdringen, präzise zu erfassen und systematisch zu ordnen. Schwierige Fälle sind auf der Grundlage der anerkannten juristischen Argumentationsformen (Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik, Zweck) zu begründen. Das genuin Juristische der juristischen Methode, das Autonomie stiften und Identität sichern soll, wird nicht benannt. Die rechtsdogmatische Arbeitsweise existiert zu wesentlichen Teilen nur in Form impliziten Wissens.56

III.

Zum Status rechtsdogmatischer Sätze

Im Unterschied zu Gesetzen, Urteilen, Verwaltungsakten etc. besitzen die Sätze der Rechtswissenschaft keine Verbindlichkeit. Und doch prägen solche Vorschläge der Wissenschaft die Rechtsanschauungen der Praxis maßgeblich. Lehrmeinungen haben keine rechtliche Verbindlichkeit. Dennoch wird das positive Recht nicht nur umschrieben, es beansprucht vielmehr normative Verbindlichkeit, wenn von juristischer Argumentation Gebrauch gemacht und auf Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik und Telos abgestellt wird. Unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung liegt die Problematik darin begründet, dass die begriffliche und gedankliche Ordnung nicht wegen einer Anordnung durch den Gesetzgeber Geltung beansprucht und auch nicht den Anspruch erhebt, positive Rechtsnormen zutreffend zu beschreiben. Dennoch werden dogmatische Lehren im juristischen Diskurs und bei richterlichen Entscheidungen häufig ohne Weiteres angewendet. Dieses Nebeneinander von deskriptivem Wahrheits- und normativem Geltungsanspruch ohne legislative Grundlage ist für die Rechtsdogmatik als an55 Vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, 10. Aufl. 2009, Rn. 400 ff.; Rüthers/ Fischer/Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 7. Aufl. 2013, Rn. 309 ff.; ausführlicher Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 437 ff.; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999, Rn. 766 ff.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 457 ff., kommen auf rechtsdogmatische Grundbegriffe zu sprechen, ohne diese mit der rechtsdogmatischen Arbeitsweise zu verknüpfen. Ansätze finden sich daneben in den in: Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, Bd. 1 und 2, versammelten Beiträgen, insbes. im Beitrag von Krause, ebd., S. 451 ff.; in: Rückert/Seinecke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts, 2. Aufl. 2012; und in: Schmoeckel/Zimmermann/Rückert (Hrsg.), Historisch-kritische Kommentar zum BGB, 2003. 56 Eingehend dazu Bumke, Überlegungen zur Entwicklung und zu den Formen einer Denk-und Arbeitsweise der deutschen Rechtswissenschaft, JZ 2014, 641, 642 ff., der dieses implizite Wissen expliziert und ordnet.

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wendungsorientierte, praktische Wissenschaft prägend. Auch wenn es nicht primäres Ziel der wissenschaftlichen Rechtsdogmatik ist, Rechtsnormen zu begründen, sondern diese zu beschreiben,57 geht ihr Inhalt über die bloße Wiedergabe der normativen Vorgaben einzelner Normen hinaus. Dogmatische Sätze haben typischerweise eigenen normativen Gehalt.58 Dogmatische Lehrsätze bringen somit das Recht rekonstruktiv zum Ausdruck und stecken zugleich den begrifflichen und gedanklichen Rahmen für den juristischen Diskurs ab.59 Schließlich soll Rechtsdogmatik auch neue juristische Schlüsse ermöglichen.60 So bildet die Rechtsdogmatik eine integrative und rekonstruktive Beschreibung der gedanklichen Ordnung einer Gesamtheit von gesetzlichen oder richterrechtlichen Normen.61

IV.

Rechtsdogmatik als Wissensreservoir für die Praxis

Recht kann in einer modernen Rechtsordnung nicht zutreffend beschrieben werden, ohne auf dogmatisch formulierte, technische Begriffe wie das »subjektive Recht« oder das »Rechtsgeschäft« oder auf allgemein anerkannte Lehren, wie den »Abstraktionsgrundsatz« oder die Lehre von den »Verkehrspflichten«, zu rekurrieren.62 Deshalb wird der Status dogmatischer Lehrsätze mit dem Status grammatikalischer Regeln verglichen,63 welche die Grundlage dafür bilden, die Bedeutungen einzelner Wörter zueinander in Bezug zu setzen und damit zur komplexen Bedeutung eines Satzganzen zu verbinden. Ebenso werden einzelne Rechtsnormen erst vor dem Hintergrund der Dogmatik als sinnvolles Ganzes verständlich. Wenn aber für das Verständnis des Rechts und für die Frage nach der Relevanz und Zulässigkeit konkreter normativer Argumente die Dogmatik unverzichtbar ist, muss sie zentraler Bestandteil der juristischen 57 Dazu Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 77; dazu Golding, Kelsen and the Concept of a »Legal System«, ARSP 47 (1961), 355, 357 ff., 361 ff., vgl. auch Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie, 2004, S. 212, 220 f. 58 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 7. Aufl. 2012 , S. 314. 59 Jansen, Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie, 2007, Rn. 10. 60 Bankowski et al., On Method and Methodology, in: MacCormick/Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, 1991, S. 9, 19 f.; Canaris, Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien, JZ 1993, 377, 378. 61 Hart, Kelsen Visited, in: ders. (Hrsg.), Essays in Jurisprudence and Philosophy, 1983, S. 286, 294 f.; Golding, Kelsen and the Concept of a »Legal System«, ARSP 47 (1961), 355, 361 ff., 365 f. 62 Vgl. Samuel, English Private Law: Old and New Thinking in the Taxonomy Debate, 2004, 24 Oxford Journal of Legal Studies, 335, 342 ff. 63 Herberger, Dogmatik zur Geschichte von Begriff und Methode in Medizin und Jurisprudenz, 1981, S. 37 f., 74 ff., 119, 257 f. m. w. N.; heute etwa Bankowski et al., On Method and Methodology, in: MacCormick/Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, 1991, S. 9, 20.

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Ausbildung sein. Denn erst durch die Einbeziehung der Rechtsdogmatik kann die gedankliche Ordnung des Rechts adäquat verstanden werden. Dabei weist die Dogmatik gegenüber der Moral den Vorzug auf, dass sich dogmatische Lehren auf das positive Recht beziehen und so einen spezifischen Status erhalten, der ihnen besonderes argumentatives Gewicht verleiht, ohne dass sie dadurch dem Diskurs und der Falsifikation entzogen wären. Rechtsdogmatik, so Christian Bumke64, will das positive Recht nicht nur durchdringen und ordnen, sie will zugleich die rechtliche Arbeit anleiten und zur Lösung von Rechtsfragen beitragen. Auf diese Weise hält die Rechtsdogmatik ein Wissensreservoir für die Praxis vor, trägt zur Erlernbarkeit der praktischen Rechtsarbeit bei und leistet einen Beitrag zur Rationalisierung und Legitimierung des Rechts.65 Somit wird heute das Augenmerk weniger auf die Erfassung und Systematisierung des Rechtsstoffes als auf die Ausrichtung an der Rechtspraxis und die Fähigkeit, aktuelle Rechtsfragen zu beantworten, gelegt.66 Dies wurde notwendig, als sich in der Moderne die Praxis der Gesetzgebung veränderte. Galt es im 18. Jahrhundert noch als ein Ziel kunstgerechter Gesetzgebung, den erforderlichen dogmatischen Rahmen festzuschreiben,67 so beschränkt sich der Gesetzgeber seit dem 19. Jahrhundert auf eine möglichst dogmenarme Normsetzung.68 Gerade deshalb kann sich ein juristischer Richtigkeitsanspruch aber nicht auf die korrekte Anwendung des Gesetzes beschränken, sondern muss sich darüber hinaus auch auf den richtigen Umgang mit der Rechtsdogmatik erstrecken.69 Die Ausrichtung der Rechtsdogmatik an der Rechtspraxis spielte schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Damals wurde der Begriff »Rechtsdogmatik« mit der »praktischen Jurisprudenz«, die sich mit dem vorhandenen Rechtsstoff und den daraus resultierenden Rechtsfragen beschäftigte, gleichgesetzt.70 Zusammen mit Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte bildete 64 Bumke, Rechtsdogmatik. Überlegungen zur Entwicklung und zu den Formen einer Denkund Arbeitsweise der deutschen Rechtswissenschaft, JZ 2014, 641. 65 Siehe dazu Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik: Rechtsdogmatik im Spannungsfeld von Gesetzesbindung und Funktionsorientierung, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 18, 21 ff. m. w. N. 66 Bumke, Rechtsdogmatik. Überlegungen zur Entwicklung und zu den Formen einer Denkund Arbeitsweise der deutschen Rechtswissenschaft, JZ 2014, 641, Fn. 4 a.E. 67 Schlosser, Briefe über die Gesetzgebung, 1789, S. 161, 338 ff. 68 Zu den Rationalitätsanforderungen im Gesetzgebungsverfahren Grzeszick VVdStRL 71 (2011), S. 49, 51; Reyes y R‚fales, Rechtstheorie 45 (2014), S. 35 ff., jeweils mit weit. Nachw. 69 Esser, Dogmatisches Denken im modernen Zivilrecht, AcP 172 (1972), 97, 99. 70 Die Überwindung des Naturrechtsdenkens und die Ausrichtung auf das positive Recht wird als zentrale Leistung der historischen Rechtsschule gesehen; dazu Stintzing-Landsberg, Geschichte der Rechtswissenschaft, Abt. 3, Hbd. 2, 1910, S. 19 ff., 199 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 348 ff.; Schröder, Recht als Wissenschaft, 2. Aufl. 2012, S. 193 ff.

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die Rechtsdogmatik die Rechtswissenschaft.71 Als dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die großen Kodifikationen das Gewohnheitsrecht ablösten, veränderte sich der Charakter des positiven Rechts, und mit diesem Wandel ging eine Umorientierung der Rechtsdogmatik einher.72 Da die neuen Rechtsquellen in der Regel aus abstrakt-generellen Regeln bestanden und nicht mehr den für die alten Quellen des römischen Rechts typischen Bezug auf konkrete Sachverhalte aufwiesen, musste das Recht erst noch mit Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit entfaltet und konkretisiert werden. In diesem Prozess übernahm die Rechtsprechung eine Führungsrolle und wurde zur allgemeinen Richtschnur für die Praxis. Das Reichsgericht entfaltete das neue Fallmaterial und entwickelte zugleich die Regeln, die über die Gesetze hinaus erforderlich waren, um die Entscheidungen zu begründen. Dieses Richterrecht und das Fallmaterial hat die Rechtsdogmatik aufgegriffen und verarbeitet. Damit ging eine neue Schwerpunktsetzung einher : Die Rechtsdogmatik begleitete die Praxis konstruktivkritisch und begann, selbst Lösungen für die auftretenden schwierigen Fälle zu entwickeln.73 So entstand ein Diskurs zwischen Wissenschaft und Praxis, der auf die richterliche Entscheidungsfindung gerichtet war, eine rechtsdogmatische Denk- und Arbeitsweise, die nach der NS-Zeit ohne kritische Hinterfragung fortgesetzt wurde. Die Rechtsentwicklung des Dritten Reiches ist demgegenüber die Geschichte der Durchsetzung der »Nationalsozialistischen Weltanschauung«, die eng mit dem nationalsozialistischen Rechtssystem verbunden ist: »Recht und Justiz sind im Dritten Reich nicht mehr Schranken aktueller Politik, sondern Mittel ihrer Verwirklichung.«74 Die materiellen Werte, die das Recht des Dritten Reiches prägen, sollen sich aus der »nationalsozialistischen Weltanschauung« und ihren »völkischen Lebensgesetzen« ergeben. So führt Erik Wolf aus, die »materiellen Inhalte der Gerechtigkeit im Raum des deutschen Rechts der Gegenwart sind durch den Nationalsozialismus vorgegeben. Von seiner Idee her bestimmen sich alle Rechtsideale«.75 Und Edmund Mezger definiert 1935 materiell rechtswidriges Handeln als »Handeln gegen die deutsche nationalsozialistische Weltanschauung«.76 71 Grundlegend Hugo, Lehrbuch des civilistischen Cursus, Bd. 1, 6. Aufl. 1820, S. 30 ff.; siehe auch Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?, v. Behrends (Hrsg.), 1998, S. 92. 72 Heck, Grundriß des Schuldrechts, 1929, S. 471 ff. 73 Für die Handelsgeschäfte Goldschmidt, Handbuch des Handelsrechts, Bd. 1.2., 2. Aufl. 1875, S. 543 ff. 74 Werle, »Das Gesetz ist Wille und Plan des Führers«- Reichsgericht und Blutschutzgesetz, NJW 1995, 1267. 75 So Wolf, Deutsche Rechtswissenschaft, 1939, S. 177; vgl. etwa auch Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie, 1934, S. 38 ff. 76 Werle, »Das Gesetz ist Wille und Plan des Führers« – Reichsgericht und Blutschutzgesetz, NJW 1995, 1267.

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Somit kann festgehalten werden, dass die Rechtsdogmatik ihrer Arbeit dieselbe Perspektive zugrunde legt, die auch die Rechtspraxis prägt. Getragen vom Richtigkeitsanspruch durchdringt und bearbeitet sie das Recht in derselben Weise, wie dies auch in der Praxis geschieht. Gerade diese Ausrichtung an den praktischen Aufgaben der Rechtsordnung macht aber das genuin Juristische der Rechtsdogmatik aus.77 Damit ist zugleich die Frage beantwortet, ob sich die Ausbildung an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten an der Befähigung zum Richteramt orientieren sollte. Ob dieses Ziel tatsächlich in der universitären Ausbildung erreicht werden kann, ist allerdings äußerst fraglich.78 So hebt Rüthers in einem äußerst kritischen Beitrag mit dem Titel: »Wozu auch noch Methodenlehre? – Die Grundlagenlücken im Jurastudium«79 auf die Relevanz der Methodenlehre für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung hin, warnt allerdings eindringlich vor Rechtstechnikern, die gläubig und gehorsam die jeweils herrschenden Lehren auswendig lernen und befolgen. Das sture Auswendiglernen bekannter Problemlösungen öde intelligente Studierende bald an. Die Folge sieht er in einem »methodischen Blindflug von Justiz und Jurisprudenz im Dienst des wechselnden Zeitgeistes« und kommt zu dem Ergebnis, dass das akademische Jurastudium in eine Sinnkrise geraten sei. Auch der Wissenschaftsrat prangert die mangelnde Grundlagenorientierung der juristischen Ausbildung an.80

D.

Notwendigkeit »professioneller Routinen« und »habituellen Handelns«

Bereits oben wurde dargelegt, dass richterliche Entscheidungen einen Verstehensprozess erfordern, der das Gesetz zum Fall hin und den Fall zum Gesetz hin »entwickelt«, und es hierfür »professioneller Routinen« sowie eines »habituellen« Handelns des erfahrenen Praktikers bedarf und die juristische Hermeneutik deshalb um einen professionssoziologischen Aspekt zu ergänzen ist. Diesbezüglich geht Ernst-Wolfgang Böckenförde, Historiker, Jurist, Hochschullehrer und langjähriger Richter am BVerfG, in seinem Vortrag »Vom Ethos der Juristen«, den er als Abschied von seiner öffentlichen akademischen Wirk77 Bumke, Rechtsdogmatik. Überlegungen zur Entwicklung und zu den Formen einer Denkund Arbeitsweise der deutschen Rechtswissenschaft, JZ 2014, 641 ff. 78 Siehe dazu auch den Beitrag von Hülya Erbil in diesem Band. 79 Rüthers, JuS 2011, 865 ff. 80 http//www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2558 – 12.pdf, insbes. S. 7 f.; siehe dazu die sechs Statements in der JZ 2014 von Grundmann (S. 693 ff.), Gutmann (S. 697 ff.), Hillgruber (S. 700 ff.), Lorenz, (S. 704 ff.), Rixen (S. 708 ff), Stolleis (S. 712 ff.).

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samkeit Ende 2008 vor der juristischen Studiengesellschaft in Münster, Freiburg und an der Bucerius Law School in Hamburg gehalten hat, folgender Frage nach: »Die Formen juristischer Tätigkeit sind bekanntlich vielfältig; sie haben es in unterschiedlicher Weise mit der Gestaltung, Anwendung und Fortentwicklung des Rechts als einem notwendigen und wichtigen Baustein der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens zu tun. Gibt es in diesen Tätigkeiten etwas gemeinsam Verbindendes, das über bloße Rechtstechnik, über gekonnte Anwendung und Handhabung erworbener Kenntnisse und erlernter Fähigkeiten, verfügbar für beliebige Zwecke, hinausgeht? Diese Frage ist für die Juristen von zentraler Bedeutung. Erst wenn sie positiv beantwortet werden kann, ist es berechtigt, von einem gemeinsamen Beruf der Juristen zu sprechen, der über einen bloßen Job hinausgeht.«

Hier sind mehrere Aspekte zu nennen, die die Gesetzesbindung des Richters in Frage stellen:

1.

Bindung des Richters an überpositives Recht

Die Orientierung an den Kodifikationen, die starke Gesetzesbindung fordern, ist nicht ohne Gefahren für die Realisierung von Recht und Gerechtigkeit. Wenn Juristen zum bloßen Vollzugsorgan des Gesetzes werden, ohne die Frage nach der Gerechtigkeit zu stellen, besteht die Gefahr, dass sie zu furchtbaren Juristen werden. Denn auch Gesetze können – wie das Dritte Reich gezeigt hat – Ausdruck von Willkür und Machtdurchsetzung sein. Deshalb wird zu Recht gefordert, Interpretationsgesichtspunkte und -methoden zu entwickeln und zu entfalten, die das materielle Rechtsverständnis in die Gesetze hineintragen und so die inhaltlichen Rechtsprinzipien zum Tragen bringen. Im Konfliktfall hat der Richter nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung seine Entscheidung sogar am (überpositiven) Recht auszurichten. Dies soll selbst für das Strafrecht gelten, obwohl dort das Gesetzlichkeitsprinzip in Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich garantiert ist und sehr strikt gilt.81 In diesem Zusammenhang ist die Radbruch’sche Formel zu nennen, nach der sich ein Richter bei einem Konflikt zwischen dem Recht und der Gerechtigkeit immer dann – aber auch nur dann – gegen das Gesetz und stattdessen für die materielle Gerechtigkeit zu entscheiden hat, wenn das fragliche Gesetz entweder als »unerträglich ungerecht« anzusehen ist oder das Gesetz die im Begriff des Rechts grundsätzlich angelegte Gleichheit aller Menschen aus Sicht des Interpreten »bewusst verleugnet«.82 Robert Alexy hat die Radbruch’sche Formel auf die viel 81 Vgl. nur BGHSt 39, 1, 14 ff.; 39, 168, 181, 183 ff.; 40, 241, 250; 41, 101, 111 ff. 82 Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 105, 107.

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zitierte Kurzfassung gebracht83 : »Extremes Unrecht ist kein Recht.«84 Bei genauerer Betrachtung erschließen sich jedoch drei Aussagen in Bezug auf ungerechte Gesetze. Gustav Radbruch unterscheidet drei Typen ungerechter Gesetze und fügt drei Aussagen über die rechtliche Geltung und die Pflicht zur Befolgung dieser Gesetze an: 1. Positive Gesetze müssen auch angewendet werden, wenn sie ungerecht und unzweckmäßig sind. 2. »Unerträglich« ungerechte Gesetze müssen der Gerechtigkeit weichen (Unerträglichkeitsformel). 3. Falls Gesetze nicht einmal das Ziel verfolgen, gerecht zu sein, sind sie kein Recht (Verleugnungsformel). Der Bundesgerichtshof hat sich in der Nachkriegszeit mehrfach auf die Radbruch’sche Formel, die als Essenz einer Theorie des Verhältnisses von Naturrecht und Rechtspositivismus gelten kann85, bezogen, und zwar zunächst bei der strafrechtlichen Aufarbeitung des NS-Unrechts, um besonders anstößigen nationalsozialistischen Vorschriften und Gesetzen die Verbindlichkeit abzusprechen,86 sodann um den Grenzsoldaten die Berufung auf den Schießbefehl zu versagen, der nach DDR-Recht (§ 27 Abs. 2 DDR-GrenzG) einen Rechtfertigungsgrund darstellte.87 Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich in mehreren Entscheidungen mit der Radbruch’schen Formel befasst, um rassendiskriminierende oder menschenverachtende NS-Normen für nichtig zu erklären88 sowie um dem Schießbefehl in der DDR eine rechtfertigende Wirkung zu versagen, weil das Grenzregime der DDR extremes staatliches Unrecht sei, auf das sich die Mauerschützen nicht berufen könnten.89 Der Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg teilte diese Auffassung und sah in den Urteilen gegen die Mauerschützen keinen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG).90 In diesem Zusammenhang rekurrierte die höchstrichterliche Rechtsprechung, nämlich der Bundesgerichtshof91, das Bundesverfassungsgericht92 wie 83 Alexy, Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu den Tötungen an der innerdeutschen Grenze vom 24. Oktober 1996, 1997, S. 12; ders., Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, 1993, S. 4. 84 Kritisch dazu von der Pfordten, Rechtsethik, 2. Aufl. 2011, S. 188, Fn. 311. 85 So Saliger, Radbruchsche Formel und Rechtsstaat, 1995, S. 10. 86 BGHZ 3, 94, 107; BGHSt 41, 101 ff. 87 Dazu Dannecker, Die Schüsse an der innerdeutschen Grenze in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Anm. zu BGH, Urt. v. 3. 11. 1992 – 5 StR 370/92 = BGHSt 39, 1, JURA 1994, 585 ff.; Dreier, Gustav Radbruch und die Mauerschützen, JZ 1997, 421 ff., jeweils m. w. N. 88 BVerfGE 3, 58, 119; 3, 225, 233; 6, 132, 138; 6, 389, 414 ff.; 23, 98, 106; 54, 53, 67 ff. 89 BVerfG, JZ 1997, 142, 144 f.; siehe auch Kaufmann, Die Radbruchsche Formel vom gesetzlichen Unrecht und vom übergesetzlichen Recht in der Diskussion um das im Namen der DDR begangene Unrecht, NJW 1995, 81 ff. 90 EGMR, Urt. v. 22. 3. 2001 – Nr. 34044/96, 35532/97 u. 44801/98 (Streletz, Keßler u. Krenz./ .Deutschland). 91 BGHSt 40, 241 ff.; 39, 1 ff.; 39, 168 ff.; 39, 353 ff.; 40, 48 ff.; 41, 101 ff.; 42, 356 ff.

Urteilen-Lernen in der universitären Juristenausbildung

133

auch der Gerichtshof für Menschenrechte93, mehrfach auf die Radbruch’sche Formel.

2.

Rückbezug des Rechts auf die Gerechtigkeit und Verallgemeinerung von Billigkeitsentscheidungen

Außerdem darf der Jurist die soziale Wirklichkeit nicht aus den Augen verlieren, wie dies in der Begriffsjurisprudenz geschehen ist. Die Fallbeurteilung darf nicht auf die Anwendung vorgegebener normativer Regeln reduziert werden, sondern muss, wie dargelegt, wegen der Bindung des Richters an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) in den Systemzusammenhang des Gesetzesrechts eingebunden bleiben. Gleichwohl sind Korrekturen möglich und notwendig, um der Gerechtigkeit im Einzelfall zum Durchbruch zu verhelfen. Dies wird zum einen durch gesetzliche Generalklauseln und offene Begriffe, die auf ethische und soziale Anschauungen verweisen, wie Treu und Glauben (vgl. § 242 BGB) und die guten Sitten (vgl. § 238 StGB) sowie durch Härtefallklauseln (etwa § 574 BGB) möglich. Auch bei Billigkeitsentscheidungen im Sinne von Gerechtigkeitsentscheidungen im Einzelfall darf die Entwicklung der Entscheidung aus dem Sachverhalt heraus nicht stehen bleiben. Vielmehr ist explizit zu machen, dass von der Anwendung einer generellen Regel im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit abgewichen wird, um Fällen Rechnung zu tragen, »deren besondere, eigenartige Merkmale sie derart vom Durchschnitt abheben, daß sie der rechtlichen Gleichbehandlung durch die abstrakte Norm widersprechen und wegen ihrer relevanten Ungleichheit eine ihrer Eigenheit entsprechende Beurteilung und Lösung fordern […], um dem besonderen Einzelfall sein Recht zu gewähren«.94 Wenn aber auf diese Weise eine neue Regel infolge neuer Erkenntnisse, Erfahrungen, Gerechtigkeitsvorstellungen oder geänderter Sozialverhältnisse den veränderten Umständen angepasst wird, muss diese zukünftig auf alle Fälle, auf die derselbe »Billigkeitsgesichtspunkt« zutrifft, angewendet werden.95

92 93 94 95

BVerfGE 23, 98, 106 = NJW 1968, 1036; BVerfGE 54, 53, 67 f. = NJW 1980, 2797. EGMR, Urt. v. 20. 9. 1994 – Nr. 13470/87 (Otto-Preminger-Institut./.Österreich). Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie. Grundlagen des Rechts, 2. Aufl. 1977, S. 421. Weinberger, Einzelfallgerechtigkeit. Ein Beitrag zum Studium der logischen Bedingungen der Gerechtigkeit, in: Fischer/Jakob/Mock/Schreiner (Hrsg.), Dimensionen des Rechts, Gedächtnisschrift für Ren¦ Marcic, Bd. 1, 1974, S. 409, 424.

134 3.

Gerhard Dannecker

Zur Notwendigkeit des »lästigen Juristen« bei der Suche nach dem Recht

Wenn der Richter sich am Recht orientieren will, ist seine Aufgabe die Suche nach dem, was hic et nunc konkret Recht ist. Diese Ausrichtung ist auf das »ius suum cuique tribuere« gerichtet, die Einhaltung des Parteilichkeit abwehrenden Grundsatzes »audiatur et altera pars«, die Einbeziehung der sozialen Wirklichkeit in ihrer Veränderung, wenn ein konkreter Sachverhalt und seine Probleme beurteilt werden müssen, schließlich die Reziprozität, die Gegenseitigkeit, des Rechts sowie den Sinn für die befriedende Kraft geordneter Verfahren, die unmittelbarem Zugriff entgegenstehen, so Jutta Limbach in einem Beitrag zu den Aufgaben der Juristen.96 Gerade der Rekurs auf rechtlich verbindliche Verfahren stößt nicht selten auf Unverständnis oder gar Widerstand in der Bevölkerung und macht die Suche nach dem Recht zum lästigen Juristen, der der Durchsetzung von Interessen, von Macht und Egoismus, manchmal aber auch von Interessen, die der moralischen Intuition der Bürger entsprechen, entgegentritt. Dadurch wird er seiner Aufgabe gerecht, zur Schaffung und Durchsetzung einer Rechtsordnung beizutragen, die ein friedliches und geordnetes Zusammenleben ermöglicht, auch wenn dies im Einzelfall nicht immer auf Akzeptanz in der Gesellschaft stößt. Dies soll anhand des Transplantationsrechts, dem angesichts der Organknappheit zentrale Bedeutung zukommt, gezeigt werden: Als im Frühjahr 2014 ein türkisches Ehepaar nach Deutschland kam, um eine Herztransplantation für ihr Kind durchführen zu lassen, erlitt der Zweijährige einen Herzstillstand, der zu einer schweren Hirnschädigung führte. Wegen dieser Schädigung erklärten die deutschen Ärzte das Kind für nicht transplantierfähig und beriefen sich dabei auf das Transplantationsgesetz und die einschlägigen Richtlinien der Bundesärztekammer. Die Eltern wollten durch eine einstweilige Verfügung erreichen, dass ihr Sohn noch auf die Liste für ein Spenderherz kam. Diesen Antrag stützte der Rechtsanwalt darauf, dass der Gesetzgeber die Organverteilungsregeln bislang nur unzureichend geregelt und die nähere Ausgestaltung der Organallokation der demokratisch nicht legitimierten Bundesärztekammer übertragen habe. Daher könnten diese Regeln keine Verbindlichkeit beanspruchen. Das Landgericht Gießen gab dem Antrag der Eltern nicht statt, indem es das Transplantationsrecht nicht in Frage stellte und eine Diskriminierung wegen der Behinderung des Kindes verneinte: Das Hindernis für eine Organtransplantation stelle nicht die Hirnschädigung an sich dar, sondern das hieraus resultierende erhöhte Operationsrisiko. Die Fragwürdigkeit der Organverteilungsregeln spielt weiterhin eine zentrale 96 Limbach, Die Akzeptanz verfassungsrechtlicher Entscheidungen, in: Brand/Strempel (Hrsg.), Festschrift für Erhard Blankenburg, 1998, S. 207 ff.

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135

Rolle in dem Organtransplantationsskandal aus dem Jahr 2012, bei dem sich Ärzte über das Organverteilungssystem der Bundesärztekammer durch manipulierte Angaben gegenüber Eurotransplant vorsätzlich hinweggesetzt haben, so dass Menschen, die nach der Warteliste Anspruch auf das zur Verteilung anstehende Organ hatten, nicht zum Zuge kamen und (möglicherweise) sterben mussten. In dem Organverteilungsverfahren sieht das Oberlandesgericht Braunschweig97 einen rechtswidrigen Eingriff in einen lebensrettenden Kausalverlauf, den es als Tötungsunrecht bewertet, obwohl die manipulierenden Ärzte primär ihren eigenen Patienten retten wollten und in der Regel auch gerettet haben. Hiergegen wendet sich das juristische Schrifttum mit der fragwürdigen Begründung, die Organverteilungsregeln dienten nicht dem Lebensschutz.98 Gerade in diesem Zusammenhang zeigt sich die zentrale Bedeutung der Rechtsdogmatik, die die Grenzen des Tötungstatbestandes für diese Fallkonstellation auslotet: Während die Rechtsprechung unter Zustimmung einer ehemaligen Vorsitzenden Richterin eines Strafsenats des Bundesgerichtshofs zum Ergebnis kommen, die manipulierenden Ärzte hätten sich der versuchten Tötung schuldig gemacht,99 wird im Schrifttum überwiegend Tötungsunrecht mit der fragwürdigen Begründung verneint, die Ärzte hätten nicht vorsätzlich gehandelt.100 Einen Sonderfall bilden Fälle, in denen Ärzte Patienten, die an einer alkoholbedingten Leberzirrhose litten, zur Warteliste anmeldeten, auch wenn sie die in den Richtlinien geforderte Alkoholkarenz von 6 Monaten vor der Operation nicht eingehalten haben bzw. noch nicht einhalten konnten. In diesen Fällen haben die Ärzte zwar eindeutig gegen die Vorgaben in den Richtlinien der Bundesärztekammer verstoßen. Allerdings hat die Bundesärztekammer mit der Forderung einer 6-monatigen Alkoholkarenz ihren gesetzlichen Auftrag überschritten, die Dringlichkeit und Erfolgsaussichten der Transplantation zu konkretisieren. Denn bei der 6-monatigen Alkoholkarenz handelt es sich weder um ein Kriterium, das die Dringlichkeit der Transplantation betrifft – die Dringlichkeit besteht aufgrund der Leberzirrhose, unabhängig von der eingehaltenen Alkoholkarenz –, noch um ein Kriterium, das die Erfolgsaussichten widerspiegelt, denn zum einen sind nach allen wissenschaftlichen Untersuchungen die Erfolgsaussichten bei Patienten mit Leberzirrhose besonders gut und zudem kann 97 OLG Braunschweig, NStZ 2013, 593 ff. 98 Bülte, Manipulation der Zuteilungsreihenfolge eines Spenderorgans zur Ermöglichung einer Transplantationsbehandlung, StV 2013, 749, 755; Verrel, Manipulation von allokationsrelevanten Patientendaten – ein (versuchtes) Tötungsdelikt?, MedR 2014, 464, 467 f.; a. A. Rissing-van Saan, Der sog. »Transplantationsskandal« – eine strafrechtliche Zwischenbilanz, NStZ 2014, 233, 240. 99 OLG Braunschweig, NStZ 2013, 593 ff.; Rissing-van Saan, Der sog. »Transplantationsskandal« – eine strafrechtliche Zwischenbilanz, NStZ 2014, 233 ff. 100 Schroth, Die strafrechtliche Beurteilung der Manipulationen bei der Leberallokation, NStZ 2013, 437, 442 ff.

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aus der Einhaltung einer 6-monatigen Alkoholabstinenz nicht auf das zukünftige Trinkverhalten des Patienten nach der Operation hinreichend sicher geschlossen werden. Die hier aufgezeigte Differenzierung belegt, wie gesetzliche Regelungen auf Fallgruppen hin konkretisiert werden können und müssen, um systematisch richtige und gerechte Urteile, die in das Rechtssystem eingepasst sind, treffen zu können. Die Suche des Juristen nach dem Recht kann ihn leicht zum lästigen Juristen werden lassen, wenn er sich der Durchsetzung von Einzelinteressen widersetzt und Macht und Egoismus entgegentritt. Hierzu ist er jedoch verpflichtet, denn seine Aufgabe ist nicht die Garantie und Durchsetzung des guten Lebens, es geht um die Gestaltung und Durchsetzung einer Rechtsordnung, die ein friedliches und geordnetes Zusammenleben ermöglicht.

4.

Die Notwendigkeit »habituellen Handelns«

Eine solche Haltung muss erlernt werden, sie erfordert eine habituelle Aneignung durch Bildung und Praktizierung. Dies sollte im Studium beginnen und in der Berufsausübung fortgesetzt werden. Dass dies geschieht, kann anhand einer Entscheidung des Reichsgerichts gezeigt werden, die in der Wissenschaft überwiegend auf Kritik gestoßen ist, die aber getragen war von dem Gedanken, der Gerechtigkeit gegen das Gesetz zum Durchbruch zu verhelfen. Das Reichsgericht musste im so genannten Badewannen-Fall101 über die Tat einer jungen Frau entscheiden, die unmittelbar nach der Entbindung von ihrem unehelich geborenen Kind ihre Schwester verzweifelt angefleht hatte, das Neugeborene in der Badewanne zu ertränken. Die Schwester kam dieser Aufforderung nach. Obwohl sie eigenhändig das Kind getötet hatte, wurde sie vom Reichsgericht lediglich als Gehilfin eingestuft mit der Begründung, sie habe ausschließlich auf Geheiß und im Interesse der Kindesmutter gehandelt. Die Kindesmutter selbst wurde wegen einer täterschaftlich begangenen Kindestötung gemäß § 217 StGB, einem Privilegierungstatbestand zum Totschlagsparagraphen, bestraft.102 Hartung, einer der an der Entscheidung beteiligten Richter, lüftete einige Jahre später das Beratungsgeheimnis des »Badewannen-Prozesses« und legte offen, dass man den Kunstgriff der Beteiligung am Mord trotz unmittelbarer Tatausführung gewählt habe, um die Konfliktlage der die Tat eigenhändig 101 RGSt 74, 84 ff. 102 § 217 StGB lautete: »(1) Eine Mutter, welche ihr uneheliches Kind in oder gleich nach der Geburt vorsätzlich tötet, wird mit Zuchthaus nicht unter drei Jahren bestraft. (2) Sind mildernde Umstände vorhanden, so ist die Strafe Gefängnis nicht unter sechs Monaten.«

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durchführenden Frau berücksichtigen zu können und ihr so die drohende Todesstrafe, die für eine täterschaftliche Ausführung zwingend gewesen wäre, zu ersparen. Beide Schwestern waren nämlich nahezu zeitgleich unehelich schwanger geworden, und der cholerische Vater hatte gedroht, beide Töchter gnadenlos aus dem Haus zu jagen, falls sich die Schande einer unehelichen Schwangerschaft jemals wiederholen sollte.103 Der die Tat unmittelbar ausführenden Schwester kam die Privilegierung des § 217 StGB nicht zugute, weil sie nicht Mutter des unehelichen Kindes war. Damit hätte sie trotz der auch für sie bestehenden Konfliktsituation wegen Mordes und damit zum Tode verurteilt werden müssen. Dies erschien den Richtern zu Recht als unerträglich.104 »Hier war die Anwendung der Theorie von der subjektiven Natur der Teilnahme wirklich der einzige Weg, der es ermöglichte, ein ungerechtes Urteil zu vermeiden, ein irreparables Unrecht zu verhindern, das sich andernfalls aus der Unzweckmäßigkeit der damals gegebenen Mordqualifikation und der Tatsache, dass die Todesstrafe für Mord absolut angedroht war, angesichts der Haltung der damaligen Staatsführung zwangsläufig ergeben haben würde.«105 Diese Entscheidung sagt letztlich mehr über die Unangemessenheit der damals für Mord obligatorisch angedrohten Todesstrafe sowie über die fehlende Berücksichtigungsmöglichkeit der besonderen Konfliktlage aus als über die Beteiligungsdogmatik.106

5.

»Ethos der Juristen«

Diese Entscheidung hat aber auch eine weitere Dimension: Böckenförde verweist in dem oben genannten Beitrag »Vom Ethos der Juristen« auf diese mutige Entscheidung des Reichsgerichts, in der er ein richterliches Urteilen sieht, das sich über die Grenzen des Gesetzes hinweg der Gerechtigkeit verpflichtet sieht.107 Und seine Antwort auf die Frage: »Gibt es in diesen Tätigkeiten etwas gemeinsam Verbindendes, das über bloße Rechtstechnik, über gekonnte Anwendung und Handhabung erworbener Kenntnisse und erlernter Fähigkeiten, verfügbar für beliebige Zwecke, hinausgeht?« lautet: »Ich meine, diese positive Antwort kann gegeben werden. Das gemeinsam Verbindende der Tätigkeit der Juristen, das es möglich macht, von ihrem Beruf zu sprechen, liegt in einem spezifischen Ethos, einer berufsbezogenen Denk- und Verhaltensform, die das Handeln in 103 Hartung, Der »Badesannen-Fall«, JZ 1954, 430 f. 104 Hartung, Der »Badesannen-Fall«, JZ 1954, 430, führt aus: Das junge Mädchen aber dem Henker zu beantworten, schien dem Senat nach Lage des Falles unerträglich zu sein. 105 Hartung, Der »Badesannen-Fall«, JZ 1954, 430, 431. 106 So Weiser, Täterschaft in Europa, 2011, S. 28. 107 Böckenförde, Vom Ethos der Juristen, 2. Aufl., 2011, S. 41 f.

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bestimmter Weise prägt und trägt.«108 Diese Denk- und Verhaltensform soll durch die universitäre Juristenausbildung gefördert werden, die nicht auf spezielle Anforderungen einzelner juristischer Berufe ausgerichtet ist, sondern die »Befähigung zum Richteramt« anstrebt, damit der Jurist nicht zum Diener des Gesetzes, sondern zu dessen Interpreten wird.

108 Böckenförde, Vom Ethos der Juristen, 2. Aufl., 2011, S. 7.

Hülya Erbil

Erfahrungsbericht aus dem Studium der Rechtswissenschaft

Tagtäglich sind Menschen mit Entscheidungen konfrontiert; teilweise sind es Entscheidungen mit nur unwesentlichen Folgen, teilweise sind es jedoch Entscheidungen, die erheblich sind und das Leben verändern können. Mit der Thematik der Entscheidungsfindung und des Urteilens wird der Mensch aber nicht nur im Alltag konfrontiert. Manche Personen urteilen sogar von Berufs wegen. Insbesondere in der juristischen Arbeit, ob in der Ausbildung oder als Rechtsanwalt oder Richter, stellt das Urteilen einen wesentlichen Bestandteil der Tätigkeit dar. Die juristische Ausbildung in Deutschland setzt nicht zuletzt deshalb auf die Ausbildung eines Einheitsjuristen, dem es gelingen soll, aufgrund der Kenntnis der zentralen Rechtsbereiche und der richtigen Arbeitstechnik zu einem umfassenden und gut nachvollziehbaren Urteil zu gelangen. So ist der Einheitsjurist für viele unterschiedliche Professionen vorbereitet. Deshalb erscheint es mir wichtiger, die Fähigkeit, ein gut nachvollziehbares Urteil zu fällen, bereits in der juristischen Ausbildung richtig zu erlernen. Im Folgenden möchte ich das Thema »Urteilen lernen in der juristischen Ausbildung« aus meiner persönlichen Perspektive beleuchten. Zur Zeit befinde ich mich im vierten Semester meines Jurastudiums an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Zu Beginn des Jurastudiums ist der Studierende vor allem damit beschäftigt, die juristische Arbeitsweise zu verstehen. Nicht ganz einfach fällt einem dabei das Erlernen des Gutachtenstils. Das tatsächliche Geschehen wird unter die Merkmale des Gesetzes »subsumiert«, um festzustellen, ob das tatsächliche Verhalten die gesetzlich normierten Voraussetzungen erfüllt. Der Vorgang der Subsumtion ist ein logischer Schluss, bei dem ein Urteil aus zwei anderen Urteilen abgeleitet wird. Dabei bildet ein vollständiger Rechtssatz den Obersatz, die Unterordnung eines konkreten Sachverhaltes unter den Tatbestand des Rechtssatzes den Untersatz. Diese Vorgehensweise fällt am Anfang deshalb schwer, weil man im Alltag gewohnt ist, zunächst das Urteil zu fällen und anschließend dies zu begründen. Manchmal jedoch lassen Sachverhalte keinen rein formallogischen Schluss zu, sondern erfordern wertungsmäßige Argu-

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Hülya Erbil

mentation. Dies kommt in der Regel dann vor, wenn Fälle auftauchen, an die der Gesetzgeber nicht gedacht hat, zu denen auch keine ausdrückliche Lösung im Gesetz gefunden werden kann. Auslegungsmethoden, die man zu Anfang des Studiums mit auf den Weg bekommt, helfen in einer derartigen Situation oftmals nur im Ansatz, können aber nicht zu einem umfassenden, gut begründeten Ergebnis führen. Die Schwierigkeit, solche Fälle angemessen zu lösen, erfordert meines Erachtens neben einem umfassenden Sachwissen auch ein gesamtheitliches in das System des Rechts gut eingegliedertes Denken. Gesetzesanwendung ist eben mehr als logische Argumentation und Subsumtion. Vielmehr baut sie auf höherrangigen Prinzipien auf, an denen die Gesetze bei der Anwendung zu messen sind. Dabei muss die Rechtsdogmatik, die Erläuterung der für das geltende Recht maßgeblichen Begründungen und Lösungsmuster, hinreichend in das Begründungssystem eingebettet werden. Ich habe zu Anfang des Studiums die Wichtigkeit der Rechtsdogmatik wirklich unterschätzt: Dies liegt vor allem daran, dass das Erlernen von fachlichem Sachwissen sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Ich habe die Erfahrung machen können, dass gerade zu Beginn des Studiums viele Meinungsstreitigkeiten und Definitionen auswendig gelernt werden. Gerade aber diese Art des Lernens stellte eine große Herausforderung für mich dar, da ich die Einordung mancher Vorschriften in das Gesamtsystem der Rechtsnormen nicht verstehen konnte. Gleichzeitig war mir aber bewusst, dass es dafür Zeit bedarf und die Zusammenhänge der einzelnen Normen und Rechtsgebiete mir noch im Laufe des Studiums klar werden. Die Unmengen an Lernstoff, die gerade am Anfang des Jurastudiums auf einen zukommen, führen dazu, dass kaum Raum für die Bildung eigenständiger Urteile gegeben wird. Deshalb habe ich den Eindruck, dass gerade in den Anfangssemestern das Urteilen noch nicht ganz ausdifferenziert ausfallen kann. Ich will damit nicht behaupten, dass man sich als Anfänger wie ein »Subsumtionsautomat« fühlt, bei dem der Sachverhalt in einen »eingegeben« und so verarbeitet wird, sodass man ein fertiges Urteil »ausgespuckt«. Nicht zu unterschätzen darf man das eigene Gerechtigkeitsgefühl, das als ethische Richtschnur einem bei der Beurteilung dabei hilft, ob das Endergebnis richtig oder falsch ist. Dies muss aber meines Erachtens gerade durch die an der Universität angebotenen Veranstaltungen vermehrt unterstützt werden: Entgegen meiner Erwartung, dass Veranstaltung, die sich mit ethischen Fragestellungen im Recht auseinandersetzen, fest in den Stundenplan integriert sind, wurden außerhalb der Kernvorlesung nur Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte angeboten. Damit war für mich klar, dass die klassisch juristischen Universitätsveranstaltungen die Vermittlung von Systembildung und Strukturtheorie des Rechts leisten müssen. Die Vorlesung sehe ich als Lehrveranstaltung an, die primär zur Wissensvermittlung der wesentlichen Inhalte und ihrer Hintergründe dient. Für mich

Erfahrungsbericht aus dem Studium der Rechtswissenschaft

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schafft eine Vorlesung insofern einen Mehrwert, dass dadurch die Zusammenhänge von Normen und ihre Einbettung in ein Gesamtsystem klar werden. Zudem freut es mich, mit anderen Studenten zusammen bezüglich des behandelten Themas in der Vorlesungsstunde kritische Rückfragen zu stellen. Gerade in Momenten der diskursiven Wahrnehmung von Themenkomplexen wird für mich die Urteilsbildung geschult. Ich sehe es als Aufgabe des Professors an, die Studierenden zu einer relevanten Konfliktsituation zu führen und sie daraufhin nach ihrem Urteil zu fragen. Erst eine derartige Überlegung kann dazu führen, dass die Studierenden Gesamtzusammenhänge hinterfragen. Ob einem Professor dies gelingt, hängt aber oft vom jeweiligen gelehrten Rechtsgebiet ab. Während das Strafprozessrecht grundsätzlich wenig Einfallstore für ethische Wertentscheidungen bietet, ist dies in der Grundrechtevorlesung vermehrt der Fall. Leider muss ich zugeben, dass es nur wenige Professoren schaffen, auf ethische Konflikte hinzuweisen und Anregungen zu geben, wie eine derartige Spannung aufgelöst werden könnte. Zum einen könnte es daran liegen, dass aufgrund von Zeitmangel und der großen Zuhörerschaft keine richtige Diskussion zustande kommen kann, die für eine Urteilsbildung aber förderlich wäre. Zum anderen ist der zu vermittelnde Lehrstoff in seinen Ausmaßen so groß, dass nur für die Vermittlung der wesentlichen Grundzüge Zeit bleibt. Man muss deshalb zugeben, dass die Aufgabe eines Professors, Lehrinhalte didaktisch gut aufgearbeitet, möglichst vereinfacht, aber inhaltlich richtig darzustellen, schwer ist. Aus meiner Sicht kann ein Professor den Studierenden bewusst machen, dass sie im Urteilen mitinbegriffen sind, und damit Wege aufzeigen, verantwortungsvoll mit dem Urteilen umzugehen. Nicht zuletzt soll das Jurastudium zur Befähigung zum Richteramt beitragen, weshalb der Grundstein für das Fällen von gutbegründeten Urteilen bereits in der Ausbildung gelegt werden sollte. Daher kann der Professor bei Studierenden das Bewusstsein stärken, ihre Urteile mit rechtsdogmatischen Überlegungen zu stützen und dieses in einen Gesamtzusammenhang der rechtlichen Normen einzuordnen. Dies fördert aus meiner Sicht die Selbstreflexion und führt dazu, für sein eigenes Urteil Verantwortung zu übernehmen und dies mit weiteren Argumenten zu stützen. Eine Vorlesung kann damit trotz der allgemeinen Rahmenbedingungen Anreize und Impulse geben, wie man seine Urteile gut begründen kann. Möglicherweise können Arbeitsgemeinschaften, die darauf gerichtet sind, Fälle in Kleingruppen zu lösen, zum Einüben von Urteilen beitragen. Dabei ist der AG-Leiter bemüht, Fälle herauszusuchen, die möglichst viele relevante Meinungsstreitigkeiten behandeln, um eine gute Klausurvorbereitung zu gewährleisten. Bei der Bearbeitung von Fällen fragt man sich oft, welche Probleme der Professor in der gutachterlichen Ausarbeitung hören will. Leider wird dabei oft vergessen, ob die erzielte Lösung auch aus ethischen Gesichtspunkten vertretbar ist. Dies liegt

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Hülya Erbil

meines Erachtens daran, dass es für ein Bestehen der Klausur ausreichend ist, wenn man die Meinungsstreitigkeiten oder Fallgruppen auswendiggelernt niederschreibt. Dennoch bedarf es für eine Note im oberen Bereich der Notenskala einer kritischen fallbezogenen Auseinandersetzung mit Meinungsstreitigkeiten, die insbesondere rechtsdogmatische Fragestellungen miteinbezieht. Ich habe die angenehme Erfahrung machen können, dass AG-Leiter oftmals darauf bedacht sind, nicht Meinungsstreitigkeiten zu präsentieren, sondern die einzelnen Meinungen von verschiedenen Ausgangspunkten abzuleiten. Diese Vorgehensweise führt dazu, dass auch nachhaltig das Wissen im Kopf bleibt. Dennoch muss dazu gesagt werden, dass die Mehrheit der Studierenden darauf bedacht ist, möglichst effektiv und klausurorientiert zu arbeiten. Dies führt leider auch dazu, dass mehr oder weniger Fallgestaltungen und Meinungsstreitigkeiten auswendig gelernt und in der Klausur reproduziert wiedergegeben werden. Dies liegt aus meiner Sicht daran, dass in einer Klausur oftmals das Benennen und Lösen von Meinungsstreitigkeiten bewertet wird. Die Folgen vom Urteilen lernen, die erst durch einen langwierigen Prozess hervorgebracht werden, werden oftmals in einer Klausur nur wenig berücksichtigt. Deshalb ist es nachvollziehbar, dass die ethische Urteilsbildung aus Studentensicht nicht im Vordergrund der juristischen Ausbildung steht. Zwar liegt der Fokus einer AG vor allem auf dem Leisten einer guten Klausurvorbereitung. Allerdings ist man im Rahmen einer AG-Veranstaltung auch angehalten, sich mit anderen Studierenden über eine bestimmte Rechtsfrage auszutauschen, sich ein Urteil dazu zu bilden und dieses zu vertreten. Damit kann meines Erachtens auch eine Arbeitsgemeinschaft Ansätze bieten, ein gesamtheitliches Verständnis von Recht zu vermitteln. Im Ergebnis finde ich, dass in der Rechtswissenschaft eine ethische Urteilsbildung gefördert wird. Allerdings verleitet das System des Jurastudiums leicht dazu, Auswendiggelerntes wiederzugeben. Um diesem Problem Herr zu werden, das nicht zuletzt auf die Rahmenbedingungen des Jurastudiums (wenig Zeit, Klausurenstress, Druck, viele Studenten in einer Vorlesung) zurückzuführen ist, muss sich sowohl der Student/die Studentin darauf einlassen, ethische Urteile zu fällen, als auch der Lehrende darauf bedacht sein, neue Wege, auf denen Urteilen gelehrt wird, in der Veranstaltung intensiviert anzubieten. Auf diesem Wege eignen sich die Studierenden ein spezifisches Ethos an, das die Tätigkeit der Juristen verbindet. Dass dies geschieht, möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen, das den Unterschied zwischen wissenschaftlicher Begründung und kluger Entscheidung, zwischen Juris-Scientia, der der Wissenschaftler verpflichtet ist, und Juris-Prudentia, die von den Gerichten ausgeübt wird, deutlich werden lässt: Diesem Ziel sollten seine Entscheidungen stets verpflichtet sein.

