Valentin Serov: Bildfindungsprozesse des russischen Künstlers im gesamteuropäischen Kontext 9783422986596, 9783422984172

The works of Valentin Serov (1865–1911) mark the beginning of modern Russian painting. He presented them at the Secessio

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Valentin Serov: Bildfindungsprozesse des russischen Künstlers im gesamteuropäischen Kontext
 9783422986596, 9783422984172

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort
Vorwort und Dank
1. Literaturübersicht: Ein Künstler zwischen den Fronten
2. Zum Künstlerdasein bestimmt
3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache: Serovs stilistische Evolution nach seinen Reisen zwischen 1885 und 1887. Eine Feststellung
4. Wege zum Bild: Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Serovs ästhetischer Weltoffenheit und stilistischen Evolution
5. Sehen und gesehen werden. Serovs Auslandsreisen und ausstellungsbeteiligungen ab 1889
6. Linie, Farbe und Form: Tradition und Neuerung um 1900
7. Nachwort: Valentin Serov – ein altmeisterlich moderner Künstler
Farbtafeln
Anhang
Bibliografie
Namensregister
Bildnachweis

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Valentin Serov

Tanja Malycheva

Valentin Serov

Bildfindungsprozesse des russischen Künstlers im gesamteuropäischen Kontext

Diese Publikation wurde großzügig unterstützt vom Kroll Family Trust.

Impressum Umschlagabbildung: Valentin Serov, Raub der Europa, 1910, Öl auf Leinwand, 71 × 98,7 cm, STG, Moskau, Inv. 1535, © Staatliche Tretyakov Galerie Layout und Satz: Andreas Eberlein, aromaBerlin Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Verlag: Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München Lützowstraße 33 10785 Berlin www.deutscherkunstverlag.de Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston www.degruyter.com Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; ­ detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München ISBN 978-3-422-98417-2 e-ISBN (PDF) 978-3-422-98659-6

Inhaltsverzeichnis Geleitwort 9 Vorwort und Dank 11

1. Literaturübersicht: 17 Ein Künstler zwischen den Fronten 1.1 Zeitgenössische Kunstkritik 17 1.2 Postume Veröffentlichungen in Russland und in der Sowjetunion 18 1.3 Postume Veröffentlichungen in Europa und in den Vereinigten Staaten 23

2. Zum Künstlerdasein bestimmt 2.1 Die ‚Wanderjahre‘

1872–75: München und Paris 1875–79: Abramtsevo, St. Petersburg, Kiew und Moskau

2.2 V. Serov. Selbst (1879) 2.3 1880: Studienbeginn 2.4 ‚Infantin‘ und ‚Amazone‘: Bildnisse Liudmila und Maria Mamontova (1884) 2.5 Der forschende Blick. Serovs frühe Selbstbildnisse

3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache: Serovs stilistische Evolution nach seinen Reisen zwischen 1885 und 1887. Eine Feststellung

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3.1 Europa-Reise von 1885: Deutschland, Holland, Belgien 55 3.2 Zurück in Russland: Experimentieren, Wagen, Scheitern 57 3.3 Das erste Meisterwerk: Das Bildnis Olga Trubnikova (1886) 59 als metaphysische Lichtinszenierung 3.4 Ein Professor ohne Diplom 70 3.5 1887: Italien und die Folgen 72 Vera Mamontova (1887) Maria Simonovich (1888) Von Künstlern bewundert. Von Kritikern zerrissen Frage des Impressionismus

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Inhaltsverzeichnis

4. Wege zum Bild: Untersuchung 89 der Zusammenhänge zwischen Serovs ästhetischer Weltoffenheit und stilistischen Evolution

4.1 Serovs Ideenaustausch mit Ilya Repin, Mikhail Vrubel und Konstantin Korovin 89 Ilya Repin (1844–1930) Mikhail Vrubel (1856–1910) Konstantin Korovin (1861–1939)

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4.2 Von Angesicht zu Angesicht: Serovs Begegnungen mit den Werken 98 zeitgenössischer europäischer Maler in den russischen Sammlungen Die Kushelevskaia Galerie Sammlung Dmitry Botkin Sammlung Sergei Tretyakov Sammlung Ilya Ostroukhov Sammlung Nikolai Kuznetsov

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Karl Koepping und seine Rolle in Serovs Europa-Reise von 1885 Ein Tag – eine Weltreise: Serov in der Antwerpener Weltausstellung von 1885 Die neuen Horizonte: Sehnsuchtsort Italien Venedig als Inspirationsstätte der internationalen Moderne Florenz und Mailand zwischen Vergangenheit und Gegenwart Die Bildnisse von Vera Mamontova (1887) und Maria Simonovich (1888) im Zeichen transalpiner Kunst

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4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen 110 von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887

4.4 Serovs moderne Unmittelbarkeit

… im Nachklang impressionistischer Stimmung … am Beispiel seiner Kinderbildnisse … in den Auftragsporträts des Herrscherhauses und Hochadels

5. Sehen und gesehen werden. Serovs Auslandsreisen und ausstellungsbeteiligungen ab 1889 5.1 Die ‚erste‘ Parisreise: Exposition Universelle von 1889

Französische Kunst Die Vereinigten Staaten Deutschlands unabhängige Abteilung von Karl Koepping, Max Liebermann und Gotthard Kuehl Niederlande, Italien, Dänemark und Norwegen Russland

5.2 Serov in Deutschland und Österreich: Reiseaufenthalte und Ausstellungen Sergei Diaghilevs Ausstellung in der Münchner Secession und im Salon Schulte (1898) und die Reaktionen deutscher Kritiker

5.3 Serov in Skandinavien 5.4 Serov in Frankreich (1900, 1906), Deutschland (1906–07) und Italien (1907) Die Exposition Universelle von 1900 und Serovs Stellung innerhalb der russischen Abteilung im Licht der internationalen Kunstkritik Serov im Salon d’Automne (1906), im Salon Schulte (1906–07) und auf der Biennale di Venezia (1907)

5.5 Anmerkungen zu Serovs Mitwirkung in Sergei Diaghilevs Mir iskusstva und Ballets Russes 5.6 Anmerkungen zur Weltausstellung in Rom (1911)

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Inhaltsverzeichnis

6. Linie, Farbe und Form: Tradition und Neuerung um 1900 6.1 Die Farbe Schwarz

Savva Mamontov (1887/90), die Abramtsevo-Künstlerkolonie und die erste Russische Privatoper Angelo Masini (1890), Francesco Tamagno (1891) und die Alten Meister Isaak Levitan (1893) Mara Oliv (1895) Mikhail Morozov (1902)

6.2 Valentin Serov und Anders Zorn

Nikolai Rimsky-Korsakov (1898) Nikolai II. (1900), Großherzog Mikhail Nikolaievich (1900), Pavel Kharitonenko (1901), Alexei Goriainov (1901), Ilya Ostroukhov (1902) und Evdokia Loseva (1903)

6.3 Die Frage des non-finito in Serovs Œuvre: Der Fall Konstantin Korovin (1891) 6.4 Von tonalen Farbsymphonien zu Farbkontrasten und Klarheit der Form

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Sophia Botkina (1899) Herzogin Zinaida Yusupova (1900–02) Henrietta Hirschman (1906, 1907 und 1911) Maria Akimova (1908), Nikolai Pozniakov (1908), Ivan Morozov (1910) Herzogin Olga Orlova (1911)

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Serovs Beschäftigung mit der Antike und seine Reise nach Griechenland (1907): Odysseus und Nausikaa (1909–10), Raub der Europa (1909–10) und Metamorphosen von Ovid (1910–11) Ida Rubinstein (1910) im Kontext japanischer Kunst

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6.5 Silhouette, Linie, Fläche: Die Suche nach einer neuen Form- und Farbsprache

7. Nachwort: Valentin Serov – ein altmeisterlich moderner Künstler Farbtafeln Anhang

Valentin Serovs Liste: Seine besten Werke Valentin Serovs Künstlervita

Bibliografie Namensregister Bildnachweis

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Geleitwort

Der Kroll Family Trust setzt sich aktiv für die Förderung kultureller Aktivitäten und Publikationen ein. Unser Ziel ist es, die Kunst des 20. Jahrhunderts, darunter unsere große Sammlung bildender Kunst, einem breiteren Publikum näher zu bringen. Der Tradition von acht Jahrzehnten Sammlertätigkeit folgend, bin ich Sammler und Entrepreneur der dritten Generation, der die Leidenschaft für die Moderne teilt, die von meinem Großvater, Aaron Kroll, über meinen Vater, Michael Kroll, an mich weitergegeben wurde. Sowohl mein Großvater als auch mein Vater begeisterten sich für unterschiedliche Kunstbewegungen und Stilrichtungen. Sie widmeten dem Studium der Kunst und ihrer anhaltenden Neugier viel Zeit. Vor allem von der europäischen und russischen Kunst des frühen 20. Jahrhunderts, der sie sich stark verbunden fühlten, waren sie zutiefst fasziniert. Die Farben, die gewagten Formen und die Aussagekraft dieser Werke überwältigten sie. Aufgewachsen mit einem solch leidenschaftlichen Vater und umgeben von Kunst ist eine innige Wertschätzung dieser mir naturgemäß eigen. Es ist mir deswegen eine große Ehre, eine einzigartige und wichtige Publikation zu präsentieren, die die erste monografische Studie über Valentin Serov in Deutschland und die zweite außerhalb des russischsprachigen Raumes darstellt. Diese ausführliche Untersuchung, die dank der wissenschaftlichen Kooperation zwischen der Westfälischen Universität Münster und der Moskauer Staatsuniversität verwirklicht werden konnte, förderte viele wichtige neue Erkenntnisse zutage. Sie bietet eine Reise durch Valentin Serovs künstlerisches Leben, die uns zu seinen häufigen Auslandsaufenthalten sowie zu diversen Kunstströmungen, Sammlungen und zu verschiedenen ästhetischen Theorien mitnimmt. Dass dieses Buch neue Erkenntnisse zutage fördert, indem es den wissenschaftlichen Fokus auf einen bis dahin wenig erforschten Schaffensaspekt dieses berühmten Künstlers legt, ist eine zusätzliche Bereicherung. Dies korrespondiert sehr gut mit unserem Ziel, nicht nur das Wissen und die Objekte mit einem internationalen Publikum zu teilen, sondern auch den Pioniergeist und die innovative Wissenschaft in zuvor nicht gründlich erforschten Bereichen zu unterstützen.

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Geleitwort

Aus diesem Grund sind wir der erfahrenen und anerkannten Wissenschaftlerin Tanja Malycheva, die zu den Gründungsmitgliedern der Russian Art and Culture Group (Jacobs University Bremen) gehört, sehr dankbar für die gemeinschaftliche Arbeit, für ihre Hingabe und Kompetenz und für diese zu neuen Erkenntnissen führende Forschung. Wir gratulieren hiermit dem gesamten Team des Deutschen Kunstverlages, insbesondere Dr. Anja Weisenseel, die dieses Unterfangen ermöglichte. Die Stiftung Kroll Family Trust spielt eine aktive Rolle in dem Ausbau kultureller Beziehungen zwischen israelischen und russischen Museen, insbesondere durch Ausstellungen und den Austausch der Sammlungen zwischen der Staatlichen Eremitage in St. Petersburg und dem Israel Museum in Jerusalem. Unsere Verpflichtung, Studierende in wissenschaftlichen Bereichen zu unterstützen, äußert sich in jüngster Zeit auch in unserem Beitrag für die Russian Art and Culture Group im Rahmen einer dreijährigen Kooperation mit der Jacobs Universität Bremen. Dazu gehören Zuschüsse für junge Forscher und die Förderung von Aktivitäten wie Workshops, Online-Präsenz und Publikationen. Mit Blick auf die Zukunft hoffen wir, dieses Modell der Kooperation, das uns über unseren bescheidenen Ursprung als Familienstiftung hinauswachsen ließ, fortzusetzen, um die internationale Kulturlandschaft weiterhin signifikant zu prägen. Daniel Kroll Geschäftsführer, Kroll Family Trust

Vorwort und Dank

Die vorliegende Arbeit begann als eine ikonografische Untersuchung ausgewählter Porträts des russischen Künstlers Valentin Alexandrovich Serov (1865–1911). Das Ziel dieser Studie war, sein in Westeuropa inzwischen vergessenes Schaffen wieder in Erinnerung zu rufen. Schließlich markieren Serovs Werke den Beginn moderner russischer Malerei und waren zu seinen Lebzeiten im In- und Ausland sehr bekannt: Er exponierte mit den Secessionen in München, Berlin und Wien, in der Weltausstellung und im Salon d’Automne in Paris sowie auf der Biennale in Venedig und in der Internationalen Ausstellung in Rom. In der Kunstszene Russlands war Serovs Wirkung ausgesprochen weitreichend, da seine vielseitigen Tätigkeiten über die üblichen Auftragsarbeiten weit hinausreichten. In St. Petersburg gehörte er zum inoffiziellen Redaktionsrat der progressiven, kosmopolitisch ausgerichteten Zeitschrift Mir iskusstva (Welt der Kunst, 1898–1904) und feierte später mit deren Gründer Sergei Diaghilev und seinen Ballets Russes Erfolge als Bühnenbildner. Nach dem Tod von Pavel Tretyakov im Jahr 1898 wurde er zum ständigen Ratsmitglied der Tretyakov Galerie und war an der Sammlungspolitik des Hauses maßgeblich beteiligt. Als Dozent der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur unterrichtete er Kuzma Petrov-Vodkin, Nikolai Sapunov, Martiros Saryan, Pavel Kuznetsov, Konstantin Yuon, Ilya Mashkov, Mikhail Larionov sowie Vladimir Tatlin und festigte damit seine Schlüsselrolle in der Entwicklung und Verbreitung modernistischer Tendenzen in Russland. Valentin Serov war, so die amerikanische Kunsthistorikerin Elizabeth Kridl Valkenier in ihrer bisher einzigen außerhalb des russischen Forschungsraumes erschienenen Monografie des Künstlers, der „primäre Link zwischen [...] der Epoche des Realismus, die weit in die 1890er Jahre vorherrschte, und der vage definierten Moderne, die den Realismus nach der Revolution von 1905 herausforderte“.1



1 „Serov should be seen as a prime link between them: the epoch of realism that reigned well into 1890s and a loosely defined modernism that challenged realism after the 1905 Revolution“, Elizabeth Kridl Valkenier, Valentin Serov: Portraits of Russia’s Silver Age, Evanston (IL): Northwestern University Press, 2001, S. 24.

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Vorwort und Dank

Schon ab den 1890er Jahren gingen Serovs zunehmende technische Versiertheit und Individualisierung des Stils mit einem stetig wachsenden internationalen Erfolg einher. Es waren in erster Linie seine Bildnisse, die ihm Ruhm und Auszeichnungen einbrachten. Nicht nur Schauspieler, Künstler und Schriftsteller aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis standen für ihn Modell. Zahlreiche Aufträge kamen von den seit 1613 herrschenden Romanovs und dem neuen Geldadel. Mit dem Ziel, den kosmopolitischen Charakter von Serovs Leben und Werk hervorzuheben und den Künstler erstmalig innerhalb des gesamteuropäischen Kontextes um 1900 zu positionieren, plante ich zunächst lediglich anhand konkreter Vergleiche auf die Verbindungen zu formalen und inhaltlichen Konzepten seiner russischen und westlichen Vorgänger und Zeitgenossen hinzuweisen. Sobald ich mich jedoch der genauen Analyse seiner Bilder widmete, wurde jedes dieser Bilder zu einer Art Universalschlüssel, der in viele andere Richtungen Türen öffnete und einen Ausblick auf die unterschiedlichen Wege gewährte, die zu dieser konkreten Werkidee geführt hatten. Inzwischen stellt diese Schrift vielmehr eine Reise durch Serovs Künstlerleben dar, welche den Leser durch diverse europäische Städte, Malereiströmungen, Kunstsammlungen, literarische Schriften, ästhetische Theorien sowie auf die Theaterbühnen und zu den gemütlichen Soireen im Familien- und Freundeskreis mitnimmt. Mein Ziel ist dabei, Serovs Bildfindungsprozess – ganz im Sinne eines Text-Kontext-Diskurses – durch das Einbeziehen seiner visuellen Erfahrungen und durch vergleichende ikonografische Analyse schrittweise nachzuvollziehen und die Werke von ihrer Entstehungszeit aus zu interpretieren. Oder anders formuliert: Es ist ein Versuch, durch die Augen des Künstlers zu sehen und in den Zeitgeist seiner Epoche einzutauchen, um künstlerische Wahrnehmungsprozesse und die daraus resultierenden Bildlösungen zu begreifen. Denn – um Hans Belting an dieser Stelle zu zitieren – „Jede Kunstbetrachtung lebt aber vom Vergleich.“.2 In den Fokus der Untersuchung rücken daher nicht nur Russlands, sondern auch Europas Museen, Galerien und Ausstellungen, die der Maler während seiner zahlreichen Reisen besuchte. Um Serov kunsthistorisch einzuordnen und seine wahre Größe erkennbar zu machen, werden Werke solcher europäischen und amerikanischen Maler der Zeit wie Émile Auguste Carolus-Duran, Édouard Manet, Pierre-August Renoir, James Abbott McNeill Whistler, John Singer Sargent, Max Liebermann, Jozef Israëls, Edvard Munch, Anders Zorn und Giovanni Segantini als Beispiele herangezogen. Auf den Einfluss Alter Meister – wie Tiziano Vecellio, Rembrandt van Rijn, Frans Hals, Diego Velázquez, Jan Vermeer oder Jean-August Dominique Ingres – der in der Forschung immer wieder punktuell Erwähnung fand – wird konkreter eingegangen. Ferner wird in den letzten beiden Kapiteln ein Einblick in Serovs Auseinandersetzung mit der Kunst Japans und des antiken Griechenlands gewährt. Die russischen Maler, die als Lehrer oder Künstlerfreunde, Vorbilder oder Nach

2 Hans Belting, Die Originalität der Nachahmung, in: ders., Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München: C. H. Beck, 1998, S. 40–45, hier S. 42.

Vorwort und Dank

folger aus Serovs Schaffen gar nicht wegzudenken sind, werden ebenfalls eingehend in die Diskussion mit einbezogen. Das Augenmerk liegt dabei vorwiegend auf Serovs Porträts, die eine zentrale Rolle in seinem Schaffen bilden und deren Entwicklungschronologie daher wie ein roter Faden in dieser Arbeit fungiert. Serovs Landschaften, Stillleben, Genre-, Historienund Bühnenbilder finden jedoch sowohl innerhalb als auch außerhalb der Porträtdiskussion stets Erwähnung. Somit ist allen voran die komparative Bildanalyse für diese Untersuchung von essenzieller Bedeutung, auch wenn die Titel einzelner Kapitel historiografisch klingen mögen und der Darstellung biografischer und historischer Zusammenhänge ein wichtiger Platz eingeräumt wird. Es ist allerdings keinesfalls ein mechanisches Nebeneinander diverser Vorläufer und möglicher Bildquellen, sondern vielmehr eine Wiedergabe des elaborierten Dialogs, den Serov – bewusst und unbewusst – mit dem universalen künstlerischen Erbe aus verschiedenen Epochen einging. Angesichts der wahren ‚Bilderflut‘, der der Künstler in den großen Ausstellungen oder in den musealen und privaten Sammlungen ausgesetzt war, kann nur ein Teil dessen, was er gesehen hat – bzw. gesehen haben könnte – zur Diskussion gebracht werden. Die schöpferischen Denkprozesse im Vorfeld der Werkentstehung werden also je nach Faktenlage konkret oder hypothetisch rekonstruiert. Trotz der Ausführlichkeit der Darstellung erhebe ich daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit und weise stattdessen auf die Informationslücken hin, die von der zukünftigen Forschung noch zu füllen sind. Mit dieser gesamteuropäischen Betrachtungsweise und besonderer Betonung der ikonografischen Text-Kontext-Beziehungen stellt die vorliegende Arbeit einen neuen Ansatz in der Serov-Forschung dar. Denn die zahlreichen Monografien, die von russischen und sowjetischen Forschern zu Serov publiziert wurden, konzentrierten sich überwiegend auf die Positionierung des Künstlers innerhalb der russischen Porträttradition sowie auf stilistische Bildanalysen und inhaltliche Interpretationen, welche im Einzelnen stark durch die jeweilige politische Situation bedingt wurden. Diese geografisch wie epochal weitverzweigte ikonografische Untersuchung, die mich auf Spuren von Serov in unzählige Sammlungen, Archive und Bibliotheken führte, wäre ohne Unterstützung seitens meiner Betreuer, Kollegen, Freunde und Familie gar nicht möglich gewesen. Ein ganz herzlicher Dank gilt in erster Linie Prof. Dr. Jürg Meyer zur Capellen von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der mir mit Ratschlägen und Ideen über die gesamte Zeit unermüdlich Rückhalt gab und mich gleichzeitig eigenständig entfalten und gewähren ließ. Mein großer Dank und meine tiefe Verneigung gilt Prof. Dr. Stepan Sergeievich Vaneyan von der Moskauer Lomonossov Universität, der meinen Blick für ästhetische Fragen und Kunsttheorie schärfte, sowie seiner gesamten Familie, die mich mit ihren wunderbaren Tischgesprächen inspirierte. Ganz besonders bedanke ich mich bei Prof. Dr. Mikhail Mikhailovich Allenov† von der Moskauer Lomonossov Universität für seine selbstlose Bereitschaft, auf jede meiner Fragen eine Antwort zu finden, und für unsere langen fruchtbaren Diskussionen, die mich beflügelten und mich in meiner Suche bestätigten. Herzlich bedanke ich mich ferner bei Prof. Dr. Wünsche von der Jacobs ­University Bremen,

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Vorwort und Dank

die an der Verwirklichung meiner Doktorarbeit maßgeblich beteiligt war. Mit ihrer ­Russian Art and Culture Group schuf sie außerdem eine in Deutschland einmalige inter­nationale Plattform für den wissenschaftlichen Austausch zwischen gestandenen und angehenden Forschern. Mein großer Dank gilt zudem Prof. Dr. Ursula Frohne, Prof. Dr. Dieter Salzmann und Marion Heuwold von der Westfälischen Universität Münster, ohne deren tatkräftige Unterstützung die Abschließung meines Dissertationsprojekts nicht möglich gewesen wäre. Bedanken möchte ich mich auch bei Marina Toropygina für den inspirierenden, kunstphilosophischen Gedankenaustausch, die freundschaftlichen Ratschläge und den Beistand bei den Recherchen. Unentbehrlich war die Unterstützung meiner Lektorin Bettina Rick und meines Lektors Prof. Dr. Peter Derleder†, die mein Sprachgefühl schärften und mir sehr viel Mut gaben: Dafür danke ich Ihnen ebenso wie für ihr Durchhaltevermögen. Ich danke herzlich Evelyne Augis für den Glauben an die Zukunft. Unendlich dankbar bin ich Yana Kyrylenko, die mir in den schwersten Zeiten Trost und Zuversicht schenkte. Am meisten bin ich meiner Mutter Lydia und meinem Bruder Alexei† zu Dank verpflichtet, die in ‚guten wie in schlechten‘ Zeiten zu mir standen, mich in allen meinen Unterfangen förderten und die Fertigstellung meiner Dissertation erst möglich machten, und meiner Tochter Zinaida, die mir eine Zukunft schenkte. Unerlässlich für die Realisierung dieses Dissertationsprojekts war das Jahresstipendium des DAAD, das mir ermöglichte, wesentliche Recherchen in Moskau durchzuführen. Ich bedanke mich auch beim Deutschen Kunstverlag, vor allem bei Dr. Anja Weisenseel, die mir schnell ihre Bereitschaft zeigte, mein Buch in das Programm aufzunehmen. Größte Dankbarkeit gilt dem Kroll Family Trust, dessen Unterstützung für das Publizieren dieser Dissertation unerlässlich war. Die Kroll Family Trust unterstützt innovative Kunstwissenschaft, besonders im Bereich der russischen Moderne. Innigst danke ich an dieser Stelle Daniel Kroll, der den wissenschaftlichen Wert der Arbeit gleich erkannte und mir seine Mitwirkung zusicherte. Ein besonders großer Dank geht an Prof. Dr. Johannes Myssok von der Kunstakademie Düsseldorf, der mir bereits während meines Studiums stets ein guter Lehrer war und mir mit seinem Gutachten den Erhalt dieses DAAD-Stipendiums sicherte. Des Weiteren war die engagierte Unterstützung der Kollegen von zahlreichen Museen und Bibliotheken wahrlich unverzichtbar. Ein herzliches Dankeschön geht an Dr. Jon Whiteley vom Ashmolean Museum in Oxford, Marika Reuterswärd vom Konstmuseum Malmö und Prof. Dr. Konrad Vanja vom Museum Europäischer Kulturen, Staatliche Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, sowie an Dr. Dieuwertje Dekkers von der Rijksuniversiteit Groningen, Elisabetta Staudacher aus dem Archiv und Bibliothek der Società per la Belle Artie d’Esposizione Permanente in Mailand und Lois White von der Research Library des Getty Research Institute. Zudem bedanke ich mich ausdrücklich bei den Mitarbeitern der Bibliothek und Quellen­ sammlung an der Staatlichen Tretyakov Galerie und der Russischen Staatsbibliothek in Moskau, der National Art Library in London, der Bibliothèque des Arts décoratifs in Paris,

Vorwort und Dank

der Biblioteca Nazionale Marciana in Venedig, der Erfgoedbibliotheek Hendrik Conscience in Antwerpen, der Biblioteca Nazionale Braidense in Mailand, der Nasjonalbiblioteket in Oslo, der Rijksmuseum Research Library in Amsterdam, der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz sowie bei den Kollegen an den Bibliotheken der Hamburger Kunsthalle und der Kunsthalle Bremen.

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1. Literaturübersicht: Ein Künstler zwischen den Fronten

Veröffentlichungen zu Serovs Werken sind in der russischen und sowjetischen Forschung sehr zahlreich. Außerhalb des russischen Sprachraumes wurde der Künstler dagegen mit eher wenig Aufmerksamkeit bedacht. Auf beiden Seiten fallen die Bewertungen dessen, welche Rolle er in der Moderne und in der realistischen Tradition spielte – je nachdem, ob die jeweilige Schrift vor oder nach 1917 verfasst wurde – recht unterschiedlich aus. Wie ein Barometer zeigt diese Wandlung die Veränderungen des gesellschaftlichen und politischen Wetters an und lässt zugleich erkennen, welche weißen Flecken in der Erforschung der russischen Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch bestehen.

1.1 Zeitgenössische Kunstkritik Zu Serovs Lebzeiten waren die Äußerungen über seine Werke überwiegend auf Beiträge in den Printmedien beschränkt. Besonders wertvoll sind die größtenteils positiven Einschätzungen modernistischer Kritiker wie die des Dichters Sergei Makovsky (1877–1962), des Schriftstellers Dmitry Filosofov (1872–1940) oder der Künstler und Kunstwissenschaftler Alexandre Benois (1870–1960), Nikolai Radlov (1889–1942) und Stepan Yaremich (1869–1938). Hervorzuheben sind Benois’ Handbücher Geschichte der russischen Malerei im 19. Jahrhundert (1902) und Russische Malereischule (1904), in denen Serov eine herausragende Stellung unter seinen Zeitgenossen zugewiesen bekam.3 Ähnlich klang das Urteil in der Geschichte der russischen Kunst (1910) von Igor Grabar (1871–1960), in der der Künstler zu den führenden Porträtisten Europas gezählt wurde.4 Signifikant sind die in ihrem Ton durchwachsenen bis negativen Rezensionen von Vladimir Stasov (1842–1906), dem einflussreichsten russischen Kulturkritiker der Zeit und einem aktiven Verfechter der tendenziösen nationalen Kunst, wie sie von den Peredvizhniki propa-



3 Alexandre N. Benois, Istoriia russkoi zhivopisi v XIX veke, St. Petersburg: Tipografia Sanktpeterburgskogo obshchestva pechatnogo dela v Rossii E. Evdokimov, 1902, S. 232–236, hier S. 233; Alexandre N. Benois, Russkaia shkola zhivopisi, St. Petersburg: Izdatelstvo tovarishchestva R. Golike i A. Vilborg, 1904, S. 80–81.



4 Igor E. Grabar, Istoriia russkogo iskusstva, Moskau: I. Knebel, 1910, S. 90–94, hier S. 93.

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1. Literaturübersicht: Ein Künstler zwischen den Fronten

giert wurde. Einen kritischen Ton trugen die späteren öffentlichen Aussagen von Ilya Repin (1844–1930), dem führenden Peredvizhniki-Vertreter und Mentor Serovs. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Zuordnung des Künstlers zu dem ‚dekadenten‘ modernistischen Lager durch den konservativen Literatur- und Kunstwissenschaftler Vladimir Friche (1870– 1929) im neunbändigen Sammelwerk Geschichte Russlands im 19. Jahrhundert (1907–11).5 Während die russischen Zeitungen bereits 1888 die ersten Serov-Kritiken druckten, erwähnte ihn die ausländische Presse – Kunst für Alle, Kunstchronik, Gazette des Beaux-Arts, Le Figaro, The Studio etc. – erst ab 1898 und meist im Zusammenhang mit den aktuellen Ausstellungen russischer Kunst.6 Die Diskussion wird zeigen, dass Serov darin größtenteils als überragend und als ein echtes Talent beschrieben wurde. Dabei wurde sein Schaffen oft in einen gesamteuropäischen Kontext gestellt: Rainer Maria Rilke (1875–1926), der 1899 und 1900 Russland bereist hatte, zählte ihn in seinem Artikel Moderne russische Kunstbestrebungen (1902) in der Wiener Zeitschrift Die Zeit (1894–1919) unter den jungen „Kosmopoliten“ der neuen Künstlergeneration auf.7 Des Weiteren wurde Serov von den im Ausland schreibenden, russischstämmigen Autoren als ein moderner Maler präsentiert. Zu nennen sind die in der Zeitschrift für bildende Kunst veröffentlichte Abhandlung Igor Grabars Zwei Jahrhunderte russischer Kunst (1906) sowie das Essay Moderne russische Malerei (1907) des Moskauer Kunstkritikers und Sammlers Paul Ettinger (1866–1948) in der Zeitschrift Kunst für Alle.8

1.2 Postume Veröffentlichungen in Russland und in der Sowjetunion Die ersten Monografien über den Künstler wurden erst postum publiziert. Den Anfang machte André Levinson (1887–1933) im Jahr 1912 mit einer achtseitigen Broschüre, die von zwanzig Abbildungen begleitet wurde.9 Ebenfalls 1912 widmete die modernistische Kunstund Kulturzeitschrift Apollon (St. Petersburg, 1909–17) Serov ganze fünfzig Seiten ihrer zehnten Ausgabe. Darin enthalten war der bemerkenswerte Aufsatz des Herausgebers Sergei Makovsky Serovs Meisterhaftigkeit, der die Intentionen des Künstlers und seine Positionierung innerhalb der europäischen Moderne behandelte.10 1913 veröffentlichte Nikolai



5 Vladimir M. Friche, Plasticheskiie iskusstva, in: Istoriia Rossii v XIX veke, Bd. 7, St. Petersburg: Izdatelstvo tovarishchestva bratyev A. i I. Granat, 1909, S. 203–250, hier: Kapitel 16, Modernizm, S. 242–245.



6 Die Autorin ist auf keine internationalen Artikel vor 1898 gestoßen, in denen Serov genannt wurde.



7 Rainer Maria Rilke, Moderne russische Kunstbestrebungen, in: Die Zeit, Bd. 33, Nr. 368, Wien, 15.11.1902, S. 81–82, zit. nach: Rainer Maria Rilke, Von Kunst-Dingen. Kritische Schriften. Dichterische Bekenntnisse, hg. von H. Nalewski, Leipzig/Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1990, S. 128–134, hier S. 133.



8 Igor E. Grabar, Zwei Jahrhunderte russischer Kunst, in: Zeitschrift für bildende Kunst, Bd. 18, Leipzig: Seemann, 1907 [Dezember 1906], S. 58–78; Paul Ettinger, Moderne russische Malerei, in: Die Kunst für Alle, Bd. 12, München: Bruckmann 1907, S. 273–296.



9 André Levinson, V. A. Serov, St. Petersburg: Khronos, 1912.

10 Sergei Makovsky, Masterstvo Serova, in: Apollon, Nr. 10, 1910, S. 5–12. Ferner enthielt die Ausgabe 28 Abbildungen, Grabars Aufsatz über Serovs Kindheit (S. 13–27) sowie eine Werkliste, zusammengestellt von Piotr I. Neradovsky (1875–1962), dem Kunstabteilungsleiter des Russischen Museums (S. 28–35).

1.2 Postume Veröffentlichungen in Russland und in der Sowjetunion

Radlov eine thematisch strukturierte, 90 Seiten umfassende Serov-Abhandlung.11 Im gleichen Jahr publizierte die Wochenschrift Solntse Rossii (Sonne Russlands, Moskau, 1910–16) ein Album mit 94 teilweise farbigen Tafeln.12 In der Zeitschrift Russkaia mysl (Russisches Denken, Moskau, 1880–1918) erschienen die Erinnerungen von Serovs Mutter, Valentina Serova, mit ausführlicher Schilderung seiner künstlerischen Ausbildung.13 Zur ersten unverzichtbaren Informationsquelle wurde jedoch die Monografie von Igor Grabar aus dem Jahr 1914. Mit ihren 300 Seiten, 250 schwarzweißen und 22 farbigen Abbildungen sowie dem ersten, wenngleich unvollständigen catalogue raisonné war dies bis dahin das umfangreichste Serov-Handbuch. Grabar, der Serov noch während seiner Ausbildung an der Petersburger Kunstakademie (1894–96) kennengelernt hatte, interviewte bereits 1906 den Künstler mehrmals und sichtete dessen privates Bildarchiv.14 Diese erste Ausgabe ist bis heute für die Forschung essentiell, da es Illustrationen vieler Werke bietet, die nicht erneut reproduziert wurden. Allerdings blieb der Autor trotz interessanter Interpretationsansätze aufgrund seiner emotional eingefärbten und teilweise pathetischen Darstellung von einer sachlichen Analyse oft entfernt. Besonders kritisch zu sehen ist seine überschwängliche Bewunderung für die frühen impressionistischen Meisterwerke bei zeitgleich reservierter Haltung gegenüber dem Spätwerk, womit eine Art Rückwärtsentwicklung des Künstlers impliziert wird.15 Die zweite, bekanntere Auflage der Monografie erschien 1965 und wurde unter Mitarbeit des Kunstwissenschaftlers Nikolai Vlasov (1893–1965) herausgegeben. Sie enthielt ein erweitertes und bis heute einziges Werkverzeichnis sowie eine detaillierte Bibliografie. Der größte Unterschied bestand jedoch in den teilweise gravierenden Textänderungen im Sinne der politischen Ideologie. So ‚verbesserte‘ der Autor die Interpretation jener Bildnisse, die Vertreter der Aristokratie und der Bourgeoisie zeigten. Bei der Beschreibung des Künstlers vermied er Begriffe wie „impressionistisch“, „dekadent“, „modernistisch“ oder „kosmopolitisch“ und bemühte sich, das Image eines kompromisslosen Kämpfers für die Wahrheit zu erschaffen. Den gleichen Interpretationsansatz verfolgte Grabar bereits in den anderen zwischenzeitlich publizierten Serov-Studien, wie Problem des Charakters im Schaffen von V. A. Serov (1954) und Serov als Zeichner (1961).16

11 Nikolai E. Radlov, Sovremennoie iskusstvo. Serii illustrirovannykh monografy. Serov, St. Petersburg: Izdaniie N. I. Butkovskoi, o. J. [1913]. 12 V. A. Serov. Albom Solntsa Rossii, Moskau: Kopeika, 1913. 13 Valentina S. Serova, Kak ros moi syn. Vospominaniia o V. A. Serove, in: Russkaia mysl, 1913, Nr. 10, S. 4–40; Nr. 11, S. 21–42; Nr. 12, S. 4–15. Siehe ausführlicher in: Valentina S. Serova, Serovy, Alexandr Nikolaievich i Valentin Alexandrovich. Vospominaniia V. S. Serovoi, St. Petersburg: Shipovnik, 1914; Vladimir A. Samkov/ Ilya S. Silberstein (Hg.), V. S. Serova. Kak ros moi syn, Leningrad: Khudozhnik RSFSR, 1967. 14 Igor E. Grabar, Valentin Alexandrovich Serov. Zhizn i tvorchestvo, Moskau: I. Knebel, 1914, S. 5. Igor E. Grabar, Valentin Alexandrovich Serov. Zhizn i tvorchestvo, Moskau: Iskusstvo, 1965. 15 Diese Ansicht vertrat Grabar bereits früher, siehe: Grabar 1907, S. 72. 16 Igor E. Grabar, Problema kharaktera v tvorchestve V. A. Serova, in: Ezhegodnik Instituta istorii iskusstv, Moskau/Leningrad: Izdatelstvo Akademii nauk SSSR, 1954, S. 140–158; Igor E. Grabar, Serov Risovalshchik, Moskau: Izdatelstvo Akademii nauk SSSR, 1961.

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1. Literaturübersicht: Ein Künstler zwischen den Fronten

Grabars zahlreiche Veröffentlichungen prägten entscheidend die Wahrnehmung von Serovs Œuvre. Dennoch dürfen andere Autoren nicht übersehen werden. Von besonderem Interesse sind vor allem die vor der zweiten Hälfte der 1920er Jahre verfassten Schriften, weil sie noch keine ideologische Patina bekamen, wie es danach zunehmend der Fall war. Vsevolod Dmitriiev (1889–1919), einer der führenden Kritiker der Zeitschrift Apollon, brachte 1917 eine 63 Seiten und 19 Tafeln enthaltende Abhandlung heraus, in der er Grabars These über die vermeintliche ‚Rückwärtsentwicklung‘ des Künstlers in Zweifel zog.17 1921 veröffentlichte der Kunstwissenschaftler und Grafiker Sergei Ernst (1894–1980) seine 85 Seiten starke Zusammenfassung zu Serovs Schaffen, die eine Auswahl an dessen Briefen beinhaltete.18 1922 publizierte Sergei Makovsky in dem zwischen Berlin und Paris operierenden Verlag Russkoie iskusstvo (Russische Kunst) ein kunstvoll gestaltetes Büchlein, das neben einem achtseitigen Essay zahlreiche, teils farbige Illustrationen enthielt.19 1924 kam eine weitere, vom Kunstwissenschaftler Erich Hollerbach (1895–1942) geschriebene Monografie heraus, der Erinnerungen des Malers Alexandr Golovin (1863–1930) beigefügt wurden.20 Ferner fand Serov Erwähnung in der Presse, in den Nachschlagewerken sowie in den Studien über seine Zeitgenossen. Übermäßig viele Artikel stammen aus dem Jahr 1911, was mit dem Tod des Künstlers zu erklären ist. Das gleiche gilt für das Jahr 1914, in dem seine große postume Einzelausstellung in Moskau und in St. Petersburg stattfand. Insbesondere ist darunter auf die Rezension von Nikolai Punin21 (1888–1953) in der Monatszeitschrift Severnie zapiski (Nordische Notizen, St. Petersburg 1913–17) hinzuweisen, in der Serovs Eigenständigkeit, Ausdrucksstärke und bewusste koloristische Zurückhaltung sachlich herausgestellt wurden.22 Erwähnenswert ist auch der ergreifende Artikel des Malers und Theosophen Nicholas Roerich (1874–1947), im dem ein tiefes Bedauern über die mangelnde Wertschätzung moderner Maler in Russland geäußert wurde.23 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Serov in den 1910er und 1920er Jahren in der progressiven russischen Kunstkritik und -wissenschaft größtenteils als modern, fortschrittlich und erstrangig bewertet oder sogar euphorisch zelebriert wurde. Eine Ausnahme bildete das Buch Korovin – Serov (1925) des Kunstwissenschaftlers und Bildhauers Boris 17 Vsevovlod Dmitriiev, Valentin Serov, Petrograd: Svobodnoie iskusstvo, 1917. 18 Sergei Ernst, Valentin Alexandrovich Serov, Peterburg: Komitet Populiarizatsii Khudozhestvennykh Izdany pri Rossiiskoi Akademii Istorii Materialnoi Kultury, 1921. 19 Sergei Makovsky, V. Serov, Berlin/Paris: Izdatelstvo A. E. Kogana „Russkoie iskusstvo“, 1922. 20 Erich Hollerbach, V. Serov. Zhizn i tvorchestvo, Petrograd: Izdaniie Vserossiiskogo komiteta pomoshchi invalidam voiny pri Ts. K., 1924. 21 Nikolai Nikolaievich Punin (1888–1953), ein in Helsinki geborener russischer Kunsthistoriker, Mitarbeiter der Zeitschrift Apollon, danach u. a. Kurator in der Eremitage und im Russischen Museum in St. Petersburg; führte eine Zivilehe mit Anna Akhmatova; 1949 wegen vermeintlich „anti-sowjetischer“ Aktivitäten in ein Gulag-Lager deportiert. 22 Nikolai N. Punin, Serov. Po povodu posmertnoi vystavki ego proizvedeny, in: Severnie zapiski, Januar 1914, S. 104–110. 23 Nikolai K. Rerikh [Nicholas Roerich], Serov, in: Nikolai K. Rerikh, Sobraniie sochineny, Bd. 1, Moskau: Izdatelsky dom Sytina, 1914, S. 238–241.

1.2 Postume Veröffentlichungen in Russland und in der Sowjetunion

Ternovets24 (1884–1941), der einen klaren Vorrang der Virtuosität und der leuchtenden, farbenfrohen Palette des Impressionisten Konstantin Korovin (1861–1939) gab und seinem Kollegen „koloristischen Asketismus“ und Vernachlässigung malerischer Aufgaben vorwarf.25 In den 1930er Jahren wurde der ideologische Ton in den Deutungen von Serovs Werken immer lauter. Ein Paradebeispiel ist das Buch Die Profile (1930) des Kunstwissenschaftlers und langjährigen Mitarbeiters der Tretyakov Galerie Abram Efros (1888–1954). Dieser zog groteske Tiervergleiche zu den Modellen des Künstlers, die von ihm vermeintlich unbemerkt karikiert wurden.26 Ideologisch eingefärbt waren die einleitenden Katalogtexte der großen Einzelausstellung von 1935, die in Moskau und Leningrad stattfand.27 Das Gleiche gilt für die Memoiren von Serovs Schüler, dem Porträtmaler Nikolai Ulyanov (1875–1949).28 Nicht unkritisch zu betrachten sind auch die Aufzeichnungen von Serovs Cousine Nina Simonovich-Efimova (1877–1948), einer erfolgreichen Malerin und Mitbegründerin des ersten russischen Puppentheaters.29 Sei es in kurzen Pressebeiträgen oder in Handbüchern bekam Serov nun den Stempel des führenden Vertreters der russischen realistischen Kunst, der in seinen Porträts stets Laster seiner ahnungslosen Modelle entlarvte.30 Die diversen Überblickswerke zum russischen Porträt, in die sein Schaffen mit einbezogen wurde, betonten stets seine inhaltliche, ja moralische Überlegenheit gegenüber den westlichen Zeitgenossen.31 Welche nachhaltige Wirkung das auf die Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit hatte, beweist das 2001 erschienene Kinderbuch Märchen über einen ehrlichen Künstler und seine Bilder.32 Eine interessante Ausnahme bildete der 1935 publizierte Beitrag Serovs Erbe des Kunstund Ästhetikforschers Anatoly Bakushinsky (1883–1939), der durch seine detaillierte maltechnische Analyse besticht.33 Eine weitere Ausnahmeerscheinung war die 1936 erschienene 24 Boris Nikolaievich Ternovets (1884–1941), bis 1937 Leiter des Neuen Museums der westlichen Kunst (1923– 1948), in das u. a. Sammlungen von Sergei Shchukin und Ivan Morozov zunächst integriert wurden. 25 „колористический аскетизм“, Boris Ternovets, Korovin – Serov, Moskau: Gosizdat, 1925, hier S. 63, siehe auch S. 61–75. 26 Abram M. Efros, V. A. Serov, in: ders., Profili, Moskau: Federatsiia, 1930, S. 8–30, hier S. 25–27. 27 Lev A. Dintses, Valentin Alexandrovich Serov, in: Katalog vystavki proizvedeny V. A. Serova. 1865–1911, Leningrad: Gosudarstvenny Russky Muzei, 1935, S. 1–11; Igor E. Grabar, Valentin Alexandrovich Serov, in: Vystavka proizvedeny V. A. Serova. 1865–1911, Moskau: Gosudarstvennaia Tretyakovskaia Galereia, 1935, S. 3–7. 28 Nikolai P. Ulyanov, Vospominaniia ob uchitele, in: Sovetskoie iskusstvo, 6.4.1938; ders., Vospominaniia o Serove, Moskau/Leningrad: Iskusstvo, 1945. 29 Nina Ya. Simonovich-Efimova, Vospominaniia o Valentine Alexandroviche Serove, Leningrad: Khudozhnik RSFSR, 1964. 30 Siehe u. a.: G. E. Lebedev, Valentin Serov (1865–1911). Zhizn i tvorchestvo, Leningrad/Moskau: Iskusstvo, 1946; Grigory S. Arbuzov, Serov, Leningrad/Moskau: Iskusstvo, 1960. 31 Siehe u. a.: Mikhail V. Alpatov, Russky portret vtoroi poloviny XIX veka, in: Iskusstvo, Nr. 3, 1947, S. 9–24; Elizaveta V. Zhuravliova, Valentin Alexandrovich Serov, in: Ocherki po istorii russkogo portreta kontsa XIX–nachala XX veka, hg. v. Nikolai G. Mashkovtsev/Natalia I. Sokolova, Bd. 3, Moskau: Iskusstvo, 1964, S. 11–104. 32 Galina E. Vetrova, Skazka o pravdivom khudozhnike. Valentin Serov, Moskau: Bely Gorod, 2001. 33 Anatoly V. Bakushinsky, Naslediie V. A. Serova, in: Iskusstvo, 1935, Nr. 4, S. 97–129.

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1. Literaturübersicht: Ein Künstler zwischen den Fronten

Monografie von Stepan Yaremich, in der Serovs Wachsamkeit gegenüber der alten und zeitgenössischen europäischen Kunst mehrfach zur Sprache kam.34 Wertvolle Informationen enthielten Briefe des Künstlers sowie Memoiren einiger Zeitgenossen, wie etwa die in Berlin herausgebrachten Reisenotizen von Léon Bakst (1866–1924) Serov und ich in Griechenland (1923) oder Ilya Repins Erinnerungen Weitentfernte Nähe (1944).35 Ein differenziertes, authentisches Bild der Epoche vermittelten zudem die Quellenbände von Ilya Silberstein (1905–88) und Vladimir Samkov (1924–83): Valentin Serov in den Memoiren, Tagebüchern und Briefen der Zeitgenossen (1971) und Valentin Serov in Briefen, Dokumenten und Interviews (1985).36 Nicht nur waren sie mit ausführlichen Anmerkungen versehen, sie enthielten die auf Nachfrage Silbersteins geschriebenen Memoiren vieler emigrierter Bekannter des Künstlers. Von größter Relevanz waren die Untersuchungen von Dmitry Sarabyanov (1923–2013), dem langjährigen Leiter des Lehrstuhls für russische Kunst an der Moskauer Lomonossov Universität. Sarabyanov zählte zu den ersten, die eine Neuorientierung der russischen Kunstwissenschaft wagten. Zeugnisse dieses Prozesses sind solche Werke wie Stellung der russischen Malerei des 19. Jahrhunderts unter den Schulen Europas (1980), Russische Malerei. Erwachen der Erinnerung (1998) und Russland und der Westen. Kunsthistorische Beziehungen des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts (2003).37 In seinen Serov-Studien versuchte Sarabyanov schon in den sechziger Jahren, sich nach Möglichkeit ideologischen Deutungen zu entziehen. Bestechend ist seine eingehende und fundierte Bildanalyse. Sarabyanovs Serov-Monografie (1974), die ab 1982 mehrfach auf Englisch, Deutsch und Französisch erschien, blieb für die ausländischen Forscher über Jahrzehnte der wichtigste, wenn nicht der einzige Referenzpunkt.38

34 Stepan I. Yaremich, Serov. Risunki, Leningrad: Izdatelstvo Vserossiiskoi Akademii khudozhestv, 1936. 35 Leonid Bakst [Léon Bakst], Serov i ia v Gretsii. Dorozhnyia zapisi, Berlin: Slovo, 1923; V. A. Serov. Perepiska, hg. von Natalia I. Sokolova, Moskau: Iskusstvo, 1935; Ilya E. Repin, Dalekoie blizkoie, hg. von Korney Chukovsky, Moskau/Leiningrad: Iskusstvo, 1944. Siehe auch: Olga V. Serova, Vospominaniia o moiom ottse Valentine Alexandroviche Serove, Moskau/Leningrad 1947; Vsevolod S. Mamontov, Vospominaniia o russkikh khudozhnikakh. Abramtsevsky khudozhestvenny kruzhok, Moskau: Izdatelstvo Akademii khudozhestv SSSR, 1951. 36 Vladimir A. Samkov/Ilya S. Silberstein (Hg.), Valentin Serov v vospominaniiakh, dnevnikakh i perepiske sovremennikov, 2 Bde., Leningrad: Khudozhnik RSFSR, 1971; dies., Valentin Serov v perepiske, dokumentakh i intervyu, 2 Bde., Leningrad: Khudozhnik RSFSR, 1985. Siehe auch: dies., Sergei Diaghilev i russkoie iskusstvo. Statyi, otkrytye pisma, intervyu. Perepiska. Sovremenniki o Diaghileve, 2 Bde., Moskau: Izobrazitelnoie iskusstvo, 1982; dies., Konstantin Korovin vspominaiet, Moskau: Izobrazitelnoie iskusstvo, 1990. 37 Dmitry V. Sarabyanov, Russkaia zhivopis sredi evropeyskikh shkol: Opyt sravnitelnogo issledovaniia, Moskau: Sovetsky khudozhnik, 1980; ders., Russkaia zhivopis. Probuzhdeniie pamiati, Moskau: Iskusstvoznaniie, 1998; ders., Rossiia i Zapad. Istoriko-khudozhestvennyie sviazi XVIII – nachala XX veka, Moskau: Iskusstvo–XXI vek, 2003. 38 1961 kommt die erste Serov-Monografie von Sarabyanov heraus, 1974 die zweite. 1987 und 1996 folgten die erweiterten und reich bebilderten Fassungen. Die englisch-, französisch- und deutschsprachigen Ausgaben erschienen 1982, 1987, 1996, 2012. Eine vollständige Liste von Sarabyanovs Veröffentlichungen, die für diese Untersuchung relevant waren, findet sich in der Bibliografie.

1.3 Postume Veröffentlichungen in Europa und in den Vereinigten Staaten

Ebenfalls zu nennen sind die Schriften von Vladimir Leniashin, der als Leiter der Abteilung für russische Malerei der zweiten Hälfte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Staatlichen Russischen Museum die Wahrnehmung von Serovs Bildern mitgeprägt hat.39 Der Wert dieser Untersuchungen, die 1970 ansetzten, liegt in der stichfesten formalen Analyse, die eine stilistische Entwicklungslinie aufzeichnet. Kritisch zu betrachten sind dagegen die kurzsichtigen, im sozialistischen Sinne formulierten Werkinterpretationen. Das trifft auch auf Leniashins Aufsatz Serov – mehr als ein Porträt im Katalog der Ausstellung zu, die 2005 im Russischen Museum stattfand.40 Das im selben Katalog zu findende Essay von Vladimir Kruglov, das durch Verweise auf neue Erkenntnisse aus den Archivuntersuchungen gestützt wird, zeigt indes deutliche Kritik an der verklärenden Tendenz zur ideologischen Instrumentalisierung der Kunst in der sowjetischen Zeit.41 Auch die hervorragenden Schriften von Mikhail Allenov lassen klar erkennen, dass sich die Bewertungen in der neueren russischen Kunstwissenschaft in vielerlei Hinsicht positiv verändert haben.42 Der Katalog der großen Serov-Ausstellung, die 2015–16 in der Staatlichen Tretyakov Galerie veranstaltet wurde, liefert ebenfalls spannende Ansätze in Bezug auf Serovs Verbindung zum gesamteuropäischen kulturellen Erbe.43

1.3 Postume Veröffentlichungen in Europa und in den Vereinigten Staaten In der westlichen Forschung ist als erstes das Buch Valentin Serov: Portraits of Russia’s Silver Age (2001) von Elizabeth Kridl Valkenier zu erwähnen, das durch seine eingehende Untersuchung des gesellschaftlichen und kulturellen Umfeldes und scharfsichtige Interpretationsansätze überzeugt.44 Abgesehen von den genannten Sarabyanov-Übersetzungen war das

39 Vladimir A. Leniashin, Kompozitsiia portretov Valentina Serova, in: Tvorchestvo, Nr. 11, S. 14–17; ders., Portrety V. A. Serova v khudozhestvennoi kritike. Osnovnyie problemy, in: Problemy razvitiia russkogo iskusstva. Tematichesky sbornik nauchnykh traktatov Akademii khudozhestv SSSR. Institut zhivoposi, skulptury i arkhitektury im. I. E. Repina, Nr. 4, Leningrad: Akademiia khudozestv SSSR, 1972, S. 46–57; ders., V. A. Serov. Portret Orlovoy. K probleme kharakteristiki v portretakh 1900-kh godov, in: Problemy razvitiia russkogo iskusstva. Tematichesky sbornik nauchnykh traktatov Akademii khudozhestv SSSR. Institut zhivoposi, skulptury i arkhitektury im. I. E. Repina, Nr. 7, Leningrad: Akademiia khudozestv SSSR, 1975, S. 85–93; ders., Portretnaia zhivopis V. A. Serova 1900-kh godov: osnovnyie problemy, Leningrad: Khudozhnik RSFSR, 1980; ders., Valentin Alexandrovich Serov, Leningrad: Khudozhnik RSFSR, 1989. 40 Vladimir A. Leniashin, Serov – bolshe chem portret, in: Evgeniia N. Petrova (Hg.), Valentin Alexandrovich Serov. 1865–1911. Zhivopis. Grafika. Iz sobraniia Gosudarstvennogo Russkogo Muzeia, AK St. Petersburg, Staatliches Russisches Museum 3.11.2005–13.2.2006, St. Petersburg: Palace Editions, 2005, S. 5–19. 41 Vladimir F. Kruglov, Tvorchestvo Serova v kollektsii Russkogo muzeia, in: Petrova 2005, S. 21–45. 42 Siehe u. a.: Mikhail M. Allenov, Die russische Kunst des 19. Jahrhunderts, in: Russische Kunst, hg. von Mikhail M. Allenov, N. A. Dmitriieva und O. A. Medvedkova, Freiburg i. Br.: Herder, 1992; ders., Russia. Painting, graphic art and sculpture, c. 1700–1916, in: The Dictionary of Art, hg. von Jane Turner, Bd. 27, New York: Grove, S. 388–394; ders., Russkoie iskusstvo XVIII–nachala XX veka, Moskau: Trilistnik, 2000. 43 Valentin Serov. K 150-letiiu so dnia rozhdeniia, AK Moskau, Staatliche Tretyakov Galerie 16.9.2015–31.1.2016, Moskau: Gos. Tretyakovskaia Galereia, 2015. 44 Kridl Valkenier 2001.

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1. Literaturübersicht: Ein Künstler zwischen den Fronten

bis jetzt die einzige ernsthafte Monografie des Künstlers außerhalb des russischsprachigen Raumes. Das 1913 in Paris erschienene Buch Valentin Séroff. Étude sur sa vie et son œuvre von Marie Kovalensky (?) hatte eine Auflage von 375 Exemplaren und enthielt nur 18 Textseiten sowie 8 Illustrationen. Die 1960 in Bratislava herausgebrachte, 122 Seiten umfassende Publikation von Vladimír Fiala (1922–97) hinterließ einen ideologischen Beigeschmack und bekam erfreulicherweise keine Verbreitung außerhalb ihres Ursprungslandes.45 Die meisten anderen der europäischen und amerikanischen Leserschaft zur Verfügung stehenden Informationen über Serov – darunter auch übersetzte Texte russischer Autoren – beschränkten sich überwiegend auf kurze Darstellungen seines Werdegangs in Form von Lexikaeinträgen und Katalogtexten sowie auf punktuelle Erwähnungen in den Überblickswerken zur russischen Kunst. Dabei fallen die wenigen Beiträge aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg in der Regel ausführlicher und positiver aus, während die danach erschienenen zwar zahlreicher, jedoch größtenteils allgemeiner und kürzer sind. In Deutschland war im Jahr 1914 in Kunst für Alle (München, 1885–1944) ein monografisches Essay von Paul Ettinger zu lesen.46 Darin merkte Ettinger an, dass Serovs Werke sich durch „intensive[s] Eindringen in das Wesentliche jedes künstlerischen Moments“ auszeichneten und als „Offenbarung“ in Russland wirkten. Er vertrat die Meinung, dass die Vielseitigkeit seines Œuvres auch den „kaleidoskopartig wechselnden Eindrücken seiner so ungewöhnlich verbrachten Kinder- und Jugendjahre“ – mit anderen Worten einem kosmopolitischen Lebensstil – „zu verdanken“ wäre. 1915 preiste der russische Autor Alexander Eliasberg (1878–1924) den Künstler in seinem Buch Russische Kunst. Ein Beitrag zur Charakteristik des Russentums.47 Nach Eliasberg, der seit 1905 in München lebte und mit seinen Übersetzungen die Wahrnehmung russischer und jiddischer Literatur in Deutschland mitprägte, stand dieser „an der Spitze der russischen Secession“ und war von Beginn an „unverblümt tendenzlos“ sowie auf eine „Betonung des Reinmalerischen“ bedacht. Der französische Kunsthistoriker Louis Réau (1881–1961) ging auf Serov in seinem Buch L’art russe de Pierre le Grande à nos jours (1922) im Kapitel zur modernistischen Gruppierung Mir iskusstva ein.48 Réau, der in Frankreich die Vorstellung von russischer Kunst lange Zeit formte, bezeichnete ihn darin als den besten russischen Porträtisten seit Dmitry Levitsky (1735–1822). Er verwies zugleich auf die wichtige Rolle, die die europäische Malerei – vor allem die französische und die schwedische – in seiner Entwicklung gespielt habe. Der 45 Vladimir Fiala, Serov, Bratislava: Slovenskoye vydavatelstvo krasnej literatury, 1960. Einen verklärenden Ton schlug Fiala – ein Großneffe russischer Avantgardekünstler David und Vladimir Burliuk – bereits 1953 an, siehe: Vladimir Fiala, Die russische realistische Malerei des 19. Jahrhunderts, Prag: Artia, 1953, S. 233– 236. 46 Paul Ettinger, Valentin Alexandrowitsch Ssjerow, in: Die Kunst für Alle, Bd. 29, München: Bruckmann 1914, S. 385–398. 47 Alexander Eliasberg, Russische Kunst. Ein Beitrag zur Charakteristik des Russentums, München: R. Piper & Co., 1915, S. 92–97. 48 Louis Réau, L’art russe de Pierre le Grande à nos jours, Paris: Henri Laurens éd., 1922, S. 209–236, hier S. 222–224.

1.3 Postume Veröffentlichungen in Europa und in den Vereinigten Staaten

gebürtige Petersburger Oskar Wulff49 (1864–1946) besprach den Künstler in seinem Doppelband Die neurussische Kunst... (1930) im Kapitel Wechselspiel zwischen Impressionismus und Kolorismus.50 Im gleichen Jahr erschien in Schweden das Überblickswerk Samtida konst i Ryssland (Zeitgenössische Kunst in Russland) der sowjetischen Wissenschaftler David Arkin (1899–1957) und Ignaty Khvoynik (1887–1946), das in skandinavischen Ländern Verbreitung fand. Zu Serov enthielt es nur einen Abschnitt sowie sechs Abbildungen, dennoch wurde darin betont, dass er sich stark von den traditionellen russischen Porträtisten unterschied.51 Für das englischsprachige Publikum bildete die 1916 publizierte Übersetzung von ­Alexandre Benois’ Russischer Malereischule (1904) einen wichtigen Referenzpunkt.52 Besonders an dieser Fassung war, dass sie auf dem Frontispiz Serovs Bildnis des Zaren Nikolai II. (1900, Abb. 38) zeigte und damit überragende Stellung dessen Erschaffers unter den russischen Malern implizierte. Benois’ Reminiscences of the Russian Ballet, die 1941 in London herauskamen, spiegelten zudem die enorme Wertschätzung wider, die Serov bei seinen jungen Mir-iskusstva-Kollegen genoss.53 Der Autor betonte, dass er in Diaghilevs Zirkel eine Schlüsselperson war und als einziger für die „Seele von jedem einzelnen [...] und für die Gemeinschaftsseele“ dieser Vereinigung sorgen konnte.54 Ein weiteres, von 1950 an im Englischen zugängliches Buch war Russian Impact on Art von Mikhail Alpatov (1902–86), einem der führenden sowjetischen Kunsthistoriker und -theoretiker. Darin unternahm Alpatov einen pauschalisierten Versuch, Serov in einen gesamteuropäischen Kontext zu stellen.55 So negierte er zum Beispiel – trotz eines ausführlichen Vergleichs mit Pierre-August Renoir (1841–1919) – eine enge Verbindung zu den französischen Impressionisten und verwies auf formale und inhaltliche Überschneidungen mit Max Liebermann (1847–1935) und Anders Zorn (1860–1920). Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts taucht Serovs Name vereinzelt in den Überblickswerken auf. Äußerst wenig ist den Büchern von Camilla Gray (?–1971) und Tamara Talbot Rice (1904–93) zu entnehmen.56 In Le renouveau de l’art pictoral russe 1863–1914 (1971) 49 Oskar Wulff (1864–1946), 1899–1927 wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Berliner Museen, ab 1917 Nachfolger Max Freys an der Berliner Universität. Näheres zu Wulff siehe unter: Peter F. Feist, Oskar Wulff, in: Betthausen, Peter/Peter F. Feist/Christiane Fork u. a. (Hg.), Metzler Kunsthistoriker Lexikon. 210 Porträts deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrzehnten, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, 2007 (1999), S. 528–532. 50 Oskar Wulff, Die neurussische Kunst im Rahmen der Kulturentwicklung Russlands von Peter dem Großen bis zur Revolution, Augsburg: Benno Filser Verlag, 1932, Bd. 1, S. 301–303 und Bd. 2, S. 178–181, Abb. 377– 381, 383, 385. 51 David Arkin/Jgnaty Chvojnik, Samtida konst i Ryssland. En Sammling bilder med in ledande text, Malmö: Utgivare John Kroon, 1930, S. 10, 64–67. 52 Alexandre Benois, The Russian School of Painting, New York: A. A. Knopf, 1916. Zu Serov siehe v. a. S. 165– 167, vier Abbildungen zwischen den S. 166–173. 53 Alexandre Benois, Reminiscences of the Russian Ballet, London: Putnam, 1977 (1941), siehe v. a. S. 192–195. 54 „We needed him, not as a famous artist, an undisputed authority [...] but for the care of our souls, for the souls of each of us separately, and for the „collective soul“ of our circle“, Benois 1977, S. 193. 55 Mikhail Alpatov, Russian Impact on Art, New York: Greenwood Press, 1969 (1950), S. 280–287. 56 Tamara Talbot Rice, A Concise History of Russian Art, London: Thames & Hudson, 1963.

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1. Literaturübersicht: Ein Künstler zwischen den Fronten

von Valentine Marcadé (1910–94) wird er im Kapitel zu Mir iskusstva mehrfach genannt, seine Stellung innerhalb der Moderne wird jedoch kaum ersichtlich.57 Das Gleiche gilt für Publikationen von John E. Bowlt, die zu den wichtigsten Handbüchern zur russischen Kunst gehören.58 Sogar in solch einem hervorragenden Sammelwerk wie Russian Art and the West (2007), das von Rosalind P. Blakesley und Susan E. Reid herausgebracht wurde, wird der Künstler nur flüchtig gestreift. Insgesamt sind längere Textabschnitte zu Serov in den westlichen Veröffentlichungen nur selten zu finden, sodass die Lexikaartikel von John Milner (1993) und Mariam Burgleigh-Morley (1996) zu den ausführlichsten und objektivsten unter ihnen gehören.59 Alan Bird, der Serov knapp zwei Seiten in seiner A History of Russian Painting (1987) widmete, spielte dessen innovative Rolle stark herunter.60 Er betonte den vermeintlichen Einfluss von Jules Bastien Lepage, Edgar Degas und Henri Toulouse-Lautrec sowie von den Impressionisten und den Nabis, vermied aber, konkrete Beispiele zu nennen oder die Eigenständigkeit von Serovs Lösungen herauszustellen. Sachlich und eingehend war indes der Vergleich zwischen Serov und Liebermann im Essay von Marina Dmitrieva-Einhorn Max Liebermann in Russia (2011), in dem keiner der Künstler als vermeintlich ‚besserer‘ etikettiert wurde.61 Einen Anstoß zu Neubewertungen von Serovs Frühwerk lieferte ferner das Buch von Mikhail German Russian Impressionists and Postimpressionists (1989).62 Die Präsenz von Serovs Arbeiten in den westlichen Ausstellungen fiel ebenfalls bescheiden aus. So stammten im Jahr 1972 in der Schau der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden noch zehn von insgesamt 150 Werken von Serov.63 Jeweils ein Werk war 1990 im Smithsonian Institute, 2002 im Kunstforum Wien und 2008 im Institut Mathildenhöhe Darmstadt zu sehen, je zwei waren 1976 im Städel Museum in Frankfurt am Main sowie 2005–06 im Guggenheim in New York und in Bilbao, drei 2001–02 im Kulturgeschichtlichen Museum Osnabrück und in der Nationalgalerie in Reykjavík ausgestellt; jeweils vier zeigte man

57 Valentine Marcadé, Le renouveau de l’art pictural russe 1863–1914, Lausanne: Edition L’Age d’Homme, 1971. 58 John E. Bowlt, The Silver Age: Russian Art of the Early Twentieth Century and „The World of Art“ Group, Newtonville, Mass.: Orienal Research Partners, 1982 (1979); ders., Moscow and St. Petersburg: Art, Life and Culture of the Russian Silver Age, New York: Vendome Press, 2008. 59 John Milner, Serov, Valentin Alexandrovich 1865–1911, in: ders., A Dictionary of Russian and Soviet Artists, 1420–1970, Woodbridge, Suffolk: Antique Collector’s Club Ltd, 1993, S. 378–380; Marian Buleigh-Motley, Serov, Valentin (Alexandrovich), in: The Dictionary of Art, hg. v. Jane Turner, Bd. 28, New York: Grove, S. 474f. 60 Alan Bird, A History of Russian Painting, Oxford: Phaidon, 1987, S. 169–171; ders., Die russische Malerei am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Marianne Karabelnik-Matta/Guido Magnaguagno (Hg.), Russische Malerei im 19. Jahrhundert. Realismus. Impressionismus. Symbolismus, AK Kunsthaus Zürich 3.6.–30.7.1989, Zürich: Kunsthaus Zürich, 1989, S. 79–104, hier S. 88–92. 61 Marina Dmitrieva-Einhorn, Max Liebermann in Russia, in: Max Liebermann and International Modernism. An Artist’s Career from Empire to Third Reich, New York/Oxford: Berghahn Books, 2011, S. 187–201, hier S. 193–197. 62 Mikhail German, Russian Impressionists and Postimpressionists, Bournemouth: Parkstone, 1998. 63 Russischer Realismus 1850–1900, AK Staatliche Kunsthalle Baden-Baden 24.11.1972–14.2.1973, Stuttgart/Bad Cannstatt: Dr. Cantz’sche Druckerei, 1972, S. 306–325, Kat. 140 –150.

1.3 Postume Veröffentlichungen in Europa und in den Vereinigten Staaten

2005 im Von der Heydt-Museum Wuppertal, 2007 in der Kunst- und Ausstellungshalle in Bonn sowie 2011–12 in den Kunstsammlungen Chemnitz und im Nationalmuseum Stockholm; fünf Arbeiten wurden 1989 im Kunsthaus Zürich präsentiert.64 In der Ausstellung des Musée d’Orsay L’Art russe dans la seconde moitié du XIXe siècle: en quête d’identité (2005–06), die mit ihren 518 Nummern alle kunstgeschichtlichen Bereiche umfasste, wurde Serov ebenfalls lediglich durch zwei gemalte Bildnisse vertreten.65 Auch im Ausstellungskatalog Baltiska speglingar (2014) des Malmö Konstmuseums wurden lediglich zwei seiner Porträts abgebildet, die sich in der Sammlung des Hauses befinden.66 In den dazu gehörigen Katalogen beschränkten sich die Informationen über den Künstler meist auf eine kurze Vita und attributive Bezeichnungen. So sprach Tatjana Karpova Serov als einen „prinzipiellen Erneuerer“ an.67 David Jackson nannte ihn einen Ästheten und Außenseiter unter seinen dem narrativen Realismus verpflichteten Kollegen.68 Die ebenso knappen Bildbeschreibungen, sofern sie überhaupt vorhanden waren, hatten insgesamt einen starken biografischen bzw. narrativen Charakter, ohne den stilistischen Neuerungen 64 Russische Malerei 1890–1917. Bilder aus den Museen der UdSSR, AK Frankfurt a. M., Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie 1.10.1976–9.1.1977, Stuttgart/Bad Cannstatt: Dr. Cantz’sche Druckerei, 1976, S. 62f., Kat. 12 und 13; Karabelnik-Matta/Magnaguagno 1989, S. 278– 287, Kat. 88–92; Moscow Treasures and Traditions, AK Washington, Smithsonian Institution 16.11.1990–3.2.1991, Washington, D. C.: Smithsonian Institution Travelling Exhibition Services, 1990, S. 275, Kat. 189; Der befreite Blick. Russische Kunst vom Realismus zur Abstraktion aus der Tretjyakow Galerie Moskau (1880–1930), AK Osnabrück, Kulturgeschichtliches Museum/Felix-Nussbaum-Haus 2.12.2001–1.4.2002 und Reykjavík, Listasafn íslands 27.4.2002– 16.6.2002, Osnabrück: Verlag des Museums- und Kunstvereins Osnabrück, 2002, S.54–58, Kat. 16, 18 und 19; Evelyne Benesch [u. a.] (Hg.), Impressionismus: Amerika – Frankreich – Russland, AK Kunstforum Wien 25.10.2002–23.2.2003, St. Petersburg: Palace Editions, S. 182f., Kat. 60; Russia! Nine Hundred Years of Masterpieces and Master Collection, AK New York, Solomon R. Guggenheim Museum 16.9.2005–11.1.2006 und Bilbao 29.3.–3.9.2006, New York: Solomon R. Guggenheim, 2005, Kat. 123 und 167, Abb. 208 und 277; Nicole Hartje (Hg.), Ilja Repin und seine Malfreunde – Russland vor der Revolution, AK Wuppertal, Von der Heydt-Museum 9.10.2005–29.1.2006, Bielefeld: Kerber, 2005, S. 174–179, Kat. 79–82; Lidija Iowleva/Agnieszka Lulinska (Hg.), Russlands Seele. Ikonen, Gemälde, Zeichnungen aus der Staatlichen Tretjakow-Galerie Moskau, AK Bonn, Kunst- und Ausstellungshalle der BRD 16.5.–26.8.2007, München: Hirmer, 2007, S. 332f., Kat. 91, S. 353f., Kat. 131–133; Ralf Beil (Hg.), Russland 1900. Kunst und Kultur im Reich des letzten Zaren, AK Darmstadt, Institut Mathildenhöhe 12.10.2008–1.2.2009, Köln: DuMont, 2008, S. 42f.; Ingrid Mössinger/Beate Ritter (Hg.), Die Peredvizhniki. Maler des russischen Realismus, AK Nationalmuseum Stockholm 29.9.2011–22.1.2012 und Kunstsammlungen Chemnitz 26.2.–28.5.2012, Värnamo: Elanders Flth & Hässler, 2012 (2011), S. 232–239, Kat. 80–83. 65 Édouard Papet/Marie-Pierre Salé (Hg.), L’Art russe dans la seconde moitié du XIXe siècle: en quête d’identité, AK Paris, Musée d’Orsay 19.09.2005–8.1.2006, Paris: Édition de la Réunion des musées nationaux, 2005, S. 428–430, Kat. 426 und 427. 66 Anders Rosdahl/Martin Sundberg/Cecilia Widenheim (Hg.), Baltiska speglingar. Malmö Konstmuseums samling. Tiden kring Baltiska utställningen 1914, AK Malmö, Konstmuseum 11.10.2014–19.4.2015, Lund: Bokföl. Arena: 2014, S. 109 und 150. 67 „Serov s’affirma, dès ses début, comme un novateur de principe“, Tatiana Karpova, zit. nach : dies., Individu et société: l’évolution du portrait russe (1870–1917), in: Papet/Salé 2005, S. 81–88, hier S. 88; Tatjana Karpowa, Individuum und Gesellschaft: Die Entwicklung der russischen Porträtmalerei zwischen 1870 und dem Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Iowleva/Lulinska 2007, S. 180–197, hier S. 191–192. 68 David Jackson, Aufruhr und Tradition: die Kunst der Peredwischniki, in: Mössinger/Ritter 2012, S. 16–36, hier S. 33.

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1. Literaturübersicht: Ein Künstler zwischen den Fronten

oder Bezügen zur gesamteuropäischen Tradition Rechnung zu tragen.69 Auch die Einträge im Bestandskatalog des Oxforder Ashmolean Museums Russian Paintings and Drawings... (1989) von Larissa Salmina-Haskell waren auf die werkbegleitenden Entstehungsumstände fokussiert.70 Die einzige positive Ausnahme stellt die Ausstellung Working for Diaghilev dar, die 2004– 05 im Groninger Museum stattfand und insgesamt 229 Werke von 15 Künstlern zeigte.71 Serov wurde in den Kontext der internationalen Moderne gestellt, er war mit insgesamt 19 Werken vertreten – nur Léon Bakst, Natalia Goncharova, Mikhail Larionov und Pablo Picasso waren in dieser Schau mit mehr Bildern aufgelistet. Die Groninger Auswahl überzeugte in zweifacher Hinsicht: durch die Vielfalt der Gattungen (Porträts, Historienbilder, Akt, Karikatur, Bühnenbild) und die mannigfaltigen Techniken (Öl-, Tempera- und Gouachebilder, Bleistift- und Kohlezeichnungen). Allerdings fehlte der Künstler weitgehend in den Katalogtexten, womit die Chance verfehlt wurde, seine Präsenz im Kreis der Modernisten wissenschaftlich zu untermauern. Resümierend lässt sich festhalten, dass Valentin Serov dem breiten Publikum im Ausland bis heute so gut wie unbekannt geblieben ist, da er in den letzten hundert Jahren nur selten außerhalb Russlands ausgestellt wurde und in den öffentlichen Sammlungen weitgehend fehlt. Die in den Ausstellungen häufig vorgenommenen Zuordnungen des Künstlers zu dem sozialkritisch konnotierten Realismus der Peredvizhniki wurden der Mannigfaltigkeit seines Œuvres nicht gerecht. Der Kontext der internationalen Moderne, deren wichtiger Mitgestalter er in Russland war, wurde stark vernachlässigt. Das mangelnde Interesse westlicher Forscher und Kuratoren an Serovs Schaffen gründet partiell in der zuweilen pejorativen Rezeption russischer Künstler vor dem Aufbruch der Avantgarde. In Anbetracht wachsender ideologischer Differenzen zwischen dem ‚Westen‘ und der UdSSR gewannen vor allem die abstrahierend und ungegenständlich schaffenden Avantgardisten viel Aufmerksamkeit und Zuspruch, während das Werk gegenständlicher Künstler der frühen Moderne kaum erforscht wurde: sei es Serov oder seine herausragenden Künstlerkollegen wie Mikhail Vrubel (1856–1910), Konstantin Korovin (1861–1939), Maria Yakunchikova (1870–1902) oder Konstantin Somov (1869–1939). Weitere Ursachen sind sicherlich in radikalen historischen Umbrüchen zu finden, die nach Serovs Tod (1911) die Interessenschwerpunkte der Wissenschaftler in andere Richtungen lenkten und die Erinnerung an ihn verblassen ließen: der Erste Weltkrieg (1914–18), die Russische Revolution (1917) und der Zweite Weltkrieg (1939–45).

69 Siehe u. a.: Nicole Hartje, in: Hartje 2005, S. 174 und S. 178–179, Kat. 82; Tatjana Judenkova, in: Hartje 2005, S. 175–177, Kat. 79–81; David Jackson, in: Mössinger/Ritter 2012, S. 232–235, Kat. 80–81; Wladimir Kruglow [Vladimir Kruglov], in: Mössinger/Ritter 2012, S. 236–239, Kat. 82–83. 70 Larissa Salmina-Haskell, Russian Paintings and Drawings in the Ashmolean Museum, Oxford: The University of Oxford/Ashmolean Museum, 1989. 71 Anagram Ghent/Sjeng Scheijen (Hg.), Working for Diaghilev, AK Groningen, Groninger Museum 11.12.2004–28.3.2005, Schoten: BAI, 2004, o. S., Kat. 25–33, 69–77 und 200.

1.3 Postume Veröffentlichungen in Europa und in den Vereinigten Staaten

In der russischen Kunstwissenschaft sind die Serov-Abhandlungen wiederum so zahlreich und sein Image so verfestigt, dass die Notwendigkeit einer kritischen Neubewertung sowie die Möglichkeit neue Erkenntnisse zu erlangen, leicht übersehen werden. Wie dringend eine solche Diskussion ist, beweist schon der Blick in den catalogue raisonné von Igor Grabar und Nikolai Vlasov von 1965. Von den über 3750 dort aufgeführten Werken – einschließlich über 1400 Studien aus den 52 Albums – ist heute höchstens ein Drittel aus der Literatur bekannt.

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2. Zum Künstlerdasein bestimmt

Valentin Alexandrovich Serov wurde als Sohn von Alexandr Nikolaievich Serov (1820–67), einem bekannten Komponisten und Musikkritiker, und Valentina Semionovna Bergman (1846–1924), einer Pianistin, am 7. Januar (19. Januar) 1865 in St. Petersburg geboren. Er wuchs in einem kulturellen und kosmopolitischen Elternhaus auf, welches von Künstlern und Intellektuellen wie Vladimir Stasov (1824–1906), Ivan Turgenev (1818–83), Nikolai Ghe (1831–94), Ilya Repin (1844–1930) und Mark Antokolsky (1840–1902) frequentiert wurde.72 Sein Vater arbeitete im Justizministerium, stellte sich aber mit der Zeit immer mehr in den Dienst der Musik und wurde von der Russkoie muzykalnoye obshchestvo (Russische Musikgesellschaft, 1859–1917) mit Reisestipendien und Zuschüssen unterstützt.73 Drei seiner Opern – Judith, Rogneda und Die Macht des Feindes – wurden im Petersburger Mariinski Theater 1863, 1865 und 1871 erfolgreich aufgeführt. Als Redakteur der Zeitschrift Muzyka i teatr (Musik und Theater, 1867–68) propagierte er Ideen seines Freundes Richard Wagner, den er in den 1860er Jahren oft besuchte. Auf eine dieser Reisen nahm er seinen vierjährigen Valentin nach Tribschen mit, wo dieser ein besonderes Vergnügen daran hatte, auf dem großen Bernhardiner des deutschen Komponisten reiten zu dürfen.74 Als Mitglied des Petersburger Adels, pflegte Alexandr Nikolaievich gute Beziehungen zum kaiserlichen Hof. So stand sein Freund Graf Ivan Tolstoy (1806–66) – Minister für Post und Telegraf und ein Enkel des Generalfeldmarschalls Mikhail Golenishchev-Kutuzov (1745–1813) – bei Valentins Taufe Pate.75 Allerdings legte Serov Senior gänzlich wenig Wert

72 Grabar 1914, S. 14f. 73 Grabar 1965, S. 12; Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 63, Anm. 1. 74 Grabar 1914, S. 16. 75 Ein Sohn des Grafen, Ivan Ivanovich (1858–1916) wurde 1896–1905 zum Vizepräsidenten der Petersburger Kunstakademie, 1905–06 zum Bildungsminister und 1913–15 zum Bürgermeister St. Petersbugs. Der andere, Dmitry Ivanovich (1860–1941) – 1889 zum Großzeremonienmeister am Hof, 1901 zum Vize-Leiter des Russischen Museums Alexander III. und 1909 zum Direktor der Eremitage. Dies war, so Kridl Valkenier (2001, S. 6; S. 222, Anm. 4) in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: bei Serovs Aufträgen, die seitens der kaiserlichen Familie kamen, bei der Künstlerauswahl für die Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 oder bei der Werkauswahl für die Weltausstellung in Rom im Jahr 1911, die Dmitry Tolstoy als Generalkommissar des russischen Pavillon mitbestimmte. Siehe auch: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 285–287, Anm. 27; S. 297, Anm. 58.

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2. Zum Künstlerdasein bestimmt

auf die gesellschaftliche Meinung und galt in der Hauptstadt als ein streitsüchtiger Exzentriker. Im privaten wie im öffentlichen Leben handelte er freilich nach der Devise „Ma position c’est opposition“76. Als dieser eingefleischte Junggeselle im Jahr 1863, nach einer langjährigen Liaison mit einer Gesellschaftsdame, eine wesentlich jüngere Studentin des Petersburger Konservatoriums heiratete, war das für viele eine große Überraschung. Wie Alexandr Serov gehörte Valentina Bergman einer jüdischen Familie an, die zum evangelisch-lutherischen Glauben konvertiert war.77 Ihre aus Hamburg stammenden Eltern unterhielten eine Süßwarenhandlung in Moskau in der Rozhdenstvenka 6 und waren zwar „antimusikalisch“, aber auf eine gute Ausbildung ihrer Kinder bedacht.78 In die Geschichte wird Valentina, die im Alter von fünfzehn Jahren ein Stipendium der Russischen Musikgesellschaft erhielt, als erste russische Komponistin eingehen. Sie war eine impulsive, politisch und sozial engagierte Frau, die ihren Mann innig bewunderte und die Erinnerung an ihn im öffentlichen Gedächtnis unermüdlich wachhielt.

2.1 Die ‚Wanderjahre‘ Nach dem Tod von Alexandr Serov im Jahr 1871 entschied sich Valentina Serova ihr Musikstudium in München bei Wagners Freund, dem Dirigenten Hermann Levi (1839–1900) fortzusetzen.79 Ihren Sohn ließ sie bei einer Freundin, Herzogin Natalia Drutskaia-Sokolinskaia (1847–?) in deren Kommune im Dorf Nikolskoye, unweit von Smolensk. Die Mitglieder dieser utopischen Gemeinde gestalteten ihre Lebensweise in Anlehnung an den Roman Was tun? (1862–63) des sozialistischen Philosophen Nikolai Chernyshevsky (1828–89): Sie führten ihren Haushalt ohne Aushilfe, gingen gemeinsam baden, besaßen gleiche Rechte und Pflichten – bis hin zur androgynen Kleidung und Kurzhaarschnitt – und brachten den Bauern Lesen und Schreiben bei. An diesem abgeschiedenen Ort, unter Fremden, wird Serov sicherlich unter der Trennung von seiner Mutter gelitten haben. Der Aufenthalt in Nikolskoie bot ihm aber viele tiefgreifende – und für ein Kind seines Standes äußerst ungewöhnliche – Erfahrungen. Hier erlebte er die Natur auf eine sehr intime Weise: Er lernte reiten, nahm an der Rodung der

76 Zit. nach: Yury V. Keldysh, A. N. Serov, in: Muzykalnaia entsyklopediia, Bd. 4, hg. von Yu. V. Keldysh, Moskau: Sovetskaia entsyklopediia, 1978, Sp. 947. 77 Der Großvater von Alexandr Serov, der Wissenschaftler und Geheimrat Carl Ludwig Hablitz (1752–1821) siedelte 1758 mit seinen Eltern von Königsberg (heute Kaliningrad) nach Moskau über. Verweis auf Alexandr Serovs jüdische Herkunft siehe in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 21, Anm. 2. 78 Valentina Serovas Eltern, Semion Yakovlevich Bergman und Augustine Karlovna Gutsohn, hatten drei weitere Kinder: Sohn Alexandr und die Töchter – Adelaida und Sophia. 1870 verließ Augustine Bergman ihre Familie und kehrte nach Hamburg zurück. Siehe dazu: Simonovich-Efimova 1964, S. 107; Samkov/ Silberstein 1968, S. 15; Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 67–69, Anm. 11. Zum Verhältnis Alexandr Serovs und seiner Lebensgefährtin, das auch nach der Heirat bestehen blieb, siehe: V. Serova 1914, S. 96–101; Kridl Valkenier 2001, S. 13f. 79 Grabar 1914, S. 16f.