Zweiter Teil: Räume des Urteilens in der Schule und in religiöser Bildung

Ingrid Schoberth

Religionsdidaktische Konkretionen. Überlegungen zum Urteilen lernen im Religionsunterricht der Sekundarstufe II

Im zweiten Teil dieser Veröffentlichung werden sieben Unterrichtseinheiten aufgenommen, die zusammengenommen zeigen, dass der Religionsunterricht ein genuiner Ort des Urteilen lernen ist. Es gehört gleichwohl zu seiner Besonderheit, dass er eben nicht nur in Religion unterrichtet, sondern so in Religion unterrichtet, dass Schülerinnen und Schüler in ihrer Ausbildung von Urteilen unterstützt werden. Diese Befähigung zum Urteilen braucht Lernwege, die sowohl ein theologisches Profil haben, um evangelischen Religionsunterricht als solchen für die Schüler erkennbar zu halten als auch ein religionsdidaktisches Profil, dass den Lernmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler zu entsprechen sucht. In den bisherigen beiden Bänden zum Urteilen lernen wurden religionsdidaktische Konkretionen zunächst eher ausgespart, damit genug Raum bleibt für die Grundlagenreflexion, die das Thema notwendig machte. In den sieben Beiträgen werden nun aus verschiedenen thematischen Zusammenhängen heraus religionsdidaktische Möglichkeiten für religiöse Bildungsprozesse markiert, die zur Ausbildung von Urteilskompetenz beitragen. Diese Beiträge sind aber mehr als nur ein Beitrag neben anderen. Vielmehr zeichnet sich Evangelische Religion mit ihrer Tradition aber auch mit ihren aktuellen Bezügen dadurch aus, dass sie erst verstanden und wahrgenommen ist, wenn sie als immer schon auf das Urteilen ausgerichtete Praxis in den Blick kommt. So hält das schon Paulus im Römerbrief 12, 1 ff. fest, dass das Leben und Handeln aus Christus ein Leben in Bezug auf diese Welt und ihre Herausforderungen darstellt, dass aber wiederum dieses Leben und Handeln nicht ohne Christus verstanden werden kann. Evangelische Religion zeigt sich nicht nur als ein intellektuelles Abenteuer des Urteilens und der damit verbundenen Reflexion, sondern sie ist immer auch bezogen auf die notwendigen, die Herausforderungen des Lebens und Handelns bestimmenden und begleitenden Urteile. Damit bleibt sie gerade nicht selbstbezüglich, sondern lebt in einer Praxis des Urteilens, die sie mit anderen teilt bzw. die sie von anderen Urteilspraxen unterscheidet.

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Ingrid Schoberth

Der enge Zusammenhang von Religionsunterricht und Kirche kommt an dieser Stelle der Reflexion in den Blick: Denn mit dem Bezug auf die lebendige Praxis des Urteilens in der Kirche gewinnt auch die unterrichtliche Befähigung und Unterstützung, urteilsfähig zu werden, seine Bedeutung. Urteilen lernen an der Schule bleibt nicht für sich abstrakt, sondern ist bezogen auf eine konkret gelebte Praxis des Glaubens. Das heißt freilich nicht, dass Schülerinnen und Schüler daran automatisch teilnehmen müssen; vielmehr wird ihnen die Möglichkeit eröffnet, erprobend daran partizipieren zu lernen und auszutesten und zu versuchen, ob diese Lebensform des Glaubens eine Perspektive für ihr je eigenes Leben zu eröffnen vermag. Diese Bildungsaufgabe hat auch einen grundlegende verfassungsrechtlichen Hintergrund, der gerade in Hinsicht des Urteilen lernen das Bildungsanliegen evangelischer Religion unterstreicht: Religionsunterricht unterstützt mit seinen Inhalten und Reflexionen eine Fähigkeit zum Urteilen, das in seiner öffentlichen Relevanz nicht unerheblich ist bzw. zugleich auch grundgesetzlich gefordert ist. Insofern leisten religiöse Bildungsprozesse einen wesentlichen Beitrag zur Einstimmung der Schülerinnen und Schüler in eine politische Kultur, die ohne religiösen Bezug nicht denkbar ist. Durch den konkreten Bezug auf evangelische Religion in der Vielfalt ihrer Themen und Aspekte lernen Schülerinnen und Schüler zunehmend an der Profilierung und politischen Ausgestaltung der Gegenwart und ihren schwierigen zugleich unvertretbaren und herausfordernden Fragen insbesondere in Hinsicht der Wirtschafts-, der Medizin- und der Friedensethik teilzunehmen und eigene unvertretbare Urteile zu formulieren. Im artifiziellen Raum der Schule/des Religionsunterricht erschließt sich an zentralen, elementaren und grundlegenden Fragen des Lebens und Handelns die Möglichkeit des Urteilens, dass freilich nie diktiert sein darf, sondern immer unvertretbar und eigenständig bleiben muss, indem es aus einer gemeinsamen Praxis des Diskurses im Unterricht erwächst. Die folgenden Beispiele zu Unterrichtseinheiten in der Sekundarstufe II wollen exemplarisch zeigen, wie differenziert die Themenstellungen sind, die zu dieser wesentlichen religionspädagogischen Bildungsaufgabe beitragen. Bestimmend bleiben die Perspektiven des Urteilen lernen im Diskurs der Theologie mit der Philosophie, der Religionssoziologie und anderen wie aber auch des Urteilen lernen an der Heiligen Schrift: Philip Jonathan Geck: Nach der eigenen Identität fragen in Auseinandersetzung mit Überlegungen Charles Taylors zu (post-) moderner Authentizität und Dietrich Bonhoeffer. Ein Unterrichtsentwurf für die Sekundarstufe II im Fach Evangelische Religion. Ann-Sophie Huppers: Urteilen lernen mit und an der Heiligen Schrift. Ein Unterrichtsentwurf mit Bezug auf Rudolf Bultmann und Gerd Theißen. Christian Jäcklin: Christliche Verantwortung vor Gott und für die Menschen. Die Geschwister Scholl im Widerstand gegen den Nationalsozialis-

Religionsdidaktische Konkretionen

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mus. Ein Unterrichtsentwurf. Wolfram Kerner : »Was soll Line jetzt tun?« Jürgen Habermas’ diskursethisches Modell im Rahmen eines einführenden Unterrichtsgangs zur Ethik in der Oberstufe. Simon Layer: Eschatologie und Bildung. Hartmut Rupp: Assistierter Suizid als Inhalt ethischen Lernens im Evangelischen Religionsunterricht. Ingrid Schoberth und Silke Wagner : Vom Lesbarwerden der Zeit. Unterrichtswege im Diskurs mit Texten zu Giorgio Agambens Reflexionen zur messianischen Zeit.

Philip Jonathan Geck

Wer bin ich? Nach der eigenen Identität fragen in Auseinandersetzung mit Überlegungen Charles Taylors zu (post-) moderner Authentizität und Dietrich Bonhoeffer. Ein Unterrichtsentwurf für die Sekundarstufe II im Fach Evangelische Religion 1.

Was will ich, dass meine Schüler lernen?

Die Schülerinnen und Schüler lernen in dieser Unterrichtseinheit, die Frage Wer bin ich? – also die Frage nach der eigenen Identität – aus christlicher Perspektive zu stellen. Dabei sollen sie sich ihrer eigenen (impliziten) Annahmen über ihre Identität bewusst werden und das christliche Verständnis von menschlicher Identität kennenlernen. Dieses Verständnis soll in der Auseinandersetzung mit Texten von Dietrich Bonhoeffer erarbeitet werden. Bonhoeffer hat sich intensiv mit der Frage Wer bin ich? beschäftigt und dabei selbst gelernt, dass ein Mensch diese Frage nicht aus sich selbst heraus beantworten kann, sondern dies Gott überlassen darf und dadurch erst frei wird, er selbst zu sein. Bonhoeffer geht dabei gerade nicht oberflächlich mit dieser Frage um, sondern ringt mit ihr. Seine Überlegungen sind darum Ausdruck einer spezifisch christlichen Vorstellung von Authentizität und Individualität, die Bonhoeffer vor Gott findet und als etwas verstehen lernt, was er nicht aus sich selbst hat, sondern von Gott empfängt. Die Unterrichtseinheit vollzieht sich vor dem impliziten Hintergrund des Authentizitätsideals, das unsere Kultur tief geprägt hat (»Ich will authentisch sein, d. h. mir treu sein. Wer ich bin, das kann ich nur selbst aus mir heraus beantworten.«). Dieses Ideal soll im Dialog mit Bonhoeffers Position expliziert und konstruktiv-kritisch reflektiert werden. Die Schülerinnen und Schüler sollen dazu angeregt werden, eine eigene Haltung zu der Frage nach ihrer Identität zu entwickeln. Im gegenwärtig geltenden Bildungsplan, auf den ich mich beziehe, ordne ich die Unterrichtseinheit dem Themenfeld Mensch zu. Innerhalb dieses Themenfeldes berührt es die Dimensionen Mensch und Jesus Christus. Die Schülerinnen und Schüler lernen anhand des (post-)modernen Authentizitätsideals und Bonhoeffers Position, unterschiedliche Menschenbilder darzustellen, zu vergleichen und zu beurteilen. In der Auseinandersetzung mit Bonhoeffers christozentrischer Ethik lernen sie die Person Jesus Christus aus einer systematisch-

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theologischen Perspektive kennen. Seine Person sowie sein Leben, Sterben und seine Auferstehung werden in einem systematischen Zusammenhang dargestellt. Die Schülerinnen und Schüler werden dazu befähigt, daraus Konsequenzen für ihr eigenes Selbstverständnis abzuleiten. In der Unterrichtseinheit stehen vier Kompetenzen im Zentrum: Die hermeneutische Kompetenz (unterschiedliche Positionen und Texte vergleichen, verstehen und vergegenwärtigen), die ästhetische Kompetenz (Bonhoeffers Gedicht Wer bin ich? als theologisches Kunstwerk wahrnehmen), die Sachkompetenz (eine evangelisch-christliche Position exemplarisch und vertieft kennenlernen) sowie die personale Kompetenz (eine eigene Haltung entwickeln).

2.

Stoffverteilungsplan für die Unterrichtseinheit

2.1

1.–2. Unterrichtsstunde: Charles Taylor und das Authentizitätsideal

Ausgangspunkt der gesamten Unterrichtseinheit ist die Frage Wer bin ich?. In der ersten Doppelstunde soll thematisiert werden, wie diese Leitfrage heute beantwortet wird. In Auseinandersetzung mit der Diagnose des kanadischen Philosophen Charles Taylors soll herausgearbeitet werden, dass die Frage Wer bin ich? heute im Zusammenhang der Identitätskonstruktion und -arbeit verstanden wird: Nur ich selbst kann aus mir heraus meine eigene Identität entwickeln, um diese Frage beantworten zu können. Taylor spricht vom Ideal der Authentizität, das ein spezifisch modernes Phänomen ist. Identität ist untrennbar mit Individualität verbunden. Beides kann ein Mensch aus dieser Perspektive nur für sich selbst entwickeln. Zu Beginn der Unterrichtseinheit soll dieses Authentizitätsideal vorgestellt und diskutiert werden, um Schülerinnen und Schüler für ihre eigenen Annahmen über ihre Identität zu sensibilisieren und ihnen eine erste Position zu vermitteln, vor deren Hintergrund sie sich mit Bonhoeffers Haltung auseinandersetzen können.

2.2

3.–4. Unterrichtsstunde: Bonhoeffer und die Frage Wer bin ich?

Vor dem erarbeiteten Hintergrund soll das christliche Verständnis von menschlicher Identität und Individualität in den Blick genommen werden. Als Überleitung dient Dietrich Bonhoeffers Gedicht Wer bin ich? und dessen Aussage, dass weder die Perspektiven der anderen Menschen noch die eigene Selbstsicht erschöpfend die Identität bestimmen können – sondern dass diese voll und ganz bei Gott liegt.

Wer bin ich?

2.3

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5.–6. Unterrichtsstunde: Bonhoeffers theologische Grundüberzeugungen

In diesem Unterrichtsabschnitt sollen die Schülerinnen und Schüler Bonhoeffers theologische Grundüberzeugungen kennenlernen, um seine Haltung zur Frage Wer bin ich? theologisch einordnen und verstehen zu können. Hier könnten biblische Texte eine Rolle spielen. Beispielsweise könnte Römer 8, 29 f. als biblischer Bezugspunkt dienen, der die Schüler mit der biblischen Perspektive auf den christusgläubigen Menschen vertraut macht: Er ist von Gott erkannt (vgl. die letzte Zeile von Bonhoeffers Gedicht), vorherbestimmt zur Verbindung mit Christus, berufen, gerechtfertigt, verherrlicht. Es wäre ebenfalls möglich, einen systematisch-theologischen Text Bonhoeffers zu erarbeiten. Letztere Option ist wohl vorzuziehen, weil die gesamte Unterrichtseinheit durch den konsequenten Bezug auf Bonhoeffer einen dichten und kohärenten Zusammenhang bekommt. Es ist zudem in diesem Fall ökonomischer, keine Zeit und Energie auf den Übergang von der Bibel zu Bonhoeffer verwenden zu müssen.

2.4

7.–8. Unterrichtsstunde: Was bedeutet das konkret für die eigene Identität?

Im letzten Teil der Unterrichtseinheit geht es wieder zurück zu Bonhoeffer, um die theologischen Aussagen anhand eines konkreten Beispiels zu veranschaulichen. Hier bietet es sich an, erneut einen kurzen Text aus Widerstand und Ergebung zu behandeln, in dem Bonhoeffer zu artikulieren versucht, was es heißt, Christ zu sein. Er dringt darauf, zu verzichten, »aus sich selbst etwas zu machen« und stattdessen Christus gleichförmig zu werden.1Bonhoeffer fordert also eine ganz eigene, spezifisch christliche Form von Identitätsarbeit: Statt an seiner Identität zu basteln, soll der Christusgläubige an Jesus Christus Anteil gewinnen, indem er ganz in der »Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten«2 der Gegenwart lebt. Die individuelle Identität ergibt sich bei Bonhoeffer v. a. aus der einzigartigen Lebenssituation, in die jeder Einzelne gestellt ist. In einem letzten Schritt könnten die Schülerinnen und Schüler dazu angeregt werden, ihre eigene Haltung zum Ideal der Authentizität und der damit ver1 Bonhoeffer, Dietrich: An Eberhard Bethge. Tegel, 21. 7. 1944; in: ders.: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Christian Gremmels, Eberhard Bethge und Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt, DBW 8, Gütersloh 1998, 541 – 543. 2 Ebd.

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bundenen Vorstellung von (post-) moderner Identitätsarbeit bzw. zu Dietrich Bonhoeffers Ansatz zu artikulieren.

3.

Theologische Entfaltung

3.1

Taylors Diagnose des »Authentizitätsideals« als Schlüssel zum Verständnis gegenwärtiger Identitätsdiskurse

Jugendliche stehen heute vor der großen Herausforderung, ihre Identität selbst zu kreieren. Identität ist ein spezifisch moderner Topos. Er zielt auf das ab, was den Menschen zum unverwechselbaren Individuum macht. Die eigene Identität wird dabei nicht aus vorgegebenen Normen und Gegebenheiten abgeleitet, sondern kann allein vom Individuum für sich selbst entwickelt und aus sich heraus selbst erschaffen werden. Heiner Keupp verwendet dafür den Begriff Identitätsarbeit. Diese soll Lebenskohärenz schaffen, d. h. sämtliche Aspekte der eigenen Persönlichkeit, des Umfeldes und Lebensstils samt allen Gütern und Ressourcen zu einem kohärenten Ganzen verbinden.3 Maßstab für eine solche Kohärenz ist laut Keupp das Kriterium der Authentizität von innen und das Kriterium der Anerkennung von außen: Nur man selbst kann für sich eine eigene Kohärenz und Identität finden; dabei bleibt man allerdings von der Anerkennung der Mitmenschen abhängig. Keupp bezieht sich hier auf das Ideal der Authentizität – ein Konzept, das der kanadische Philosoph Charles Taylor ausgearbeitet hat, um die neuzeitliche Sicht des Menschen auf sich selbst zu erklären. Nach Taylor ist dieses Ideal aus frühen Formen des Individualismus entstanden: Descartes formulierte den Gedanken, dass jeder für sich selbst denken muss; Lockes politischer Individualismus ordnete die Person und deren Willen den gesellschaftlichen Pflichten über. Im engeren Sinn entstand das Ideal der Authentizität aber in der Romantik. Hier wurde den Weg zur Innerlichkeit konsequent zu Ende gegangen und der Gedanke artikuliert: Durch den Kontakt mit unseren innersten Gefühlen werden wir vollendete Menschen.4 Unser Innerstes ist einzigartig – deshalb hat jeder 3 Keupp, Heiner: Von der (Un-)Möglichkeit, erwachsen zu werden. Identitätsarbeit in der pluralistischen Gesellschaft; in: Konfirmandenarbeit in der pluralistischen Gesellschaft. Orientierungen – Deutungen – Perspektiven; hg. von Thomas Schlag, Rudi Neuberth und Ralph Kunz, Zürich 2009, 27 – 57. 4 Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt/Main 1995, 35.Taylor hat die Genese der neuzeitlichen Identität ausführlich dargestellt; in: ders.: Sources of the Self. The Making oft he Modern Identity, Cambridge, MA, 1989. Vgl. für unsere Zusammenhang v. a. Kap. 21: »The Expressive Turn«.

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»seine eigene originelle Weise des Menschseins«5. Taylor beruft sich in diesem Zusammenhang auf Herders Satz: »Jeder Mensch hat ein eigenes Maß, gleichsam eine eigene Stimmung aller seiner sinnlichen Gefühle.«6 Ein Mensch muss sich selbst treu bleiben, um er selbst zu sein: Das ist das Ideal der Authentizität und der Hintergrund unserer Rede von Selbstverwirklichung. Die Quelle dieser Authentizität liegt im Innersten des Menschen – man kann sie nicht außerhalb von sich selbst finden, sondern muss sie wie ein Künstler in einem expressiven Akt erschaffen. »Sich selbst treu sein heißt nichts anderes als: der eigenen Originalität treu sein, und diese ist etwas, was nur ich selbst artikulieren und ausfindig machen kann. Indem ich sie artikuliere, definiere ich zugleich mich selbst. Damit verwirkliche ich eine Möglichkeit, die ganz eigentlich mir selbst gehört.«7

Aus Taylors Sicht wird dieses Ideal jedoch nicht seinen Ansprüchen gerecht. Er kritisiert, dass individuelle Identität ohne den Bezug zu äußeren, vom eigenen Selbst unabhängigen Sinnhorizonten buchstäblich sinn-los wird. Ihre Bedeutung bekommen Unterschiede nur durch ihren Bezug zu einem größeren Sinnhorizont. Wenn ein solcher fehlt, wird das Ideal der Authentizität zu einem formalen Relativismus, der die Wahl und Selbstsetzung der eigenen Identität postuliert – jedoch gar nicht mehr behaupten kann, dass die Inhalte der alternativen Identitäten gleichberechtigt sind. Denn über den Inhalt kann keine Aussage mehr getroffen werden. Taylor sieht das Ideal der Authentizität also von einer tiefen Spannung erfüllt, die in der Postmoderne einseitig aufgelöst wurde zugunsten der Selbstschöpfung und Originalität und gegen den Bedeutungshorizont, den jeder schöpferischer Akt braucht.8 Er tritt für einen differenzierten Umgang mit dem Ideal der Authentizität ein, der durch eine Unterscheidung zwischen dessen Form und Inhalt möglich wird: Der Form nach geht es um das Ich und die eigene Orientierung, was in unserer Kultur zwingend selbstbezüglich ist. Der Inhalt muss jedoch nicht selbstbezüglich sein, sondern kann aus einem Bedeutungshorizont erwachsen, der unabhängig von dem eigenen Ich ist. Dieser Bedeutungshorizont ist dann nicht der Gegner individueller Identität, sondern wird zum Ermöglichungsgrund einer solchen.9 Taylors Ausführungen bieten einen wertvollen Hintergrund für den theologischen Umgang mit Identität. Sie beleuchten die impliziten Annahmen über 5 Taylor, Charles: Unbehagen, 35. 6 Herder, Johann Gottfried v.: Ideen, 7. Buch I; in: Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 13, S. 291. 7 Taylor, Charles: Unbehagen, 39. 8 Vgl. Taylor, Charles: Unbehagen, 77 f. 9 Vgl. Taylor, Charles: Unbehagen, 93 f.

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Identität, die unsere Kultur – und mit ihr wir selbst nicht weniger als unsere Schülerinnen und Schüler – verinnerlicht hat. Sie werfen ein kritisches Licht auf einen formalen Relativismus, der jede menschliche Entscheidung als gleichgültig klassifiziert und den Menschen als seinen eigenen Sinnschöpfer sieht. Diese kritische Perspektive ist anschlussfähig für eine Theologie, die den Menschen nicht als auf sich selbst Zurückgeworfenen, sondern als von Gott Erschaffenen und Angesprochenen sieht. Zugleich ermöglicht Taylors Ansatz einen konstruktiven Umgang mit dem Ideal der Authentizität, der dessen Stärken wahrnimmt und nicht den Versuch macht, völlig unabhängig von diesem eine unrealistische Anthropologie zu entwerfen. Gleichsam muss eine evangelisch-theologische Anthropologie, die die moderne conditio humana ernst nimmt, noch weitergehen. Sie kann nicht wie Taylor pauschal einen »Sinnhorizont« fordern, sondern ist an den spezifisch christlichen Horizont gebunden. Dabei muss sie damit rechnen, dass dieser Horizont seine Bedeutung für viele Menschen der Gegenwart verloren hat. Es wäre nun verlockend, die Defizite der modernen Anthropologie aufzudecken und den christlichen Glauben als Lösung anzubieten. Doch würde das dem christlichen Glauben und dem christlichen Gott gerecht? Die Gefahr eines solchen Lernweges könnte darin liegen, den Glauben wider Willen zu funktionalisieren – als letztes Puzzleteil der eigenen Identitätskonstruktion. Zudem soll in der Unterrichtseinheit nicht die formale Inkohärenz des Authentizitätsideals und damit Taylors eigene kritische Perspektive im Vordergrund stehen. Taylors Diagnose – und nicht seine eigene Haltung – soll schlichtweg als Ausgangspunkt für die Unterrichtseinheit dienen, um gegenwärtige Überzeugungen zum Thema Identität offenzulegen und einen Hintergrund zu schaffen, vor dem Bonhoeffers Position profiliert werden kann. Bonhoeffers Position ist von Interesse, weil sie auf indirekte und persönliche Weise mit dem Authentizitätsideal und dessen Selbstfixierung bricht.10 Sie ist deshalb besonders dazu geeignet, die evangelisch-christliche Sicht auf Identität vorzustellen und als konstruktiv-kritisches Gegenüber zum Ideal der Authentizität zu diskutieren.

10 Zu Bonhoeffers spezifisch evangelischer Theologie und Religiosität vgl. Zimmerling, Peter : Was heißt evangelisch sein? Ein Versuch Bonhoeffer angesichts des religiösen Pluralismus neu zu lesen; in: Religion im Erbe. Dietrich Bonhoeffer und die Zukunftsfähigkeit des Christentums; hg. von Christian Gremmels und Wolfgang Huber, Gütersloh 2002, 321 – 332.

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3.2

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Dietrich Bonhoeffer und die Frage nach menschlicher Identität

3.2.1 Biographisches und Werkgeschichtliches Dietrich Bonhoeffers Leben und sein Weg in den Widerstand gegen das NSRegime ist bekannt und soll nicht im Mittelpunkt der Unterrichtseinheit bzw. dieser Ausführungen stehen. Wichtig ist in unserem Zusammenhang, dass Bonhoeffer seine theologischen Erkenntnisse – gerade in der Frage nach dem rechten Mensch-Sein – in den Jahren 1940 bis 1945 entscheidend vertiefte und konkretisierte. In den Jahren 1940 bis 1943 war Bonhoeffer aktiv im Widerstand.11 In diesen bewegten Jahren entstanden unterschiedliche Texte zur Ethik, die Bonhoeffer wegen seiner Verhaftung im April 1943 nicht als einheitlichen Entwurf abschließen konnte. Eberhard Bethge gab die Aufzeichnungen Bonhoeffers, die er hatte retten können, nach Kriegsende in den Druck.12 Auch wenn Bonhoeffers Ethik fragmentarisch blieb und keinen systematisch durchgestalteten Entwurf darstellt, werden seine christologisch akzentuierten ethischen Grundprinzipien in den Texten deutlich. In der Unterrichtseinheit soll es um einige dieser Grundprinzipien gehen, wobei der Fokus auf der Frage nach der menschlichen Identität liegen soll. Im April 1943 wurde Bonhoeffer von der Gestapo verhaftet und in ein Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis in Berlin Tegel gebracht, wo er bis zum Oktober 1944 blieb. Dann wurde er in ein Gefängnis des Berliner Reichssicherheitshauptamtes verlegt. Im Februar 1945 wurde er zuerst in das Konzentrationslager Buchenwald und dann nach Flossenbürg gebracht, wo er am 9. April 1945 erhängt wurde.13 In den Gefängnisjahren hörte Bonhoeffer nicht auf, Theologie zu treiben. Aus vielen Briefen an Bethge und seine Familie geht hervor, wie intensiv er über Gott, sein eigenes Schicksal und die Zeitläufe nachdachte. Zudem verfasste er einige sehr persönliche Gedichte. Bethge sammelte auch diese Texte und gab sie 1951 unter dem Titel Widerstand und Ergebung heraus.14

11 Vgl. Tietz, Christiane: Dietrich Bonhoeffer. Theologe im Widerstand, München 2013, 93. 12 Vgl. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, zusammengestellt u. hg. v. Eberhard Bethge, 7. Aufl. München 1966. 13 Vgl. Welker, Michael: Bonhoeffers Theologisches Vermächtnis in Widerstand und Ergebung; in: der.: Theologische Profile. Schleiermacher – Barth – Bonhoeffer – Moltmann, Hannover 2009, 103 – 120, 103 f. 14 Vgl. Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Christian Gremmels, Eberhard Bethge u. Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt, DBW 8, Gütersloh 1998.

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3.2.2 Bonhoeffers christozentrische Ethik als Hintergrund seiner Frage nach menschlicher Identität In seiner Ethik möchte Bonhoeffer keine ethische Frage ohne Christusbezug erörtern, wie er in dem Abschnitt »Christus, die Wirklichkeit und das Gute« deutlich macht. Die klassischen ethischen Fragen Wie werde ich gut? Wie tue ich Gutes? sind in seinen Augen einer christlichen Ethik nicht angemessen. Er begründet seine Haltung damit, dass eine ethische Frage ohne Christusbezug automatisch das eigene Ich und die Welt als letzte Wirklichkeit klassifiziert. Dies ist für Bonhoeffer die Situation des gefallenen Sünders, den sein eigenes Wissen von Gut und Böse zur von Gott unabhängigen ethischen Instanz macht.15 »Der Ursprung der christlichen Ethik ist nicht die Wirklichkeit des eigenen Ichs, nicht die Wirklichkeit der Welt, aber auch nicht die Wirklichkeit der Normen und Werte, sondern die Wirklichkeit Gottes in seiner Offenbarung in Jesus Christus.«16

Christliche Ethik will keine eigenen, unabhängigen ethischen Urteile fällen, sondern an der in Jesus Christus geoffenbarten Gotteswirklichkeit Anteil gewinnen. Den Hintergrund dieser Gedanken bildet Bonhoeffers Christologie, die er im Abschnitt »Ethik als Gestaltung« erörtert. Bonhoeffers Grundüberzeugung besteht erstens darin, dass Gott wirklich in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist – und damit zeigt, dass er die Menschen nicht in eine übermenschliche NichtWelt retten will, sondern sie als Menschen dieser Welt liebt. Zweitens ist Jesus der Gekreuzigte, der stellvertretend für die sündigen Menschen das Gericht Gottes trägt und so Frieden zwischen Gott und den Sündern schafft. Drittens ist Jesus der Auferstandene, der neue Mensch, der den Tod besiegt und gerade darin den endlichen Menschen einen angemessenen Umgang mit dem Diesseits ermöglicht. Welche Bedeutung haben diese Aussagen über Jesus Christus für die christliche Ethik? Bonhoeffer nimmt eine Doppelperspektive auf Christus ein: Einerseits ist er der Stellvertreter der Menschen vor Gott und als dieser der wahre Mensch; andererseits ist er der »Gestalter« der Menschen, der sie in seine »Gestalt« hineinzieht und in ihnen Gestalt gewinnen will, damit sie wahre Menschen werden.17 Jesus Christus steht hier nicht für ethische Prinzipien, die man anwenden soll, sondern für ein reales Geschehen, das den Menschen ergreift, verändert und von ihm in seiner konkreten Situation gelebt werden will. Ganz greifbar gewinnt Christus Gestalt in der Kirche, seinem »Leib«. Der Einzelne steht so nicht mehr vor der Frage: Was muss ich tun, um gut zu sein? 15 Vgl. den Abschnitt »Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt« in Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 19 – 22. 16 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 202. 17 Vgl. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 85 – 91.

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Stattdessen darf er fragen: Wo wirkt der lebendige Christus? Was heißt es für mich, dass der lebendige Christus in mir Gestalt gewinnt?18 Bonhoeffers christozentrische Ethik hat sehr viel mit der Leitfrage unserer Unterrichtseinheit Wer bin ich? zu tun. Nicht durch permanente Selbstreflexion und Identitätsarbeit lässt sich diese Frage beantworten, weil sie das Selbst immer nur auf sich selbst zurückwirft. Hier tritt, wie im von Christus abstrahierenden ethischen Räsonieren, die Trennung zwischen Gott und Mensch zu Tage. Die Antwort besteht darin, dass Jesus Christus der wahre Mensch ist und schon längst die Frage Wer bin ich? für den Einzelnen beantwortet hat. Indem dieser sich Christus vertrauensvoll öffnet, lässt er ihn Gestalt in sich gewinnen – als göttliches Geschehen, das ihn in seiner konkreten Lebenssituation und Individualität zu dem Menschen gestaltet, der er nach Gottes Willen ist. Das ist die zentrale theologische Aussage Bonhoeffers in der Frage nach der menschlichen Identität. 3.2.3 Wer bin ich? Theologische und existentielle Erkenntnisse Bonhoeffers in der Gefangenschaft In der bedrückenden und einsamen Gefangenschaft werden Bonhoeffers Texte persönlicher. Dabei kommt es zu einer theologischen und existentiellen Vertiefung seiner Gedanken und Erfahrungen. Bonhoeffer beginnt sogar, Gedichte zu verfassen.19 Das Gedicht Wer bin ich? ist eines der bekanntesten Texte dieser Zeit und gibt sich deutlich als Gedicht eines Gefangenen zu erkennen. Bonhoeffer sandte es am 8. Juli 1944 an Bethge. Im Folgenden sollen einige Hinweise zu Charakter und Deutung des Gedichts gegeben werden.20 Das Gedicht ist in vier Abschnitte eingeteilt.21 Im ersten Abschnitt (Z. 1 – 12) stellt das lyrische Ich die Frage »Wer bin ich?«, um dann auf die Außenperspektive zu verweisen: »Sie sagen mir…«. Der zweite Abschnitt (Z. 13 – 23) ist formal und inhaltlich vom ersten Abschnitt unterschieden. Hier geht es um die eigene Perspektive auf sich selbst, die sich in ihrer Unruhe und Schwäche von der positiven Außenperspektive radikal unterscheidet. In dem unvollständigen Fragesatz »Oder…« versucht das lyrische Ich, seine Innenperspektive über neun Zeilen hinweg in immer neuen Anläufen in Worte zu fassen – bis zum Höhepunkt »bereit, von allem Abschied zu nehmen«. Im dritten Abschnitt (Z. 24 – 29) 18 Vgl. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 208. Interessanterweise bleibt der Heilige Geist, der doch in diesem lebendigen Wirken Gottes im Mittelpunkt steht, bei Bonhoeffer in diesem Zusammenhang eher unterbestimmt. 19 Vgl. den Brief vom 5. 6. 1944; in: Bonhoeffer : Widerstand und Ergebung, 466 – 468. 20 Bonhoeffer, Dietrich: »Wer bin ich?«; in: ders.: Widerstand und Ergebung, 188. 21 Vgl. zu Aufbau und Inhalt auch: Henkys, Jürgen: Geheimnis der Freiheit. Die Gedichte Dietrich Bonhoeffers aus der Haft. Biographie, Poesie, Theologie, Gütersloh 2005, 123 ff.

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greift der Sprecher wieder die Eingangsfrage »Wer bin ich?« auf, um die Doppelperspektive der ersten beiden Abschnitte in vier weiteren Fragen zuzuspitzen. Diese Fragen bilden einen Moment der Verzögerung und Reflexion. Die sechste Frage »Oder gleicht …?« geht einen Schritt weiter und lässt die Hoffnung aufblitzen, dass die Zerrissenheit des lyrischen Ichs nicht das letzte Wort bleiben muss, sondern schon ein »Sieg« errungen worden ist über die Selbstzweifel und Unruhe des eigenen Ichs. Im vierten Abschnitt (Z. 30 f.) schließt das Gedicht mit einem zweizeiligen traditionellen Reim, der wieder die Eingangsfrage »Wer bin ich?« aufnimmt, um nun zum ersten Mal Gott anzusprechen und ihm zu bekennen: »Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!«. Dieses Bekenntnis relativiert das »einsame Fragen« (Z. 30) des Sprechers und führt ihn aus seiner Zerrissenheit heraus. Es ist offensichtlich, dass Bonhoeffer hier eigene Erfahrungen in verdichteter Form verarbeitet. Die Frage Wer bin ich? begleitete ihn durch die gesamte Haftzeit. In einem seiner ersten Gefängnisbriefe an Bethge am 15. 12. 1943 sind schon die Inhalte des Gedichtes zu erkennen: »Ich frage mich oft, wer ich eigentlich bin, der, der unter diesen gräßlichen Dingen hier immer wieder sich windet und das heulende Elend kriegt, oder der, der dann mit Peitschenhieben auf sich selbst einschlägt und nach außen hin (und auch vor sich selbst) als der Ruhige, Heitere, Gelassene, Überlegene dasteht und sich dafür (d. h. für diese Theaterleistung, oder ist es keine?) bewundern läßt? Was heißt ›Haltung‹ eigentlich? Kurz, man kennt sich weniger denn je über sich selbst aus und legt auch keinen Wert mehr darauf, und der Überdruß an aller Psychologie und die Abneigung gegen die seelische Analyse wird immer gründlicher. (…) Es geht um Wichtigeres als um Selbsterkenntnis.«22

Bonhoeffer sagt hier deutlich, dass die Frage Wer bin ich? nicht durch »Selbsterkenntnis« beantwortet werden kann. Er problematisierte die eigene Selbsterkenntnis auch schon in seiner Ethik: Wenn das eigene Ich zur maßgeblichen Instanz wird, wird darin die Trennung von Gott nur umso deutlicher (s. o.). Dabei spielt es keine Rolle, ob das eigene Selbstbild positiv oder negativ ist.23 Diese Einsicht spiegelt auch das Gedicht Wer bin ich? wider : Weder Außennoch Innenperspektive können diese Frage letztlich beantworten, selbst wenn beide Perspektiven nicht per se falsch sein müssen. Offensichtlich werden hier reale Erfahrungen Bonhoeffers aufgegriffen. Sie sind nicht nur Einbildungen, sondern gehören zu seiner Person. Jedoch können Sie nicht das letzte Urteil über 22 Bonhoeffer, Dietrich: An Eberhard Bethge. Tegel, 15. und 16. 12. 1943; in: ders.: Widerstand und Ergebung, 232 – 239, 235. 23 Vgl. Henkys, Jürgen: Geheimnis der Freiheit. Die Gedichte Dietrich Bonhoeffers aus der Haft. Eine Biographie, Poesie, Theologie; Gütersloh 2005, 129.

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ihn fällen. Die Pointe des Gedichts besteht somit darin, dass das lyrische Ich die es antreibende Frage nicht beantworten kann. Selbst die Hoffnungsperspektive in Z. 28 f., in der Jürgen Henkys die »Dialektik der österlichen Heilsverkündigung« erkennt, bleibt eine offene Frage. Erst in der letzten Gedichtzeile wird die quälende Spannung des Gedichts aufgelöst, indem die Frage Wer bin ich? relativiert und in den Horizont der Frage Wem gehöre ich? gestellt wird. Hier tritt wieder der Grundzug der Bonhoefferschen Ethik zu Tage: Die Frage Wer bin ich? isoliert das Ich von Gott; die Frage Wer kennt mich und wem gehöre ich? fragt nach dem Ich in seiner Verbindung mit Gott. Das Gedicht lässt den Leser nicht in der unsicheren Schwebe des Nicht-Wissens zurück, sondern gelangt zu einer Antwort. Diese Antwort besteht darin, die Frage zu verändern und in den Horizont Gottes zu stellen. Gott wird dabei nicht als abstrakte Größe charakterisiert, sondern als personales Gegenüber, der den Fragenden in seiner Zerrissenheit und Schwäche kennt und zu seinem Besitz erklärt. 3.2.4 Konsequenzen von Bonhoeffers christozentrischer Ethik und Anthropologie Die Grundhaltung, die in dem Gedicht »Wer bin ich?« zum Ausdruck kommt, versuchte Bonhoeffer in weiteren Anläufen zu artikulieren. In einem Brief an Eberhard Bethge vom 21. Juli 1944 greift er wieder die Frage nach dem rechten Mensch-Sein bzw. dem rechten Selbst- und Gottesverhältnis auf. Dabei konkretisiert er zwei Punkte, die auch schon in seinen Texten zur Ethik implizit enthalten waren: (1) Jesus war wirklicher Mensch – und deshalb darf und soll ein Christ ebenfalls ein wirklicher Mensch sein. Bonhoeffer spricht in diesem Zusammenhang oft von »Diesseitigkeit«. Es geht ihm darum, dass ein Christ nicht aus der Welt flüchten, sondern erkennen soll, dass Gott diese Welt geschaffen und erlöst hat. Wer die vielfältigen Erfahrungen dieser Welt annimmt, folgt dem Vorbild des menschgewordenen Jesus und lässt sich von ihm gestalten. (2) Ein Christ soll deshalb nicht versuchen, auf irgendeine Weise diese Welt zu transzendieren. Wer dies tut, verpasst die Weltbezogenheit des Glaubens und entzieht sich der Wirklichkeit des menschgewordenen Jesus. Gleichzeitig bleibt er auf sich selbst fixiert und erfährt nicht die Freiheit, die darin besteht, als Mensch vor Gott zu leben. In dem Brief schildert Bonhoeffer, wie ihm selbst in einem langen Lernprozess – zu dem ganz wesentlich seine Haft gehört – diese Erkenntnis geschenkt wurde. Er erinnert sich an sein Gespräch mit einem jungen Pfarrer in den USA, in dem sie sich die Frage stellten, »was wir mit unserem Leben eigentlich wollten«. Bonhoeffer sagte: »Ich möchte glauben lernen«. Im Rückblick wird ihm deutlich, dass ihm dieser Wunsch erfüllt wurde – aber auf eine ganz andere Weise, als er damals gedacht dachte:

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»Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist metanoia; und so wird man ein Mensch, ein Christ.«24

4.

Didaktischer Übergang

4.1

Präzisierung und Differenzierung des Unterrichtsweges

Mitteilung: Die Schülerinnen und Schüler sind durch die Begegnung mit der philosophischen Analyse Charles Taylor über das (post-)moderne Authentizitätsideal sowie die theologische Position Bonhoeffers dazu fähig, eigene Überzeugungen über ihre Identität zu reflektieren und mit der Position Bonhoeffers zu vergleichen. Die Unterrichtseinheit richtet sich dabei eher auf die indirekte Mitteilung christlicher Religion, weil diese über einen Umweg, nämlich die Person Bonhoeffers, profiliert wird. Die Schülerinnen und Schüler haben so die Möglichkeit, Distanz zum christlichen Glauben zu wahren und ihn erst einmal als den Glauben Bonhoeffers wahrnehmen. Die literarischen Gattungen des Gedichtes und Briefes sind dazu besonders hilfreich, weil sie den engen Bezug zwischen Theologie und Leben Bonhoeffers verdeutlichen. Die persönliche Dimension des christlichen Glaubens kann so betont werden. Im dritten Bonhoeffer-Text aus seiner Ethik tritt dann die direkte Vermittlung des christlichen Verständnisses von menschlicher Identität in den Vordergrund. Dies ist auch notwendig, denn die Schülerinnen und Schüler sollen explizite christliche Inhalte kennenlernen – um Bonhoeffer verstehen und den christlichen Glauben besser begreifen zu können. Nur auf dieser Grundlage werden sie dazu befähigt, das christliche Selbstverständnis mit dem Authentizitätsideal vergleichen und eine eigene Haltung zu entwickeln. Lernprozess: Die Schülerinnen und Schüler sind fähig, die christliche Frage nach der menschlichen Identität als für sie relevante Frage wahrzunehmen und eine eigene Haltung zu ihr zu entwickeln. Über die Beschäftigung mit Taylor und Bonhoeffer sollen sie dafür sensibilisiert werden, dass es unterschiedliche 24 Dietrich Bonhoeffer: An Eberhard Bethge. Tegel, 21. 7. 1944, in: ders.: Widerstand und Ergebung, 541 – 543, 542.

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Möglichkeiten gibt, die Frage nach der eigenen Identität zu beantworten. Auf indirekte – und der sachlichen Vermittlung der Positionen erst einmal nachgeordnete – Weise sollen die Schülerinnen und Schüler dazu angeregt werden, sich selbst mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Theologie: Die Schülerinnen und Schüler sind durch die Begegnung mit dem Thema »Wer bin ich?« fähig, eine profilierte evangelische Position zur Frage nach der menschlichen Identität – die Position Bonhoeffers – wiedergeben zu können. Durch die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Textgattungen (Gedicht, Brief, wissenschaftlicher Text) sind sie fähig, die mehr oder weniger direkte theologische Dimension unterschiedlicher Textgattungen wahrzunehmen und die Verbindung von Dogmatik und Leben zu erkennen. Geschichte: Die Schülerinnen und Schüler sind fähig, den christlichen Glauben als einen Glauben wahrzunehmen, der Menschen der Vergangenheit ebenso wie uns Heutige angeht. In der Begegnung mit Bonhoeffer lernen sie eine bekannte Persönlichkeit der jüngeren Christentums- und Theologiegeschichte kennen.

4.2

Die vier Lernschritte der Unterrichtseinheit

4.2.1 Der 1. Lernschritt: Charles Taylors Diagnose des Authentizitätsideals Zu Beginn der Unterrichtseinheit soll der Blick auf unsere gegenwärtigen – oft impliziten – Grundüberzeugungen zum Thema »Identität« gelenkt werden. Dazu soll ein kurzer Textausschnitt des kanadischen Philosophen Charles Taylor dienen.25 In diesem Text beschreibt Taylor das »Ideal der Authentizität«, das unseren Umgang mit dem Thema Identität prägt. Taylors Diagnose soll eine gemeinsame Grundlage für die Unterrichtseinheit schaffen. Sie soll als Folie dienen, vor dem die Texte Bonhoeffers gelesen werden. Taylors Text ist in einem neutralen, deskriptiven und nicht-theologischen Stil geschrieben. Das ist hilfreich, da es in dieser Phase nicht darum gehen soll, das »Ideal der Authentizität« zu bewerten – sondern darum, es zu verstehen und damit die eigenen impliziten Überzeugungen ans Licht zu bringen. Im Unterrichtsgespräch soll Taylors Text erarbeitet und auf dieser Grundlage überlegt werden, wo dieses Ideal unser eigenes Denken prägt. Dabei wird die hermeneutische Kompetenz dahingehend gestärkt, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, einen nicht-theologischen Text wahrzunehmen und die eigenen Überzeugungen vor diesem Hintergrund zu artikulieren und zu prüfen. Zudem wird die methodische Kompetenz ge25 Es handelt sich um: Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a.M. 1995, 38 f.

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stärkt: Die Schülerinnen und Schüler sollen verstehen, dass es sich um einen nicht-theologischen Text handelt, der uns als deskriptive Analyse dient. 4.2.2 Der 2. Lernschritt: Bonhoeffers Gedicht »Wer bin ich?« Mit Dietrich Bonhoeffers Gedicht »Wer bin ich?«26 wird nun ein Text eingeführt, in dem ein christliches Identitätsverständnis artikuliert wird. Da es sich um ein persönliches Gedicht handelt, ist der Übergang niederschwellig. Die Schülerinnen und Schüler sollen das Gedicht erst einmal als Gedicht wahrnehmen, um seine Struktur und Motivik zu erfassen (ästhetische Kompetenz). In einem zweiten Schritt soll die hermeneutische Kompetenz eingeübt werden, indem die Schülerinnen und Schüler den Inhalt des Gedichts präzise herausarbeiten. Dabei sollen sie selbst erkennen, dass dieses Gedicht eine ähnliche Thematik wie der Text von Taylor hat – und die Position Bonhoeffers mit dem von Taylor diagnostizierten Authentizitätsideal vergleichen. Es soll deutlich werden, dass Bonhoeffer nicht dem gewohnten Authentizitätsideal entspricht – sondern seine Identität auf eine andere, spezifisch christliche Weise empfängt. 4.2.3 Der 3. Lernschritt: Bonhoeffers Text »Christus als Gestalter des Menschen« Die erste Begegnung mit Bonhoeffer hat mit Hilfe des Gedichts »Wer bin ich?« stattgefunden. Eine erste Ahnung von der besonderen christlichen Weise, sich über menschliche Identität zu verständigen, besteht nun. Mit Sicherheit sind aber noch viele Fragen hinsichtlich Bonhoeffers Überzeugungen offen. Im dritten Lernschritt soll anhand eines Abschnittes aus Bonhoeffers »Ethik« der theologische Hintergrund seiner Lebenshaltung erarbeitet werden.27 In diesem Text entwickelt Bonhoeffer eine völlig an der Person Jesu Christi und an seinem Wirken orientierte Ethik. Der Text soll aber nicht primär als ethische Position gelesen werden, sondern vielmehr Bonhoeffers Verständnis von menschlicher Identität erhellen. Hier wird die hermeneutische Kompetenz gefördert, komplexe theologische Texte im Hinblick auf zentrale Fragestellungen zu bearbeiten und auszulegen. Zudem sollen die Schülerinnen und Schüler Sachkompetenz erwerben, indem sie ein zentrales theologisches Lehrstück – Jesus Christus als Menschgewordener, Gekreuzigter und Auferstandener – kennenlernen. Dabei 26 Bonhoeffer, Dietrich: »Wer bin ich?«; in: ders.: Widerstand und Ergebung, 188. 27 Es handelt sich um: Bonhoeffer, Dietrich: Gleichgestaltung; in: Ethik, 85 – 88. Der Text ist im Anhang abgedruckt und einer Arbeitshilfe der Gymnasialpädagogischen Materialstelle der Ev.-Luth. Kirche in Bayern entnommen: Unterricht in der Oberstufe. Materialien und Anregungen für den Ev. Religionsunterricht in der Jahrgangsstufe 11, hg. v. Vera Utzschneider, in: RU – Werkstatt Oberstufe 11.2, 3.

Wer bin ich?

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wird dieses Lehrstück nicht im luftleeren Raum behandelt, sondern als Beitrag zur Frage nach dem rechten Mensch-Sein gelesen. 4.2.4 Der 4. Lernschritt: Bonhoeffers Brief aus dem Gefängnis vom 21. Juli 1944 Vor dem theoretischen Hintergrund aus Bonhoeffers »Ethik« soll nun ein Brief Bonhoeffers an Eberhard Bethge gelesen werden, in dem Bonhoeffer seine theologischen Erkenntnisse in einer sehr persönlichen Weise auf sich selbst anwendet und veranschaulicht.28 Die Schülerinnen und Schüler lernen in der Auseinandersetzung mit diesem dritten Text die enge Verbindung von Theologie und Leben kennen, die bei Bonhoeffer deutlich wird und für den christlichen Glauben im Allgemeinen gilt (Sachkompetenz). Sie sollen zu einem Gesamtbild von Bonhoeffers Identitätsverständnis gelangen, indem sie die Grundgedanken des Briefes mit den beiden nun bekannten Bonhoeffer-Texten vergleichen (Hermeneutische Kompetenz). Dabei sollen sie die Fragestellung auch auf sich selbst beziehen und in der Auseinandersetzung mit Bonhoeffer ihre eigene Haltung in der Frage Wer bin ich? artikulieren (Personale Kompetenz). Dabei wird Aufmerksamkeit weg von der direkten Frage Wer bin ich? hin zur Frage Was will ich mit meinem Leben eigentlich? gelenkt. Bonhoeffer wirft diese zweite Frage explizit in dem zu diskutierenden Brief auf. Diese Verschiebung hat den didaktischen Vorteil, dass sie eine weitere Facette der Frage nach menschlicher Identität – nämlich das Telos des menschlichen Lebens – zur Geltung bringt. Nicht zuletzt ist diese Frage weniger persönlich als Wer bin ich?. Die Schülerinnen und Schüler sollen deshalb ihre eigene Antwort auf diese Frage artikulieren. Erst nachdem sie das getan haben, soll der Brief Bonhoeffers gelesen werden. Dabei werden die Antworten der Schülerinnen und Schüler indirekt mit Bonhoeffers Antwort konfrontiert. In einem letzten Schritt sollen die Schülerinnen und Schüler darüber reflektieren, was sie insgesamt von Bonhoeffer lernen bzw. wo sie seine Haltung nicht nachvollziehen können.

4.3

Ausarbeitung des Stoffverteilungsplans

Für die Themeneinheit »Wer bin ich?« innerhalb des Themenfeldes »Mensch« werden acht Unterrichtsstunden veranschlagt. Die Themeneinheit besteht aus vier Lernschritten, für die jeweils eine Doppelstunde vorgesehen ist. Es ist sinnvoll, dass das Themenfeld »Jesus Christus« vor der Unterrichtseinheit »Wer bin ich?« behandelt wird, so dass die Schülerinnen und Schüler mit den bibli28 Bonhoeffer, Dietrich: Brief vom 21. 7. 1944; in: Widerstand und Ergebung, 541 ff.