2.1 Die ‚Wanderjahre‘

Bäume teil und hütete nachts mit Hirten die Herden.80 Allerdings war er ein verschlossener Junge, fühlte sich oft allein und suchte immer wieder Zuflucht in seinen Zeichnungen, die für Drutskaia-Sokolinskaia seine Begabung offenbarten.81 Serovs erstes Interesse an Bildern entfachte bereits in seinem Petersburger Elternhaus. Der Maler Nikolai Ghe, ein häufiger Gast bei den Kulturabenden der Familie, zeichnete für ihn Pferde – schon jetzt eins von Serovs beliebtesten Motiven.82 Der Bildhauer Mark Antokolsky ließ ihn in seinem Atelier zusammen mit seinem Schüler Elias – dem zukünftigen Bildhauer Ilya Ginzburg83 (1859–1939) – Tierfiguren aus Wachs modellieren.84 Zuhause griff der Junge gern zu Stiften, ohne dass seine Eltern seiner Entwicklung eine besondere Beachtung schenkten: Sogar sprechen lernte er erst, als er mit zwei Jahren in den Kindergarten von Adelaida Simonovich85 (1844–1933), seiner Tante mütterlicherseits, geschickt wurde. Seine Zeichnungen aus Nikolskoie, welche Drutskaia-Sokolinskaia beeindruckten, sind in der Tat überaus bemerkenswert. Auf einer davon (1871/72) bemühte sich der sechs- oder siebenjährige Serov nicht nur das repräsentative Landhaus der Kommune perspektivisch korrekt wiederzugeben, sondern hielt auch die zwischen den Portikus-Säulen unachtsam gehängte Wäsche fest: Die konsequente Ablehnung bürgerlicher ästhetischer Normen seitens der Kommunenmitglieder wurde also deutlich zum Ausdruck gebracht.86 Gerade diese Fähigkeit, die wichtigen Charakteristika prägnant und unaufdringlich zu erfassen, wird ihm später den Ruhm des besten russischen Porträtisten einbringen. 1872–75: München und Paris 1872, als die Nikolskoie-Kommune auseinanderfiel, wurde der Junge von Natalia Drutskaia-Sokolinskaia zu seiner Mutter nach München gebracht.87 Valentina Serova, die von ihrer Freundin auf das künstlerische Talent ihres Sohnes aufmerksam gemacht wurde, schickte eine seiner Zeichnungen – Löwe in einem Käfig (?) – an Antokolsky, der sich in der Zeit zwischen Rom und Paris aufhielt. „Ich hatte eine schreckliche Angst davor, von seiner Begabung übermäßig zu schwärmen, da ich aus ihm kein Muttersöhnchen-Wunderkind machen wollte“, schrieb Serova in ihren Erinnerungen: „[...] Doch Antokolskys Urteil war

80 V. Serova 1914, S. 165. 81 Grabar 1914, S. 18f.; V. Serova 1914, S. 165. 82 Grabar 1914, S. 15. 83 Ilya Ginzburg (1859–1939), seit 1870 Mark Antokolskys Schüler, lebte in dessen Haushalt; 1921–23 Dekan der Skulpturenfakultät an den Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten in Petrograd (St. Petersburg). 84 V. Serova 1914, S. 163f. 85 Adelaida Semionovna Simonovich (1844–1933) setzte sich als erste aktiv für die frühe Kinderförderung in Russland ein. Am 27.9.1863 gründete sie zusammen mit ihrem Ehemann, Pädiater Yakov Mironovich Simonovich, in St. Petersburg den ersten russischen Kindergarten – den Kindergarten, den auch Serov besuchte. 86 Дом в усадьбе (с колоннами). Село Никольское Смоленской губернии, 1871–72, Bleistift auf Papier, 33,5 × 22,3 cm, STG, Moskau, Inv. 28462. 87 Ettinger 1914, S. 388.

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2. Zum Künstlerdasein bestimmt

so, dass ich sofort damit anfing, einen soliden, anständigen Lehrer [für ihn] zu suchen“88. Diesen „soliden“ und „anständigen“ Lehrer fand sie in einem Studenten der Münchner Akademie der Künste, der zufälligerweise in der gleichen Pension wie sie wohnte. Das war Karl Koepping (1848–1914), der 1891 als Professor an die Berliner Kunstakademie berufen und zwischen 1896 und 1900 an der Kunst- und Literaturzeitschrift Pan (1895–1900) mitarbeiten sollte. In den nächsten zwei Jahren gab Koepping seinem jungen Schüler regelmäßig Mal- und Zeichenunterricht, nahm ihn auf Pleinair-Ausflüge ins Mühltal mit und besuchte mit ihm Münchner Museen, Galerien sowie Ausstellungen und Künstlerateliers.89 Unter den aus dieser Zeit erhaltenen Skizzen befinden sich Darstellungen diverser Tiere und einige nach Gipsen antiker Skulpturen entstandene Studien, darunter der Kopf des Apoll von Belvedere90 (1873). In der Schule freundete sich der Junge mit den Söhnen des Likörfabrikanten Eduard Riemerschmid an, in dessen Haus an der Isar er an den Wochenenden zum Spielen und Zeichnen kam.91 Hier zählte zu seinen Spielkameraden Richard Riemerschmid (1868–1957), der ein bedeutender Architekt und Künstler des Jugendstils werden sollte, sowie dessen älterer Bruder Carl (1860–1915), der 1899–1901 die Münchner Kammerspiele erbauen lassen wird. Einen systematischen Musikunterricht bekam Serov überraschenderweise nicht.92 Dennoch entwickelte er sich zu einem einfühlsamen Musikkenner und reagierte mit Begeisterung auf neue akustische Erfahrungen. So lernte er das Jodeln von den in Mühltal gastierenden Zitherspielern, deren Konzerte ihn bis in die Nacht hinein von zuhause fern hielten.93 Kulturell integrierte sich Serov in München so weit, dass Deutsch für ihn zu seiner zweiten Muttersprache wurde. Seine nostalgische Haltung gegenüber seiner zweiten Heimat kam noch Jahre später in seinen Briefen zum Ausdruck, als er über seine deutsche Haushälterin und sein neues „gotisches“ Zimmer schwärmte, das ihn an die Kammer eines deutschen Komponisten erinnerte und ihm das Gefühl gab, wieder in Deutschland zu sein.94

88 „Я ужасно боялась преувеличить своё увлеченiе его даровитостью, не желая дѣлать изъ него маменькина „вундеркинда“ [...] Отзывъ Антокольскаго был таковъ, что я немедленно принялась разыскивать учителя солиднаго, обстоятельнаго“, V. Serova 1914, S. 167. 89 V. Serova 1914, S. 167f., 172, 176 und 178. 90 Голова Аполона Бельведерского, 1873, Bleistift und weiße Kreide auf grauem Papier, 30,6 × 23,6 cm, dat. von V. Serova rechts unten, STG, Moskau, Inv. 28458. 91 V. Serova 1914, S. 169–171, S. 184f. Serova verwendet eine falsche Schreibweise des Namens der Familie: Риммершмидт (Rimmerschmidt) anstatt Riemerschmid. Allerdings wird aus dem Kontext – Wohnort, Erwerbstätigkeit und Vornamen der Kinder – ersichtlich, dass sie nur Eduard Riemerschmid gemeint haben konnte. 92 V. Serova 1914, S. 177. 93 V. Serova 1914, S. 176. 94 „Комнатка у меня совсем, как у немецкого композитора. Небольшая, но в три окна, светлая, чистенькая. Одно окно меня приводит всегда в восторг, оно все почти сплошь заполнено готической киркой очень милой архитектуры, стрельчатые окна, контрфорсы, флораны, шпиль, одним словом готика, и я чувствую себя в Германии. Хозяйка у меня вдобавок чистая немка. Часто с ней говорю по-немецки“, Serov an Elizaveta Mamontova im Herbst 1884 aus St. Petersburg, in: RGALI, Moskau, zit. nach: Samkov/ Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 9, S. 38–40, hier S. 39.

2.1 Die ‚Wanderjahre‘

Im Januar 1874 reiste Valentina Serova für mehrere Wochen zu Mark und Elena Antokolsky nach Rom und lernte dort den Eisenbahnmagnaten und Mäzen Savva Mamontov (1841–1918) kennen, der im Folgenden eine Schlüsselrolle im Leben ihres Sohnes einnehmen wird.95 Den kleinen Valentin ließ sie in München, um ihn, wie sie später behauptete, nicht aus dem Schulalltag und dem Freundeskreis herauszureißen. Auf Anraten von Antokolsky übersiedelte sie allerdings noch im Herbst des Jahres nach Paris, um Serovs künstlerische Entwicklung unter Aufsicht von Ilya Repin (1844–1930) weiter voranzutreiben.96 Repin zählte zu den progressivsten jungen Malern seiner Generation. Nach einem erfolgreichen Abschluss der Kunstakademie im Jahr 1869 hielt er sich 1873–76 als Stipendiat in Frankreich auf. Serov nahm bei ihm bis zu seiner Rückkehr nach Russland im Sommer 1875 fast täglich Zeichen- und Malunterricht und setzte diesen 1878 in Moskau fort.97 In ihrer Intensität erinnerte Serovs frühe Ausbildung bei Repin an die von Michelangelo oder Dürer, die noch als Jugendliche in die Werkstätte ihrer Väter kamen. In Studien, die der Junge in Repins Pariser Werkstatt machte, gesellten sich zu den beliebten Tiermotiven zahlreiche Köpfe und Gesichter, Karikaturen, Stillleben und Szenen mit flanierenden Parisern.98 Aus dieser Zeit stammen auch Serovs erste identifizierbare Porträts, die seinen Kunstlehrer erkennen lassen.99 Zusammen mit Repin und seiner Mutter besuchte Serov zudem den Maler Alexei Bogoliubov (1824–96) in dessen Atelier in 11, Boulevard de Clichy, welches das inoffizielle Zentrum der russischen Künstlerkolonie in der französischen Hauptstadt war. Zum Ritual dieser Treffen gehörte das gemeinsame Zeichnen zu verschiedenen frei gewählten Themen an einem langen Tisch.100 Der neue junge Teilnehmer machte die Mitglieder des ehrwürdigen Kreises schnell auf sich aufmerksam: Als Repin ihn an den Tisch setzte, begann Serov sogleich ein schnell reitendes Dreigespann zu skizzieren und wurde für das sehenswerte Ergebnis mit Lob überhäuft. Von diesem Moment an wurde sein Weg in den Augen vieler anwesender, inzwischen etablierter Meister als vorbestimmt erachtet. Repins Atelier und Bogoliubovs Salon waren nicht die einzigen Orte, wo Valentin an der Seite gestandener Künstler arbeiten durfte. Auch Antokolskys Pariser Werkstatt zählte

95 V. Serova 1914, S. 178; Grabar 1965, S. 22. Die genaue Datierung ergibt sich aus den Aufzeichnungen von Elizaveta Mamontova aus dem Jahr 1874, in: RGALI 799/1, Blatt 162 und 164, zit. in: Eleonora Paston, Abramtsevo. Iskusstvo i zhizn, Moskva: Iskusstvo, 2003, S. 41. 96 V. Serova 1914, S. 179f. 97 V. Serova 1914, S. 180f., 183 und 202; Grabar 1914, S. 23–26, 31–36. 98 Album Nr.  4, 1874–75, Albummaße 15,5 × 23,5 cm, Blattmaße 14,3 × 23,3, 45 Blätter, STG, Moskau, Inv. 26580, in München begonnen, überwiegend in Bleistift ausgeführt, teils mit Aquarell und Buntstiften unterlegt. Zum Unterricht in Paris siehe: V. Serova 1914, S. 181f.; Grabar 1914, S. 25f.; ders., 1965, S. 23–25. 99 Album Nr. 4, Blatt 10v, 15r und 16v, 1874–75, Blattmaße 14,3 × 23,3 cm, STG, Moskau, Inv. 26580. Ein weiteres Blatt, das vermutlich aus dem sog. Pariser Album stammt und u. a. eine Profilzeichnung von Repins Kopf enthält, befindet sich in SRM in St. Petersburg (Bleistift auf Papier, 10,2 × 16,3 cm, Inv. P-3091). 100 V. Serova 1914, S. 183.

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dazu: Hier machte er Zeichnungen101 nach den Skulpturen des Bildhauers (Peter der Große und Kopf eines Juden). Zu seinem Alltag gehörten ferner regelmäßige Museumsbesuche, die, so Valentina Serova seine künstlerische Entwicklung dermaßen voranbrachten, dass er schon mit zehn Jahren mit erstklassigen Meisterwerken vertraut war. [...] sein außerordentlicher eingeborener Instinkt verflocht sich mit dem Wissensbestand, der dank der Vertrautheit mit den besten Originalen aus hervorragenden Galerien erworben wurde: Daraus resultierte eine für sein Alter phänomenale Fähigkeit, wahre Kunst zu erkennen bzw. zu erraten.102 Selbst wenn Serov bei seinem Aufenthalt in Paris 1889 die Kunstsammlungen der Stadt für sich neu entdecken musste, hinterließen die zahlreichen visuellen Erfahrungen seiner Kindheit zweifelsohne einen tiefen Eindruck in seinem Sinnesgedächtnis, auch wenn er diese Spuren mehr unbewusst ertasten als bewusst nachvollziehen konnte. Seit dem Unterricht mit Koepping wurde Serovs Leben zunehmend von der Kunst bestimmt. Alle anderen ‚Wissenschaften‘ wurden von ihm hingegen ungern und meist oberflächlich studiert. Sein Milieu, zu dem fast ausschließlich Künstler, Musiker und Schriftsteller zählten, war der nahrhafte Boden, auf dem sein Talent gedeihen konnte. Gleichzeitig war er in dieser Erwachsenenwelt viel zu oft sich selbst überlassen, vor allem an den langen Abenden, an denen seine Mutter zu den Musikkonzerten verschwand und ihn zuhause vereinsamen ließ. Wie Kridl Valkenier zutreffend anmerkte, wundere mansich, wie der Junge angesichts der Exzentrizität seiner Eltern und der ständigen Vernachlässigung es überhaupt schaffte, „zu einem normalen Menschen ohne irgendeine größere Persönlichkeitsstörung heranzuwachsen“.103 1875–79: Abramtsevo, St. Petersburg, Kiew und Moskau Im Sommer 1875 kehrten Mutter und Sohn – nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in München – nach Russland zurück. Bei ihrer Ankunft in Moskau fuhren sie auf Einladung Savva Mamontovs nach Abramtsevo – ein unweit der Stadt gelegenes, pittoreskes Anwesen des Mäzens, wo in den kommenden Jahren eine Künstlerkolonie entstehen sollte. Jetzt hatte Valentin endlich wieder Freunde – Mamontovs drei Söhne Sergei (1867–1915), Andrei (1869–91) und Vsevolod (1870–1951) – und konnte sich zwischen Gärten und Wiesen ein 101 Album Nr. 4, Blatt 8v und 25v, 1874–75, Bleistift, Blattmaße14,3 × 23,3 cm, STG, Moskau, Inv. 26580. Eine weitere Zeichnung nach dem Gipsabguss von Antokolskys Skulptur Kopf eines Juden befindet sich ebenfalls in der STG (Bleistift auf Papier, 28,5 × 22,2 cm, Inv. 28456). 102 „Одни музеи такъ продвинули его художественное развитiе, что уже въ 10 лѣт он разбирался въ произведенiяхъ первой величины. [...] необычайный прирожденный инстинктъ сплелся съ большимъ запасомъ знанiй, прiобрѣтенных благодаря знакомству съ лучшими оригиналами образцовыхъ галлерей, – отсюда феноменальное для его возраста пониманiе или, скорее, угадыванiе истиннаго художества.“ V. Serova 1914, S. 180. 103 „Indeed, one wonders how the boy managed to grow up to be a normal adult without some major personality problems“, Kridl Valkenier 2001, S. 25f.

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1 Elizaveta Mamontova / Елизавета Григорьевна Мамонтова, 1887, Kohle und Bleistift auf Papier, 46,9 × 33,8 cm, STG, Moskau, Inv. 11800

fach dem sorglosen kindlichen Dasein hingeben. Savvas Ehefrau Elizaveta, die den Jungen mit mütterlicher Zuwendung empfing, blieb für ihn Zeit seines Lebens eine der wichtigsten Bezugspersonen. Serovs Beziehung zu ihr war von der Vertrautheit geprägt, die er seiner Mutter gegenüber nie empfand. 1889 gestand er Elizaveta Mamontova in einem Brief: Ich liebe und schätze [meine Mutter] als eine Künstlerin, als eine große, eifrige und gerechte Persönlichkeit; nur wenige sind so wie sie, das weiß ich. Aber eine andere Liebe – eine ruhige, milde, zärtliche Liebe – gibt es in mir nicht. Wenn Sie gestatten, habe ich dieses [Gefühl] schon, aber [...] vielmehr Ihnen gegenüber.104 Diese Haltung Serovs gegenüber den beiden Frauen wird in ihren Porträts ersichtlich.105 Beide Zeichnungen sind als Büstenbildnisse nach rechts aufgefasst, womit die Gemeinsamkeiten auch schon aufgezählt sind. Das Antlitz von Elizaveta Mamontova106 (1887, Abb. 1) –

104 „Я люблю и ценю её очень как артиста, как крупную, горячую, справедливую натуру, таких немного, я это знаю. Но любви другой, той спокойной, мягкой, нежной любви нет во мне. Если хотите, она во мне есть, но не к ней – скорее к Вам.“ Serov an Elizaveta Mamontova am 6.1.1889 aus St. Petersburg, in: RGALI 799/1/326, Blatt 15–18, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 74, S. 138f., hier S. 139. 105 Vgl. Kridl Valkenier 2001, S. 38f. 106 Елизавета Григорьевна Мамонтова, 1887, Kohle und Bleistift auf Papier, 46,9 × 33,8 cm, sign. und dat. rechts unten, recto: Kopf von Elizaveta Mamontova [durchgestrichen], STG, Moskau, Inv. 11800.

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2. Zum Künstlerdasein bestimmt

2 Valentina Serova / Валентина Семёновна Серова, 1880, Bleistift auf Papier, 28,5 × 20,6 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-3186

lächelnd und nachdenklich in die Ferne schauend – strahlt Milde und Besonnenheit aus. Valentina Serova107 (ca. 1880, Abb. 2) erblickt den Betrachter streng kritisch und wirkt sehr maskulin: Ihre wild nach hinten geworfenen Haare mit einer – wohl als imitatio Alexandri gedachten – aufstrebenden Stirnlocke charakterisieren sie als Kämpfernatur und Führungspersönlichkeit. Es überrascht nicht, dass Repin ausgerechnet Valentina Serova für seine Prinzessin Sophia Alexeievna108 (1879) Model stehen ließ – als ‚Vorbild‘ für die Halbschwester von Peter dem Großen, die nach ihrem Putschversuch verhaftet wurde und die Erschießung ihres treuen Palastgardisten miterleben musste. Doch wie gering ihre mütterlichen Instinkte auch gewesen sein mögen, Serovs Kompromisslosigkeit, Ehrlichkeit, Hartnäckigkeit und kulturelle Offenheit sind nicht zuletzt ihren Erziehungsmethoden zuzuschreiben. Ihrer Rastlosigkeit und ihrem Engagement war es ferner zu verdanken, dass ihr Sohn sehr früh zu vielen bedeutenden, in und außerhalb Russlands lebenden Künstlern, eine innige Beziehung aufbaute.

107 Валентина Семёновна Серова, 1880, Bleistift auf Papier, 28,5 × 20,6 cm, recto: Skizze von Klavier und Sessel, SRM, St. Petersburg, Inv. P-3186. 108 Царевна Софья Алексеевна через год после заключения её в Новодевичьем монастыре, во время казни стрельцов и пытки всей её прислуги в 1698, 1879, Öl auf Leinwand, 204,5 × 147,7 cm, STG, Moskau, Inv. 722.

2.1 Die ‚Wanderjahre‘

Während Serovs Sommer in Abramtsevo rückten das Zeichnen und Malen fast vollständig in den Hintergrund und nahmen erst im Herbst 1875 in St. Petersburg wieder die Form einer seriösen Übung an.109 Zum einen kopierte Serov diverse Reproduktionen wie Raffaels Sixtinische Madonna (1512/13), die er von Nikolai Ghe bekam. Zum anderen machte er, wie zuvor in Paris, kleine Karikaturen von den Menschen, denen er begegnete. Inzwischen war er aber selbstkritischer geworden und zerriss alles, was seinen ästhetischen Ansprüchen nicht genügte. In St. Petersburg wurde er in das deutsche Gymnasium des Karl Johann Mai110 eingeschrieben, musste aber schon ab Ostern 1876 wegen andauernder Ohrenentzündung zuhause bleiben. In der Hoffnung die angeschlagene Gesundheit ihres Sohnes zu kurieren, entschloss sich Valentina Serova im Frühjahr nach Kiew umzuziehen. Sie fuhr zu Vasily Nemchinov (1851–82), einem in Kiew lebenden Arzt, den sie in Abramtsevo kennengelernt hatte und mit dem sie eine Zivilehe einging. Da sie zu diesem Zeitpunkt ein Kind von N ­ emchinov erwartete, muss ihr die Entscheidung, erneut den Wohnsitz zu wechseln, leicht gefallen sein.111 Die nächsten zwei Jahre verbrachte Serov zwischen Kiew und Nemchinovs kleinem Landgut in Akhtyrka unweit von Charkow. In Kiew besuchte er ab 1877 ein Gymnasium, wo er mit Streichen und Karikaturen immer wieder den Direktor ärgerte. Zeitgleich ging er in die Kiewer Zeichenschule (1875–1901), die von Repins ehemaligem Kommilitonen Nikolai Murashko (1844–1909) gegründet worden war. Dort fertigte er Kopien nach Gipsen und grafischen Vorlagen an, darunter Kopf des kleinen Johannes des Täufers in Profil112 (23.4.1878) nach Raffaels Louvre-Gemälde Schöne Gärtnerin113 (1507/08), und hinterließ den Eindruck eines ernsten Jungen, der schnell mit seinen Aufgaben fertig wurde.114 Zuhause skizzierte er alles, was ihn umgab: sakrale und profane Bauten, die Landschaft in Akhtyrka115 (1878) oder seinen Stiefvater116 mit dem Kinderwagen unter dem Baum sitzend (1878). 1878 wurde Vasily Nemchinov wegen seiner Unterstützung revolutionärer Studenten aus Kiew deportiert. Daraufhin kehrte Valentina Serova im Herbst des Jahres nach Moskau

109 V. Serova 1914, S. 193f. 110 Karl Johann Mai (1820–95), russischer Pädagoge deutscher Abstammung, gründete 1856 eine Jungenschule, lehnte sich an die Thesen von Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) und Friedrich Fröbel (1782–1852) an. Der Unterricht war standesübergreifend. Hier studierten u. a. Kinder aus den Familien Golitsyn, Rimski-Korsakov, Benois und Roerich. Zu den Alumni gehörten u. a. Alexandr Golovin, Alexandre Benois und Konstantin Somov. Siehe: Nikita V. Blagovo, Shkola na Vasilyevskom ostrove. Istoricheskaia khronika. Chast I. Gimnaziia i realnoie uchilishche Karla Maya v Sankt-Peterburge. 1856–1918, St. Petersburg 2005. 111 Aus der Zivilehe von Valentina Serova und Vasily Nemchinov gingen zwei Kinder hervor: Alexandr (1876– 85) und Nadezhda (1879–1951). Nach seiner Rückkehr nach Moskau lebte Serov meist getrennt von ihnen. 112 Голова Иоанна Крестителя-ребёнка в профиль, 23.4.1878, Bleistift auf Papier, 29,1 × 22,2 cm, sign. und dat. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. P-3101. 113 La Vierge à l’Enfant avec le petit saint Jean-Baptiste (La Belle Jardinère), 1507/08, Öl auf Holz, 122 × 80 cm, Musée du Louvre, Paris, Inv. 602. 114 Grabar 1965, S. 33. 115 Ахтырка, 1878, Bleistift auf Papier, 10,9 × 21,9 cm, sign. und dat., SRM, St. Petersburg, Inv. P-3149. 116 В Ахтырке, 1878, Bleistift auf Papier, Größe unbekannt, einst im Privatbesitz der Serov-Familie in Moskau, in: Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 375.

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2. Zum Künstlerdasein bestimmt

zurück. Hier fing der dreizehnjährige Serov sogleich an, Repins Unterricht zu besuchen. Jedes Wochenende verbrachte er in seinem Atelier in Bolshoi Trubny pereulok 9 (heute Zemledelcheskii pereulok 7–9), wo er samstags nach Gipsen zeichnete und sonntags Stillleben malte. Studien wie Wiedehopf117 (1878) und Mark Antokolsky118 (1878) demonstrieren, dass Serov seine Fertigkeiten in der Formauffassung enorm steigerte. Seine nervöse Strichführung ist noch stark an die Zeichenmanier seines Mentors angelehnt. Ein Vergleich zwischen der Ölstudie Äpfel auf Blättern119 (1879) und einer Studie Repins, die dasselbe Motiv zeigt (1879)120, macht zugleich anschaulich, dass der Junge inzwischen mit einem der führenden Maler Russlands zu wetteifern vermochte.

2.2 V. Serov. Selbst (1879) In Repins Atelier begann Serov mit großer Intensität Porträts von den Menschen aus seiner Umgebung zu zeichnen. Zweifelsohne wurde er von seinem Lehrer – dem damals gefragtesten russischen Porträtisten – dazu ermutigt: Beide standen sogar einander Modell.121 In seinen Bildnissen stellte Serov meist seine Familie, die Repins und die Mamontovs dar (Kolia Simonovich122, 1880). Gelegentlich waren es auch Besucher des Abramtsevo-Anwesens wie der Kunsthistoriker Adrian Prakhov123 und seine Ehefrau Emilia124 (1879). Dazu kamen Bildnisse, die nach den malerischen, grafischen oder plastischen Vorlagen gemacht wurden (Kopie nach Rembrandts Bildnis einer Alten125, 1879). Selbst in der Schule skizzierte Serov pausenlos seine Kommilitonen und Lehrer (Gymnasiast Potekhin126, 1880), was seine

117 Удот, 1878, Bleistift auf Papier, 21,1 × 15 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-3131. 118 Марк Матвеевич Антокольский, 1878, Kohle auf Papier, 56 × 39 cm, sign. und dat. rechts unten, Inschrift links С мед. Антокольскаго раб. С. И. Мамонтова (Von der Antokolsky-Medaille des S. I. Mamontov), SRM, St. Petersburg, Inv. P-3216. 119 Яблоки на листьях, 1879, Öl auf Leinwand auf Karton, 23,6 × 52 cm, sign. und dat. links unten, Staatliches Abramtsevo Museum für Geschichte, Kunst und Literatur, Inv. Ж-82. 120 Яблоки и листья, 1879, Öl auf Leinwand, 64 × 75,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4046. Nach Grabar (1965, S. 40) habe Repin Serovs Stillleben so gefallen, dass er das Motiv selber zu malen begann. 121 Илья Ефимович Репин, 9.10.1879, Bleistift auf Papier, 34 × 25 cm, sign. und dat. rechts unten, Verbleib unbekannt, in: Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 345; Abb. in: Grabar 1914, S. 11; das Porträt, das Repin von Serov zeichnete, war in der Slg. Maria Tenisheva, Hinweis darauf in: Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 345. 122 Коля Симонович, 1880, Bleistift auf Papier, 33,2 × 23,5 cm, dat. rechts, STG, Moskau, Inv. 25104. 123 Adrian Viktorovich Prakhov (1846–1916), Archäologe, Kunsthistoriker und -kritiker; absolvierte die Petersburger Universität (1867), dort ab 1873 als Dozent tätig; koordiniert Kiew er die Innenausstattung der Vladimir-Kathedrale (1884–96), unterrichtete dort an der Universität (1887–97). Verbleib der Porträtzeichnung von Adrian Prakhov ist unbekannt, siehe: Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 345 124 Эмилия Прахова, 1879, Bleistift auf Papier, 34,2 × 25 cm, Museum der russischen Kunst, Kiew, Inv. Г-2327. 125 Портрет старушки с очками в руках, 1879, Bleistift, schwarze Kreide, Kohle auf Papier, 33,5 × 30,4 cm, sign. und dat., SRM, St. Petersburg, Inv. P-3182; nach Rembrandts Bildnis aus der Eremitage (1643, Öl auf Holz, 61 × 49 cm, Inv. 759). 126 Потехин гимназист, 1880, Bleistift auf Papier, 33,2 × 23,5 cm, dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 9897. Sohn des Schriftstellers Alexei Antipovich Potekhin (1829–1908).

2.2 V. Serov. Selbst (1879)

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3 Selbstbildnis / Автопортрет, 1879, Bleistift auf Papier, 25,5 × 14,5 cm, STG, Moskau, P-1151

künstlerischen Fähigkeiten immer weiter entfaltete, aber eine gravierende Auswirkung auf seine Latein- und Mathematikleistungen hatte.127 Bereits 1879 entstand Serovs erstes Selbstporträt128 (Abb. 3). Darin zeigte er sich als ein Künstler – en face über den Tisch gebeugt, mit dem Stift in der Hand und einem Blatt vor ihm – und versah die Darstellung mit der Inschrift „V. Serov selbst“. Seine ernste Miene, mit zusammengepressten Lippen sowie die locker gekämmten Haare, die in kräftigen kurzen Strichen erfasst wurden, lassen ihn wagemutig erscheinen. Diese Zeichnung, die Serov mit vierzehn skizzierte, weckt unweigerlich Assoziationen an das Selbstbildnis129 von Albrecht Dürer im Alter von dreizehn Jahren hervor (1484). Auch Serovs Weg war wie der von Dürer durch sein Elternhaus vorbestimmt, und wie bei Dürer kamen sein besonderes Talent sowie sein Interesse an der menschlichen Gestalt sehr früh zum Vorschein. Im Frühling des gleichen Jahres brach Serov, ohne einen Schulabschluss zu machen oder gar das Schuljahr zu beenden, seinen Unterricht am Gymnasium endgültig ab und 127 Grabar 1914, S. 37. 128 Автопортрет, 1879, Bleistift auf Papier, 25,5 × 14,5 cm, Inschrift rechts unten В. Сѣровъ самъ (V. Serov selbst), STG, Moskau, Inv. P-1151. 129 Selbstbildnis als Dreizehnjähriger, 1484, Silberstift auf weiß grundiertem Papier, 27,5 × 19,6 cm, Wien, Albertina, Inv. 4.839 [D 30].

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2. Zum Künstlerdasein bestimmt

begab sich in Repins Obhut.130 Gemeinsam besuchten sie die Eremitage sowie die Sammlung der Kaiserlichen Akademie, übten sich in der Freilichtmalerei in Abramtsevo und machten in der Werkstatt Stillleben-, Figuren- und Porträtstudien. Serovs Aktmodell im Umhang131 (1880), das dem Typus des Sterbenden Galliers132 (230–20 v. Chr.) ähnelt, zeigt, dass er inzwischen wesentlich sicherer mit der Darstellung des Körpers umgehen konnte. Die Breite von Serovs Übungsspektrum verdeutlicht unter anderem seine Kopie133 nach einer politischen Karikatur der 1860er Jahre, in der Russland als ein riesiger Bär gezeigt wurde (1870er). Solche Blätter wie Im Zugabteil der 3. Klasse134 (1879) oder Eisbrecher am Fluss Moskwa135 (1880) machen zudem ersichtlich, dass er seine Umgebung visuell erforschte und immer wieder in mehreren Varianten zeichnerisch fixierte. Sein Schaffensdrang war scheinbar unerschöpflich. Selbst als am Neujahrstag 1880 in Repins Nachbarschaft ein Holzhaus abbrannte, fing er sofort damit an, die verkohlten, vom frischen Schnee bedeckten Überreste des Baus zu skizzieren (Nach dem Brand136). Im Frühsommer 1880 folgte Serov seinem Lehrer in die Ukraine, wo dieser Gesichtsstudien für seine Zaporoger Kosaken...137 (1880–91) machte. Repins sicheres Gefühl für die Dynamik einer Bildkomposition, das besonders in den mit vielen Figuren bevölkerten Genre- und Historienbildern deutlich wurde, hatte große Wirkung auf Serov – gerade im Hinblick auf die innere Spannung in seinen Porträts, die bei der unschuldigen Natürlichkeit der Pose in Wahrheit bis ins kleinste Detail strukturiert wurden.138 Während des Ukraine-Aufenthalts machte Serov mindestens sechzig Studien (Zaporoger139, 1880), womit sein Arbeitspensum mit dem eines gestandenen Künstlers vergleichbar war. Diese Reise, so seine Mutter, bedeutete für ihn eine Wende zur künstlerischen Eigenständigkeit: „Er wurde erwachsener, reifer.

130 Grabar 1914, S. 39; V. Serova 1914, S. 204f. 131 Натурщик в плаще, 1880, Kohle auf Papier, 39,3 × 44,6 cm, sign. und dat. rechts, SRM, St. Petersburg, Inv. P-13401. 132 Sterbender Gallier, Marmor, H 0,95 x L 185, Rom, Kapitolinische Museen, Inv. MC 747; nach der römischen Marmorkopie der griechischen Bronzeskulptur (ca. 230–220 v. Chr., Athena-Heiligtum, Pergamon). 133 Политическая карта Европы, 1870er, Bleistift auf Papier, 22,2 × 25,2 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-6544. 134 В вагоне третьего класса, 1879, Bleistift auf Papier, 15 × 22,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. 3112. Es existieren drei weitere Varianten davon (Bleistift, Kohle auf Papier, 17,5 × 24,9 cm, SRM, St. Petersburg Inv. P-3113; Bleistift auf Papier, 25 × 34,5 cm, Inv. 28431; Bleistift auf Papier, 25 × 34,8 cm, STG, Moskau, Inv. 28432). 135 Ледоколы на Москве-реке, 1880, Bleistift, schwarzes Aquarell auf Papier, 19,1 × 27,9 cm, auf der Rückseite eine männliche Figur, SRM, St. Petersburg, Inv. P-3079; eine weitere Variante in der STG (Bleistift, Tusche auf Papier, 23,5 × 33 cm, Inv. 5708). 136 После пожара, 1.1.1880, Bleistift auf Papier, 32,8 × 23,5 cm, Inschrift links unten „1880 годъ Москва“, STG, Moskau, Inv. 3614. Nach Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 380) besaß Repin zudem Serovs Ölstudie mit dem gleichen Motiv. 137 Запорожские казаки пишут письмо турецкому султану, 1880–91, Öl auf Leinwand, 203 × 358 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4005. 138 Vgl. Kridl Valkenier 2001, S. 24. 139 Запорожцы, 1880, Bleistift auf Papier, 22,4 × 35,5 cm, STG, Moskau, Inv. 5538. Auf der Rückseite des Blattes eine Vorstudie zum Gemälde Bauernhof (1886, Öl auf Leinwand, 53,8 × 66,4 cm, STG, Moskau, Inv. 5538), die vermutlich erst 1886 entstand. Siehe: Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 381–384.

2.3 1880: Studienbeginn

[...] Die gewohnte Formulierung in unseren Gesprächen ‚sobald Du ein Künstler sein wirst‘ wurde jetzt durch ‚Du als Künstler‘ ersetzt“140.

2.3 1880: Studienbeginn Die Zeit in der Ukraine nutzte Serov dazu, die Arbeiten für die Aufnahmeprüfung an der Petersburger Akademie der Künste vorzubereiten.141 Die Ölstudie Der Bucklige142 – sein letztes in Repins Werkstatt ausgeführtes Werk – überzeugte seinen Mentor, dass er für den nächsten Schritt bereit war.143 In Anbetracht dessen, dass Repin dasselbe Modell für seine Kreuzprozession im Gouvernement Kursk144 (1880–83) in mehreren, in ihrem Ausdruck unterschiedlichen Studien145 festhielt (1881), war diese Aussage ein Zeichen hoher Anerkennung. In der Tat zeugt Serovs Kombination aus der Dreivierteldrehung und caravaggesker Lichtführung vom sicheren Form- und Raum-Gefühl, und die treffende Wiedergabe prägnanter Gesichtszüge und des Gemütszustandes – von einer souveränen Charakterisierung: Die Augenbrauen grüblerisch zusammengezogen, schaut der verkrüppelte Mann besorgt in die Ferne, sein junges Gesicht ist von Kummer und Erschöpfung eines Alten gezeichnet. Trotz der Altersbeschränkung wurde Serov durch Repins Vermittlung im Spätsommer 1880 zu den Aufnahmeprüfungen an der Kunstakademie zugelassen und daraufhin immatrikuliert.146 Dort bekam er – wieder durch Repins Hilfe – einen Platz im Atelier von Pavel Chistiakov147 (1832–1919), aus dem Künstler wie Vasily Polenov (1844–1927), Viktor Vasnetsov (1848–1926), Vasily Surikov (1848–1916) und Elena Polenova (1850–98) kamen.148 Ebenso wie Repin maß Chistiakov dem handwerklichen Können große Bedeutung bei und setzte einen Akzent auf intensives Zeichnen und das Studium alter Meister aus der ­Eremitage: darunter Tizian, Rembrandt, Velázquez und Murillo. In Serovs Profilbildnis von Chistiakov149 (1881) spiegelt sich in der gestochenen Strichsetzung, im fixierten Blick und in der aufleuchtenden hohen Stirn dessen Kompromisslosigkeit wider. Den gleichen Arbeitseinsatz wird Serov später von seinen Schülern fordern. Denn die Beschäftigung mit der 140 „онъ повзрослѣлъ, возмужалъ. [...] Обычная формула в наших бесѣдахъ съ ним: „когда ты будешь художникомъ“ теперь была заменѣна другой: „ты, как художникъ“, V. Serova 1914, S. 205. 141 Diese Arbeiten bereitete Serov u. a. in der Kiewer Kunstschule von Murashko vor, wo Repin und er einen Zwischenhalt gemacht haben. In: Grabar 1914, S. 46; ders., 1965, S. 44f. 142 Горбун, 1880, Öl auf Leinwand, Maße und Verbleib unbekannt, Abb. in: Grabar 1914, S. 19. 143 Grabar 1914, S. 45f.; ders., 1965, S. 46. 144 Крестный ход в Курской губернии, 1880–83, Öl auf Leinwand, 178 × 285,4 cm, STG, Moskau, Inv. 738. 145 Горбун, 1881, Öl auf Leinwand, 64,4 × 53,4 cm, STG, Moskau, Inv. 728. 146 Das Mindestalter für die Aufnahme betrug sechzehn Jahre, weswegen Repins Brief an den Konferenz-Sekretär der Akademie Iseiev eine entscheidende Rolle für Serov spielte. In: Grabar 1914, S. 46; ders., 1965, S. 44f. 147 Pavel Petrovich Chistiakov (1832–1919), 1849–61 Studium an der Kaiserlichen Kunstakademie in St. Petersburg, dort von 1872 an als Dozent tätig; 1863–70 Aufenthalt in Deutschland, Italien und Frankreich. 148 Grabar 1965, S. 48. 149 Павел Петрович Чистяков, 1881, Schwarze Kreide auf Papier, 34 × 25,3 cm, sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 7634.

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Kunst verstand er als einen Dienst, der das gesamte Leben bestimmte und mit Ergebenheit Tag für Tag zu erfüllen war. Gleich zu Beginn seines Studiums stand Serov eine Begegnung bevor, die in vieler Hinsicht seine weitere künstlerische Entwicklung beeinflusste. Während der Aufnahmeprüfung lernte er den neun Jahre älteren Mikhail Vrubel (1856–1910) kennen, zu dem er eine lebenslange Freundschaft pflegen wird. Diese frühe innige Verbindung zum Freidenker Vrubel ist als Symptom seines neuen Kunstverständnisses zu werten. Serovs Kontakt zu Vrubel intensivierte sich mit dessen Aufnahme in Chistiakovs Privatatelier im Jahr 1882. Von da an wurde Vrubel ein häufiger Gast bei den ‚kreativen Samstagabenden‘ der Serov-Familie: „Hier wurden neue Ansichten über die Malerei erarbeitet; die kommende Moderne hing schon in der Luft“ wird sich Serovs Mutter später erinnern.150 Vrubel gestand im April 1883 seiner Schwester: Ich wünsche mir im Sommer genug Geld zu verdienen, um mich für den Winter zu emanzipieren und in einem Zimmer auf der Vasilyevsky Insel zu leben, zum Beispiel mit Serov. Wir stehen uns jetzt sehr nah. Unsere Wege sind gleich, und die Entwicklung unserer Sichtweisen verläuft irgendwie parallel.151 Doch statt zusammenzuziehen, mieteten Vrubel, Serov und Vladimir von Derviz (1859– 1937) – ihr Kommilitone aus der Chistiakov-Klasse – im Herbst 1883 ein Atelier, in das sie mitunter ein weibliches Aktmodell stellten, was in den offiziellen russischen Lehranstalten dieser Zeit noch unüblich war.152 Diese Werkstatt existierte bis Vrubel im Frühsommer 1884 von Adrian Prakhov nach Kiew eingeladen wurde, um an den Restaurationsarbeiten an der Kyrill-Kirche und an der Sophienkathedrale teilzunehmen. Nach Salmina-Haskell sollten zwei motivisch identische Aquarellstudien von Serov und Vrubel – Serovs Modell mit den Attributen des Bacchus153 (1884) und Vrubels Modell in einem Kranz

150 „Тут вырабатывались новые взгляды на живопись; грядущий „модернизм“ уже носился в воздухе“, V. Serova 1914, S. 211. 151 „Очень мне хотелось бы за лето заработать столько, чтобы на зиму эмансипироваться и жить в комнатке на Васильевском, хоть бы вместе с Серовым. Мы очень сошлись. Дороги наши одинаковые, и взгляды как-то вырабатываются параллельно.“ Vrubel an seine Schwester Anna in April 1883 aus St. Petersburg, zit. nach: Eleonora P. Gomberg-Verzhbinskaia/Yury V. Novikov/Yulia N. Podkopaieva (Hg.), Vrubel. Perepiska. Vospominaniia o khudozhnike, Leningrad: Iskusstvo, 1976 (1963), Nr. 10, S. 37–39, hier S. 37. 152 Sobald Serov und Derviz, so Vrubel, von seiner Idee hörten, eine Werkstatt zu mieten, wollten sie mitmachen und schlugen ihm vor, die Kosten für ein weibliches Aktmodell zu übernehmen. In: Vrubel an seine Schwester Anna im Herbst 1883, zit. in: Gomberg-Verzhbinskaia/Novikov/Podkopaieva 1976, Nr. 12, S. 42–43. Siehe auch: Gleb Pospelov, O kontseptsiiakh artistizma i peredvizhnichestva v russkom iskusstve XIX–nachala XX veka, in: Sovetskoie Iskusstvoznaniie, Jg. 81, Bd. 1, Moskau: Sovetsky khudozhnik, 1982, S. 141–159, hier S. 152. 153 Study of a Model with the Attributes of Bacchus, 1884?, Aquarell auf Papier, 19 × 16,6 cm, recto: Study of a bronze Statuette, Ashmolean Museum, Oxford, Inv. WA 1960.36.14.

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mit einem Thyrsos in der Hand154 (1884) – in dieser Zeit entstanden sein.155 Wenn man jedoch der nachträglichen Notiz auf der Rückwand des Rahmens von Serovs Blatt glaubt, sind die Aquarelle in der Kostümklasse der Akademie gemalt worden. In der privaten Werkstatt entstanden vermutlich Serovs gezeichnete Porträts von Vrubel156 (1883) und Derviz157 (1884). Auch Vrubels symbolistisch anmutendes Profilbildnis von Serov158 (1883), das in eine dunkle konturierende Schraffur wie in eine Muschel eingeschlossen ist, wird dort gemacht worden sein. Vrubel wurde für Serov zu einer Art Gegenpol zu Repin, den Serov seinem Freund vorstellte. Begeistert schrieb Vrubel zunächst seiner Schwester am 6. Januar 1883 über Repins „klare und einfache Ansichten hinsichtlich der Aufgabe eines Künstlers“159. Allerdings berichtete er ihr schon eine Woche später über die Enttäuschung, die er und seine Freunde in der Peredvizhniki-Ausstellung empfanden. Demnach strebten deren Teilnehmer nur nach sozialer Kritik, vernachlässigten die „ganze Welt der unendlich harmonierenden wunderbaren Einzelheiten“ und „lachten über den Kult der Natur“, den Vrubel und seine Mitstreiter ihrerseits pflegten.160 Als Repin ihn und die anderen – das heißt auch Serov – nach ihrem Eindruck von der Kunstschau fragte, übergingen sie seine monumentale Kreuzprozession im Gouvernement Kursk (1880–83) mit Schweigen, was den ehrgeizigen Meister zutiefst verletzte. „[Repin] selbst ist uns, den Chistiakov-Schülern, gegenüber zurückhaltender geworden“, vermerkte Vrubel im gleichen Brief: „und wir fühlen – obwohl wir ihn sehr mögen – dass wir uns [von ihm] abgewandt haben.“161 Es ist nicht zuletzt Vrubel zuzuschreiben, dass Serov sich sukzessiv von Repin und dem Positivismus der Peredvizhniki zu entfernen begann.

154 Натурщик в венке, с тирсом (Вакх), 1884, Aquarell auf Papier, auf Pappe, 20 × 16,8 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-13468. 155 Salmina-Haskell 1989, S. 76, Kat. 104. 156 Михаил Врубель, 1883, Größe, Technik und Verbleib unbekannt, abb. in: Grabar 1914, S. 29. Siehe auch: Vlasov/Grabar, in: Grabar 1965, S. 348. 157 Художник Владимир Дмитриевич Дервиз, 1883, Rötel, Kreide auf Papier, 34,5 × 25 cm, sign. und dat. unten von fremder Hand, STG, Moskau, Inv. 26536. 158 Валентин Серов, 1883, Größe, Technik und Verbleib unbekannt, Abb. in: Grabar 1914, S. 28. 159 „так ясны и просты его [Репина] взгляды на задачу художника и на способы подготовки к ней“, Vrubel an seine Schwester Anna am 6.1.1883 aus St. Petersburg, zit. nach: Gomberg-Verzhbinskaia/Novikov/ Podkopaieva 1976, Nr. 9, S. 34–35, hier S. 35. 160 „занятые с утра до вечера изучением натуры, как формы, жадно вглядывающиеся в ее бесконечные изгибы ... целый мир бесконечно гармонирующих чудных деталей, и дорожащие этими минутами, как отправлением связующего нас культа глубокой натуры, – мы, войдя на выставку, не могли вырвать всего этого из сердец, а между тем перед нами проходили вереницы холстов, которые смеялись над нашей любовью, муками, трудом: [...] художник не вел любовных бесед натурой, весь занятый мыслью поглубже запечатлеть свою тенденцию в зрителе.“ Vrubel an seine Schwester Anna in April 1883 aus St. Petersburg, zit. nach: Gomberg-Verzhbinskaia/Novikov/Podkopaieva 1976, Nr. 10, S. 37–39, hier S. 37–38. 161 „[Репин] как-то сам к нам, Чистяковцам, охладел, да мы, хотя и очень расположены к нему, но чувствуем, что отшатнулись“, Vrubel an seine Schwester Anna in April 1883 aus St. Petersburg, zit. nach: Gomberg-Verzhbinskaia/Novikov/ Podkopaieva 1976, Nr. 10, S. 37–39, hier S. 37.

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4 Liudmila Mamontova / Людмила Анатольевна Мамонтова, 1884, Öl auf Lein­ wand, 57 × 45 cm, Museum für Geschichte und Architektur der Stadt Nowgorod, Inv. 2612

2.4 ‚Infantin‘ und ‚Amazone‘: Bildnisse von Liudmila und Maria Mamontova (1884) Überblickt man nun den oben beschriebenen Lebensweg des jungen Serov, so ergibt sich eine klare Erkenntnis, dass er schon früh ein außerordentlich weitreichendes Wissen über die Alten Meister besaß und ihre Schöpfungen nicht nur visuell, sondern auch durch das Kopieren von Originalen und Reproduktionen studierte. Das Gleiche gilt für die bedeutenden Werke der Antike, die er unter Anweisung seiner Lehrer – angefangen mit Koepping – ganz im Sinne des Curriculums damaliger Kunststudenten fleißig nachzeichnete. Zugleich war sein Blick stets auf das hier und jetzt gerichtet, wie die spontanen, oft in mehreren Varianten festgehaltenen Genreszenen und die zahlreichen Porträts verdeutlichen. Die bewusste Auseinandersetzung mit der Tradition einerseits und der Gegenwart anderseits spiegelt sich schon in seinen frühen eigenständigen Arbeiten wider. Eines der Werke, in dem die Anklänge an die altmeisterliche Tradition deutlich zu hören sind, ist das gemalte Bildnis der Liudmila Mamontova162 (1884, Abb. 4), das zu den ersten gemalten Porträts des Künstlers gehört. Serov wählte dafür eine schlichte Kompositions 162 Людмила Анатольевна Мамонтова, 1884, Öl auf Leinwand, 57 × 45 cm, Museum für Geschichte und Architektur der Stadt Nowgorod, Inv. 2612. Liudmila Anatolyevna Muravyova (geb. Mamontova, 1874–1937),

2.4 ‚Infantin‘ und ‚Amazone‘: Bildnisse von Liudmila und Maria Mamontova (1884)

5 Diego Rodríguez de Silva y Velázquez, Maria Teresia (1638–83), Infanta von Spanien / Maria Teresia (1638–83), Infanta of Spain, 1651–54, Öl auf Leinwand, 34,3 × 40 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, Inv. 49.7.43

formel: ein fast frontales Brustbildnis vor einem neutralen dunklen Hintergrund. Es zeigt die junge Frau in einer gepunkteten roten Bluse mit einem weißen Kragen und einer um den Kopf gebundenen dunklen Schleife. Das ruhige Gesicht der Zwanzigjährigen wird von dunklen Haaren und Fond umrahmt und strahlt geradezu aus dem Bild heraus. Ihr Blick fixiert den Betrachter, als wäre er derjenige, der beobachtet, ja misstrauisch studiert wird. Diese Figurenkonzeption, die einerseits Kommunikation andeutet und anderseits eine Distanz zum Betrachter evoziert, ruft die Brustbildnisse von Diego Velázquez in Erinnerung: wie etwa die Darstellungen der spanischen Infantin und später Königin, María Teresia163 (1651–54, Abb. 5). Diesen Eindruck unterstützt die Summe vieler kleiner Gemeinsamkeiten: ein junges ernsthaft blickendes Modell, das ruhige Posieren, Schleifen im ordentlich frisierten Haar sowie akkurat zugeknöpfte, feierlich wirkende Kleidung. Auch die Orchestrierung des Hell-Dunkels, bei der der Hintergrund auf einer Seite aufleuchtet und die Figur dadurch aus dem Bildraum hervortritt, spricht dafür, dass Velázquez hier eine Vorbildrolle spielte.

Tochter von Savva Mamontovs Bruder Anatoly, wurde von Serov viermal porträtiert, in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 134f., Anm. 41. 163 Maria Teresia (1638–83), Infanta of Spain, 1651–54, Öl auf Leinwand, 34,3 × 40 cm (originale bemalte Oberfläche 32,7 × 38,7 cm), The Metropolitan Museum of Art, New York, Inv. 49.7.43.

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6 Amazone / Амазонка, 1884, Bleistift auf Papier, auf Karton gezogen, 32,6 × 24,2 cm (Blatt 36 × 24 cm), Privatbesitz

Es darf vorausgesetzt werden, dass Serov mit dem Œuvre des spanischen Meisters zu dem Zeitpunkt bereits gut vertraut war, und zwar nicht nur mit den Bildern aus der Sammlung der Eremitage.164 Viele führende russische Maler der Zeit, darunter Repin, Surikov, Ivan Kramskoi und Viktor Vasnetsov hegten große Bewunderung für dessen Schaffen.165 Serov selbst fertigte im Laufe der Jahre mehrfach Kopien nach Velázquez an.166 Das Bildnis der Liud­mila Mamontova zeigt, wie er seine visuellen Einrücke von altmeisterlichen Porträts in eine eigene Formel zu übersetzen suchte und so in einen Dialog mit der Vergangenheit trat. Dass Serov sich auch mit den zeitgenössischen Themen vertraut machte, deutet unter anderem seine Zeichnung Amazone167 (1884, Abb. 6) unmissverständlich an, die im gleichen

164 Serovs Interesse für Velázquez, so Grabar (1965, S. 63f.), war durch Repin geweckt worden, der 1883 zusammen mit Stasov nach Madrid reiste und dort mehrere Velázquez-Kopien malte 165 Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 230, Anm. 11. 166 Alexandr. G. Movshenson/Flora Ya. Syrkina, Alexandr Yakovlevich Golovin. Vstrechi i vpechatleniia. Pisma. Vospominaniia o Golovine, Leningrad/Moskau 1960, S. 32; Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 232–233, hier S. 233, Anm. 17 und Bd. 2, S. 189, Anm. 26. 167 Амазонка, 1884, Bleistift auf Papier, auf Karton gezogen, 32,6 × 24,2 cm (Blatt 36 × 24 cm), sign. und dat. links unten, Privatbesitz.

2.4 ‚Infantin‘ und ‚Amazone‘: Bildnisse von Liudmila und Maria Mamontova (1884)

Jahr wie das gemalte Porträt von Liudmila Mamontova entstand. Das Motiv der Amazone, das in der abendländischen Malerei im Sinne der femme forte schon im Mittelalter verwendet wurde, war im 19. Jahrhundert ausgesprochen beliebt.168 Schon im 17. Jahrhundert ent­wickelte sich daraus eine Fashion-Formel für die Frau im Reiterkostüm.169 Im 19. Jahrhundert spiegelten solche Darstellungen das Image einer selbstbewussten modernen Frau wider, denn die bequeme Reiterkleidung erinnerte in ihrer Funktionalität und schlichten Eleganz an die Militäruniform der Männer.170 Amazonen finden sich im Œuvre von ­Théodore ­Gericault (Reiterin171, o. J.,), Francis Grant (Porträt von Georgina Naylor172, 1857), Alfred ­Dedreux (Eine Amazone im Wald von Boulogne173, 1850), Édouard Manet (Amazone174,1882) oder James McNeil Whistler (Arrangement in Schwarz Nr. 8. Mrs. Cassatt175, 1885). Unter Serovs Pariser Zeichnungen, die er als kleiner Junge 1874–75 anfertigte, ist interessanterweise auch eine reitende Amazone176 zu finden. Bei seinem Blatt von 1884 handelt es sich um die Studie der zwanzigjährigen Maria Mamon­tova177 zu Pferd. Als eine ganzfigurige Darstellung angelegt, zeigt es eine elegante junge Dame in einem schlichten schwarzen Kleid und Zylinder, rittlings auf einem Pferd sitzend. Ihr Gesicht fast ins Profil abgewandt, erscheint sie erhaben und ruhig, beinah erstarrt. Die Untersicht suggeriert einen verehrenden Betrachterblick. Trotz dieser Strenge bleibt der Eindruck der Lebendigkeit aufrechterhalten: vor allem durch die Anspannung des Pferdes, die in den ängstlich nach hinten gerichteten Ohren und glänzenden Augen sichtbar wird. Das Fehlen der Zerrissenheit in der Strichführung und der Verzicht auf die Verwischungen verdeutlichen, dass Serov sich von Repin stilistisch distanziert hatte und im Begriff war, seine individuelle Sprache zu finden.

168 Vor allem bei den Darstellungen der Regentinnen, im Kontext der Machtmanifestation war das keine Seltenheit: sei es in sicherer Pose vor einer Landschaft (Diego Velázquez, Margarete von Österreich, Königin von Spanien, 1634–35), bei einer Jagdszene (Maria von Burgund bei der Falkenjagd, Ende 15. Jh.) oder als Kriegsherrin (Vigilus Erikson, Reiterbildnis von Katharina II., 1762). 169 Petra Kreuder, Die bewegte Frau. Weibliche Ganzfigurenbildnisse in Bewegung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Weimar: VDK, 2008, S. 242. 170 Kreuder 2008, S. 242. 171 Horsewoman oder Amazone montée sur un cheval pie bai, o. J., Öl auf Leinwand, 44,5 × 34,9 cm, The Wrightsman Collection, New York. 172 Porträt von Georgina Naylor, 1857, Öl auf Leinwand, 223,7 × 132,7 cm, Walker Art Gallery, Liverpool, Inv. 6483. 173 Une Amazone au Bois de Boulogne, 1850, Öl auf Leinwand, 81,9 × 66 cm, Privatbesitz. 174 L’amazzone, 1882, Öl auf Leinwand, 73 × 52 cm, Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid, Inv. 659(1980.5). 175 Arrangement in Black No. 8, 1885, Öl auf Leinwand, 191,1 × 90,8 cm, Privatbesitz. 176 Album Nr. 4, Blatt 6r, 1874–75, Bleistift auf Papier, 15,5 × 23,5 cm, STG, Moskau, Inv. 26580. 177 Maria Feodorovna Yakunchikova (geb. Mamontova, 1864–1952), Tochter von Savva Mamontovs älterem Bruder Feodor, war mit Serov seit ihrer Kindheit befreundet. Sie setzte sich für die Wiederbelebung des russischen Handwerks ein. Ihre Teilnahme an der Gestaltung des russischen Pavillons bei der Pariser Weltausstellung wurde mit einer Goldmedaille gewürdigt. In: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 232, Anm. 17.

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7 Charles Auguste Émile ­Carolus-­ Duran, Reiterporträt von Mademoiselle Croizette als amazone / Portrait équestre de Mademoiselle Croizette en amazone, 1873, Öl auf Leinwand, 299 × 317 cm, Musée Municipal des Beaux-Arts, Tourcoing, Inv. 155

In der kompositionellen Auffassung der Figur und des Pferdes zeigt diese Zeichnung starke Ähnlichkeiten zum Porträt von Mlle Sophie Croizette zu Pferd178 (1873, Abb. 7) von Charles August Émile Carolus-Duran (1837–1917), der seit dem Ende der 1850er Jahre den Mitgliedern des zukünftigen Impressionisten-Kreises freundschaftlich verbunden war.179 Noch im Jahr ihres Entstehens im Pariser Salon ausgestellt, wurde dieses Gemälde schnell berühmt und von den Kritikern mit den Werken von Velázquez verglichen.180 Es ist überaus vorstellbar, dass Serov damit als Fotoreproduktion, Postkarte oder Lithografie vertraut war.181 So ist beispielsweise eine Abbildung von einer Grafik nach Carolus-Durans Gemälde

178 Portrait équestre de Mademoiselle Croizette en amazone, ausgestellt im Salon unter dem Titel Au bord de la mer, 1873, Öl auf Leinwand, 299 × 317 cm, Musée Municipal des Beaux-Arts, Tourcoing, Inv. 155. 179 Sylvie Patry, Carolus-Duran, „frère d’art“ d’Édouard Manet ?, in: Alain Daguerre de Hureaux/Annie Scottez-De ­Wambreies (Hg.), Carolus-Duran 1837–1912, AK Lille, Palais des Beaux-Arts 9.3.–9.6.2003 und Toulouse, Musée des Augustins 27.6.–29.9.2003, Paris: Réunion des musées nationaux, 2003, S. 27–36; Stéphane Paccourd, Portrait de Zacharie Astruc, in: Daguerre de Hureaux/Scottez-De Wambreies 2003, S. 56 ; Kreuder 2008, S. 249f. 180 Giuseppe de Nittis (1846–84) malte daraufhin im Jahr 1874 – in dem Jahr, in dem er fünf Gemälde für die erste Impressionisten-Ausstellung einreichte – eine eigene Amazone (L’amazzone, 1874, Öl auf Leinwand, 30 × 42 cm, Museo Raccolte Frugone, Genua), mit der er Mlle Sophie Croizette... paraphrasierte. Näheres zu dem Bild siehe in: Dominique Lobstein, Au bord de la mer ou Portrait équestre de Mlle Sophie Croizette, in: Daguerre de Hureaux/Scottez-De Wambreies 2003, S. 120f., Kat. 35. 181 Carolus-Durans war in Russland sehr bekannt. Bereits im Frühling 1876 reiste er nach St. Petersburg und führte dort fünf Auftragsbildnisse aus, darunter das Porträt von Nadezhda Polovtsova (1876, Öl auf Leinwand, 206 × 124,5 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg, Inv. 5175).

2.5 Der forschende Blick. Serovs frühe Selbstbildnisse

in Earl Shinns182 Buch The Masterpieces of the Exhibition183 zu finden, das anlässlich der Centennial International Exhibition in Philadelphia (10. Mai–10. Oktober 1876) erschien.184 Zudem spricht der starke Immobilitätsgrad des Pferdes und der Figur in Serovs Darstellung dafür, dass er auf eine fotografische oder druckgrafische Vorlage zurückgegriffen hat. Trotz kompositioneller Parallelen zwischen den beiden Darstellungen wäre es zu kurzsichtig, von kopieren oder nachahmen zu sprechen. Zu unterschiedlich ist die Wirkung der beiden Frauen. Sophie Croizette lächelt den Betrachter kokett an und spielt mit dem Riemen, was Hoffnung auf eine Annäherung weckt. Die pittoreske Landschaft hinter ihr lockt den Betrachter weiter ins Bild. Maria Mamontova – aus der Untersicht dargestellt – wird vom Betrachter ebenfalls ‚angebetet‘, bleibt aber unnahbar. Durch ihre statuarische Haltung und das Fehlen des Hintergrundes wird das Thema eines Ausritts zu einer beiläufigen Bemerkung. Die strengen, kantigen Konturen und eine lakonisch gesetzte, kurze Schraffur unterstützen diesen Eindruck der Unnahbarkeit. Damit ist diese schlichte Zeichnung, die Serov noch als Akademiestudent anfertigte, mehr als ein Porträt, als eine Genreszene oder als eine Kombination der beiden. Es gelingt dem Künstler über seine Vorbilder hinauszuwachsen und mit wenigen Mitteln ein Abbild des Nicht-Sichtbaren zu erschaffen – ein Abbild der eigenen Wahrnehmung des inneren Zustandes eines anderen.

2.5 Der forschende Blick. Serovs frühe Selbstbildnisse Seinen kritischen Blick richtete Serov wiederholt auf sich selbst. Die als Karikatur konzipierten Darstellungen zeigen ihn meist als Ganz- oder Halbfigur, wie in den Blättern der Serie Die Sitten von Domotkanovo (1888), Serov und Bakst 15 Jahre später (1901) oder Langweiliger Serov (1910).185 In anderen Fällen konzentrierte er sich fast ausschließlich auf sein Antlitz und verzichtete im Gegensatz zu seinem ersten Selbstbildnis weitgehend auf Attribute, die ihn demonstrativ als Künstler herausstellen. Aus den Jahren 1880–85 sind sechs gezeichnete und zwei gemalte Selbstbildnisse bekannt.186 Das Blatt von 1881 zeigt einen noch bartlosen neugierigen Jungen.187 Ganz anders 182 Earl Shinn (1838–86), bedeutender amerikanischer Kritiker, schrieb unter dem Pseudonym Edward Strahan. 183 Edward Strahan, The Masterpieces of the Exhibition. The Fine Art in the Exhibition, Philadelphia: Gebbie & Barrie, 1976, S. 100f., Abb. S. 87. 184 Diese Ausstellung, in der Carolus-Durans Amazone erneut zu sehen war, bot Künstlern aus 19 Ländern, darunter auch Russland, eine Plattform. Siehe: International Exhibition. 1876. Official Catalogue. Part II. Art Gallery, Annexes, and Out-Door Works of Art, 7. Auflage, Philadelphia: John R. Nagle and Company, 1876, S. 8 und 134–136. 185 Домоткановские нравы, 1888, Bleistift auf Papier, 21,2 × 13,5 cm, sign. rechts unten, mehrere Inschriften, STG, Moskau, Inv. 26540; Серов и Бакст через 15 лет, 1901, Bleistift auf Papier, 24,6 × 20,8 cm, sign. rechts unten, Museum für Theater- und Musikkunst, St. Petersburg, Inv. 7324/257; Скучный Серов, 1910, Bleistift auf Papier, 17,5 × 10,7 cm, STG, Moskau, Inv. 8726. 186 Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 347–349. 187 Автопортрет, 1881, Bleistift auf Papier, 32,4 × 23,8 cm, recht unten Inschrift 1881 Cамъ В. Сѣровъ (Selbst V. Serov), darunter говорятъ что похожъ (man sagt ähnlich), SRM, St. Petersburg, Inv. P-6555.

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2. Zum Künstlerdasein bestimmt

wirken die Blätter von 1881–82 und 1883.188 Darauf erscheint er reifer, mit Dreitagebart, und fixiert den Betrachter mit einem bohrenden Blick. Sein Gesicht ist in festen, differenzierten Strichen erfasst, das zerzauste Haar – mit schneller Schraffur, während Hals, Kragen und Schulter kaum angedeutet werden. Dieser Wechsel zwischen Festigkeit und Auflockerung des Formgefüges, welcher Spannung und Lebendigkeit im Ausdruck mit sich bringt, entwickelte sich in den darauffolgenden Jahren zu einem der wichtigsten Stilmerkmale des Künstlers. Serovs Habitus in seinen frühen Selbstbildnissen verrät, dass er sich als einen scharfen Beobachter erachtete, der das Gesehene dezidiert zusammenfasste, ohne sich mit narrativen Details übermäßig aufzuhalten. Als solch ein Beobachter wurde er auch von seiner Umgebung wahrgenommen. Serovs Mutter, die von ihrem Sohn kurz nach dem Tod von Nemchinov (1882) porträtiert wurde, hinterließ eine detaillierte, emotionale Schilderung seiner Arbeitsweise: Er setzte mich an den Tisch in der natürlichsten, ungezwungenen Haltung und bat mich meine gewöhnliche Kleidung anzubehalten [...] Wir schwiegen beide ... Tosha189 durchbohrte sein Modell mit dem Blick eines Porträtisten, als ob er in die Tiefen meiner Seele blickte ... Es herrschte eine [...] bedrückende Stille. [Er arbeitete] höchst angespannt, mit fiebernder Aufmerksamkeit: als ob er die einst gefundene Ähnlichkeit, die gelungene Stimmung wieder zu verlieren fürchtete. Er guckte immer intensiver, immer genauer in mich hinein; die Luft blieb mir im Hals stecken [...]: „Tosha! Ich kann nicht mehr ... Ich kann deinen Blick nicht mehr ertragen: Er entblößt meine Seele! Der Schmerz erdrückt mich, als würde ich schamlos mein [...] unerträgliches Leiden zur Schau stellen. Ich legte den Kopf auf den Tisch und die Stille wurde von meinem tiefen Schluchzen unterbrochen. Plötzlich ertönte ein komisches Geräusch [...] Zu meinen Füßen lag das in Stücke zerrissene Porträt!!“190

188 Автопортрет, 1881–82, Bleistift auf Papier, 34 × 26,1 cm, recto: Todesmaske Alexander II. von Pavel Klodt, SRM, St. Petersburg, Inv. P-3127; Автопортрет, 1883, Bleistift, Kohle auf Papier, 33,6 × 23 cm, recto: u. a. Krieger, der eine Frau niederschlägt, SRM, St. Petersburg, Inv. P-13405. 189 Von den Menschen, die ihm nahe standen, wurde Serov Tosha oder auch Anton genannt. Dieser Beiname ergibt sich aus der schrittweisen Verniedlichung des Namen Valentin: von Valentin zu Valentosha, was wiederum ähnlich wie Antosha klingt. Daraus wurden Anton und Tosha abgeleitet. 190 „Онъ усадилъ меня к столу въ самой естественной, непринужденной позѣ и просилъ остаться въ моем обычномъ одѣянiи [...] Мы оба молчали [...] Тоша пронизывалъ свою модель острымъ взглядомъ портретиста-художника, какъ будто проникалъ въ самую сокровенную глубь души ... Водворилaсь жуткая [...] тишина. Лихорадочное его вниманiе достигло высшаго напряженiя: видимо он боялся потерять уловленное сходство, утратить удачное настроенiе. Все глубже, все пытливѣе вглядывался онъ въ меня; у меня спирало дыханiе въ груди, что-то комкомъ подкатилось къ горлу. – Тоша! Я больше не могу... Не могу я переносить твоего взора: он душу мою обнажаетъ! Мнѣ жутко от боли, точно я безстыдно выставляю напоказъ [...] свою нестерпимую муку. Голова моя опустилась на столъ, и глухiя рыданiя нарушили тишину. Вдруг раздался какой-то странный трескъ, [...] у ног моихъ... разорванный въ клочки портретъ!!“ V. Serova 1914, S. 213.

2.5 Der forschende Blick. Serovs frühe Selbstbildnisse

Diese Episode führt vor Augen, dass Serov an jedes Bildnis voller Ernsthaftigkeit heranging und weder sich, noch seine Modelle schonte. Seine Hartnäckigkeit zahlte sich durch die immer bessere Beherrschung künstlerischer Techniken aus. Seine Selbstbildnisse sind auch als ein Zeichen der wachsenden Selbstachtung zu werten, die mit dieser neu gewonnenen Versiertheit einherging. Ein Beleg für sein neues Selbstbewusstsein findet sich in einem Brief an Olga Trubnikova (1864–1927), den er im Sommer 1884 aus Abramtsevo schickte: „Ach! Ich habe Antokolskys Porträt gezeichnet. Jetzt werde ich angeben: Gezeichnet haben [...] Vasnetsov und ich [...], und stell’ dir vor, ich war besser. Strenger, in guter Manier und ähnlich oder [...] jedenfalls ähnlicher als Vasnetsov.“191 Die Erkenntnis, besser zu sein als die, zu denen er einst hinaufgesehen hatte, lieferte eine ideale Grundlage dafür, die vorangegangene Künstlergeneration herauszufordern und ihre Kunstauffassung in Frage zu stellen.

191 „Ах! Нарисовал портрет Антокольского. Сейчас буду хвастать: Рисовали мы, Васнецов и я [...] и представь у меня лучше. Строже, манера хорошая и похож или [...] во всяком случае похоже васнецовского“ in: STG/QS 49/1, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 7, S. 33–36, hier S. 34.

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3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache: Serovs stilistische Evolution nach seinen Reisen zwischen 1885 und 1887. Eine Feststellung

„Es soll schön gemalt werden; was gemalt wird, interessiert uns nicht…“, pflegten Serov, ­Vrubel und Derviz bereits während ihrer Studentenzeit zu sagen.192 Entscheidende Impulse für die Festigung dieses ästhetischen Paradigmas müssen Serov die Europareisen von 1885 und 1887 gegeben haben. Denn nach jedem dieser Auslandsaufenthalte war eine klare Veränderung in seiner Bildsprache festzustellen, die ihn immer weiter in Richtung metaphysischer Licht- und Farbexperimente driften ließ.

3.1 Europa-Reise von 1885: Deutschland, Holland, Belgien Mitte Mai 1885 begleitete Serov seine Mutter nach München und reiste Mitte Juli weiter nach Holland und Belgien.193 In München suchte er umgehend die Alte Pinakothek auf, wo er David Teniers den Jüngeren, Frans van Mieris den Älteren, Peter Paul Rubens und allen voran Diego Velázquez bewunderte, dessen Jungen spanischen Edelmann194 (ca. 1629) er sogleich kopierte195. In Amsterdam ging er zusammen mit seinem einstigen Kunstlehrer Karl Koepping (1848–1914) in diverse Museen und Galerien, bevor sie beide nach Haarlem und Den Haag aufbrachen.196 Fasziniert war Serov von den Stadt- und Landansichten in „kleinen holländischen Bildern“, die ihm zeigten, dass das Leben dieser Region sich in den vergangenen zweihundert Jahren in seinem äußeren Erscheinungsbild – Architektur, Trachten und Gesichtstypen – kaum verändert habe.197 In Antwerpen besuchte Serov schließlich die Weltausstellung (2. Mai–2. November 1885), wo er mitunter die Arbeiten zeitgenössischer 192 „Пусть будет красиво написано, а что написано, нам не интересно...“, zit. nach: V. Serova 1914, S. 211. 193 Grabar 1914, S. 64–66; ders., 1965, S. 61–67; Ernst 1921, S. 21f.; Hollerbach 1924, S. 11f. 194 Junger spanischer Edelmann, ca. 1629, Öl auf Leinwand, 89,2 × 69,5 cm, Alte Pinakothek, München, Inv. 518. 195 Портрет юноши, 1885, Öl auf Leinwand, 78,5 × 63,2 cm, sign. links unten, STG, Moskau, Inv. 11195. 196 Serov an Olga Trubnikova am 1.8.1885 aus Den Haag, in: STG/QS 49/12, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 24, S. 59–61. Die Namen der Museen und Galerien erwähnte er nicht, dafür aber seinen Zwischenhalt in der Gemeinde Zaanstad, wo Peter der Große bei seiner Inkognito-Reise durch Europa (1697–98) den Schiffsbau beobachtete. 197 „[…] много […] маленьких голландских картин“ Serov an Olga Trubnikova am 19.7.1885 (1.8.1885) aus Den Haag, in: STG/QS 49/12, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 24, S. 59– 61, hier S. 60.

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3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache

8 Selbstbildnis / Автопортрет, 1885, Öl auf Leinwand, 50 × 40 cm, Privatbesitz

belgischer, französischer, italienischer, schwedischer, norwegischer und russischer Künstler sah.198 Mitte August war er wieder in München und kehrte noch vor Monatsende über Dresden und Berlin nach Moskau zurück. „Ich habe wahrlich… eine Menge Bilder gesehen und ich weiß, ich fühle, dass ich dadurch mutiger und besser arbeiten werde. Was die Kunst angeht, bin ich wirklich mutiger geworden“, schrieb er Olga Trubnikova199 am 8. September aus St. Peters­burg.200 Zwei Wochen später, am 21. September, machte er an der Akademie – wo er im April mit der Silbermedaille zweiten Grades ausgezeichnet wurde – seine letzte Studie.201

198 Serov an Olga Trubnikova am 17.8.1885 aus München, in: STG/QS 49/14, Moskau; zit. nach: Samkov/ Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 26, S. 62–63, hier S. 63. 199 Olga Feodorovna Serova (geb. Trubnikova, 1865–1927), Verlobte und ab 1889 Ehefrau von Valentin Serov; wurde als Waise im Alter von dreizehn Jahren von Serovs Tante mütterlicherseits Adelaida Simonovich adoptiert. Siehe dazu: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 82f., Anm. 60. 200 „Видел я действительно [...] картин, массу и я знаю, чувствую, что через это работать буду смелей и пожалуй лучше“, in: STG/QS 49/16, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 27, S. 64f., hier S. 65. 201 Als Serov im September 1886 sein Austrittsgesuch einreichte, stellte er fest, dass er aufgrund der unerlaubten Abreise bereits exmatrikuliert worden war. Am 6.9.1886 wurden ihm in der Akademie seine Unterlagen ausgehändigt. Siehe dazu: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 37, S. 76f.; Grabar 1965, S. 61, 68f. und 73.

3.2 Zurück in Russland: Experimentieren, Wagen, Scheitern

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9 Rembrandt Harmensz van Rijn, Selbstbildnis mit Samtbarett und einem Mantel mit Pelzkragen, 1634, Öl auf Eichenholz, 58,4 × 47,7 cm,Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Inv. 810

3.2 Zurück in Russland: Experimentieren, Wagen, Scheitern Einer der Beweggründe, aus St. Petersburg wegzufahren, war für Serov der Wunsch, Olga Trubnikova zu besuchen, die zu der Zeit in Odessa als Lehrerin arbeitete.202 Zudem kam dem Künstler – wohl auch angesichts jüngster Auslandserfahrungen – die akademische Routine unerträglich vor.203 Anstatt zu Semesterbeginn zum Unterricht zu erscheinen, frequentierte er Mamontovs Privatoper in Moskau und malte hier den portugiesischen Tenor Antonio d’Andrade204 (1854–1942). Dieses schwarzbraune Gemälde entstand ebenso wie sein rembrandteskes Selbstbildnis mit Hut205 (1885, Abb. 8) im Nachklang an die altmeisterlichen Bildnisse, die Serov in München so fleißig studiert hatte.

202 Grabar 1965, S. 69 und 74; Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 82, Anm. 60. 203 Serov an Ilya Ostroukhov am 23.9.1885 aus St. Petersburg, in: STG/QS 10/5701, Moskau; zit. nach: Samkov/ Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 31, S. 69f. 204 Антонио д’Андраде, 1885, Öl auf Leinwand, 1885, 60,8 × 49,6 cm, sign. rechts unten, Nikanor-Onatsky-Museum der bildenden Künste der Stadt Sumy (Ukraine), Inv. 355. Bruder des Baritons Francesco d’Andrade (1859–1921), den der Berliner Secessionist Max Slevogt mehrmals darstellen wird. 205 Автопортрет, 1885, Öl auf Leinwand, 50 × 40 cm, Privatbesitz.

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3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache

Eine gänzlich andere Palette – weiße Figur vor hellgrauem Hintergrund – weist sein erstes großformatiges Frauenporträt auf, das er Ende September in Moskau zu malen b ­ egann.206 Dafür überredete Serov Maria Yakunchikova207 ihm Modell zu sitzen und hoffte innerhalb einer Woche „ein echtes [Damen]bildnis […], wie sie in den großen Ausstellungen gezeigt werden“, fertigzustellen.208 Das schnell aufkommende Gefühl, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein, ließ ihn aber die Sitzungen abbrechen. Erst 1888 wird er sich damit erneut beschäftigen. Anfang Oktober fuhr Serov nach Odessa. In der Hafenstadt angekommen, besuchte er Vrubel, der sich dort nach seiner Rückkehr aus Italien im Frühjahr 1885 kurzzeitig niedergelassen hatte. Zudem traf er den Maler Nikolai Kuznetsov (1850–1929), den er in den frühen 1880er Jahren bei den Mamontovs in Abramtsevo kennengelernt hatte.209 Auf Kuznetsovs Landgut in Stepanovka bei Odessa malte er das Genrebild Bullen210, auf dem er zwei Stiere darstellte, die in einem Karren auf dem Hof nach Futter suchen.211 Mit dieser Arbeit setzte er die Reihe ländlicher Studien fort, die er nach seiner Rückkehr aus Europa im August und September in Abramtsevo gemacht hatte. Ähnlich wie die Autoren der von ihm bewunderten „kleinen holländischen Bilder“, hielt der Künstler darin eine Alltagsszene fest. Er verzichtete aber weitgehend auf detailfreudiges Dokumentieren des Landlebens und konzentrierte sich stattdessen auf die formalen Aspekte. Zum einen betonte er die Perspektive, was in der hohen Horizontlinie, der Schere des Karrens im Vordergrund und den Gebäuden im Hintergrund ersichtlich wird. Zum anderem glich er helle und dunkle Bildpartien gegeneinander aus: So korrespondieren die Farbwerte des linken Tieres mit dem hellen Himmelsstreifen rechts, während das Schwarz des rechten Tieres sich in der dunklen Türöffnung links wiederfindet. Der lockere pastose Duktus zeugt wiederum davon, dass der junge Künstler sich von der akademischen ‚Glattmalerei‘ maltechnisch zu befreien suchte. Ende November begann Serov in einem kurzzeitig gemieteten Zimmer in Odessa Olga Trubnikova zu porträtieren. Er fertigte zuerst einige Studien an, darunter ein Dreiviertel-

206 Porträtt av Maria Vasilievna Yakunchikova-Weber, 1885–88, Öl auf Leinwand, 1885–88, 136 × 100 cm, sign. und dat. links oben, Konstmuseum Malmö, Inv. MMK 1103. Von Grabar/Vlasov (Grabar 1965, S. 329) fälschlicherweise als Maria Feodorovna Yakunchikova identifiziert. Siehe dazu: http://malmo.se/Kultur-fritid/­Kultur--noje/Konst--design/Malmo-Konstmuseum/Samlingen/Den-ryska-samlingen/Valentin-­ Aleksandrovitj-Serov-.html (Stand: 7.7.2014). 207 Maria Vasilyevna Yakunchikova-Weber (1870–1902), Malerin, Grafikerin, mit den Mamontovs verwandt; studierte bei Vasily Polenov und 1889–92 in der Académie Julian; lebte ab 1889 in Paris und in der Schweiz; 1898 Mitglied von Mir iskusstva. Siehe dazu: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 129, Anm. 26; Jakounchikoff Marie, in: Yakov V. Bruck/Lidia I. Iovleva (Hg.), Gosudarstvennaia Tretyakovskaia Galereia. Katalog ­sobraniia. Zhivopis kontsa XIX–nachala XX veka, Bd. 5, Moskau: Skanrus, 2005, S. 400–403, hier S. 400. 208 „настоящий портрет [светской дамы], ... какие бывают на больших выставках“, zit. nach: Grabar 1965, S. 69. Siehe auch: Grabar 1914, S. 65, 69; Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 232f., Anm. 17. 209 Grabar 1965, S. 70. 210 Волы, 1885, Öl auf Leinwand, 47,5 × 59,5 cm, sign. links unten, STG, Moskau, Inv. 11186. 211 Die Entstehung des Gemäldes beschrieb Kuznetsov in einem Brief an Grabar vom 29.1.1913, auszugsweise zit. in: Grabar 1965, S. 70; S. 313, Anm. 78; S. 319 und 391; Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 94, Anm. 101.

3.3 Das erste Meisterwerk: Das Bildnis Olga Trubnikova (1886) als metaphysische Lichtinszenierung

bildnis212, das Olga im verlorenen Profil nach links darstellt. Sie beugt sich etwas nach vorne und lehnt sich mit ihrer rechten Schulter scheinbar an die Wand; ihre Augen sind geschlossen und der Mund ist leicht geöffnet, als schliefe sie. Die Natürlichkeit der Haltung, kombiniert mit sicheren Umrisslinien und rasch gesetzter Schraffur, vermittelt den Eindruck des augenblicklichen, vergänglichen Zustands. In der gemalten Fassung213 entschied sich Serov indes für eine konventionelle Lösung. Er setzte sein Modell en face an einen Tisch, in einer melancholischen Pose. Der in die Ferne gerichtete Blick, das halbverschattete Gesicht, dunkle Kleidung und Interieur lassen es traurig und nachdenklich erscheinen. Der Bildaufbau folgt also noch einfachen, einstudierten Formeln und wird vom Betrachter schnell erfasst. Allerdings fällt schon jetzt ein stilistisches Merkmal von Serovs Porträts deutlich auf: Das Gesicht wird genau herausgearbeitet und so nicht nur inhaltlich, sondern auch formal zum wichtigsten Bildelement erklärt.214 Das Letztere ist beim Porträt der amerikanischen Sopranistin Marie van Zandt215 (1858–1919) festzustellen, die Serov bei seiner Rückkehr nach Moskau im Winter 1885/86 auf Wunsch Savva Mamontovs malte. Der Star der Pariser Opéra-Comique willigte nur ein bis zwei Sitzungen ein, dennoch gelang es dem Künstler, in diesem skizzenhaften Brustbild die Eigenwilligkeit der Diva wiederzugeben: durch die Betonung der Stupsnase, der schmalen Lippen und der stur in die Ferne gerichteten Augen. Sein Können, selbst in einer solch flüchtigen Studie die äußeren Charakteristika und den Gemütszustand zu erfassen, erklärt sich nicht allein aus seiner Begabung. Unermüdlich schärfte der Künstler seine Fertigkeiten durch regelmäßiges Skizzieren: In Moskau besuchte er 1886 sogar heimlich den Zeichenunterricht an der Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur und war von 1887 bis 1889 ein häufiger Gast bei den Zeichenabenden von Vasily Polenov (1844–1927).216

3.3 Das erste Meisterwerk: Das Bildnis Olga Trubnikova (1886) als metaphysische Lichtinszenierung Anfang Sommer fuhr der Künstler aufs Land, in die Dorfgemeinde Edimonovo an der Wolga, unweit von Twer. Hier im Haus seiner Tante Adelaida fand sich seine Familie regelmäßig zusammen. Die Arbeiten, die in Edimonovo entstanden, spiegeln seine intensive Beschäf-

212 Ольга Фeдоровна Трубникова, 1885, Bleistift auf Papier, 14,5 × 8,5 cm, ehem. Slg. Serov, Moskau. 213 Ольга Фeдоровна Трубникова, 1885, Öl auf Leinwand, 88 × 71 cm, STG, Moskau, Inv. 22467. 214 Zur Entstehung des Porträts siehe: Olga Serova an Igor Grabar am 29.1.1913, in: STG/QS 106/10696, Moskau, auszugsweise zit. in: Grabar 1965, S. 71. 215 Мария ван-Зандт, 1886, Öl auf Leinwand, 65 × 55 cm, Staatliches Radishchev Museum der bildende Künste, Saratow. Siehe: Grabar 1965, S. 73. 216 Serov an Olga Trubnikova Januar/Mitte März 1886 aus Moskau, in STG/QS 49/18, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 36, S. 74–76, hier S. 74 und S. 76, Anm. 3; Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 396.