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schen Texten über Jesus Christus, d. h. mit seiner Person und Botschaft vertraut sind. Auf dieser Grundlage kann die Frage nach dem Menschen – in unserer Einheit: nach der eigenen Identität – gestellt werden. Die Themeneinheit Wer bin ich? soll am Beginn des Themenfeldes Mensch stehen. Sie soll in der ersten Doppelstunde mit dem philosophischen Text von Charles Taylor eröffnet werden. Ein solcher Text stellt eine Abwechslung für die Schülerinnen und Schüler dar, die im Themenfeld »Jesus Christus« v. a. biblische und theologische Texte bearbeitet haben. Der Text von Taylor soll als Folie dienen, vor der die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Gedanken zum Thema Wer bin ich? und zu der Frage nach Authentizität und Identität artikulieren können. Die drei weiteren Doppelstunden behandeln jeweils einen Text von Dietrich Bonhoeffer. Mit Bonhoeffers Gedicht Wer bin ich? wird der Überschritt zur christlichen Perspektive auf die Frage nach der menschlichen Identität gewagt. Bonhoeffer dient als indirekter Vermittler der christlichen Perspektive. Die drei Bonhoeffer-Texte entstammen unterschiedlichen literarischen Gattungen (Gedicht, theologische Abhandlung, Brief) und ermöglichen den Schülerinnen und Schülern, die Position Bonhoeffers tiefenscharf wahrzunehmen. In diesen drei Doppelstunden wächst die Vertrautheit mit der Person Bonhoeffers und seinen Überzeugungen: Die Schülerinnen und Schüler lernen seine Grundhaltung im Gedicht Wer bin ich? kennen (2. Doppelstunde). Sie befassen sich mit dem theologischen Hintergrund seines Denkens anhand eines Textes aus seiner Ethik (3. Doppelstunde). Schließlich werden sie mit einer weiteren Facette der Identitätsthematik konfrontiert, nämlich mit Bonhoeffers Frage Was wollen wir eigentlich aus unserem Leben machen? und seinem eigenen Lernweg (4. Doppelstunde). Hier wird die Frage Wer bin ich? noch greifbarer und konkreter. In dieser letzten Doppelstunde der Themeneinheit sollen die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Antworten auf diese Frage artikulieren, bevor sie mit Bonhoeffers herausforderndem Text konfrontiert werden. In einem letzten Schritt sollen sie ihre eigene Haltung zu Bonhoeffer explizieren, indem sie entweder den Satz »Im Hinblick auf die Frage nach meiner Identität lerne ich von Bonhoeffer, dass…« oder den Satz »Ich kann Bonhoeffers Haltung in der Frage nach menschlicher Identität nicht nachvollziehen, weil…« ergänzen. In dieser letzten Doppelstunde wird methodisch mit einer »FacebookDiskussion« gearbeitet, die mit dem Beamer an die Wand projiziert wird. So soll der Bezug zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler betont werden. Gleichzeitig sollen die Schülerinnen und Schüler dadurch zu pointierten, kurzen – und deshalb durchdachten – Statements aufgefordert werden. Möglicherweise eröffnet diese Facebook-Diskussion auch einen Raum für weitere, außerschulische Diskussionen zu dieser Thematik, die in diesem Forum weitergeführt werden können.

Wer bin ich?

5.

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Hinweis auf das Material für diese Unterrichtseinheit

Anbei die Zusammenstellung der Texte, die diese Unterrichtseinheit unterrichtlich ausarbeiten lassen: – Dietrich Bonhoeffer : Christliche Ethik. Christus als Gestalter des Menschen, in: Unterricht für die Oberstufe. Materialien und Anregungen für den Ev. Religionsunterricht in der Jahrgangsstufe 11, hg. v. Vera Utzschneider ; in: RU-Werkstatt Oberstufe 11.2, 35. – Dietrich Bonhoeffer : An Eberhard Bethge. Tegel, 21. 7. 1944, in: ders.: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Christian Gremmels, Eberhard Bethge und Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt, DBW 8, Gütersloh 1998, 541 – 543 (der Text wird ohne die im Original befindlichen Fußnoten übernommen) – Charles Taylor : Das Unbehagen an Moderne, Frankfurt a.M. 1995, 34 – 39 (im Unterricht soll nur der Abschnitt ab Seite 38 oben gelesen werden.) – Dietrich Bonhoeffer : »Wer bin ich?«, in: ders.: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg v. Christian Gremmels, Eberhard Bethge u. Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt, DBW 8, Gütersloh 1998, 188. Arbeitsblatt für die 2. Doppelstunde »Bonhoeffer und die Frage ›Wer bin ich‹?« Teilen Sie das Gedicht in einzelne Sinnabschnitte ein und geben Sie jedem Abschnitt eine Überschrift. Wie beantwortet Bonhoeffer die Frage »Wer bin ich?«?

Ann Sophie Huppers

Urteilen lernen mit und an der Heiligen Schrift. Ein Unterrichtsentwurf mit Bezug auf Rudolf Bultmann und Gerd Theißen

1.

Was will ich, dass meine Schüler lernen?

»Das Weltbild des Neuen Testaments ist ein mythisches.«1 So sehr Bultmann auch für seinen 1941 gehaltenen Vortrag »Neues Testament und Mythologie« kritisiert wurde, so wenig wurde dieser Satz meines Wissens nach in Frage gestellt. Genauso wenig wurde bestritten, dass für den Menschen von heute2 ein deutlich anderes, technisch geprägtes Weltbild alltäglich ist. Ich möchte den Schülerinnen und Schülern3 mit den Gedanken Bultmanns zur Entmythologisierung einen innerchristlichen Kritikansatz vorstellen. Während die allgemein philosophische Religionskritik den Schülern bekannt sein dürfte, kennen sie oft keine Beispiele einer kritischen Theologie. Bultmanns Ansatz geht dabei über das den Schülern in Form der historisch-kritischen Exegese bekannte hinaus und eröffnet neben der Kritik auch eine Möglichkeit des Glaubens. Die Entmythologisierung Rudolf Bultmanns soll deshalb hier als eine Methode des Verstehens der Bibel vorgestellt werden. Es handelt sich um eine Methode, die nicht nach scheinbar objektiv richtigen oder falschen Tatsachen fragt, sondern danach, ob die Bibel dem Leser heute, also auch den Schülern heute existentielle Wahrheiten vermitteln kann. Bultmanns Entmythologisierungsversuch fragt explizit nach dem in den neutestamentlichen Texten ausgedrückten Selbstverständnis und Weltbild,4 um durch dieses begreifen zu können, wie die Menschen zur Zeit Jesu wohl Gott wahrnahmen. So wird es möglich, dass der Mensch von heute sein eigenes Selbstverständnis durch das fremde in Frage gestellt sieht und sich zu diesem verhalten kann. 1 Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung. 2. Aufl.; Nachdr. der 1941 erschienen Fassung. München 1985 (BevTh, Bd. 96), 12. 2 Hier wird der Bezeichnung Bultmanns gefolgt, die dieser konsequent verwendet. Z.B. ebd., 14. 3 Die Verwendung des Begriffs Lehrer schließt auch Lehrerinnen mit ein. Wo möglich wurde stattdessen der Begriff Lehrende verwendet. 4 Bultmann, Rudolf: Zum Problem der Entmythologisierung; in: KuM Bd. II., 179 – 190, 183.

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Indem die Schülerinnen und Schüler der fremden Religion begegnen, können sie sich in ein religiöses Verhältnis zur Welt stellen und Gottesbezug erfahren.5 Diese Spannung erleben die Schülerinnen und Schüler exemplarisch in den Themenfeldern Mensch und Jesus Christus des Bildungsplans Religion der Kursstufe in Baden-Württemberg.6 Der Ansatz Bultmanns bietet sich als Einstieg in das Themenfeld Mensch an. Eine anschließende Unterrichtseinheit zum Bereich Jesus, der Christus? könnte dazu beitragen, die Erkenntnisse auf Jesus zu beziehen und so zu festigen. Die Dimension Bibel soll dabei besonders in den Vordergrund treten und die hermeneutische Kompetenz in besonderer Weise unterstützend ausgebaut werden. Die Schülerinnen und Schüler der 12. Klasse werden durch diese Unterrichtseinheit entsprechend den der Dimension Bibel zugeordneten Kompetenzen lernen, wie sie »[…] biblische Texte sachgemäß auslegen und auf konkrete Problemstellungen beziehen«7 können. Ebenfalls wird durch diese Unterrichtseinheit »[…] die Eigenart religiöser Sprache in ihrer Vielschichtigkeit (zum Beispiel symbolisch, metaphorisch) an biblischen Beispielen […]«8 erschlossen. Die Schülerinnen und Schüler lernen durch den Bezug auf Bultmanns Überlegungen zwar vor allem mythische Elemente der neutestamentlichen Verkündigung kennen, doch stehen diese exemplarisch für die vielfältigen sprachlichen Elemente der neutestamentlichen Verkündigung. Mit der Besprechung eines Textes von Gerd Theißen, in dem dieser die christliche Religion als semiotische Kathedrale darstellt, wird dieser Zusammenhang explizit gemacht. Die weitere Beschäftigung mit dem Themenfeld Jesus Christus unter besonderer Beachtung des Zusammenhangs von historischem Jesus und kerygmatischen Christus könnte diesen Aspekt unter anderem durch die unterrichtliche Arbeit an den Gleichnisreden Jesu noch vertiefen. Da Rudolf Bultmann und Gerd Theißen – wenn auch unterschiedlich und vor allem zu unterschiedlichen Zeiten – als Vertreter einer Hermeneutischen 5 In diesem kurzen Satz kulminieren viele Schlüsselelemente der Hermeneutik Bultmanns. An dieser Stelle sei nur die Definition der Religion bei Bultmann von Karsten Jung zitiert: »Religion ist ein Sich-Schenkenlassen, sie besteht im Verwirklichtwerden des Individuums, daher ist sie subjektiv. Sie ist gleichwohl nicht beliebig, weil sie in der Tat gänzliche Unterwerfung fordert.« (Jung, Karsten: Homiletische Hermeneutik. Rudolf Bultmanns Beitrag für ein fröhliches Christentum., Waltrop 2004, 205) Vgl. außerdem zur Herleitung des Religionsbegriffs Bultmanns: Ebd., 103 – 154) Der vorliegende Unterrichtsentwurf ist auch ohne die Hinzunahme der Frühtexte Bultmanns ausreichend komplex. Aus diesem Grund wird darauf verzichtet, der Bultmannschen Unterscheidung zwischen Historie und Religion als Bestandteile der Hermeneutik einen eigenen Abschnitt zu widmen. 6 Bildungsplan 2004 Allgemein bildendes Gymnasium Baden-Württemberg., 34. abzurufen auf http://www.bildung-staerkt-menschen.de/service/downloads/Bildungsplaene/Gymnasium/ Gymnasium_Bildungsplan_Gesamt.pdf. 7 Ebd. 8 Ebd.

Urteilen lernen mit und an der Heiligen Schrift

169

Theologie bezeichnet werden können, liegt die Betonung der hermeneutischen Kompetenz nahe. Die Schüler erlangen die »[…] Fähigkeit, Zeugnisse früherer und gegenwärtiger Generationen und anderer Kulturen, insbesondere biblische Texte zu verstehen und auf Gegenwart und Zukunft hin auszulegen.«9 Gleichzeitig lernen sie wesentliche Bestandteile des christlichen Glaubens kennen, um damit auch befähigt zu werden, ihren eigenen Glauben zu kommunizieren. Dieser Aspekt stärkt zugleich die Sachkompetenz und die kommunikative Kompetenz.10

2.

Theologische Reflexion zur Unterrichtseinheit

2.1

Hermeneutik

»Die klassischen Fragestellungen der H.[ermeneutik] bedenken Probleme des Verstehens in einem hist. Zusammenhang, welcher das Auszulegende und den Auslegenden umfaßt«.11 So wie die Hermeneutik Probleme des Verstehens bedenkt, stärkt eine Unterrichtseinheit zur Hermeneutik die hermeneutische Kompetenz der Schülerinnen und Schüler. Die abstrakte Behandlung der Hermeneutik als eigenes Thema wird nicht im Fokus dieses Unterrichtsentwurfes stehen. Wohl aber werden die Konzepte Bultmanns und Theißens mit den Schülerinnen und Schülern als Beiträge gelesen, die je einen eigenen Beitrag zum Verstehen der Bibel leisten. Ein gelungener Verstehensprozess wird nie bei einer rein objektiven Betrachtung eines Textes stehen bleiben, sondern darüber hinaus auf die Wirklichkeit der Leserinnen und Leser zeigen. Diese werden dabei nicht nur durch die in der Lektüre gewonnenen Erkenntnisse beeinflusst werden12, sondern auch eigene Erfahrungen in den Prozess des Verstehens einbringen.13 Gerd Theißen beschreibt dies so: »Der Hörer und die Leserin müssen […] in besonderer Weise ›aktiv‹ werden. […] Sie sind als Ko-Autor und Ko-Autorin des Textes aktiv an der Herstellung des Sinnes beteiligt.«14 Nur, wenn die Leserinnen und Leser am Text von Grund auf teilhaben, können sie ihn überhaupt verstehen.15 Die Leserinnen 9 Auflistung der Kompetenzen im Bildungsplan Baden-Württemberg, 25. 10 Ebd. 11 Terrin, Aldo Natale: Hermeneutik I. Religionswissenschaftlich; in: RGG4 Bd. 3, Sp. 1648 – 1649, 1648. 12 Jung, Karsten: Homiletische Hermeneutik, 50 – 53. 13 Terrin, Aldo Natale: Hermeneutik I., 1648 f. 14 Theißen, Gerd: Exegese und Homiletik. Neue Textmodelle als Impulse für neue Predigten; in: Predigen im Plural. Homiletische Aspekte, hg. von Pohl-Patalong, Uta und Muchlinsky, Frank, Hamburg 2001, S. 55 – 67, 61. 15 Hübner, Hans: Was ist existentiale Interpretation?; in: Labahn, Antje, Labahn, Michael (Hg):

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Ann Sophie Huppers

und Leser müssen den Text also in irgendeiner Weise für wahr halten oder ihm einen Wahrheitsmoment zubilligen, um den Text verstehen zu können.16 Dieser Wahrheitsmoment wird uns bei der Bearbeitung Bultmanns in Form der Wirklichkeit des Mythos wieder begegnen.

2.2

Rudolf Bultmann – Verstehen durch existentiale Interpretation

»Das Weltbild des Neuen Testaments ist ein mythisches.«17 Dieser viel zitierte Satz Bultmanns, mit dem er seinen Entmythologisierungsvortrag beginnt, fasst kurz das Grundproblem im Umgang mit dem Neuen Testament zusammen. Denn damit ist festgehalten, dass die mythologische Rede von Mächten, denen der Mensch innerweltlich unterworfen ist, die Verkündigung des Neuen Testaments durchzieht.18 Bultmann untermauert diese Behauptung mit einer Darstellung mythischer Elemente des Weltbildes des Neuen Testaments wie dem dreigeschossigen Weltmodell von Himmel, Erde und Hölle samt der darin wirkenden Mächte.19 Der Mensch von heute ist dagegen geprägt durch ein stark verändertes modernes Weltbild. Dieses ist geprägt durch verschiedenste Fortentwicklungen »etwa infolge der kopernikanischen Entdeckung oder infolge der Atomtheorie«20. Auch philosophische Einsichten haben darüber hinaus zu einem neuen Weltverständnis geführt. Bultmann nennt hier eine gesteigerte Entdeckung der Komplexität des Subjekts in der Romantik im Vergleich zum Idealismus oder ein gesteigertes Bewusstsein der »Bedeutung von Geschichte und Volkstum«.21 Daneben spricht Bultmann eher nebenbei auch allgemein von den Errungenschaften der Aufklärung22, »die Kenntnis der Kräfte und Gesetze der Natur«23. Der Mensch von heute dagegen lebt in einer Zeit, in der »unser aller Denken durch die Wissenschaft unwiderruflich geformt worden ist.«24 Dieses Weltbild ist nicht mehr offen für von außen in die Welt eingreifende

16 17 18 19 20 21 22 23 24

Hübner, Hans: Biblische Theologie als Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze zum 65. Geburtstag., Göttingen 1995, 229 – 251, 235. Ebd., 235. Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie, 12. Ebd., 22 f. Ähnlich auch Bultmann, Rudolf: Zum Problem der Entmythologisierung; in: GuV Bd. IV, Tübingen 1965, 128 – 137, 133 f. Nachdr. der 1963 erschienenen Fassung KuM Bd. VI.1, 20 – 27. Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie, 12. Ebd., 14. Ebd., 14. Ebd., 14. Ebd., 15. Ebd., 15.

Urteilen lernen mit und an der Heiligen Schrift

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Mächte.25 Der Glaube an ein mythisches Weltbild ist mit den modernen Errungenschaften nicht mehr zu vereinbaren. Der moderne Mensch kann das neutestamentliche Weltbild nicht anerkennen, ohne in Widerspruch zu seinen alltäglichen Erfahrungen und Überzeugungen zu geraten. Dieses veränderte Weltbild hat gleichzeitig Einfluss auf das moderne Selbstverständnis des Menschen. Je mehr er seine Umwelt begreift, desto mehr begreift er auch sich selbst. Deshalb kann der Mensch heute nicht mehr nachvollziehen, was gemeint ist, wenn das Neue Testament von fremden Mächten spricht, denen er ausgeliefert gegenübersteht.26 Auch wenn er sich als Wesen aus Natur und Geist versteht, sieht er sich als einheitliches Wesen,27 das eigenverantwortlich handeln kann. Genauso wie das neutestamentliche Weltbild ist damit auch das Seinsverständnis der neutestamentlichen Verkündigung für den Menschen von heute unglaubhaft geworden.28 Bultmann weist selbst darauf hin, dass auch sein Weltbild sich ändern wird, doch ist er überzeugt davon, dass kein modernes Weltbild oder Selbstverständnis je offen sein kann für den Eingriff von Mächten.29 Bultmann wehrt nicht ab, dass einige Gläubige meinen, gleichzeitig »elektrisches Licht und Radioapparat [zu] benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch [zu] nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments [zu] glauben« zu können.30 Vehement aber macht er klar, »daß er [der Gläubige], wenn er das für die Haltung christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.«31 Bultmann hält darum kritisch fest: »Mit dem modernen Denken, wie es uns durch unsere Geschichte überkommen ist, ist die Kritik am neutestamentlichen Weltbild gegeben. Welterfahrung und Weltbemächtigung sind in Wissenschaft und Technik so weit entwickelt, daß kein Mensch im Ernst am neutestamentlichen Weltbild festhalten kann und festhält.«32

Dabei gilt: »nur die Kritik am Neuen Testament kann theologisch relevant sein, die mit Notwendigkeit aus der Situation des modernen Menschen erwächst.«33 »Das aber ist einmal das durch die Naturwissenschaft geformte Weltbild und sodann das Selbstverständnis des Menschen, wonach er sich als geschlossene 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Bultmann, Rudolf: KuM. II, 181. Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie., 17. Ebd., 17. Ebd, 17 – 18. Bultmann, Rudolf: KuM. II, 181. Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie., 16. Ebd. Ebd., 15. Kursivschreibung im Original. Ebd., 18. Kursivschreibung im Original.

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innere Einheit versteht, die dem Zugriff supranaturaler Mächte nicht offen steht.«34 Kritik am neutestamentlichen Weltbild ist nicht erst seit Rudolf Bultmann bekannt, sondern begegnet schon im Neuen Testament. Verschiedenste Aussagen stehen hier ambivalent nebeneinander und widersprechen oft einander.35 Den Hauptwiderspruch, der »das Neue Testament als ganzes durchzieht«36, beschreibt Bultmann dabei wie folgt: »einerseits ist der Mensch als kosmisches Wesen verstanden, andererseits als ein selbstständiges Ich, das in der Entscheidung sich gewinnen oder verlieren kann.«37 Der Mensch von heute kann sich in einigen Aspekten vollkommen wiederfinden, während ihm andere unverständlich bleiben müssen.38 Darüber hinaus ist an einigen Stellen die Entmythologisierung schon im Neuen Testament durchgeführt.39 Versuche, das Neue Testament von seiner Mythologie zu befreien, durchziehen auch die Kirchengeschichte.40 Verschiedenste Ansätze wie die »der kritischen Theologie des 19. Jahrhunderts«41, »die Epoche der älteren ›liberalen‹ Theologie«42 und auch »der religionsgeschichtlichen Schule«43 brachten dabei nicht den erhofften Erfolg.44 Denn nie gelang es »von einem entscheidenden Handeln Gottes in Christus […], das als Heilsereignis verkündigt wird« zu sprechen.45 Zwei Grundfehler wurden nach Bultmann in der Beschäftigung mit dem Mythos begangen. Einerseits wurde der Mythos für einen elementaren Bestandteil der neutestamentlichen Verkündigung gehalten. Dies hatte zur Folge, dass auch die Mythologie des Neuen Testaments anerkannt werden musste, um an die Verkündigung des Neuen Testaments glauben zu können. Abgesehen davon, dass Bultmann dieses Vorgehen für »sinnlos und unmöglich« hält46, macht dies den Glauben zu einem Werk, über das der Mensch verfügen kann.47 Andererseits wurde versucht die neutestamentliche Mythologie zu eliminieren.48 Problematisch ist dies vor allem insofern, als es Bultmann unmöglich scheint, einzelne Aussagen aus der Gesamtheit der Aussagen zu einem Thema 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48

Ebd. Ebd., 23. Ebd., 24. Ebd. Ebd. Ebd., 24. Ebd., 24 – 28. Ebd., 24. Ebd., 25. Ebd., 27. Ebd., 24 – 28. Ebd., 28. Ebd., 14. Ebd., 15. Ebd., 21 f.

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heraus zu trennen. Wird somit eine Aussage zu einem bestimmten Thema für ungültig erklärt, müssen auch alle anderen in Frage gestellt werden.49 Ein solches Vorgehen wird kein Ende finden und am Ende das ganze Neue Testament streichen müssen. Kritik ist daher zwar notwendig, doch muss eine Art und Weise gefunden werden, die einerseits die Bedeutung der mythologischen Aussagen für den christlichen Glauben anerkennt, andererseits aber nicht den modernen Menschen zwingt, sein eigenes Weltbild zu verwerfen. Bultmann versucht nun ebenfalls das Neue Testament und vor allem den darin erscheinenden Mythos zu kritisieren und damit die neutestamentliche Verkündigung zu entmythologisieren. Bultmann hat nicht den Anspruch »neutestamentliche Verkündigung unter allen Umständen gegenwartsfähig«50 zu machen. Er möchte »Vielmehr […] einfach […] fragen, ob sie wirklich nichts als Mythologie ist, oder ob gerade der Versuch, sie in ihrer eigentlichen Absicht zu verstehen, zur Eliminierung des Mythos führt.«51 Bultmann geht dabei nicht davon aus, dass der Mythos einfach als Welterklärung dient und vom heutigen Menschen als falsche Hypothese abgelehnt werden kann.52 Er unterscheidet zwischen »›Mythos‹ [als] ein ganz bestimmtes geschichtliches Phänomen und […] ›Mythologie‹ [als] eine ganz bestimmte Denkweise.«53 Damit ist Mythologie oder »Mythisches Denken […] der Gegenbegriff zum wissenschaftlichen Denken.«54 »Mythologisch ist die Vorstellungsweise, in der das Unweltliche, Göttliche als Weltliches, Menschliches, das Jenseitige als Diesseitiges erscheint […]. Es ist vom ›Mythos‹ also nicht in jenem modernen Sinne die Rede, wonach er nichts weiter bedeutet als Ideologie.«55 Der »Mythos ist der Bericht von einem Geschehen oder Ereignis, in dem 49 Bultmann legt dies dar an den Aussagen zu Herrenmahl und Taufe: »Denn eine Vorstellungsweise umschließt alle Aussagen des Neuen Testaments über Taufe und Herrenmahl, und eben diese Vorstellungsweise können wir nicht nachvollziehen.« (Ebd., 21. Kursivschreibung im Original) 50 Ebd., 22. 51 Ebd. 52 Bultmann, Rudolf: KuM II, 182 und Bultmann, Rudolf: GuV, 133 – 134. 53 Bultmann, Rudolf: KuM II, 180. 54 Ebd. 55 Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie, Anm. 20 S. 23. Die von Bultmann kritisierten Aspekte sind mythologischer Natur und auf die jüdische Apokalyptik sowie den gnostischen Schöpfungsmythos zurückzuführen. (Ebd., 28 – 29) Diese sprechen beide davon, dass die gegenwärtige Welt und die in ihr lebenden Menschen von fremden, bösen Mächten beherrscht würden, von denen sie erlöst werden müssten. (Ebd.) In der jüdischen Apokalyptik ist von einem bevorstehenden Weltenende die Rede, das durch die göttliche Sendung des Messias den alten Äon beendet »und den neuen heraufführt«. (Ebd., 29) In der Gnosis handelt es sich bei der erlösenden Tat Gottes um die Sendung des Gottessohnes aus der Lichtwelt, »der als Mensch verkleidet in diese Welt kam, der durch sein Schicksal und seine Lehre die Seinen befreit und den Weg in die himmlische Heimat bahnt«. (Ebd., 29)

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übernatürliche, übermenschliche Kräfte oder Personen wirksam sind […].«56 »Der Mythos redet von der Macht oder von den Mächten, die der Mensch als Grund und Grenze seiner Welt und seines eigenen Handelns und Erleidens zu erfahren meint«57. Diese Erfahrung versucht der Mythos innerweltlich zu beschreiben und zu erklären. Dabei ordnet er diese Mächte »vorstellungsmäßig in den Kreis der bekannten Welt, ihrer Dinge und Kräfte, und in den Kreis des menschlichen Lebens, seiner Affekte, Motive und Möglichkeiten« ein.58 »Er redet vom Unweltlichen weltlich, von den Göttern menschlich.«59 Indem »der Mythos von den jenseitigen Mächten oder Personen faktisch wie von diesseitigen, weltlichen redet, – entgegen seiner eigentlichen Intention«60, verobjektiviert er diese. Gleichzeitig gilt: »Der Mythos will von einer Wirklichkeit reden, die jenseits der objektivierbaren, der beobacht- und beherrschbaren Wirklichkeit liegt, und zwar von einer Wirklichkeit, die für den Menschen von entscheidender Bedeutung ist; die für ihn Heil oder Unheil, Gnade oder Zorn bedeutet, die Respekt und Gehorsam fordert.«61

Im Mythos drückt sich nach Bultmann eigentlich aus, wie sich der Mensch in der Welt versteht. Weltbild und Seinsverständnis sind damit im Mythosbegriff eng verknüpft. Weiter folgert Bultmann: »Der eigentliche Sinn des Mythos ist nicht der, ein objektives Weltbild zu geben; vielmehr spricht sich in ihm aus, wie sich der Mensch selbst in deiner Welt versteht«.62 Der Mythos versprachlicht demnach das Existenzverständnis des Menschen. »Welches Existenz-Verständnis? Nun dieses, daß sich der Mensch in einer Welt vorfindet, die voll ist von Rätseln und Geheimnissen, und daß er ein Schicksal erfährt, das ebenso rätselhaft und geheimnisvoll ist. Er wird zu der Erfahrung gedrängt, daß er nicht Herr über sein Leben ist, und er wird dessen inne, daß die Welt und das menschliche Leben ihren Grund und ihre Grenze in einer Macht (oder in Mächten) haben, die jenseits dessen liegt, was er berechnen, über das er verfügen kann, in einer transzendenten Macht.«63

Der Mythos will ausdrücken, wie sich der Mensch in seiner Welt versteht. Damit aber spricht der Mythos von einer Welt jenseits dieser Wirklichkeit. Er spricht von einer »jenseitigen Macht«, der sich der Mensch gegenübersieht.64 Die Darstellungsweise des Mythos führt nun aber dazu, dass der Mensch von 56 57 58 59 60 61 62 63 64

Bultmann, Rudolf: KuM II, 180. Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie, 22. Ebd. Ebd. Bultmann, Rudolf: KuM II, 183. Bultmann, Rudolf: GuV IV., 133. Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie., 22. Bultmann, Rudolf: GuV IV., 134. Kursivschreibung im Original. Ähnlich KuM II., 183. Bultmann, Rudolf: KuM II., 183.

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heute die Verkündigung als objektivierende Weltdarstellung wahrnehmen muss. Solch objektivierende Aussagen wird der Mensch von heute immer mit modernen Erkenntnissen vergleichen und demnach ablehnen müssen. Fragt der Mensch heute dagegen nach dem Existenzverständnis des Mythos, kann er dieses als fremde Wahrnehmung und damit subjektive Beschreibung wahr- und ernstnehmen. Anders als bei scheinbar objektiven Wahrheiten ist er hier nicht gezwungen, diese aus seinem Weltbild heraus abzulehnen. Solch subjektive Wahrheiten können auch den Menschen von heute noch ansprechen. Um richtig verstanden zu werden, will der Mythos deshalb nicht objektiv, »sondern anthropologisch – besser : existential interpretiert werden.«65 Nur so kann der Mythos seiner Intention nach verstanden werden. Der Mythos stellt damit selbst die Aufgabe der Kritik am mythologischen Weltbild66 und damit die Forderung nach Entmythologisierung.67 Entmythologisierung ist damit zu verstehen als Befreiung »von der Begrifflichkeit eines objektivierenden Denkens […] – des objektivierenden Denkens des Mythos«68. Dadurch kann wieder auf die Wahrheit der neutestamentlichen Verkündigung hingewiesen werden. Es handelt sich hier um »das wirkliche Geheimnis Gottes in seiner eigentlichen Unbegreiflichkeit«.69 Der Mensch von heute kann, wird die neutestamentliche Verkündigung entmythologisiert, wieder der Gnade Gottes begegnen.70 Weder diese Wahrheit, noch die Verkündigung derselben oder gar der Glaube werden so durch die Entmythologisierung geschaffen. Die »Wahrheit der Schrift« wird aber durch diese aufgezeigt und also verständlich gemacht.71 Indem der Mensch von heute das im Mythos dargestellte Existenzverständnis wahrnimmt, kann er sich selbst mit den Augen des Mythos sehen. Er kann sich so selbst neu als Teil eines Ganzen wahrnehmen und zum Beispiel die Kausalitäten, den »Grund und Grenze«72 seines Lebens und der »bekannte[n] und verfügbare[n] Welt«73 wahrnehmen. Im Glauben begegnet dem Menschen die natürliche Haltung des Menschen zur Wirklichkeit. Wirklichkeit wird verstanden »als die Wirklichkeit des geschichtlich existierenden Menschen.«74 In der Terminologie des Existentialismus spricht Bultmann vom Sein des Menschen in der Geschichte als »Existenz«.75 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie, 22. Ebd., 22 – 23. Bultmann, Rudolf: KuM II., 184. Ebd., 187. Ebd., 190. Ebd. Ebd., 189. Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie., 23. Ebd. Bultmann, Rudolf: GuV IV., 129. Kursivschreibung im Original. Bultmann, Rudolf: GuV IV., 129., Die Gegenwartsfähigkeit des Bultmannschen Ansatzes

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Diese Existenz umfasst nicht nur die Anwesenheit des Menschen in der Geschichte, sondern umfasst auch die Notwendigkeit der Entscheidung des Menschen für seine Geschichte. Konfrontiert mit einem fremden Seinsverständnis wird der Mensch sich immer zu diesem verhalten. Dies beschreibt Bultmann als Akt der Entscheidung. Und genau in dieser Entscheidungssituation wird auch der Mensch von heute existentiell getroffen.76 Der Mensch hat die Möglichkeit »sein Selbst zu übernehmen« und ganz bewusst seine Zukunft zu gestalten.77 Der Mensch nimmt sich so als Teil der Geschichte, das menschliche Leben selbst als Geschichte, wahr. So entwickelt er ein Gefühl der Verantwortung für die Geschichte und deren Zukunft. Indem der Mensch sich entscheidet, aktiv an der Gestaltung der Zukunft teilzuhaben, übernimmt er Verantwortung und existiert eigentlich.78 Bleibt der Mensch dagegen unentschlossen oder entscheidet sich, keine Verantwortung für sein Leben zu übernehmen und damit in der Vergangenheit verhaftet zu bleiben, existiert er uneigentlich:79 »In der uneigentlichen Existenz versteht sich der Mensch aus der verfügbaren Welt, in der eigentlichen Existenz versteht er sich aus der unverfügbaren Zukunft.«80 Mythisch gesprochen akzeptiert er, dass Mächte über ihn herrschen. Innerhalb seiner Eigentlichkeit aber ist der Mensch zugleich offen für seine Zukunft. Er ergreift immer wieder neu seine Freiheit und sieht seine eigene Wirklichkeit nie als abgeschlossen. Indem die Bibel dem Menschen von heute dieses alternative Seinsverständnis und damit die Möglichkeit zur Entscheidung präsentiert, ist sie dem Menschen von heute Anrede. Ich gehe nicht davon aus, dass Bultmann zum Ziel hatte, eine eigene Bibelhermeneutik zu entwickeln, die anderen Regeln folgt als eine allgemeine Hermeneutik.81 In der Beschäftigung mit der Entmythologisierung fragt Bultmann »nach der Begrifflichkeit […], in der die Intention der biblischen Aussagen zum Ausdruck gebracht werden kann, – nach einer Sprache, in der Verkündigung wie Glaube unmißverständlich reden können.«82 So nutzt Bultmann die existentiale Interpretation. Er befragt die neutestamentliche Verkündigung nach dem in ihr

76 77 78 79 80 81 82

hängt nicht von dem von Bultmann präferierten Seinsverständnis ab. Die existentiale Interpretation fragt gerade nach dem Seinsverständnis, das jedem Hörer und Leser einzeln entgegen tritt. Vgl. Jung, Karsten: Homiletische Hermeneutik, 203. Bultmann, Rudolf: GuV IV., 129 – 130 und Hübner, Hans: Was ist existentiale Interpretation?, 242. Bultmann, Rudolf: GuV IV., 129. Ebd., 129 – 130. Ebd., 130. Ebd., 131. Anders Schenk, Wolfgang: Hermeneutik III. Neues Testament; in: TRE Bd. 15, 144 – 150, 144 u. 146: Schenk geht davon aus, dass Bultmanns Votum für das Vorverständnis eines Lesers die Bibelhermeneutik von einer allgemeinen Hermeneutik abrückt. Bultmann, Rudolf: KuM II., 188.

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enthaltenen Existenzverständnis, um damit einen Zugang zur Botschaft des Textes zu erhalten.83 Bultmann versteht den Text zwar vom Menschen aus, fragt damit aber nach der tieferen Wahrheit des Textes selbst. Man könnte Bultmann nun vorwerfen, die biblische Botschaft ausschließlich auf ihre Anthropologie beschränkt zu haben. Indem Bultmann mit Wilhelm Herrmann definiert »Von Gott können wir nicht sagen, wie er an sich ist, sondern nur, was er an uns tut«84, macht er deutlich, dass die Frage nach Gott immer nur über den Umweg der Frage nach dem Menschen möglich ist. Bultmanns Ansatz der Entmythologisierung oder positiv ausgedrückt der existentialen Interpretation macht damit den Mythos nicht nur Menschen zur Zeit Bultmanns verständlich. Im Grunde kann sie unabhängig vom Seinsverständnis des Auslegenden angewendet werden. Solange dieser das in der neutestamentlichen Verkündigung gefundene Seinsverständnis auf seine aktuelle Situation und sein eigenes Welt- und Selbstverständnis bezieht, kann die neutestamentliche Verkündigung ihm auch heute zur Anrede werden.85 Bultmann gelingt es auf diese Weise, dem Menschen von heute aufzuzeigen, dass Kritik am Neuen Testament nötig ist. Gleichzeitig konnte er nachweisen, dass ein reines Streichen unverständlicher Aussagen nicht zielführend ist. Er macht deutlich, dass der Mythos keine objektiven Fakten, sondern ein vorgefundenes Existenzverständnis beschreiben wollte. Indem der Leser dieses auf sich bezieht, zeigt es über die Welt hinaus auf Gott. Durch diese Perspektive erst wird der Mensch von heute als Leser und Hörer in eine Entscheidungssituation gerufen.86

2.3

Gerd Theißen – »Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik«87

Die neutestamentliche Verkündigung wurde im vorherigen Abschnitt als christliche Anrede verstanden. Mit Theißen betrachten wir sie nun auch als allgemein religiöses Buch, das lehrt, Glaubenssätze zu sprechen. Aus der Notwendigkeit der Kritik entwickelt Gerd Theißen drei Kriterien, denen eine moderne Hermeneutik nach wie vor Stand halten muss. Sie dienen zugleich auch als 83 Vgl. Hans Hübner, Was ist existentiale Interpretation?, 243 f. Zum Hintergrund des Hermeneutikbegriffs Bultmanns vgl. Ebd., 233 – 235. 84 Bultmann, Rudolf: KuM II, 185. 85 Schmithals, Walter : Bultmann, Rudolf (1884 – 1976); in: TRE Bd. 7, 387 – 396, 393. 86 Die Anwendung der Methode durch Rudolf Bultmann wird an dieser Stelle ausgespart. Den Schülerinnen und Schülern sollen die Ansätze Bultmanns und Theißens nicht als fertige Lösungen, sondern als Hilfen auf der Suche nach eigenem Verstehen der Bibel angeboten werden. So geht es in erster Linie darum, die Fragestellungen und Methoden Bultmanns und Theißens zu verstehen. Eine Anwendung derselben liegt in der Hand der Schüler. 87 Theißen, Gerd: Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik. Der vierdimensionale Sinn der Bibel; in: EvTh 72 (2012), 291 – 306.

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Grundlage dafür, die religionsdidaktische Aufgabe genauer wahrzunehmen, der sich dieser Entwurf einer Unterrichtseinheit stellt. »Die Bibel soll so interpretiert werden, dass sie ihren jüdischen Charakter behält und Toleranz fördert.«88 »Bibelauslegung muss mit unserem Wissen vereinbar sein. Sie muss kritisch sein.«89 »Sie muss der Autonomie und Mündigkeit des Menschen gerecht werden und sollte ethische Impulse der Bibel nicht vernachlässigen.«90

Anders als die von ihm so genannten exorzistischen Hermeneutikansätze der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts»91 sieht Theißen die Zukunft in einer pluralistischen Bibelhermeneutik, die sich nicht auf ein einzelnes Thema beschränkt. Dieser Anspruch liegt in Theißens Religionsverständnis begründet. »Religionen sind ›Zeichensprachen‹ oder ›Zeichensysteme‹ mit vier Dimensionen, die man niemals auf ein Thema reduzieren kann: (1) Religionen kodieren erstens in ihren Texten Erfahrungen von Transzendenz. (2) Sie begründen sich zweitens durch einen Mythos. (3) Sie gestalten drittens durch ihr Ethos eine Lebensform. (4) Sie ermöglichen viertens durch Riten Gemeinschaft. Die Zeichensprache der Religion hat wie jede Sprache eine ›Grammatik‹ mit Gebrauchsregeln für ihre Zeichen«.92

Er bestimmt auf diesem Hintergrund dann Religion folgendermaßen: »Religionen sind geschichtliche Zeichensysteme, die menschlichen Gruppen das Bewusstsein ermöglichen, durch Übereinstimmung mit einer letztgültigen Realität Lebensgewinn zu erzielen.«93

Eine kritische Religionshermeneutik muss diese vier Aspekte, die jeder Religion zu Grunde liegen, sowohl kritisieren als auch wertschätzen. Auf ganz eigene Art und Weise füllt dabei die Bibel diese allgemein religiösen Grundmotive. Theißen vergleicht diese Motive und Axiome mit der Grammatik einer Sprache, die gelernt werden muss, um die Sprache richtig anwenden zu können.94 Die Aufgabe der Hermeneutik beschreibt er dabei als

88 89 90 91

Ebd., 292. Ebd. Ebd. Ebd., 291 – 292. Gerd Theißen nennt hier die Ansätze der Deutschen Christen (»These, das Jüdische müsse aus dem Christentum verschwinden« Ebd., 292), die Entmythologisierung Bultmanns und die nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe bei Bultmann. 92 Theißen, Gerd: Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik., 293. Ähnlich: Theißen, Gerd: Exegese und Homiletik, 56. Kursivschreibung im Original. 93 Gerd Theißen: Exegese und Homiletik., 56. 94 Theißen, Gerd: Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik., 293.

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»Werben darum, dass man sich dieser Welt anvertraut, sich in sie hineinbegibt, auch wenn es für viele eine fremde Welt ist.«95

Eine besondere Rolle kommt dabei den gesprochenen und geschriebenen Texten jeder Religion zu: »die kanonischen Texte einer Religion sind Texte, aus denen die Zeichensprache einer Religion immer wieder neu rekonstruiert werden kann und aus der sich Maßstäbe für alle anderen Ausdrucksformen finden.«96 Erst wenn auch die christliche Religion als ein Kontext verstanden ist, in dem eine eigene religiöse Sprache gesprochen wird, kann sie auch kritisiert werden. Diese Sprache gilt es zunächst zu entschlüsseln, um sie dann – in Grenzen – kritisieren zu können. Folgerichtig beschreibt Gerd Theißen das Christentum als eine »semiotische Kathedrale«97, die aus zwei Axiomen und verschiedenen Grundmotiven erbaut wurde.98 »Die biblische Religion ist ein geschichtlich […] entstandenes Zeichensystem, das Juden und Christen das Bewusstsein gibt, den Dialog mit dem einen und einzigen Gott aufzunehmen und dadurch Lebensgewinn zu erzielen.«99 »Zwei Grundaxiome lassen sich m. E. klar erkennen: 1. der monotheistische Glauben an den einen und einzigen Gott und 2. der Erlöserglauben, der durch Jesus allen Menschen eine positive Beziehung zu diesem Gott anbietet.«100 Die zwischen diesen Polen entstehende »Spannung kann dadurch gelöst werden, dass der Erlöserglaube als Überwindung einer Krise des monotheistischen Gottesglaubens interpretiert wird, wenn also der Erlöserglaube eine Krise des Gottesglaubens überwindet.«101 Auf diese zwei Grundaxiome bauen alle biblischen Motive auf und formulieren diese aus.102 Von einem Roman unterscheiden sich dabei religiöse Texte, dadurch dass diese nicht nur ein in sich schlüssiges Gebilde schaffen, sondern über die Textebene hinaus auf die Wirklichkeit des Menschen zeigen, zu dem sie sprechen. Im wörtlichen Schriftsinn der Bibel entdeckt Theißen die vier als allge95 96 97 98

99 100 101 102

Ebd. Theißen, Gerd: Exegese und Homiletik., 56. Theißen, Gerd: Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik., 293. Theißen, Gerd: Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik., 294 – 296. Als Axiome bezeichnet Theißen das Alte Testament mit der »Offenbarung des einen und einzigen Gottes« (Ebd., 294) und das Neue Testament mit dem »Glauben an Christus« (Ebd.). Daneben nennt er eine Auswahl von Grundmotiven: Diese sind »Transzendenzerfahrungen«, »Kreaturerfahrungen«, »Sinnerfahrungen«, »Gewissenserfahrungen«. (Ebd., 295) Es handelt sich um allgemein religiöse Grunderfahrungen, welche »in den biblischen Grundmotiven kodiert« werden. (Ebd.) Theißen, Gerd: Exegese und Homiletik., 56. Ebd., 57. Theißen, Gerd: Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik., 294. Kursivschreibung im Original. Vgl. Theißen, Gerd, Exegese und Homiletik., S. 57.

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mein religiös beschriebenen Dimensionen: Transzendenz, Geschichte, Lebensbezug und Gemeinschaft. Diese werden biblisch als Motive verarbeitet und können den genannten religiösen Dimensionen zugeordnet werden.103 Dabei hält Gerd Theißen fest: »Diese Grundmotive erhalten sich nur deshalb in der Geschichte, weil sie immer wieder religiöse Erfahrungen möglich machen und durch Erfahrungen bestätigt werden.«104 Zum ersten handelt es sich hier um den »Transzendenzbezug« der Schrift.105 »Sie [die semiotische Kathedrale] zeugt von dem einem und einzigen Gott, der im Alten Testament entdeckt und erkannt wurde.«106 Es handelt sich hier um die Kodierung religiöser Erfahrung.107 Als allgemein religiöse wurde diese Erfahrung von verschiedensten Religionskritikern als Illusion kritisiert.108 Theißen fragt darum »Gibt es Erfahrungen, die der Religionskritik standhalten?«109 Mit Wittgenstein spricht Theißen von »drei religiöse[n] Grunderfahrungen […], die, nach seiner [Wittgensteins] Meinung, der Religionskritik entzogen sind.«110 »Einmal das Staunen über die Existenz der Welt, zweitens die Erfahrung einer absoluten Sicherheit (ich [Gerd Theißen] würde sagen: eines unbedingten Vertrauens) und drittens die Erfahrung von Schuld (ich [Gerd Theißen] würde sagen: von Verantwortung).«111 Gleichzeitig sieht auch Theißen die Notwendigkeit der Kritik an der mythischen Ausdrucksweise. Für ihn sind »mythische Bilder, Symbole Gleichnisse« unverzichtbar »um solche Erfahrungen sozial mitzuteilen«.112 Drei Aspekte des Redens von Gott stellt Theißen dabei heraus: Die Rede von »Gott dem Schöpfer«113, »Gott dem Vater (hin und wieder auch von Gott als Mutter)«114 und »Gott als Herrscher, Gesetzgeber und Richter«115. Sie drücken die religiösen Grunderfahrungen der Menschen aus. Diese Versprachlichung als Gottesbilder dient in erster Linie dazu, die religiösen Grunderfahrungen festzuhalten und mitteilbar zu machen.116 Die zweite allgemein religiöse Dimension, die Theißen auch in der Bibel 103 Vgl. Theißen, Gerd: Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik., 295 – 296 und Gerd Theißen: Exegese und Homiletik, 57. 104 Theißen, Gerd: Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik., 296. 105 Ebd., 293. Kursivschreibung im Original. 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Ebd., 294. 109 Ebd., 297. 110 Ebd. 111 Ebd. 112 Ebd. 113 Ebd., 298. 114 Ebd. 115 Ebd. 116 Ebd.

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vorfindet, ist der »Geschichtsbezug in mythischer Form. Sie [die zweite Dimension einer theologischen Hermeneutik] bezieht sich auf die ganze Geschichte Israels und in deren Mitte auf Jesus von Nazareth als ein Stück Geschichte.«117 Klassischer Weise wurde dieser Aspekt in der Historischen Kritik hinterfragt.118 In dieser Dimension gehen »Geschichte und Mythos« immer wieder ineinander über.119 Problematisch wird dies vor allem insofern, dass das mythische Weltbild dem modernen widerspricht.120 Theißen löst diese Problematik, indem er aufzeigt, dass die religiösen Grunderfahrungen in mythischer Sprache immer wieder auch die Grenzen der menschlichen Erfahrung überschreiten können.121 »Erst durch diese Transzendierung aller Seinsbereiche können wir die religiöse Grunderfahrung adäquat beschreiben; das Staunen darüber, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts.«122 Er betont »Der Mythos ist für uns eine menschlich-, allzu menschliche Deutung von Geschichte. Keiner ist verpflichtet, ihn wörtlich für wahr zu halten.«123 »Der historische Jesus macht durch Bilder und Gleichnisse unsere Alltagswelt zu einem Schleier, durch den Gott transparent wird, der kerygmatische Christus zerreißt diesen Schleier.«124 Nach Theißen ist die Kombination aus historischer Gestalt und Kerygma notwendig. Nur so kann die Grenze des menschlichen Lebens aufgenommen und überschritten werden. In der mythischen Sprache kann er als der ganz andere begegnen.125 Nur so gelingt es der Bibel »sich zum Ganzen der Wirklichkeit zu verhalten.«126 Die dritte religiöse Dimension ist der »Lebensbezug durch Gebote und Mahnungen. Sie [die dritte religiöse Dimension] will das ganze Leben durch ein bestimmtes Ethos durchdringen.«127 Diese kann nach Theißen dazu dienen, das »Begründungsdefizit« der »moderne[n] säkulare[n] Ethik« zu füllen.128 »Zwar kann die Religion keine Letztbegründung liefern, wohl aber lassen religiöse Erfahrungen den Mangel an Letztbegründung einer Ethik leichter ertragen. Man stößt in ihnen nämlich auf etwas, das in sich wertvoll ist.«129 Den religiösen Grunderfahrungen entsprechen die von Theißen aufgezeigten religiösen Im117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129

Ebd., 293. Kursivschreibung im Original. Ebd., 294. Ebd., 298. Ebd. Ebd., 298 f. Ebd., 299. Ebd., 298 ähnlich auch ebd., 300. Ebd., 300. Ebd. Ebd. Ebd., 293 ähnlich ebd., 301. Ebd., 301. Ebd.

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perative.130 Gemeinsam ist den religiösen Grunderfahrungen dabei, dass »sich alle als Resonanzerfahrungen deuten« lassen.131 »Sie basieren auf einer Verwandtschaft zwischen uns und der ganzen Wirklichkeit.«132 Die letzte von Theißen aufgezeigte religiöse Dimension ist die der »Gemeinschaft«. Diese wird durch Riten gestiftet.133 Die Bibel ist so »die normative Grundlage für eine Religion, d. h. aus ihr wird das Zeichensystem einer Religion immer wieder neu rekonstruiert.«134 »Im Alten Testament [bildete sie] das eine Volk Israel, im Neuen Testament die Kirche in allen Völkern.«135 Die Bibel zeigt hier von sich weg, nicht nur auf die eigene Religion, sondern auf die Gesellschaft als Ganze.136 An dieser Stelle führt Theißen aus, dass der Bibel dabei vor allem eine Gemeinschaft stiftende Funktion in Bezug auf die Monotheistischen Religionen zukommt.137 Sowohl der Lebens- als auch der Gemeinschaftsbezug der Religion muss dabei von der Ideologiekritik kritisch hinterfragt werden. »Sie fragt, ob sie nicht verschleierte Machtausübung und sozial schädlich sei.«138 In Theißens Konzept drückt sich eine starke Wertschätzung der Bibel aus. Gleichzeitig wird diese in den Kanon der Religionen eingeordnet und ihrem Thron enthoben. Die Bibel ist damit eine semiotische Kathedrale unter vielen, die dennoch auf ihre bestimmte Weise ein ganz bestimmtes Bild von Gott zeichnet und viele Gläubige in einer Gemeinschaft eint.

3.

Didaktischer Übergang

In Hinblick auf die Frage nach angemessener Hermeneutik hilft der Ansatz Theißens, verständlich zu machen, dass die Bibel – und andere religiöse Schriften – eine bestimmte Sprache nutzen. Den Schülerinnen und Schülern wird diese Sprache als Möglichkeit aufgezeigt, die eigenen Erfahrungen formulieren zu lernen und ihre Fragen in dieser Sprache zu stellen. Sie müssen nicht mehr nur wiederholen, sondern können ihre eigenen Erfahrungen in biblischer Sprache versprachlichen.139 Dies ist die unbedingte Voraussetzung für die Beschäftigung mit einem Bibeltext. 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139

Ebd., 301 f. Ebd., 302. Ebd. Ebd., 293. Kursivschreibung im Original. Ebd., 303. Ebd., 293. Ebd., 293 und 303. Ebd., 303 – 305. Ebd., 294. Theißen, Gerd: Exegese und Homiletik, 59.

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Gleichzeitig dürfen die Schülerinnen und Schüler nicht darüber im Unklaren gelassen werden, dass die biblische Sprache auch Probleme mit sich bringt. Mit Bultmann kann ihnen aufgezeigt werden, weshalb die Beschäftigung mit biblischen Geschichten oft erst einmal zu Verwirrung führt. Die biblische Sprache ist durchzogen von mythischen Bildern und damit auch von einem Weltbild, das der Mensch von heute nicht mehr anerkennen kann. Ausgehend von Bultmanns Entmythologisierung wird das Verhältnis des modernen Menschen zur Bibel deutlich. Die neutestamentliche Verkündigung muss so interpretiert werden, dass sie zu einer Anrede für den Menschen von heute wird. Von dort aus geht es aber noch weiter. Auch im Glauben darf die Suche nach angemessenem Verständnis und treffender Ausdrucksweise nicht enden. Gerade hier soll den Schülern die Bibel als Sprachschatz angeboten werden. Dieser dient dazu, die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden, aber auch neue Ausdrucksweisen für altbekannte Überzeugungen zu finden oder aber auch diese neu zu erfassen.