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3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache

10 Rembrandt Harmensz van Rijn, Der Traum Josephs, 1645, Öl auf Holz, 20 × 27 cm, ­Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin, Inv. 806

tigung mit dem Helldunkel wider. Dazu gehört ein weiteres Trubnikova-Porträt, das heute den Titel Am Fenster217 trägt (Taf. I).218 In diesem Bildnis wirkt die Figur wie eine Lichtquelle, ja beinah wie eine sakrale ­Erscheinung. Als wollte der Künstler ein zufälliges Moment festhalten, zeigte er, wie Trubnikova, sich leicht nach vorn beugend, einen kleinen rechteckigen Stickrahmen auf das Tischchen vor dem Fenster legt. Da das geöffnete Fenster links stark angeschnitten und der Innenraum rechts in völlige Dunkelheit getaucht wird, konzentriert sich der Betrachter zwangsläufig auf das halbverschattete Gesicht sowie auf die Hände der Dargestellten, die sich seiner Anwesenheit nicht bewusst ist. Trubnikovas gesenkter Blick und die verhaltene Bewegung evozieren den Eindruck des besinnlichen Innehaltens. Diese Stimmung wird in der Dunkelheit des Raumes und den weichen Licht-Schatten-Übergängen weiter­

217 У окна (Ольга Фeдоровна Трубникова), 1886, Öl auf Leinwand, 74,5 × 56,3 cm, STG, Moskau, Inv. 8910. 218 Siehe dazu: Tanja Malycheva, Ranneie tvorchestvo Serova v kontekste evropeiskoi zhivopisi na primere portreta Olgi Trubnikovoi 1886 g., in: Aktualnyie problemy teorii i istorii iskusstv, Bd. 2, hg. von Staatsuniversität Moskau und Staatsuniversität Sankt Petersburg, St. Petersburg: NP-Print, 2012, S. 435–440.

3.3 Das erste Meisterwerk: Das Bildnis Olga Trubnikova (1886) als metaphysische Lichtinszenierung

11 Bauernhof / Крестьянский дворик, 1886, Öl auf Leinwand, 53,8 × 66,4 cm, STG, ­Moskau, Inv. 5538

getragen. Zugleich wird die Figur mittels Hell-Dunkel-Kontrasts mit innerer Spannung erfüllt. Das Motiv der Vorwärtsbewegung, das bereits in der Neigung des Oberkörpers und im schräg gesetzten Fensterrahmen wahrnehmbar ist, wird durch die Lichtführung betont: Während der schwarze Rock noch mit dem Innenraum der rechten Bildhälfte verschmilzt, wird die hochgesteckte weiße Bluse in der linken Bildhälfte schon von den Sonnenstrahlen erfasst. Der Bildaufbau mit seinen schrägen Fensterachsen und Olgas leichter Beugung erinnert an einen spontanen Schnappschuss mit der Fotokamera und lässt schlussfolgern, dass Serov sich bewusst die kompositionellen Besonderheiten der Fotografie aneignete, um den Eindruck der Unmittelbarkeit zu evozieren. Auch die verhaltene Palette deutet auf den Einfluss der Fotografie hin. In einer Aquarell-Vorstudie zum Bildnis (Geöffnetes Fenster219, Taf. II) arbeitet Serov gar ausschließlich mit den Abstufungen von Schwarz: Die Dargestellte ist darin noch beinah unsichtbar, während das große, helle Fenster links und die sich dahinter befindenden Pflanzen den Blickfang bilden. 219 Открытое окно, 1886, schwarzes Aquarell, Bleistift auf Papier, 12 × 12 cm, STG, Moskau, Inv. P-7945.

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3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache

Nicht weniger bestimmend für die Komposition ist die malerische Lichtinszenierung. Sicherlich beruhte Serovs gestiegenes Interesse am Thema Licht auf den Eindrücken, die er 1885 in Europa gesammelt hatte. Seiner Korrespondenz ist zu entnehmen, dass er zunächst in der Alten Pinakothek und danach in Amsterdam – in dem am 1. Juli 1885 neu eröffneten Rijks­museum – mindestens fünf Werke Rembrandts sah.220 Im Mauritshuis in Den Haag sowie im Alten Museum in Berlin wurde er zweifelsohne auf weitere Arbeiten dieses ­Meisters aufmerksam.221 Rembrandts Gemälde Der Traum Josephs222 (1645, Abb. 10), das 1830 aus den König­lichen Schlössern an die Gemäldegalerie des Alten Museums in Berlin übergeben worden war, diente ihm sogar offensichtlich als Anregung für die Ölstudie Bauernhof 223 (1886, Abb. 11), die ebenfalls in Edimonovo entstand. Denn nicht nur findet die Handlung in beiden Bildern in einem verschatteten Stall statt. Auch die Parallelen in der Lichtführung sind zu verblüffend, um ignoriert zu werden. In Bauernhof  – einer Studie, die prinzipiell der Genremalerei zuzurechnen ist  – beschäftigt sich Serov in erster Linie mit der Umsetzung von Lichtbewegung und Stille. Zum Hauptmotiv wird ein imaginärer Strahl, der zwischen dem Loch im Dach und der beleuchteten Partie auf dem Boden verläuft, während die Bäuerin und die Tiere von der Dunkelheit erfasst und so zu Staffageelementen reduziert werden. Die Bibelgeschichte, die bei Rembrandt das Strahlen des Lichts in der Dunkelheit inhaltlich konnotiert, wird motivisch zwar profaniert, doch der ‚Heilige Geist‘ schwebt immer noch über dem Geschehen: Schließlich glaubt der Betrachter, mit seinem inneren Auge etwas zu sehen, was auf der materiellen Oberfläche des Bildes gar nicht präsent ist. Regelrecht banal im Gegensatz zu Serov hatte Repin einige Jahre zuvor ein ähnliches Sujet umgesetzt: In dessen Studie (Bauernhof224, 1879) ist der Lichtstrahl nur ein zweitrangiges Element, welches die Tiefenwirkung steigert – unauffällig am linken Rand gesetzt, bildet er einen Bezugspunkt zum hellen Durchgang rechts hinten und hat somit eine rein perspektivische Funktion. Obgleich Serov mit Rembrandts Bildern aus der Eremitage-Sammlung vertraut war, motivierte ihn offensichtlich seine erneute, selbstständige Begegnung mit dessen Werken zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Helldunkel. In Bauernhof scheint der junge Künstler 220 Rembrandts Bilder in der Alten Pinakothek fand Serov allerdings „besonders schlecht“ (STG/QS 49/9, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 20, S. 52f., hier S. 52). Zwei der fünf Amsterdamer Werke bezeichnete er als „hervorragend“, beschrieb aber nicht genau, welche er meinte (STG/QS 49/12, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 24, S. 59–61, S. 59f.). 221 Serov schrieb Olga Trubnikova am 8.9.1885 aus St. Petersburg, dass er die Dresdener Gemäldegalerie und „eine solche Galerie“ in Berlin besucht habe (STG/QS 49/16, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 27, S. 64f., hier S. 65). Vermutlich ist an dieser Stelle die Gemäldegalerie im 1830 eröffneten Alten Museum in Berlin gemeint, die heute als Berliner Gemäldegalerie bekannt ist. 222 Der Traum Josephs, 1645, Öl auf Mahagoniholz, 20 × 27 cm, Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin, Inv. 806; erstmals 1786 von Nikolai im Kgl. Schloss zu Berlin erwähnt. 223 Крестьянский дворик, 1886, Öl auf Leinwand, 53,8 × 66,4 cm, sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 5538. Zur Entstehung siehe: Simonovich-Efimova 1964, S. 26f., 163; Grabar 1965, S. 77, 391. 224 Крестьянский дворик, 1879, Öl auf Leinwand, 28,1 × 44,5 cm, STG, Moskau, Inv. 723. Studie zum Gemälde Verabschiedung des Rekruten (1879, SRM, St. Petersburg).

3.3 Das erste Meisterwerk: Das Bildnis Olga Trubnikova (1886) als metaphysische Lichtinszenierung

sogar in seiner warmen, goldbraunen Palette und in der Malfaktur, mit ihren kurzen getupften Pinselstrichen und verwischten Konturen, dem Holländer nacheifern zu wollen. Auch sein zuvor erwähntes Selbstbildnis mit Hut (1885, Abb. 8), das wenige Wochen nach seiner Euro­pareise entstand, weist Rembrandts Einfluss auf. Als Vorbild dafür diente vermutlich das Brustbild von dessen Sohn Titus225 (ca. 1662?), das 1780 von Katharina der Großen für die Eremitage erworben wurde und sich dort bis 1930 befand. Beide Bildnisse teilen eine Reihe von Gemeinsamkeiten: Körperausschnitt, Situierung der Figur vor einem neutralen dunklen Fond, die Blickführung über die Schulter auf den Betrachter, die Palette aus warmen Brauntönen sowie die Charakterisierung des Ausdrucks durch schwere Augenlider und verschattete Mund- und Augenpartie. Für Rembrandts Einfluss spricht ferner Serovs Kopfbedeckung, welche fast wie ein Zitat aus dessen vielen Selbstbildnissen226 wirkt (1634, Abb. 9). In Amsterdam, Den Haag, Berlin oder Dresden hätte der Künstler zudem die Bilder Jan Vermeers (1632–75) sehen können, der erst in den 1870er Jahren wiederentdeckt worden war und gerade für seine Lichtwiedergabe zunehmend Würdigung erfuhr.227 Im Zusammenhang mit dem Trubnikova-Porträt ist vor allem Vermeers Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster228 (1659, Abb. 12) aus der Dresdener Gemäldegalerie Alte Meister zu erwähnen, das seit 1742 der Sammlung angehörte und Ende der 1850er Jahre von Etienne-Joseph-Théophile Thoré229 (1807–69) als eine Arbeit Vermeers identifiziert wurde. Wie später bei Serov ist hier in der Mitte der Komposition eine junge Frau zu sehen, die sich mit gesenktem Blick einem geöffneten Fenster links im Bild zuwendet. Anstelle der Bewegung strebt Vermeer allerdings an, in einem raffinierten Licht-Schatten-Konstrukt meditative Ruhe und Zeitlosigkeit zu unterstreichen. Diese liegen bereits der Haltung der Figur zugrunde: Die demütige Neigung des Kopfes, das strenge Profil, das aufrechte Stehen, die verhaltene Handbewegung und die fast geschlossenen Augen lassen das Modell tief in das Lesen versunken, ja erstarrt erscheinen. Verfestigt wird diese Wirkung in der übernatürlich harmonischen Abwechslung heller und dunkler Partien, welche selbst in den kleineren Details konsequent durchgeführt

225 Portrait de Titus (1641–1668), fils de Rembrandt, ca. 1662 ?, Öl auf Leinwand, 72 × 56 cm, Musée du Louvre, Paris, Inv. RF 1948-34; im Mai 1930 von der Sowjetunion an Calouste Gulbenkian verkauft, nach mehrfachen Besitzerwechsel 1948 von Étienne Nicolas dem Musée du Louvre geschenkt, in: Jeroen Giltaij, Portrait von Titus, ca. 1662?, in: Rembrandt Rembrandt, AK Frankfurt a. M., Städelsches Kunstinstitut 1.2.–11.5.2003, Frankfurt a. M.: Städelsches Kunstinstitut, 2003, S. 206f., Kat. 40. 226 Selbstbildnis mit Samtbarett und einem Mantel mit Pelzkragen, 1634, Öl auf Eichenholz, 58,4 × 47,7 cm, Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Inv. 810. 227 Grabar (1965, S. 65) betonte, dass Serov in Amsterdam besonders von Vermeer beeindruckt war. 228 Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, 1659, Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal. 1335. Siehe dazu: Uta Neidhardt, Johannes Vermeers „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“. Ein begabter junger Maler orientiert sich, in: Uta Neidhardt (Hg.), Der frühe Vermeer, Aust. Kat. Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister 3.9.–28.11.2010, Berlin: Deutscher Kunstverlag, 2010, S. 67–81, hier S. 67f. 229 Eingehend erforscht wurde Vermeer erst von Etienne-Joseph-Théophile Thoré (1807–69). Dieser publizierte unter dem Namen William Bürger und wird daher in der Literatur als Thoré-Bürger geführt. Siehe dazu: Edwin Buijsen, Die Wiederentdeckung des „jungen“ Vermeer, in: Neidhardt 2010, S. 39–47, hier S. 39f.

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12 Jan Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, 1659, Öl auf Leinwand, 83 × 64,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal. 1335

wird: So zeichnet sich beispielsweise das helle Gesichtsprofil der Frau vor dem Halbschatten auf der Wand deutlich ab, während ihr dunkelblondes Haar vor einem beleuchteten Wandabschnitt situiert wird. Eine ähnliche Komposition und Licht-Schatten-Verteilung ist auch Vermeers Jungen Dame mit Perlenband230 eigen (ca. 1660/65), die 1874 in die Sammlung der Gemäldegalerie Berlin aufgenommen wurde. Serov geht indes summarischer vor und lässt große Partien im undurchdringlichen Dunkel verschwinden, wodurch seine Darstellung eine geheimnisvolle Note gewinnt. In seiner Lichtkonzeption steht er somit Caravaggio und Rembrandt näher als Vermeer, auch wenn der Letztere durchaus vereinzelt mit tiefen Schatten gearbeitet hat: wie beispielsweise bei der Briefleserin in Blau231 (ca. 1662–63) aus dem Amsterdamer Rijksmuseum, die Serov ebenfalls gesehen haben muss.232 Wie das Dresdener Gemälde zeigt auch diese Arbeit eine

230 Junge Dame mit Perlenband, ca. 1660/65, Öl auf Leinwand, 55 × 45 cm, Gemäldegalerie Berlin, Staatliche Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Inv. 912B. 231 Briefleserin in Blau, ca. 1662–63, Öl auf Leinwand, 46,5 × 39 cm, Rijksmuseum Amsterdam, Inv. SK-C-251. Das 1885 anlässlich der Eröffnung erworbene Bild war das erste Vermeer-Werk in der Rijksmuseum-Sammlung. 232 Es sei kurz erwähnt, dass sowohl Rembrandt als auch Vermeer sich ihrerseits indirekt von Caravaggio (1571–1610) inspirieren ließen, dessen Lichtkonzeption ihnen durch die Utrechter Caravaggisten vermittelt wurde. Siehe dazu u. a.: Daniela Hammer-Tugendhat, Gott im Schatten? Zur Bedeutung des Lichts bei Caravaggio

3.3 Das erste Meisterwerk: Das Bildnis Olga Trubnikova (1886) als metaphysische Lichtinszenierung

in das Lesen vertiefte junge Frau, die im Profil nach links zu einem – sich außerhalb des Bildes befindenden – Fenster zugewandt ist. Da die Figur jetzt mehr Bildraum einnimmt, das schlichte Interieur fast monochrom bleibt und die Schatten intensiver und blockhafter gestaltet werden, wird der Betrachterblick stärker auf die Dargestellte gerichtet. Dem gleichen Prinzip folgt auch Serov beim Übertragen der bereits erwähnten Bildnis-Vorstudie (Geöffnetes Fenster) auf die Leinwand, indem er durch das Verschatten des Raumes und das Heranrücken an die Figur den Fokus auf das Modell legt. Folglich sind sowohl im Bildaufbau als auch in der Figurauffassung zwischen den beiden Lesenden Vermeers und Serovs Trubnikova Ähnlichkeiten erkennbar: im Motiv des Fensters links, durch welches Sonnenlicht auf die Figur strömt; in der Haltung der Dargestellten, die ihren Kopf voller Sanftmut nach vorne neigt; und schließlich im Umgang mit dem Licht als entscheidende Komponente. Sogar Trubnikovas Gestalt mit ihren blonden Haaren und hellem Inkarnat scheint dem Typus einer Holländerin zu entsprechen, wie dies vom Künstler selbst mehrfach angemerkt wurde.233 Im Gegensatz zu Vermeer verzichtet Serov jedoch weitgehend auf Interieurdetails sowie auf bunte Lokalfarben und fasst die Komposition dynamischer auf, indem er die Raumachse und das Modell in die Diagonale positioniert und das Helldunkel wie das Nebeneinander zweier Extreme formuliert. Trubnikova scheint nicht bloß beleuchtet sondern aus Licht erschaffen und mit dessen Hilfe in Bewegung gesetzt zu sein, auch wenn ihr Vorwärtsschreiten, einem Atemzug gleich, leise und zaghaft bleibt. Das Licht ist nicht länger ein eigenständiges ‚äußeres‘ Element, das sich neugierig über Wandputz, Papier, Samt, Seide, Glas und Gold ausbreitet, sondern ein integraler Bestandteil der Dargestellten selbst und bekommt somit eine metaphysische Bedeutung. Dieses Lichtkonzept verdeutlicht, wie weit sich Serov seit seinem Trubnikova-Porträt des Vorjahres entwickelt hatte. Indem er ein Fenster als Lichtquelle einbezog, forderte er zudem die Kunstgeschichte heraus, denn damit entschied er sich für ein symbolisch konnotiertes, seit Jahrhunderten diskutiertes Motiv, das in der Romantik eine Blüte erfuhr und auch von seinen Zeitgenossen gerade in Porträts und Genrebildern oft aufgegriffen wurde.234 Dabei gelang es Serov, nicht ins Genrehafte zu verfallen – wie es beispielsweise Nikolai Ghe (1831–94) tat, als er Natalia Petrunkevich235 vor einem Fenster lesend darstellte und Rembrandt, in: Licht, Glanz, Blendung: Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Leuchtenden, hg. von Christina Lechtermann/Haiko Wandhoff, Bern 2008, S. 177–190, hier S. 185. 233 Serov schrieb an Olga Trubnikova am 19.7.1885 (1.8.1885) aus Den Haag, er käme zur Überzeugung, dass ihr Aussehen dem einer Holländerin gleiche (STG/QS, 49/12, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 24, S. 59–61, hier S. 61). Serovs Tochter Olga (1947, S. 14) erinnerte sich ebenfalls, dass ihr Vater der Meinung war, dass ihre Mutter wie eine Holländerin aussehe. 234 Ausgehend von Leon Battista Albertis (1404–72) fenestra aperta – der metaphorischen Gleichsetzung von Bild und Fenster – wird das Fenster zu einem Thema der kunsttheoretischen Diskussion. Zur Ikonografie dieses Motivs in der neuzeitlichen Malerei siehe u. a.: Erik Forssman, Fensterbilder von der Romantik bis zur Moderne, in: Kunsthistoriska studier tillgnäde Sten Karling, Stockholm 1966, S. 289–320; Thomas Grochowiak (Hg.), Einblicke-Ausblicke: Fensterbilder von der Romantik bis heute, AK Städtische Kunsthalle Recklinghausen, Recklinghausen: Staatliche Kunsthalle, 1976. 235 Наталья Ивановна Петрункевич, 1892, Öl auf Leinwand, 161 × 114,6 cm, STG, Moskau, Inv. 2645.

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13 Nikolai Ghe, Natalia Petrunkevich / Наталья Ивановна Петрункевич, 1892, Öl auf Leinwand, 161 × 114,6 cm, STG, Moskau, Inv. 2645

(1892, Abb. 13). Bei Ghe baut sich das Fenster wie eine Bühnendekoration direkt hinter der Figur auf und bietet einen Ausblick auf den sich zwischen den Bäumen windenden Weg. Damit wird der Blick nach draußen zur Metapher für eine Reise, welche die Lesende in ihren Gedanken vornimmt. Serov verzichtete indes gänzlich – vielleicht gerade wegen des Gefühls, einem Genrebild zu nah zu kommen – auf den Fensterausblick. Den Strickrahmen deutete er kaum an und die Hände, die die Handlung definieren, beließ er unvollendet. Später, im Bildnis Nadezhda Derviz mit Kind236 (1888–89), welches ikonografisch mit den Darstellungen der Mutter Gottes mit dem Jesusknaben korrespondiert, blieb es ebenfalls bei einem non finito. Außer den kompositionellen Eigenheiten zeitgenössischer Fotografie und der Lichtregie der altmeisterlichen Malerei galt Serovs Interesse bei der Gestaltung des Trubnikova-Porträts auch den Werken zeitgenössischer holländischer und deutscher Künstler, wie die motivischen Parallelen es erkennen lassen. An dieser Stelle ist ein noch dem Naturalismus verpflichtetes Gemälde Stopfende Alte am Fenster237 (1880) von Max Liebermann (1847–1935)

236 Портрет Надежды Яковлевны Дервиз с ребёнком, 1888–89, Öl auf Eisen, 142 × 71 cm, STG, Moskau, Inv. 24365. 237 Stopfende Alte am Fenster, 1880, Öl auf Leinwand, 55 × 49,5 cm, Privatbesitz, Deutschland.

3.3 Das erste Meisterwerk: Das Bildnis Olga Trubnikova (1886) als metaphysische Lichtinszenierung

exemplarisch zu nennen, das vermutlich von Vermeers Spitzenklöpplerin238 (1669/70) inspiriert wurde.239 Wie bei Serov wird hier die Komposition in die Diagonale aufgebaut und besteht aus einem Fenster links, einer davor gebeugten Frauenfigur sowie aus dem abgedunkelten Raum rechts. Beim Darstellen einer alten Arbeiterin inmitten eines alten Interieurs sind jedoch die narrativen Komponenten für Liebermann entscheidend, was auch in der festen Formgebung zum Ausdruck kommt. Seit den 1870er Jahren ließ sich Liebermann für seine „Arbeitsbilder“ wie dieses in Holland inspirieren, wo er im September 1881 Jozef Israëls (1824–1911), den führenden Vertreter der Haager Schule, kennenlernte.240 In dessen Œuvre hatte das Sujet der nähenden oder stopfenden Frau schon ab den späten 1850er Jahren einen festen Bestandteil. Israëls bezog sich damit auf die holländische Kunst des 17. Jahrhunderts, in der dieses Motiv als Allegorie weiblicher Tugend und als sentimentale Verkörperung der Einsamkeit sehr beliebt war. Eine der frühesten Arbeiten dieser Art, Im Waisenhaus von Katwijk241 (1866), das im Pariser Salon von 1866 und bei der Weltausstellung von 1867 gezeigt worden war, gehörte zu Werken, die sein internationales Renommee begründeten. Eine kleinere Variante dieses Gemäldes – Näherinnen242 (o. J.) – befand sich ab 1891 in der Sammlung Sergei Tretyakovs (1834–92), der im Gegensatz zu seinem Bruder Pavel ab den frühen 1870er Jahren zeitgenössische europäische Kunst sammelte und im Folgenden genauer vorgestellt wird.243 Kennzeichnend für Israëls’ spätere Näherinnen-Bilder – wie das aus der Sammlung Sergei Tretyakovs – ist die dumpfe Beleuchtung des Innenraums durch ein Fenster, die die besinnliche Stimmung unterstreicht.244 Diese Lichtregie evozierte bei Israëls’ Zeitgenossen Assoziationen zu Rembrandts chiaroscuro und ist mit der von Serov überaus vergleichbar.245

238 La Dentellière, ca. 1669/70, Öl auf Leinwand, 24,5 × 21 cm, Musée du Louvre, Paris, Inv. M. I. 1448. Das Bild wurde 1870 für die Louvre-Sammlung erworben. 239 Für Liebermann war holländische Malerei – sowohl die zeitgenössische als auch die der alten Meister – eine der wichtigsten Inspirationsquellen. Siehe dazu und zu Vermeer-Vergleich: Jenns E. Howoldt, Stille Arbeit, in: Jenns E. Howoldt/Birte Frenssen (Hg.), Max Liebermann – der Realist und die Fantasie, AK Hamburger Kunsthalle (u. a.) 7.11.1997–25.1.1998, Hamburg: Dölling und Galitz, 1997, S. 132f. 240 Zur ersten Begegnung von Liebermann und Israëls siehe: Thomas Andratschke, Die Bedeutung Hollands für Leben und Kunst Max Liebermanns, in: Thomas Andratschke/Heide Grape-Albers (Hg.), Max Liebermann und die Holländer, AK Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum 14.11.2006–18.2.2007 und Assen, Drehts Museum 18.3.–17.6.2007, Zwolle: Waanders, 2006, S. 8–55, hier S. 18. 241 Katwijki árvaleányok (In het Katwijkse Weeshuis, 1866, Öl auf Leinwand, 85 × 117,5 cm, Szépmüvészeti Museum, Budapest, Inv. 255.B, in: Dieuwertje Dekkers, Jozef Israëls: een succesvol schilder van het vissersgenre, Leiden: Primavera Pers,1994, S. C255–C260, Kat. 14; dies. 1999, S. 164–166, Kat. 20. 242 Швеи, o. J., Öl auf Leinwand, 59 × 78 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 3510. 243 Dekkers 1994, S. C260; Marina Senenko, The Pushkin Museum of Fine Arts. Collection of Dutch Paintings XVII–XIX centuries, Moskau: Red Square Publishers, 2009, S. 443, Inv. 3510. 244 Siehe dazu: Margreet Nouwen, Malheimat Holland, in: Howoldt/Frenssen 1997, S. 11–20, hier S. 19. 245 Zum Vergleich zwischen Israëls und Rembrandt siehe: R. de Leeuw, Jozef Israëls and Rembrandt, in: ­Dieuwertje Dekkers (Hg.), Jozef Israëls: 1824–1911, AK Groninger Museum 19.12.1999–5.3.2000 und Amsterdam, Joods Historisch Museum 17.12.1999–2.4.2000, Zwolle: Waanders, 1999, S. 42–53; Nouwen, in: Howoldt/ Frensen 1997, S. 19.

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14 Offenes Fenster. Flieder / Открытое окно. Сирень, 1886, Öl auf Leinwand, 49,4 × 39,7 cm, Nationales Museum der bildenden Künste der Republik Weißrussland, Minsk, Inv. РЖ-788

Ein weiteres Bild des Holländers, das Aquarell Neue Blume246 (1880), welches er in einer leicht veränderten Fassung in einem Gemälde (1881) wiederholte, bietet auch hinsichtlich der Kompositionen einen aufschlussreichen Vergleich: Die Dargestellte, die vor dem Tischchen neben dem Fenster links im Bild steht und gedankenversunken eine Topfblume gießt, wird von weichem Licht erfasst, das in ihre dunkle Kammer herein flutet. Wie Serov und Liebermann referierte hier Israëls Jan Vermeer, genauer gesagt das Gemälde Dienstmagd mit Milchkrug247 (ca. 1658), welches sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Six Sammlung befand und zu Amsterdams Hauptattraktionen zählte.248 Bei all diesen äußeren Gemeinsamkeiten, die Serovs und Israëls’ Bilder aufweisen, besteht zwischen ihnen jedoch ein grundsätzlicher Unterschied: Israëls malt einfach ein junges Mädchen vom Lande, dessen Einsamkeit er durch das Hinzufügen der blühenden Pflanze symbolisch überhöht, während Serov jegliche Sentimentalität der Vergeistigung weichen lässt. 246 The New Flower, 1880, Aquarel auf Papier, 42 × 23 cm, Toledo Museum of Art, Inv. 25.882. Wie Dieuwertje Dekkers in einer E-Mail an die Autorin vom 26.4.2012 betonte, ist es nicht möglich, dass Serov Israëls’ Neue Blume – sei es als Aquarell oder als Gemälde – sah, da beide sich 1885 bereits in Privatbesitz befanden. Siehe auch: Martha Kloosterboer, The New Flower, in: Dekkers 1999, S. 306f., Kat. 84. 247 Het melkmeisje, ca. 1660, Öl auf Leinwand, 45,5 × 41 cm, Rijksmuseum, Amsterdam, Inv. SK-A-2344. 248 Vgl. Dieuwertje Dekkers in einer E-Mail an die Autorin vom 26.4.2012.

3.3 Das erste Meisterwerk: Das Bildnis Olga Trubnikova (1886) als metaphysische Lichtinszenierung

Es steht außer Zweifel, dass Serov in Europa mit den neuesten Trends der deutschen und holländischen Kunstszene vertraut wurde. Liebermanns Gemälde wie Stopfende Alte am Fenster (1880) und Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus249 (1882) waren in den modernen Kreisen Deutschlands nicht nur sehr bekannt, sie lösten „ein weitverzweigtes Nähmädchengenre“ aus.250 In München zählte zu dessen Vertretern neben Gotthardt Kuehl251 und Walter Firle252 auch Fritz von Uhde (1848–1911), der sich in Paris 1879/80 an den Werken der Barbizon-Maler geschult hatte. In den 1880er Jahren wurde Uhde in Deutschland von vielen als „Revolutionär“ und „Vorkämpfer einer neuen Zeit“ gesehen und gern mit den französischen Impressionisten verglichen.253 In den Bildern wie Holländische Näherinnen254 (1883) verfolgte er jedoch wie Liebermann eine erzählerische Intention: Das Fenster wird darin zu einem Mittel, den Bildraum zu erweitern und die Aufhellung der Palette zu begründen, die wiederum das detailreiche Interieur und die Gewänder zum Vorschein bringt. Dass Serov im Gegensatz zu Liebermann und Uhde der Wiedergabe der Materialität kaum Beachtung schenkte, ist noch deutlicher in der Studie Offenes Fenster. Flieder255 (1886, Abb. 14) erkennbar, die wahrscheinlich im Vorfeld des Trubnikova-Porträts angefertigt wurde.256 Diesmal verzichtete er auf die Figur, verdrängte den Innenraum beinah vollständig und fasste die Komposition dynamischer auf. Das Bild zeigt ein Fragment des breiten Fensterrahmens, welches schräg zum linken Bildrand gekippt ist, als würde der Künstler die Existenz der waagerechten und senkrechten Achsen negieren. Zum Sujet wird damit der Ausblick auf den Fliederbaum und die Landschaft, die als eine unruhige pastose, verschmolzene Farbmasse aufgefasst werden. Das alles suggeriert den Eindruck, Licht und Luft würden durch das Fenster stürmisch hineinbrechen. Dieses protokubistische Malexpe-

249 Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus, 1881–82, Öl auf Leinwand, 78,5 × 107,5 cm, Städel Museum, Frankfurt a. M., Inv. 1351. 250 Richard Hamann/Jost Hermand, Naturalismus, Berlin: Akademie-Verlag, 1959, S. 160. Siehe auch: Dorothee Hansen (Hg.), Fritz von Uhde. Vom Realismus zum Impressionismus, Ostfildern-Ruit: Dr. Cantz’sche Druckerei, 1999, S. 78f., Kat. 8. 251 Gotthardt Kuehl (1850–1915) studierte an der Dresdener und der Münchner Kunstakademie, zählte 1873 zu den Gründern der Künstlergruppe Allotria, aus der 1892 die Münchner Secession hervorging; lebte ab 1879 überwiegend in Paris; griff 1884, wohl unter Liebermanns Einfluss, Genrethemen der Handwerker und Waisenkinder auf. In: Jutta Hülsewig-Johnen, Gotthardt Kuehl (1850–1915), in: Jutta Hülsewig-Johnen/Thomas Kellein (Hg.), Der deutsche Impressionismus, Aust. Kat. Kunsthalle Bielefeld 22.11.2009–28.2.2010, Köln: DuMont, 2009, S. 26. 252 Walter Firle (1859–1929), Münchener Porträt- und Genremaler, der mit seinen Variationen des Themas „Waisenhaus“ bekannt wurde. 253 Eduard von Keyserling, Fritz von Uhde, in: Kunst und Künstler, 1905, Jg. 3, S. 269. 254 Holländische Näherinnen (Geschwister in der Nähstube), 1883, Öl auf Leinwand, 60 × 48 cm, Sotheby’s London, 15.6.2004, Lot 33. 255 Открытое окно. Сирень, 1886, Öl auf Leinwand, 49,4 × 39,7 cm, Nationales Museum der bildenden Künste der Republik Weißrussland, Minsk, Inv. РЖ-788. 256 Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, 349f.) nannten sechs Studien, von denen fünf Flieder als Motiv haben und z. T. als Vorstudien zum Trubnikova-Porträt beschrieben werden, obgleich Autoren sie mit 1887 datieren. Vermutlich wurden aber alle sechs im Frühsommer 1886 in Edimonovo gemalt.

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riment stellt den erst einundzwanzigjährigen Serov als einen modernen Maler heraus, der den Innenraum fast abstrakt definiert und durch den freien Duktus und das Kippen der Bildachsen atmosphärische Phänomene auf die Leinwand überträgt. Die Werke, die Serov im Sommer 1886 malte, stehen somit emblematisch für seinen souveränen Umgang mit ikonografischen Traditionen und zeitgenössischen Trends. Sie zeigen zudem, dass der junge Maler inzwischen wusste, die plane, mit Farben bedeckte Leinwand gleichermaßen erfolgreich zur metaphysischen Lichtinszenierung und zur malerischen Formabstrahierung zu nutzen.

3.4 Ein ‚Professor‘ ohne Diplom Da Serov im März 1886 aufgrund unentschuldigten Fehlens aus der Kunstakademie exmatrikuliert wurde und nun in Gefahr stand, zum Militärdienst eingezogen zu werden, reiste er Anfang September, der Bitte seiner besorgten Mutter folgend, kurz nach St. Petersburg, um seine Angelegenheiten zu regeln.257 Nach diesem endgültigen und nicht ganz freiwilligen Bruch mit der Akademie, zog er nach Moskau um. Dort wurde er als „Herr Professor“258 von drei aufstrebenden Künstlern in ihre Werkstatt in der Lenivka Straße eingeladen. Außer dem bereits erwähnten Ilya Ostroukhov, der im Teehandelsunternehmen P. Botkin synovia beschäftigt war, gehörten zu diesem ‚Dreigespann‘ Savva Mamontovs Neffe Mikhail (1865– 1920) – dessen Vater Anatoly Mamontov259 sich ebenfalls als Mäzen und Kunstsammler hervortat – sowie Nikolai Tretyakov260 (1857–96), der Sohn des Sammlers Sergei Tretyakov. In dieser Werkstatt, die bis Serovs Hochzeit im Januar 1889 bestand, machten die vier Freunde Porträtstudien, ließen männliche und weibliche Modelle als Akt oder in historischen Trachten posieren und übten zur Abwechslung Fechten mit einem Privatlehrer.261 Dass auch etablierte Maler wie Polenov oder Surikov gelegentlich dort mitarbeiteten, bekundet die große Wertschätzung, die ihr Unterfangen in den Moskauer Kreisen erfuhr.262 Hier entstand ein – noch im Folgenden zu besprechendes – Bildnis Savva Mamontovs,

257 Siehe: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 37–38, S. 76f. und Bd. 2, Nr. 839, S. 351. 258 Ostroukhov beschwerte sich im September/Oktober 1886 gegenüber Serov, dass die Abwesenheit vom „Herrn Professor“ sich sehr bemerkbar mache und dieser sich mit seiner Fahrt nach Moskau beeilen solle, in: STG/QS, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 39, S. 77–79, hier S. 78. 259 Anatoly Ivanovich Mamontov (1840–1905) sammelte russische Malerei, besaß eine Typografie, einen Buchladen sowie eine Kunstwerkstatt, in der der Zerspannungsmechaniker Vasily Zviozdochkin (1876–1956) und der Maler Sergei Maliutin (1859–1937) im Jahr 1890 die ersten Matrioshkas kreierten. 260 Nikolai Sergeievich Tretyakov (1857–96), später Sekretär der Moskauer Vereinigung der Kunstfreunde (1860– 1918), Sprecher der Moskauer Stadtduma, Deputat der kaufmännischen Gemeinde, Mäzen. In: Samkov/ Silberstein 1971, Bd. 1, S. 127, Anm. 14. 261 Serov an Olga Trubnikova am 5.1.1887 aus Moskau, in: STG/QS 49/20, Moskau, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 41, S. 81–84, hier S. 82; Grabar 1914, S. 70; ders., 1965, S. 77f. 262 Vladimir Kruglov, Konstantin Alexeievich Korovin, St. Petersburg: Khudozhnik Rossii, 2000, S. 20.

3.4 Ein ‚Professor‘ ohne Diplom

dessen Gastfreundschaft Serov in dieser Zeit aufgrund seiner schwierigen wirtschaftlichen Situation verlegen in Anspruch nehmen musste.263 Im Herbst und Winter 1886/87 kam Serov außerdem regelmäßig nach Abramtsevo und malte dort zahlreiche Landschaften, darunter Eichen, die ihr Laub verlieren264 (1886), und Kleiner Teich265 (1886). Außerdem wandte er sich zeitweise religiösen und mythologischen Motiven zu. So machte er unter dem Einfluss von Vrubel, der 1884–89 mit Bemalungen und Restaurierungen in den Kiewer Kirchen beschäftigt war, einige Studien mit christlicher Thematik. Sein Interesse für die Antike schlug sich in Bewunderung der „kleinen griechischen Figuren“266 aus der Eremitage nieder und fand in der Ausmalung eines Deckengemäldes in Arkhangelskoie auch praktische Anwendung: Sein Griechischer Gott Helios in der Quadriga (1886–87) brachte dem Künstler genug Mittel für die nächste Europareise ein.267 Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass Serov seit seinem Aufenthalt in Europa im Sommer 1885 viel unterwegs war. Dieser ständige Ortswechsel ist eine Metapher seiner Suche nach der eigenen Sprache und zugleich die physische Manifestation seines Wunsches, die von der Akademie und den Peredvizhniki gesetzten ästhetischen Grenzen zu sprengen: Er tastete sich an diverse Gattungen heran und floh häufig aufs Land, um die Natur und die Mysterien des Lichtes zu erforschen. Noch als Junge von Koepping und Repin zur Pleinairmalerei ermutigt, demonstrierte Serov bereits Anfang der 1880er Jahre – in Stücken wie Dneprufer bei Nenasytensk268 (1880) oder Brunnen269 (1881) – sein technisches Können und machte nun das Malen unter freiem Himmel zu einem essenziellen Bestandteil seiner künstlerischen Praxis. Seine direkten Vorbilder waren Repin und Polenov, die in den 1870er Jahren in Paris wie die Barbizon-Maler und die Impressionisten Freilichtmalerei betrieben und danach strebten, durch die unmittelbare Naturanschauung zur künstlerischen Wahrheit zu gelangen.270 Damit gehörten die Abramtsevo-Künstler von Anfang an der gesamteu-

263 Serov an Olga Trubnikova am 5.1.1887 aus Moskau, in: STG/QS 49/20, Moskau, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 41, S. 81–84, hier S. 81f.; Alexandr Golovin, Vospominaniia o Serove, in: Hollerbach 1924, S. 27–33, hier S. 27. 264 Облетающие дубы, 1886, Öl auf Holz, 18,5 × 24 cm, sign. und dat. links unten, STG, Moskau, Inv. Ж-1243. 265 Прудик. Абрамцево, 1886, Öl auf Holz, 34,5 × 24,5 cm, STG, Moskau, Inv. 1516. 266 „я был в Эрмитаже [...] внизу – в античном [...] давно не получал такого красивого, живого настоения, какое дали мне маленкие греческие фигурки, почти игрушки“ Serov an Olga Trubnikova am 5.1.1887 aus Moskau, in: STG/QS 49/20, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 41, S. 81–84, hier S. 81. 267 Греческий Бог Гелиос в квадриге, 1887, Öl auf Leinwand, ø 274 cm, Tulskii Museum der bildenden Kunst, Tula, Inv. Ж-277. Der Auftrag kam, so Grabar (1914, S. 70; 1965, S. 78–80) von N. D. Selezniov (?). 268 Ненасытенский порог Днепра, 1880, Öl auf Leinwand auf Karton, 28,5 × 45,6 cm, sign. links unten, dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 5716. 269 Колодец, 1881, Öl auf Leinwand, 32 × 25,3 cm, STG, Moskau, Inv. Ж-1189. 270 Dmitry Sarabyanov, Repin i Russkaia zhivopis vtoroi poloviny XIX veka, in: Elena Borisova/Gleb Pospelov/Grigory Sternin (Hg.), Iz istorii russkogo iskusstva vtoroi poloviny XIX–nachala XX veka. Sbornik issledovany i publikatsy, Moskau: Iskusstvo, 1978, S. 7–17, hier S. 16f.; ders., Istoriia russkogo iskusstva vtoroi poloviny XIX veka: Kurs lektsy, Moskau: Izdatelstvo Moskovskogo Gosudarstvennogo Universiteta, 1989, S. 188f.; Nina Dmitriieva, Peredvizhniki i impressionisty, in: Borisova/Pospelov/Sternin 1978, S. 18–40, hier S. 23.