3.1

Ausrichtung des Unterrichts

Ich gehe davon aus, dass die Schüler die Struktur der Bibel schon in anderen religiösen Bildungsprozessen kennengelernt haben. Dies kann durch vorhergehende Schuljahre geleistet worden sein. Unter Umständen wurden die Schüler auch schon durch kirchliche Sozialisation mit dem Sprachraum christlicher Religion vertraut gemacht. Durch die nun explizite Beschäftigung mit der Hermeneutik von Gerd Theißen werden sie befähigt, den darin kennengelernten Sprachraum genauer zu fassen und auf seine inneren Zusammenhänge hin zu befragen. Die Schülerinnen und Schülern erschließt sich die Kompetenz, den Sprachraum der Bibel zu hinterfragen und sich in ihm neu und kritisch bewegen zu lernen. Die Hauptperspektive eines Unterrichts, der an Bultmann und Theißen ausgerichtet ist, ist die Bibel. Darüber hinaus wird die Erfahrung der Schüler eine wichtige Rolle spielen. Der Unterricht soll dabei sowohl auf Mitteilung bzw. Vermittlung als auch auf Selbsttätigkeit ausgerichtet sein. Die Ansätze Bultmanns wie auch Theißens bleiben leer ohne die Begegnung mit der Bibel. Durch die Beschäftigung mit Theißens Überlegungen werden die Schüler befähigt, die Bibel als Sprachraum wahrzunehmen. Die Reflexion der existentialen Interpretation Bultmanns bietet den Schülern dabei eine Möglichkeit, nach der in den Texten liegenden Wahrheit zu fragen. So wird die Bibel als wichtigstes Zeugnis des Christentums erlebt und gleichzeitig kritisiert. Die Schüler lernen, dass eine Wertschätzung der Bibel einerseits und eine Infragestellung derselben andererseits sich keineswegs ausschließen müssen.

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Die Bibel bietet den Lernenden einen Anhaltspunkt, an ihre eigenen religiösen Erfahrungen anzuknüpfen und diese auszudrücken. Diese Erfahrungen können in der Verwendung der biblischen Sprache leichter formuliert und mit anderen, fremden Bildern illustriert werden. Neben der Vermittlung des Stoffwissens kommt es in dieser Unterrichtseinheit auch zur Mitteilung von Religion. Ganz explizit geschieht dies, wenn mit Theißen die Bibel als religiöses Buch wahrgenommen wird, und implizit, wenn die Schüler die Verkündigung der Bibel vielleicht wirklich als Anrede wahrnehmen. Gerade die Beschäftigung mit Theißen soll die Schüler befähigen, sich selbstständig im Sprachraum der Bibel und damit der christlichen Religion zu bewegen. Da in dieser Unterrichtseinheit immer wieder die (religiöse) Identität der Schülerinnen und Schüler angesprochen werden soll, sollte auf ausreichende Ruhemomente geachtet werden. Die Schüler begegnen der mythischen Identität der Bibel, den Glaubensaussagen der Mitschülerinnen und Mitschüler und den eigenen Gefühlen. Der Unterricht sollte deshalb in großer Offenheit gestaltet werden, sodass die Lernenden immer wieder die Möglichkeit haben, sich zurückzuziehen. Die Ausrichtung auf die hermeneutische Kompetenz macht dabei noch einmal neu bewusst, in welchem Sprachraum sich die Schüler im religiösen Lernen bewegen. Durch diesen Unterrichtsentwurf lernen sie nicht nur die Sprache der Bibel zu verstehen, sie lernen sie auch anzuwenden und sich damit in religiösen Bildungsprozessen zu bewegen. Es kann dadurch geschehen, dass mythische Aussagen wie Vokabeln Einzug in die Sprache der Schüler finden. Solange diese Aussagen mit Inhalt gefüllt werden, ist gegen eine solche Übernahme nichts einzuwenden. Ein Zitat Bultmanns soll hier noch einmal beleuchten, was der Grundansatz des vorliegenden Unterrichtsentwurfs ist: »Hier schuldet der Theologe und Prediger sich und der Gemeinde und denen, die er für die Gemeinde gewinnen will, absolute Klarheit und Sauberkeit. Die Predigt darf die Hörer nicht darüber im Unklaren lassen, was sie nun eigentlich für wahr zu halten haben und was nicht. Vor allem darf sie den Hörer auch nicht darüber im Unklaren lassen, was der Prediger selbst heimlich eliminiert, und auch er selbst darf darüber nicht im Unklaren sein.«140

Dieser Unterrichtsentwurf sollte in der Offenheit gehalten werden, dass Schülerinnen und Schüler in der Begegnung mit der Bibel, sich Glaube neu zu erschließen vermag. Gerade dann ist der Aufruf zu »Klarheit und Sauberkeit« umso wichtiger. Ich denke, es ist möglich, Schülerinnen und Schüler zu befä140 Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie., 21.

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185

higen, in »Klarheit und Sauberkeit« zu argumentieren und zu diskutieren und sie dabei vor allem selbst »darüber nicht im Unklaren [zu] lassen«, was sie selbst »heimlich« eliminieren. Mindestens genauso wichtig ist es, dass sich auch der Lehrende immer wieder bewusst macht, wo er Aussagen nicht versteht und sie deshalb »heimlich eliminert«141.

3.2

Die einzelnen Lernschritte

Die Unterrichtseinheit will die hermeneutische Kompetenz der Lernenden stärken. Dazu konfrontiere ich sie mit verschiedensten Aussagen der Bibel, frage nach ihren Erfahrungen mit widersprüchlichen Weltbildern und gehe damit über zur Reflexion des Entmythologisierungsprogramms von Bultmann. Christliche Religion wird mit Gerd Theißen als geschichtlich gewachsenes Zeichensystem vorgestellt, dessen Grundaxiome und Grundmotive dargestellt werden können. Der Ansatz schließt den Schülerinnen und Schülern die Bibel auf und schafft die Möglichkeit, die Bibel auch für sich als Anrede verstehen zu lernen beziehungsweise Erfahrungen mit biblischen Texten zu formulieren. Den Schülerinnen und Schülern wird so ein eigenes erstes Verstehen der Bibel zugemutet, sie werden motiviert, die Bibel auch in ihrer Fremdheit wahrzunehmen und schließlich herausgefordert, ihr gewonnenes Verständnis eines Textes zu artikulieren. Sie werden durch diesen Weg befähigt, ihr Verhalten und Verständnis zu reflektieren (Personale Kompetenz) und »Erfahrungen und Vorstellungen verständlich zu machen, anderen zuzuhören, Rückmeldungen aufzunehmen, unterschiedliche Sichtweisen aufeinander zu beziehen und gemeinsam nach Handlungsmöglichkeiten zu suchen« (Kommunikative Kompetenz).142 Da die Beschäftigung mit Bultmann und Theißen sehr textlastig werden wird, bietet es sich an, die erste Begegnung mit der Bibel recht frei zu gestalten. In offener Runde sollen die Schülerinnen und Schüler deshalb mit verschiedensten Bibelzitaten konfrontiert werden. Ebenso sollte die eigene Beschäftigung mit einem Bibeltext, in der es darum geht, diesen Text als Anrede wirken zu lassen, recht offen gestaltet sein. Diese beiden Stunden geben den Lernenden die Möglichkeit, sich frei im Thema zu bewegen und im geschützten Raum des Unterrichts christliche Religion zu erfahren.

141 Ebd. 142 Vgl. Bildungsplan Baden-Württemberg., 25.

186 3.3

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Stoffverteilungsplan

Die Unterrichtseinheit »Die Wirklichkeit der Bibel und die Schülerinnen und Schüler von heute« soll 6 Stunden bei zweistündigem Unterricht der Kursstufe einnehmen. Den roten Faden der Einheit bietet dabei das Problemfeld der Hermeneutik. Rudolf Bultmanns Überlegungen leiten den Blick des Menschen auf Gott. Eine anschließende Einheit, die die existentiale Interpretation an einen Text zu Jesus ausprobiert und also interpretiert, leitet dann über zum Thema »Jesus, der Christus(?)«.

3.3.1 Stunden 1 und 2: Zugang: Kann der Bibel noch geglaubt werden? In einem ersten Schritt sollen die Schülerinnen und Schüler verschiedenen verständlichen und unverständlichen Aussagen begegnen. Den Schülerinnen und Schülern wird hier eine Auswahl von Bibelzitaten präsentiert. An die Schülerinnen und Schüler ergeht die Aufgabe, sich je einen Satz zu suchen, der ihnen zusagt, und einen, den sie ablehnen. Denkbar ist, dass die Bibelzitate nach Zustimmung und Ablehnung sortiert an der Tafel gesammelt werden. Die Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert zu beschreiben, weshalb sie einen Text so oder so bewerten. Sie sollen formulieren, welche Probleme für sie aus dem Gegenüber ihres eigenen Weltbildes und dem Weltbild des Neuen Testaments entstehen. Sie haben hier die Möglichkeit von eigenen Erfahrungen dieses Widerspruchs zu berichten. Denkbar sind hier zum Beispiel auch Erzählungen von Gebeten am Krankenbett oder ähnlichem. Hier kann der Gegensatz zwischen wissenschaftlich geprägtem Weltbild und dem eigenen Glauben sehr deutlich werden. Auf diese eigenen Erfahrungen hin kann Bultmanns Beschreibung des neutestamentlichen Weltbildes als mythisches (vor-)gelesen werden. Die Schüler werden aufgefordert zu reflektieren, wie Glaube dennoch möglich bleibt. Das Gespräch wird dann durch den Lehrenden auf das Gegenüber von mythischen und kerygmatischen Aussagen in der Bibel gelenkt. 3.3.2 Stunden 3 – 4: Aufenthalt: Die Existentiale Interpretation Bultmanns als Entmythologisierungsmethode. Noch aus der letzten Stunde ist den Schülerinnen und Schülern das Gegenüber von neutestamentlichem Weltbild und dem heutigen präsent. Eine Aufnahme dieses Gedankens kann deshalb mit einer bildlichen Darstellung des neutestamentlichen Weltbildes zu Beginn der Stunde kurz gestaltet werden. Im Mittelpunkt dieser Stunde steht Rudolf Bultmanns Konzept der existentialen Inter-

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pretation. Auszüge von Bultmanns Aufsatz »Zum Problem der Entmythologisierung«143 dienen dabei als Gesprächsgrundlage. Ziel der Stunde ist es, den Schülern die existentiale Interpretation als Methode vorzustellen, mit der die Bibel nach einer tieferen Wahrheit befragt werden kann. Mit Bultmann wird das mythische Denken dem wissenschaftlichen gegenübergestellt. Von dort aus wird die existentiale Interpretation als Interpretation vorgestellt, die nach dem im Mythos angelegten Existenzverständnis fragt und versucht, das angebotene Existenzverständnis als Anrede zu verstehen. Zum Abschluss der Stunde soll Bultmann noch in den Bereich der Hermeneutik eingeordnet werden. Dieser Teil kann im Zweifel als Hausaufgabe aufgegeben werden.

3.3.3 Stunde 5 – 6: Aufenthalt II und Abschluss: Das Neue Testament will uns Anrede sein. (Existentiale Interpretation nach Rudolf Bultmann) Die Gedanken Theißens können in kreativer Weise durch Lesung eines Gedichtes von Theißen eingeleitet werden. Diese nehmen die Grundgedanken Theißens auf und illustrieren das Religionsverständnis Theißens auf ästhetische Art und Weise. Eine breite Auswahl findet sich im Gedichtband »Vom wiedergefundenen Paradies«.144 Ausgehend vom Ende der letzten Stunde beziehungsweise der Hausaufgaben werden sowohl Theißen als auch Bultmann der Hermeneutik zugeordnet. Sodann wird mit Theißen das Christentum als eigene religiöse Zeichenwelt vorgestellt. Den Schülerinnen und Schülern wird so bewusst, dass der Ansatz Bultmanns nur eine Methode ist, die Bibel zu interpretieren und auszulegen. Durch Theißen wird den Schülerinnen und Schülern deutlich gemacht, dass religiöse Rede aus einem Schatz von tradierten Formulierungen und Redewendungen schöpft. Dieser Schatz wird dadurch auch den Schülern als Unterstützung auf der Suche nach religiösen Ausdrucksformen angeboten. In der zweiten Unterrichtshälfte versuchen die Schülerinnen und Schüler, die kennengelernten Methoden auf einen Bibeltext anzuwenden. Hier können einige ausgewählte Texte der ersten Stunde wieder aufgenommen werden. Daneben haben die Schülerinnen und Schüler natürlich die Möglichkeit auch eigene Texte anzubringen. Die Aufgabenstellung könnte lauten: Welche Anrede begegnet mir in diesem Text? Die Form der Ergebnisse ist dabei frei. Möglich sind ausformulierte Texte, Briefe, Gedichte. Da die Unterrichtseinheit auf sprachliches Verstehen abzielt, 143 Bultmann, Rudolf: KuM II., 179 – 190. 144 Theißen, Gerd: Vom wiedergefundenen Paradies. Meditative Texte, Stuttgart 2005.

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sollten auch die Ergebnisse sprachlich formuliert werden. Künstlerische Arbeiten sind sicher reizvoll, hier aber nicht erstrebt. Am Ende der Stunde sollte die Möglichkeit geboten werden, die Texte vorzustellen. Denkbar ist eine Darbietung im Plenum, eine Ausstellung oder auch die Sammlung in einer gemeinsamen Mappe. 3.3.4 Ausblick auf die anschließende Unterrichtseinheit An diese Unterrichtseinheit schließt sich das Thema »Jesus, der Christus?« an. Es bietet sich an, hier eine Unterrichtseinheit zu konzipieren, die den Ansatz der existentialen Interpretation aufnimmt und durch Informationen zum historischen Jesus ergänzt. Es ist zum Beispiel denkbar, eine Gruppenarbeit über mehrere Stunden zu gestalten, in deren Rahmen die Schülerinnen und Schüler einen Kerntext z. B. des Johannesevangeliums oder der Gleichnisreden Jesu bearbeiten. Dabei könnte sowohl die Historisch Kritische Exegese vertieft als auch Wissen zum Zusammenhang von historischem und kerygmatischem Jesus vermittelt werden.

3.4

Materialen

3.4.1 Stunde 1 – 2 Für alle Schülerinnen und Schüler sollten je mindestens zwei Bibelzitate vorbereitet sein. Die Zitate sollten der gesamten Bibel entnommen sein und sich nicht nur auf das Neue Testament beschränken. Wichtig ist hier eine bunte Mischung aus gut verständlichen Aussagen wie »König Balsazar machte ein herrliches Mahl für seine tausend Mächtigen und soff sich voll mit ihnen.«145, klar falschen Aussagen wie »Nur diese dürft ihr nicht essen von dem, was wiederkäut und gespaltene Klauen hat: […] den Hasen, denn er ist auch ein Wiederkäuer, hat aber keine durchgespaltenen Klauen; darum soll er euch unrein sein.«146 und Aussagen mit Wirklichkeitsgehalt, die zum Nachdenken anregen »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.«147 oder auch »[…] Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!«148. Auch Aussagen wie »Das ist aber Abrahams

145 Daniel 5, 1. Der deutsche Bibeltext wird zitiert nach Lutherbibel Standardausgabe revidierte Fassung von 1984., durchges. Ausg. in neuer Rechtschreibung, Stuttgart 1999. 146 Levitikus 11, 4.6. 147 Genesis 1, 1. 148 Matthäus 16, 16.

Urteilen lernen mit und an der Heiligen Schrift

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Alter, das er erreicht hat: hundertundfünfundsiebzig Jahre.«149 sind hier gut denkbar. Dazu werden ausreichend Magnete benötigt, um die Zitate an der Tafel zu befestigen. Alternativ könnten die Zitate auch auf zwei Tischen geordnet werden. Das Ergebnis könnte durch ein Foto gesichert werden. Für diese Stunde könnte außerdem ein Ausschnitt des ersten Kapitels von Bultmanns Neues Testament und Mythologie150 vorbereitet werden. 3.4.2 Stunde 3 – 4 Als Einstieg in die Stunde dient das Triptychon »Der Garten der Lüste« von Hieronymus Bosch.151 Weiterhin liegen die Arbeitsblätter »Die Frage nach dem Existenzverständnis im Entmythologisierungsprogramm Rudolf Bultmanns«152 und »Entmythologisierung, Hermeneutik und Wissenschaft bei Rudolf Bultmann«153 vor. 3.4.3 Stunde 5 – 6 Ein Gedicht Theißens154 liegt vorbereitet als Overhead-Folie vor. Zur Lektüre Theißens eignet sich der Text »Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik« die Seiten 291 – 293.155 Für die freie Arbeit wird davon ausgegangen, dass alle Schülerinnen und Schüler Papier und Stifte dabei haben. Einige schöne Buntstifte und gutes Papier mitzubringen, ist dennoch zu empfehlen. Für die anschließende Präsentation sollten Plakate und Filzstifte mitgebracht werden. Weiterhin sollten einige Bibeln bereitgestellt werden.

4.

Hinweis auf das Material für diese Unterrichtseinheit

– Bultmann, Rudolf: Zum Problem der Entmythologisierung; in: KuM Bd. II., 179 – 190). Für den RU werden insbesondere die Seiten 180, 181 – 182 und 183 – 184. Mit folgenden Fragen kann dieser Abschnitt bearbeitet werden: – Unterscheiden Sie Mythos und Mythologie? – Das Weltbild des Mythos lässt sich folgendermaßen beschreiben … 149 Genesis 25, 7. 150 Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie., 12 – 13. 151 Abzurufen http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/imago-a0e73639a177d4 66ad4ddbce8e3cd67247d55676 152 Bultmann, Rudolf: KuM II, 180, 181 – 182 und 183 – 184. 153 Bultmann, Rudolf: KuM II, 188, 189, 190. 154 z. B. aus Theißen, Gerd: Vom wiedergefundenen Paradies. 155 Theißen, Gerd: Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik, 291 – 293.

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– Wie unterscheidet davon das naturwissenschaftliche Weltbild? – Entmythologisierung des Neuen Testaments ist notwendig, weil …? – Bultmann, Rudolf: Zum Problem der Entmythologisierung; in: KuM Bd. II., 179 – 190. Für den RU werden insbesondere die Seiten 188, 189 und 190 aufgenommen. Mit folgenden Fragen kann dieser Abschnitt bearbeitet werden: – Wie charakterisiert Bultmann die Hermeneutik? – Welche Form der Wissenschaft wird genutzt? – Gefährdet die Entmythologisierung Ihrer Meinung nach den Glauben?

Christian Jäcklin

Christliche Verantwortung vor Gott und für die Menschen. Die Geschwister Scholl im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Ein Unterrichtsentwurf

Im folgenden Aufsatz werden im ersten Teil zentrale theologische und historische Vorüberlegungen angestellt, die auf das reformatorische Verständnis der Taufe eingehen. Der zweite Teil widmet sich dem aus christlicher Verantwortung resultierenden Widerstand Hans und Sophie Scholls. Beide Teile stellen die Sachanalyse der Unterrichtseinheit dar. In der Planung einer Unterrichtseinheit (Teil 3) werden wesentliche Schwerpunkte der vorangegangenen Teile aufgegriffen und einer methodisch-didaktischen Analyse unterzogen.

1.

»Einmal angefangen und immer darin gegangen« – die Taufe im reformatorischen Verständnis

»Einmal angefangen und immer darin gegangen«1 – so verheißungsvoll wird im Großen Katechismus die Wirksamkeit der Taufe, die eine tägliche im Leben eines Christen sei, umschrieben. Vielleicht ist es gerade diese erneuernde Kraft und das gesunde Gottvertrauen, die in dieser Sichtweise deutlich werden und für Christen Aufmunterung, Freude und Zuversicht angesichts des Alltags in der so genannten Optionsgesellschaft bringen können. Die Tatsache, dass die EKD im Jahr 2010 in Hinblick auf das Reformationsjubiläum das »Jahr der Taufe« ausrief, beinhaltet m. E. zwei Hauptanliegen: Es sollte einerseits (1) die besondere Wertschätzung der Taufe als eines der beiden Sakramente evangelischer Konfession und ihre konstituierende Funktion für die Gemeinde hervorgehoben und damit bei den (meisten) Gläubigen in den Kirchen der EKD wieder deutlich in Erinnerung gebracht werden. Andererseits (2) wollte man die wesentlichen Veränderungen sowie die daraus resultierenden Konsequenzen für das Leben des Täuflings und der Getauften beim Namen nennen und dies als Zu- und Anspruch Gottes verstanden wissen. 1 Evangelische Bekenntnisse (Teilband 2, 1997); Der große Katechismus (G); hg. von Mau, Rudolf, 39 – 134.

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(1) Die Lebendigkeit des reformatorischen Verständnisses des Taufsakramentes liegt darin begründet, dass der Mensch im Namen Gottes getauft und damit von ihm selbst getauft ist (G208). Jeder Einwand, dass die Taufe eine menschliche Erfindung sei und daher nur eine Handlung vom Menschen auf Gott hin, wird im Großen Katechismus mit dem Hinweis beschieden, die Taufe sei von Christus eingesetzt und daher ein selig machendes Sakrament (G205). Die zentrale Bedeutung liegt in der Urheberschaft der Taufe begründet und weist dem Menschen eine besondere Verantwortung vor Gott und für die Menschen zu. Erst durch die Taufe, die »von Sünden, Tod und Teufel« (G211) erlöst, wird der Mensch in einen Zustand gesetzt, den er durch »kein Werk auf Erden« (G217) erlangen kann. In der Erläuterung des Sakraments tritt Luthers Vorstellung des freien Christenmenschen in der Ablehnung jeglicher Werksgerechtigkeit besonders zutage. Die Taufe ist nur durch das Zusammenwirken des Glauben und des Wort Gottes wirksam, wobei der Glauben der Taufe vorangeht und zusammen mit den Worten der biblischen Überlieferung grundlegendes Element einer vertrauensvollen Bindung an Gott ist. Seine biblische Entsprechung hat dieses Vertrauen im segnenden Zuspruch durch Christus in Mt 28,19: »Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker : Und taufet sie auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Jünger zu sein bedeutet im Matthäusevangelium nach dem Hören des Evangeliums die Nachfolge anzutreten und sei es unter Inkaufnahme von Verzicht, Anfeindung oder Verfolgung, aber in der Hoffnung auf das Reich Gottes, das schon angebrochen ist. (2) Die Taufe ist im Sinne der biblischen Botschaft und des Glaubensbekenntnisses relevant für Leben und Tod, weil sie weit mehr bewirkt als die bloße Aufnahme eines weiteren Mitglieds in die Gemeinde. Die Bedeutung der vollzogenen Taufe liegt vielmehr in dem damit öffentlich abgelegten und bekräftigten Zeugnis der Kindschaft, die den Täufling einpflanzt in den Leib Christi (C35)2. Dieses sprachliche Bild mag in seiner Direktheit aus heutiger Sicht einschüchternd, vielleicht übergriffig wirken, wenn es nicht mit den Gleichnissen Jesu (z. B. Mt 13,18 – 23; 24 – 30) verbunden wird, die dezidiert vom Einpflanzen des Gottesreiches erzählen. Man wird eingepflanzt in den fruchtbaren Boden des Evangeliums, in dem man Wurzeln schlägt, wächst und gedeiht, später darin mitunter schwere Stürme, die Leiden und eine Vorahnung des Todes mit sich bringen, aushalten muss. Diese Fülle an Widerfahrnissen und die Gewissheit der eigenen Wurzeln ist schon ein Wandeln im neuen Leben (Röm 6,4), eine gewinnbringende Sache auf Leben und Tod. Die Taufe wird hier als Zuspruch Gottes verstanden, der im Gefolge des Glaubens und des Wortes zu einem neuen, ewigen Bund zwischen Schöpfer und Geschöpf führt. 2 Evangelische Bekenntnisse (Teilband 2, 1997); Das Bekenntnis des Glaubens (C); hg. von Mau, Rudolf, 185 – 196.

Christliche Verantwortung vor Gott und für die Menschen

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Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt für Luther ist das tägliche Kriechen in die Taufe und das Wiederhervorkommen aus ihr (G224). Die Taufe stellt also kein einmaliges Ereignis im Sinne eines Beitritts zu irgendeiner Sache dar, sondern sie verlangt vom Menschen ab, dass er sich immer wieder seiner Fehler bewusst wird und sie bereut. Luther zählt u. a. die Eigenschaften zornig, gehässig, neidisch und faul auf (G223), die zum »alten Adam« gehören und den Menschen herabdrücken. Milde, Geduld und Sanftmut sind die Eigenschaften desjenigen, der neu aus der Taufe kommt. So schroff sich beide Bilder vom Tod des alten Adam und die Auferstehung als neuer Mensch gegenüberstehen, so sehr gehören sie für Luther auch zusammen: Die Taufe ist ein Kleid der Zugehörigkeit, in dem man immer gehen soll (G227), was man nicht so einfach abstreift. Man trägt es am Leib, es wärmt, es schützt und muss offensichtlich mitwachsen, damit es nicht einengt und handlungsunfähig macht. Der darin enthaltene Zuspruch vermittelt dem Menschen, er erhält täglich auf das Neue die Möglichkeit in gottgewollter Freiheit und Verantwortung zu leben; es sollte ihn demütiger in der Beurteilung seiner Mitmenschen und deren Schwächen machen. Unwillkürlich fühlt man sich an das Gleichnis vom Pharisäer und dem Zöllner (Lk 10, 14) erinnert. Das Gebet des Pharisäers – »Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin wie die anderen« – entlarvt den Hochmütigen als alten Adam; seine Haltung auf Einsicht und Reue verzichten zu können, verhindert seine Rechtfertigung vor Gott. Die Zusage, als gerechtfertigter Mensch immer wieder aufzustehen, ist in den reformatorischen Bekenntnisschriften eng mit der Auffassung verknüpft, dass »wir allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht werden.«3 Luther nimmt mit diesem Satz über die folgenreiche Wirkung der Taufe zunächst Stellung zu den Konflikten, Gewalttätigkeiten und die willkürliche Machtausübung im weltlichen wie geistlichen Bereich seiner Zeit. Er zeigt außerdem die konkrete christliche Verantwortung in Hinblick auf Verkündigung des Evangeliums und eine dem gemäße Lebensweise auf. Der Mensch wird so verantwortlich für verschiedene Bereiche seines Lebensumfeldes: Einerseits für die Bekämpfung der Missstände und andererseits für die Schaffung lebenswerter an den Anbruch des Gottesreiches erinnernder Zustände. Mit dieser Übernahme der Verantwortung für Bereiche seines Lebens, wird er als Subjekt konstituiert, das sich auch seiner Verantwortung vor Gott nicht entziehen will.4 Vielmehr trifft der vor Gott Gerechtfertigte anspruchsvolle Entscheidungen, die als vernünftige Urteile 3 Fausel, Heinrich: D. Martin Luther. Sein Leben und Werk 1483 – 1521 (Bd.1), Stuttgart 1996, 165. Dieses Zitat stammt aus Luthers Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung« und findet sich unter der Überschrift: Der Sturz der ersten Mauer: Alle Christen sind Priester vor Gott. 4 Zum Verständnis der Verantwortung vor und für vgl. Picht, Georg: Der Begriff der Verantwortung; in: ders., Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, Stuttgart 1969, 318 – 343.

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eines freien Christenmenschen aus dem Glauben heraus zu verstehen sind. Auf beindruckend knappe Art und Weise drückt Augustinus den Zusammenhang zwischen verantwortlichem Leben und dem Zustand der Welt aus: »Böse Zeiten, mühselige Zeiten, – das sagen die Menschen. Recht lasst uns leben und recht sind die Zeiten. […] Können wir nicht zu einem rechten Leben die Menge der Menschen bekehren? Die wenigen, die hören, mögen recht leben: die wenigen, die recht leben, mögen die vielen, die schlecht leben, ertragen.«5

Gerade die letzten Zeilen könnte man gegen Augustinus fatalistisch als Zurkenntnisnahme des allgegenwärtigen und sich immer wieder neu ereignenden Bösen in der Welt lesen. Es ist aber ein Aufruf zur Überwindung der Trägheit und der Untätigkeit, vielleicht auch der Feigheit des »alten Adam«, die die Menschen oft darauf warten lässt, dass andere den ersten Schritt gegen die Missstände der Zeit unternehmen.

2.

»So ein herrlicher, sonniger Tag, und ich soll gehen« »So ein herrlicher, sonniger Tag, und ich soll gehen. Aber wie viele müssen heutzutage auf den Schlachtfeldern sterben, wie viel junges, hoffnungsvolles Leben […]. Was liegt an meinem Tod, wenn durch unser Handeln Tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt werden.«6

Durch eine Mitgefangene Sophie Scholls überliefert, sagt dieser Satz nicht nur Entscheidendes über das grauenvolle Schicksal einer 22jährigen aus, sondern zeigt den starken Lebenswillen und die bewundernswerte Haltung, nicht nur für sich, sondern auch für viele andere Menschen die Verantwortung zu übernehmen. Die feste Überzeugung, verantwortlich für sich und andere zu sein, zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben und das ihres Bruders Hans. Dabei ist die Ernsthaftigkeit und die Konsequenz beeindruckend, in welch unterschiedliche politische Richtungen dies im Laufe ihres kurzen Lebens geschah.

2.1

Kindheit und Jugend von Hans und Sophie Scholl

Sophie Scholl wurde 1934 Mitglied im BDM und sah zunächst in der Ideologie der Nationalsozialisten vermutlich eine gerechtere Weltanschauung als in der ihres liberalen Vaters. Besonders das propagierte Ideal der Volksgemeinschaft, 5 Augustinus, serm 80, 8, zit. n.: Przywara S.J., Erich: Augustinus. Die Gestalt als Gefüge, Leipzig 1934, 572 f. 6 Sophie Scholl in den letzten Tagen vor ihrer Hinrichtung, zit. n. Scholl, Inge: Die weiße Rose, Frankfurt/Main 1993, 60.

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das einen Verzicht auf Abgrenzung und Standesdünkel vorgab und stattdessen die Gleichheit aller Bürger im nationalsozialistischen Geist heuchelte, trug zum Entschluss des Eintritts in den BDM bei. Vielleicht resultierte das besonders starke Bedürfnis nach Gleichheit aus der christlichen Sozialisation durch ihre Mutter, Magdalena Scholl, die bis zu ihrer Hochzeit den Dienst einer Diakonisse für die Bedürftigen und Schwachen verrichtete. Als Folge dieser reflektierten Sicht nahm die bürgerliche Sophie Scholl die sozialen Missstände und Notlagen ihrer Mitschüler deutlich wahr. Nach dem Aufstieg zur Gruppenführerin versuchte sie bei den Zusammenkünften einen Ausgleich und ein damit verbundenes Gemeinschaftsgefühl herzustellen.7 Interessanterweise handelte sie sich dabei den Vorwurf der wohlhabenderen Eltern ein, ihr Vorgehen sei kommunistisch.8 Auch der knapp drei Jahre ältere Hans Scholl war ab 1935 Fähnleinführer, nachdem er bereits schon am 1. Mai 1933 gegen den Willen des Vaters in die Hitlerjugend eingetreten war. Er betreute dort bis zu 150 Jungen und übernahm im Sinne des Systems die Verantwortung für deren politische Ausrichtung im Geiste der so genannten Volksgemeinschaft. Wie bei Sophie wird das Bestreben erkennbar, in der Gemeinschaft mit Gleichaltrigen Anerkennung zu finden, Lebensziele zu formulieren und anzustreben, die im Grundsatz vernünftiger – weil vereinbarer mit der Umwelt – schienen, als die ihrer Eltern. Trotz Hans und Sophie Scholls emanzipatorischer Entscheidung schien die Lebensmaxime der Eltern bei beiden längerfristig aufzugehen, die die Eltern ihrer Tochter Inge 1932 in das Tagebuch geschrieben hatten: »Nicht sich gehen lassen, sondern handeln; nicht schwach, sondern stark sein im Dienst einer großen Sache.«9 Wie souverän sich beide Eltern an diese bürgerlich-liberale Überzeugung und die Hoffnung hielten, auch ihre Kinder würden anstelle der NS-Ideologie eine freiheitliche »große Sache« setzen, zeigt die Tatsache, dass nicht sie es waren, die Hans und Sophie zur Abkehr zwangen. Die Geschwister kamen wegen »bündischer Umtriebe«10 mit den Machthabern in Konflikt und wurden 1937 kurzzeitig von der Gestapo verhaftet. An dieser Stelle kam es, wie Sophie Scholl selbst im Verhör am 18. Januar 1943 angab, »zur Entfremdung vom BDM und damit der NSDAP.«11 7 »Wenn sie mit ihren Mädchen einen Ausflug machte, wurde gleich alles an Proviant und Geld eingesammelt, was die Eltern ihren Töchtern mitgegeben hatten. Denn das wollte Sophie Scholl verhindern: dass in den Pausen die einen ein dickes Wurstbrot aßen […] und […] bei anderen das Familienbudget nur Wasser und trockenes Brot erlaubte.« Zit. n. Beuys, Barbara: Sophie Scholl, München 2011, 123. 8 A.a.O., 124. 9 A.a.O., 127. 10 Artikel Schulz, Kirsten: http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/weisse-rose/ 60965/hans-scholl (letztmalig aufgerufen 25. 10. 2014). 11 A.a.O., 155.

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Hans Scholl schrieb einen beeindruckenden Brief an seine Eltern aus dem Untersuchungsgefängnis in Stuttgart am 18. 12. 1937 und bedauert auf das Tiefste, dass er nicht nur sie in Schwierigkeiten gebracht habe; er spricht von einem Unglück für die Familie und die Verzweiflung, die er empfinde. Dabei muss ihm bewusst gewesen sein, dass seine Öffnung gegenüber den liberalen Ideen der Deutschen Jungenschaft12 an sich eine Wende hin zum Gedankengut der Eltern bedeutete, denn er fügte an seine tiefe Reue ein Versprechen an, das er und seine Schwester bis zur letzten Konsequenz erfüllten: »Aber ich verspreche euch: Ich will alles wieder gut machen; wenn ich wieder frei bin, will ich arbeiten und nur arbeiten, damit ihr mit Stolz auf Euren Sohn sehen könnt. […] Ich fühle jetzt erst ganz den Willen meines Vaters, den er selbst hatte, und den er mir übergab: etwas Großes zu werden für die Menschheit«13

Der Tagebucheintrag von 1932 leuchtet hier gewaltig auf und zeigt, wie tief der Familienzusammenhalt der Scholls war. Nach der tiefgreifenden Erfahrung des Dezembers 1937 suchten Hans und Sophie Scholl nach geistiger Orientierung, die ihnen angesichts der Gräueltaten der Nationalsozialisten vor und nach Kriegsausbruch nötiger denn je erschien. Angeregt durch Freunde und Bekannte setzte sich Hans Scholl mit namhaften französischen Autoren wie Victor Hugo, Andr¦ Gide, Bernanos und Jammes auseinander. Gerade das Resistancemitglied Gide und Bernanos hatten heftige Angriffe gegen die Nationalsozialisten vorgebracht, letzterer war mit Jammes Anhänger des Renouveau Catholique, einer Geistesrichtung, die eine Rückbesinnung auf die christlich-katholische Überlieferung anstrebte.14 Seine Schwester Inge beschrieb es als »redliches Suchen«15 ihres Bruders, der sich über die antiken Philosophen kommend nun mit den frühen christlichen Denkern, insbesondere mit Augustinus beschäftigte. Wohlwissend, dass sie selbst erst durch ihren katholischen Freund und späteren Ehemann Otl Aicher dahin gebracht worden war, der ihr das Buch »Augustinus« von Erich Przywara S.J.16 geschenkt hatte, um ihr, wie Aicher einem Freund schrieb »den letzten Schliff zu geben, wenigstens im groben.«17 Offensichtlich hatte er Erfolg, denn Inge Scholl packte der Schwester dieses Buch mit ein, als sie nach Abschluss ihrer Kindergärtnerinnenausbildung 1941 den nicht vermeidbaren Reichsarbeitsdienst an12 Artikel Schulz, Kirsten: http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/weisse-rose/ 60965/hans-scholl, (letztmalig aufgerufen am 25. 10. 2014). 13 Hans Scholl und Sophie. Briefe und Aufzeichnungen; hg. von Jens, Inge, Frankfurt a.M. 2005, 17. 14 Vgl. Anmerkungen zu den Briefen v. Inge Jens; in: Hans Scholl und Sophie. Briefe und Aufzeichnungen; hg. von Jens, Inge; Frankfurt a.M. 2005, 308. 15 Scholl, Inge: Die weiße Rose, 23. 16 Vgl. Przywara S.J., Erich: Augustinus. 17 Beuys, Barbara: Sophie Scholl, 270.

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trat; die tägliche Lektüre wurde für Sophie eine Herzensangelegenheit.18 Barbara Beuys schreibt dazu, dass »der Gott des Augustinus […] die unerschütterliche ewige Sicherheit [bot], nach der Sophie Scholl auf der Suche war.«19 In einem Brief empfahl Inge Scholl die Seiten 194/195 zu lesen, dort finden sich unter der Nummer 123 folgende Zeilen Augustinus’: »Du hast uns geschaffen hin zu Dir, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir. [Conf I 1,1]«20 Betrachtet man den nachgelassenen Briefverkehr von Sophie Scholl und ihrer älteren Schwester unter konfessionellem Vorzeichen, könnte der Eindruck entstehen, dass Aichers Ziel, die Konversion der Scholls zu betreiben, auch für diese ein dominierendes Thema gewesen sei. Vielmehr ist angesichts der beschriebenen Charaktere eine selbständige und kritische Reflektion katholischer Tradition wahrscheinlich, zu der auch ein kritisch intellektueller Austausch mit den Ansichten des katholischen Publizisten Karl Muth und des katholischen Gelehrten Theodor Haecker gehörte. Neben diesen Eindrücken und Sympathien für die katholische Tradition steht u. a. die Auseinandersetzung mit den evangelisch-pietistischen Ansichten ihrer Mutter, die einen entscheidenden Beitrag zur deutlich sichtbaren christlichen Sozialisation ihrer Kinder geleistet hat. Eine zutiefst protestantische Haltung der Geschwister, als Christ in die Welt gestellt zu sein und dort gerechtfertigt im Vertrauen auf Gottes Gnade etwas zu bewirken, rundet dieses Bild ab. Es ist m. E. wenig ergiebig, das Leben der Geschwister Scholl und die Ansichten der Weißen Rose unter einer konfessionell motivierten Fragestellung mit dem Ziel einer Zuordnung zu behandeln. Das Wesentliche dieser intensiven Auseinandersetzung dieser Menschen mit theologischen Standpunkten und philosophischen Fragen war die Erkenntnis, dass die nationalsozialistische Realität eine unmenschliche war, die bekämpft werden musste. Dabei hatten eigene Befindlichkeiten zurück zu stehen, denn es ging um »die große Sache« die Hans Scholl dem Vater versprochen hatte.

2.2

Die Verantwortung vor Gott und für eine große Sache

Im Sommer 1942 nahm diese konkret Gestalt an. In nicht einmal drei Wochen verfassten Hans Scholl und sein Studienkamerad Alexander Schmorell die ersten vier Flugblätter der »Weißen Rose«. Zwei weitere folgten Mitte Januar und Anfang Februar 1943. Das sechste und letzte verbreitete Flugblatt wurde von Professor Kurt Huber verfasst. Die Vereitelung des Verteilens führte zur Verhaftung von Sophie und Hans Scholl am 18. Februar in der Münchner Univer18 A.a.O., 278. 19 A.a.O., 280. 20 Przywara S.J, Erich: Augustinus, 194/ Nr. 123.

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sität. Tragischerweise trug Hans Scholl einen weiteren Flugblattentwurf bei sich, der von Christoph Probst stammte und zu dessen Verhaftung und Hinrichtung führte. Inwieweit der gemeinsame Studienkamerad Christoph Probst bei der Abfassung der vorangegangenen Blätter beteiligt war, lässt sich durch die Vorsichtsmaßnahmen der beiden anderen nicht sicher feststellen21; sie wollten den verheirateten zweifachen Vater nicht durch Erwähnungen bei einer möglichen Entdeckung in Gefahr bringen. Auch Sophie Scholl hatte, obwohl ihr Bruder dies anfangs vermeiden wollte, bereits Kenntnis von den ersten vier Flugblättern.22 In der Zusammenschau der von Hans Scholl und Alexander Schmorell entworfenen Flugblätter wird die politische Dimension der Verantwortung deutlich in der Kritik an der untätigen Haltung der Bevölkerung23 und der Forderung an sie, politisch widerständig zu handeln. Im eschatologischen Sinn war der Hinweis auf den abwendbaren Untergang und der damit vermeidbaren Strafe anstelle eines »schrecklichen, aber gerechten Gerichts« (5. Flugblatt) zu verstehen.24 Das Insistieren auf der Singularität der »Judenvernichtung«, der moralischen Mitschuld des Volkes und der Aufforderung Widerstand zu leisten, stand außerdem im Fokus der Flugblätter von Hans Scholl und Alexander Schmorell. Aus den zahlreichen Verweisungen auf die Grundsätze ihrer philosophischen und theologischen Vorbilder und Gesprächspartner ergeben sich klare theologische Aussagen mit Bekenntnischarakter, die die Verfasser als universelle Richtschnur für das gesamte deutsche Volk und Europa ansahen.25 Man habe als Mitglied der christlichen und abendländischen Kultur eine Verantwortung26, die ein Nichthandeln zum Verbrechen werden lasse (1. Flugblatt). Im darauf folgenden Flugblatt tritt der eschatologische Charakter der Verantwortung in der Auffassung hervor, die höchste, heiligste Pflicht sei die zum Widerstand; sie führe zur Verringerung der Schuld.27 Im dritten Flugblatt wurde dieser Gedanke aufgegriffen und eine Erläuterung im augustinischen Verständnis des Staates gegeben, etwa wenn vom Willen Gottes die Rede ist, nach dem der Mensch frei und unabhängig sein soll.28 Diesem Gedanken schloss sich auch der Appell der 21 So schreibt es ihre Schwester Inge in ihren Erinnerungen (Scholl, Inge: Die weiße Rose, 27). 22 A.a.O., 41. 23 So finden sich z. B. folgende Passagen und Attribute: »stumpfer, blöder Schlaf des deutschen Volkes« (2. Flugblatt, I. Scholl: Die Weiße Rose, 81); »blind«; »faul« (5. Flugblatt, I. Scholl: Die Weiße Rose, 92). 24 Scholl, Inge: Die Weiße Rose, 93. 25 Hans schreibt an eine Freundin am 7.12. 1941: »Die Geburt des Herrn ist mir das größte religiöse Erlebnis. Denn Er ist mir neu geboren. Europa wird in diesem Licht sich wenden müssen, oder es wird untergehen!« Zit. n.: Hans Scholl und Sophie. Briefe und Aufzeichnungen, hg. von Inge Jens, 322. 26 Scholl, Inge: Die Weiße Rose, 77. 27 A.a.O., 82. 28 A.a.O., 84.

Christliche Verantwortung vor Gott und für die Menschen

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folgenden Flugschrift an, in der die Deutschen aufgefordert wurden, aufzustehen, auf Gott hinzuweisen und das Volk zur Umkehr zu bewegen.29 Die klare Eigenverantwortung des Menschen hatte die vorwurfsvoll mahnende Frage im Blick: »Hat Dir nicht Gott selbst die Kraft und den Mut gegeben zu kämpfen?«30 Wofür es sich zu kämpfen lohnte, war nach Ansicht der Verfasser ein durch die Religion erwecktes Europa, in dem »die Christenheit mit neuer Herrlichkeit […] ihr friedensstiftendes Amt installieren [wird, C.J.].«31Dem Glauben daran, dass dieses Ziel bald erreicht sein würde, verliehen sie in ihrem letzten Flugblatt (Mitte Januar 1943) Ausdruck. Sie sahen das sichere Ende des Krieges voraus und warnten ihre Landsleute vor Gleichgültigkeit und vor dem Kommen eines schrecklichen, aber gerechten Gerichts, das letztlich die Menschenrechte zur Grundlage eines neuen Europas macht.32

2.3

Das Hineinstürzen in den Abgrund des Lebens in der Gewissheit der Auferstehung

Am 18. Februar 1943 verhaftete die Gestapo Hans und Sophie Scholl bei dem Versuch, das von Professor Huber verfasste Flugblatt in der Münchener Universität auszulegen. Nach dreitägiger Haft und stundenlangen Verhören verurteilte der so genannte Volksgerichtshof unter Vorsitz von Roland Freisler Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst zum Tod durch das Fallbeil. Der Vollzug fand in München-Stadelheim in Gegenwart der Justizvertreter statt. Hans Scholl schrieb einer Freundin zwei Tage vor seiner Verhaftung, wie sehr sein Leben in Gefahr sei. »Abgründe tun sich auf, tiefste Nacht umgibt mein suchendes Herz – aber ich stürze mich hinein.«33 In ähnlicher Weise erzählte Sophie Scholl nach ihrer letzten Nacht einer Mitgefangenen, dass sie auf dem Weg zur Kirche empor in die Tiefe einer Gletscherspalte gestürzt sei.34 Aus beiden Aussagen spricht die elementare Angst vor den tödlichen Konsequenzen ihres Handelns. Jedoch fällten sie aus dem Glauben heraus, in der Überzeugung das Richtige zu tun, ein Urteil über den verbrecherischen Staat und damit über ihr eigenes Leben, das zum Ungrund geworden war. Sie konnten und wollten nicht anders leben als in der Bekämpfung des Staates, koste es das eigene Leben. Bei Augustinus findet sich m. E. eine mögliche Erläuterung der Vorstellung, die in bisherigen Publikationen nicht erwähnt ist: »Ein Ungrund ist uns dieses 29 30 31 32 33 34

A.a.O., 89. ebd. A.a.O., 90. A.a.O., 93. Hans Scholl und Sophie. Briefe und Aufzeichnungen, hg. von Inge Jens, 143. Scholl, Inge: Die Weiße Rose, 60.

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sterbliche Leben. Wer sich im Ungrund einsieht, ruft, stöhnt, seufzt bis er dem Ungrund entrissen wird und zu Ihm kommt, der über allen Abgründen sitzet.«35 Der besondere Unterschied zwischen den Worten des Augustinus’ und der Situation der Geschwister Scholl bestand darin, dass sie nicht geseufzt und gestöhnt, sondern gehandelt und auch andere dazu aufgefordert haben. Ihnen war jedoch bewusst, dass sie sich mit ihrer Widerstandstätigkeit bereits in einen Bereich begeben haben, den man als Todeszone bezeichnen kann. Dass sie auch angesichts des Todes geborgen und getröstet in der Liebe Gottes waren, zeigt die hoffnungsfrohe Antwort Sophies kurz vor ihrer Hinrichtung gegenüber ihrer Mutter.36 Aus ihrer Sicht konnte es angesichts des Vertrauens in die frohe Botschaft vom Sterben und Auferstehen Jesu kein endgültiges Ende durch die Hand der Machthaber geben. In den Stunden vor ihrem Tod scheint das Sakrament der Taufe durch den Traum Sophie Scholls und die Taufe Christoph Probsts eine Stunde vor seiner Hinrichtung auf und zeigt, »dass ein christliches Leben nichts anderes ist als eine tägliche Taufe, einmal angefangen und immer wieder darin aufgegangen« (G 223).

3.

Methodisch-didaktische Analyse

Die Unterrichtseinheit, Verantwortlich vor Gott und für die Menschen – die Geschwister Scholl im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, kann als Beispiel christlichen Widerstands im Themenfeld Kirche und Auschwitz verbunden mit der für den Bildungsplan37 relevanten Dimension Welt und Verantwortung behandelt werden. In der Erläuterung dieser Dimension wird der Anspruch an den Unterricht formuliert, er solle zur Schulung der Urteilsfähigkeit beitragen, die zu einer normenkritischen Urteilsbildung unter Einbeziehung zentraler ethischer Aussagen der Bibel führe. Es wäre ein zu anspruchsvolles Vorhaben, wenn man dem Irrtum verfallen wäre, die genannten Anforderungen vollumfänglich in dieser Unterrichtseinheit umzusetzen. Daher soll in einer Einstiegs-, zwei Erarbeitungs- und einer Vertiefungsphase (insgesamt 6 Unterrichtsstunden — 45 Minuten) versucht werden, die moralisch ethische und die theologische Reflexion, die dem Denken und Handeln der Geschwister Scholl und Christoph Probst zugrunde lag, zu verschränken und so das theologisch begründete Urteil dieser Menschen nachzu35 Przywara S.J., Erich: Augustinus, 588/ Nr. 851. 36 »Nun wirst du also gar nie mehr zur Türe hereinkommen«, sagte die Mutter. »Ach, die paar Jährchen, Mutter«, gab sie zur Antwort.« Zit. n.: Scholl, Inge: Die Weiße Rose, 64. 37 Bildungsplan Baden-Württemberg. Allgemein bildendes Gymnasium 2004/ ev. Religion, Klasse 10, 31 f.

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vollziehen, ein eigenes Urteil der Schülerinnen und Schüler mit »eigene(r) Weite und Tiefe«38 herbeizuführen und so die Urteilsfähigkeit zu schulen. Zum Einstieg in die Einheit wird den Schülerinnen und Schüler eine Photographie der Kirche zu Forchtenberg zusammen mit dem folgenden Textausschnitt als Overhead-Folie präsentiert: »Ich trug an einem sonnigen Tag ein Kind in einem langen weißen Kleid zur Taufe. Der Weg zur Kirche führte einen steilen Berg hinauf. Aber fest und sicher trug ich das Kind in meinen Armen […].«39

Aufstieg zur Taufkirche in Forchtenberg (copyright c. jäcklin)

38 Vgl. Schoberth, Ingrid: Einleitung Urteilen lernen. Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs; in: dies. Urteilen lernen II, Göttingen 2014, 7 – 22, 8 f. 39 Scholl, Inge: Die Weiße Rose, 60.