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3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache

ropäischen Bewegung des Pleinairismus an: Den gleichen Bestrebungen – wenngleich mit unterschiedlichen Ergebnissen – folgten die toskanischen Macchiaioli (1860er), die einzelnen Vertreter der Haager Schule (1870er–90er), die Mitglieder des Leibl-Kreises und ihre Nachfolger in München (1870er–80er), die Maler der sog. nuova scuola lombarda in Italien (1880er–90er), die dänischen Skagenmaler (1880er–90er) sowie die Künstler in Worpswede (ab 1889) und Dachau (um 1900).271 Für Serovs Verbundenheit mit progressiven Kunstbewegungen sprechen auch die zunehmende Individualisierung seiner Malsprache, seine Auseinandersetzung mit gleichen klassischen Vorbildern sowie die Bezugnahme auf gleiche Motive und ikonografische Formeln. Er verzichtete auf belehrende Sujets und bemühte sich nicht, in der Wiedergabe der Materialität seine Fertigkeiten unter Beweis zu stellen. Stattdessen suchte er in der ihn umgebenden Wirklichkeit nach den markanten Licht- und Formenkonstellationen, die er zum Anlass nahm, den abstrakten formalen Themenbereichen wie Licht, Bewegung oder Harmonie nachzugehen. Bereits jetzt war „der Professor ohne Diplom“ Serov den meisten seiner diplomierten Kollegen weit voraus.

3.5 1887: Italien und die Folgen Während der Reise nach Italien im Frühsommer 1887, die er gemeinsam mit Ilya Ostroukhov und den Neffen Savva Mamontovs, Mikhail und Yury, unternahm, schöpfte Serov neue Impulse für sein weiteres Schaffen. Nach einem kurzen Zwischenhalt in Wien272 in Italien angekommen, besuchten die vier Freunde Venedig, Florenz und Mailand. Aus der Lagunenstadt schrieb Serov an Trubnikova, wie sehr er sich nach „Sorglosem“ und „Erfreulichem“ in seiner Malerei sehne.273 Den Grund für die Größe der Renaissancekünstler sah er in der „Leichtigkeit ihres Seins“ und bedauerte die „Schwermut“, die die Werke seiner Zeitgenossen erfüllte.274 Er selbst blieb der unbeschwerten Sinnlichkeit des Südens nicht fremd und fing 271 Es sei angemerkt, dass in der Veränderung des Verhältnisses der Künstler zur Natur die Philosophie von Jean-Jacques Rousseau (1712–78) eine wichtige Rolle spielte. Maltechnisch wegweisend waren die Engländer John Constable (1776–1837), dessen Bilder 1824 in Paris ausgestellt wurden, Richard Parkes Bonington (1802–28) sowie William Turner (1775–1851). In Deutschland gilt Carl Blechen (1789–1840) mit seinen 1828/29 entstandenen italienischen Skizzen als Wegbereiter dieser Strömung. In Russland trifft dies auf Alexandr Ivanov (1806–58) zu. Siehe: Czymmek, Götz (Hg.), Landschaft im Licht. Impressionistische Malerei in Europa und Nordamerika 1860–1910, AK Köln, Wallraf-Richartz-Museum 6.4.–1.7.1990 und Kunsthauses Zürich, 3.8.–21.10.1990, Köln: Wallraf-Richarts-Museum, 1990. 272 Über die Abenteuer in Wien, wo alle vier Freunde von der Polizei festgenommen wurden, berichtete Ilya Ostroukhov in seinen Erinnerungen, in: STG/QS 10/769, Moskau, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 244–252. Zur Italienreise siehe: Grabar 1965, S. 81–85, S. 319. 273 „Я хочу, хочу отрадного и буду писать только отрадное“, Serov an Olga Trubnikova am 17.5.1887 (29.5.1887) aus Venedig, in: STG/QS 49/22, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, S. 89–91, hier S. 90. 274 „я уверен, что все, что делалось воображением и рукой художника – все, все делалось в почти пьяном настроении, оттого и хороши эти мастера века Ренессанса. Легко им жилось, беззаботно [...] в нынешнем веке пишут все тяжелое, ничего отрадного.“ Ebd.

3.5 1887: Italien und die Folgen

15 Piazza San Marco / Площадь Св. Марка в Венеции, 1887, Öl auf Leinwand, 22 × 31 cm, STG, Moskau, Inv. 11191

seine Stimmung in kleinen Stadtstudien275 ein (Abb. 15 und Taf. III). Mit ihrem fleckigen Farbauftrag und ihrer transparenten Leuchtkraft weisen sie schon die wesentlichen Merkmale von Serovs neuer Sprache auf, die er im Anschluss an seine Reise im Bildnis der Vera Mamontova entfaltete.276 Vera Mamontova (1887) Als Serov Ende Juni 1887 nach Abramtsevo fuhr, entstand dort ein Porträt, in dem sein neues künstlerisches Credo realisiert wurde: das Bildnis der ältesten Tochter Savva Mamontovs, Vera (1875–1907), das heute als Mädchen mit Pfirsichen277 (Taf. V) bekannt ist. Es zeigt Vera hinter einem weiß gedeckten Esszimmertisch sitzend. Sie beugt sich leicht nach vorn, lässt die Unterarme auf dem Tisch ruhen und greift mit beiden Händen nach einem Pfirsich. Ihr Gesicht zum Betrachter gewandt, fixiert sie ihn mit ihrem Blick und fesselt so seine 275 Площадь Св. Марка в Венеции, 1887, Öl auf Leinwand, 22 × 31 cm, sign. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 11191; Набережная Скьявони в Венеции, 1887, Öl auf Leinwand, 22,5 × 31,5 cm, STG, Moskau, Inv. 11192. 276 Vgl. Bakushinsky 1935, S. 102 277 Девочка с персиками (Верa Мамонтовa), 1887, Öl auf Leinwand, 91 × 85 cm, sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 13011. Dieser Titel tauchte erst nach 1914 auf.

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3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache

Aufmerksamkeit. Die intensive Kommunikation mit dem Gegenüber, die Veras Erscheinung bestimmt, macht ersichtlich, welche Konzeptverschiebung verglichen mit dem großen Trubnikova-Porträt von 1886 hier stattfand: „Trubnikova ist ganz dort, Mamontova ist ganz da“, wie Mikhail Allenov im Gespräch mit der Autorin anmerkte.278 Diese Feststellung lässt sich auch auf die Gewichtung altmeisterlicher und zeitgenössischer Einflüsse übertragen. Die klassische Komposition hatte wahrscheinlich zum Vorbild Caravaggios Lautenspieler279 (ca. 1595, Abb. 16), ein Bild, das 1808 in die Eremitage kam: Dafür sprechen die Haltung, die Blickführung und die zentrale Positionierung der Figur hinter einem Tisch, auf dem ein Stillleben arrangiert ist.280 Bei Caravaggio werden allerdings Allegorien der Sinne – Hören, Sehen, Schmecken, Fühlen – aus der Dunkelheit heraus theatralisch in das Scheinwerferlicht gerückt. Bei Serov ist die bestimmende Komponente kein dramatisches chiaroscuro, sondern weiches Sonnenlicht, das durch das große Doppelfenster oben rechts hinein streut und den gesamten Raum quer durchflutet. Diese Helligkeit wird durch die Farbgebung entscheidend mitbestimmt. Die akribische, polychrome Strukturierung der weißen Tischdecke, der Wände und des Fensterrahmens suggeriert zudem eine mit Luft- oder Lichtbewegung vergleichbare Vibration. Infolgedessen scheint Vera von einer Aureole aus Licht und Luft umfasst zu sein. Die Raumillusion wird mitunter durch die breite Tischfläche und die Anordnung der Stühle hinter dem Tisch evoziert. Die dunkelbraunen Holzmöbel akzentuieren zugleich die dominante Helligkeit der Pastelltöne. Allerdings wird das Leuchten der Farben nicht primär durch das Hell-Dunkel oder durch das Zufügen von Weiß erzeugt – wie es in den Werken Repins und Polenovs in den späten 1870er und frühen 1880er Jahren stets der Fall ist. Diese Wirkung generieren die Farbkontraste zwischen Hellblau und Gelb sowie zartem Rosa und Grün.281 So zum Beispiel in der Gegenüberstellung der rosafarbenen Bluse und der grünen Blätter im Hintergrund oder des bläulich-grau schimmernden Interieurs und des rosigen Ockers des Gesichts. Mit blauen und gelben Tupfern aufgelockert, werden diese Bereiche farbig in Bezug zu den anderen Bildelementen gesetzt. Serov beschäftigte sich folglich intensiv mit der malerischen Gestaltung der Dinge und kennzeichnete ihre Materialität lediglich mit dem Farbton. Dabei variierte er stets seine Pinselführung, was die Oberflächenvibration ferner verstärkte. Sein Duktus ist an einigen wenigen Stellen – der rechte Arm und der Türrahmen – sehr flach. Andere Bereiche – wie die linke Hand, Messer und Blätter auf dem Tisch – wurden skizzenhaft gehalten. Nahezu transparent beließ er das Blattwerk hinter dem Fenster. Eine Ausnahme bildet die Kopfpartie, die, wie die vielen feinen Farbrisse verraten, mehrfach übermalt wurde. Im Gesicht sind die punktuell eingesetzten rosaroten Töne absolut glatt und lavierend ausgearbeitet.

278 „Трубникова она вся там, а Мамонтова она вся здесь.“ Mikhail Allenov zu der Autorin im Mai 2012. 279 Лютнист, ca. 1595, Öl auf Leinwand, 94 × 119 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg, Inv. 45. 280 Vgl. Leniashin 1989, S. 26f., nur als Abbildung, ohne Kommentar. 281 Viacheslav Filippov, Impressionizm v russkoi zhivopisi, Moskau: Bely gorod, 2003, 145f.

3.5 1887: Italien und die Folgen

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16 Michelangelo Merisi da Caravaggio, Lautenspieler / Лютнист, ca. 1595, Öl auf Leinwand, 94 × 119 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg, Inv. 45

Dieselbe Technik nutzte der Maler auch bei der Gestaltung der Haare, die zunächst den Eindruck einer raschen Pinselführung hervorruft. In der sowjetischen und in der neueren russischen Forschung wurde Serovs Vera Mamontova wiederholt als ein neckisches Kind gedeutet, das Frische und Jugend in sich vereint.282 Eine gänzlich andere Interpretation suggerierte bereits Grabar, als er 1914 eine Analogie zu Alexandr Pushkins Tatiana aus Evgeny Onegin (1833) zog, die ihre Liebe zum Protagonisten in einem langen Monolog gesteht.283 1947 führte Mikhail Alpatov die Gestalt Natasha Rostovas – Lev Tolstoys Protagonistin aus Krieg und Frieden (1868/69) – als ein weiteres komparables Beispiel an und beschrieb Mamontova zutreffend als „strahlende Verkörperung des Lebens, des seelischen Friedens und der Bereitschaft zu lieben“.284 Nicht mehr ein Kind und noch keine Frau, zieht dieses junge Wesen den Betrachter mit seinem Blick an, ohne jedoch Caravaggios überschwängliche Sinnlichkeit auszustrahlen. Damit ging Serov trotz der starken mimetischen Komponente über die Gattungsgrenze des Porträts hinaus und erschaffte das Abbild eines Gefühlzustandes – der ersten vergänglichen Verliebtheit.

282 Elena B. Murina/Dmitry V. Sarabyanov, V. A. Serov, in: N. P. Lapshin/Gleb G. Pospelov (Hg.), Istoriia russkogo iskusstva, Bd. 10, Buch 1, Moskau: Nauka, 1968, S. 179–249, hier S. 185f.; Valentina Kniazeva/Irina Pruzhan, Russky portret kontsa XIX–nachala XX veka, Moskau: Izobrazitelnoie iskusstvo, 1980, o. S., Nr. 12; Ekaterina Allenova, Valentin Serov, Moskau: Bely gorod, 2000, S. 50. 283 Grabar 1914, S. 72. 284 „светлое воплощение жизни, душевного здоровья и готовности любить“, Alpatov 1947, S. 22.

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3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache

Maria Simonovich (1888) Als direkter Nachklang des Mamontova-Porträts entstand im Sommer 1888 in Domotkanovo bei Derviz das Bildnis von Serovs Cousine Maria Simonovich (1864–1955), das heute den Titel Junge Frau im Sonnenschein285 (Taf. VI) trägt. Die atmosphärische Thematik wurde darin erweitert, indem das Bildgeschehen ins Freie verlegt wurde: Die Dargestellte sitzt auf einer Bank, lehnt sich gegen den Stamm eines großen schattigen Baumes und richtet ihren Blick auf den Betrachter. Hinter der Gelassenheit der Pose verbirgt sich erneut eine komplexe asymmetrische Komposition. Die nach links als Kniestück situierte Figur bildet eine gegen die Blickführung laufende Diagonale, welche an die gegenläufige Schräge des Stammes stößt und damit in ihrer Stellung fixiert wird. Die schräg gestellte Bank vorne links und der Baum auf der Wiese hinten rechts bilden perspektivische Bezugspunkte, die einen Tiefeneffekt suggerieren. Die Landschaft, die sich rechts oben öffnet, beschäftigt den Betrachter jedoch nur kurzzeitig, denn sein Blick wird durch die dunkle Waldkulisse und das dichte Blattwerk versperrt. Die Sitzhaltung des Modells – mit den im Schoß zusammengelegten Händen –, das Heran­ rücken der Figur an den Bildrand und der intensive, zur Kommunikation auf­fordernde Blick, lassen vermuten, dass Serov diesmal beim Komponieren an Baldassare Castiglione286 (1514–15, Abb. 17) von Raffaello Sanzio da Urbino (1483–1520) dachte. Raffaels Bildnis, das seit 1793 im Louvre ausgestellt war, zählte zu dessen bekanntesten Werken und war Serov – selbst wenn er sich an seine frühen Besuche im Louvre kaum erinnern konnte – sicherlich aus Abbildungen vertraut: spätestens seit den Feierlichkeiten zu Raffaels 400-jährigem Jubiläum an der Petersburger Kunstakademie im Jahr 1883, die ihm und seinen Freunden den Anlass gaben, die Fotoaufnahmen nach den Arbeiten des Renaissancemeisters genau zu studieren.287 Allerdings verfolgte Serov ein eigenes Konzept. Anstelle der Anspannung, die Castiglione wegen der aufrechten Haltung immanent ist, entschied er sich für ein entspanntes Zurücklehnen und unterstrich dies durch die locker ineinander gelegten Hände. Das Fokussieren auf das Modell, das Raffael durch den neutralen Fond festlegte, wurde durch die Harmonie zwischen Mensch und Natur ersetzt. Und wenngleich beiden Werken durch das Heranrücken der Figur an den unteren Rand das Unmittelbare innewohnt, erweckt das Castiglione-Porträt den Eindruck eines wortreichen Dialogs, während Serov vielmehr das stille Beisammensein sucht.288

285 Девушка, освященная солнцем (Мария Симонович), 1888, Öl auf Leinwand, 89,5 × 71 cm, STG, Moskau, Inv. 1518. Dieser Titel wurde erst nach 1914 verwendet. 286 Portrait de Baldassare Castiglione, écrivain et diplomate (1478–1529), 1514–15? Öl auf Leinwand, 82 × 67 cm, Musée du Louvre, Paris, Inv. 611. 287 „Было у нас два торжества по поводу 400-летнего юбилея Рафаэля. [...] Лично для нашего кружка эти празднества имели то значение, что мы всмотрелись в него ещё раз со вниманием и благодаря воспроизведению его картин фотографией могли сделать самостоятельный о нем вывод“, Vrubel an seine Schwester Anna in April 1883 aus St. Petersburg, zit. nach: Gomberg-Verzhbinskaia/Novikov/Podkopaieva 1976, Nr. 10, S. 37–39, hier S. 38. 288 Castiglione schrieb in einem an seine Gattin Ippolita Torella gerichteten Gedicht (ca. 1516), Raffaels Porträt wirke so lebendig, dass Ippolita in der Abwesenheit ihres Ehemannes zu ihm spreche. Siehe dazu: Johann

3.5 1887: Italien und die Folgen

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17 Raffaello Sanzio da Urbino, Baldassase Castiglione, Schriftsteller und Diplomat (1478–1529) / Portrait de ­Baldassare ­Castiglione, écrivain et diplomate (1478–1529), 1514–15?, Öl auf Leinwand, 82 × 67 cm, Musée du Louvre, Paris, Inv. 611

Ebenso wichtig war es dem Künstler, die Stimmung eines langen Sommernachmittags auf dem Land widerzugeben. Der Moment, in dem Maria Simonovich den Betrachter erblickt, scheint unendlich zu sein, obwohl die Umgebung sich in einer ständigen Bewegung befindet.289 Der atmosphärische Effekt gründet hier – mehr noch als in der landschaftlichen Szenerie – in vielen rhythmisch gesetzten Sonnenflecken. Dabei werden die Lichtstellen im Hintergrund teilweise auf das reine Gelb reduziert und die Schattierungen heller Vordergrundspartien in Rot und Grün ausgeführt. Die unruhige Pinselführung und die Vielfarbigkeit fangen das bewegte Spiel zwischen den Sonnenstrahlen und den Blätterschatten so gut ein, dass das leise Rauschen des Laubes in der warmen Sommerluft fast hörbar wird. Die Figur wird in dieses bewegliche Licht regelrecht eingetaucht. Die mosaikähnliche Beschaffenheit der Maloberfläche trägt zu dieser Wirkung zusätzlich bei. Insgesamt ist Serovs Duktus verglichen mit dem Mamontova-Bildnis dickflüssiger und wesentlich souveräner. So bestehen Bäume und Gras aus Strichen und Tupfern. Die Baumrinde ragt relief­artig hervor. Die Arme der Dargestellten werden breit und pastos gemalt, sodass die grob untermischten Primärfarben noch sichtbar sind. Eine klare Trennung zwischen Vorder- und Hintergrund

David Passavant, Raffael von Urbino, Bd. 2, Leipzig 1839, S. 188; John Shearman, Raffael in Early Modern Sources. 1483–1602, New Haven/London 2003, S. 495–500. 289 Filippov 2003, S. 149.

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3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache

wird vermieden, womit maltechnisch eine Verbindung zwischen der Figur und der Landschaft kreiert wird. Auch farbig wird diese Einheitlichkeit hervorgehoben: Mit Ausnahme weniger Stellen untermischte der Künstler alle Farben – sogar die des Inkarnats – mit Grün. Trotz der gestiegenen Fleckigkeit wird das Gesicht in einem vielschichtigen lasierenden Farbauftrag ausgearbeitet. Wie wirkungsvoll ein solcher Kontrast sein kann, wird am Nebeneinander der Haare und der Baumrinde manifest: Beide Partien haben die gleiche blau-braune Farbigkeit, werden aber als separate Elemente wahrgenommen. Ein starkes Craquelé, das fast die gesamte Oberfläche durchzieht, verweist auf zahlreiche Übermalungen. Wie die Dargestellte in ihren Erinnerungen schilderte, dauerten die Sitzungen ganze drei Monate an.290 Fast jeden Tag verbrachte Serov mit ihr in einem Lindenpark, wobei er zunächst schweigend Simonovichs Sitzhaltung millimetergenau fixierte. Immer wieder entfernte er die vermeintlich misslungenen Stellen mit einem Malmesser und legte über den noch nassen Untergrund eine neue, bisweilen fast transparente Malschicht.291 Seine Arbeit brach der Künstler erst ab, als ihm sein Modell nach St. Petersburg ‚weglief‘. Von Künstlern bewundert. Von Kritikern zerrissen. Anfang Dezember 1888 schickte Serov die beiden Porträts sowie eine Landschaft und das Porträt des Komponisten Pavel Blaramberg292 (1888) zum Wettbewerb der Moskauer Vereinigung der Kunstfreunde (1860–1918), welcher in der Malaia Dmitrovka 1 anlässlich der VIII. Ausstellung der Vereinigung (25. Dezember–2. Februar) veranstaltet wurde. Zuständig für die Präsentation der insgesamt 32 zum Wettbewerb eingereichten Werke sowie der anderen Ausstellungsarbeiten waren Serovs Freunde Ilya Ostroukhov, der 1886 der Vereinigung beigetreten war, und Nikolai Tretyakov, der sich seit 1882 dort als Sekretär betätigte.293 Da Serov in der Zeit als Bühnenbildner an einer Oper in St. Petersburg mitwirkte, waren Ostroukhov und Tretyakov diejenigen, die sich um die Übergabe und Hängung seiner Werke kümmerten.294 Dem Vorschlag Ostroukovs folgend wurde das Bildnis Mamontova als Porträt von V. M. (Nr. 97) und das von Maria Simonovich als Studie einer jungen Frau (Nr. 71) ausgestellt; die heute als Verwachsener Teich. Domotkanovo295 bekannte Landschaft (1888) betitelten sie als Dämmerung (Nr. 76).296 290 A. Shchekotova, Devushka, osveshchionnaia solntsem. Vospominaniia M. Ya. Simonovich-Lvova, in: Iskusstvo, Moskau 1938, S. 221f., hier S. 222; Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 251f. 291 Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 251 und S. 254, Anm. 3. 292 Павел Иванович Бларамберг, 1888, Öl auf Leinwand, 59 × 49 cm, sign. und dat. rechts oben, STG, Moskau, Inv. 15702. 293 Ilya Ostroukhov an Serov am 7.12.1888 aus Moskau, in: STG/QS, Moskau, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 64, S. 115–118. 294 Es handelte sich um die Oper seines Vaters Judith (1862), die am 17.10.1889 im Mariinsky Theater aufgeführt werden sollte. Zeitgleich arbeitete Serov an dessen Bildnis und bereitete sich auf seine Hochzeit (29.1.1889) vor. Siehe: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, S. 111–115, 121–126, 131, 133f., 139–141 und 145–149. 295 Заросший пруд. Домотканово, 1888, Öl auf Leinwand, 70,5 × 89,2 cm, sign. u. dat. rechts oben, STG, Moskau, Inv. 5343. 296 Ilya Ostroukhovs an Serov am 11.12.1888 aus Moskau, in: STG/QS, Moskau, zit. in: Samkov/Silberstein, Bd. 1, Nr. 66, S. 119–121.

3.5 1887: Italien und die Folgen

Für seine Vera Mamontova erhielt Serov von der Jury die erste Prämie in der Kategorie Porträt. Sicherlich war das nicht seinen guten Beziehungen zu den Mitgliedern der Vereinigung zuzuschreiben. Denn gerade bei den jungen Künstlern riefen seine Werke große Bewunderung hervor und dienten vielen von ihnen als Anregung. So beschrieb später Alexandr Golovin (1863–1930) das Mamontova-Bildnis als eine „Sensation“ der Ausstellung und das der Maria Simonovich als ebenso bemerkenswert.297 Noch Jahre danach griff er in seinem Bild Mädchen und Porzellan298 (1916) das Motiv eines jungen Modells auf, das in einem lichtdurchfluteten Zimmer an einem Tisch sitzt. Das Simonovich-Porträt kann wiederum Konstantin Somov (1869–1939) zu seiner Darstellung von Natalia Ober299 (1896) bewegt haben, die sowohl in der Komposition als auch in der pastosen Pinselführung Gemeinsamkeiten damit aufweist. Das Gleiche gilt für Boris Kustodiev (1878–1927), der 1909 seine Ehefrau300 vor einem Birkenstamm in grüner Landschaft darstellte. Auch Vrubel wird Serovs Vera Mamontova in Erinnerung gehabt haben, als er ihre jüngere Schwester Alexandra301 zeichnete und sie dabei ‚genau anderes‘ situierte: Er setzte sie als Rückenfigur an den – offenbar denselben – weiß gedeckten Esszimmertisch und ließ sie dem Betrachter einen ernsten Blick über die Schulter zuwerfen (1890/91). Möglicherweise inspirierte Serov zudem Sergei Vinogradov (1870–1938) zu dessen Genrebild Im Haus302 (1912), das ein junges Mädchen stehend an einem Tisch mit Früchten und Blumen zeigt. Zweifelsohne lässt sich Serovs Einfluss im Bildnis Varia Adoratskaya303 (1914) von Nikolai Fechin (1881–1951) erkennen. Nicht nur platzierte Fechin den weiß bedeckten Tisch diagonal vor einer weißen Wand, er gab seinem Modell einen Pfirsich in die Hände. Wie ein Zitat nach Serov wirkt ferner Verochka304 (1964) von Grabars Schüler Andrei Mylnikov305 (1919–2012). Sogar im Bildnis Marie Cohn306 (1900, Abb. 18) von Anders Zorn (1860–1920), dem führenden schwedischen Maler seiner Zeit, ist Serovs Wirkung unverkennbar: Auch hier schaut

297 „портрет Веруши Мамонтовой [...] произвел сенсацию [...] он был положительно откровением. Не менее замечательна его „Девушка под деревом, освещенная солнцем“.“ Golovin, in: Hollerbach 1924, S. 29. 298 Девочка и форфор (Фрося), 1916, Öl auf Leinwand, 146 × 97,2 cm, STG, Moskau, Inv. 9056. 299 Наталья Францевна Обер, 1896, Öl auf Leinwand, 105 × 68,5 cm, STG, Moskau, Inv. 9176. 300 Юлия Евстафьевна Кустодиева, 1909, Tempera, Pastell auf Karton, 96 × 71 cm, Shevchenko-Kunstmuseum, Odessa, Inv. Г-887. Vgl. Dmitri Sarabjanow [Dmitry Sarabyanov], Valentin Serow. Der erste Meister der Russischen Malerei, Bournemounth: Parkstone, 1996, S. 14, als Abbildung, ohne Kommentar. 301 В доме, 1890/91, Bleistift auf Papier, 32,2 × 47,2 cm, STG, Moskau, Inv. 24354. Alexandra Mamontova (1878– 1952) gründete 1918 das Abramtsevo-Museum, das sie bis zur ihrer Inhaftierung 1926 leitete. 302 В доме, 1912, Öl auf Leinwand, 82 × 60 cm, STG, Moskau, Inv. 20795. 303 Варя Адоратская, 1914, Öl auf Leinwand, 135 × 145 cm, Staatliches Museum der bildenden Künste der Republik Tatarstan, Kazan, Inv. Ж-938, КП-144. Fechin griff das Motiv wieder in seinem Bild Girl ­Holding Peaches (o. J., Öl auf Leinwand, 58,42 × 49,53 cm, Fred Jones Jr. Museum of Art, University of Oklahoma). 304 Верочка, 1964, Öl auf Leinwand, 100 × 100 cm, STG, Moskau, ЖС-623. 305 Andrei Andreievich Mylnikov (1919–2012), Professor für Malerei an der Russischen Kunstakademie, ab 1997 Vize-Präsident. 306 Marie Cohn, 1900, Öl auf Leinwand, 65,7 × 52 cm, Privatbesitz, Schweden.

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3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache

18 Anders Zorn, Marie Cohn, 1900, Öl auf Leinwand, 65,7 × 52 cm, Privatbesitz, Schweden

den Betrachter ein sonnengebräuntes, brünettes Mädchen an, das große dunkle Augen, kräftige Augenbrauen und runde gerötete Wangen besitzt. Es trägt eine luftige weiße Bluse sowie rote Schleifen am Kragen und im Haar und wird als Halbfigur vor einer weißen Gardine platziert. Die schnell und breit aufgelegten Weiß-, Rot- und Rosatöne erzeugen den Effekt des strahlenden Lichts und der Frische. Dass Zorn Serovs Bildnis kannte, ist über jeden Zweifel erhaben: Als er 1897 anlässlich der von Diaghilev veranstalteten Ausstellung skandinavischer Künstler (St. Petersburg, Oktober–November 1897) nach Russland kam, wurde er in Moskau von Savva Mamontov empfangen, den er ein Jahr zuvor in Paris porträtiert hatte.307 Wie die obigen Beispiele bestätigen, ist der Nachklang von Serovs frühen Porträts noch Jahre später in den Werken seiner Zeitgenossen und Nachfolger zu hören. Die Kritiker verfehlten indes, die Bedeutung der VIII. Ausstellung der Moskauer Vereinigung der Kunstfreunde zu erkennen – und das trotz der Beteiligung weiterer junger Talente wie Konstantin Korovin (1861–1939) und Isaak Levitan (1860–1900). Sowohl in der slawophil als auch in der westlich gesinnten Presse wurde diese Schau als schwach und vom Publikum kaum

307 Anna Poznanskaia, Portret S. I. Mamontova, in: Anna Poznanskaia/Vadim Sadkov/Liubov Savinskaia (Hg.), Gosudarstvenny muzei izobrazitelnykh iskusstv imeni A. S. Pushkina. Sobraniie zhivopisi. Germaniia, Avstriia, Shveitsaria XV–XX veka. Daniia, Islandiia, Norvegiia, Finliandiia, Shvetsia XVIII–XX veka, Moskau: Krasnaia ploshchad, 2009, S. 419f., Kat. 384.

3.5 1887: Italien und die Folgen

wahrgenommen beschrieben.308 Serovs Bilder stießen auf ein geteiltes Echo. Wenngleich es durchaus anerkennende Worte über seine Begabung gab, wurden vermeintliche technische und kompositionelle Mängel moniert. In der konservativen Zeitung der Moskauer Universität Moskovskiie vedomosti (Moskauer Nachrichten, 1756–1917) bedauerte einer der führenden Kunstkritiker Sergei Flerov309 die „orthografischen fehlerhafte“ Perspektive im Mamontova-Porträt.310 In der liberal-konservativen Petersburger Zeitung Novoie vremya (Neue Zeit, 1868–1917) verwies Alexandr Kurepin311 auf die angeblich schwache Zeichnung und das Kolorit.312 Vladimir Sizov313 lobte in der liberalen Russkiie vedomosti (Russische Nachrichten, 1863–1918) die lebhafte Wirkung des Bildnisses von Simonovich, beanstandete aber den Farbauftrag im Gesicht von Mamontova.314 Vor allem für diejenigen, die sich dem sozialkritischen Realismus verschrieben hatten, erschien Serovs Malstil zu losgelöst von den Traditionen ihres Landes. Als Pavel Tretyakov (1832–98) das Simonovich-Bildnis gleich 1888 erwarb, fragte ihn Vladimir Makovsky (1946– 1920), einer der bekanntesten Peredvizhniki, seit wann er in seiner Galerie Syphilis züchten würde.315 Da dieser Krankheit stets eine ausländische Herkunft nachgesagt wurde, warfen damit die Traditionalisten Serov auf eine äußerst bissige Weise vor, die russische Kunst – die ihrer Ansicht nach der ‚Wahrheit des Lebens‘ dienen sollte – fremden Einflüssen ausgesetzt zu haben.316 Von diesen kurzsichtigen Bemerkungen unbeeindruckt, wird Tretyakov in den kommenden Jahren acht weitere Bilder Serovs sowie die Arbeiten von Korovin, Vrubel und den anderen sogenannten Dekadenten erwerben.317 Erst Jahre später sollte ausgerechnet Vladimir Stasov Vera Mamontova nicht nur als „ehrlich-naiv“ und „innig“, sondern auch als das „beste und vollendeteste“ aller Bildnisse von Serov beschreiben.318

308 Samkov/Silberstein 1985, S. 120f., Anm. 1, S. 137, Anm. 3; Kruglov 2000, S. 34. 309 Sergei Vasilyevich Flerov (1841–1901), absolvierte die historisch-philologische Fakultät der Moskauer Universität, schrieb unter dem Pseudonym „S. Vasilyev“ für Moskovskiie vedomosti (ab 1875), Russky vestnik (Russischer Bote) und Russkoie obozreniie (Russische Rundschau). 310 „[...] ошибку в орфографии, в данном случае – в воздушной перспективе, делает [...] художник, изобразивший девочку в розовом платье [...]“, S. Vasilyev [Flerov], Na premiiu, in: Moskovsikiie vedomosti, 10.12.1888, Nr. 342, zit. nach: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 156f., Anm. 5. 311 Alexandr Dmitriievich Kurepin (1846–1891), studierter Jurist, Herausgeber der Zeitschrift Budilnik (Wecker, 1882–83), in der er u. a. Anton Chekhovs Erzählungen publizierte. 312 A. K-in [Kurepin], Moskovsiky felyeton, in: Novoie Vremia, 17.12.1888, Nr. 4600, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, S. 128, Anm.10. 313 Vladimir Ilyich Sizov (1840–1904), Archäologe, Kritiker, Mitbegründer des Moskauer Historischen Museums. 314 V. S. Sv. [Sizov], Konkurs v obshchestve liubitelei khudozhestv, in: Russkye vedomosti, 17.12.1888, Nr. 347, zit. nach: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 253, Anm. 1. 315 Igor Grabar, Moia zhizn. Avtomonografia. Etiudy o khudozhnikakh, Moskau: Respublika, 2001 (1935), S. 117. 316 Kridl Valkenier 2001, S. 48. 317 Pavel Tretyakov kannte Serov seit dessen Kindheit, da er mit seinem Vater Bekanntschaft pflegte. Bereits vor der Eröffnung der VIII. Ausstellung ... wickelte Tretyakov durch seinen Kunstberater Ilya Ostroukhov den Kauf des Simonovich-Bildnisses ab und zahlte dafür 300 Rubel. In: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 491. 318 „Лучшим и совершенным [...] является [...] искренне-наивный, простой, задушевный портрет молодой девицы, Мамонтовой“, Vladimir Stasov, Sobraniie sochineny, Bd. 3, Moskau: Iskusstvo 1952 (1906), S. 664f.

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3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache

Wie eine Vorahnung lässt sich im Hinblick auf die vielen negativen Kommentare der Brief des Abramtsevo-Malers Mikhail Nesterov (1862–1942) lesen, den er wenige Monate vor der VIII. Ausstellung... an seiner Schwester Alexandra geschrieben hatte: [...] Bildnis der [...] Verushka Mamontova [ist] das letzte Wort der impressionistischen Kunst. Die daneben hängenden Porträts von Repin und Vasnetsov wirken wie leblose Gestalten, auch wenn sie auf ihre eigene Art perfekt sind. [...] [Es ist] eine wunderschöne Sache. In Paris hätte er damit vielleicht keinen geblendet, aber seinen Namen hätte sie bekannt gemacht, bei uns jedoch sind solche Erscheinungen noch undenkbar, man wird für verrückt erklärt und von der Ausstellung entfernt, so neu und originell ist das alles.319 Nesterovs Worte sollten sich bewahrheiten. Als das Mamontova-Porträt 1898 im Rahmen einer russischen Kunstschau auf der Internationalen Kunst-Ausstellung der Münchener Sezession (1. Mai–1. Juni) sowie in den Niederlassungen der Galerie Eduard Schulte in Düsseldorf, Köln und Berlin gezeigt wurde, wurde es zusammen mit anderen Werken von Serov von vielen Kritikern mit Freude begrüßt.320 In Kunst für Alle schrieb Gustav Keyßner (1867–1928) – der sich später als Verfasser zahlreicher Kunstbücher hervortun sollte –, dass Serovs Porträts „dem russischen Saal erst sein Prestige gaben“ und erkannte im Bildnis der Fräulein M. „prächtige Jugendfrische“ und „rassige Gesundheit“.321 Die Gesellschaft. Münchener Halbmonatsschrift für Kunst und Sozialpolitik (1885–1902), die mit den Worten „Daß einer gut malen kann, ist doch wirklich nichts“ Serov lediglich technische Virtuosität zugestand, lobte das Mamontova-Bildnis als seine beste Arbeit.322 Als das Gemälde im Jahr 1900 in der Pariser Weltausstellung zum zweiten und letzten Mal im Ausland exponiert wurde, rief es bei Léonce Bénédite (1856–1925), der seit 1892 das Musée du Luxembourg leitete, Begeisterung hervor. In der Gazette des Beaux-Arts äußerte er sich entzückt über die im Gegenlicht gezeigte „délicieuse figure de Mlle Mamontov“ mit ihren wachen schwarzen Augen und vollen Lippen.323 Die Kontroverse um Serovs frühe Bildnisse, die 1888–89 in der russischen Presse und in den Künstlerkreisen geführt wurde, erinnert unweigerlich an die Debatte, welche im Europa in den 1870er–80er Jahren um die Impressionisten entfacht war. Einerseits wurde Serov 319 „ портрет [... ] Верушки Мамонтовой [...] Это последнее слово импрессионистического искусства. Рядом висящие портреты работы Репина и Васнецова кажутся безжизненными образами, по-своему представляют совершенство. ... Вышла чудная вещь, которая в Париже сделала бы его имя, если не громким, то известным, но у нас пока подобное явление немыслимо, примут за помешанного и уберут с выставки, настолько это ново и оригинально [...]“, Mikhail Nesterov an Alexandra Nesterova am 18.8.1888 aus Sergiiev-Posad, in: STG/QS 100/38, Moskau; zit. nach: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 46. 320 Ausführlich zu dieser Ausstellung siehe Kapitel 5.2.1. 321 Gustav Keyßner, Russische Bilder, in: Kunst für Alle, Bd. 15, Heft 4, 1.12.1898, S. 70–73, hier 72f. 322 Die Gesellschaft, Bd. 14, Teil 2, S. 351. 323 Léonce Bénédite, Les Arts à L’exposition universelle de 1900. L’exposition décennale. La peinture étrangère. Russie, in: Gazette des Beaux-Arts, Periode 3, Bd. 24, Nr. 521, 1.11.1900, 494–498, hier S. 496.

3.5 1887: Italien und die Folgen

von den jungen Malern enthusiastisch gefeiert. Andererseits war er mit der Unterstellung kompositioneller und technischer Mängel sowie mit nationalistischen Kommentaren aus dem konservativen Lager konfrontiert. Erst mit Verspätung wurde er von den russischen und europäischen Kritikern für seine mutigen Frühwerke gewürdigt. Die Frage des Impressionismus Der skizzenhafte Duktus, der die Darstellungen von Mamontova und Simonovich auszeichnet, ist einer der Gründe dafür, dass sie schon früh in Verbindung mit dem Impressionismus gebracht wurden, obwohl dieser Terminus – wenngleich aus unterschiedlichen Gründen – bei vielen Autoren Unbehagen auslöste und immer wieder neu definiert wurde. In dieser Debatte, die meist eher die Form einer weltanschaulichen Diskussion als einer maltechnischen Analyse einnahm, lassen sich zwei Hauptrichtungen erkennen. Zum einen wurde die Frage nach möglichen europäischen bzw. französischen Vorbildern gestellt und sogleich negativ beantwortet. Zum anderen wurden Argumente für oder gegen die Bezeichnung „Impressionismus“ aufgezählt. Bis zu einem gewissen Grad spiegelt sich darin die in der Literaturübersicht geschilderte Wandlung in der Einschätzung von der Zugehörigkeit Serovs zur gesamteuropäischen modernistischen oder zur nationalen realistischen Strömung. Folglich steht die ‚Frage des Impressionismus‘ emblematisch für die postume Deutung seines gesamten Œuvres und soll daher an dieser Stelle ausführlicher diskutiert werden. Grabar führte die Entstehung des Mamontova-Bildnisses schon 1910 auf Repin und Chistiakov zurück.324 Bestimmend wirkten aber vor allem seine 1914 und 1965 gemachten Aussagen, Serov könne die Werke französischer Impressionisten vor seiner Reise nach Paris im Jahr 1889 nicht gesehen haben.325 Denn die Werke von Jules Bastien-Lepage (1848–84) aus der Sammlung Sergei Tretyakovs seien vermeintlich die einzigen Arbeiten zeitgenössischer französischer Maler gewesen, die Serov zu diesem Zeitpunkt kannte. Über Vera Mamontova soll Serov gegenüber Grabar nur Folgendes gesagt haben: Alles, was ich zu erreichen bemüht war, war die Frische, diese besondere Frische, die man immer in der Natur spürt und nicht in den Bildern sieht. Ich malte über einen Monat lang und habe das arme [Mädchen] zu Tode gequält, so sehr wollte ich die Frische der Malerei in der Vollendung erhalten– so, wie bei den alten Malern (sic!). Ich dachte an Repin, an Chistiakov, an die alten [Meister] – die Reise nach Italien hat damals sehr gewirkt – aber noch mehr dachte ich an die Frische. Früher musste ich nicht so intensiv daran denken.326

324 Grabar 1910, S. 90–111. 325 Grabar 1914, S. 10, 12, 76f., 80; ders. S. 89–91, S. 115. 326 „Все, чего я добивался, это – свѣжести, той особенной свѣжести, которую всегда чувствуешь в натурѣ и не видишь в картинахъ. Писалъ я больше мѣсяца и измучилъ её, бѣдную, до смерти, уж очень хотѣлось сохранить свѣжесть живописи при полной законченности,– вотъ какъ у старыхъ мастеровъ. Думалъ о Рѣпинѣ, о Чистяковѣ, о старикахъ,– поѣздка в Италiю очень тогда сказалась,– но больше всего думалъ

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3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache

Grabars Fazit lautete wie folgt: Ausgehend von Repin machte Serov einen entschiedenen Schritt in Richtung Eigenwertigkeit der rein malerischen Aufgaben, die frei von den Zwängen der [18]60er Jahre waren, und landete dann plötzlich in der unmittelbaren Nachbarschaft der Franzosen.327 Auch Ettinger sprach 1914 nur von „Pleinairmalerei“ in Serovs Frühwerk, ohne sich mit der Möglichkeit europäischer Einflusse auseinander zu setzen.328 1921 erwähnte Ernst, dass nach der Aussage von Alexandre Benois Serov in den 1890er Jahren noch ziemlich gleichgültig den Impressionisten gegenüber gestanden haben soll und sich nie mit Begeisterung über ihre Werke geäußert habe.329 Dennoch wertete Ernst die „fröhliche und richtige“ Malerei des Bildnisses Maria Simonovich als eine Arbeitsweise, die „den bevorzugten Griffen des Impressionismus vielleicht ziemlich nah“ stehe.330 In den 1920er Jahren schrieb Radlov, dass „Serovs Impressionismus“ mit den „ideenlosen“ Franzosen nichts zu tun habe.331 Mitte der 1930er Jahre bemerkte Bakushinsky, dass der Künstler bereits 1885 in zwei Richtungen arbeitete: Die erste sei die impressionistische und die zweite Richtung mit der Ernsthaftigkeit eines Velázquez erfüllt gewesen.332 Serovs Vera Mamontova deutete er als „einen schnellen und wunderschönen Sprung zu neuem malerischen Inhalt und Form, zur neuen großen künstlerischen Qualität, nicht nur für den Meister, sondern auch für die gesamte russische Kunst.“333 In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurde der Impressionismus wie andere modernistische Richtungen Opfer der ersten offiziellen Kampagne gegen die sog. Formalisten – gegen alle, die die Bedeutung der Form über die des Inhalts gestellt hätten.334 In den Katalogen der großen Serov-Ausstellungen, die 1935 in Moskau und Leningrad stattfanden, объ этой свѣжести. Раньше о ней не приходилось такъ упорно думать.“ Serov ca. 1910/11, zit. nach: Grabar 1914, S. 74. 327 „Отправляясь отъ Рѣпина, Сѣров рѣшительно шагнулъ въ сторону самоцѣнности исключительно живописныхъ задачъ, освобожденныхъ отъ всѣхъ путъ шестидесятыхъ годовъ, и тутъ неожиданно оказался въ ближайшемъ сосѣдствѣ съ французами.“ Grabar 1914, S. 11f. 328 Ettinger 1914, S. 393. 329 Ernst 1921, S. 30, Anm. 1. 330 „Радостное и верное решение этой задачи, может быть, весма близкое к любимым приeмам импрессионизма“, Ernst 1921, S. 29f. 331 Radlov o. J. [1920er], S. 40. 332 Bakushinsky (1935, S. 100f. und 105) beschrieb auch Serovs Venedig-Ansichten von 1887 als „recht impressionistisch“. 333 „быстрый и прекрасный скачок к новому содержанию и форме, к новому высокому художественному качеству не только для самого мастера, но и для всего русского искусства,“ Bakushinsky 1935, S. 102. 334 In der Argumentation, die sich gegen die sog. Formalisten richtete, lassen sich Parallelen zu Max Nordaus Buch Entartung (1892–93) erkennen, in dem der Begriff Degeneration auf die Stile wie Symbolismus übertragen wurde. Siehe dazu: Vladimir Kruglov, Impressionism in Russia, in: Evgeniia Petrova (Hg.), Russian Impressionism. Paintings from the Collection of the Russian Museum 1870s–1970s, AK St. Petersburg, SRM 20.7.–8.11.2000, Bad Bresig: Palace Ed., 2000, S. 7–41, hier S. S. 7f., 40; Filippov 2003, S. 37.

3.5 1887: Italien und die Folgen

war eine entsprechende Verschiebung in der Deutung seiner Werke schon nachvollziehbar: Der Künstler wurde nachdrücklich von den formalistischen Strömungen abgegrenzt sowie als Opfer und Kritiker seiner Zeit dargestellt. So erinnerte sich Grabar im Moskauer Katalog daran, wie er für seine Bewunderung für den vermeintlich mittelmäßigen Serov seitens der Formalisten belächelt wurde.335 Im Leningrader Katalog erklärte Lev Dintses, dass der Künstler die Wiedergabe der gesellschaftlichen Verhältnisse gemieden habe, weil der „Zerfall der kapitalistischen Kultur“ seine Kreativität einschränkte.336 Serovs ‚Mädchen‘ bezeichnete er einfach als die besten Darstellungen der Jugend in der vorrevolutionären Zeit. Die anti-formalistischen Thesen wurden 1948–53 im Rahmen der Kampagne gegen Kosmopolitismus337, welche das Zentralkomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei durchführte, auch in der Kunstwissenschaft weiter vertieft. Wurden Serov in den 1920er Jahren noch stilistische Parallelen zu den Impressionisten zugestanden, unterstrichen die Autoren der Nachkriegszeit verstärkt seine Zugehörigkeit zu dem russischen realistischen Erbe. So schlussfolgerte Alpatov 1947, dass Serov, verglichen mit den impressionistischen Porträtmalern, „eigene Wege“ ging.338 1960 interpretierte Alexei Feodorov-Davydov339 dessen Frühwerke als „neue Wege der realistischen Malerei“ und führte seine Evolution ausdrücklich auf Repin zurück.340 Kurz darauf sprach Elizaveta Zhuravliova von der „prinzipiellen Divergenz“ zwischen Serov und den Impressionisten, wobei sie eine sachliche Diskussion über die stilistischen Unterschiede – die nun anscheinend als unstrittig galten – gänzlich ausließ.341 Später rehabilitierte Sarabyanov den Impressionismus in Serovs Œuvre, als er schrieb: im Prozess, der zum Impressionismus führte, spielte Korovin zusammen mit dem jungen Serov die wichtigste Rolle. [...] Als Serov sich vom Impressionismus weitgehend entfernte, verlor er seine vielfarbige Palette, hielt aber auf der Grundlage der [...] breiten Malmanier die Verbindung dazu noch aufrecht342

335 Grabar 1935, S. 4. 336 „распад русской буржуазной культуры“, Dintses 1935, S. 2, 6. 337 Zu den Hauptideologen zählte Mikhail A. Suslov (1902–82), der Stalins Reden für den XIX. Kongress der Kommunistischen Partei schrieb und 1949–50 Hauptredakteur der Pravda war. 338 Alpatov 1947, S. 23. 339 Alexei Alexeievich Feodorov-Davydov (1900–69), leitete 1929–34 die Abteilung der neueren russischen Kunst an der Tretyakov Galerie und ab 1948 den Lehrstuhl für russische und sowjetische Kunstgeschichte an der Moskauer Lomonossov Universität. 340 „новые пути реалистической живописи“ Alexei A. Feodorov-Davydov, Devochka s persikami V. A. Serova, in: Khudoznik 1960, Nr. 2, S. 41–46, zit. in: ders., Russkoie i sovetskoie iskusstvo. Statyi i ocherki, Moskau: Iskusstvo, 1975, S. 511–519, hier S. 511. Siehe auch: ders., Devushka, osveshchionnaia solntsem V. A. Serova, in: Khudoznik 1960, Nr. 3, S. 36–40, zit. in: ders. 1975, S. 519–523. 341 Zhuravliova, in: Mashkovtsev/Sokolova 1964, S. 16. Siehe auch: Natalia Sokolova, V. A. Serov, in: Maria Milotvorskaia, Zhivopis i Grafika, in: Boris V. Veimarn/Yury D. Kolpinsky (Hg.), Vseobshchaia istoriia iskusstv, Moskau: Iskusstvo, 1966, Bd. 6.2, S. 26–58, hier S. 33. 342 „[…] в том процессе, который вел к импрессионизму, Коровин вместе с молодым Серовым оказался важнейшей фигурой. […] В целом отходя от импрессионизма, утрачивая многоцветность, Серов еще

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3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache

In den letzten Jahren war anhand der Zahl der Ausstellungen und Publikationen ein deutlich gestiegenes Interesse am sog. russischen Impressionismus zu verzeichnen.343 Exemplarisch ist die Schau Impressionismus in Russland zu nennen, die 2000 in St. Petersburg stattfand und Werke aus dem Bestand des Russischen Museums zeigte. Im begleitenden Katalog betonte Kruglov, dass die Bilder russischer Künstler der zweiten Hälfte der 1880er Jahre kardinale Bedeutung für den russischen Impressionismus hätten, und hob dabei Serov und Korovin besonders hervor.344 Leniashin bezeichnete seinerseits die Arbeiten von Serov, Korovin, Grabar und einiger anderer Maler als „unbestrittene Werke“ des Impressionismus.345 Allerdings setzt sich in der Diskussion um Serovs Frühwerke die terminologische Problematik bis heute fort. So schrieb Filippov 2003, dass das Mamontova-Porträt keinen „rein impressionistischen“ Eindruck erzeuge – was an den „spezifischen Eigenschaften der russischen Variante des Impressionismus“ liege –, während das Simonovich-Bildnis malerisch vollkommener ausgeführt sei.346 Mikhail Allenov ging bereits im Jahr 2000 einen Schritt weiter, als er festhielt: „In seinen ersten eigenständigen Werken lieferte Serov perfekte Beispiele der impressionistischen Malerei und schlug gleichzeitig den Weg in Richtung Postimpressionismus ein.“347 Inwiefern ist Allenovs stilistische Zuordnung berechtigt? Ein Vergleich zu den Maltechniken und Sujets französischer Impressionisten – wie sie im Kölner Katalog Impressionismus. Wie das Licht auf die Leinwand kam348 (2008) ausführlich analysiert wurden – macht deutlich, dass sich im frühen Schaffen von Serov in der Tat zahlreiche Parallelen dazu finden. Erstens machte der Künstler einen subjektiven visuellen Eindruck zur Grundlage seiner Arbeit und setzte eine skizzenhafte Pinselführung sowie eine helle Palette ein, um diesen Eindruck auf die Leinwand zu übertragen. Bereits im Porträt von 1887 entnahm er einzelnen Elementen – vor allem den weißen Partien – ihre lokale Farbigkeit und nutzte bei Schattierungen Blauund Ockertöne. 1888 drängte er die Eigenfarbigkeit der Dinge weiter zurück und erhob das

сохранял с ним связь на почве распостранившейся тогда широкой живописной манеры“, Sarabyanov 1980, S. 167. 343 Filippov 2003, S. 42–48, 52f. 344 Kruglov, in: Petrova 2000, S. 18. 345 „the undoubted works of impressionism created by Konstantin Korovin, Valentin Serov, Igor Grabar“, Vladimir Leniashin, „...From Time into Eternity“ Impressionism Without Properties and the Properties Without Impressionism, in: Petrova 2000, S. 43–61, hier S. 49. 346 „в данном случае мы вправе говорить о специфических чертах русского варианта импрессионизма“, Filippov 2003, S. 147–150, hier S. 148. 347 „Серов в первых самостоятельных произведениях преподносит совершенные образцы импрессионистической живописи, одновременно намечая путь в сторону постимпрессионизма“, Allenov 2000, S. 248. Siehe auch: Tanja Malycheva, Shag k modernizmu. Serov i postimpressionisticheskiie techeniia v evropeiskoi zhivopisi 1880-h gg., in: Aktualnyie problemy teorii i istorii iskusstv, Bd. 3, hg. v. Staatsuniversität Moskau und Staatsuniversität St. Petersburg 2013, S. 286–291. 348 Katja Lewerentz/Iris Shaefer/Caroline von Saint-George (Hg.), Impressionismus. Wie das Licht auf die Leinwand kam, AK Köln, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud 29.2.–22.6.2008 und Florenz, Palazzo Strozzi 11.7.–28.9.2008, Genf/Mailand: Skira, 2008.

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Licht zu einem der Figur ebenbürtigen Motiv, indem er es omnipräsent machte und teils in Spektralfarben zerlegte – eine, verglichen mit dem ‚holländischen‘ Bildnis Olga Trubnikovas (1886), gänzlich neue Herangehensweise.349 Die reliefartige Pastosität der Malschicht dieses Gemäldes ähnelt dem Farbauftrag postimpressionistischer und divisionistischer Bilder. Zweitens kann die Tatsache, dass Serov mehrere Wochen an einem Bild malte, nicht zwangsläufig als Argument gegen die Bezeichnung „Impressionismus“ verwendet werden. Sogar Monet und Renoir fertigten ihre Werke nicht immer au premier coup an, sondern überarbeiteten ein Teil davon in ihren Ateliers, manchmal erst nach einiger Zeit.350 Zudem bedienten sich die Impressionisten durchaus sowohl der Unterzeichnung als auch der Korrekturmöglichkeit durch das Abkratzen ‚misslungener‘ Stellen.351 Drittens arbeitete Serov stets mit Blick auf die alten Meister, die von den führenden Künstlern der Moderne ebenso verehrt wurden: Ein Paradebeispiel aus der westeuropäischen Malerei ist Manets Olympia352 (1863), in der Tizians Venus von Urbino353 (1538) rezipiert wurde.354 Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Vermischung unterschiedlicher Gattungen: Sogar Serov selbst war der Meinung, dass sein Bildnis Vera Mamontova streng genommen kein Bildnis sei.355 Für die Impressionisten waren Überschneidungen dieser Art überaus typisch: Man denke nur an Manets Familie des Claude Monet in ihrem Garten in Argenteuil356 (1874), Renoirs Nini im Garten357 (1876), Caillebottes’ Richard Gallo und sein Hund Dick in Petit Gennevilliers358 (1884) oder Degas’ Absinth359 (1875–76). Eine Besonderheit von Serov blieb jedoch, dass er – trotz einer intensiven Beschäftigung mit den atmosphärisch bedingten Veränderungen der Umgebung – die Entpersonifizierung seiner Modelle gezielt vermied.

349 Murina/Sarabyanov 1968, S. 188; Kruglov, in: Petrova 2000, S. 20; ders. 2000, S. 27. 350 Lewerentz/Shaefer/von Saint-George 2008, S. 31, 82f., 95f., 144 und 154f. 351 Ebd., S. 101, 140–143. 352 Olympia, 1863, Öl auf Leinwand, 130,5 × 191 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 644. 353 Venere di Urbino, 1538, Öl auf Leinwand, 119 × 165 cm, Galleria degli Uffizi, Florenz, Inv. 1890, n. 1437. 354 Weitere Vergleiche siehe in: Ann Dumas/Xavier Bray (Hg.), Inspiring Impressionism. The Impressionists and the Art of the Past, AK Atlanta, High Museum of Art 16.10.2007–13.1.2008, Denver Art Museum 23.2.–25.5.2008 und Seattle Art Museum 19.6.–21.9.2008, New Haven/London: Yale University Press, 2007. 355 „Верушку мою тоже портретом как-то не назовешь“, Serov an Ilya Ostroukhov am 9.12.1888 aus St. Petersburg, in: STG/QS, Moskau, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 65, S. 118f., hier S. 119. 356 The Monet Family in Their Garden in Argenteuil, 1874, Öl auf Leinwand, 61 × 99,7 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, Inv. 1976.201.14. 357 Nini in the Garden, 1876, Öl auf Leinwand, 61,9 × 50,8 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, The Walter H. and Leonore Annenberg Collection, Gift of Walter H. and Leonore Annenberg, 2002, Bequest of Walter H. Annenberg, Inv. 2002.62.2 358 Richard Gallo et son chien Dick au Petit Gennevilliers, 1884, Öl auf Leinwand, 89 × 116 cm, Artattack Management, MB 305. 359 Dans un café (L’Absinthe), 1875–76, Öl auf Leinwand, 92 × 68,5 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 1984. Im Bild wurden Schauspielerin Ellen André und der Künstler Marcellin Desboutin dargestellt.

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3. Auf der Suche nach eigener Bildsprache

Folglich ist es aus maltechnischen und motivischen Gründen durchaus berechtigt, Serovs Bildnisse als impressionistisch zu beschreiben. Es wäre jedoch falsch, den Künstler als einen konsequenten Verfolger der impressionistischen Richtung darzustellen. Bereits in seinem Frühwerk schöpfte er stets aus vielen verschiedenen Quellen, wie in der folgenden Diskussion noch mehrfach ersichtlich wird.

4. Die Wege zum Bild: Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Serovs ästhetischer Weltoffenheit und stilistischer Evolution

Es stellt sich die Frage, inwiefern Serov vor dem Wendepunkt in seinem Schaffen im Jahr 1887 den Einflüssen zeitgenössischer europäischer Künstler – die in der Forschung so vehement verneint wurden – tatsächlich ausgesetzt war, da seine stilistische Evolution sicherlich nicht nur durch die ‚Atmosphäre Italiens‘ herbeigeführt wurde. Seit seiner Kindheit verkehrte Serov in den Kreisen, in denen das kreative Denken auf der Tagesordnung stand und die Neuerungen im gesamteuropäischen Kulturleben unmittelbar aufgegriffen wurden. Zwischen Petersburg, München, Paris, Moskau und Kiew aufgewachsen, sah er die geografischen Grenzen zwischen diesen Lebensstationen wohl eher verschwommen und nahm den Dialog mit der europäischen Kunst als etwas Selbstverständliches wahr. Die bisherige Werkdiskussion führte vor Augen, dass der Künstler schon vor dem Sommer 1887, vor allem nach seiner Europareise von 1885, mit Lichteffekten, Farbkontrasten und lockerem Duktus experimentierte. Die ikonografische Analyse des Trubnikova-Bildnisses (1886, Taf. I) zeigte deutliche Parallelen nicht nur zu den Werken Rembrandts und Vermeers, sondern auch zu den etwa zeitgleich entstandenen Arbeiten holländischer und deutscher Maler. Die Figuren­konstellationen in den Porträts von Vera Mamontova (1887) und Maria Simonovich (1888) haben ihrerseits einen klassischen italienischen Ursprung, wurden aber malerisch sehr modern gestaltet. Im folgenden Abschnitt wird nun genauer untersucht, wie Serov in seiner unmittelbaren Umgebung auf die neuesten Kunstentwicklungen aufmerksam wurde und inwiefern es seine Arbeitsweise beeinflusste.

4.1 Serovs Ideenaustausch mit Ilya Repin, Mikhail Vrubel und Konstantin Korovin Die neusten kulturellen Ereignisse Europas wurden dem russischen Publikum in erster Linie durch die regelmäßigen Ausstellungsberichte in den Printmedien sowie durch die im Ausland lebenden Künstler vermittelt. Vladimir Stasov richtete mit seinen Artikeln und Büchern das Augenmerk seiner Leser immer wieder auf die Weltausstellungen und die

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4. Die Wege zum Bild

dort präsentierten Malereischulen einzelner Länder.360 Der junge Émile Zola (1840–1902), ein Verfechter der modernen Malerei und erklärter Gegner des Akademismus, veröffentlichte zwischen 1875 und 1880 in der Monatszeitschrift Vestnik Evropy (Bote Europas, St. Petersburg, 1866–1918) insgesamt vierundsechzig Pariser Briefe, in denen er mitunter auf die zweite Impressionisten-Ausstellung einging und die Werke von Manet, Degas, Renoir, Pissarro und Sisley vorstellte.361 Künstler wie Alexei Bogoliubov, der permanent in Paris lebte, oder Ivan Kramskoi, Vasily Polenov und Ilya Repin, die sich dort in den 1870er Jahren als Stipendiaten aufhielten, wurden bereits auf die erste Impressionisten-Ausstellung von 1874 aufmerksam.362 Durch diverse Publikationen, fotografische Abzüge363 und Reisekorrespondenz sowie durch die Debatten in den privaten Salons wurde die Neugierde auf die Kunstlandschaft Europas aufrechterhalten und die Kenntnisse darüber sukzessiv erweitert. Dass Serov, der seit seiner Kindheit unaufhörlich mit der Kulturelite in Kontakt stand, von dem ganzen Informationsaustausch unberührt blieb, ist unmöglich. Ilya Repin (1844–1930) Die modernen Impulse in Serovs Frühwerk können zum Teil auf Repin zurückgeführt werden, dem Serov während dessen Paris-Aufenthalts (1873–76) erstmals begegnete. Im Gegensatz zu den meisten Peredvizhniki blieb Repin stets an den Gesetzmäßigkeiten der Komposition, am disegno sowie an der malerischen Umsetzung seiner Motive interessiert und reagierte – wenngleich mit mäßigem Erfolg – auf die Neuerungen in der europäischen Kunst. In Paris frequentierte er Salonausstellungen und die Kunstschauen im Hôtel Drouot sowie die Donnerstag-Soireen von Turgenevs enger Freundin Pauline Viardot364, wo er auf Zola traf. Repins Bewunderung für die Impressionisten, die er Turgenev gegenüber verteidigte, ist nicht nur in seinen Briefen aus Paris belegt, sondern in vielen Werken klar er-

360 So stellte Stasov in seinem Buch Nyneshneie iskusstvo v Evrope. Khudozhestvennyie zametki o vsemirnoi vystavke 1873 goda (Jetzige Kunst in Europa. Kunstanmerkungen zu der Weltausstellung des Jahres 1873, St. Petersburg: Tip. t-va „Obshchestvennaia polza“, 1874) einzelne Künstler Europas ausführlich vor. 361 Émile Zola, Parizhskiie pisma. Dve khudozhestvennyie vystavki v maie, in: Vestnik Evropy, 1876, Nr. 6. Zu dieser Reihe gehören ferner die Artikel Vystavka kartin v Parizhe (1875, Nr. 6) und Frantsuzskaia shkola zhivopisi na vystavke 1878 g. (1878, Nr. 7). Siehe dazu: German 1998, S. 47–58. 362 Kruglov, in: Petrova 2000, S. 10f. 363 Dafür, dass solche Abzüge unter Kennern kursierten, gibt es viele Belege. So fragte z. B. Sergei Tretyakov seinen Bruder Pavel in einem Brief vom 28.3.1891 aus Paris um einen Rat beim Kauf eines Millet-Gemäldes, dessen Foto ihm Bogoliubov noch überreichen sollte (STG/QS 1/3809). Serov schrieb 1885 aus München, dass er alle guten Bilder der französischen Abteilung der Antwerpener Weltausstellung bereits auf Fotografien sah, in: STG/QS 49/14, Moskau, zit. nach: Samkov/ Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 26, S. 62–64, hier S. 63. 364 Michelle Ferdinande Pauline Viardot-García (1821–1910), Mezzo-Soprano-Sängerin, Komponistin. In ihrem Donnerstag-Salon trafen sich u. a. Camille Saint-Saëns (1935–1921), George Sand (1804–76) und Gustave Flaubert (1821–80). Ihre Freundschaft mit Turgenev begann nach ihrem Auftritt in St. Petersburg von 1843. Siehe: Mark Everist, Pauline Viadrot-Garcia (1821–1910), in: James R. Briscoe (Hg.), Historical Anthology of Music by Women, Bloomington (IN): Indiana University Press 2004, S. 188–197.

4.1 Serovs Ideenaustausch mit Ilya Repin, Mikhail Vrubel und Konstantin Korovin

kennbar, darunter Pariser Cafe365 (1875), Auf der Rasenbank366 (1876) oder Auf dem Feldweg367 (1879).368 Eines der Vorbilder Repins in der Zeit, so Grabar, war Manet.369 Die Annahme, dass Serov in den Gesprächen mit seinem Mentor oder gar über die Anschauung von Lithografien oder Fotografien etwas über Manet und dessen Mitstreiter erfuhr, ist daher sicher berechtigt. Zwischen Repin und Serov bestand jedoch in der Reaktion auf die neuen Trends und in der konzeptuellen Umsetzung einer Bildidee ein grundsätzlicher Unterschied, obgleich Serovs Formeln vereinzelt mit denen von Repin korrespondieren. Gewisse koloristische Reminiszenzen zu Vera Mamontova weist beispielsweise das Porträt von Nadia Repina370 auf (1881), das in einer hellen rosa-weißen Palette gestaltet wurde. Ein Vergleich zu Repins Genrebild Nicht erwartet371 (1884–88), das in der Forschung mehrfach als mögliches Vorbild dafür aufgeführt wurde, zeigt dagegen vielmehr, wie stark sich der junge Serov von den Peredvizhniki entfernte.372 Das Gemälde Nicht erwartet – dessen Handlung einer mis en scène gleich sich vor dem Betrachter ausbreitet – thematisiert die plötzliche Rückkehr eines politischen Häftlings zu seiner Familie und wirft die Frage nach dem Sinn des sozialen Engagements auf. Serov suggerierte indes weder eine theatralische Spannung noch Gesellschaftskritik: Mamontova sitzt untätig herum und wird im nächsten Moment entweder die Frucht in ihren Händen essen oder aufstehen und gehen. Die Unterschiede zwischen den beiden Malern überwogen selbst dann, wenn sie sich fast identischen Motiven widmeten, wie der Vergleich zwischen Serovs Bauernhof (1886, Abb. 11) und Repins Bauernhof (1879) vor Augen führte. Noch ersichtlicher wird Serovs konzeptuelle Überlegenheit am Beispiel von Repins Gemälde Herbststrauß373 (1892), das – wie

365 A Parisian Café, 1875, Öl auf Leinwand, 120,6 × 191,8 cm, Christie’s Sale 7968, London 6.6.2011, Lot 22. 366 На дерновой скамье, 1876, Öl auf Leinwand, 36 × 55,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4045. 367 На меже, 1879, Öl auf Leinwand, 61,5 × 48 cm, STG, Moskau, Inv. Ж-1180. 368 Am 31.3.1874 schrieb Repin an Kramskoi Folgendes aus Paris: „wir befinden uns in einer früheren Entwicklungsphase. Die französische Malerei erlebt jetzt ihre wahre Blüte, alles Nachahmende und Akademische […] hat sie zurückgelassen, und existiert nun als [Malerei] an sich“. Zwei Jahre später, am 12.4.1876, berichtete er Stasov aus Paris: „I. S. [Turgenev] beginnt nun an die Impressionisten zu glauben, das ist natürlich der Einfluss von Zola. Und wie stritt er sich darum mit mir in Drouot. Jetzt sagt er, dass nur in ihnen die Zukunft liege“, zit. nach: Iosif A. Brodsky (Hg.), I. Repin. Izbrannyie pisma v dvukh tomakh, Bd. 1, Moskau: Iskusstvo, 1969, S. 121–126, hier S. 122 und S. 177f., hier S. 178. 369 Grabar 1963, S. 148f. 370 Надя Репина, 1881, Öl auf Leinwand, 66 × 54 cm, Staatliches Radishchev Museum der bildende Künste, Saratow. 371 Не ждали, 1884–88, Öl auf Leinwand, 160,5 × 167,5 cm, Moskau, STG, Inv. 740. 372 Grabar (1907, S. 7; 1910, S. 90–101) beschrieb das Mädchen am Tisch in Unerwartet als ein eindeutiges Vorbild für die am Tisch sitzende Mamontova. Dmitriiev (1917, S. 33) sprach wage von einem „fernen Bezug“. Bakushinsky (1935, S. 102) sah Ähnlichkeiten im Interieur. Feodorov-Davydov (1975, S. 514f.) erkannte wiederum Parallelen in der hellen Palette. Kridl Valkenier (2001, S. 46f.) verneinte zu Recht die Ähnlichkeiten. 373 Осенний букет (Верa Репинa), 1892, Öl auf Leinwand, 111 × 65 cm, STG, Moskau, Inv. 758.

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4. Die Wege zum Bild

19 Elizaveta Zvantseva / Елезавета Николаевна Званцева, 1889, Öl auf Leinwand, 89 × 69 cm, Ateneum, Helsinki, Inv. lahja 1920-3-5

zuvor das Bildnis von Elizaveta Zvantseva374 (1889, Abb. 19) – offenbar unter dem Eindruck von Maria Simonovich (1888, Taf. VI) entstand.375 Auch hier wurde eine junge Frau unter freiem Himmel porträtiert und sowohl kompositionell als auch farbig in die Landschaft um sie herum regelrecht eingetaucht. Allerdings blieb Repin im Gegensatz zu Serov in seiner Formbildung weitgehend fest und in der Komposition dem Erzählerischen verpflichtet: So lässt sich trotz der Fleckigkeit des Duktus ein kleines Häuschen im Hintergrund erkennen, aus dessen Schornstein Rauch aufsteigt. Mikhail Vrubel (1856–1910) Mit Mikhail Vrubel, der sich von Beginn an gegen das Aufklärungspathos der Peredvizhniki positionierte, traf Serov nun auf einen konsequenten Verfolger der modernen Ästhetik. Wie Serov bekam Vrubel von klein auf regelmäßigen Zeichenunterricht, musste sich aber auf Wunsch seines Vaters 1874 an der juristischen Fakultät der Petersburger Universität 374 Елезавета Николаевна Званцева, 1889, Öl auf Leinwand, 89 × 69cm, Ateneum, Helsinki, Inv. lahja 1920-3-5, A II 1371. Zvantseva war Repins Studentin, mit der er im späten Herbst 1888 / Frühjahr 1889 eine Liebesbeziehung einging. Im Bildnis Zvantsevas sprechen nicht nur die Intensität des dialogischen Blicks, sondern auch die im Schoß zusammengelegten Hände für den Einfluss Serovs 375 Vgl. Zhularleva, in: Mashkovtsev/Sokolova 1963, S. 208.

4.1 Serovs Ideenaustausch mit Ilya Repin, Mikhail Vrubel und Konstantin Korovin

einschreiben. Im Juni des Folgejahres unternahm er zusammen mit der Familie des Senators Dmitry Ber (1832–1903), dessen Sohn er in Latein unterrichtete, eine Reise, die nach Frankreich, Deutschland und in die Schweiz führte.376 Da keine schriftlichen Zeugnisse aus der Zeit erhalten sind, kann man nur spekulieren, ob der Neunzehnjährige dabei die Möglichkeit ergriff, den Pariser Salon zu besichtigen, wo die posthume Corot-Ausstellung zu sehen war und Manets „skandalös blaues“377 Gemälde Argenteuil378 (1874) gezeigt wurde. Abwegig wäre das nicht, denn Vrubels Interesse galt in erster Linie der Kunst, der Oper und der deutschen Philosophie. Im Kreis der Familie debattierte er gern über Lessings Laokoon (1766) sowie Proudhons Aussagen über die moralisierende Funktion der Kunst und verteidigte dabei fast als einziger – ganz im Sinne von Zola – die Idee des l’art pour l’art.379 Noch als Student der Kunstakademie vertrat Vrubel die Meinung, dass ein Künstler „seine eigene, spezielle Aufgabe“ habe, „deren Sinn er nicht zu einer publizistischen Waffe verstümmeln“ durfe.380 Seinen Alltag beschrieb er folgendermaßen: „stehe um 7 auf, 7 ½–9 ½ Anatomiezeichnung, 9 ½–10 ½ gebe ich Manet-Unterricht [sic!], von 11–2 bin in der Klasse für Aktmalerei, 3–4 ½ male ich nature morte mit Aquarell, 5–7 Klasse für Aktmalerei.“381 Gerade damals, als Vrubel seinen „Manet-Unterricht“ gab, formulierten er, Serov und Derviz ihr ästhetisches Credo „Es soll schön gemalt werden; was gemalt wird, interessiert uns nicht.“ Ähnlich wie Serov war der junge Vrubel viel unterwegs. Im Frühsommer 1884 wurde er von Prakhov nach Kiew eingeladen, als Restaurator an der Kyrill-Kirche und der Sophienkathedrale mitzuarbeiten. Gleich im November des Jahres reiste er über Wien nach Venedig, wo er die Museumssammlungen sowie die Mosaiken von San Marco und Santa Maria As 376 Mikhail German, Mikhail Wrubel: Malerei, Graphik, Skulpturen, Buchillustrationen, Bühnenbilder, angewandte Kunst, Leningrad: Aurora, 1986, S. 216; Alla Gussarowa/Kyllikki Zacharias, Biographie, in: Jürgen Harten/Christoph Vitali (Hg.), Michail Wrubel. Der russische Symbolist, AK Kunsthalle Düsseldorf 25.1.– 13.4.1997 und München, Haus der Kunst 8.5.–20.7.1997, Köln: DuMont, 2003, S. 269–291, hier S. 272; Vladimir Kruglov, Letopis zhizni i tvorchestva, in: Evgenia Petrova (Hg.), Mikhail Vrubel iz sobraniia Russkogo muzeia, St. Petersburg: Palace Editions, 2006, S. 301–312, hier S. 302. 377 Ludwig Hevesi, Acht Jahre Secession (März 1897–Juni 1905). Kritik – Polemik – Chronik, Wien: Konegen, 1906, S. 407. 378 Argenteuil, 1874, Öl auf Leinwand, 149 × 115 cm, Musée des Beaux-Arts, Tournai, Inv. 1971/438. 379 „[...] сегодня вечером читаем Прудона о значении искусства для жизни, а в следующую [неделю] „Лаокоона“ Лессинга; конечно, я в этих прениях чуть не один defend la cause „искуссива для искусства“, и против меня масса защитников утилизации искусства,“ Vrubel an seine Eltern am 6.3.1876 aus St. Petersburg, zit. nach: Gomberg-Verzhbinskaia/Novikov/Podkopaieva 1976, Nr. 50, S. 65f., hier S. 65. Damit meinte Vrubel Proudhons postume Publikation Du principe de l’art et de sa destination social (1865), die von Zola in seinem Artikel Mes Haines. Causeries littéraires et artistiques (in: Le Salut Public, 26. und 31.8.1865) kritisiert wurde. 380 „ он [художник] имеет своё самостоятельное, специальное дело [...] которое он должен уважать, а не уничтожать его значения до орудия публицистики“, Vrubel an seine Schwester Anna in April 1883 aus St. Petersburg, als Reaktion auf Repins Kreuzprozession im Gouvernement Kursk (1880–83), zit. nach: Gomberg-Verzhbinskaia/Novikov/Podkopaieva 1976, Nr. 10, S. 37–39, hier S. 38. 381 „Встаю в 7 [часов], 7 ½– 9 ½ рисую с анатомии, 9 ½–10 ½ даю урок Мане, 11–2 в этюдном классе, 3–4 ½ пишу акварелью nature morte, 5–7 натурный класс,“ Vrubel an seine Schwester Anna am 13.1.1883 aus St. Petersburg, zit. nach: Gomberg-Verzhbinskaia/Novikov/Podkopaieva 1976, Nr. 9, S. 34–36, hier S. 35.

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4. Die Wege zum Bild

sunta studierte. Nach einem Zwischenhalt in Rom kehrte er im April 1885 nach Kiew zurück, ging aber dann aufgrund fehlender Aufträge nach Odessa, wo er an einer Zeichenschule arbeitete. Zusammen mit Nikolai Kuznetsov und Kiriak Kostandi382 schmiedete er Pläne für eine Privatakademie, in die er auch Serov einweihte.383 Als dieser Anfang Oktober in Odessa ankam, überlegten die beiden, sich in der Hafenstadt als Dozenten niederzulassen, allerdings kehrte Vrubel, enttäuscht von Odessas „kommerziellem Geist“, noch im Dezember 1885 nach Kiew zurück.384 Im folgenden Jahr malte er dort das Bildnis Maria Dakhnovich385 (Mädchen vor dem persischen Teppich, Abb. 20), Tochter des Pfandhausbesitzers Georgy Dakhnovich, eines der wenigen Kiewer Mäzene des Künstlers. Diese Arbeit hätte Serov sehen können, sollte er auf seinem Rückweg nach Moskau Anfang 1886 über Kiew gefahren sein.386 Vrubels Bild stellt das absolute Gegenkonzept zum impressionistischen Bildnis von Mamontova dar.387 Das fast frontal vor dem dunkelroten Teppich sitzende Mädchen, das von den kostbaren Stoffen und dem schweren Schmuck regelrecht erdrückt wird, ist der Inbegriff der Traurigkeit.388 Sie schaut mystisch durch den Betrachter hindurch, als würde sie wehmütig und resigniert das Schicksal selbst erblicken. In ihren Händen, die kraftlos über Kreuz im Schoß liegen, hält sie eine Rose und einen Dolch, die symbolisch für Liebe und Tod stehen. Vrubels Nadezhda Zabela-Vrubel389 (1898), die wie Serovs Maria Simonovich (1888, Abb. 96) im Freien gemalt wurde,390 entwickelte sich auch in eine ganz eigenständige Richtung. Die Landschaft, die die sitzende Gestalt umgibt, wurde hier nicht als Studie des Lichtspiels im grünen Blattwerk interpretiert, sondern in extenso aufgelöst und in einen Dunst ausbreiten, mosaikartigen weiß-, lila-, grün- und graufarbenen Pinselstrichen verwandelt. Das von links eindringende kalte Licht bricht sich in den Gewandfalten wie in geschliffenen Edelsteinen. Der große Hut, der mehr wie eine überdimensionale Blume, als ein Accessoire wirkt, intensiviert die enigmatische Erscheinung der Figur. Im Gegensatz zu Simonovich, die mit ihrem direkten Blick in der Realität verhaftet bleibt, nimmt Zabela-Vrubel den Betrachter nicht wahr und wird von ihm aus der Ferne bewundert.

382 Kiriak Konstantinovich Kostandi (1852–1921), in der Klasse Pavel Chistiakovs an der Kunstakademie bis 1884; Mitbegründer von Tovarishchestvo yuzhnorossiiskikh khudizhnikov (dt. Genossenschaft der südrussischen Maler, 1890–1922), der Serov 1894 beitrat. Siehe dazu: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, S. 67f., Anm. 6. 383 Serov an Ilya Ostroukhov am 8.9.1885 aus St. Petersburg, STG/QS, Moskau, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 28, S. 66–68. 384 Nikolai A. Prachow [Prakhov], Michail Wrubel, Dresden: VEB Verlag der Kunst, 1968 (1958), S. 27–29. 385 Девочка на фоне персидского ковра, 1886, Öl auf Leinwand, 104 × 68 cm, Museum der russischen Kunst, Kiew, Inv. Ж-308. 386 Mikhail Allenov in einem Gespräch mit der Autorin im Februar 2011. 387 Vgl. Allenova 2000, S. 5. 388 Vgl. Allenov 2007, S. 51. 389 Надеждa И. Забелa-Врубель, 1898, Öl auf Leinwand, 124 × 75,7 cm, STG, Moskau, Inv. 1459. 390 Sophia G. Kaplanova, Mikhail Alexandrovich Vrubel, in: Mashkovtsev/Sokolova 1964, S. 93–124, hier S. 102.

4.1 Serovs Ideenaustausch mit Ilya Repin, Mikhail Vrubel und Konstantin Korovin

20 Mikhail Vrubel, Mädchen vor dem persischen Teppich / Девочка на фоне персидского ковра, 1886, Öl auf Leinwand, 104 × 68 cm, Museum der russischen Kunst, Kiew, Inv. Ж-308

Jeder der beiden Künstler entfaltete folglich eine höchst individuelle Sprache. Was sie verband, war auch ihr Streben, dem idealisierenden trockenen Akademismus sowie dem prosaischen, belehrenden Realismus zu entfliehen und die Kunst nur um der Kunst Willen zu schaffen. Konstantin Korovin (1861–1939) Eine größere maltechnische und koloristische Affinität hatte Serov zu Konstantin Korovin. Die Freundschaft zwischen den beiden Künstlern war so eng, dass Savva Mamontov sie zum Scherz „Korov“ und „Serovin“ nannte.391 Zusammen mit Vrubel führten sie zwischen 1889 und 1893 eine Werkstatt392 in der Dolgorukovskaia ulitsa, arbeiteten an gemeinsamen Werken und unternahmen 1894 zu zweit eine Reise in den Norden, welche auf sie einen nachhaltigen Eindruck hinterließ. Auf Serovs Bitte wurde Korovin 1901 von der Moskauer Kunsthochschule eingeladen, in derselben Porträtklasse wie er zu unterrichten.393

391 Allenova 2000, S. 54. 392 Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 361, Anm. 17. 393 Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 200, Anm. 1.