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Christian Jäcklin

Diese erste Begegnung mit den Gedanken Sophie Scholls wird nach einer kurzen Phase der Betrachtung mit einem Unterrichtsgespräch fortgesetzt, in dem die Schülerinnen und Schüler ihre Assoziationen zu Text und Bild äußern können. Im Sinne der Wertschätzung der Beiträge und als möglicher Impuls für spätere Unterrichtsphasen lohnen schlagwortartige Notizen an der Tafel oder direkt auf der Folie. Gerade der erste Satz und das Bild der Kirche werden die Schülerinnen und Schüler dazu bringen, harmonische und helle Erfahrungen in Hinblick auf die Taufe zu benennen und auf die Fürsorge der Eltern und Paten hinzuweisen. Diese Richtung ist gewollt, um ausgehend von den Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler die Taufe als lebensstiftendes Sakrament zu beschreiben. Um dies nicht nur im Klassenverband kurz anzusprechen, sondern auch ganz individuell zu reflektieren, werden die Schülerinnen und Schüler aufgefordert, eine Fortsetzung des Textausschnitts vorzunehmen und dabei Tauferlebnisse oder Tauferfahrungen mit einzubeziehen. Nach einer angemessenen Bearbeitungszeit lesen sich die Schülerinnen und Schüler ihre Texte in Kleingruppen gegenseitig vor und stellen eine gemeinsam ausgewählte Arbeit im Plenum vor. Ein zusammenfassendes Tafelbild zu den Taufgeschichten unter Aufnahme der Schwerpunkte der Schülerinnen und Schüler und gegebenenfalls der Notizen vom Beginn, runden diese Phase ab. Die Folie wird wieder aufgelegt, doch diesmal mit vollständigem Text, der historischen sowie theologischen Einordnung und der Information, dass es sich um die Taufkirche von Sophie Scholl in Forchtenberg handelt. Man sollte hier unbedingt darauf achten, dass die Situation nicht zerredet wird und sich alle dieser unerwarteten Konfrontation, die in dieser abrupten Wendung zwischen Geborgenheit und Absturz liegt, aussetzen und sich still dazu Gedanken machen. Die Schülerinnen und Schüler erhalten den vollständigen Text40 und werden gebeten, sich zunächst allein, dann zu zweit und später in der Gruppe Fragen zur weiteren Erarbeitung der Hintergründe des Traumes niederzuschreiben. In der zweiten Erarbeitungsphase setzen sich die Schülerinnen und Schüler in Kleingruppen mit den Materialien zur Person von Hans und Sophie Scholl41 auseinander und versuchen ihre selbst formulierten Fragen zu klären, die sie vorher mit der Lehrkraft besprochen haben. 40 ebd.: »Ich trug an einem sonnigen Tag ein Kind in einem langen weißen Kleid zur Taufe. Der Weg zur Kirche führte einen steilen Berg hinauf. Aber fest und sicher trug ich das Kind in meinen Armen. Da plötzlich war vor mir eine Gletscherspalte. Ich hatte gerade noch so viel Zeit, das Kind sicher auf der anderen Seite niederzulegen, dann stürzte ich in die Tiefe. Das Kind ist unsere Idee, sie wird sich trotz aller Hindernisse durchsetzen. Wir durften Wegbereiter sein, müssen aber zuvor für sie sterben.« 41 http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/weisse-rose.de (letztmalig aufgerufen am 25. 10. 2014).

Christliche Verantwortung vor Gott und für die Menschen

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Im Gespräch mit den Schülerinnen und Schüler können neben den Gründen für den Widerstand, die konkrete Vorgeschichte bis zum Traum oder auch die Taufgeschichte an sich und ihr Bezug zu Forchtenberg eine Rolle spielen. Das Anliegen dieser Vorgehensweise liegt in der Hoffnung begründet, auf diese Weise binnen – bzw. geschlechterdifferenziert zu arbeiten und dadurch Interesse zu wecken. Bei Arbeitsgruppen, die Unterstützung benötigen, kann der Hinweis auf die Erarbeitung einer mindmap als Kurzbiographie o. ä. hilfreich sein. Vor der ersten Vertiefungsphase werden die mit Hilfe der Recherche beantworteten Fragen der Schülerinnen und Schüler exemplarisch besprochen und zur Bedeutung der Taufe angesichts des Traums von Sophie Scholl übergeleitet. Im Anschluss daran erhalten die Schülerinnen und Schüler eine Zusammenschau (M1) von Auszügen des Großen Katechismus, des Glaubensbekenntnisses und des Auszugs aus Luthers Fastenpostille 1525.42 Aspekte der Taufe

Bekenntnisschriften/ Bibelstellen Mt 3,11; Mk 16,15 f., Rö 6,3, C35: »[…] Wir halten auch dafür, dass, obwohl wir nur einmal Relevanz für Leben und Tod getauft sind, der Gewinn, der uns da angezeigt ist, sich auf Leben und Tod erstreckt. […]« Christen täglich aus der Taufe Auferweckung als neuer Mensch

Allgemeines Priestertum aller Glaubenden:

M1

u.a. G223 »[…] Kraft und Wirkung der Taufe [ist] nichts anderes als die Tötung des alten Adam, danach die Auferstehung des neuen Menschen, welche beide unser Leben lang in uns geschehen sollen, so dass ein christliches Leben nichts anderes ist als eine tägliche Taufe, einmal angefangen und immer darin gegangen. […]« z.B. 1 Kor 12 M. Luther, Fastenpostille, 1525, WA 17/II, 631 – 35: »[…] Dieses Priestertum lässt sich nicht machen […] Er muss als Priester geboren sein […] Ich meine aber die neue Geburt aus dem Wasser und Geist. […]«

Zur Frage nach der Relevanz von Taufe heute

Die Schülerinnen und Schüler sollen jetzt in Partnerarbeit die Aspekte der Taufe (li. Spalte) in heutige Sprache übertragen, um sich den kantigen und deshalb griffigen Formulierungen der Reformation anzunähern. Vorher empfiehlt es 42 Evangelische Bekenntnisse (Teilband 2, 1997), Der große Katechismus; hg. von Rudolf Mau, 39 – 134; das Bekenntnis des Glaubens, 185 – 196.; M. Luther, Fastenpostille, 1525, WA17/II, 631 – 635.

204

Christian Jäcklin

sich, Verständnisfragen zu klären. Das anschließende Unterrichtsgespräch dient dem Austausch und bereitet auf den nächsten Schritt vor. Dieser besteht darin, dass vier Gruppen in themengleicher Gruppenarbeit sich mit je einem der vier Flugblätter der Weißen Rose beschäftigen. Ihr Auftrag besteht darin, Gedanken und Formulierungen hervorzuheben, die sich mit den genannten Aspekten der Taufe verknüpfen lassen. Im Abschnitt Die Verantwortung vor Gott und für eine große Sache finden sich diese Gedanken und Formulierungen dort als »klare theologische Aussagen mit Bekenntnischarakter« und dienen als Bezugspunkte für eine Zusammenschau der Aspekte der Taufe und der Flugblätter. Mit dieser Herangehensweise werden unterschiedliche Ziele verfolgt: Zum einen nehmen die Schülerinnen und Schüler das protestantische Verständnis des Taufsakraments zur Kenntnis und erfassen die Konsequenzen, die Hans Scholl und Alexander Schmorell aus ihrer durch die Taufe vollzogenen Aufnahme in die christliche Gemeinschaft ziehen. Zum anderen werden die Schülerinnen und Schüler dazu angehalten, zu überlegen, welche spürbaren Konsequenzen Taufe oder aber auch Nichttaufe für das eigene Handeln oder das ihrer MitschülerInnen, Verwandten oder Bekannten bisher hatte – oder auch nicht.43 Zum Abschluss erfolgen der Austausch der Gruppen sowie die Gestaltung einer Übersicht. Unter Bezugnahme auf zentrale Überlegungen der Übersicht kann die ReligionslehrerIn zur Beschäftigung mit Christoph Probst Brief an seine Mutter überleiten. Er teilt ihr in bewegenden Worten seine bevorstehende Taufe und Hinrichtung mit.

M2

An seine Mutter hatte Christoph Probst geschrieben:

»Ich danke Dir, dass Du mir das Leben gegeben hast. Wenn ich es recht bedenke, so war es ein einziger Weg zu Gott… Mein einziger Kummer ist, dass ich Euch Schmerz bereiten muss. Trauert nicht zu sehr um mich, denn das würde mir in der Ewigkeit Schmerz bereiten. Eben erfahre ich, dass ich nur noch eine Stunde Zeit habe. Ich werde jetzt die heilige Taufe u. die heilige Kommunion empfangen. Wenn ich keinen Brief mehr schreiben kann, grüße alle Lieben von mir. Sag ihnen, dass mein Sterben leicht und freudig war.«44

Wenn nicht schon vorher, so halten jetzt die Schülerinnen und Schüler einen Beleg dafür in der Hand, dass die Taufe relevant für Leben und Tod ist, und dass man darauf vertrauen kann, täglich neu aus der Taufe zu gehen – auferweckt als 43 Je intensiver und nachhaltiger dieser Impuls und die notwendige Auseinandersetzung gelingt, desto klarer wird, warum die Inhalte der Bekenntnisschriften und der Flugblätter auch etwas mit den Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler zu tun haben. 44 cpg.schulen.org/Probst/PDF/Christoph%20Probst.pdf

Christliche Verantwortung vor Gott und für die Menschen

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neuer Mensch. Um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre ganz eigenen Erkenntnisse in Worte zu fassen und theologisch zu reflektieren, sollen sie als abschließende Aufgabe einen Taufspruch für Christoph Probst aussuchen und die Auswahl begründen.45 Hiermit soll, vielleicht unter nochmaligen Rückgriff auf die Folie vom Einstieg, der Kreis zum Traum von Sophie Scholl geschlossen werden.

45 Eine gute Auswahl bietet folgende Adresse: www.bonn-evangelisch.de/faq/taufsprueche.php (letztmalig aufgerufen am 25. 10. 2014).

Wolfram Kerner

»Was soll Line jetzt tun?« Jürgen Habermas’ diskursethisches Modell im Rahmen eines einführenden Unterrichtsgangs zur Ethik in der Oberstufe

Der im Folgenden skizzierte Unterrichtsgang ist konzipiert für Schüler der 10. Klasse, die im Rahmen des evangelischen Religionsunterrichts an einem G8Gymnasium im ersten Jahr der Oberstufe im Unterrichtsfeld Ethik ein erstes Gespür und eine erste Wahrnehmung für ethische Herausforderungen in ihrem Lebensumfeld bekommen sollen. Durch die Unterrichtseinheit findet ein Kennenlernen mit ethischer Begründungen, ethischer Entwürfe und Argumentationen statt, das später im Rahmen eines Halbjahresschwerpunkthemas (z. B. zum Thema »Gerechtigkeit«) vertieft werden kann. Die Idee, die der Struktur dieser Unterrichtseinheit zugrunde liegt, besteht darin, dass die Schüler nach ersten Annäherungen an ethische Fragestellungen sich erstens mit einer konkreten ethischen Problemstellung befassen und zweitens die Perspektiven verschiedener Grundformen der Ethik kennenlernen und diese dann auf die konkrete Problemstellung beziehen. Drittens sollen die verschiedenen Grundformen der Ethik samt ihres Bezuges auf die konkrete ethische Problemstellung miteinander in Beziehung gesetzt und die unterschiedlichen Begründungsformen in einen Diskurs kommen. Als ethische Theorie, von der her dieser Diskurs strukturiert wird, lernen die Schüler viertens das diskursethische Modell von Jürgen Habermas kennen und wenden es im Rahmen eines Rollenspiels auf die vorliegende ethische Problemstellung an.1 Auf diese Weise nehmen die Schüler den Raum ihrer je eigenen Wertvorstellungen und Werturteile wahr, erweitern ihren Horizont durch die Begegnung mit den Räumen der Wertvorstellungen und Werturteile ihrer Mitschüler und vertiefen ihre Reflexionsebenen durch die Wahrnehmung prominenter ethischer Entwürfe und Konzeptionen.

1 Verwendet wird als Unterrichtswerk das Schülerbuch: Religionsbuch Oberstufe, hg. v. Ulrike Baumann / Friedrich Schweitzer, Berlin 2014; im Folgenden abgekürzt: SB. Anregungen zur Ausgestaltung des Unterrichts bei Verwendung dieses Unterrichtswerkes bietet: Religionsbuch Oberstufe. Handreichungen für den Unterricht mit Zusatzmaterialien, hg. v. Ulrike Baumann / Friedrich Schweitzer, Berlin 2014.

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1.

Wolfram Kerner

Einführung zur ethischen Fragestellung: »Sich ein schönes Leben machen«

Eine erster Schritt zur Einführung in die Ethik findet anhand einer Bildmeditation2 sowie durch die Beschäftigung mit zwei Texten von Jugendlichen statt3, die etwas von der Sensibilität vieler Jugendlicher für ökologische Probleme erkennen lassen, aber auch die Spannung deutlich machen, dass Einschränkung von Freiheit einerseits notwendig ist, andererseits aber auch Ablehnung hervorruft. Ein zweiter Schritt im Sinne eines erfahrungsbezogenen Zugangs zur Ethikbietet sodann der Text von Fernando Savater »Mach dir ein schönes Leben!«4 verbunden mit einer Zeitungsrecherche und Werbungsanalyse, durch die die Schüler dazu geführt werden, den Zusammenhang zwischen der Frage nach Normen und Werten einerseits und dem Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung (nach einem guten bzw. »schönen« Leben) andererseits zu reflektieren. Hier bekommen die Schüler zudem erste Anstöße für ein Nachdenken über ethische Konfliktsituationen. Abgeschlossen wird dieser Teil mit der Ausarbeitung eines fiktiven Lebensprogramms.5

2.

Was soll Line jetzt tun?

Anhand der Geschichte von Line werden die Schüler hineingenommen in eine Dilemma-Situation, bei der verschiedene Werte und Normen in Spannung zueinander treten, die den Schülern anhand fiktiver Ratschläge begegnen, die Line gegeben werden. Die Situation, in die sich die Schüler hineinversetzen und anhand derer sie die vorgeschlagenen ethischen Urteile kennenlernen und beurteilen sollen, dient im Fortgang der Unterrichtseinheit dazu, den Ratschlägen korrespondierende ethische Grundformen der Ethik kennenzulernen und zuzuordnen; und schließlich soll anhand dieser Ausgangssituation das Modell der Diskursethik erprobt werden. Das Ausgangsproblem, mit dem sich die Schüler befassen wird folgendermaßen präsentiert: 2 Vgl. SB S. 308. 3 Titel der Texte: »Es passiert viel Schrott auf der Welt« sowie »Wie Leute miteinander leben können«, SB S. 309. 4 SB S. 310. 5 Der Arbeitsauftrag lautet: »Entwirf für dich selbst ein fiktives Lebensprogramm für mehrere Jahre! Konkret: Was bedeutet für dich in zehn Jahren ein ›schönes Leben‹ und welche Schritte müsstest du in den nächsten Jahren gehen, um es zu erreichen?«

»Was soll Line jetzt tun?«

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»Line ist 21 Jahre alt. Sie studiert Jura im zweiten Semester. Sie will Richterin werden. Heute hat ihr der Arzt mitgeteilt, dass sie wirklich schwanger ist. Ihr Freund sagt, sie solle eine Abtreibung machen lassen. Mit einem Kind könne sie nicht weiterstudieren, und auch in seinem Leben sei kein Platz für ein Kind – jedenfalls jetzt nicht. Er will noch etwas vom Leben haben. Line weiß, dass Abtreibung in Deutschland verboten ist, auch wenn man dafür nicht bestraft wird. Außerdem ist sie sich nicht sicher, wie sie sich nach einer Abtreibung fühlen würde. Sie hat Angst vor Schuldgefühlen und davor, was ihre Eltern dazu sagen würden, falls sie es erfahren.«6

Diese Ausgangssituation wird nun so weitergeführt, dass den Schülern sechs verschiedene Ratschläge vorgelegt werden, die Line in der Geschichte von ihren Freundinnen und Freunden erhält. Es finden sich hier Ratschläge wie: »Du solltest eine Abtreibung machen lassen. Wenn du jetzt das Kind zur Welt bringst, nützt das niemandem. Mit einem Kind könntest du dein Studium nicht zu Ende führen. Eine gut ausgebildete und verantwortlich urteilende Richterin kann vielen Menschen eine große Hilfe sein. Das darfst du nicht aufs Spiel setzen. Außerdem solltest du auch an die Beziehung zu deinem Freund denken. Das Recht auf Leben ist unverletzlich. Es gilt bedingungslos. Wer selbst leben will (wir alle also!), darf das Recht auf Leben anderer nicht verletzen. Ich gebe ihr keinen Rat. Um Line wirklich einen Rat geben zu können, müsste man weit mehr von den Umständen wissen. Wie geht Line selbst mit der Situation um? Was würde die Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung für sie langfristig bedeuten? Was richtet sie damit an – bei sich selber, bei ihrem Freund, bei ihren Eltern?«7

Diese Ratschläge sollen die Schüler miteinander diskutieren und jeder für sich bewerten. Zu diesem Zweck erarbeiten die Schüler unter anderem eine Übersicht über die verschiedenen Ratschläge und ordnen sie so, dass ersichtlich wird, welchen Ratschlag bzw. welche Ratschläge sie von den gegebenen am besten bzw. hilfreichsten bewerten.

3.

Grundformen der Ethik

Als »Schlüsselwissen« werden den Schülern im nächsten Schritt unter der Überschrift »Grundformen der Ethik: Informationen und Definitionen« klassische Begründungsformen der theologischen und philosophischen Ethik in Form einer zusammenfassenden Übersicht präsentiert. Die dargestellten, sich zum Teil überschneidenden Grundformen sind: Pflichten- bzw. Prinzipienethik, Utilitaristische bzw. Nutzenethik, Verantwortungsethik, Gesinnungsethik, 6 SB S. 311. 7 SB S. 311.

210

Wolfram Kerner

Universalistische Ethik, Situationsethik, Gewissenethik, Hedonismus bzw. Genussethik, Liebesethik, Schöpfungsethik, biblische und christliche Ethik.8 Diese Grundformen der Ethik werden von den Schülern zunächst für sich wahrgenommen und erörtert. In einem nächsten Schritt werden diese Grundformen dann mit der bereits bekannten Dilemma-Geschichte von Line verknüpft, indem die Schüler die an Line gerichteten Ratschläge darauf hin untersuchen, welche der dargestellten Begründungsformen der Ethik ihnen zugrunde liegen bzw. sich ihnen zuordnen lassen. Über ihre Ergebnisse erstellen die Schüler dann eine Präsentation.9

3.1

Jürgen Habermas – Grundgedanken seiner Konzeption (SZ-Artikel von Jürgen Podak)

Anhand des im vorangegangenen Gespräch kennengelernten Problems von Line ist den Schülern deutlich geworden, dass verschiedene an sich gute Ratschläge und damit verbundene ethischen Modelle offenbar in Konkurrenz zueinander stehen (können). Nun ist klar, dass eine Vorgehensweise oder ein Modell gesucht wird, gemäß dessen diese unterschiedlichen Perspektiven in Beziehung gesetzt werden können, um zu einer für Line guten Entscheidung zu kommen. Als ein solches Modell wird der diskursethische Ansatz von Jürgen Habermas kennengelernt und erprobt. Für den Unterricht mit der Lerngruppe der 10. Klasse sollen für das Kennenlernen der Grundgedanken von Jürgen Habermas Texte gewählt werden, die dem Lernniveau der Schüler entsprechend erarbeitet und mit dessen Ergebnis die Ausgangsproblematik konstruktiv weiterbearbeitet werden kann. Als ein solcher einführender Text zu den Grundgedanken des ethischen Ansatzes von Jürgen Habermas empfiehlt sich der Zeitungsartikel von Jürgen Podak in der Süddeutschen Zeitung10. Nach einer kurzen Folienpräsentation des gesamten SZ-Artikels samt Foto von Jürgen Habermas und weniger einführender Informationen zur Person erarbeiten sich die Schüler die Grundgedanken anhand von Auszügen aus dem Artikel, die sie als Arbeitsblatt11 erhalten. Zur Erarbeitung des Artikels erhalten die Schüler zwei Fragen: – Was bedeutet Kommunikation bei Jürgen Habermas? – Wie halten sich Vernunft und Kommunikationsprozess zueinander? 8 Vgl. SB S. 312 f. 9 Vgl. SB S. 312, AA 2. 10 Podak, Jürgen: Die Rettung der Vernunft; in: SZ am Wochenende, Süddeutsche Zeitung, 13. 10. 2001, 1. 11 Vgl. Arbeitsblatt M1.

»Was soll Line jetzt tun?«

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Verbunden werden diese beiden Fragen noch mit dem Arbeitsauftrag, das Verhältnis von Kommunikation und Vernunft bei Jürgen Habermas grafisch darzustellen. Die Lektüre des Artikels vollziehen die Schüler zunächst in Stillarbeit und gehen dann zur Bearbeitung der Fragen in Partnerarbeit. Anschließend werden Ergebnisse im Plenum zusammengetragen und im Lehrer-Schüler-Gespräch die Ideen zur skizzen- bzw. bildhaften Darstellung an die Tafel gebracht. Dabei entsteht ein Tafelbild, durch das die Schüler den Grundgedanken verdeutlichen, dass nach Habermas der Diskurs – implizit oder explizit – den Regeln der Vernunft folgen muss, um zu einem vernünftigen (d. h. guten und für alle akzeptablen) Ergebnis zu kommen.

3.2

Jürgen Habermas – Grundsätze und Regeln der Diskursethik

Nach dem ersten Kennenlernen von Grundgedanken des ethischen Ansatzes von Habermas sollen die Schüler in einem nächsten Schritt mit Grundsätzen und Regeln der Diskursethik vertraut werden, indem sie Auszüge aus Habermas’ Beitrag »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm« erarbeiten.12 Dazu erhalten sie ein Arbeitsblatt, das in einer Einleitung an die Fragestellung und Ergebnisse der vorangegangenen Stunden sowie an das erarbeitete Tafelbild erinnert. Auf dem Arbeitsblatt sind dann der Universalisierungsgrundsatz (U)13, der diskursethische Grundsatz (D)14 sowie die Regeln für den praktischen Diskurs abgedruckt und mit drei Arbeitsaufträgen verbunden, die die Schüler in unterschiedlichen Sozialformen erarbeiten sollen: Nach dem Lesen und Klären von Verständnisfragen fassen die Schüler erstens in Einzelarbeit die beiden Grundsätze (U und D) in eigenen Worten zusammen. In Partnerarbeit befassen die Schüler sich dann zweitens mit den »Regeln für den praktischen Diskurs«15 und klären, inwiefern diese durch weitere Regeln ergänzt werden sollten. Im Plenum sollen die Schüler dann schließlich die diskurs12 Habermas, Jürgen: Diskursethik. Notizen zu einem Begründungsprogramm; in: ders., Diskursethik. Philosophische Texte, Bd. 3, Frankfurt a.M. 2009, 31 – 115. 13 Universalisierungsgrundsatz (U): »So muss jede gültige Norm der Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich)ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können.«, a . a . O . , 60. 14 Diskursethischer Grundsatz (D): »Der Diskursethik zufolge darf eine Norm nur dann Geltung beanspruchen, wenn alle von ihr möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen (bzw. erzielen würden), dass diese Norm gilt.«, ebd. 15 Vgl. a. a. O., 87 f.

212

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ethischen Grundsätze und Probleme auf das Ausgangsproblem von Line anwenden und miteinander überlegen, welche Personen an einem Diskurs rund um Lines Problem beteiligt werden müssten, damit alle Betroffenen berücksichtigt werden.16

4.

»Was soll Line jetzt tun?« – Anwendung der Diskursethik auf das konkrete Problem

In einem abschließenden Unterrichtsschritt wird das bisher Erarbeitete nun in Form eines Rollenspieles auf die Ausgangsproblematik von Line als Diskussion zwischen den Betroffenen angewendet und in dieser Weise den Schülern ein praktisch-erprobender Zugang zur Diskursethik ermöglicht. Im Plenum klären die Schüler zunächst, welche der genannten Personen nun tatsächlich an einer Diskussionsrunde beteiligt werden sollen. In einem nächsten Schritt überlegen die Schüler, welche der zuvor kennengelernten ethischen Positionen und die mit ihnen verbundenen konkreten Ratschläge zu Lines Problem sie welcher Person zuordnen wollen, damit alle Ratschläge und ethischen Modelle in der Diskussion vorkommen. Auf diese Weise findet die ethische Konzeption von Habermas unausgesprochen als eine Meta-Theorie Anwendung, durch die die anderen von den Schülern ansatzweise kennengelernten Konzeptionen miteinander im Diskurs ins Gespräch gebracht werden, um zu einer Lösung zu kommen. Sodann übernehmen die Schüler die Rollen der Diskussionspartner. Hierbei können sie sich beispielsweise von der Überlegung leiten lassen, welche der repräsentierten ethischen Position ihrer eigenen Präferenz entspricht. Dazu können die Schüler die von ihnen erstellten Übersichten über die Ratschlägen und die zugehörigen ethischen Modellen heranziehen. Zusätzlich zu den Diskussionsbeteiligten bilden zwei Schüler noch eine Jury, die während der Diskussion darauf achtet, ob und inwiefern die Diskursregeln eingehalten werden. Der Diskurs wird so geführt, dass in einer ersten Runde jeder der Beteiligten zunächst reihum in einem Statement die eigene Position darlegt: Line: Also, ich bin mir noch nicht sicher, was ich jetzt in meiner Situation anfangen soll, ob ich jetzt das Kind abtreiben soll oder ob ich es behalte. Deswegen habe ich jetzt meine nächsten Verwandten und Freunde eingeladen, dass die mir helfen eine Entscheidung zu fällen. 16 Genannt wurden hier: Line, Lines Freund, eine gute Freundin von Line, Eltern von Line und ihrem Freund, eine Mitarbeiterin des Jugendamtes. Eine interessante Diskussion ergab sich rund um die Frage, ob das ungeborene Kind in einem Diskurs ebenfalls repräsentiert werden müsste und wie das geschehen könnte: z. B. durch einen Stellvertreter oder »Anwalt«?

»Was soll Line jetzt tun?«

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Freund von Line: Äh ja, ich hab sie geschwängert … (allgemeines Gelächter), äh, und ich bin der Meinung, sie sollte mit ihrem Leben noch etwas anfangen können, weil wenn sie später einmal alt wird und dann sagt: »Hätte ich das Kind mal lieber abgetrieben. Ich hab’ gar nichts mehr erleben können, sondern nur ein kleines Gör auf die Welt gesetzt. Deshalb bin ich gar nicht mit meinem Leben zufrieden so, wie es verlaufen ist.« Deshalb bin ich der Meinung, sollte Line jetzt ihr Leben noch genießen, was sie aber nur ohne Kind machen könnte. Deshalb sollte sie es lieber abtreiben. Freundin von Line: Ich als Freundin finde, dass ich ihr keinen Rat geben kann, weil man nicht so nah in der Situation ist. Also ich finde, dass sie das selbst entscheiden sollte, was sie tut. – Du solltest dich noch mehr informieren und auch auf dich selbst hören. Ich würde dir keinen festen Rat geben. Mutter von Lines Freund: Ich rate dir, eine Abtreibung machen zu lassen, denn du solltest jetzt erst einmal das Studium zu Ende führen. Denn als Richterin könntest Du vielen Menschen eine große Hilfe sein und das solltest Du nicht aufs Spiel setzen. Mutter von Line: Ich würde dir raten, das mit deinem Gewissen auszumachen, weil es letztendlich darauf ankommt, wie du dich mit der Entscheidung fühlst. Wenn du das Kind abtreibst und danach ein schlechtes Gewissen hast, dann nützt es ja für beide nichts; also wenn du es nicht mit deinem Gewissen vereinbaren kannst, solltest du es auch nicht machen. Vater von Line: Ich kann dir nur davon abraten abzutreiben, weil man nicht als Normalsterblicher über Leben und Tod entscheiden sollte, weil alle Menschen Gottes Geschöpfe sind und nicht getötet werden sollten. Anwältin des ungeborenen Kindes: Ich bin auch der Meinung, dass du nicht abtreiben solltest, weil das mit dem Recht nicht vereinbar ist, weil das Recht auf Leben unverletzlich ist und es bedingungslos gilt. Deswegen sollte nicht über den Kopf von dem Kind hinaus entschieden werden, dass es nicht leben darf. Jeder muss das Recht haben, geboren zu werden und sich dann auch frei zu entfalten. Das heißt: Es darf kein anderer über einen entscheiden, ob man leben darf oder nicht.

Nach diesem Teil folgt eine offene Diskussion zwischen allen Diskursteilnehmern, der an keine Reihenfolge gebunden ist. Wie der weitergehende Diskurs zeigt, nutzen die Diskutierenden das Gespräch, um einander direkt gegenseitig zu hinterfragen: Freundin von Line: Ich habe noch eine Frage an die Mutter von Lines Freund: Würden Sie nur sagen, dass sie abtreiben soll, weil ihr Sohn das nicht will, oder gestehen sie ihr auch noch eine eigene Meinung zu? Mutter von Lines Freund: Natürlich denke ich an meinen Sohn, weil der auch unter der Situation leidet, aber auch an Line, weil man auch an ihre Zukunft denken muss. Und ich finde, dass es nicht sinnvoll ist, das Kind in so einem jungen Alter schon zu behalten.

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Auch neue Fragestellungen und Perspektiven werden in den fortlaufenden Diskurs eingebracht: Anwältin des Kindes: Man müsste noch einmal an das Kind denken; denn bei der Abtreibung ist es doch so, dass das Kind auch starke Schmerzen hat, denn es fühlt ja auch schon etwas in dem Stadium, auch wenn es später nicht auf die Welt kommt. … Ich will das hier nicht weiter ausführen, denn das ist ein bisschen eklig. Das Kind wird dann zerstückelt. Egal …

Auf diesen Einwurf hin werden Rückfragen geäußert, ob es tatsächlich so ist, dass das Kind bei der Abtreibung etwas empfindet. Es wird deutlich, dass hier offenbar noch Klärungsbedarf besteht hinsichtlich der Entwicklungsstadien einer Schwangerschaft und des Vorgang einer Abtreibung. Line selbst nutzt das Gespräch, um für sich größere Klarheit zu gewinnen: Line: Also ich würde gerne meine Eltern fragen, ob Ihr mich dabei unterstützen würdet und auch mit dafür sorgen würdet, dass das Kind eine gute Kindheit hat, bis ich mein Studium beendet habe.

Von ihren Eltern erhält Line konkrete Zusagen, dass sie ihr helfen würden, mit Kind und Studium zurechtzukommen. Auf die Frage seiner Unterstützung hin angesprochen, gibt Lines Freund zu erkennen, dass er trotz seiner grundsätzlichen Auffassung, die Schwangerschaft zu beenden, aufgrund seiner eigenen Verantwortlichkeit für die Situation, auch zur Mithilfe bereit ist. Freund Line: Ich verdiene zwar selber noch kein Geld, aber wenn das Kind dann da ist – ich meine, ich bin selbst dran schuld – dann muss ich da auch mithelfen. Und wenn ich dann mal Geld verdiene, dann werde ich dich auch unterstützen.

Aufgrund des Votums des Freundes entsteht ein kurzer Diskussionsgang, in dem die Beteiligten versuchen zu klären, inwiefern der Freund zu Unterhaltszahlungen verpflichtet wäre, wenn Line sich beispielsweise für den Fall, dass ihr Freund sie nicht unterstützen würde, einen neuen Freund suchen würde. Grundsätzlich bleibt Lines Freund aber bei der Zusage seiner Unterstützung. Gegen Ende der fiktiven Diskussion ist die Schülerin, die die Rolle von Line übernommen hat, gebeten vorzutragen, ob sie bereits zu einer Entscheidung gekommen ist und wenn ja, wie diese ausfällt und wie sie diese begründet. Line kann folgende Entscheidung für sich treffen: Also, nachdem ich alle diese Meinungen gehört habe, habe ich mich dazu entschieden, das Kind zu behalten, weil ich weiß, dass meine Freunde und mein Freund und meine Eltern alle hinter mir stehen und mir da auch helfen würden mit dem Kind. Und ich will dann auf jeden Fall auch weiter studieren, damit mein Kind dann später auch eine gute Kindheit hat.

»Was soll Line jetzt tun?«

215

Anschließend an das Rollenspiel sind alle Schüler der Klasse eingeladen, das im Rollenspiel Erlebte bzw. Beobachtete zu reflektieren und Querverbindungen zwischen dem Rollenspiel und der ethischen Konzeption von Habermas zu ziehen.

5.

Räume des Urteilens wahrnehmen

Für einen Rückblick auf den skizzierten Unterrichtsgang zur Einführung in die Ethik im Rahmen des Religionsunterrichts in der Oberstufe soll im Folgenden die Metapher des Raumes noch einmal zur Anwendung kommen. Die verschiedenen Vollzüge des Abschreitens und Erkundens der Räume des ethischen Urteilens lassen sich dabei zwar einerseits differenziert wahrnehmen und benennen, andererseits gilt, dass die nachfolgend aufgelisteten Vorgänge nicht streng nacheinander durchlaufen werden, sondern stets ineinander verschränkt sind: [1] Die Schüler nehmen ihre eigenen Vorprägungen, ethischen Werturteile und Einstellungen wahr, reflektieren diese und bringen diese ins Gespräch ein. Dadurch nehmen sie zunächst den Raum des eigenen Urteilens in den Blick und ordnen ihre Werturteile, indem sie diese beispielsweise nach je eigenen Prioritäten gewichten. [2] Die Schüler stellen einander ihre eigenen Urteile und Einschätzungen, Lebensauffassungen und Visionen vom Leben und die damit verbundenen Räume des Urteilens vor. Sie gewähren damit Einblick in ihre eigenen Räume des Urteilens und gewinnen Einsicht in die Räume der anderen. [3] Die Schüler vertiefen und erweitern die eigenen Räume ethischen Urteilens durch das Kennenlernen klassischer ethischer Konzeptionen. Sie entdecken, dass ihre eigenen Urteile und Einstellungen einen Widerhall finden in ethischen Konzeptionen der Vergangenheit und Gegenwart. Dadurch verstärkt sich einerseits das Zutrauen zum eigenen Urteilen, andererseits vertieft, differenziert und erweitert sich der Raum des eigenen ethischen Urteilens. [4] Mit der diskursethischen Konzeption von Jürgen Habermas lernen die Schüler abschließend ein Modell kennen, um konkurrierende ethische Urteile differenziert wahrzunehmen, miteinander ins Gespräch zu bringen, und verschiedene Räume ethischen Urteilens (ihre eigenen wie die ihrer Gesprächspartner) konstruktiv so miteinander zu verbinden, dass eine für alle Beteiligten zustimmungsfähige Lösung gefunden wird. In diesem Sinne gelingt es, im Rahmen des skizzierten Unterrichtsgangs, mit den Schülern den Raum der je eigenen Wertvorstellungen und Werturteile wahrzunehmen, den eigenen Horizont durch die Begegnung mit den Räumen der Wertvorstellungen und Werturteile der Mitschüler zu erweitern und die eigenen Reflexionsebenen durch die Wahrnehmung prominenter ethischer Entwürfe und Konzeptionen zu vertiefen.

Simon Layer

Eschatologie und Bildung »Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint«1

Es gehört zu den wesentlichen Merkmalen von Texten Adornos, dass sie die Annahme von Hoffnung auf Erlösung zumindest implizit immer transportieren. Spätestens seit Moltmann ist die Perspektive der Hoffnung auch aus der christlichen Theologie nicht mehr wegzudenken. Gerade für das Christentum gilt, dass es keine Erkenntnis, d. h. keine Wahrnehmung der Welt, der Wirklichkeit, des Lebens, etc., gibt, die nicht von der eschatologischen Perspektive des christlichen Glaubens und des Christseins an sich beeinflusst ist. »Christsein heißt ein Hoffender sein.«2 Hoffnung »bedeutet, dass der Mensch von der Zukunft eine Freude, ein Glück erwartet, das er noch nicht hat.«3 Das Eschaton, die Parusie, der Anbruch des Reiches Gottes ist hierbei der Gegenstand besagten Hoffens, auf das der christliche Glaube sich vollständig gründet und ausrichtet. Ausgangspunkt der Hoffnung ist das eschatologische Geschehen der Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi, das insofern eschatologisch zu nennen ist, als es das Eschaton, also den Zustand von Erlösung und Versöhnung, in dieser Welt antizipatorisch zum Anbruch, wenn auch nicht zur Vollendung gebracht hat.4 Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus und dem Durchgang von Kreuz und Auferstehung birgt in sich das Spannungsfeld der Erhöhung durch Erniedrigung. In ihr erscheinen sowohl das Nichts als auch die neue Schöpfung als 1 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Band 4, 8. Auflage, Frankfurt am Main 2012, 283. 2 Ratzinger, Josef: Auferstehung und ewiges Leben. Beiträge zur Eschatologie und zur Theologie der Hoffnung, in: ders.: Gesammelte Schriften, Herausgegeben von Gerhard Ludwig Müller in Verbindung mit dem Institut Papst Benedikt XVI., Regensburg: Rudolf Voderholzer (u. a.), Band 10: Auferstehung und ewiges Leben, Freiburg/Basel/Wien 2012, 412. 3 Ratzinger, Josef: Auferstehung, 413. 4 Vgl. Moltmann, Jürgen: Auferstehung der Natur. Ein Kapitel der kosmischen Christologie, in: Gegenwart des Lebendigen Christus, hg. von Thomas, Günter/Schüle, Andreas, Leipzig, 2007, 141 – 149, hier 149; vgl. ebenso Thomas, Günter : »Er ist nicht hier!« Die Rede vom leeren Grab als Zeichen der neuen Schöpfung, in: Die Wirklichkeit der Auferstehung, hg. von Eckstein, Hans-Joachim/Welker, Michael, Neukirchen-Vluyn 2010, 183 – 220, hier 196.

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möglich.5 Jesus Christus ist der Grund, die Ursache und der Gegenstand des Glaubens und auf seine Wiederkunft hoffen Christen. Damit hat das Christentum seinen Zielpunkt und seinen Gegenstand, der gleichzeitig auch der Ausgangspunkt ist,6 allerdings außerhalb dieser Welt,7 im Reich Gottes, was sich für einen immanent abspielenden Glauben als Schwierigkeit darstellt, nämlich in Hinsicht auf die Vertretbarkeit der Hoffnung, die nicht nur ein Hirngespinst sein darf, um wirklich begründetes Hoffen hervorzurufen. Dieses Paradoxon ist jedoch nur ein scheinbares, da Eschatologie nicht nur ein abstruses Hoffen auf etwas ist, nicht von einer diffusen Zukunft ausgeht, sondern »von einer bestimmten geschichtlichen Wirklichkeit«8. Parusie ist auch übersetzbar mit ›Gegenwart‹, »jedoch nicht eine Gegenwart, die morgen vergangen ist, sondern eine Gegenwart, der man heute und morgen gegenwärtig sein muß.«9 Das ganze Leben, Wirken, Denken und Handeln eines jeden Christen kann nicht anders sein als eschatologisch, da es kein Moment gibt, in dem der Glaube nicht eschatologisch, d. h. hoffend auf die Parusie Christi ausgerichtet ist. »Der Glaube an Christus ist das prius, aber die Hoffnung hat in diesem Glauben den Primat.«10 Dies gilt somit gleichermaßen für den christlichen Religionsunterricht. Auf den folgenden Seiten versuche ich, die Wichtigkeit von christlicher Eschatologie und der philosophischen Utopie Adornos für Bildungs- und Erziehungsprozesse im Lernraum Schule darzustellen. Vorgehen werde ich dabei, indem ich zunächst den eschatologischen Rahmen (1.) aufstelle, der als Grundgerüst meiner Überlegungen alle weiteren Schritte begleiten soll. Darauf folgt eine Darstellung des Lernraums Schule (2.), die den eschatologischen Rahmen nun in die konkrete Bildungsinstitution übertragen soll, damit anschließend über Unterrichtswege (3.) nachgedacht werden kann. Als Fortführung dieser Gedanken steht ein grob umrissenes didaktisches Konzept (4.) direkt vor der schlussfolgernden Zusammenfassung (5.), die nochmals den Bogen zum Ausgangspunkt dieses Beitrags ziehen soll.

5 Vgl. Moltmann, Jürgen: Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, 14. Aufl. Gütersloh 2005, 206. 6 Vgl. Moltmann, Jürgen: ThdH, 39. 7 Vgl. Bartonek, Anders: Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Ort der Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, in: Epistemata, Reihe Philosophie, Band 493, Würzburg 2011, 216. 8 Moltmann, Jürgen: ThdH, 13. 9 Moltmann, Jürgen: ThdH, 207. 10 Moltmann, Jürgen: ThdH, 209.

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1.

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Der eschatologische Rahmen

»Pädagogisches Handeln ist ohne den prinzipiell riskanten Vorgriff auf Zukunft gar nicht möglich«11, denn es »antizipiert eine Welt, wie sie sein könnte, ohne über die Zukunft verfügen zu können.«12 Um dieses Zitat zu verstehen, muss eine Unterscheidung innerhalb des Wortes Zukunft vorgenommen werden, das zwei unterschiedliche Bedeutungen hat. Die erste Bedeutung ist äquivalent mit der Übersetzung des lateinischen Adventus und des griechischen Parusia.13 »Es meint die ›Ankunft‹ eines Anderen, Neuen und Ändernden, das so noch nicht da war und noch nicht da ist.«14 Konkret: Das Kommen des Reiches Gottes in diese Welt, das anbrechende Eschaton. Es ist keine Zukunft, die sich aus der Gegenwart ergibt, »sondern Gegenwart entspringt aus solcher Zukunft«15, was diese Zukunft zu einer für uns und von uns nicht beeinflussbaren macht. Der andere Begriff ist das lateinische Futurum. Entgegen der Bestimmtheit der Gegenwart durch die Parusia, bringt diese Zukunft aus der Gegenwart »alles, was werden kann«16 hervor, m.a.W.: Es ist die Zukunft, auf die wir selbst mit unseren Taten und Entscheidungen Einfluss nehmen und sie formen und bedingt auch hervorrufen oder verhindern können. »Wenn wir diesen Unterschied von Zukunft (= Parusia) und Futur aufnehmen, so könnte man sagen: Gegenwart hat kein Futur, wenn sie nicht Gegenwart der Zukunft ist.«17

Erziehendes Handeln ist also notwendig von der Zukunft, genauer gesagt von der Parusia bestimmt und als solches ein Akt, der eine eschatologische Dimension hat, denn die Antizipation der »Welt, wie sie sein könnte«18 impliziert das Vorhandensein eines Hoffens auf eine Besserung der jetzigen Zustände, was im christlichem Kontext die Erlösung genannt wird, an deren Durchführung der Erziehungsprozess selbst aber keinen Anteil hat.19 Weil christliche Hoffnung von 11 Biehl, Peter : Zukunft und Hoffnung in religionspädagogischer Perspektive, in: JRP 10/1993, Neukirchen-Vluyn 125 – 158, hier 125. 12 Biehl, Peter : Zukunft und Hoffnung, 125. 13 Vgl. Moltmann, Jürgen: Probleme der neueren evangelischen Eschatologie, in: VuF 11/1966, 100 – 124, 114 f. 14 Moltmann, Jürgen: Eschatologie, 114. 15 Moltmann, Jürgen: Eschatologie, 115. 16 Moltmann, Jürgen: Eschatologie, 115. 17 Moltmann, Jürgen: Eschatologie, 115. 18 Biehl, Peter : Zukunft und Hoffnung, 125. 19 Vgl. Bartonek, Anders: Philosophie, 194: »Erlösung […] tritt von außen in die Welt hinein.« Bartonek betont jedoch an gleicher Stelle, dass sich die Hoffnung auf Versöhnung immanent in der Anschauung zerstörter Gesellschaftsverhältnisse entwickle, was ich bestreiten möchte, da auch das versöhnende Handeln in der Welt von menschlicher Seite, sei man nun Christ oder Atheist, nicht aus sich selbst heraus möglich ist, sondern ebenso von außen, von Gott

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dieser Parusia herkommt, kann es nicht anders sein, als dass »christliche Religion das ganze Leben betrifft«20 und somit eine spezifische Konstruktion von Wirklichkeit erzeugt, die sich im christlichen Glauben als einer gemeinsamen Lebensform darstellt.21 »Hoffnung kann damit beginnen, dass wir Alternativen zu den eingespielten Lebensformen wahrnehmen«.22 Schon 1966 hat Adorno im Rundfunkgespräch mit Hellmut Becker unter dem Titel »Erziehung – wozu?«23 statuiert, dass Erziehung »[e]ben nicht sogenannte Menschenformung [ist], weil man kein Recht hat, von außen her Menschen zu formen; nicht aber auch bloße Wissensübermittlung, deren Totes, Dinghaftes oft genug dargetan ward, sondern die Herstellung eines richtigen Bewußtseins.«24

Auch hier begegnet uns also wieder der Rahmen der Utopie im Erziehungsprozess, denn das Ziel für Adorno ist die – auch bei ihm begrifflich nicht wirklich unterfütterte – Mündigkeit.25 Jedoch wehren sich Adorno und Becker beide gegen eine Idolisierung des ›mündigen Menschen‹, da sie hier genau den Rückfall in die Unmündigkeit sehen. Die Ursache für diesen Rückfall ist für Adorno in der Kulturindustrie26 verortet, die mit ihrem manipulativen Charakter dazu führt, dass sich Menschen blind mit dem sich selbst zersetzenden

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her, in die Welt hineinkommt, der in und an und durch uns handelt, wobei ich dennoch vermeiden möchte, Gott als Marionettenspieler darzustellen, sondern als Impulsgeber und durch den Geist wirkenden. Der Unterschied zwischen christlicher und achristlicher Anschauung ist, dass für den Christen die Versöhnung schon geschah. Schoberth, Ingrid: ›Im Schüler den Anderen sehen‹. Religionsunterricht aus der Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler, in: Pastoraltheologie. Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft, hg. von Hauschildt, Eberhard (u. a.), 96. Jahrgang, Göttingen, 255 – 270, 260. Vgl. Schlag, Thomas: Protestantische Bildung und Ethik. Eine systematische Skizze im Blick auf Jürgen Moltmanns »Theologie der Hoffnung«; in: Hoffnung auf Gott – Zukunft des Lebens. 40 Jahre »Theologie der Hoffnung«, hg. von Schlag, Thomas (u. a.), Gütersloh 2005, 176 – 190, hier 180. Verdeutlicht werden muss jedoch, dass es, anders als im Konstruktivismus, nicht die Konstruktion des Glaubenden Menschen selbst ist, die hier verhandelt wird, sondern eine Konstruktion des Glaubens und somit von Gott her, die als glaubender Mensch nicht anders wahrgenommen werden kann. Biehl, Peter : Zukunft und Hoffnung, 151. Adorno, Theodor W.: Erziehung – wozu?, in: Erziehung zur Mündigkeit, herausgegeben von Adorno, Theodor. W., Suhrkamp Taschenbuch 11, Erste Aufl., Frankfurt am Main 1971, 105 – 119. Adorno, Theodor W.: Erziehung – wozu?, 107. Vgl. Adorno, Theodor W.: Erziehung – wozu?, 107. Zum Begriff der ›Kulturindustrie‹ siehe Adorno, Theodor W.: Resümee über Kulturindustrie, in: Gesammelte Schriften, Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I, hg. von Rolf Tiedemann (u. a.), Frankfurt am Main 1970, 337 – 345; ebenso das Fragment »Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug« in: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, hg. von Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max, Fischer Taschenbuch Verlag, 20. Aufl. Frankfurt am Main 2011, 128 – 176.

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System identifizieren, das eine Gesellschaft gebildet hat, die in ihrer jetzigen Gestalt nur »auf der Verfolgung des je eigenen Interesses«27 beruht. Diese Diagnose ist heute so aktuell, wie sie es vor fast 50 Jahren war : Rollenmodelle und Idole werden in extremer Manier verehrt und nachgeahmt; eine selbstgeleitete Ver-Identifizierung mit dem Idolisierten führt zur Degeneration eigener Individualität. Dies stellt sich gerade heutzutage als Schwierigkeit dar, da gesellschaftliche Konventionen, die durch den Einfluss der Kulturindustrie drückend überzeugend geworden sind, die Lebensform gänzlich in das Hier und Heute verlegt.28 Eine Wirklichkeit, die rein in der Gegenwart verortet ist, braucht allerdings die Hoffnung auf eine Zukunft nicht. Hier muss eine an der Parusia und der Hoffnung sich orientierende Erziehung gegensteuern. Ein Verlust der Wahrnehmung und Reflexion der eschatologischen Perspektive führt zur Selbstvergessenheit des Einzelnen im Schatten dessen, was die Kulturindustrie als Wille der Masse propagiert und damit das Individuum über seine eigene Stellung im geschichtlichen Zusammenhang hinwegtäuscht und das erlösende Moment der Antizipation der Parusie Jesu Christi für ihn unwichtig, sogar belastend macht. Doch die Menschwerdung Gottes, seine Erwählung des Menschen und die Sprache der Verheißung, die die Sprache christlicher Eschatologie ist, spricht von Christus und seiner Zukunft, die, weil Jesus Christus der wahre Mensch ist, gleichsam unsere Zukunft ist und sein wird. Mit aller Gegenwärtigkeit, die die Kulturindustrie provoziert und evoziert, muss eine Theologie der Hoffnung aufräumen, ohne dabei aber in einen Chiliasmus und eine Gegenwartsvergessenheit zu verfallen. Gerade im Prozess der Erziehung hat man den gegenwärtigen Augenblick nur als Moment des Impulses vor Augen, wobei sich im Prozess des Erziehens das Augenmerk eben nicht auf den präsentisch geschehenden Verlauf, sondern auf das zukünftige Ergebnis richtet.29 Das Christentum ist nun gerade ein Ort, wenn nicht sogar der Ort, an dem sich dieses Zukünftige am ehesten manifestiert, indem es nicht den Glauben als Folge der Hoffnung, sondern die Hoffnung als Akt des Glaubens als Grundlage ihres Konstruierens und Wahrnehmens alternativer Lebensformen hat.30 Es ist dieser Ort, weil sich im eschatologischen 27 Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz, in: Erziehung zur Mündigkeit, hg. von Adorno, Theodor W., Suhrkamp Taschenbuch 11, Erste Aufl. Frankfurt am Main, 1971, 88 – 104, 101. 28 Vgl. Schoberth, Ingrid: Urteilen lernen. Einleitende Reflexionen, Perspektiven und Orientierungen in religionspädagogischer Perspektive; in: Schoberth, Ingrid: Urteilen lernen – Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung, Göttingen 2012, 25 – 40, 26. 29 Vgl. Klika, Dorle/Schubert, Volker: Einführung in die allgemeine Erziehungswissenschaft. Erziehung und Bildung in einer globalisierten Welt; in: Grundlagentexte Pädagogik, Weinheim/Basel 2013, 29. 30 Damit ist gemeint: Während es bei normalen Alltagshoffnungen der Fall ist, dass man sich etwas erhofft, gerade weil man glaubt, dass es nicht eintreten wird, kennt das Christentum

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Hoffen die Parusia antizipiert und damit die Gegenwart, d. h. die momentan wahrgenommene Wirklichkeit, aus der Parusia konstruiert und somit den Prozess initiiert, der christliche Erziehung als solche auszeichnet: Erziehung im Glauben resultierend aus der Antizipation des Eschatons im hoffenden Glauben.31 Doch auch in einer nicht-christlichen Argumentation, kann man unter den genannten Voraussetzungen nur zum Schluss kommen: wenn es tatsächlich so ist, dass alles und jeder unter dem Einfluss der durch die Kulturindustrie vernebelten Vernunft steht,32 dann ist die Erlösung – im Sinne einer kollektiven Mündigkeit und dem damit erreichten Ende systemischer Gebundenheit und Beeinflussung – einzig und allein extra se zu denken!33 Auch Adorno braucht also ein außerhalb des Menschen und somit außerhalb der von uns gekannten Welt liegendes Faktum, das die Erlösung immanent zum Anbruch bringen wird. Die Erlösung, die erwartet wird, ist »die Aufhebung der Welt in die ›sabbatanische Ruhe‹.«34 Der Unterschied, der sich an diesem Punkt zum Christentum auftut, ist der, dass christlicher Glaube und christliche Hoffnung davon ausgehen, dass diese sabbatanische Ruhe bereits antizipiert worden ist und zwar im eschatologischen Geschehen der Auferstehung Jesu Christi.35

2.

Lernraum Schule

Gegenüber dem freiwilligen Angebot des kirchlichen Konfirmandenunterrichts, ist Religionsunterricht an der Schule nach GG Art 7.3 gesetzlich festgelegt und kann erst später gegen das Fach Ethik ausgetauscht werden. Dass Religionsunterricht mittlerweile zu einem sinnlosen »Laberfach«36 verkommen ist, liegt

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diese Struktur des Hoffens nicht, denn Christen erhoffen sich das, von dem sie glauben, dass es definitiv passiert. Vgl. Schoberth, Ingrid: Diskursive Religionspädagogik , Göttingen 2009, 230. Vgl. Brändle,Werner : Rettung des Hoffnungslosen. Die theologischen Implikationen der Philosophie Theodor W. Adornos, FSÖTh 47, Göttingen, 1984, 221. Hiermit widerspreche ich auch Bartonek, der betont, dass das Utopische, d.i. die Erlösung, sich aus der Gesellschaft heraus entwickeln könne (vgl. Bartonek: Philosophie, 2011, 194. Analog a. a. O., 222). Adorno hat dieses Moment der Selbsterlösung eben gerade nicht, weil die Gesellschaft unter der Beeinflussung durch die kulturindustriell verkrüppelte Vernunft die Möglichkeit zur Mündigkeit durch ihre Selbstunterwerfung unter das technokratische System verloren hat. Vgl. Brändle, Werner : Hoffnung, 223. Brändle, Werner : Hoffnung, 234 f. Vgl. Brändle, Werner : Hoffnung, 243. Schluß, Henning: »Braucht die Pädagogik die Religion?« Zur pädagogischen Begründung religiöser Bildung, in: Religionssensible Erziehung. Impulse aus dem Forschungsprojekt »Religion in der Jugendhilfe« (2005 – 2008); in: Benediktbeurer Beiträge zur Jugendpastoral, 6, München 2009, 132 – 145, 137.

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zumeist an konturlosen und ideenlosen Strukturen sowie aber auch an der mangelnden Identifikation mit dem unterrichteten Fach seitens der Schülerinnen und Schüler, die der Religionsunterricht jedoch unbedingt verlangt.37 Fragt man nach den Gründen, so werden die Lehrer den Schülern und die Schüler den Lehrern immer mindestens eine Teilschuld daran zusprechen, wodurch sich am aktiven Geschehen allerdings nichts ändert. Ein Faktor ist mit Sicherheit die Ergebnisoffenheit des schulischen Religionsunterrichts, der eben nur selten in einem abschließenden Ereignis, z. B. dem Ablegen der Abiturprüfung im Fach Religion, mündet.38 Fragen wir also grundlegend, was den Unterricht attraktiver macht für Lehrer wie auch für Schüler, so findet sich eine mögliche Antwort: »Heute besteht in der Bildungslandschaft ein breiter Konsens darüber, dass guter Unterricht die Schülerinnen und Schüler für das eigene Lernen in die Verantwortung nehmen sollte. Sie sollen die Kompetenz zum Beurteilen, Reflektieren, Deuten, kritischen Hinterfragen erlangen, indem sie sich auch im methodischen Bereich schulen.«39

Um aber sich Gedanken darüber zu machen, ob diese Anforderungen überhaupt erfüllbar sind, ist kurz das Setting des Schulunterrichts zu betrachten. Der schulische Religionsunterricht findet im Schulhaus, also einem zum sich Bilden und Lernen entworfenen, separaten Raum statt, der nicht in unmittelbarer Nähe zu kirchlichen Institutionen verortet sein muss. Da er kein freiwilliges Angebot ist, muss deutlich stärker als bei der Konfirmandenarbeit davon ausgegangen werden, dass »eine defizitäre […] Erfahrung und Kenntnis im Bereich Christentum und Kirche«40 den Kontext der Sozialisation vieler Schülerinnen und Schüler ausmacht. Logische Konsequenz dieses Phänomens wäre, die fehlenden 37 Vgl. Schaede, Ina: Würde und ethische Urteilsbildung im Kontext religiöser Bildung; in: Urteilen lernen – Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung, hg. von Schoberth, Ingrid, Göttingen 2012, 250 – 265, 261. 38 Vgl. Klie, Thomas: Lehrgang als Kirchgang. Performanzen evangelischer Religion im kirchlichen Unterricht; in: Unterrichtsdramaturgien. Fallstudien zur Performanz religiöser Bildung, hg. von Dressler, Bernhard (u. a.), Stuttgart 2012, 301 – 315, 308. 39 Bermges, Stephanie: Die Grenzen der Erziehung. Eine Untersuchung zur romantischen Bildungskonzeption Friedrich Schleiermachers, Studien zur Pädagogik der Schule 34, Frankfurt am Main 2010, 220. 40 Schreiner, Martin: Mitten ins Leben. Überlegungen zur Konzeption eines neuen Unterrichtswerkes für den evangelischen Religionsunterricht; in: Zwischen Kanon und Lehrplan, hg. von Büttner, Gerhard (u. a.), Berlin/Münster 2009, 152 – 161, 154. Kumlehn zieht daraus die berechtigte Schlussfolgerung »[W]eil der Religionsunterricht für immer mehr Schülerinnen und Schüler zu einem Ort der Erstbegegnung mit Religion wird, […] [muss] deren Sensibilität und Wahrnehmungskompetenz für das, was Religion als nicht substituierbaren eigenen Selbst- und Weltzugang ausmacht, allererst ausgebildet werden« (Kumlehn, Martina: Religiöse Kompetenz – Alteritätskompetenz – Übergangskompetenz. Anforderungsprofile im Umgang mit performativen Elementen im Religionsunterricht; in: Unterrichtsdramaturgien. Fallstudien zur Performanz religiöser Bildung, hg. von Dressler, Bernhard (u. a.), Stuttgart 2012, 283 – 299, 284 f.).

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Erfahrungen und Kenntnisse in den Grundschuljahren basal aufzubauen; Realität ist ein Religionsunterricht, der sich durch eine deutliche Distanz zu Christentum und Kirche auszeichnet, wodurch er aber auch besser anzukommen scheint.41 Die Person des Lehrers spielt hierbei eine wesentliche Rolle, da selbiger nicht unbedingt aktives Mitglied einer christlichen Gemeinde sein muss; das geforderte Maß an Authentizität im Fall kompetent stattfindenden Religionsunterrichts ist dennoch sehr hoch: ein Lehrer, der das von ihm zu Lehrende nicht selbst für richtig und wahr hält, kann auch mit den Lernenden nicht in einen fruchtbaren Dialog eintreten. Durch eine Vielzahl von Lehrplänen42 wird dem engagierten Lehrer hingegen die Strukturierung und Inszenierung religiöser Bildung erleichtert, wobei doch stark zu beachten ist, dass »Stofforientierung […] den Blick auf den Modus religiöser Kommunikation [verstellt]«43. Der Modus des Unterrichtens im schulischen Religionsunterricht sollte der praktische Vollzug des Erprobens religiöser Sprachformen sein, wobei sich die Ebene der Wahrnehmung und des Redens von, in und über Religion weniger in der Binnen- als mehr in der Außenperspektive befindet, da »nicht nur theologische Grundlagen, sondern eben auch religionstheoretische Grundkenntnisse zu erwerben sind.«44 Konkret: Schulischer Religionsunterricht besteht weniger aus singen, beten und bekennen, als vielmehr aus Reflexionen über Bibeltexte und/oder Werken der Tradition. Reflexiv muss dieser Prozess immer vonstattengehen, um »Religion im Unterricht weder als ein Gesinnungsphänomen noch als eine Sammlung von textlich kodifizierten Lehren zu erschließen, sondern als eine bestimmte kulturelle Praxis, die sich wesentlich in symbolischen Kommunikationsgestalten ausdrückt.«45

Schule bietet als Schutzraum des Probedenkens eine Atmosphäre an, in der sich die Schülerinnen und Schüler ohne Bedenken in einen vermeintlich externen rationalen Diskurs mit theologischen Inhalten begeben können. Vermeintlich extern und rational ist dieser Diskurs nicht, weil er nicht vernünftig oder bloß 41 Vgl. Schweitzer : Der Wandel des Jugendalters und die Religionspädagogik. Perspektiven für Religionsunterricht, Konfirmanden- und Jugendarbeit; in: JRP 10/1993, 71 – 88, 82. 42 Siehe hierfür Dieterich, Veit-Jakobus: Was im RU gelernt werden soll … Ein Blick auf Richtlinien, Bildungspläne und Bildungsstandards für den Religionsunterricht in der Bundesrepublik Deutschland, in: Was sollen Kinder und Jugendliche im Religionsunterricht lernen?; in: JRP, 27/2011, hg. von Englert, Rudolf, Neukirchen-Vluyn, 25 – 34. 43 Dressler, Bernhard: Überlegungen zum Kompetenzaufbau im Religionsunterricht, in: Was sollen Kinder und Jugendliche im Religionsunterricht lernen?, JRP 27/2011, hg. von Englert, Rudolf, Neukirchen-Vluyn, 2011, 155 – 163, 159. 44 Kumlehn, Martina: Kompetenz, 289. 45 Dressler, Bernhard: Performative Religionsdidaktik: Theologisch reflektierte Erschließung von Religion; in: Unterrichtsdramaturgien. Fallstudien zur Performanz religiöser Bildung, hg. von Dressler, Bernhard, Stuttgart, 2012, 15 – 42, 34.

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emotional stattfindet, sondern weil es nicht möglich ist, probeweise die Sprachformen des Glaubens zu benutzen, ohne dabei in die Binnenperspektive christlicher Weltanschauung einzutreten.

3.

Wege des Unterrichtens »Es gehört zur Grundbestimmung christlicher Religion, dass sie gerade nicht gelernt wird, indem ein Wissen über Religion angeeignet wird, sondern dass sie einen Raum bietet, in den Schülerinnen und Schüler hineingehen und an dem sie partizipieren können, wenn auch nur vorläufig und auf Erprobung hin: Mitteilung des Glaubens in religiösen Bildungsprozessen ist immer nur als indirekte Mitteilung denkbar, weil keiner über die Sache des Glaubens verfügt.«46

Es geht nicht darum, eine Wahrheit zu vertreten, sondern darum zu zeigen, auf welche Art und Weise der Zugang geschehen kann, Fähigkeit zum eigenen Urteil zu gewinnen, also theologische und religiöse Kompetenz47 zu erwerben. Gebildetwerden in Religion fordert von den Schülerinnen und Schülern, was sowohl Ausgangspunkt als auch Zielpunkt jedes Erziehungsprozesses ist: Sich ins Verhältnis zu setzen und den Perspektivwechsel vollziehen zu können.48 Wenn sich der sich Bildende in ein Verhältnis zum Glauben setzt – gerade im schulischen Raum ist dies möglich, weil dort eine Atmosphäre herrscht, die probeweises Handeln befördert – reflektiert er gleichzeitig den Glauben und tritt so in die Welt des Glaubens ein. Wir stoßen auf die Voraussetzung der Partizipation, die aber, nicht für sich genommen ausreicht, sondern immer um die Konstante der Deutekompetenz49 erweitert gedacht werden muss, da eine erfolgreiche Teilnahme am Diskurs im Kontext verschiedener gesellschaftlicher Subsysteme 46 Schoberth, Ingrid: ›Im Schüler den Anderen sehen‹. Religionsunterricht aus der Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler ; in: PTh 96/2007, 255 – 270, 263. 47 »Kompetenzen sind ein Bündel von Einstellungen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Motivationen, sozialer Bereitschaft und tatsächlichem Willen, mit dem ein Mensch in realen Situationen anwendet, was er weiß, und umsetzt, was er kann« (Scheidler, Monika: Gemeindliches Lernen – Schulischer RU. Welche Kompetenzen können in der Gemeinde erworben werden? Eine katholische Perspektive, in: Was sollen Kinder und Jugendliche im Religionsunterricht lernen?; in: JRP, 27/2011, 91 – 102, 97. Theologische und religiöse Kompetenz beschreiben für mein Verständnis zwei Seiten der gleichen Medaille: Nicht nur braucht ein Christ das Wissen um theologische Grundlagen des christlichen Glaubens, das er selbstredend immer reflektierend prüft und seinen Glauben daran orientiert bzw. die Prüfung am Glauben orientiert; es ist ebenso das Wissen um den religiösen Umgang mit theologischem Wissen und den damit entstehenden Glaubensvollzug vonnöten. 48 »Die Fähigkeit, sich zur christlichen Religionspraxis – die selbstverständlich weit über die Gottesdienstpraxis hinausgeht – ins Verhältnis zu setzen, kann als ›Partizipationskompetenz‹ verstanden werden« (Dressler, Bernhard: Didaktik, 31). 49 Vgl. Dressler, Bernhard: Überlegungen zum Kompetenzaufbau im Religionsunterricht; in: JRP 27/2011, 155 – 163, 156.

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immer voraussetzt, dass verstanden wird, welche kommunikativen Modi und Muster verwendet werden und welche Bedeutung sie haben.50 Diese Deutekompetenz kann und muss immer vom Lehrkörper vorgelebt und veranschaulicht werden. Von dieser Voraussetzung ausgehend, unter dem Aspekt der momentan vorherrschenden Lehrpläne auf Basis des Kompetenzmodells, »wäre [also] nicht mehr Wissensvermittlung im herkömmlichen Sinne die primäre Aufgabe der Schule, sondern Vermittlung des Zugangs zu und des Umgangs mit den großen Wissensspeichern unserer Gesellschaft.«51 Der christliche Religionsunterricht nimmt hierbei eine wichtige Rolle ein, denn um sich am kulturellen Lebensprozess beteiligen zu können, ist es eminent wichtig, dass gerade »[j]unge Menschen […] lernen, sich auszudrücken und Rechenschaft über sich anderen gegenüber abzulegen«52. Dies hat besonders für ein Leben in und aus christlichem Glauben heraus Geltung, denn es fordert vom Einzelnen ein hohes Maß an Reflexion, welches benötigt wird, um bei der ständig sich erweiternden Pluralität der Lebenswelt auskunftsfähig zu bleiben. Adornos Forderung nach einer »Erziehung zum Individuum«53 kommt hier besonders zum Tragen und ist eins zu eins auf eine Erziehung hin zur Mündigkeit im Glauben übertragbar, da Glaube eine ausgeprägte subjektive Perspektive birgt und bergen muss. Jegliche Erziehung, die dieses Moment der Individualität nicht berücksichtigt oder zu kurz kommen lässt, »ist unterdrückend, repressiv«54. Bildungsprozesse bewegen sich dementsprechend immer im Wechselspiel von Parusia und Futurum, auf der Kante zwischen Antizipation von Freiheit und der Unmöglichkeit, sie aus sich heraus zu erlangen. »Menschen wollen heute frei sein, doch sie müssen auch frei sein. Das Rationale unserer Zeit schreibt uns heute vor, dass wir selbstständig und fest verankert im Leben stehen müssen.«55

Freiheit, wie sie gesellschaftlich proklamiert und angemahnt wird, ist jedoch keine wirkliche Freiheit – und kann es auch nie werden –, da sie vorgeschrieben ist. Vorgeschriebene Freiheit ist Unfreiheit. Freiheit, die oft als Grundvoraussetzung und Ziel des Bildungsprozesses verhandelt wird, kann nur eine Scheinfreiheit sein, denn wie auch immer der Begriff Freiheit gefüllt werden mag, sie ist ein gnadenhaftes Geschenk Gottes, die durch den Glauben, der ebenfalls von Gott kommt, dem Menschen zugänglich wird; allerdings nicht 50 Vgl. Dressler, Bernhard: Kompetenz, 156. 51 Klika, Dorle: Erziehungswissenschaften, 126. 52 Roebben, Bert: Religionspädagogik der Hoffnung. Grundlinien religiöser Bildung in der Spätmoderne, Forum Theologie und Pädagogik, Band 19, Berlin, 2011, 136. 53 Adorno, Theodor W.: Erziehung – wozu?, 117. 54 Adorno, Theodor W.: Erziehung – wozu?, 118. 55 Roebben, Bert: Religionspädagogik, 49.

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völlig, denn er ist in der Unfreiheit der Welt frei in Gott. Auf die Bildung bezogen zeigt sich dies in der Unfreiheit bzgl. der Auswahl des Lernstoffes: In einem bestimmten Kulturkreis sozialisiert, kommt der Mensch aus sich heraus nicht über die Grenzen des Bildungskanons des kulturellen Systems hinaus, in dem sich seine Sozialisation zugetragen hat. Die Begegnung mit anderen systemischen Bezugspunkten kann dann eine Erweiterung dieses Kanons bedeuten; von Freiheit ist jedoch schwerlich zu sprechen. Auch das Ziel Freiheit ist dann nicht erreichbar, da es unter den aus der Grundlage hervorgehenden Problemen steht und somit eine Utopie ist. Die Aufgabe des Lehrers ist also, anhand verschiedenster didaktischer Modelle – z. B. Bibeldidaktik, Symboldidaktik, performative Didaktik – die unterschiedlichen Zugänge zum Reden der Sprache des Glaubens zu eröffnen und immer diskursiv den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler zu begleiten, auf dass das Lernziel, das Futurum, die schrittweise Aneignung und somit Vermittlung theologischer und religiöser Kompetenz, sich – immer wieder neu – konstruiere. »In einer Situation […] fortschreitender Ausdifferenzierung unterschiedlicher sozialer und kultureller Praxen quer zu den Lebensführungsmustern der Menschen, kann die christliche Religion nicht mehr selbstverständlich alle Lebensbereiche imprägnieren und regulieren. Im Vollzug christlicher Religion muss daher die Fähigkeit entwickelt werden, die Perspektive, mit der sie gleichsam ›von außen‹ wahrgenommen wird, in ihre Binnenperspektive zu integrieren.«56

Wenn dieses ernst genommen wird und die Außenperspektive in die Innenperspektive integriert wird, wird das kritische Bewusstsein des Subjekts gegenüber dem eigenen Glauben gestärkt, was sich wiederum darauf auswirkt, wie der Glaubende sich selbst in seiner Umgebung, aber auch seine Umgebung selbst wahrnimmt. Das führt dann, was sehr positiv ist, dazu, dass »der christliche Glaube […] zu einer bewussten Wahl und zum Resultat längerer Überlegungen und vertiefter Auseinandersetzung [wird]«57, was abermals die Mündigkeit des Glaubens befördert. Unterrichtswege sind folglich notwendig vom Ziel her geleitete Prozesse. Der utopische Zustand der Mündigkeit, die sabbatanische Ruhe, ist nicht umsonst Dreh- und Angelpunkt von Adornos Erziehungsprogramm und sollte in der christlichen Religionspädagogik und -didaktik stärker Einzug halten, denn nur wenn Lehrer und Schüler sich in je und je neue Reflexionsprozesse begeben und sich darauf einlassen, in einen Dialog zu treten, der vorurteilsfrei und auf einer gemeinsamen Ebene geschieht, besteht die Möglichkeit, dass aus dem Laberfach 56 Dressler, Bernhard: Didaktik, 21. 57 Roebben, Bert: Religionspädagogik, 45.

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Religion in der Schule ein Fach wird, das nicht für unnützes Wissen, sondern für Erfahrung zum Leben sorgt.

4.

Ein didaktisches Konzept – grob umrissen

An die im vorhergehenden Abschnitt gestellten Aufgaben schließt sich im Folgenden die logische Konsequenz an: ein Vorschlag einer Möglichkeit zur Bewältigung dieser Aufgaben. Die grobe Darstellung eines didaktischen Konzepts gestaltet sich immer schwierig, denn sie bedeutet inhaltliche Reduktion bei offenbleibenden Lücken. Eine ausführliche Darstellung bedeutet dagegen den Umfang eines Buches zu erreichen. Dennoch wage ich den Versuch. Stützen möchte ich diesen Entwurf auf einige bereits existierende Modelle, von denen jedoch meist nur ein Teilaspekt ihrer gesamten Konzeption übernommen werden wird. Religiöse Bildung muss sich in ihrer ganzen Gewissheit ihres Tuns der Sache bewusst sein, dass sie nicht anders als im praktischen Vollzug von Religion gelernt und gelehrt werden kann. Hierzu eignen sich Zeichen und Symbole, denn sie sind das, worüber sich das Christentum ausdrückt, was es kommunizierbar und praktikabel macht.58 Sie sind das, was Ingrid Schoberth die Sprachformen des Glaubens nennt,59 die unbedingt erschlossen und praktiziert werden müssen, damit religiöses Lernen nicht bloß reden über Religion ist, sondern tatsächliches Reden von und aus Religion. Hiermit ist die Perspektive der Performativität religiöser Bildung schon klar angelegt.60 Religiöse Bildung steht also unter dem Aspekt der Erschließbarkeit von Religion nur über Religion.61 Der Lehrende und die Lernenden sind immer wieder gefordert, sich mit anderen ins Verhältnis zu setzen und ihr Verhältnis zu religiösen Sprachformen und Praxen zu prüfen. Dies erfordert allerdings den Dialog nicht nur mit Texten, sondern auch und vor allem miteinander :

58 Vgl. Meyer-Blanck, Michael: Symbolisierungs- und Zeichendidaktik; in: Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik, hg. von Grümme, Bernhard (u. a.), Stuttgart 2012, 43 – 54, 43. 59 Vgl. Schoberth, Ingrid: Glauben-lernen heißt eine Sprache lernen. Exemplarisch durchgeführt an einer Performance zu Psalm 120; in: rhs 45/2002, 20 – 31. 60 Siehe hierzu Leonhard, Silke/Klie, Thomas: Performatives Lernen und Lehren von Religion; in: Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik, hg. von Grümme, Bernhard (u. a.), Stuttgart 2012, 90 – 104. 61 Vgl. Meyer-Blanck, Michael: Didaktik, 45.

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»Im Gespräch ereignet sich das unverzichtbare Miteinander. Hier kann das einzelne Subjekt nicht bei sich selber bleiben, sondern begegnet den Anderen; aus dieser Begegnung gehen beide verändert hervor.«62

In diesem Veränderungsprozess ist ebenso mit inbegriffen, dass die Schülerinnen und Schüler wie auch der Lehrkörper einen Perspektivwechsel vornehmen, um die Position des anderen wahrnehmen und somit respektvollen Umgang miteinander pflegen zu können. Wenn dies nicht gewährleistet ist, geht der Unterricht fehl. Es bedeutet also, dass christliche Religion zu lernen zugleich mit sich bringt, sich auf Neues einzulassen.63 Um dieses zu gewährleisten ist es eminent wichtig, dass der richtige Umgang miteinander gezeigt wird, was den Lehrkörper aber auch sonstige Erziehungsinstanzen dazu nötigt, Respekt vorzuleben, denn so wenig wie Schüler haben auch Lehrer den Anspruch auf absolute Wahrheit. Ein weiteres wichtiges Faktum ist eine konstruktivistische Herangehensweise: Die Schülerinnen und Schüler sollen nicht nur erkennen, dass sich die Konstruktion im Subjekt vollzieht,64 sondern auch spezifisch christlich: dass die Konstruktion dieser ihrer Wirklichkeit von Gott selbst durch den Glauben vollzogen wird und sie selbst erst darauf aufbauend ihre je eigene Wirklichkeit durch ihn konstruieren. Unter diesem Aspekt ist die Wendung auf das lernende Subjekt eine wichtige, jedoch nur, wenn dieses Subjekt in permanentem Bezug zu anderen steht und somit mit ihnen den Dialog führt. Es ist also die Aufgabe des Lehrers wie auch der Schülerinnen und Schüler, acht zu haben, »dass [im religiösen Unterricht] nicht zusätzlich Wissen vermittelt wird, sondern Menschen allererst befähigt werden, in den gesellschaftlichen Transformationsprozessen sich selbst und andere wahrzunehmen«65. Selbstredend kommt aber kein Unterricht ohne die Weitergabe von basalen Kenntnissen und einem Grundbestand an Wissen aus, was bedeutet: »In der Praxis wird ein systematisch reflektierter Wechsel zwischen instruktivistischübergreifenden und konstruktivistisch-individuellen Lernphasen die Normalität darstellen.«66

62 Schoberth, Ingrid: Diskursive Religionspädagogik, 85. 63 Vgl. Schoberth, Ingrid: Diskursive Religionspädagogik, 231. 64 Vgl. Mendl, Hans: Konstruktivistische Religionspädagogik; in: Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik, hg. von Grümme, Bernhard (u. a.), Stuttgart 2012, 105 – 118, 105. 65 Schoberth, Ingrid: Diskursive Religionspädagogik, 216. 66 Mendl, Hans: Religionspädagogik, 111.

230

5.

Simon Layer

Schlussfolgerungen

Das bisher Gesagte soll dazu anhalten, dass sich die Bildung im Horizont des Evangeliums wieder stärker darauf besinnt, was sie auch theologisch vermitteln sollte, nämlich den »ungeschmälerten Anspruch auf die Wahrheit der Erlösung«67. Die christliche Eschatologie ist Ausgangspunkt und Endpunkt alles christlichen Schaffens und Handelns und somit auch des Erziehens aus und zu christlichem Glauben. Erziehung, allgemein gesprochen, ist als prozessualer Akt mit der Aufgabe versehen, dem Lernenden Werte und Anschauungen zu zeigen und ihm zu helfen, diese zu hinterfragen. Durch diese Hinterfragung ergibt sich das langfristige Ziel der Utopie von Mündigkeit, die – einmal erreicht – den Erzieher überflüssig macht. Der Prozess selbst ist nicht nur ein aktives Geschehen am, sondern auch passives Wirken auf den Erzogenen, was Rezeptivität erfordert. Demzufolge ist Erziehung fremdbestimmt. Konträr dazu ist Bildung immer Selbstbildung und kann sich nicht selbst überflüssig machen, schon alleine, weil Bildung immer prozesshaft ist. Gebildet sein ist eine, wenn nicht sogar die, eminent wichtige Voraussetzung für sämtlichen reflexiv-mündigen Umgang mit sich selbst, der Welt und dem Gegenüber. Gebildet ist allerdings nicht der, der besonders viel weiß, sondern der aufbauend auf einen Grundstock von Wissen, der unbedingt nötig ist, dieses Wissen anwenden kann und durch Reflexion es zugleich anzupassen in der Lage ist. Dieses ist genau im Bereich religiöser Bildung zu beachten und auch möglich, denn die Lebensformen des Glaubens sind nicht einfach nur zu kennen und zu wissen, sondern sie sind Lebensformen, gehen über Wissen weit hinaus, denn sie fordern Performanz. Konkret: christlich-religiöse Bildung ist performativ und als solche nicht an bloßem Wissen alleine orientiert. Im Licht der Eschatologie heißt das für christliche Bildung und Erziehung, dass sie nicht anders kann als durch die ureigene Wahrnehmungsebene des Christentums hoffnungsgeleitet zu sein. Dies bedeutet für den Erziehungsprozess, dass er aus Glauben und in Glauben nun nicht anders als im Glauben erziehen kann. Die Fähigkeit des sich-Verhaltens wird hierbei ebenfalls gelernt, wobei nicht vergessen werden darf: auch Ablehnung und Kritik (z. B. von bestimmten Glaubensinhalten) sind Formen des sich-Verhaltens, das sowohl christlich als auch nichtchristlich ein Faktor zur Beförderung von Mündigkeit ist, der von Anfang an mit auf den Weg gegeben werden sollte. Dieses auf-denWeg-Geben ist dabei keine Oktroyierung, sondern ein Vorleben, ein Zeigen, das erst durch Authentizität glaubwürdig und somit für den Erziehungsprozess re67 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Band 1707, Erste Aufl. Frankfurt am Main 2003, 10.

Eschatologie und Bildung

231

levant werden kann. Christliche Erziehung zielt ebenfalls auf die eschatologische Utopie der Mündigkeit des Glaubens, wobei das Spezifikum ist, dass sich diese Utopie schon im Glauben antizipiert, der mündige Glaube also ein wirklicher Glaube ist, der sich selbst durch seine je eigene Prüfung füllt und erhält. Adorno ist hierbei ein Beispiel dafür, dass der Ansatz dieses Beitrags, nämlich eine Erziehung unter dem Licht der Erlösung, auch außerhalb christlicher Eschatologie seine Gültigkeit hat. Für ihn gilt gleichsam, dass die Hoffnung auf die noch nicht existenten Zustände und von diesen her kommend Handeln erfordert und ermöglicht; jedoch ebenso einzusehen ist, dass das Utopische nicht immanent zum Anbruch gebracht werden kann, sondern von außen in die Welt hineinkommen muss. Wenn Bildung Selbstbildung ist, so gilt dies auch für die spezifisch christliche, die jedoch die Besonderheit mitbringt, dass sie von Gott herkommend durch den Glauben eine neue Perspektive mitbringt, nämlich die, dass sie einen klaren Handlungsauftrag aus dem Glauben heraus zieht. Dieser Auftrag ist der Erwerb von theologischer und religiöser Kompetenz, d. h. reflektiert und kritisch den eigenen Glauben und das eigene Wissen, sei es religiös oder profan, zu prüfen und daran immer wieder neu die Wirklichkeit zu erschließen und das Handeln daran auszurichten. Das erfordert dazu auch die Fähigkeit, sich ins Verhältnis zu setzen, die, durch die Erziehung angestoßen, im Bildungsprozess erworben wird. Dadurch ist Bildung Zukunft schaffend und das Geschaffene je neu gestaltend. Für die Praxis des pädagogischen Handelns heißt das, dass sie nur im Diskurs vonstattengehen kann, indem die spezifische Sprache des Glaubens erprobt wird. Lehren und Lernen müssen deshalb notwendig performativ gestaltet sein, da nur der praktische Vollzug des Glaubens das Lernen des Glaubens ermöglicht. Hier soll bewusst der Blick zunächst direkt in die Binnenperspektive christlicher Religion gelenkt werden. Mit dem Schritt für Schritt fortschreitenden Einbeziehen auch der Außenperspektive, wird die Sprachfähigkeit der Schülerinnen und Schüler diskursiv erschlossen und im Umfeld schulischer Bildung in den Dialog mit anderen Fächern gebracht. Durch dieses ins-Verhältnis-Setzen ist den Schülerinnen und Schülern zudem die Möglichkeit gegeben, sich dem Religionsunterricht und dem Glauben gegenüber kritisch zu verhalten und somit die Kompetenz zu erwerben, auch in nicht-religiösen Gesellschaftsbereichen souverän und reflektiert ihr Wissen zur Anwendung zu bringen, vermeintliches Wissen zu hinterfragen und sich zu verhalten. Diese Befähigung ist gerade und besonders deutlich in der nur im praktischen Vollzug möglichen diskursiven Bildung in christlich-religiösem Kontext zu erwerben.

Hartmut Rupp

Assistierter Suizid als Inhalt ethischen Lernens im Evangelischen Religionsunterricht

Die folgenden Überlegungen und Vorschläge wollen den assistierten Suizid als Inhalt ethischen Lernens im evangelischen Religionsunterricht erschließen. Sie orientieren sich an den Schritten ethischer Urteilsbildung von Heinz Eduard Tödt1 und bereiten zunächst einmal das Thema im Sinne einer Lehrer-/innenSach-Analyse auf. Erst dann folgen die didaktischen Überlegungen, konkrete Unterrichtsideen sowie ein ausführlicher Unterrichtsvorschlag samt Unterrichtsmaterialien. Folgende Schritte werden gegangen: 1. Klärung und Differenzierung des ethischen Problems des assistierten Suizids 2. Analyse der gesellschaftlichen und rechtlichen Situation 3. Bestimmung der Verhaltensalternativen 4. Normenprüfung und Reflexion von Grundfragen 5. Zum Urteilsentscheid 6. Aufgaben und Möglichkeiten ethischen Lernens 7. Vorschlag für eine Ethikmappe »Assistierter Suizid« 8. Unterrichtsmaterialien

1.

Klärung und Differenzierung des ethischen Problems

In einem aktuellen Schulbuch für den evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe II finden sich unter dem Thema »Mensch« verschiedene Anforderungssituationen, die die Relevanz der vorangestellten Kompetenzerwartungen belegen und den Stand des Kompetenzerwerbs bei den Schülerinnen und Schüler erheben sollen. Eine Anforderungssituation bezieht sich auf die Beihilfe zur Selbsttötung, wie assistierter Suizid zu übersetzen ist.2 1 Tödt, Heinz Eduard: Versuch zu einer Theorie ethischer Urteilsfindung; in: ZEE 21, 1977, 81 – 93. 2 Kursbuch Religion Sekundarstufe II, hg. von Hartmut Rupp, Veit Jakobus Dieterich, Stuttgart und Braunschweig 2014, 47.

234

Hartmut Rupp

»Frau K. liegt mit Krebs im Endstadium auf einer onkologischen Station. Bei den Besuchen klagt sie über unerträgliche Schmerzen. Der behandelnde Oberarzt sagt, sie sei schmerzmäßig gut eingestellt. Wiederholt äußert sie, sie möchte tot sein. Nachdem eine vertrauensvolle Beziehung entstanden ist, sagt sie eines Abends zu mir : ›Herr Pfarrer, ich kann und will nicht mehr. Es soll da eine Organisation geben, die einem hilft zu sterben. Da kann man Mittel bekommen. Können Sie mir die besorgen!?‹. Was soll der Pfarrer antworten?«3

Die Aufgabe zielt darauf ab, die anthropologischen und ethischen Kenntnisse sowie die Fähigkeit zur theologisch-ethischen Argumentation der Schülerinnen und Schüler zu untersuchen. Indem die Schülerinnen und Schüler sich mit dem Krankenhausseelsorger »probeweise« identifizieren, sollen sie zeigen, was sie an christlicher Theologie und christlicher Ethik schon beherrschen. Unterrichtlich wird es sicherlich auch darum gehen, zu erheben, was die Schülerinnen und Schüler selber meinen und wie sie persönlich argumentieren. Das Fallbeispiel zeigt ganz bestimmte Merkmale: – Frau K. liegt im Sterben. Sie ist krebskrank. – Frau K. ist eine volljährige Person. – Sie hat dauerhaft unerträgliche Schmerzen, die sie nicht mehr aushalten kann. – Frau K. äußert ihren Sterbewunsch mit klaren Worten und wiederholt. »Ich kann und will nicht mehr.« – Die Situation ergibt sich in einem öffentlichen Krankenhaus. – Frau K. ist in ärztlicher Obhut, doch die palliativ-medizinische Behandlung kann ihr offenbar nicht mehr helfen. – Die Frau bittet darum, dass in das Krankenhaus eine Organisation (wie z. B. »Sterbehilfe Deutschland« gegr. von dem ehemaligen Hamburger Justizsenator Roger Kusch) kommt, die ihr hilft mit bestimmten Medikamenten ihrem Leben selber ein Ende zu setzen. – Sie wendet sich an einen Krankenhausseelsorger, der sie regelmäßig besucht und seinen Dienst in der Institution des Krankenhauses versieht. Sie erwartet von ihm gerade als Pfarrer Verständnis und Unterstützung, aber auch seelsorgliche Verschwiegenheit, räumt aber eine eigene Entscheidung ein. »Können Sie mir die besorgen?« Alle diese Faktoren müssen bedacht werden, wenn der Fall ethisch beurteilt wird. Er stellt sich zunächst als ein personalethisches Problem dar, in dem der Pfarrer als Person und Christ gefragt ist. Doch es erweist sich zugleich als professionsethisches Problem, da er immer auch seinem Berufsethos als Krankenhausseelsorger verpflichtet ist. Als zwar ungebundener, doch stark inte3 Eibach, Ulrich: Beihilfe zur Selbsttötung. Eine ethische und seelsorgliche Beurteilung. Dt. Pf. Blatt 1/2012, 15 – 19.15 (Der Text wird als M 1a den Schülerinnen und Schülern vorgelegt).

Assistierter Suizid

235

grierter Mitarbeiter in der Klinik ist er auch in institutionsethische Zusammenhänge eingebunden: Darf ein öffentliches Krankenhaus einer Sterbehilfeorganisation Zutritt geben? Ist das rechtlich erlaubt? Wer hat darüber zu befinden? Doch es geht auch um weitere institutionelle Zusammenhänge: Macht sich der Pfarrer strafbar, wenn er bei einer Sterbehilfeorganisation tödliche Medikamente besorgt, in das Krankenhaus mitbringt und der Sterbewilligen zur Verfügung stellt? Macht er sich unterlassener Hilfestellung schuldig, wenn er dabei bleibt? Macht er die Kirche unglaubwürdig, in deren Auftrag er handelt?4 Die Komplexität des ethischen Problems wird vollends deutlich, wenn man die Faktoren variiert. Was ändert sich an der ethischen Beurteilung, wenn – Frau K. zwar sich bewusst äußern kann, aber körperlich nicht in der Lage wäre, die Selbsttötung durchzuführen, – Frau K. keine Schmerzen hat, sich nicht im Endstadium einer tödlichen Krankheit befindet, aber lebensmüde ist (weil sie einsam geworden ist, durch einen Unfall entstellt ist, etc.), – Frau K. eine Minderjährige wäre, – die Situation sich im Privathaus der Sterbewilligen einstellt, – die Frage an ein Familienmitglied, an den Oberarzt oder den Hausarzt gerichtet wird, – die Frage an einen vollkommen säkularen Menschen gerichtet wird, – der Fall sich nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz oder in Holland ereignet oder – der Seelsorger unter Druck gesetzt wird (»Sie als Pfarrer müssen mir helfen!«) Dass das ethische Problem sich noch einmal anders darstellen kann, zeigt ein weiteres Beispiel in demselben Schulbuchkapitel. Geschildert wird der Fall der Schweizerin Erica Bolinger, die nach einer Alzheimer Diagnose im Jahre 2008 sich mithilfe der Sterbehilfeorganisation EXIT im Beisein ihrer Familie bewusst und entschieden das Leben nimmt. Der Fall wurde von Walter Däpp in der Wochenzeitung »Die ZEIT« dokumentiert und ist online im ZEIT-Archiv zugänglich.5 Dieser Fall zeigt ganz andere Merkmale: – Erica Bolinger steht vor einer schweren Erkrankung, jedoch nicht vor dem Tod. Diese Erkrankung droht jedoch ihre bisherige Persönlichkeit auszulöschen. – Sie hat keine Schmerzen. 4 Zur Unterscheidung personalethischer, professionsethischer und institutionsethischer Aspekte Huber, Wolfgang: Ethik. Grundfragen unseres Lebens. Von der Geburt bis zum Tod, München 2013, 22. 5 http://www.zeit.de/2011/48/CH-Erica-Bollinger/seite-2. Die Schülerinnen und Schüler bearbeiten diesen Text als M 2. – Alle in diesem Beitrag angegebenen Internetadressen wurden im Januar 2015 geprüft.

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Hartmut Rupp

– Sie bekräftigt dreimal den Willen sterben zu wollen. – Frau Bolinger möchte nach einem selbstbestimmten Leben nicht abhängig sein und anderen nicht zur Last werden. – Sie bestimmt selbst über die Umstände des Sterbens. – Sie nimmt die Hilfe einer in ihrem Land rechtlich erlaubten Organisation (EXIT) in Anspruch. Die Mitarbeiter machen sich nicht strafbar. – Die Vertreter der Sterbehilfeorganisationen sind bis zuletzt dabei. – Die eigene Familie respektiert den Wunsch, unterstützt das Vorgehen und begleitet sie bis zum Schluss. – Erica Bolinger stirbt nach Aussage der Begleitenden friedlich und harmonisch. Die Auseinandersetzung mit der Anforderungssituation von Frau K. und der Vergleich mit der anders gelagerten Situation von Erica Bollinger erlaubt, das ethische Problem des assistierten Suizid differenziert wahrzunehmen. Es ergeben sich ganz unterschiedliche Problemdefinitionen: – Dürfen Christen einem assistierten Suizid zustimmen und diesen vorbereiten? – Darf ein Krankenhauspfarrer/eine Krankenhauspfarrerin dabei mitwirken? – Darf ein Arzt/eine Ärztin dabei Hilfestellung geben? – Sollen Sterbehilfeorganisationen rechtlich verboten werden? – Darf ein Krankenhaus Sterbehilfeorganisationen Zugang geben? – Dürfen Christinnen und Christen ihr eigenes Leben beenden? Zu unterscheiden sind individual- bzw. personalethische (1.6), professionsethische (2.3.) und institutionsethische (4.5) Problemdefinitionen.

2.

Analyse der gesellschaftlichen und rechtlichen Situation

2.1

Klärungen und Unterscheidungen

Bei dem assistierten Suizid (von sui caedere sich selbst töten) handelt es sich um Beihilfe zur Selbsttötung. Sie schließt also die Fähigkeit des Sterbewilligen ein, sich selbst aktiv das Leben zu nehmen und somit »Tatherrschaft« auszuüben. Dies unterscheidet einen assistierten Suizid von einer aktiven Sterbehilfe, bei der die Tatherrschaft nicht bei dem Betroffenen, sondern bei einem Dritten liegt. Es zeigen sich jedoch Nähen zur Tötung auf Verlangen.6 Zu unterscheiden ist der assistierte Suizid bei Sterbenden, bei psychisch Kranken und Menschen mit einer unheilbaren Erkrankung (wie zum Beispiel 6 Das Verschreiben, Abholen und Anbieten eines tödlichen Medikaments aufgrund einer Bitte nähert sich im konkreten Fall häufig der Tötung auf Verlangen an.

Assistierter Suizid

237

Alzheimer, Parkinson, multiple Sklerose, ALS). Der assistierte Suizid bei Sterbenden (so bei Frau K.) rückt in die Nähe der indirekten Sterbehilfe. Eine weitere Unterscheidung betrifft das Lebensalter. Mit dem Sterbewunsch von Minderjährigen wird man anders umgehen müssen als mit dem von volljährigen Personen. Sodann gilt es zu unterscheiden, wer Beihilfe leistet und unter welchen Voraussetzungen dies geschieht. Sind es Angehörige, Pflegekräfte oder ein Arzt bzw. eine Ärztin? Sind es Vertreter einer Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Menschen zu helfen, sich selbst zu töten? Setzt der assistierte Suizid eine längere Vertrauensbeziehung und die Ausschöpfung aller anderen Hilfsmöglichkeiten voraus? Ist der Sterbewille schriftlich zu dokumentieren oder mehrfach mündlich evtl. in einer Videoaufzeichnung zu bezeugen?

2.2

Befunde

(1) Die Zahl der assistierten Suizide steigt ständig an. Ganz deutlich zeigt sich dies in Ländern wie der Schweiz, Holland, Belgien und Luxemburg, die Formen der Selbsttötung nicht unter Strafe stellen oder sogar eigene Regelungen eingeführt haben. So stieg in der Schweiz die Zahl der Beihilfen zur Selbsttötung von 2009 auf 2010 von 297 auf 352.7 In Deutschland lag im Jahre 2013 die Zahl der assistierten Suizide bei 155 bei ca. 10.000 Suiziden im Jahr. Diejenigen, die Beihilfe zur Selbsttötung in Anspruch nehmen, sind zwischen 70 und 90 Jahre alt und überwiegend krebskrank. Offenkundig steigen die Fälle assistierten Suizides mit der allgemeinen Verlängerung des Lebensalters und der Zunahme von Hochaltrigkeit.8 Die ethische Herausforderung wird also weiter zunehmen. Anzunehmen ist ein Zusammenhang mit dem medizinischen Fortschritt und einer erfolgreichen Gesundheitsvorsorge. Menschen in Mitteleuropa leben länger gesund und selbstbestimmt. Sie erleben allerdings im Alter die Einbuße von Gesundheit und den Rückgang von Autonomie als Verlust von Lebensqualität. Bei vielen Hochhaltigen setzt nach einer langen Phase gesunden Lebens eine Phase der Multimorbidität ein, die mitunter lange dauern kann.9

7 Journal of Medical Ethics http://jme.bmj.com/content/early/2014/07/03/medethics–2014 – 102091; vgl. auch M 3. 8 Nicht auszuschließen ist eine zunehmende soziale Problematik. Mit der Abnahme der Geburtenzahlen verringert sich die Zahl jener, die als Beitragszahler für die hohen Kosten einer medizinischen Versorgung hochaltriger Schwerstkranker aufkommen können. 9 Huber, Wolfgang: Ethik, 268 unterscheidet drei Phasen des Alters: 1. Aneignen von Neuem; 2. Selbständiges Erledigen der Aufgaben des täglichen Lebens; 3. Angewiesensein auf die Hilfe anderer.

238

Hartmut Rupp

Anzunehmen ist, dass ein Ansteigen assistierten Suizides mit dem Fehlen palliativ-medizinischer Versorgung einhergehen kann. (2) Immer wieder wird in den Medien von bekannten Personen berichtet, die den Weg assistierten Suizides gewählt haben (Timo Konietzka; das Ehepaar von Brauchitsch). Immer wieder und verstärkt ist von Personen zu hören, die dies für sich in Aussicht stellen (zum Beispiel Martin Walser, Hans Küng). Im Fernsehen werden Sendungen zum assistierten Suizid ausgestrahlt bis hin zu Dokumentationen, in denen ein Mensch auf dem Weg zur Selbsttötung begleitet wird. In Diskussionssendungen wie »Hart aber Fair«10 wird über den assistierten Suizid diskutiert. In Youtube findet man Gespräche und Berichte. Das öffentliche Interesse an dieser Thematik und das Bedürfnis nach Orientierung sind erkennbar. (3) Es stellt sich die Frage, wie der Wunsch, das eigene Leben zu beenden und dafür sich Beihilfe zu besorgen, zu beurteilen ist. Immer wieder und gerade von Kirchen wird auf Ergebnisse der Suizidforschung hingewiesen, dass es sich hier im Grunde um den verzweifelten Ruf nach Hilfe handelt. Offensichtlich ist der Suizidwunsch häufig Ausdruck des Verlustes an Lebenssinn oder der Angst, seine Würde zu verlieren. Dahinter steht meist die Sehnsucht nach Verständnis, Begleitung und Beziehung, ja nach Liebe. Dies dürfte weitgehend zutreffen und bedarf deshalb des seelsorgerischen Gesprächs. Dies zeigt sich auch in dem Wunsch von Frau K., der sich der Vereinsamung verdankt. Das Gespräch über die eigenen Ängste machte die Schmerzen erträglich und führte zu der Absage an den Suizidwunsch. Die oben angeführte Szene geht folgendermaßen weiter : »Ich schweige. Daraufhin sagt sie: ›Können Sie mir denn wenigstens die Adresse besorgen?!‹ Nach einer Weile sage ich: ›Frau K., was ist denn das Schlimmste, das sind doch nicht nur die Schmerzen?!‹ Sie beginnt laut zu weinen. Als sie sich beruhigt hat, sagt sie: ›Herr Pfarrer, ich habe 4 Kinder, die wohnen alle in der Umgebung, aber in dieser Woche (es ist Freitag) hat mich nur eins besucht.‹ Ich sage: ›Das ist das Schlimmste?!‹ Sie nickt. Wir sprechen über diese Enttäuschung, über ihre Angst vor dem Tod, die insbesondere abends ihre Seele massiv erfasst, und über die dadurch gesteigerten Schmerzen. Beim Abschied sagt sie: ›Jetzt sind meine Schmerzen fast weg.‹ Nach diesem Abend hat Frau K die Thematik ›Tötung‹ nicht mehr erwähnt und ihre Schmerzen immer als ›erträglich‹ bezeichnet.«11 (M 1b)

Erfahrungen weisen darauf hin, dass Menschen, denen die Möglichkeit einer Selbsttötung eröffnet wurde, häufig davon keinen Gebrauch machen. Das Wissen sein Leben beenden zu können, hilft ihnen, die eigene Lebenssituation 10 Sendung vom 19.11. 2012. 11 Eibach, Ulrich: Beihilfe zur Selbsttötung. Eine ethische und seelsorgliche Beurteilung. Dt. Pf. Blatt 1/2012, 15 – 19.15 (M 1b).

Assistierter Suizid

239

besser anzunehmen. Das Beispiel von Erica Bolinger zeigt jedoch, dass es Willenserklärungen geben kann, die nicht mehr als bloße Hilferufe sind. (4) Suizid ist in Deutschland kein Straftatbestand. Infolgedessen ist auch die Beihilfe zum Suizid grundsätzlich nicht strafbar. Nach § 218 StGB ist nur die aktive Sterbehilfe verboten. Das Überbringen todbringender Medikamente wie Natrium Pentobarbital, die der Sterbewillige z. B. mit einem Röhrchen selbst einnimmt, kann nicht bestraft werden. Assistierende Personen können jedoch wegen unterlassener Hilfeleistung oder wegen Totschlags durch Unterlassen zur Verantwortung gezogen werden – wenn sie bei der Selbsttötung anwesend bleiben. Dies gilt gerade auch für Ärzte, die der »Garantenpflicht« unterliegen Allerdings wird das Handeln eines Arztes nicht bloß vom Strafrecht, sondern auch vom Ethos12 und dem darauf bezogenen Standesrecht bestimmt. Dieses lehnt eine ärztliche Beihilfe bei der Selbsttötung ab und kann mit einem langen Strafregister bis hin zum Entzug der Approbation drohen. Im Jahre 2011 wurde beim 114. Ärztetag in Kiel die vorgeschlagene Formulierung für eine neue (Muster-) Berufsordnung, wonach »die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung keine ärztliche Aufgabe sei«13, von der Mehrheit der Ärzte abgelehnt. Der vorgeschlagene Passus wurde ersetzt durch die unmissverständliche Feststellung: »Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.«14 Im Hintergrund steht das unbedingte Festhalten an dem Ziel des Arztberufes, nämlich »Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen.« Man sieht in einer Lockerung dieser eindeutigen Ablehnung die Gefahr eines Identitäts- und Vertrauensverlustes der Ärzteschaft. Derzeit (2014) ist noch umstritten, ob organisierte Sterbehilfe strafrechtlich verboten wird. Ein entsprechendes Gesetz wird von der CDU/SPD Bundesregierung vorbereitet.15 Die Kirchen drängen jedoch darauf, nicht nur kommerzielle Anbieter, sondern alle Formen gewerbsmäßiger Beihilfe zur Selbsttötung zu verbieten. Offenkundig will man den Eindruck verhindern, Selbsttötung gehöre zur Normalität. 12 Das ärztliche Ethos ist im Eid des Hippokrates festgehalten (»Ich werde ärztliche Verordnungen treffen zum Nutzen der Kranken…hüten werde ich mich davon, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden. Auch werde ich niemandem ein tödliches Gift geben, auch nicht wenn ich darum gebeten werde und ich werde auch niemanden dabei beraten…«) sowie dem »Genfer Gelöbnis« von 1948 (»Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein«). 13 Deutsches Ärzteblatt Jahrgang 108, Heft 7,18.2. 2011, A 346. 14 Nach http://www.sterbehilfe-debatte.de/sterbehilfe-debatte_news-04 – 06 – 11-baek-suizidbeihilfe-beschluss.html; vgl. M 4. 15 Vgl. u. M 6.

240

Hartmut Rupp

Die rechtliche Situation in der Schweiz unterscheidet sich von der in Deutschland. Art. 115 des schweizerischen Strafgesetzbuches stellt Beihilfe zum »Selbstmord« aus »selbstsüchtigen Motiven« unter Strafe. In Konsequenz davon gilt eine nicht-selbstsüchtige Beihilfe zum Suizid als nicht strafbar. Die zuständige standesrechtliche Instanz (Schweizer Akademie der medizinischen Wissenschaften) betont 2004, dass »Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit sei.«16 Man kann sie nicht von einem Arzt verlangen. Man räumt aber ein, dass der Arzt den Willen des Patienten zu achten habe. Dies schließt unter Umständen auch Beihilfe aus einer persönlichen Gewissensentscheidung des Arztes ein. Doch dabei müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein: Es geht um Hilfe beim Sterben, denn der Patient befindet sich im Sterbeprozess. Alle Alternativen wurden bedacht. Der Sterbewunsch des Patienten ist wohl erwogen und dauerhaft. In den Niederlanden ist Beihilfe zum »Selbstmord« bei Volljährigen aber auch bei Minderjährigen nicht strafbar, wenn ein Arzt die Maßnahme vornimmt und dabei bestimmte Kriterien beachtet. Auf jeden Fall muss der Arzt die Sterbehilfe anzeigen und einen Bericht vorlegen. Belgien erlaubt unter bestimmten Bedingungen ärztliche Beihilfe zum Suizid bei volljährigen Patienten. Auf jeden Fall muss ein zweiter Arzt hinzugezogen werden. Unter Umständen kann eine solche Maßnahme auch beim Vorliegen einer Willenserklärung erfolgen. Luxemburg orientiert sich weitgehend an Belgien und hat eine Überwachungs-Kommission eingesetzt. In Italien ist Sterbehilfe nicht ausdrücklich geregelt. Die Verleitung und Beihilfe zum Suizid ist jedoch strafbar. Auch in Großbritannien ist Beihilfe zum Suizid verboten. In einzelnen Staaten der USA gilt Suizid als Verbrechen oder Vergehen demgemäß auch die Beihilfe. In Oregon wurde allerdings 1997 ein Gesetz erlassen, wonach »ein einsichtsfähiger Erwachsener…, bei dem durch den behandelnden und den beratenden Arzt eine terminale Erkrankung festgestellt wurde« einen schriftlichen Antrag stellen kann, »sein Leben auf menschenwürdige Weise zu beenden.« Entsprechende Gesetze gibt es in den Bundesstaaten Washington, Montana und Vermont. In Australien ist der ärztlich assistierte Suizid bei Kranken im Endstadium erlaubt.17

16 Vgl. u. M 14. 17 S.u. M 5.

Assistierter Suizid

3.

241

Bestimmung von Verhaltensalternativen

Die ethische Beurteilung der Beihilfe zum Suizid lässt schematisch fünf Positionen erkennen: (1) Ein »uneingeschränktes Ja« zum assistierten Suizid findet sich bei jenen, die das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Menschen in das Zentrum stellen und dem Staat darüber hinaus das Recht absprechen, über das Leben des Einzelnen zu verfügen.18 Das Recht auf ein menschenwürdiges Leben schließt danach das Recht ein, auch über den eigenen Tod zu bestimmen. In dieser letzten Selbstbestimmung bewährt sich die Menschenwürde. Konsequenterweise ergibt sich daraus auch ein Anspruch Beihilfe zu bekommen sowie die Forderung, den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung in diesem Fall abzuschaffen. Die »Garantenpflicht«19 des Arztes muss also eingeschränkt werden. In Konsequenz davon ist auch die Inanspruchnahme einer Sterbehilfeorganisation erlaubt. (2) Ein »Ja unter bestimmten Bedingungen« findet sich in jenen Ländern, die bei der Beihilfe zum Suizid bestimmte Voraussetzungen festlegen, die zu gelten haben. Dazu gehört meist die Beschränkung des assistierten Suizid auf das Lebensende sowie ein als unerträglich erlebter Leidenszustand des Patienten, die klare Willensaussage des Sterbewilligen, die Mitwirkung eines Arztes, die Beratung mit einem anderen Arzt und den Angehörigen und schließlich die Meldung an eine staatliche Institution und eine Überprüfung durch diese.20 Zu erkennen ist das Anliegen mehr Rechtssicherheit zu schaffen und die Garantenpflicht des Arztes einzuschränken. Zu solchen Bedingungen kann auch der Ausschluss bestimmter Faktoren gehören. So gibt es Positionen, die assistierten Suizid hinnehmen können, aber die Mitwirkung einer »geschäftsmäßigen« Sterbehilfeorganisation ausschließen wollen. (3) Von einem »Offenlassen« kann gesprochen werden, wenn die Beihilfe ganz in die persönliche Verantwortung des Einzelnen gelegt wird. Diesen Ansatz kann man in einer Berufsstandsordnung sehen, die die Beihilfe zur Selbsttötung zwar nicht als ärztliches Handeln bezeichnet, aber dem einzelnen Arzt eine persönliche Gewissensentscheidung einräumt. Dies schließt jedoch immer ein, dass der Handelnde für sein Tun rechenschaftspflichtig ist. (4) Die Position »Nein auf keinen Fall« wird in einem Land wie Italien, in Großbritannien sowie in einzelnen Staaten der USA vertreten. Sie zeigt sich auch im Standesrecht der Ärzteschaft (s. o.). Ein solches Nein findet sich auch bei den 18 So z. B. der Literaturkritiker Fritz W. Raddatz (s. u. M 8) oder der Freiburger Philosoph Ludger Lütkehaus (s. u. M 12). 19 D.h. die umfassende und uneingeschränkte Fürsorgepflicht. 20 Dies entspricht auch der Initiative des Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach; vgl. u. M 11.

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Hartmut Rupp

großen Kirchen in Deutschland. Letztlich steht dahinter eine ablehnende Beurteilung des Suizids. Nach Auffassung der Deutschen Bischofskonferenz verstößt die Tötung gegen das sittliche Gesetz wie es im fünften Gebot zum Ausdruck kommt: »Du sollst nicht töten.« Das Leben ist dem Menschen anvertraut. Er darf es nicht zerstören. Konsequenterweise plädierte die deutsche Bischofskonferenz auch für ein Verbot von Organisationen der Sterbehilfe: »Die deutschen Bischöfe … sprechen sich nachdrücklich dafür aus, dass jede Form des organisierten Suizids ausdrücklich gesetzlich verboten wird.«21 Diese Position vertritt auch die evangelische Kirche, indem sie in der gemeinsamen Erklärung mit der Deutschen Bischofskonferenz festhält: »In der Selbsttötung verneint der Mensch sich selbst.«22 2012 hat sie diese Position noch einmal bekräftigt: »Aus christlicher Perspektive ist die Selbsttötung eines Menschen grundsätzlich abzulehnen, weil das Leben als eine Gabe verstanden wird, über die wir nicht eigenmächtig verfügen sollen.«23 (5) Die Position »Nein aber« betont einerseits, dass Selbsttötung grundsätzlich abzulehnen sei, weil das Leben eine Gabe ist, über die Menschen nicht eigenmächtig verfügen dürfen. Andererseits aber betont sie, dass niemand das Recht habe, eine Selbsttötung zu verurteilen. Sie erkennt zudem an, dass es in Grenzbereichen des Lebens zu schweren Gewissenskonflikten kommen kann. Zwar bleibe auch dann die Tötung menschlichen Lebens ein schuldhafter Vorgang, doch es gilt in solchen Situationen die Beihilfe zum Suizid zu respektieren. Er müsse jedoch persönlich verantwortet werden. Eine solche Position vertritt der Rat der EKD24 aber auch die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) in ihrer Orientierungshilfe »A time to live und a time to die« von 2011.25

4.

Normenprüfung und Reflexion von Grundfragen

Die ethische Bewertung der Beihilfe zur Selbsttötung ist sowohl rechtlich, standesrechtlich, politisch als auch theologisch umstritten. Unterschiedliche Überzeugungen treffen hier aufeinander. Dies zeigt sich in der rechtspolitischen Diskussion über die Erlaubnis von 21 Presseerklärung vom 27. Januar 2014 des ständigen Rates der Deutschen Bischofskonferenz; vgl. u. M 15. 22 Kirchenamt der EKD und Sekretariat der Dt. Bischofskonferenz. Gott ist ein Freund des Lebens: Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, Gütersloh 1989, 107. 23 Erklärung der EKD zur aktuellen Debatte über die Beihilfe zur Selbsttötung vom 19. 11. 2012. 24 Gewisse Spannungen zur Katholischen Kirche sind durchaus auszumachen. 25 Vgl. u. M 18.

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Sterbehilfeorganisationen. Geht es nur um diejenigen, die ihren Dienst »geschäftsmäßig« anbieten oder auch um vereinsartige Organisationen? Ein Teil der Bundesländer ist für ein umfassendes Verbot, andere nicht. Standesrechtlich ist die Ablehnung einer Beihilfe zur Selbsttötung bei Ärzten durchaus umstritten. Zwar ist eine Mehrheit dafür, doch ca. ein Drittel kann diese Sicht nicht teilen. Medizinethisch geht es auch um die Frage, ob sich die Beihilfe zur Selbsttötung von einer Tötung auf Verlangen überhaupt noch unterscheiden lässt. In der Theologie wird um das Recht gerungen, über sein Lebensende selbst bestimmen zu dürfen. Dies zeigt die Auseinandersetzung um die Erklärung des katholischen Theologieprofessors Hans Küng »zu gegebener Zeit Abschied zu nehmen« oder die Aussage des derzeitigen (August 2014) Vorsitzenden des Rates der EKD Nikolaus Schneider »für meine Frau würde ich etwas gegen meine Überzeugung tun«. Aus dieser Gemengelage ergeben sich einige Grundfragen, die der ethischen Reflexion bedürfen. Es geht jedes Mal um grundlegende Vorstellungen, die zu ethischen Urteilen führen.26

4.1

Was ist menschliches Leben?

Menschliches Leben wird in kirchlichen Äußerungen als »Gabe Gottes« angesehen.27 Diese Gabe wird aber dann noch einmal unterschiedlich gedeutet. Sie wird einmal als »Geschenk« eines liebenden Gottes angesehen, das dem Menschen zuteil wird und dankbar angenommen werden soll. Es stellt sich jedoch die Frage, ob und wie leidendes, entstelltes und verzweifeltes Leben noch als Geschenk Gottes empfunden und dankbar angenommen werden kann. Der Sicht des Lebens als Gabe wird aber zunehmend widersprochen. Darauf hingewiesen wird, dass ein Geschenk in die Verfügung des Beschenkten übergeht. Dieser kann damit selbstverantwortlich umgehen.28 Berufen kann sich eine solche Position auf die Erfahrung, dass der Mensch sich zwar nicht das Leben selber geben kann, aber es sehr wohl beenden kann. Zum anderen wird diese Gabe aber als eine Art »Leihgabe« gedeutet. Gott ist 26 Dies nimmt die Einsicht von Härle, Wilfried: Ethik, Berlin/New York 2011, 27 f. auf, dass alle Ethiken – seien es theologische oder philosophische – von Voraussetzungen ausgehen, die es »zu erheben, zu benennen und auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen gilt.« 27 Huber, Wolfgang: Ethik, 274 »Der christliche Glauben sieht im menschlichen Leben eine Gabe des Schöpfers. Sie dankbar anzunehmen und mit ihr verantwortlich umzugehen, ist die große Aufgabe jedes Menschen.« 28 So z. B. Küng, Hans: Menschenwürdig sterben; in: Walter Jens, Hans Küng, Menschenwürdig sterben. Ein Plädoyer für Selbstverantwortung, München 2010, 21 – 75. 61.

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der Geber dieser Gabe und er bleibt sein Herr. Der Mensch kann darüber nicht »eigenmächtig« verfügen.29 Gott gibt diese Gabe und nimmt sie wieder. »In seinen Händen steht unsere Zeit.« (Ps 31,16). Infolgedessen kann und darf der Mensch nicht sich selbst das Leben nehmen – es ist letztlich nicht sein Besitz. Deshalb gilt: »Du sollst nicht töten« und »in der Selbsttötung verneint der Mensch sich selbst«30. Konsequenz dieser Position ist die Ablehnung einer Beihilfe zur Selbsttötung und deren Deutung als schuldhaftes Handeln. »In theologischen Kategorien ausgedrückt ist die Selbsttötung – bei allem menschlichen Verständnis, das man ihr im Einzelfall entgegenbringen wird – als der unzulässige Versuch zu verstehen, ein definites Urteil über den Wert oder Unwert des eigenen Lebens zu sprechen.«31 In der Folge kann Selbsttötung auch als »Selbstmord« und damit als ein Verbrechen bezeichnet werden. Berufen kann sich eine solche Position einmal auf den Widerfahrnischarakter des Todes und auf den breiten Konsens in der Gesellschaft, Suizid nach Möglichkeit zu verhindern. Es stellt sich dann die Aufgabe, das Leben in allen seinen Facetten aus Gottes Hand anzunehmen bis hin zu Sterben und Tod. Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine solche Position im konkreten Fall nicht äußerst mitleidlos wirken kann. Es stellt sich aber auf der anderen Seite auch die Frage, ob sich Menschen durch eine Selbsttötung voller Hoffnung und Vertrauen in Gottes Hände fallen lassen können. Der Suizidwunsch wäre dann nicht Missachtung Gottes, sondern Hoffnung auf ein Leben mit Gott. Kann in einem solchen Fall ein Christ bzw. eine Christin Beihilfe leisten? Die Deutung des Lebens als Gabe Gottes braucht jedoch nicht als einmalige Leihgabe oder als großes Geschenk verstanden werden. Sie kann auch als Ermutigung verstanden werden, das Leben immer wieder neu als von Gott gegeben zu sehen, indem es Erfahrungen zuspielt, die der eigenen und freien Annahme und Gestaltung bedürfen. Die »Gaben« werden so zur eigenen »Aufgabe«, die es selbstverantwortlich wahrzunehmen gilt. Dazu gehören auch Erfahrungen, die belasten und dem Leben eine andere Richtung geben. Diese Sicht fordert dazu heraus »sich führen zu lassen durch den, dem es sich verdankt«, Widerfahrnisse des Lebens als Gaben Gottes zu verstehen und sie aktiv in das eigene Leben zu integrieren.32 Eine Selbsttötung ist als Ausdruck einer anderen Lebensauffas29 Erklärung des Rates der EKD zur aktuellen Debatte über die Beihilfe zur Selbsttötung vom 19. 11. 2012. 30 Gott ist ein Freund des Lebens 107, jetzt wieder in »Statement [der EKD] zum Gesetzentwurf zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung« vom 30. 1. 2013 (vgl. u. M 16). 31 Statement der EKD vom 30. 1. 2013. Hier ist jedoch mit Küng, Hans: Menschenwürdig sterben, 64, darauf hinzuweisen, dass Selbsttötung in der Bibel nirgendwo ausdrücklich verboten wird. Selbst Saul wird nirgends getadelt vgl. 1. Sam 3,14. 32 So soll hier die Position der EKD interpretiert werden vgl. u. M 17.

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sung anzusehen, die sich einer persönlichen Entscheidung verdankt, die wiederum zu respektieren ist. Eine solche Position kann sich auf die Erfahrung berufen, dass vieles im Leben nicht planbar und letztlich unverfügbar ist, jeder Mensch aber damit eigenständig und durchaus verschieden umgeht. Die Konsequenz dieser Position ist, dazu zu ermutigen. Schmerz und Krankheit als Teil des Lebens mit Gott anzunehmen. Dazu gehört alles zu tun, dass Schmerzen verringert und eine liebevolle Beziehung bis zuletzt aufrechterhalten wird. Eine ganz andere Sicht zeigt sich im Verständnis des Lebens als Besitz des Menschen. Nachdem dem Menschen in der Geburt das Leben einmal gegeben ist, gehört es ihm.33 Er kann über dieses Leben verfügen und dieses nach eigenen Vorstellungen gestalten. Er kann es deshalb auch selber beenden. Suizid erweist sich hier als Menschenrecht. Diese Position kann sich auf die Erfahrung berufen, dass das eigene Leben in vielfacher Hinsicht gestaltbar ist und durch die willentlichen Entscheidungen des Menschen gelenkt wird. Wie steht es mit der Selbstbestimmung des Menschen und wie weit reicht sie? Die Befürworter einer Beihilfe zur Selbsttötung argumentieren mit dem Recht des Menschen, über sein Leben bis zuletzt bestimmen zu können. Der mehrmals formulierte ausdrückliche Wunsch, das eigene Leben beenden zu wollen, ist als Zeichen einer freien Selbstbestimmung zu sehen – es sei denn, er müsse als Ausdruck von Verwirrung oder einer psychischer Erkrankung beurteilt werden. Leitend ist dabei die Sicht des Menschen als autonomes Individuum, das souverän über sein Leben verfügt und letztlich nur sich selbst verantwortlich ist. Niemand anderes darf über einen bestimmen. Diese Selbstbestimmung bis zuletzt gilt geradezu als Ausdruck der Menschenwürde. In der Beihilfe bei der Selbsttötung geht es dann um die Wahrung der Menschenwürde und damit um das Recht des Menschen auf Achtung.34 Dieses Recht auf Selbstbestimmung prägt die Patientenverfügung, die auch dann noch Selbstbestimmung garantieren soll, wenn das Individuum nicht mehr entscheidungsfähig ist. Mit ihr kann das einzelne Individuum entscheiden, ob unter definierten Bedingungen auf medizinische Maßnahmen verzichtet werden soll. Für Ärztinnen und Ärzte ist dieser Willen rechtlich verbindlich. Diese Patientenverfügungen erlauben jedoch keine Bestimmungen über eine aktive Beendigung des Lebens. Dies wäre dann »Tötung auf Verlangen« oder »aktive Euthanasie«, was in Deutschland verboten ist. Hier hat die Selbstbestimmung eine Grenze, die jedoch in Belgien (s. o.) so nicht gezogen wird. Zu bedenken ist, dass sich wesentliche Aspekte des Lebens einer Selbstbe33 Diese Position kann geradezu mit einer Kränkung über den Sachverhalt verbunden sein, dass man über seine Geburt nicht entscheiden konnte; so z. B. Lütkehaus, Ludger : »Ich habe einen kleinen Schlüssel bei mir«. Ein Plädoyer, die Freiheit zum Tode zu respektieren; in: Badische Zeitung vom 19. 08. 2014; vgl. M 12. 34 Zu diesem Verständnis der Menschenwürde vgl. Härle, Wilfried: Ethik, 262.

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stimmung entziehen. Dazu gehören die Zeugung und Geburt, die Gene, mit denen man ausgestattet ist; das Geschlecht, das man hat; die Zeit, in der man lebt; die Erziehung, die man erfährt; selbst die charakterlichen Eigenheiten und die besonderen Talente, über die man verfügt, entziehen sich der Selbstbestimmung. Vieles widerfährt einem im Leben, die Begegnungen mit Menschen, bis hin zu Erkrankungen, Beeinträchtigungen oder gar Unfälle, in die man verwickelt wird. Dazu gehören auch politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ereignisse, die das Leben beeinflussen und verändern (man denke an den Fall der Mauer 1989, die Zerstörung des Twintower am 11. 9. 2001 oder die Börsenkrise 2008). Für die meisten Menschen ist der Tod ein Widerfahrnis, das sie auch bei bester Vorsorge nicht im Griff haben. Ganz gewiss gibt es Spielräume der Selbstbestimmung, die es auszugestalten gilt. Autonomie zeigt sich letztlich in dem persönlichen Umgang mit den Gegebenheiten und den Widerfahrnissen des Lebens. Doch worin erkennt man eine freie Willensentscheidung? Hinter der Erklärung, dem eigenen Leben ein Ende setzen zu wollen, steckt häufig die Angst vor Hilfsbedürftigkeit, die Angst, seine Würde zu verlieren oder anderen zur Last zu fallen. Dahinter steht häufig auch die Enttäuschung über das eigene Leben oder der Versuch einem Konflikt auszuweichen. Kann man dann noch von einer freien Willensentscheidung sprechen? Erfahrungen zeigen, dass der Tötungswunsch oft weicht, wenn die Ängste und die verborgenen Motive ausgesprochen werden können. Das allzu rasche Unterstellen einer freien Willensentscheidung kann deshalb hilfreiche Seelsorge, Beratung oder geeignete therapeutische Unterstützung verhindern. Christliche Theologie versteht eine Willensentscheidung dann als frei, wenn sie letztlich auch frei ist von der Angst um sich selbst. Eine solche Freiheit gründet in einer vertrauensvollen Beziehung, die von Achtung, Wertschätzung und Liebe geprägt ist. Wer sich angenommen weiß, kann sich selbst bestimmen und sich auch frei zu sich selbst verhalten.35 Es könnte sein, dass der Suizidentschluss von Erica Bolinger von einer solchen vertrauensvollen Beziehung getragen war, so dass von einer freien Willensentscheidung gesprochen werden könnte. Die Frage aber ist, ob man nur dann von einem freien Willen sprechen kann, wenn man seine Lage ohne Angst annehmen kann. Hat ein Todkranker nicht auch das Recht unglücklich und verzweifelt zu sein? Darf er sich nicht ängstigen? Ist ein Leben ohne Angst überhaupt vorstellbar? Wenn der Mensch ein »leiblichseelisches Subjekt« ist36, dann gibt es ihn nur mit Gefühlen und Bedürfnissen, die auch seinen Willen bestimmen. 35 Dass Freiheit auf Beziehungen angewiesen ist, vereinigt die Theologie Luthers mit einem sozialphilosophischen Ansatz wie ihn Axel Honneth vertritt. 36 Eibach, Ulrich: Beihilfe zur Selbsttötung?, 19.

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Kennzeichnend für den christlichen Glauben ist eine personal-relationale Sicht des Menschen.37 Der Mensch ist danach ein Beziehungswesen. Er steht in Beziehung zu anderen, zur Umwelt, zu sich selbst und – so die christliche Auffassung – auch in Beziehung zu Gott.38 Die Entscheidung, seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen, betrifft immer auch andere. Man mutet auch ihnen etwas zu. Frau K. scheint zu wissen, dass ihre Frage für den Pfarrer eine Zumutung ist. Erica Bolinger bezieht deshalb wohl von Anfang an ihre Familie ein. Ohne Frage kann aber ein Mensch sich dazu entscheiden, sich selbst zu töten und dies auch ausführen. Dies zeigt sich in der ganzen Menschheitsgeschichte und auch in der Bibel (Saul; Judas). Hier liegt ein gravierender Unterschied zur Geburt. Kann man aus dieser Fähigkeit das Recht ableiten sein Leben beenden zu dürfen? Die Zuschreibung eines Rechtes bereitet Probleme, wenn damit in dem Sterbewunsch allzu schnell eine endgültige Willensentscheidung gesehen wird und auf seelsorglich-therapeutische Gespräche verzichtet wird.39 Sie bereitet auch dann Probleme, wenn die Beziehungen außer Acht gelassen werden, in denen der Suizidwillige steht. Sie bereitet sodann auch deshalb Probleme, weil dieses Recht in einer alternden Gesellschaft zu einem sozialen Druck auf Ältere führen kann, mit ihrem Leben Schluss und so Entlastung für Verwandtschaft und Gesellschaft zu schaffen.

4.2

Was ist menschenunwürdiges Leben und menschenwürdiges Sterben?

Befürworter des Rechts auf Selbsttötung rechtfertigen ihre Position mit dem Hinweis, dass Umstände auftreten können, die subjektiv »nicht mehr zumutbar« und deshalb auch »menschenunwürdig« seien. Einzugestehen ist, dass es Situationen geben kann, die ausweglos sind, mit einem hohen Leidensdruck sowie mit einem fortschreitenden Verlust eigener Handlungsmöglichkeiten verbunden sind. Dazu gehört auch die ansteigende Hilflosigkeit bis hin zu Wut im unmittelbaren Beziehungssystem der Angehörigen. In der Perspektive eines autonomen Menschenbildes ist mit dem Verlust der Fähigkeit, über sein Leben zu bestimmen, die Grenze des Zumutbaren erreicht. 37 Dies stellt Eibach in seiner Auseinandersetzung mit der Beihilfe zur Selbsttötung deutlich heraus. Im Kern geht es in der Debatte um den Unterschied eines autonomen und eines relationalen Menschenbildes. 38 Dies betont der christliche Glaube im Anschluss an den ersten Schöpfungsbericht, vgl. Härle, Wilfried: Ethik, 141. 39 Dies ist ein Vorwurf gegen Sterbehilfeorganisationen.

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Ein Leben in Abhängigkeit ist demnach als menschenunwürdig zu beurteilen. Der Wunsch nach Beihilfe zur Selbsttötung ist deshalb gerechtfertigt. In der Perspektive eines personal-relationalen Menschenbildes, die den Menschen als Beziehungswesen sieht, ist Leben nicht mehr zumutbar und in gewissem Sinne auch unwürdig, wenn es an dem entscheidenden »Lebensmittel« Beziehung und Liebe mangelt. Die Konsequenz ist aber nicht, dem Willen auf Selbsttötung nachzugeben, sondern Beziehungen anzubieten und Hilfe zum Leben »im Geist der Liebe«40 zu geben. Ein menschenwürdiges Sterben ist im ersten Fall ein selbstbestimmtes Sterben. Im zweiten Fall hingegen ist ein Sterben menschenwürdig, das bis zuletzt in Begleitung geschieht (mit psychologischer Begleitung, mit Seelsorge, palliativmedizinischer Versorgung, im Hospiz, im Kreise der Familie). Festzustellen ist jedoch, dass Schmerztherapien nicht in allen Fällen helfen. Festzustellen ist auch, dass Beziehung und Begleitung scheitern können und der eigene Wille von Lebensangst und ungestillten Bedürfnissen bestimmt bleiben kann. Die Konsequenz ist, immer wieder Beziehung anzubieten – und demütig anzuerkennen, dass es dann immer noch zu der Entscheidung zur Selbsttötung und Beihilfe kommen kann. Damit zu rechnen ist, dass dabei Schuldgefühle auftreten, die jedoch auf die Barmherzigkeit Gottes setzen dürfen.

4.3

Darf man aus Nächstenliebe Beihilfe zum Suizid leisten?

Das Gebot der Nächstenliebe ist in Kombination mit dem Gebot, Gott mit Vernunft, Wille und Affekten zu lieben, in den Worten Jesu das »höchste Gebot« (Mk 12, 28 – 31). Es fasst alle anderen Gebote zusammen und bildet eine »MetaNorm« (H.E. Tödt), die dann anzuwenden ist, wenn keine anderen Regeln gelten oder aufkommende neue Normen zu beurteilen sind. Das Doppel- bzw. Dreifachgebot der Liebe41 kann damit als letztgültiger Maßstab christlich-ethischen Handelns angesehen werden, der immer wieder angewendet werden sollte. Im Grunde ist dieses Gebot jedoch ein »unmögliches« Gebot42. Man kann niemanden zur Nächstenliebe verpflichten. Niemand kann sich selbst zur Liebe ethisch entscheiden – genauso wenig sich jemand zu sicherem Auftreten oder zu Mut entscheiden kann. Es handelt sich um einen affektiven Zustand, über den

40 Diesen Geist der Liebe betont die Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD in: Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen. Argumentationshilfe für aktuelle medizin- und bioethische Fragen, hg. von Kirchenamt der EKD, EKD Texte 71, Hannover 2002. 41 Zu Gott, dem Nächsten und zu sich selbst. 42 Darauf verweist Mühling, Markus: Systematische Theologie: Ethik, Göttingen 2012, 12.1.

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der Mensch keine Verfügungsgewalt hat. Am ehesten eignet sich das Gebot als Prüfmaßstab für eigenes Handeln.43 Der besondere Charakter der Nächstenliebe wird in dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25 – 37) erkennbar. Dort heißt es von dem Samariter »als er ihn sah, jammerte er ihn« (V. 33). Nächstenliebe ist als empathische Offenheit zu sehen, die sich berühren lässt und zu einem situationsbezogenen, bedachten Handeln führt. Dieses Handeln besteht in einer Fürsorge (V. 34 f.), die darauf ausgerichtet ist, dass der Notleidende Hilfe zum Leben erfährt. Dies schließt – wie das Gleichnis erzählt – die Hilfe von bezahlten »Profis« ein (V.35). Ob der Überfallene am Ende vollständig genesen ist, wird nicht ausgesagt. Die Fürsorge bleibt jedoch auf die Hilfe zum Leben konzentriert. In der Rahmenerzählung (Lk 10,25 – 29. 36 f.) fragt Jesus den Schriftgelehrten: »Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?« (V. 36). Dieser kann diese Frage nur beantworten, in dem er seine theoretisch-definierende Perspektive (»Wer ist denn mein Nächster?« V. 29) verlässt und die Perspektive des Überfallenen einnimmt. Die Antwort kann nur sein: Der Nächste ist in diesem Fall der Samariter. Er wird durch die Situation und seine Zuwendung zum Nächsten für den, der da liegt. Nächstenliebe ist aber demnach an eine Situation gebunden, aus der heraus in empathischer Offenheit, aber auch in vernünftiger Rationalität das Notwendige entdeckt und getan wird. Sie lässt sich inhaltlich nicht weiter festlegen. Jede Situation ist anders.44 Die Frage ist, ob dazu auch die Beihilfe zur Selbsttötung gehören kann. Aufgrund des Gleichnisses kann jedoch konkretes Handeln vorweg nicht definiert werden. Es ergibt sich aus der Situation. Infolgedessen kann diese Frage nicht allgemein beantwortet werden. Es gibt jedoch Beispiele, in denen aus Liebe Beihilfe zur Selbsttötung erwogen wird.45 Zum Wesensmerkmal der Nächstenliebe gehört ihre Zu- und Unterordnung zu der Liebe zu Gott. Sie gründet in der vertrauensvollen Zuwendung zu dem Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat, sich der Schwachen erbarmt und Schuld vergibt. Nächstenliebe erweist sich dabei als Kommunikation der Liebe Gottes, auf die man selber baut und selber erfahren hat.46 Sie sieht in dem 43 Man kann hier deshalb von dem »usus elenchticus sive theologicus« sprechen. Vgl. dazu auch Härle, Wilfried: Ethik, 199. 44 Das hat immer wieder dazu geführt christliche Ethik als Situationsethik zu konzipieren z. B. Bultmann. 45 So ausdrücklich der scheidende Vorsitzende des Rates der EKD Nikolaus Schneider im Juli 2014, vgl. sein Interview mit wdr 2 am 17.7. 2014; vgl. M 10. 46 Vgl. Härle, Wilfried: Ethik, 199: »Das Liebesgebot wird nur so erfüllbar, dass einem Menschen durch zuteilgewordene, empfangende Liebe die Fähigkeit und Motivation zur Liebe zuwächst.«

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Notleidenden und Bedürftigen das Geschöpf und Ebenbild Gottes, dem Gottes bedingungslose Anerkennung und Zuwendung gilt. Nächstenliebe kann so als menschliche Kommunikation der Liebe Gottes zu anderen Menschen beschrieben werden. Alles ist darauf ausgerichtet, die Liebe Gottes weiterzugeben.47 Doch dabei bleibt die Grenze zwischen Gott und Mensch bestehen. Der Helfende wird nicht zu Gott, der Leben erschafft und Leben nimmt. Beilhilfe zur Selbsttötung deutet auf eine Grenzüberschreitung.

4.4

Was heißt verantwortlich handeln?

Nehmen wir einmal an, der Pfarrer in dem Fallbeispiel von Frau K. ginge auf die Frage ein und erkundigte sich nach dem möglichen Zeitpunkt der Selbsttötung und den näheren Umständen.48 Er nimmt also den Sterbewunsch ernst und geht darauf ein. Ist das verantwortliches Handeln? Bestärkt er damit den Wunsch von Frau K. ihrem Leben ein Ende zu setzen? Die Frage ist, woran man verantwortliches Handeln erkennt. Verantwortliches Handeln geht davon aus, dass eine Person in konkreten Beziehungen steht (hier der Pfarrer in Beziehung zu Frau K., aber auch zum Oberarzt und anderen). Ihm sind in diesen Beziehungen bestimmte Zuständigkeiten übertragen (seelsorgerischer Dienst an Patienten des Krankenhauses, aber auch Solidarität mit dem ärztlichen Personal). Er ist für deren eigenständige Wahrnehmung verpflichtet und anderen rechenschaftspflichtig (vor seinen kirchlichen Vorgesetzten, der Krankenhausleitung, aber auch seinem Gewissen bzw. Gott). Die Person ist aber auch sich selbst gegenüber verantwortlich (s. u. Gewissen). Da alle Menschen in vielfältigen Beziehungen mit ganz unterschiedlichen Verpflichtungen stehen, kann das ganze Leben als »Leben in Verantwortung« bezeichnet werden. Menschliches Leben steht danach immer in Beziehung zu anderen, zu der umgebenden Welt und zu sich selbst. Menschliches Handeln betrifft andere in Nah und Fern bis hinein in die Zukunft (z. B. Staatsschulden), beeinflusst die Umwelt und damit andere Lebewesen, aber auch die Lebensbedingungen künftiger Generationen (CO 2-Emissionen). Es hat aber auch Rückwirkungen auf die eigene Person (Ernährung, schuldhaftes Verhalten). Auch Frau K. steht ihrerseits vor der Verantwortungsfrage, sofern sie diese wahrnehmen kann: Kann und will sie ihren Tod anderen zumuten? Kann sie 47 Nächstenliebe erweist sich so als Zuschreibung einer spezifischen Identität, die auch für den Helfenden gilt vgl. dazu Mühling, Markus: Systematische Theologie: Ethik, 124. 48 Diese Annahme bedarf des Hinweises, dass der von Ulrich Eibach berichtete Fall einen anderen Verlauf nimmt s. o.

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dem Pfarrer zumuten, eine Sterbehilfe zu organisieren und in das Krankenhaus zu holen? Verantwortliches Handeln bestimmt sich jedoch nicht bloß an den vielfältigen Verpflichtungen (z. B. der Patienten die Liebe Gottes mitzuteilen), sondern auch an den Folgen und den Nebenfolgen.49 Welche Folgen hat die Frage nach dem Zeitpunkt und den Umständen der Selbsttötung? Was bedeutet das Eingehen auf den Suizidwunsch für die Angehörigen? Was bedeutet eine Beihilfe zur Selbsttötung für das Krankenhaus, wenn dies in ihren Räumen geschieht? Was bedeutet eine solche Beihilfe für die Krankenhausseelsorge und die Kirche insgesamt? Was bedeutet sie für die Person des Pfarrers selbst? Was bedeutet es für die Diskussion um Sterbehilfe, wenn die Hilfe einer Sterbehilfeorganisation in einem Krankenhaus in Anspruch genommen wird? Verantwortliches Handeln ist immer auch folgenbewusstes Handeln. Dies gilt auch dann, wenn die in der Zukunft liegenden Folgen nie vollständig abschätzbar sind. In der Technologiefolgenabschätzung (z. B. Bau von Kernkraftwerken oder großen Staudämmen) werden Risiken gewichtet und gegeneinander abgewogen. Alle diese Momente der Vorsicht können jedoch die Eigenständigkeit verantwortlichen Handelns nicht aufheben. In dem Fall von Frau K. könnte der Pfarrer vermuten, dass das Eingehen auf den Suizidwunsch zu einer veränderten Einstellung bei der Patientin führt. Dafür sprechen Erfahrungen in Oregon (s. o.), aber auch Erfahrung in der Beratung. Eine Garantie gibt es dafür jedoch nicht. Zusammenfassend kann man sagen, dass verantwortliches Handeln durch vier Faktoren gekennzeichnet ist: Das handelnde Subjekt (Wer?), der Gegenstand der Verantwortung (Was?), die Maßstäbe des eigenen Handelns (Wie?) und die beurteilende Instanz, vor der das Handeln zu verantworten ist (Wem?).

4.5

Was ist eine persönliche Gewissensentscheidung?

Das ärztliche Standesrecht rechnet im Feld des assistierten Suizids mit der Möglichkeit einer Beihilfe aufgrund einer persönlichen Gewissensentscheidung eines Arztes.50 Diese gilt es lediglich zu respektieren, muss aber auch selber verantwortet werden. Was aber ist eine »persönliche Gewissensentscheidung«? Das Gewissen kann als innere Instanz des Menschen angesehen werden, die geplantes oder vollzogenes Handeln auf die Übereinstimmung mit den eigenen 49 So Huber, Wolfgang: Ethik, 47: »Zu den Pflichten verantwortlicher Lebensführung gehört die Berücksichtigung wahrscheinlicher oder möglicher Folgen.« 50 Dies betont ausdrücklich die Schweizer Akademie der Wissenschaften s. o. Anm. 16 (vgl. u. M 13).

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moralischen Überzeugungen prüft und beurteilt. Ein »schlechtes Gewissen« zeigt dann eine Nicht-Übereinstimmung, ein »gutes Gewissen« Übereinstimmung an. Hier wird der Begriff des Gewissens verständlich. Er meint stets ein »Mitwissen mit sich selbst« (lat. conscientia; gr. syneidesis). Das Gewissen kann aber auch darauf drängen etwas aus »Gewissensgründen« zu tun oder zu unterlassen. Es hat einerseits also prüfenden und bewertenden, andererseits aber auch verpflichtenden Charakter. Bei der Orientierung am Gewissen geht es stets auch um die eigene Identität im Sinne der Übereinstimmung mit sich selbst. Die im Grundgesetz Art. 3 garantierte »Gewissensfreiheit« meint, dass der Staat niemanden zwingen darf, gegen sein Gewissen und damit gegen seine eigenen moralischen Überzeugungen zu handeln (z. B. Recht auf Kriegsdienstverweigerung). Das entscheidende Problem der Gewissensentscheidung ist, wie es mit den moralischen Überzeugungen steht. Können sie beanspruchen absolut wahr zu sein? Katholische Theologie rechnet im Gewissen mit der Stimme Gottes, die den Menschen verpflichtende Maßstäbe für gutes Handeln zur Verfügung stellt.51 Sie unterstellt eine innere Konvergenz von Stimme des Gewissens und den Geboten Gottes. Das Strafrecht rechnet damit, dass der Mensch von Natur aus die Fähigkeit habe, Richtiges oder Falsches bzw. Gutes und Schlechtes voneinander zu unterscheiden. Evangelische Theologie rechnet mit einer sozialen Prägung von moralischen Überzeugungen und kann ihnen deshalb eine letzte, unbefragbare Wahrheit nicht von vornherein zusprechen. Es gilt vielmehr diese zu prüfen und in das Gespräch mit dem biblisch bezeugten Wort Gottes zu bringen. Die eigenen moralischen Überzeugungen bedürfen des prüfenden Nachdenkens und der Beratung vor allem dann, wenn die Entscheidung für Gut oder Schlecht gar nicht so eindeutig ausfallen will. Das hebt die eigene Entscheidung nicht auf, hilft aber zur Klärung.52 Es gibt jedoch Dilemmata, in denen persönliche Überzeugungen in Konflikt geraten und ein »reines Gewissen« nicht entstehen will. Bei der Beihilfe zur Selbsttötung kann einerseits die Verpflichtung zur Fürsorge mit der Verpflichtung, alles zum Wohle eines Menschen zu tun, in Konflikt geraten. Wie man sich auch entscheidet, man wird schuldig, denn man bleibt etwas schuldig. Aus christlicher Perspektive bleibt dann nur die Glaubenseinsicht, dass Schuld zum Leben gehört und nicht einfach zu vermeiden ist. Zu allerletzt gehört dazu die Hoffnung, dass Gott den Schuldigen annimmt.

51 Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993, 1777. 52 Vgl. Huber, Wolfgang: Ethik, 103 – 116.

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5.

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Zum Urteilsentscheid

Die von Heinz Eduard Tödt formulierten Schritte ethischer Urteilsbildung53, denen die bisherigen Überlegungen folgten, legen nahe bei der eigenen Urteilsbildung entsprechend zu verfahren. Nach der klaren Definition des zu beurteilenden Problems im Gesamt des Feldes »Assistierter Suizid« erfolgt eine differenzierte Situationsanalyse sowie die Darstellung der Verhaltensalternativen, die immer auch zu erkennen geben, wer an einem ethischen Problem beteiligt ist. Dann erfolgt eine Normenreflexion. Diese Schritte beziehen dabei ein verantwortungsethisches Moment ein, indem sie immer wieder bei vorgeschlagenen Urteilen nach den Maßstäben und Grundüberzeugungen, aber vor allem auch nach deren Folgen und deren Verantwortlichkeit fragen. Erwartet wird, dass nach diesen Schritten das urteilende Subjekt in der Lage sei, ein eigenes Urteil zu treffen, dieses in seinen Folgen einzuschätzen, es argumentativ zu vertreten und gegebenenfalls entsprechend zu handeln. Dabei wird eine entscheidende Rolle spielen, wie das urteilende Subjekt selber betroffen ist – weil es z. B. um Unterstützung einer Beihilfe zum Suizid gebeten worden ist oder für sich selbst einen assistierten Suizid erwägt. Anders verhält es sich, wenn das beurteilende Subjekt sich an einer öffentlichen Diskussion (zum Beispiel bei einer Podiumsdiskussion oder in einem Zeitungsartikel) beteiligen und sich darauf vorbereiten will oder sich mitverantwortlich an der Ausarbeitung einer rechtlichen Regelung, z. B. zum Verbot organisierter Sterbehilfe, beteiligt. Noch einmal anders ist der Fall, wenn es um ethisches Lernen geht (s. u.). Jedes Mal hat das Urteil einen anderen Stellenwert. Der Blick in die lebenspraktische Urteilspraxis zeigt jedoch, dass ein solches klar strukturiertes Vorgehen in der Regel nicht vorkommt. Urteilsprozesse sind fast immer zirkulär und wiederholend. Analysen und Bewertungen folgen aufeinander und werden mitunter gar nicht deutlich voneinander unterschieden.54 Ethische Urteile sind zudem von Hintergrundsüberzeugungen sowie von »sittlichen Intuitionen« bestimmt.55 Diese stellen sich im Erleben des ethischen Problems oder Fallbeispiels ein und richten das Subjekt aus. Sie bleiben bei der ethischen Urteilsbildung meist unbefragt, leiten aber faktisch den Gang der Urteilsbildung bis hin zur Wahl von Alternativen und zum Umgang mit Daten. Häufig sind ethische Probleme von Anfang an schon entschieden und die Anwendung der Schritte ethischer Urteilsbildung dienen nur der differenzierten Begründung dessen, was man zuvor schon entschieden hat. 53 Vgl. dazu auch Härle, Wilfried: Ethik, 216 – 227. 54 Dies sieht selbstverständlich auch Tödt, Heinz Eduard: Versuch einer Theorie, 84. 55 Die Bedeutung der Intuitionen betont vor allem Fischer, Johannes: Theologische Ethik, Stuttgart 2002, 124 – 127. Er versteht darunter eine »spontane Ausrichtung, die sich über real erlebte oder in der Vorstellung imaginierter Situationen vermittelt« ebd. 124.

254

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Der Einfluss von Hintergrundsüberzeugungen wird an der Gegenüberstellung des autonomen und des personal-relationalen Menschenbildes aber auch an der Deutung des Lebens als Geschenk, Leihgabe oder Besitz deutlich (vgl. o. Normenreflexion). Es sind dann gar nicht unbedingt die handlungsleitenden Normen, die ethische Urteile bestimmen, sondern diese ergeben sich aufgrund eines zugrundliegenden Menschenbildes. Intuitionen sind auch im Feld des assistierten Suizids erkennbar. Ärztinnen und Ärzte handeln in der Regel aus der Intuition, dafür da zu sein, Leben zu retten und zu bewahren. Dies entspricht ihrem ärztlichen Ethos wie es im hippokratischen Eid bzw. dem »Genfer Gelöbnis« von 194856 dargelegt wird. Dazu passt die Beihilfe zur Selbsttötung nicht und wird deshalb intuitiv abgelehnt. Sie wollen jedoch alles zum Wohle des Patienten tun, was dazu geneigt machen kann, einen unheilbar kranken und sterbewilligen Patienten aus einer für ihn unerträglichen Notlage zu befreien. Solche Intuitionen wirken aber auch in kirchlichen Verlautbarungen, wenn z. B. die Selbsttötung als »eigenmächtiges« und deshalb verwerfliches Handeln bezeichnet wird. Sie zeigen sich auch, wenn in einer Gesetzesinitiative organisierte Sterbehilfe als »geschäftsmäßig« bezeichnet wird und damit alle humanen Motive ausgeschlossen werden. Sie zeigen sich auch, wenn die Selbstbestimmung immer wieder als höchster Wert betont und assistierter Suizid als Ausdruck dieser Selbstbestimmung bezeichnet wird. In all diesen Fällen werden nicht nur eigene Intuitionen kommuniziert, sondern zugleich auch der Versuch gemacht, solche Intuitionen über die Sprache bei anderen zu erzeugen. Aus diesen Überlegungen ergeben sich einige Schlussfolgerungen: (1) Ethische Urteilsbildung darf zirkulär beginnen, bedarf aber dann der systematischen Klärung, in der dann auch zwischen analytischen und evaluativen (bewertenden) Aussagen unterschieden wird. (2) Ethische Urteilsbildung sollte Raum geben für die Reflexion von sittlichen Intuitionen sowie von Hintergrundsüberzeugungen, die ethisches Urteilen prägen. (3) Ethische Urteilsbildung sollte auf Äußerungen achten, die bewusst oder unbewusst auf Intuitionen zielen und diese markieren. (4) Ethische Urteile sollten möglichst immer auf konkrete Fallbeispiele bezogen werden, die es erlauben, das eigene Urteil in seinen Folgen zu bedenken und differente Beurteilungen sichtbar zu machen. (5) Ethische Urteile sollten die subjektive Bedeutung dieses Urteils von Anfang an deutlich halten und das eigene Ziel der ethischen Urteilsbildung vor Augen stellen. Es ist ein Unterschied, ob ich für mich darüber klar werden möchte, was ich bei einer entsprechenden Anfrage tun soll oder ob ich in einer 56 Vgl. o. Anm. 12.

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255

Wochenzeitung die Position einer politischen Partei hinsichtlich des Verbots von organisierter Sterbehilfe kommentieren will.

6.

Aufgaben und Möglichkeiten ethischen Lernens im evangelischen Religionsunterricht

Bei ethischem Lernen im Kontext formaler Bildung geht es nicht um die Beurteilung eines ethischen Problems und ein dementsprechendes Handeln. Die Schülerinnen und Schüler sind weder direkt von einer Beihilfe zur Selbsttötung betroffen noch in politische Regelungsprozesse einbezogen. Es geht vielmehr um den Erwerb ethischer Kompetenz bzw. ethischer Kompetenzen. Dazu gehört die Fähigkeit ethische Probleme identifizieren, ethische Urteile reflektieren und überprüfen, ethisch argumentieren bis hin Schritte ethischer Urteilsbildung systematisch anwenden zu können. Dazu gehört aber auch die Kenntnis des Zusammenhanges von Menschenbildern mit ethischen Urteilen (wie es in Anthropologiekursen verlangt wird) sowie die Fähigkeit empirische von normativen bzw. analytische von evaluativen Aussagen unterscheiden, aber auch rechtliche, philosophische und theologische Aussagen voneinander abgrenzen zu können. Ebenso ist es wichtig, personalethische, professionsethische und institutionsethische Aspekte eines ethischen Problems formulieren und unterscheiden zu können. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Identifikation und Reflexion grundlegender Vorstellungen vom Leben und dem Menschsein. Allzu häufig verlieren sich Prozesse ethischen Lernens in der Recherche von Informationen. Assistierter Suizid kann hier als exemplarischer Inhalt angesehen werden, an dem diese Kompetenzen erworben und gestärkt werden können. Sie sind sowohl für das persönliche Leben als auch für einen entsprechenden Beruf sowie für gesellschaftspolitische Meinungsbildungsprozesse bedeutsam. Dem Thema des assistierten Suizids kommt aber darüber hinaus lebensgeschichtliche Bedeutung für die Schülerinnen und Schüler zu. Es geht um das Thema der Autonomie und damit um ein Schlüsselthema des Jugendalters. Es geht also zugleich um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis als autonomes Subjekt. Schließlich wird man darin auch eine Möglichkeit sehen können, Erfahrungen mit den alten (Ur-) Großeltern und dem Alter zu reflektieren. Das ethische Lernen am Beispiel des assistierten Suizids eignet sich für 9. und 10. Klassen der Sekundarstufe I, für die Oberstufe des allgemeinbildenden und des beruflichen Gymnasiums sowie für Lerngruppen der beruflichen Schulen (u. a. bei den Pflegeberufen). Es kann auf verschiedene Weise erfolgen:

256

Hartmut Rupp

(1) Reflexion eigener schriftlicher Antworten auf die Situation von Frau K.. Wie wird geurteilt? Wie wird argumentiert? Welche Fragen brechen auf ? Anzustreben ist hier ein kooperatives Lernen, in dem unterschiedliche Urteile aufeinander bezogen werden. (2) Verschiedene Fallbeispiele (Frau K., Erika Bolinger) auf ihre besonderen Merkmale untersuchen und das ethische Problem des assistierten Suizid differenziert darstellen.57 (3) Anwenden verschiedener ethische Konzeptionen auf das Fallbeispiel von Erika Bolinger nämlich deontologische Ethik, utilitaristische Ethik, Verantwortungsethik, Situationsethik und biblische Ethik. Worin unterscheiden sich die Herangehensweisen und die Urteile? (4) Die unterschiedlichen Auswirkungen des autonomen und des personalrelationalen Menschenbildes entdecken, beschreiben und grafisch darstellen. (5) Fiktives Podiumsgespräch mit Fritz Raddatz (M 8), Hans Küng (M 9), Nikolaus Schneider (M 10). Ludger Lütkehaus (M 11), sowie Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche (M 14 und 16), vorbereiten, durchführen und auswerten. Wie lassen sich diese Positionen unterscheiden? Die einzelnen Texte werden Kleingruppen zugewiesen. Jeweils ein Vertreter übernimmt die Position und vertritt sie. Die Lehrperson moderiert. Danach werden die Positionen plakativ zusammengefasst, einander zugeordnet und beurteilt. Offene Fragen werden festgehalten. (6) Die Denkschrift der EKD zur Sterbehilfe zum assistierten Suizid58 analysieren und bewerten. Wie wird vorgegangen? Wie wird argumentiert? Wie wird geurteilt? Ist diese Position zustimmungsfähig? Wo bleiben Fragen? (7) Ethische Grundfragen in nachdenklichen Gesprächen im Sinne des Philosophierens bzw. Theologisierens reflektieren (s. o. Normenreflexion). (8) Zu dem ethischen Problem des assistierten Suizids eigene Schritte zu einer ethischen Beurteilung entwerfen und begründen. (9) Auseinandersetzung mit einer Filmdokumentation zum assistierten Suizid.59 (10) Mithilfe einer Ethikmappe Schritte einer ethische Urteilsbildung anwenden und das eigene Ergebnis präsentieren (s. u.) Immer wieder geht es darum, dass Schülerinnen und Schüler möglichst eigenständig vorgehen, eigene Konstruktion entwerfen, diese präsentieren und der prüfenden Ausnahmesitzung aussetzen.

57 Dies führt in die Nähe einer Kasuistik. 58 Wenn Menschen sterben wollen. Eine Orientierungshilfe zum Problem der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung; s. u. M 17. 59 Beispiele finden sich in YouTube.

Assistierter Suizid

7.

257

Vorschlag für eine Ethikmappe »Assistierter Suizid«

Die methodische Idee der Ethikmappen60 resultiert aus dem Sachverhalt, dass ethisches Lernen im evangelischen Religionsunterricht in der Klassenstufe 10 (G 8) bzw. 11 (G 9) sowie in der Kursstufe einen breiten Raum einnimmt. Die Kursthemen Mensch, Wirklichkeit, Ethik, Kirche aber auch Gott fordern eine Auseinandersetzung mit ethischen Fragen und Stellungnahmen. Dem Lebensanfang (pränatale Diagnostik; Schwangerschaftsabbruch) und dem Lebensende (Organtransplantation, Sterbehilfe) kommt dabei besondere Aufmerksamkeit zu, auch wenn andere Themen ebenfalls Aufmerksamkeit verdienen (z. B. Beschneidung; gerechter Friede; Ernährung; Armut; Steuerflucht; Energieverbrauch) In allen Bildungsplänen wird erwartet, dass Schülerinnen und Schülern die Kompetenz erwerben, Schritte ethischer Urteilsbildung auf ein konkretes Problem exemplarisch anwenden zu können. Ethikmappen enthalten strukturiertes Material mit Lernaufgaben sowie Hinweise auf ergänzende Informationen. Den Schülerinnen und Schüler werden Mappen mit verschiedenen Themen vorgelegt, unter denen sie auswählen können (vgl. die Themen oben). Sie bilden Teams, entwickeln einen Arbeitsplan und erarbeiten sich ein eigenes Urteil. Dieses wird dann in seiner Begründung vorgestellt. Im Folgenden wird der Aufbau einer Ethikmappe »Assistierter Suizid« knapp erläutert sowie mit Materialhinweisen versehen.61 Der Aufbau:

7.1

Das Problem identifizieren

Formulieren Sie für sich selbst schriftlich, was der Pfarrer der Patientin im Fall Frau K. (M 1a s. o.) antworten soll. Vergleichen Sie dann ihre Antworten und ihre Begründung untereinander. Worin unterscheidet sich ihr Urteil? Welche Fragen bleiben offen? Die Konzentration auf den Pfarrer öffnet den Blick auf ein christlich begründetes personalethisches Urteil. Es öffnet zugleich den Blick auf die professions- und institutionsethische Dimensionen des assistierten Suizid. Angenommen wird dass die direkte Frage nach einem eigenen Verhalten für 15 – 17 jährige eine Überforderung darstellt. 60 Vgl. Rupp, Hartmut: Gerechtigkeitslernen mit Ethikmappen im Religionsunterricht; in: Peter Darbrock u. a., Kriterien der Gerechtigkeit. Begründungen – Anwendungen – Vermittlungen, Gütersloh 2003, 430 – 441. 61 Selbstverständlich lässt sich daraus eine eigenständige Unterrichtseinheit für alle gestalten.

258 7.2

Hartmut Rupp

Das ethische Problem differenzieren

Überprüfen Sie, wie sich ihre Antwort ändert, wenn Frau K. (M 1a s. o.) sich an den Oberarzt wendet, an eine Pflegekraft oder an einen Angehörigen. Vergleichen Sie dann den Fall von Frau K. mit dem Fall von Erika Bolinger (M 2 s.o.). Was ist anders? Was ändert sich in Ihrer Beurteilung? Welche Fragen stellen sich? Was ändert sich an Ihrer Beurteilung, wenn Sie die Fortsetzung des Gesprächs mit Frau K. (M 1b s. o.) heranziehen?

7.3

Hintergründe erarbeiten

Erarbeiten Sie anhand der folgenden Informationen und gegebenenfalls eigenen Recherchen Ergebnisse der Suizidforschung (M 3), das ärztliche Standesrecht in Deutschland (M 4), die unterschiedlichen rechtlichen Regelungen (M 5), die derzeitig diskutierten politischen Aspekte (M 6) des assistierten Suizid in Deutschland sowie den Internetauftritt und die Satzung einer Sterbehilfeorganisation (M 7 SterbeHilfe Deutschland; eine andere wäre DIGNITAS Deutschland). Sie finden unter YouTube auch Filmdokumente zur Beihilfe beim Suizid.

7.4

Positionen bewerten

Ordnen Sie die Sichtweisen von Fritz W. Raddatz (M 8), Hans Küng (M 9), Nikolaus Schneider (M 10), Karl Lauterbach (M 11), Ludger Lütkehaus (M 12), Ingrid Füller (M 13), Schweizer Akademie der Wissenschaften (M 14), Deutsche Bischofskonferenz (M 15), EKD 2013 (M 16), EKD 2008 (M 17) und Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Europa (M 18) den Positionen »Nein«; »Nein aber«; »Offenlassen«; »Grundsätzlich Ja«; »Ja unter bestimmten Bedingungen« zu. Bewerten Sie dann die Sichtweisen und bringen Sie diese in ein Ranking. Was entspricht Ihnen am meisten? Warum? Welche Sichtweisen halten Sie für sehr wenig und überhaupt nicht zustimmungsfähig? Begründen Sie Ihr Ranking.

7.5

Grundüberzeugungen reflektieren

Bei dem assistierten Suizid geht es um grundlegende Fragen des Menschseins. Wählen Sie aus folgenden Fragen zwei aus und entwerfen Sie im Gespräch ihre eigene Antwort.

Assistierter Suizid

1. 2. 3. 4. 5. 6.

259

Was ist Leben – Leihgabe, Geschenk oder Besitz? Wie steht es mit Selbstbestimmung und wie weit reicht sie? Was heißt menschenunwürdiges Leben und menschenwürdiges Sterben? Darf man aus Nächstenliebe Beihilfe zur Selbsttötung leisten? Woran erkennt man verantwortliches Handeln? Was ist eine persönliche Gewissensentscheidung?

Vergleichen Sie dann Ihre Antworten mit M 19, 20, 21, 22, 23 oder 2462 und ergänzen Sie, was Ihnen jeweils einleuchtet.

7.6

Vorläufig endgültiges Urteil formulieren63

Formulieren Sie Ihre zusammenfassende Sicht des assistierten Suizids. Überprüfen Sie dabei Ihre eingangs formulierte Antwort des Pfarrers. Was hat sich in Ihrer Sichtweise geändert?

7.7

Präsentation gestalten und anbieten

Formulieren Sie ein 10 minütiges Statement zum Thema assistierter Suizid für eine öffentliche Diskussion.

8.

Unterrichtsmaterialien

M3

Ergebnisse aus der Suizidforschung

Hier können den Schülerinnen und Schülern einschlägige Ergebnisse der Suizidforschung vorgelegt werden, beispielsweise über Internetquellen wie z. B. http://de.statista.com/themen/40/selbstmord/ oder die Orientierungshilfe der EKD: »Wenn Menschen sterben wollen« (http://www.ekd.de/download/ ekd_texte_97.pdf).

62 Diese Ms sollen die obigen Ausführungen beinhalten. 63 »Vorläufig endgültige Urteile« erinnert an Wahlämter, die nach einer ersten Auszählung ein vorläufig endgültiges Wahlergebnis formulieren, sich damit aber vorbehalten, dass es noch Veränderungen geben kann.

260 M4

Hartmut Rupp

Deutscher Ärztetag 2011: Keine ärztliche Hilfe zur Selbsttötung

Der Deutsche Ärztetag 2011 diskutierte ausführlich die Frage, ob die Suizidbegleitung durch Ärzte erlaubt sein solle. In den Beschlüssen wurde festgehalten, dass »Ärztinnen und Ärzte … Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen [haben]. Es ist ihnen verboten, Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.« Dazu vgl. ausführlich: http://www.sterbehilfe-debatte.de/sterbehilfe-debatte_news-04-06-11-baek-suizidbeihilfe-beschluss.html 25. 8. 2014

M5

Rechtliche Regelungen der Beihilfe zur Selbsttötung

Die rechtlichen Regelungen sind in diesem Gebiet in ständiger Entwicklung und international sehr unterschiedlich. Für die Schülerinnen und Schüler sollte eine knappe Aufstellung der aktuellen Rechtslage in verschiedenen Ländern gegeben werden. Dabei sind neben der deutschen Rechtslage besonders die BeneluxLänder von Interesse, weil hier eine sehr weitreichende Freigabe des assistierten Suizids gegeben ist, ebenso die Schweiz, in der Vereinigungen ihren Sitz haben, die auch in Deutschland ihre Hilfe beim assistierten Suizid anbieten. Einen hilfreichen Überblick bietet das Deutsche Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften an der Universität Bonn unter : http://www.drze.de/imblickpunkt/sterbehilfe/rechtliche-regelungen Vgl. dazu auch: Krüger, Thomas: Mut zur Lücke. Lässt sich die Sterbehilfe überhaupt klar regeln?; in: zeitzeichen 7, 2013, 33 – 35.

M6

Gesetzesentwurf der Bundesregierung: Gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung ist verboten

Vgl. dazu: Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode, Gesetzesentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung. Drucksache 17/11126 vom 22. 10. 2012; online zugänglich unter : http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/111/1711126.pdf

M7

Selbstdarstellung einer Sterbehilfeorganisation

Für die »Sterbehilfe Deutschland (StHD)« z. B. vgl. http://www.sterbehilfedeutschland.de/sbgl/files/PDF/2014-x-Satzung.pdf 25. 8. 2014

Assistierter Suizid

M8

261

Der Autor Feuilletonist und Literaturkritiker Fritz J. Raddatz: Mein Tod gehört nicht dem Staat, sondern mir!

Vgl.: http://www.welt.de/debatte/kommentare/article106152001/Mein-Tod-gehoert-nicht-dem-Staat-sondern-mir.html 24. 8. 2014

M9

Der katholische Theologe Hans Küng: Zu gegebener Zeit Abschied nehmen.

Vgl.: Norbert Demuth (epd); http://www.epd.de/zentralredaktion/epd-zentralredaktion/schwerpunktartikel/hans-k%C3%BCng-und-der-%C2%ABrichtige %C2%BB-todeszeitpunkt 26. 8. 2014.

M 10 Der scheidende EKD-Ratsvorsitzende, Nikolaus Schneider zu Sterbehilfe: Liebe statt Prinzipien Vgl.: http://www.wdr2.de/aktuell/nikolausschneider156.html 25. 8. 2014

M 11 Der SPD Politiker und Arzt Karl Lauterbach: Striktes Verbot der Sterbehilfe nicht zeitgemäß Vgl.: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/sterbehilfe-karl-lauterbach-willaerzten-beihilfe-zum-suizid-erlauben-a–987718.html 26.8.14

M 12 Der Freiburger Philosoph Ludger Lütkehaus: Freiheit zum Tode respektieren http://www.badische-zeitung.de/kultur-sonstige/ich-habe-einen-kleinen-schluessel-bei-mir-88948561.html

M 13 Die Journalistin Ingrid Füller (Deutschlandfunk): Die frei verantwortliche Entscheidung, bei aussichtsloser Krankheit aus dem Leben zu scheiden, ist ein Akt höchster Selbstbestimmung Vgl.: http://www.deutschlandfunk.de/der-aerztlich-assistierte-suizid.1184.de. html?dram:article_id=185471 Sendung vom 23. 10. 2011.

262

Hartmut Rupp

M 14 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (2013): eine persönliche Gewissensentscheidung des Arztes Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften verweist auf die Dilemmata, in die eine Ärztin oder ein Arzt in Grenzsituationen kommen kann, weil er einerseits dem Patientenwillen verpflichtet ist, andererseits Sterbehilfe nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit sein kann, weil sie den Zielen der Medizin widerspricht. In dieser Situation müssen Mediziner eine Gewissensentscheidung treffen; damit sie diese Entscheidung begründet treffen können, werden ihnen Kriterien und Leitfragen an die Hand gegeben. So muss z. B. feststehen, dass das Lebensende nahe ist, und von unabhängigen Dritten bestätigt werden, dass der Patient urteilsfähig ist und frei entscheidet. Die Handlung, die letztlich zum Tod führt, müsse zwingend vom Patienten selbst durchgeführt werden. Quelle: Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende 2004, aktualisiert 2012), 9; online zugänglich unter : http://www.samw.ch/dms/de/Ethik/RL/AG/ d_RL_Lebensende_Juni14_Web.pdf

M 15 Deutsche Bischofskonferenz (2012): Das Leben ist ein Geschenk, das wir schützen und pflegen sollen. Die »Stellungnahme des Kommissariats der deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in Berlin zum Gesetzentwurf der Bundesregierung Gesetz zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung Berlin vom 22. 10. 2012« ist zugänglich unter : http://www.kathbuero.de/files/Kath_theme/Stellungnahmen/ 2012/2012Nov10Stellungnahme%20Regierungsentwurf%20Suizidhilfe.pdf

M 16 Evangelische Kirche in Deutschland (2013): Das Leben ist eine Gabe, über die wir nicht eigenmächtig verfügen sollen Die Stellungnahme der EKD zum Gesetzentwurf zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung ist zugänglich unter : http://www.ekd.de/ bevollmaechtigter/stellungnahmen/86938.html

Assistierter Suizid

263

M 17 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (2008): Sich führen lassen Eine grundlegende Orientierungshilfe zur Frage der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung hat die EKD im Jahr 2008 veröffentlicht: »Wenn Menschen sterben wollen. Eine Orientierungshilfe zum Problem der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung«. Der Text ist zugänglich unter http://www.ekd.de/download/ ekd_texte_97.pdf. Für die Diskussion im Unterricht sind besonders die individual- und sozialethischen Perspektiven (S. 27 – 33) bedeutsam.

M 18 Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (2011): Unser Ziel ist es, Menschen zum Leben ermutigen. Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa weist darauf hin, dass auch die Mitwirkung an einem Suizid ein aktives Handelns ist, das christlicher Ethik grundsätzlich widerspricht. Sie betont aber auch, dass niemand verurteilt werden könne, der in einer ausweglosen und qualvollen medizinischen Situation seinem Leben selbst ein Ende setzt. Die Orientierungshilfe unter dem Titel »Leben hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit« ist zugänglich unter http://www.leuenberg.net/sites/default/files/ Leben_hat_seine_Zeit_0.pdf; die genannte Argumentation findet sich S. 95.

Ingrid Schoberth / Silke Wagner

Vom Lesbarwerden der Zeit. Unterrichtswege im Diskurs mit Texten zu Giorgio Agambens Reflexionen zur messianischen Zeit

1.

Einleitung

Zeitreflexionen sind elementar für religiöse Bildung. Wenn man so will, ist die Zeiterfahrung des christlichen Glaubens/christlicher Religion unterschieden von der Erfahrung der Zeit in der je bestimmten chronologischen Wahrnehmung von Zeit. Unterricht in christlicher Religion ist erst ganz erfasst, wenn die ›zeitlichen Rahmenbedingungen‹ deutlich sind, innerhalb derer sich religiöses Lernen bewegt. Die Reflexionen und also Themen, an denen gearbeitet wird, sind immer ausgestreckt auf eine Zukunft, die Zukunft der Menschen bei Gott. Diese eschatologische Dimension macht das Besondere religiöser Bildung aus, die aber nur dann verstanden und lernend beurteilt werden kann, wenn die Differenz zur chronologischen Zeitwahrnehmung erfasst wird. Bildungsprozesse in der Perspektive der Eschatologie qualifizieren darum die Wahrnehmung des je eigenen Lebens und eröffnen eine differenzierte Zeitwahrnehmung, die das eigene wie gemeinsame Leben in spezifischer und eigener Weise bestimmt. Eine Beschäftigung mit Giorgio Agambens Wahrnehmung der messianischen Zeit, angeregt durch seine Lektüre des Römerbriefes von Paulus, ist eine Möglichkeit, im Lernen mit Schülerinnen und Schülern in eine differenzierte Zeitwahrnehmung einzusteigen. Seine Überlegungen eignen sich dazu, einfache Differenzen von Zeit (Zeit und Ewigkeit etc.) aufzugeben und von der messianischen Zeit zu reden, die die Gegenwart in besonderer Weise qualifiziert: Was lernen Schülerinnen und Schüler in religiösen Bildungsprozessen mit Bezug auf Giorgio Agambens Überlegungen zur messianischen Zeit? Wozu werden sie befähigt, wenn Lernwege auf die hier eröffneten Zusammenhänge zugehen und sich einlassen auf seine Reflexionen? Wie kann ein kritischer Diskurs angestoßen werden, der Schülerinnen und Schüler befähigt, in das Gespräch mit ihnen zunächst (oder auch bleibend) fremden Texten einzusteigen? Die Idee zu dieser Auseinandersetzung ist auf der Tagung zum Urteilen lernen entstanden. Der Vortrag von Josef Wohlmuth, der sich den Interpretationen zum Phänomen von Zeit durch Agamben gestellt hat und diesen auch in religions-

266

Ingrid Schoberth / Silke Wagner

pädagogischer Hinsicht nachgegangen ist, war Ausgangspunkt dieser auf religiöses Lernen gerichteten Reflexion. Im Besonderen soll dabei der Überlegung Agambens zur Gestalt eines messianischen Lebensstils Raum gegeben werden. Wohlmuth stellt im Diskurs mit Agamben überzeugend heraus, dass mit Paulus die Reflexion auf einen messianischen Lebensstil im Heute, das Jetzt seiner Lesbarkeit, der Lesbarkeit der messianischen Zeit, gekommen ist. Religiöse Bildungsprozesse nützen diese Lesbarkeit aus: Intuitiv, provokativ, überlegt, anfänglich peregrinatorisch. Zugleich stehen diese Überlegungen im eschatologischen Horizont, indem die messianische Zeit als Horizont des Eschaton wahrgenommen wird. Inmitten der Reflexion bleibt die Frage nach den SchülerInnen: Wie gelingt es, im alltäglichen Betrieb auch der Schule Reflexionen auf die Zeit zu einer Herausforderung für Schülerinnen und Schüler werden zu lassen? Kann das didaktisch gelingen, dass Schüler wieder motiviert werden können, sich auf solche Reflexionen einzulassen? Im Folgenden sollen dazu aus dem reichen Textmaterial zentrale Aspekte für den Unterricht erfasst werden und thematische Orientierungen erarbeitet werden, die den Diskurs mit den Überlegungen Agambens ermöglichen. Auf dem didaktischen Feld stellt sich heute eine Bildungsaufgabe, der hier nachgegangen werden soll: Zu einer Lesbarkeit der Welt anzuleiten, die durch die Heilige Schrift bestimmt ist. Inmitten einer Gegenwartskultur, in der Perspektiven aus vielfältigen Kontexten gewonnen werden, ist die Lesbarkeit der Welt mit der Heiligen Schrift als ein religiöses Programm zu verstehen, das die Zugänge zu christlicher Religion erprobend und versuchsweise eröffnet. Um Unterscheidungen scharf zu machen, an denen Schülerinnen und Schüler urteilen lernen, welche Orientierungen für sie Geltung gewinnen können und welche nicht, ist es notwendig, dieser Lesbarkeit mit der Heiligen Schrift auf die Spur zu kommen. Sie bezieht zugleich immer auch das Lesen derer ein, die die Heilige Schrift neu lesen und eben anders lesen als diejenigen, die immer wieder in ihr lesen und denen die Schrift vertraut ist. Es geht darum, den Texten nachzugehen, mit denen die Welt wahrnehmbar wird. Sie eröffnet die Befähigung zu ästhetischer Kompetenz, die in der unterrichtlichen Arbeit an Geschriebenem möglich wird. Ausgangspunkt ist die Aufforderung, die auch Wohlmuth bei Agamben entdeckt und die zu einer neuen Lektüre der Schrift führt: Heute ist »das Jetzt ihrer Lesbarkeit«1 gekommen; die Wahrnehmung messianischer Zeit, die mit der messianischen Lesart der Welt konfrontiert. Kann also Unterricht heute mit und an dem Thema der Messianität zur Wahr1 Vgl. dazu den Text von Wohlmuth, Josef: »Die Zeit ist kurz« (1. Kor 7,29). Verantwortlich leben und handeln in messianischer Zeit bei Giorgio Agamben; in: Urteilen lernen II. Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs, hg. von Ingrid Schoberth, Göttingen 2014, 269 – 291.

Vom Lesbarwerden der Zeit

267

nehmung der Wirklichkeit anleiten, die in Christus eröffnet ist? Dazu legt Agamben Spuren, die aufgenommen werden sollen.

2.

Mit den Schülerinnen und Schülern sich an Paulus erinnern und seine Lebensgeschichte genauer wahrnehmen

Um diesen unterrichtlichen Weg vorzubereiten, ist es didaktisch notwendig, mit Schülerinnen und Schülern den Apostel Paulus ins Gedächtnis zu rufen. Von seinen Briefen her kann sich dann erschließen, was es mit seinen Reflexionen in dem für ihn sehr zentralen Römerbrief auf sich hat. Dazu eignet sich etwa ein Blick auf das ›Damaskuserlebnis‹, das für ihn Grund einer neuen Wahrnehmung auf Christus darstellt, ohne seinen bisherigen Lebensweg bestreiten zu müssen. Hier eröffnet sich für ihn ein neuer Blick auf Christus, der in der Erzählung dieses Geschehens festgehalten ist (Apg 9, 1 – 19). Wie Schuppen fällt es Paulus von den Augen; für ihn eröffnet sich eine neue Wahrnehmung seines Lebens; es erschließt sich ihm so viel Neues, dass er sein Leben durch das Evangelium von Jesus Christus neu ausrichten lässt. Andere Bewertungen seines Lebens treten dabei zurück. In dieser Perspektive ist es dann ertragreich, mit den Schülern nach der Interpretation des Römerbriefes im Heute durch einen Philosophen zu fragen, der mit seinem Fragen die Sache auch für Schüler selbst attraktiv werden lässt. Saulus aber schnaubte noch mit Drohen und Morden gegen die Jünger des Herrn und ging zum Hohenpriester 2 und bat ihn um Briefe nach Damaskus an die Synagogen, damit er Anhänger des neuen Weges, Männer und Frauen, wenn er sie dort fände, gefesselt nach Jerusalem führe. 3 Als er aber auf dem Wege war und in die Nähe von Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel; 4 und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich? 5 Er aber sprach: Herr, wer bist du? Der sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst. 6 Steh auf und geh in die Stadt; da wird man dir sagen, was du tun sollst. 7 Die Männer aber, die seine Gefährten waren, standen sprachlos da; denn sie hörten zwar die Stimme, aber sahen niemanden. 8 Saulus aber richtete sich auf von der Erde; und als er seine Augen aufschlug, sah er nichts. Sie nahmen ihn aber bei der Hand und führten ihn nach Damaskus; 9 und er konnte drei Tage nicht sehen und aß nicht und trank nicht. 10 Es war aber ein Jünger in Damaskus mit Namen Hananias; dem erschien der Herr und sprach: Hananias! Und er sprach: Hier bin ich, Herr. 11 Der Herr sprach zu ihm: Steh auf und geh in die Straße, die die Gerade heißt, und frage in dem Haus des Judas nach einem Mann mit Namen Saulus von Tarsus. Denn siehe, er betet 12 und hat in einer Erscheinung einen Mann gesehen mit Namen Hananias, der zu ihm hereinkam und die Hand auf ihn legte, damit er wieder sehend werde. 13 Hananias aber antwortete: Herr, ich habe von vielen gehört über diesen Mann, wieviel Böses er deinen Heiligen in Jerusalem angetan hat; 14 und hier hat er Vollmacht von den Hohenpriestern, alle

268

Ingrid Schoberth / Silke Wagner

gefangenzunehmen, die deinen Namen anrufen. 15 Doch der Herr sprach zu ihm: Geh nur hin; denn dieser ist mein auserwähltes Werkzeug, daß er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel. 16 Ich will ihm zeigen, wieviel er leiden muß um meines Namens willen. 17 Und Hananias ging hin und kam in das Haus und legte die Hände auf ihn und sprach: Lieber Bruder Saul, der Herr hat mich gesandt, Jesus, der dir auf dem Wege hierher erschienen ist, daß du wieder sehend und mit dem heiligen Geist erfüllt werdest. 18 Und sogleich fiel es von seinen Augen wie Schuppen, und er wurde wieder sehend; und er stand auf, ließ sich taufen 19 und nahm Speise zu sich und stärkte sich. 20 Saulus blieb aber einige Tage bei den Jüngern in Damaskus. Und alsbald predigte er in den Synagogen von Jesus, daß dieser Gottes Sohn sei.

3.

Wie wird die messianische Zeit für Schüler lesbar?

Ausgangspunkt dieser didaktischen Aufgabe ist die Absicht, mit Schülerinnen und Schülern theologisch zu arbeiten. Dass ist darum notwendig, dass die Gehalte erkennbar bleiben, die evangelische Religion unterrichtlich verantwortet. Weil diese Verantwortung sich aus dem Diskurs konstituiert, die die Theologie mit vielfältigen anderen auch außertheologischen Reflexionen führt und auch führen will – das gehört zum Selbstverständnis evangelischer Religion – soll hier der Versuch unternommen werden, nach unterrichtlichen Themen zu suchen, die es ermöglichen, dichten theologischen Themen nachzugehen und unterrichtlich zu erschließen.

3.1

Der messianischen Zeit innewerden: Lesen in der Bibel mit Schülerinnen und Schüler heute

In der Bibel lesen lernen vollzieht sich in der konkreten Zuwendung zum Lesen in der Bibel als einem ganz spezifischen Weg, der messianischen Zeit inne zu werden. Darum ist es auch eine besondere Auszeichnung, dass der Philosoph Agamben sich ihr zuwendet und als Philosoph die Bibel bzw. in der Bibel (Römerbrief etc.) liest. Das ist in postmodernen Zeiten eher ungewöhlich geworden und inmitten einer Situation der Vielfalt der Reflexionen und Bezüge ein Moment, das besonders zu würdigen ist. Denn es versteht sich nicht von selbst, dass die Bibel als Lektüre zur Erhellung der Gegenwartssituation wahr- und aufgenommen wird. Darin liegt die besondere Würdigung der Bibel auch durch den Philosophen, die hier Beachtung finden soll und Schülerinnen und Schüler befähigen soll, in den Diskurs einzutreten. Dieser elementare Vorgang der Hinwendung im Lesen zum Bibelbuch und seinen Schriften ist darum für Unterrichtswege fruchtbar zu machen und muss mit Schülerinnen und Schüler sensibel vollzogen werden. Denn die Fremdheit

Vom Lesbarwerden der Zeit

269

der Schrift erfordert Lernprozesse, die in die Nähe der Schrift führen und diese Nähe nicht unkommentiert zu entfalten versuchen. Daraus kann dann die Spur erwachsen, der messianischen Zeit in der Interpretation durch die Heilige Schrift nachzugehen. Textlektüre zu 3.1: In diesem Zusammenhang wären aus didaktischer Sicht verschiedene Zugänge möglich. M. E. sollte vorbereitend für die Lektüre und die Verarbeitung der Überlegungen von Agamben versucht werden, den Schülerinnen und Schülern überhaupt deutlich zu machen, was es heißt, in der Bibel zu lesen. Dabei könnte man etwa die Lektüre der Schrift selbst thematisieren ; man könnte auch Lesegewohnheiten besprechen (Herrenhuter Losungen ; Bibellesepläne; Perikopenauswahl ; etc.) ; man könnte nach Erfahrungen mit heiligen Texten fragen ; man könnte nach Leseerfahrungen der Schüler fragen und diese besprechen; etc.

3.2

Welche Zeit hat die Welt angesichts der messianischen Zeit? Ahnungen zukünftigen Lebens entwickeln im Horizont der Gegenwartslage der Schülerinnen und Schüler

Eröffnet die messianische Zeit, von der Agamben spricht, die Wahrnehmung einer Gestalt des Lebens, die es erst zu entdecken gilt? Was also heißt messianischer Lebensstil? Hebt diese Gestalt die Gegenwart, das Jetzt, das Heute, auf ? Es ist wohl eine Beschreibung von Zeit, die so gar nicht an das heranreicht, was Schülerinnen und Schüler mit Zeit in Verbindung bringen, wenn sie denn überhaupt solche Reflexionen anstellen. Darum sollen es in didaktischer Absicht auch nur Ahnungen sein, die hier anvisiert werden. Insofern ist darum auch das, was im Zusammenhang der messianischen Zeit zu entdecken ist, etwas, das zum einen dem Lebensgefühl Jugendlicher entspricht, dass die Wahrnehmung der messianischen Zeit letztlich der Festlegung entzogen ist. Zum anderen aber fordert sie heraus und motiviert zum Nachdenken, weil sie sich nicht mit dem zufrieden gibt, was als Tatsache deklariert wird. Philosophisch reichen hier die Überlegungen von Agamben heran an die Darlegungen von Adorno zur Wahrnehmung von Wirklichkeit, die nicht in dem aufgeht, was gegeben ist, sondern immer auch über sich hinausweist. In der Person von Paulus selbst erkennt Agamben den messianischen Lebensstil realisiert. Er interpretiert ihn mit Bezug auf den Bibeltext 2. Kor 12,9 – 10:

270

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»Und er hat zu mir gesagt: Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne.« Agamben ist tief betroffen von dieser Selbstwahrnehmung des Paulus.2

Dass die Gestalt der Welt schon vorbei sei und sich Neues einstellt, etwas, das über das Vorfindliche hinausgeht, das spiegelt sich wieder in der Schwachheit, der die Überwindung zugesprochen ist. Mit dieser leiblichen Wahrnehmung verbunden ist die Einsicht in die Differenz von Chronos, als der linearen Alltagszeit und der messianischen Zeit, die in der Differenz zur Chronologie wahrgenommen werden muss. Dabei deutet diese Differenz auf das Wesentliche der Überlegungen Agambens in der Auslegung des Römerbriefes. Es geht um eine Differenz, die eben nicht als Differenz von Chronos und Eschaton wahrgenommen werden kann, sondern in der es um eine Zeit geht, die sich auf das Eschaton zubewegt, aber etwas anderes ist als die chronologisch bestimmte Zeit. Diese Zeit nennt er messianische Zeit. Mit dieser Zeit hat es etwas Besonderes auf sich und ohne diese Dimension der Zeitwahrnehmung lässt sich die Zeit, die im Kommen des Messias eröffnet worden ist, nicht zureichend wahrnehmen. Christi Kommen qualifiziert demnach Zeit als eine andere als die chronologische Zeit. In anderem Zusammenhang ist auch von der Fülle der Zeit gesprochen worden.3 Textlektüre zu 3.2: Predigt zu 2. Kor 12,9 – 10: Mithilfe einer Predigt sollen die Schüler den biblischen Text aus 2. Korinther 12, 9 – 10 erarbeiten. Damit sind folgende unterrichtliche Möglichkeiten gegeben, die die Lektüre am biblischen Text für die Schülerinnen und Schüler eröffnen: (1) Die Schüler lernen mit dem biblischen Text den Weg der Auslegung und Interpretation biblischer Texte kennen. Sie nehmen wahr, dass es neben der eigenen Bemühung um das Verstehen biblischer Texte auch andere Formen gibt, in der Bibel zu lesen. Eine dieser Formen ist die Verkündigung als eine Möglichkeit, den Gehalt biblischer Texte in der Interpretation für die Predigt kennen und verstehen zu lernen. Darum eigenen sich Predigten im Unterricht, weil ein Weg der Auslegung vorgeführt wird, dem die Schüler nachgehen können und ihn beurteilen lernen. Etwa: Legt die Predigt den Text in der Hinsicht aus, die mir in meiner Lektüre auch wichtig geworden ist? Oder geht die Auslegung der Predigt ganz an dem vorbei, was mir im Lesen des Textes wichtig geworden ist? Gerade auch im Gegenüber zu Agambens Auslegung ist die Form der Predigt eine spezifische Art der Interpretation, die sich von der philosophischen Reflexion abhebt, wie sie Agamben vorführt. 2 Vgl. dazu den Text von Wohlmuth, Josef: Die Zeit ist kurz (1 Kor 7,29). 3 Schoberth, Wolfgang: Leere Zeit – erfüllte Zeit. Zum Zeitbezug im Reden von Gott; in: Einfach von Gott reden. Ein theologischer Diskurs. Festschrift zum 65. Geburtstag für Friedrich Mildenberger, hg. von Jürgen Roloff und Hans G. Ulrich, Stuttgart u. a. 1994, 124 – 142.

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(2) Methodisch wäre es darum möglich, SchülerInnen im Internet recherchieren zu lassen. Da dieser Bibeltext häufig gepredigt wird, finden sich viele Auslegungen dazu im Internet. Schüler entscheiden dann in und durch die Lektüre im Netz, welche Predigt für sie am plausibelsten ist. Diese, ihre Entscheidung für eine Interpretation bringen sie dann argumentativ im Unterricht ein. Die Recherche wird der Ausgangspunkt für ein Unterrichtsgespräch zum biblischen Text mithilfe der predigenden Entfaltung. (3) Mithilfe der Predigt und der Reflexion der Auslegung gehen die Schüler dem Gedanken Agambens nach: Also so leben lernen, »dass die Kraft Christi in mir wohnt?« (4) Möglicherweise kann man in diesem Zusammenhang auch die Taufe genauer besprechen, als Eingebundenwerden in die Nähe zu Christus. Das würde einen eigenen weiteren Themenbereich eröffnen, den man auch weiter nachgehen könnte.

3.3

Messianische Zeit – Neues Zeitverstehen anbahnen

Motto: »dass die messianische Zeit nicht das Ende der Zeit ist, sondern die Zeit des Endes.«4

Die Anbahnung solcher Reflexionen sind in der Oberstufe grundlegend, weil sie ein Gespür entwickeln helfen für die Qualität von Zeit, die eben nicht in der chronologischen bzw. digital messbaren Zeit aufgeht, sondern der durch den Messias, nämlich Christus, eine neue Qualität zukommt. Sie ist »nicht das Ende der Zeit, sondern die Zeit des Endes.«5 Das beschreibt eine andere Zeit: Sie ist weder Chronologie noch apokalyptisches Eschaton, sondern sie ist etwas, das in die Zeit eintritt. Die messianische Zeit wird von Agamben als »qualitative Wandlung der gelebten, chronologischen Zeit«6 verstanden. Einem solchen Motto genauer nachgehen und sich darauf einlassen ist auch eine didaktische Möglichkeit, auf ein neues Zeitverstehen der Schülerinnen und Schüler zuzugehen.

4 Agamben, Giorgio: Die Struktur der messianischen Zeit; in: Aisthesis. Zur Erfahrung von Zeit, Raum, Text und Kunst; hg. von Nikolaus Müller-Schöll u. a.; Schliengen 2005, 172 – 182. 5 Agamben, Giorgio: Die Struktur der messianischen Zeit, 173. 6 Vgl. Seip, Jörg: Messianische Pastoral. Überlegungen nach Giorgio Agambens Pauluslektüre; in: Im Angesicht der Anderen. Gespräche zwischen christlicher Theologie und jüdischem Denken. FS für Josef Wohlmuth Paderborn u. a. 2013, 441 – 460, 456.

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Textlektüre zu 3.3: Der Philosoph Walter Benjamin hat seine Vorstellung von messianischer Zeit beschrieben, indem er betont hat, dass jede Sekunde der Messias eintreten kann. Die messianische Zeit ist der bisherigen Zeit nicht ähnlich, sondern unterscheidet sich von ihr radikal: Jeder Augenblick ist die »kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.«7 Ins Verhältnis zu diesem kleinen Aphorismus von Benjamin wären dann die Überlegungen von Giorgio Agamben zu setzen, der die Differenz von chronologischer Zeit und messianischer Zeit festhält: »Während unsere Darstellung der chronologischen Zeit als derjenigen Zeit, in der wir sind, uns von uns trennt und uns sozusagen in ohnmächtige Zuschauer unserer selbst verwandelt, die ohne Zeit die flüchtige Zeit betrachten, ist die messianische Zeit als operative Zeit, in der wir unsere Zeitdarstellung ergreifen und vollenden, die Zeit, die wir selbst sind – und daher die einzig reale Zeit, die einzige Zeit, die wir haben.«8 Agamben erinnert in diesem Zusammenhang an die im biblischen Kontext dargelegte Qualität der messianischen Zeit; sie ist Zeit des Als-ob-nicht; Zeit, in der »die Weinenden als ob nicht Weinende«9 sich verstehen lernen, eine Zeit, die wir haben, als Zeit für das Gute (Gal 6,10).10

3.4

Sabbat als Konkretion messianischer Zeit

Agamben beschreibt auch den Sabbat in seiner Zeitreflexion: »Der Sabbat – die messianische Zeit – ist nicht ein weiterer, den anderen Tagen äquivalenter Tag. Er ist vielmehr der innere Bruch in der Zeit, durch den man – um Haaresbreite – die Zeit ergreifen und sie vollenden kann.«11 Im Diskurs mit anderen Wahrnehmungen der Zeit anhand des Sabbat kann sich für Schülerinnen und Schüler diese neue auch für die Schüler fremde Zeitwahrnehmung eröffnen: Textlektüre zu 3.4: Der jüdische Philosoph Abraham Joshua Heschel hat die Erfahrung messianischer Zeit beschrieben, in der die Zeit mit dem Sabbat gleichgesetzt wird: Der Sabbat ist »Ein Palast in der Zeit«. Heschel stellt heraus: »Sechs Tage der Woche 7 Benjamin, Walter : Über den Begriff der Geschichte; in: Gesammelte Schriften I.2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1974, 704. 8 Agamben, Giorgio: Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Aus dem Italienischen von Davide Giuriato, Frankfurt/Main 2006, 81. 9 aaO., 82. 10 Vgl. aaO., 82. 11 Agamben, Giorgio: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, 85. Vgl. auch Agamben, Giorgio: Die Struktur der messianischen Zeit, 179.

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kämpfen wir mit der Welt, ringen wir dem Boden seinen Ertrag ab; am Sabbat gilt unsere Sorge vor allem der Saat der Ewigkeit, die in unsere Seele gesenkt ist.« Und geradezu euphorisch fragt er : »Was ist so herrlich an einem Tag? Was ist so kostbar, daß es das Herz ergreift? Der Grund ist, dass der siebte Tag eine Goldgrube ist«… »ein Bereich, in dem der Mensch bei Gott zu Hause ist, ein Bereich, in dem der Mensch bestrebt ist, der Gottesebenbildlichkeit nahezukommen.«12 Heranzuziehen wäre auch Martin Luther und seine Auslegung zum dritten Gebot im Kleinen Katechismus, der noch einmal eine eigene Wendung ermöglicht, den Feiertag genauer zu erfassen und als Gebot in und durch die Präsentation im Kleinen Katechismus genauer erfassen zu lernen: Du sollst den Feiertag heiligen. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir die Predigt und sein Wort nicht verachten, sondern es heilig halten, gerne hören und lernen.

3.5

Messianische Lebensform – Welche Gestalt gewinnt sie? Wie wird sie für Schülerinnen und Schüler konkret?

3.5.1 Die messianische Zeit erhält eine politische Gestalt: Textlektüre zu 3.5.1: Methodisch soll mit verschiedenen Zitaten von Autoren, die nach der politischen Gestalt der messianischen Zeit fragen, nachgegangen werden: Dabei steht im Fokus die Frage, wie überhaupt nach Auschwitz noch Literatur/bzw. Kunst möglich sei? Eva Geulen stellt in ihrer Arbeit zu Giorgio Agambens »Was von Auschwitz bleibt«13, folgende Aspekte heraus: »Den von vielen KZ-Überlebenden beschriebenen Typus des ›Muselmanns‹ betrachtet Agamben als die ›Schwelle einer Ethik, einer Lebensform, die dort beginnt, wo die Würde endet‹.«14 Dieser Aspekt kann durch eine Lektüre der Darlegungen von Eva Geulen weitergeführt werden, die sich dabei ja explizit auf Agamben bezieht und so die Zusammenhänge genauer zu erfassen ermöglicht, die Agamben mit der Reflexion auf das Zeugesein beschrieben hat.15 Vgl. dazu Agamben, Giorgio: 12 Heschel, Abraham Joshua: Der Sabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen. Aus dem Englischen übersetzt von Ruth Olmesdahl, Neukirchen-Vluyn 1990, 11 – 14. 13 Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III); aus dem Italienischen von Stefan Monhardt, 5. Aufl. Frankfurt/Main 2003; bes. 131 – 150. 14 Geulen, Eva: Giorgio Agamben zur Einführung, 2. Vollständig überarbeitete Auflage Hamburg 2009, 127 15 Geulen, Eva: Giorgio Agamben, 129 – 131. Geulen bezieht sich mit ihren Ausführungen A 55 und A 105 auf die Texte von Giorgio Agamben in seiner Veröffentlichung: Was von Auschwitz bleibt.

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»›Der Muselmann ist der vollständige Zeuge‹. Es impliziert zwei widersprüchliche Propositionen: (1) Der Muselmann ist der Nicht-Mensch, derjenige, der auf keinen Fall Zeugnis ablegen könnte. (2) Derjenige, der nicht Zeugnis ablegen kann, ist der wirkliche Zeuge, der absolute Zeuge.«16 Weiterhin sind hier etwa auch die Überlegungen von Klaus Reichert weiterführend: Sie machen deutlich, wie intensiv literarisch um eine angemessene Wahrnehmung von Auschwitz, um der Opfer willen, gerungen wird und gerungen werden muss. Eine Lösung liegt nie einfach auf der Hand. Reichert zeigt das an Paul Celans Gedichten, deren Hermetik das in besonderer Weise zu erkennen gibt.17 Herangezogen werden könnte auch eine Lektüre der Überlegungen von Klaus Reichert zur Interpretation von Paul Celan.18 Sollte im Unterricht noch Zeit bleiben, könnte man auch fächerübergreifend arrangiert gemeinsam mit der Lektüre von Gedichten von Paul Celan im Deutschunterricht weiterarbeiten. 3.5.2 Die messianische Zeit erhält eine christologische Gestalt (Vgl. Christusexistenz Gal 2,20) Textlektüre zu 3.5.2: Auch hier wären die Aspekte Giorgio Agambens aufzunehmen, der »die paradoxe Spannung zwischen einem schon und einem noch nicht, die die Paulinische Konzeption des Heils definiert«19 aufgreift und der Konzeption des Heils in Christus nachgeht. Agamben betont den Zusammenhang von messianischer Zeit und der Zeit und Präsenz des Christus: »Bei Paulus fällt die Christologie – vorausgesetzt, daß man bei Paulus überhaupt von einer Christologie sprechen darf – restlos mit der Lehre des Messias zusammen. Wir werden daher christûs immer mit ›Messias‹ übersetzen.«20 Für Paulus erwächst aus der Begegnung mit Christus ein neues Selbstverständnis: Paulus ist nun Apostel Jesu Christi. Dabei gilt es mit Agamben zu 16 Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt, 131. 17 Reichert bezieht sich hier auf die Todesfuge von Paul Celan. In vielen Schulen gehört dieses Gedicht zum Kanon der Lektüre des Deutschunterrichts, und es ist zu vermuten, dass Schüler dahe dieses Gedicht kennen; ein fächerübergreifender Unterricht wäre bei diesem Thema sehr vielversprechend und könnte genützt werden. In diesem Zusammenhang wäre also die Arbeit am Thema auszuweiten; andererseits würde es aber auch genügen, den Reflexionen von Klaus Reichert nachzugehen und der messianischen Spur zu folgen, die sich gerade angesichts von Auschwitz zeigt. 18 Vgl. dazu Reichert, Klaus: Fragendes Verstehen – Zu Paul Celans Gedicht ›Psalm‹; in: ders.: Lesenlernen. Über moderne Literatur und das Menschenrecht auf Poesie, München, Wien 2006, 197 – 216, 214 – 215. 19 Agamben, Giorgio: Die Struktur der messianischen Zeit, 177. 20 Agamben, Giorgio: Die Zeit, die bleibt, 27.

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unterscheiden, dass eben Paulus gerade nicht Prophet ist, sondern Apostel: Diese Unterscheidung, die ein wesentliches Moment der messianischen Zeit deutlich macht, greift auch Agamben auf. In seinen Überlegungen zur messianischen Zeit kann er diese Gestalt der Christusexistenz weiterverfolgen, die er mit Bezug auf 1. Korinther 7, 29 entfaltet.21 Weiterführend eignet sich eine biblische Textarbeit und Auslegung zu Galater 2,20: Gal 2,20: »Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.«

Eine Auslegung zu Gal 2,20 und die Reflexion des messianischen Lebensstils als Christusexistenz ist ein Gedanke, den Agamben eingehend aufgreift und daran die Zugehörigkeit des Apostels zu Christus bzw. die dadurch aufgeworfene Frage nach der Identität des Christen beschreibt. Agamben stellt diesen Bezug mit dem biblischen Text in Gal 2,20 her. Denn neben dem biblischen Text des Paulus an die Philipper ist es besonders auch der Galaterbrief, in dem Paulus auf seine Berufung bzw. Bekehrung eingeht und die »Botschaft vom Gekreuzigten« seinen Gegnern gegenüber verteidigt. Damit ist das Apostolat des Paulus und sein Selbstverständnis besonders qualifiziert: »Das ›Kreuz‹ ist das Symbol einer unüberwindbaren Spannung zur Welt. Der ›Gekreuzigte‹ ist der von der Welt abgelehnte Erlöser. In der Verbindung mit ihm müssen die Christen die Spannungen und Konflikte mit ihrer Umwelt riskieren und ertragen.«22

Eine theologische Reflexion dazu bietet Wilfried Joest/ Johannes von Lüpke, indem sie dazu herausstellen, dass diese Auszeichnung des Christen als Christusexistenz zu beschreiben ist, die das zu erkennen gibt, »wie Gott in Christus zu dem Menschen, den er rechtfertigt, ins Verhältnis tritt.« … »Nicht ›es lebt‹, auch nicht ›ich werde gelebt‹, sondern: ›ich lebe‹ – aber dieses Ich kann nicht mehr sich selbst, sondern nur Christus als Träger dieses seines Lebens ansprechen.«23

21 Agamben, Giorgio: Struktur, 173 – 174. 22 Theißen, Gerd: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, 3. Auflage Darmstadt 2003, 303. 23 Joest, Wilfried/von Lüpke, Johannes: Dogmatik II: Der Weg Gottes mit dem Menschen, 5. völlig neu überarbeitete Auflage Göttingen 2012, 142.

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3.5.3 Arbeit am Kunstwerk »Messianische Zeit« und Einschreiben der Hoffnung der messianischen Zeit in das Kunstwerk Mithilfe eines Kunstwerkes soll die Textlastigkeit des Unterrichts etwas aufgebrochen werden und in ästhetischer Hinsicht das Thema aufgenommen und weitergeführt werden. Das Bild wird als Ganzes wahrgenommen: Wahrnehmung messianischer Zeit als Zeit der Auferstehung, als Zeit des Übergangs, als Zeit des sich durchsetzenden Neuen … etc.

Ein Bild, das das Neue messianischer Zeit als Zeit vor dem Ende der Zeit markiert. Der Einbruch messianischer Zeit wird im Bild wahrgenommen und mit den Schülern mit der bisherigen Lektüre konfrontiert; im und mit dem Bildauszug wird versucht, dieses Moment messianischer Zeit zu erfassen. Ein weiterer Bildauszug, der es möglich macht, Zeit so zu erfassen, dass die Schüler versuchen, die Aspekte ihrer Vorstellung von messianischen Zeit in das Bild einzutragen: man könnte das Bild als Grundlage einer Collage heranziehen und die Schüler motivieren, ihre Ideen darauf einzutragen.

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Das Bild zur messianischen Zeit eröffnet verschiedene Zugänge, die den Schülern ästhetische Kompetenz zuzuspielen ermöglicht. Freilich ist das eine sehr gelenkte Interpretation des Kunstwerkes, indem die bisher erarbeiteten Zusammenhänge zum Bild in Beziehung gesetzt werden sollen.

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Rettung des Unrettbaren – Wahrnehmung messianischer Rekapitulation

Wie verhält sich die messianische Zeit, der messianische Lebensstil zu den Erfahrungen und Ereignissen in der Geschichte? Immer wieder neu wird in der Theologie und Philosophie dieser Frage nachgegangen. Wie sind die Ereignisse der Vergangenheit wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen? Textlektüre zu 3.6: Was es mit der messianischen Rekapitulation auf sich hat, läßt sich einmal wieder mit Überlegungen von Agamben, Giorgio: Die Struktur der messianischen Zeit, 181 f, nachverfolgen und vertieft reflektieren. Aber auch die Reflexionen Theodor W. Adornos sind dazu angelegt, diese messianische Rekapitulation wahrnehmen zu lernen. Mit einem Aphorismus von Adorno lässt sich am Thema unterrichtlich weiterarbeiten: ein längeres Zitat von Adorno eignet sich für die Reflexion nicht, da die Komplexität des Themas, wie es von Adorno in der Negativen Dialektik entfaltet worden ist, von den Schülern nicht nachvollzogen werden kann. Dazu ist die Lektüre Adornos zu vielschichtig und zu schwierig. Aber am Aphorismus in die Reflexionszusammenhänge Adornos hineinzufinden, dazu eignet sich dieses Zitat in besonderer Weise. »Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles.«24

Es ist eine Zusammenfassung eines langen Reflexionsganges, in dem immer wieder auch die Bedeutsamkeit von Religion für die Diagnose der Gegenwart reflektiert wird: »Der alte Verdacht, in den Religionen wuchert Magie und Aberglaube fort, hat zur Kehrseite, daß den positiven Religionen der Kern, die Hoffnung aufs Jenseits, kaum je so wichtig war, wie ihr Begriff es forderte.«25 Insofern ist mit Adorno zumindest die Reflexion auf Hoffnung für Veränderung und Verwandlung vielleicht als Thema gesetzt. Und so stellt Adorno heraus: »Das Alles ist eitel, mit dem seit Salomo die großen Theologen die Immanenz bedachten, ist zu abstrakt, um über die Immanenz hinauszugeleiten. Wo die Menschen der Gleichgültigkeit ihres Daseins versichert sind, erheben sie keinen Einspruch; solange sie nicht ihre Stellung zum Dasein verändern, ist ihnen eitel auch das Andere.«26

24 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, 391. 25 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1970, 15 – 400, 390. 26 Ebd.

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4.

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Abschluss und Ausblick

Der vorliegende Lernweg führt vor Augen, dass es für die Religionsdidaktik notwendig ist, den Spuren auch aktueller philosophischer Entwürfe nachzugehen, vor allem auch solchen, die einen Diskurs mit der Theologie immer neu zu eröffnen suchen. Theologie wird ins Gespräch mit vielfältigen anderen Perspektiven gezogen und insofern zeigt sie sich in einem offen kritischen Verhältnis zu je anderen Positionen und Optionen. Theologie hält sich hier nicht zurück; indem Schülerinnen und Schüler das entdecken lernen, lernen sie Theologie im Diskurs kennen und nehmen wahr, dass sich Theologie nicht ängstlich auf die eigenen Perspektiven zurückziehen muss. Drei Aspekte möchte ich festhalten, die die Bedeutung dieser diskursiven Lernwege für religiöse Bildung zeigen sollen: (1) Im Diskurs mit vielfältigen Perspektiven nehmen SchülerInnen die Offenheit der Theologie wahr. (2) Sie werden zum Gesprächspartner mit Philosophen, Soziologen etc. und erfahren christliche Religion als ein tragfähiges und weiterführendes Gesprächs- und Orientierungsangebot für das je eigene Urteilen und Entscheiden. (3) Schülerinnen werden so zum Urteilen befähigt, indem sie in den Diskurs um Orientierungen eintreten und dabei die Unvertretbarkeit wahrnehmen lernen, die ihnen jede Herausforderung zum Urteilen zumutet.