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4. Die Wege zum Bild

21 Konstantin Korovin, Tatiana Liubatovich / Татьянa Любатович, 1880er, Öl auf Leinwand, 160 × 84 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4329

Dabei waren die zwei vom Charakter und Lebensstil überhaupt nicht ähnlich: Während der immer akkurat gekleidete und frisierte Serov sich meist schweigsam und ungesellig gab, war Korovin, der sein Hemd stets lässig zwischen der Weste und der Hose abstehen ließ, extrovertiert und lebenslustig.394 Es war das geteilte Ästhetikverständnis, das ihre enge Bindung förderte. Korovins Wunsch nach „Licht … [nach] Fröhlichem und Strahlendem“ korrespondierte wörtlich mit den Gedanken, die Serov 1887 im seinem Brief aus Venedig an Olga Trubnikova niederschrieb.395 Mit seinen leuchtenden, flüchtig gemalten Darstellungen einer Chorsängerin396 (1883?) und der Tatiana Liubatovich397 (1880er? Abb. 21) war Korovin seinen Zeitgenossen weit voraus. Unbeantwortet bleibt jedoch bis heute die Frage, wann der Künstler die französische 394 V. S. Mamontov 2012 (1950), S. 49. 395 „Нужен свет – больше отрадного светлого“, Konstantin Korovin in einem Brief vom 29.6.1891, zit. in: Kruglov 2000, S. 45. 396 Портрет хористки, 1883?, Öl auf Leinwand, 53,2 × 41,2 cm, STG, Moskau, Inv. 8634. Auf der Rückseite dieses Bildnisses schrieb er nachträglich, dass es im Jahr 1883 entstand, als „Serov noch keine Bildnisse malte“. Das Datum 1883 auf der Vorderseite wurde vermutlich auch nachträglich gesetzt. 397 Татьянa Любатович, 1880er, Öl auf Leinwand, 160 × 84 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4329. Tatiana Spiridonovna Liubatovich (1859–1932), Mezzo-Soprano-Sängerin, von Mamontov in Tiflis entdeckt, nach der Aussage der Herzogin dessen Mätresse. Siehe dazu: Maria Tenisheva, Vpechatleniia moiei zhizni, Moskau:

4.1 Serovs Ideenaustausch mit Ilya Repin, Mikhail Vrubel und Konstantin Korovin

Hauptstadt erstmals besuchte und die Arbeiten der Impressionisten sah. Seine Aussagen diesbezüglich differierten ebenso wie die Thesen der Forscher, die seinen ersten Parisaufenthalt zwischen 1880 und 1889 datieren.398 Uneinigkeit herrscht ferner darüber, wie sich das Verhältnis zwischen Serov und Korovin nach ihrer ersten Begegnung an der Moskauer Kunsthochschule im Jahr 1886 entwickelte. Schlüssig klingt die These von Kruglov, dass sie nicht von Anfang an im Austausch standen.399 Obgleich Korovin für Mamontov seit 1884 als Bühnenbildner tätig war, begann seine Freundschaft mit Serov wohl erst 1889, als sie beide Mamontovs Moskauer Werkstatt frequentierten.400 Umso verblüffender sind die Ähnlichkeiten in ihren Werken der zweiten Hälfte der 1880er Jahre. Korovins Bild Tatiana Liubatovich, welches in der Forschung mehrfach mit Serovs Vera Mamontova und Maria Simonovich verglichen wurde, entstand wahrscheinlich im Landhaus der Liubatovich Familie in Putiatino, unweit von Vladimir, wo sich der Mamontov-Kreis häufiger traf.401 Die Datierung dieses Portraits, das im Auftrag von Mamontov gemalt wurde, ist bis heute nicht eindeutig geklärt, wird aber oft auf die Jahre 1886–87 oder 1890 eingegrenzt, als die Sängerin in Mamontovs Privatoper auftrat.402 Unter den Arbeiten russischer Maler steht dieses Portrait motivisch und technisch den impressionistischen Frühwerken von Serov am nächsten, wenngleich Korovins Pinselführung temperamentvoller ist: Das Fenstermotiv, die Lichtführung sowie der Komplementärkontrast zwischen dem rosafarbenen Kleid und dem grünen Blattwerk erinnern an Vera Mamontova, während die Sitzhaltung und die Landschaft im Hintergrund an Simonovich

Iskusstvo, 1991 (1933), S. 70; Kniazeva/Pruzhan 1980, Nr. 23; Samkov/Silberstein 1990, S. 494, Anm. 29; Evgeny R. Arenzon, Savva Mamontov, Moskau: Russkaia kniga, 1995, S. 90–101; Kruglov 2000, S. 26f. 398 Sicher gilt, dass Korovin zwischen November 1888 und Februar 1889 mit Savva Mamontov Italien und Spanien bereiste und im Frühling 1889 nach Frankreich fuhr. Er selbst datierte seinen ersten Parisaufenthalt mal in das Jahr 1880 (STG/QS 97/62, S.1), mal in 1887. Siehe dazu u. a.: Alla P. Gusarova, Konstantin Korovin. Put khudozhnika, Moskau: Sovetsky khudozhnik, 1990, S. 41 und 47; Samkov/Silberstein 1990, S. 364; Letopis zhizni i tvorchestva K. A. Korovina, in: Lidia Iovleva (Hg.), Konstantin Korovin. Zhivopis. Teatr. K 150-letiiu so dnia rozhdeniia, AK Moskau, STG 29.3.–12.8.2012, Moskau: Skanrus, 2012, S. 385–397, hier S. 387. 399 Kruglov 2000, S. 20. Damit widersprach Kruglov der geläufigen Darstellung. Siehe dazu: Dora Kogan, Konstantin Korovin, Moskau: Iskusstvo, 1964, S. 46; Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 305 und 308; N. M. Moleva, Moia zhizn – zhivopis. Konstantin Korovin v Moskve, Moskau: Moskovsiky rabochii, 1977, S. 82; Gusarova 1990, S. 48; 400 Grabar 1914, S. 93; Samkov/Silberstein 1990, S. 56, S. 156f. und S. 494, Anm. 27. 401 Kniazeva/Pruzhan 1980, o. S., Nr. 23. Ob Serov in den 1880er Jahren nach Putiatino fährt, wird von der Forschung nicht erwähnt. 402 Kniazeva/Pruzhan datierten es mit 1886–87, Leniashin zunächst mit 1882. Später sprach er ebenso wie Kruglov, Filippov und die Autoren des Katalogs der Korovin-Ausstellung in der STG von 2012 von „1880er Jahren“. Da Liubatovich auch 1895, 1896 und 1898 bei Mamontov auftrat, bedarf es einer maltechnischen Analyse, um ein späteres Entstehungsdatum eindeutig ausschließen zu können. Siehe: Kniazeva/Prizhan 1980, o. S., Nr. 23; Leniashin 1989, S. 32f.; ders., in: Petrova 2000, S. 43; Kruglov 2000, S. 29; ders., in: Petrova 2000, S. 18; Filippov 2003, S. 164 und 166; Iovleva 2012, S. 82, Abb. 38. Die Daten von Liubatovichs Auftritten in: Arkady M. Pruzhansky, Otechestvennyie pevtsy: 1750–1917, Moskau: Sovetsky kompozitor, 1991, S. 294.

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denken lassen. Gerade diese Ähnlichkeiten zu den beiden Bildern von Serov sprechen meines Erachtens dafür, dass Korovin sie kannte und sich beim Malen seiner Porträts darauf orientierte.403 Er machte seine Liubatovich in ihrer ganzen Erscheinung wesentlich verspielter. Sie sitzt auf der Fensterbank mit ausgestreckten, übereinander geschlagenen Beinen, neigt den Kopf leicht zur Seite und strahlt den Betrachter mit einem lachenden Blick an, als hätte er sie mit einer neckischen Bemerkung gerade vom Lesen abgelenkt. Der Maler kokettiert mit Rüschen, Schleifen, Schmuck und Lackschuhen und unterstreicht damit diese fröhliche Stimmung. Folglich lassen sich in Serovs Œuvre der 1880er Jahre Verbindungen zu drei sehr unterschiedlichen russischen Künstlern erkennen, die sich alle als Secessionisten verstanden: zum kritischen Realisten Repin, zum künftigen Symbolisten Vrubel und zum werdenden Impressionisten Korovin. Sie alle traten in Serovs Leben, als sich sein Kunstverständnis noch im Entstehen befand. Neben dieser indirekten, durch das Prisma eines Anderen erfolgenden Vermittlung moderner Ästhetik, finden sich in Serovs Biografie zahlreiche Indizien für seine direkte Auseinandersetzung mit zeitgenössischer europäischer Kunst. Wichtige Hinweise darüber enthalten nicht nur diverse Briefe oder Memoiren, sondern auch zeitgenössische Reiseführer, Rezensionen, Bestands- und Ausstellungskataloge.

4.2 Von Angesicht zu Angesicht: Serovs frühe Begegnungen mit den Werken zeitgenössischer europäischer Maler in den russischen Sammlungen Das Interesse russischer Sammler an westeuropäischer Kunst erreichte im 18.  Jahrhundert ihren ersten Höhepunkt und war in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts trotz des wachsenden nationalen Bewusstseins nicht erloschen. Gerade in Moskau förderte das unter dem Wirtschaftsbürgertum ausgebrochene „Bilderfieber“ nicht nur national gesinnte Kunstfreunde zu Tage, obwohl hier die patriotische Neuorientierung klar dominierend war.404 Die Ankäufe wurden oft vor Ort, direkt bei den Künstlern getätigt. Die russischen Kunsthandlungen – schon 1871 gab es allein in St. Petersburg 82 solcher Geschäfte – boten ebenfalls ausländische Werke an.405 In den Ausstellungen der Petersburger Kunstakademie

403 Zudem war Serovs persönliche Ablehnung von Liubatovich aufgrund ihrer Affäre mit Savva Mamontov so stark, dass er kaum ihr Bildnis als Vorbild nehmen würde. 404 Adam Efros, Peterburgskoie i Moskovskoie sobiratelstvo, in: Sredi kollektsionerov, Nr. 4, 1921, S. 13–20; Yakov V. Bruck, Iz istorii khudozhestvennogo sobiratelstva v Moskve v XIX veke, in: Gosudarstvennaia Tretyakovskaia galereia. Ocherki istorii. 1856–1917, Leningrad: Khudozhnik RSFSR, 1981, S. 33–38; Waltraud Bayer, Die Moskauer Medici. Der russische Bürger als Mäzen 1850 bis 1917, Wien [u. a.]: Böhlau Verlag, 1996, S. 74 und 140f. 405 Adresy lits, torguiushchikh starinnymi khudozhestvennymi predmetami, St. Petersburg 1871, in: Boris I. Asvarishch (Hg.), Kushelevskaia Galereia. Zapadno-evropeiskaia zhivopis XIX veka, AK St. Petersburg, Staatliche Eremitage 1993, St. Petersburg: Gosudarstvenny Ermitazh, 1993, S. 12 und 24, Anm. 60.

4.2 Von Angesicht zu Angesicht

waren solche Bilder keine Seltenheit. So zeigte Manet 1861 seine Überraschte Nymphe406 (1861) in der russischen Hauptstadt.407 Als Reaktion darauf monierte Feodor Dostoevsky (1821–81), der sich in seiner Zeitschrift Vremya (Zeit, 1861–63) auch als anonymer Kunstkritiker versuchte, die „Flächigkeit“ von Manets Darstellung und verglich das Inkarnat mit dem „Kolorit einer fünf Tage alten Leiche“.408 Diese Einschätzung wurde von anderen Rezensenten geteilt und erinnerte stark an die Kritik, welche Manets Frühstück im Grünen409 (1862–63) zwei Jahre danach in Frankreich auf sich zog. Neben der Kunstakademie ermöglichten zudem einige Privatsammler ihren Besuchern, sich eine Vorstellung von der aktuellen Kunst des Westeuropas zu bilden, denn sowohl die wohlhabende kaufmännische Schicht als auch die Aristokratie verband ihre intensive Sammeltätigkeit oft mit der philanthropischen Idee der Gründung von gemeinnützigen Verbänden oder öffentlich zugänglichen Galerien. Die aus einer solchen privaten Initiative entstandene Gemäldegalerie der Moskauer Vereinigung der Kunstfreunde (1860–1918) war sogar über die Landesgrenzen hinaus bekannt. In John Murrays Reiseführer für Russland von 1875 wurde beispielsweise angegeben, dass in der permanenten Kunstausstellung in der Malaia Dmitrovka – geöffnet täglich 10–16 Uhr, Eintritt 20 Kopeiken – die besten Werke lebender russischer Künstler zu sehen und zu kaufen wären.410 Auch Karl Baedeker empfiehlt den Russland-Reisenden diese Adresse.411 Die Kushelevskaia Galerie Den ersten bleibenden Eindruck von zeitgenössischer europäischer Kunst bekam Serov, als er im Sommer 1879 von Repin nach St. Petersburg mitgenommen wurde. Dort besichtigte er nämlich nicht nur die Eremitage, sondern auch die Kushelevskaia Galerie im Museum der Kunstakademie, in der seit 1863 über 360 Gemälde von französischen, deutschen, belgischen, englischen und schweizerischen Künstlern der Öffentlichkeit zugänglich waren.412 Diese ihrer Zeit wohl größte russische Sammlung der neuesten Kunst Europas war auch im

406 Nymphe surprise, 1861, Öl auf Leinwand, 146 × 114 cm, Museo de Bellas Artes, Buenos Aires, Inv. 2712. 407 Anna Barskaya, Éduard Manet, Moskau: Gosudarstvennoie izdatelstvo izobrazitelnogo iskusstva, 1961, S. 66–68; Beatrice Farwell, Manet’s Nymphe Surprise, in: Burlington Magazine, April 1975, S. 225–229, hier S. 225; Asvarishch 1993, S. 14f. 408 „Ужас, ужас, ужас! [...] картина выставлена, конечно, с намерением, чтобы показать, до какого безобразия может дойти фантазия художника, который написал самую плоскую вещь и дал телу колорит пятидневного трупа,“ in: [Feodor Dostoevsky], Vystavka v akademii khudozhestv za 1860–1861 god, in: Vremia, Nr. 10, 1861, zit. nach: Asvarishch 1993, S. 14. 409 Le Déjeuner sur l’herbe, 1862–63, Öl auf Leinwand, 208 × 264 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 1668. 410 John Murray, Handbook for Travellers in Russia, Poland, and Finland including the Crimea, Caucasus, Siberia, and Central Asia, London [u. a.]: J. Murray, 1875, S. 254 und 287. 411 Karl Baedeker, La Russie. Manuel du voyageur, Leipzig: K. Bædeker, 1897, S. 255. 412 Grabar 1965, S. 40; Lidia Iovleva, K voprosu o tvorcheskikh istokakh iskusstva Feodora Vasileva, in: I. F. Hofman (Hg.), Gosudarstvennaia Tretyakovskaia Galereia. Materialy i issledovaniia, Leningrad: Khudozhnik RSFSR, 1983, S. 62–80, hier S. 65.

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Ausland bekannt.413 Sie wurde innerhalb von nur fünf Jahren von Graf Nikolai Alexandrovich Kushelev-Bezborodko (1834–62) zusammengetragen.414 Darin waren zahlreiche populäre Maler wie der Deutsche Ludwig Knaus (1829–1910) oder die Niederländer Oswald Achenbach (1827–1905) und Johan Hendrik Weissenbruch (1824–1903) vertreten; am stärksten war jedoch mit insgesamt 150 Werken die französische Schule präsentiert.415 Neben den Arbeiten modischer Salon-Künstler wie Hippolyte Delaroche (1797–1856), Jean-Léon Gérôme (1824–1904) oder Ernest Meissonier (1815–91) zählten dazu 19 Bilder der Maler von Barbizon, die zum Zeitpunkt ihres Ankaufs selbst in Frankreich noch auf Ablehnung stießen: sieben Gemälde von Narcisso Virgilio Díaz de la Peña (1807–76), vier von Constant Troyon (1810–65), jeweils zwei von Camille Corot (1796–1875), Théodore Rousseau (1812– 67) und Jules Dupré (1811–1889) sowie jeweils ein von Charles-François Daubigny (1817–78) und Jean-François Millet (1814–75). Ferner befanden sich in der Sammlung zwei Bilder von Eugène Delacroix (1798–1863) und eines von Gustave Courbet (1819–77). Die Vorstellung Petersburger Kunststudenten von der zeitgenössischen Malerei Europas wurde über viele Jahre in erster Linie in der ‚Kushelevka‘ geprägt. Die ältere Künstlergeneration stand dabei den Barbizon-Malern noch sehr zurückhaltend gegenüber, wie der Bericht von Mikhail Klodt (1832–1902) aus Paris exemplarisch vorführt: Ich besuche einige Ateliers der französischen Landschaftsmaler: Daubigny, Isabey, Rosa Bonheur, Troyon, Knaus (Genremaler) und vieler anderer, die weniger bekannt, aber durchaus wert sind, studiert zu werden [...] Natürlichkeit, Kraft und Einfachheit der Farben ist bei den französischen Malern dermaßen entwickelt, dass man sich spontan darüber wundert [...] aber [sie] achten wenig auf die Zeichnung, sodass die Natürlichkeit der Farben mit der Unnatürlichkeit der Form in Konflikt gerät und die Ergebnis folglich unvollkommen bleibt.416 413 Murray 1875, S. 149f.; Baedeker 1897, S. 159f. 414 Den Grundstein der Sammlung legte Alexandr Andreievich Bezborodko (1746–99). Der Sohn seiner Nichte Alexandr Grigoryevich (1800–55), der erste Graf Kushelev-Bezborodko, erbte einen Teil davon und eröffnete am 7.2.1846 in der Gagarinskaya Straße 19 in St. Petersburg eine Galerie, die donnerstags öffentlich zugänglich war. Sein Sohn Nikolai (1834–62) vermachte die erweiterte Sammlung der Kunstakademie unter der Bedingung, dass der Eintritt kostenfrei und ohne Kleidungsvorschriften bleibt. 1922 gingen 317 der Bilder an die Eremitage über, von dort wurden einige an andere Museen verteilt und 110 verkauft. Siehe dazu: Iovleva 1983, S. 66; Asvarishch 1993, S. 3–11 und 19; Albert Kostenevich, Russische Sammler französischer Kunst, in: Georg.-W. Költzsch (Hg.), Morozow und Schtschukin – die russischen Sammler, AK Essen, Museum Folkwang 25.6.–31.10.1993, Moskau, SPMbK 30.11.1993–30.1.1994 und St. Petersburg, Staatliche Eremitage 16.2.–16.4.1994, Köln: DuMont, 1993, S. 35–137, hier S. 56f. und 133, Anm. 22; ders., French Art at the Hermitage 1860–1950. Bouguereau to Matisse, London: Booth-Clibborn, 1999, S. 14. 415 Iovleva 1983, S. 66; Asvarishch 1993, S. 30–41; Kostenevich 1993, S. 57; ders. 1999, S. 14. 416 „Я посещаю мастерские некоторых французских художников по части пейзажей: Добиньи, Изабе, Розы Бонер, Тройона, Кнауса (жанриста) и многих других менее знаменитых, но вполе достойных изучения. [...] Натуральность, сила и простота красок до того развита у французских художников, что невольно удивляешься [...] но [...] французы мало обращают внимания на рисунок, так что натуральность красок спорит с ненатуральностью форм и, следовательно, задача решена не вполне.“ Klodt 1860 in

4.2 Von Angesicht zu Angesicht

Serov, der 1880 an die Akademie kam, wird indes die „berühmte Sammlung der Bilder der Barbizon-Maler“417 eingehend studiert haben, denn für ihn waren gerade diese ‚Unfertigkeit‘ und ‚Unvollkommenheit‘ so anziehend, dass er sie in den 1880er und 1890er Jahren zu seinen wichtigsten Stilmerkmalen entwickelte. Sammlung Dmirty Botkin In den privaten Sammlungen Moskaus konnte Serov seine Kenntnisse französischer Realisten weiter verfestigen. Eine davon war die Kollektion von Dmitry Petrovich Botkin (1829–89), der in seinem 1867 erworbenen Stadthaus in Pokrovka eine Gemäldegalerie einrichtete.418 Dmitry Botkin, der seit 1870 zusammen mit seinem Bruder Piotr (1831–1907) das erfolgreiche Teehandelsunternehmen Piotr Botkin i synovya419 leitete, nahm am kulturellen Leben seiner Stadt aktiv teil. Als Mitglied der Moskauer Vereinigung der Kunstfreunde trat er als großzügiger Sponsor auf und fungierte von 1877 bis 1889 als deren Vorsitzender.420 Ferner unterstützte er den in Paris ansässigen Maler Alexei Bogoliubov bei dessen Bemühungen, ein Kunstmuseum in Saratow einzurichten, und empfing in Moskau die Bilder, die Bogoliubov für das Museum aus dem Ausland schickte.421 Auch seinem engen Freund Pavel Tretyakov (1832–98) stand er beim Ankauf der Werke für dessen Galerie zur Seite.422 Botkin selbst bevorzugte aktuelle westeuropäische Kunst und sammelte Franzosen, Deutsche, Österreicher, Niederländer, Italiener, Spanier, Schweizer und sogar Amerikaner.423 Er seinem Stipendiaten-Bericht, zit. nach: Iovleva 1983, S. 64f. Mikhail Konstantinovich Klodt von Jürgensburg (1832–1902), Landschaftsmaler, 1870 Gründungsmitglied der Genossenschaft der Wanderausstellungen; setzte sich 1871–72 für das Einführen der Klasse für Landschaftsmalerei an der Akademie ein. Siehe: Klodt von Jurgensburg, Mikhail Konstantinovich, in: Yakov V. Bruck/Lidia I. Iovleva (Hg.), Gosudarstvennaia Tretyakovskaia Galereia. Katalog sobraniia. Zhivopis vtoroi poloviny XIX veka, Bd. 4.1, Moskau: Skanrus, 2001, S. 266–269, hier S. 266. 417 „он [Серов] впервые увидел в Кушелевском собрании знаменитую коллекцию картин барбизонцев“, Grabar 1965, S. 40. 418 Alexandra A. Demskaia, Gosudarstvenny muzei izobrazitelnykh iskusstv im. A. S. Pushkina, Moskau: Iskusstvo, 1983, S. 145; Natalia Dumova, Moskovskiie mezenaty, Moskau: Molodaia gvardiia, 1992, S. 10; Alexandr Frolov/Nadezhda Polunina, Kollektsionery staroi Moskvy, Moskau: Nezavisimaia gazeta, 1997, S. 59–63, hier S. 61. 419 P. Botkina synovya wurde 1801 vom Dmitrys und Piotrs Vater – dem aus der städtischen Unterschicht (posadskiie liudi) stammenden Piotr Kononovich Botkin (1781–1859?) – gegründet. Die Firma betrieb Handel mit China und besaß in den 1870er Jahren vierzig Inlandsfilialen sowie eine Niederlassung in London. Nicht alle von den neun Söhnen von Piotr Kanonovich übten kaufmännische Berufe aus: Sergei wurde Arzt, Vasily – Journalist und Literaturkritiker, Mikhail – Künstler. Siehe dazu: Kridl Valkenier 2001, S. 97f. 420 Bayer 1996, S. 56; Frolov/Polunina 1997, S. 62. 421 Pavel Buryshkin, Moskva kupecheskaia, New York: Izdatelstvo imeni Chekhova, 1954, S. 165; Frolov/Polunina 1997, S. 60f. 422 Frolov/Polunina 1997, S. 61. 423 Nach Botkins Tod ging die Sammlung an seine Söhne Sergei und Piotr über. Bis 1917 blieben die von Piotr geerbten Bilder sowie einige Bilder von Sergei im Stadthaus in der Pokrovka Straße: 1903 wurden über 130 davon gezählt. Andere Bilder brachte Sergei in seine Petersburger Wohnung sowie über Kopenhagen und Berlin nach Paris. Nach 1917 ging ein kleiner Teil der Sammlung an das SPMbK über. Siehe: Frolov/Polunina 1997, S. 62.

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interessierte sich sowohl für Gemälde, als auch für Zeichnungen, Aquarelle, Skulptur und Kunsthandwerk. Der 1875 publizierte Gemäldekatalog dieser Sammlung verzeichnete auf 112 Seiten neunzig Nummern und lieferte für jedes Bild eine knappe Beschreibung; der vierseitige Katalog von 1882 führte eine Liste von sechsundachtzig Werken auf.424 Ähnlich wie ‚Kushelevka‘ spiegelte diese Kollektion beinah alle Hauptrichtungen der europäischen Kunst wider. Die Historienmalerei wurde vorzugsweise durch die Franzosen wie Delaroche, Pierre Charles Comte (1823–1895) und Jean-Paul Laurens (1838–1921) präsentiert. Prominente Maler wie DeCamp, Meissonier, Puvis de Chavannes, Marià Fortuny (1838–74) oder Hans Makart (1840–84) hingen neben den weniger bekannten wie Albert Edelfelt (1854–1905) oder Francesco Paolo Michetti (1851–1929). Vielfältig war die Auswahl der Orientalisten: Dazu zählten mitunter Gérôme, Eugène Fromentin (1820–76) und Lawrence Alma-Tadema (1836–1912). Unter den wenigen Genrestücken befanden sich Gemälde von Jules Breton (1827–1906) und Rosa Bonheur (1822–99). Einen wesentlichen Schwerpunkt bildeten französische Realisten: Courbet, Daubigny, Corot, Díaz de la Peña, Millet, Troyon, Dupré, Félix Ziem (1821–1911) sowie Theodor und Philippe Rousseau (1816–87). Sicherlich kannte Serov Botkins Galerie, denn sie war seit ihrer Gründung Ende der 1860er Jahre für alle Kunstinteressierten zugänglich und wurde sogar in den ausländischen Reiseführern – wie etwa im oben erwähnten Handbook for Travellers... (1875) von John Murray – neben den Galerien Pavel Tretyakovs und Kozma Soldatenkovs zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt gezählt.425 Nachdem Serov sein Studium im Herbst 1885 unterbrochen hatte, hielt er sich mehrmals über Monate in Moskau auf, was die Vermutung nahe legt, dass er spätestens in dieser Zeit die Gelegenheit ergriff, Botkins Sammlung zu besichtigen. Sammlung Sergei Tretyakov Botkins private Galerie war nicht die einzige ihrer Art in Moskau. Die Sammlung von Sergei Tretyakov stand dieser in nichts nach. Beide Kaufmänner waren zudem über ihre Ehefrauen verschwägert und pflegten engen Kontakt: Bei ihren Käufen wurden sie sogar von den gleichen Sachverständigen und Galeristen konsultiert.426 Sergei Tretyakov (1834–92) spielte wie sein älterer und heute bekannterer Bruder Pavel im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt eine führende Rolle.427 Zwischen 1877 und 1881 wurde er zweimal zum Bürgermeister und damit auch zum Duma-Vorsitzenden gewählt. Er spendete große Summen an Kinderheime, Lehranstalten und Krankenhäuser und finanzierte zusammen mit Dmitry

424 Katalog kartinam, sostavliaiushchim sobraniie D. P. Botkina v Moskve, St. Petersburg: Tip. Maikova, 1875; Katalog kartinam, sostavliaiushchim sobraniie D. P. Botkina v Moskve, Moskau: Izdanie M. P. Botkina, 1882. 425 Murray 1875, S. 255; ders., Handbook for Travellers in Russia, Poland, and Finland including the Crimea, Caucasus, Siberia, and Central Asia, London [u. a.]: J. Murray, 1888, S. 257. 426 Botkin heiratete Sophia Mazurina (1840–89) und Tretyakov deren Schwester Elizaveta (1837–60), die Töchter von Sergei Alexeievich Mazurin (1802–50), dem Inhaber der Reutovskaia Textilmanufaktur. 427 Biografie von Sergei Tretyakov siehe in: Tatiana V. Yudenkova, Drugoi Tretyakov. Sudba i kollektsiia odnogo iz osnovatelei Tretyakovskoi galerei, Moskau: Gosudarstvennaia Tretyakovskaia galereia, 2012, S. 270–283.

4.2 Von Angesicht zu Angesicht

Botkin das Khudozhestvenny zhurnal (Kunstmagazin, 1881–87), in dem unter der Rubrik Pariser Kunstwelt Beiträge aus europäischen und amerikanischen Zeitschriften über Daubigny, Carolus-Duran, Gérôme, Gustave Doré (1832–83) und andere Künstler gedruckt wurden.428 Schon 1861 trat Tretyakov der Moskauer Vereinigung der Kunstfreunde bei, die er nach dem Tod von Dmitry Botkin als Vorsitzender leitete. Zwischen 1868 und 1889 fungierte er zudem als einer der Direktoren der Moskauer Abteilung der Russischen Musikgesellschaft (1859–1917). Mit Blick auf Pavel kaufte auch Sergei ab der ersten Hälfte der 1870er Jahre zunächst Werke russischer Maler, konzentrierte sich aber bald weitgehend auf das zeitgenössische Europa.429 Den Fokus legte er auf die französische Malerei in ihrer Gesamtheit. Zu seinen frühesten Werken gehörte das im Kreis um Jacques-Louis David (1748–1825) entstandene Bildnis eines jungen Mannes430 (o. J.), welches er als Davids Bildnis von Ingres über Paul Durand-Ruel kaufte. Delacroix’s thematisch wie koloristisch düstere Gemälde Nach dem Schiffsbruch431 (ca. 1840–47) wurde 1886 dem Bestand hinzugefügt und ein Jahr später – Ingres fein gezeichnetes Porträt von Molière432 (1843). Schon 1882 ging Courbets zügig gemaltes Meer433 (1867) aus dem Besitz von Georges Petit zu Tretyakov über. Die naturalistische Richtung präsentierte mintunter das Genrebild Liebe im Dorf434 (1882) von Jules Bastien-Lepage, das in Moskau 1885 für große Aufregung sorgte. Im gleichen Jahr erwarb Tretyakov den Pariser Vorort435 (1885) von Luigi Loire (1845–1916): eine durch höchste malerische Qualität ausgezeichnete Stadtlandschaft, in der eine weiße Rauchwolke, welche die Szenerie weich umhüllt, zum Hauptmotiv wird. Die Barbizon-Maler schmückten schon ab den späten 1870er Jahren die Wände von Sergeis Stadthaus. Allerdings können heute diese Ankaufsdaten nicht immer nachvollzogen werden. Darüber hinaus veräußerte der Sammler oft einzelne Arbeiten (Théodore Rousseau, Im Wald von Fontainebleau436, o. J.) und kaufte sie manchmal später wieder zurück, sodass der Bestand einem ständigen Wandel unterlag.

428 Siehe dazu: Yudenkova 2012, S. 180–182. 429 Als Sergei 1892 starb, entschied Pavel, seine eigene Sammlung – die ab 1881 schrittweise öffentlich zugänglich wurde – samt Sergeis Kollektion der Stadt zu schenken. Am 15.8.1893 eröffnete er die Moskauer Stadtgalerie von Pavel und Sergei Tretyakov. 1925 wurde Sergeis Sammlung zwischen SPMbK und der Eremitage aufgeteilt. Siehe: Irina S. Nenarokomova, Khoziain osobniaka na Prechistenskom bulvare, in: Panorama iskusstv, Nr. 12, Moskau: 1989, S. 353–372, hier S. 370; Bayer 1996, S. 102 und 199, Anm. 40. Vollständige Werkliste und Provenienzangaben in: Yudenkova 2012, S. 284–376, Kat. 1–137. 430 Портрет молодого человека, o. J., Öl auf Leinwand, 54 × 46 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 844. 431 После кoраблекрушения, 1840–47, Öl auf Leinwand, 36 × 57 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 860. 432 Жан-Батист Мольер, 1843, Bleistift, Aquarell, Tusche, Weiß auf Papier, 22,4 × 19,2 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 1445. 433 Море, 1867, Öl auf Leinwand, 103 × 126 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 969. 434 Деревенская любовь, 1882, Öl auf Leinwand, 194 × 180 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 3482. 435 Дым окружной парижской железной дороги (Парижское предместье), 1885, Öl auf Leinwand, 172 × 296 cm, Moskau, SPMbK, Inv. 1009. 436 В лесу Фонтенбло, o. J., Öl auf Leinwand, 64 × 54 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 1087; am 11.2.1882 von Ivan Turgenev an Sergei Tretyakov verkauft, im November 1882 von ihm weiterverkauft und im Mai 1884 zurückerworben, siehe: Yudenkova 2012, S. 325, Kat. 51.

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So schrieb er im Januar 1882 an Pavel aus Paris: „Ich verkaufte hier drei Bilder: Dupré, eine Landschaft von Daubigny [...], die über Corot hängt, und [noch] eine kleine Landschaft von Daubigny, die ein Boot auf dem Fluss [zeigt]“.437 Zu rekonstruieren, welche Bilder die Sammlung wann verließen oder wie lange sie in dieser verblieben, ist nur ansatzweise möglich. Lückenhaft ist auch die Provenienz der behaltenen Objekte. Inzwischen konnte immerhin die Herkunft von sechs Werken Daubignys aus Tretyakovs ehemaligem Besitz präzisiert werden: So wurde zum Beispiel Ufern der Oise438 (1860er) im Jahr 1886 und Morgen439 (1858) 1891 ersteigert. Der Mondaufgang440 (1880er) von Henri Joseph Harpignies (1819–1916) traf vermutlich 1889 in Moskau ein. Es lässt sich zudem nachverfolgen, dass Corots Stürmisches Wetter. Pas-de-Calais441 (1865–70) 1892 erworben wurde, während der Ankauf seiner Landschaft Windstoß442 (o. J.) irgendwann vor dem 29. Mai 1891 zustande kam. Ähnlich gestaltet sich die Faktenlage um die Werke von Dupré, Troyon, Díaz de la Peña oder Millet.443 Trotz der Schwerpunktlegung auf die Franzosen ergänzte Tretyakov seine Sammlung gelegentlich durch andere Künstler. So besaß er vermutlich schon seit 1886 das Gemälde Schafe im Wald444 (1880er) von Anton Mauve (1838–88), einem wichtigen Vertreter der Haager Schule, der 1881 Vincent van Gogh – einen Cousin seiner Ehefrau – an die Malerei heranführte. Das zuvor angesprochene Genrebild Näherinnen (o. J.) von Jozef Israëls kaufte Tretyakov 1891 in Paris.445 Zwei durch feines Kolorit bestimmte, miniaturhafte Bilder von Adolf Menzel (1815–1905) – Im Jardin de Luxembourg446 (1876) und Wanderzirkus447 (1884) – waren spätestens 1891 in seinem Besitz. Tretyakovs Stadthaus am Prechistensky Boulevard war im Gegensatz zu Botkins Galerie nicht öffentlich zugänglich, wurde aber von vielen Kulturschaffenden routinemäßig besucht. Nach Grabar gab es auch „selten einen Künstler, der [diese] herausragende Sammlung ausländischer [...] Meister des 19. Jahrhunderts nicht bewundert“ hätte. Diese „einzigartige Galerie“, so Grabar weiter, „spielte in der Entwicklung der neusten russischen

437 „Я продал здесь и очень выгодно свои три картины Дюпре, Добиньи пейзаж [...] который висит над Коро, и пейзаж Добиньи маленький, лодка на реке“, in: STG/QS 1/3659, Moskau, zit. nach: Nenarokomova 1989, S. 366. 438 Берега Уазы, 1860er, Öl auf Holz, 26 × 46 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 884. 439 Утро (Стая гусей на реке), 1858, Öl auf Holz, 29 × 47 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 879. 440 Восход луны, 1889, Öl auf Leinwand, 29 × 40 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 704. 441 Бурная погода. Па-де-Кале, o. J., Öl auf Leinwand, 38 × 55 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 953. 442 Порыв ветра, o. J., Öl auf Leinwand, 48 × 66, SPMbK, Moskau, Inv. 956. 443 Yudenkova 2012, S. 296f., Kat. 15–16; S. 303f., Kat. 23–24; S. 322, Kat. 45 und S. 326–329, Kat. 52–56. 444 Овцы в лесу, 1880er, Öl auf Leinwand, 58 × 98 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 3508. 445 Yudenkova 2012, S. 342, Kat. 75. 446 В Люксембургском саду (Воспоминания о Люксембургском саде), 1876, Öl auf Leinwand, 21 × 28 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 3539. 447 Странствующий цирк (Погонщики верблюдов в Паркенкирхене), 1884, Gouache auf Papier auf Karton, 18 × 27 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 3541; Yudenkova 2012, S. 341, Kat. 74.

4.2 Von Angesicht zu Angesicht

Malerei eine bedeutende Rolle und wurde zum Pilgerort für die Kunstfreunde aus ganz Europa“.448 Umso widersprüchlicher klingt angesichts dieser euphorischen Beschreibung die oben zitierte pauschale Aussage des gleichen Autors, Serov sei vor 1887 mit Ausnahme von Bastien-Lepage mit keinem zeitgenössischen französischen Maler vertraut gewesen.449 Im Gegenteil: Es ist über jeden Zweifel erhaben, dass Serov Tretyakovs gesamte Kollektion spätestens ab 1886 kannte, als er gemeinsam mit Ilya Ostroukhov, Mikhail Mamontov und Nikolai Tretyakov – Sergei Tretyakovs einzigem Sohn – die Werkstatt in Moskau unterhielt.450 Sammlung Ilya Ostroukhov Während führende kaufmännische Familien wie Botkin und Tretyakov mit Kunstinvestitionen ihre gesellschaftliche Stellung zu festigen suchten und zugleich aufklärerische Ziele verfolgten, gab es im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auch Sammler, die erst über ihre eigene künstlerische Tätigkeit diese Leidenschaft entwickelten. Eines der prominentesten Beispiele darunter war Ilya Ostroukhov (1858–1929). Serov begegnete ihm erstmals womöglich schon 1880/81: im Sommer 1880 in Abramtsevo, wo Ostroukhov zu der Zeit bei Alexandr Kiseliov451 seine ersten Pleinairstunden nahm, oder im Winter 1881/82 in St. Petersburg, als dieser sonntags den Zeichenabenden bei Repin beiwohnte.452 Spätestens zwischen 1882 und 1884 werden sie sich in der Akademie-Werkstatt von Pavel Chistiakov getroffen haben. Ostoukhovs Sammeltätigkeit begann, nachdem Polenov ihm 1881 Studie eines Bootes453 (1880) geschenkt hatte.454 Danach wuchs die Bilderzahl stetig an, wobei Serov häufig als Sachverständiger auftrat.455 Nachdem Ostroukhov 1889 Nadezhda Botkina (1855–1935) – Tochter von Dmitry Botkins jüngerem Bruder Piotr  – geheiratet hatte, wurde er zum Vorstandsmitglied der Aktiengesellschaft Piotr Botkin i synovya und zum Leiter einiger Zu 448 „Редкий художник не бывал в его особняке на Пречистенском бульваре и не любовался замечательным собранием картин иностранных [...] мастеров XIX века [...]. И этот брат создал [...] единственную в своём роде галерею [...] сыгравшую огромную роль в развитии новейшей русской живописи и имевшую стать местом непрерывного поломничества для любителей искусства всей Европы“, Igor Grabar, Katalog khudozhestvennykh proizvedeny gorodskoi Galerei Pavla i Sergeia Tretyakovykh, Moskau: Gorodskaia Tipografiia 1917, S. X. 449 Grabar 1914, S. 77–80. 450 Serov fertigte später in Auftrag Pavel Tretyakovs 1894–95 Sergeis postumes Bildnis für die Moskauer Stadtduma an (Öl auf Leinwand, 102 × 84 cm, sign. und dat. rechts oben, STG, Moskau, Inv. 1525). 451 Alexandr Alexandrovich Kiseliov (1838–1911), Landschaftsmaler, ab 1876 Mitglied der Genossenschaft der Wanderausstellungen, 1897–1911 Professor für Landschaftsmalerei an der Kunstakademie. 452 Siehe: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 236; Olga Ptitsyna, Graficheskoie sobraniie I. S. Ostroukhova v Tretyakovskoi Galeree, in: Russkoie Iskusstvo, Nr. 3, 2009, S. 69–73, hier S. 69; Olga Atroshchenko, „Chem Ostroukhov teper pogloshchaetsia?“, in: Russkoie Iskusstvo, Nr. 3, 2009, S. 80–91, hier S. 82–85; Eleonora Paston, „Dlinnonogii Abramtsevsky zhuravl“, in: Russkoie Iskusstvo, Nr. 3, 2009, 93–103, hier S. 94f., 98 und 100. 453 Лодка, 1880, Öl auf Leinwand, 16 × 27 cm, STG, Moskau, Inv. 11140. 454 Ptitsyna, in: Russkoie Iskusstvo, Nr. 3, 2009, S. 69. 455 Galina Churak, Repin v sobranii Ostroukhova, in: Russkoie Iskusstvo Nr. 3, 2009, S. 113–119, hier S. 114f.

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4. Die Wege zum Bild

ckerfabriken ernannt, was ihm ermöglichte, seine Kollektion schnell zu erweitern.456 Er kaufte Malerei, Grafik, fernöstliche Kunst, Kunsthandwerk, Möbel, Bücher und später auch altrussische Ikonen. 1890 eröffnete er in seiner neuen Stadtvilla im Trubnikovsky pereulok in Moskau ein eigenes öffentlich zugängliches Museum: War er noch in den 1880er Jahren ein Berater Pavel Tretyakovs, galt er nun selbst als einer der führenden Sammler der Stadt.457 Ostroukhov verlegte das Primat auf Studien und Skizzen – das heißt auf die Zeugnisse künstlerischer Suche, die meist freier und spontaner in ihrer Auffassungsmanier sind. Dazu gehörten zum einen Werke russischer Künstler: Von ihnen besaß er zum Schluss 330 Gemälde und 550 Zeichnungen, darunter Serovs Ölstudien Bullen (1885) und Piazza San Marco (1887, Abb. 15) sowie das Bild Auf dem Feldweg (1879) von Ilya Repin.458 Zum anderen trug Ostroukhov etwa vierzig Beispiele zeitgenössischer europäischer Kunst zusammen.459 Dazu gehören Zeichnungen von Puvis de Chavannes, Edgar Degas (1834–1917), August Rodin (1840–1917), Pierre-August Renoir (1841–1919), Alfred Roll (1846–1919), Jean-Louis Forain460 (1852–1931) und Henri Matisse (1869–1954).461 Doch mit Ausnahme von der Degas-Skizze einer Badenden (Ende 1880er?), die 1912 in die Sammlung kam, sind die Aufnahmedaten dieser Bilder nicht eindeutig geklärt. Das Gleiche gilt für Manets schlichtes Porträt von Antonin Proust462 (o. J.) und eine Adolph Monticelli (1824–86) zugeschriebene kleine Landschaft463 (o. J.). Daubignys Ton-in-Ton gemalte Vedute London. Westminster464 (1866) erwarb 456 Lidia Iovleva, Ilya Semionovich Ostroukhov i Tretyakovskaia galereia, in: Russkoie Iskusstvo, Nr. 3, 2009, S. 10– 21, hier S. 12. 457 Ostroukhovs Stadthaus wurde 1905 und 1914 erweitert, um die Sammlung und Bibliothek unterbringen zu können; der erste Bibliothekskatalog (1914) hatte über 12000 Nummern. Als Henri Matisse 1911 Ostroukhovs Museum besuchte, hinterließen v. a. Ikonen einen tiefen Eindruck auf ihn. Siehe dazu: Frolov/Polunina 1997, S. 251–252; Nadezhda Pivovarova, Ostroukhov i formirovaniie kollektsii Otdeleniia khristianskikh drevnostei Russkogo muzeia imperatora Alexandra III, in: Russkoie Iskusstvo, Nr. 3, 2009, S. 22–29, hier S. 24f.; Xenia Kastro, Dom kollektsionera, in: Russkoie Iskusstvo, Nr. 3, 2009, S. 30–34; Ptitsyna, in: Russkoie Iskusstvo, Nr. 3, 2009, S. 72f.; Valentina Ukhanova, „On byl podlinnym Kolumbom drevnerusskoi zhivopisi“, in: Russkoie Iskusstvo, Nr. 3, 2009, S. 104–111, hier S. 107; Zoya Shergina, O legendarnom moskovskom knigoliube, in: Russkoie Iskusstvo, Nr. 3, 2009 , S. 120–131, hier S. 121f. 458 Ostroukhovs handschriftlicher Katalog listet 92 Werke russischer Künstler ohne Ankaufsdaten auf. In den nach 1917 entstandenen Notizen wird nur erwähnt, er besäße 330 Gemälde russischer und 40 Gemälde ausländischer Maler. Siehe: RGALI 8222/138 und 822/1/141 recto; Sredi kollektsionerov, 1921, Nr. 4; Ptitsyna, in: Russkoie Iskusstvo Nr. 3, 2009, S. 71; Churak, in: Russkoie Iskusstvo, Nr. 3, 2009, S. 113 und 117. 459 Marina Bessonova/Evgeniia Georgiievskaia, Gosudarstvenny muzei izobrazitelnykh iskusstv imeni A. S. Pushkina. Frantsiia vtoroi poloviny XIX–XX veka. Sobraniie zhivopisi, Moskau: Krasnaia ploshchad, 2001, S. 10. 460 Г-жа Форен/Mme Forain, ca. 1891, Aquarell auf Papier, Blattmaß 64,5 × 48,5 cm, Bildmaß 59 × 44 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 10447. 461 Siehe: Vitaly Mishin (Hg.), Gosudarstvenny muzei izobrazitelnykh iskusstv imeni A. S. Pushkina. Frantsuzsky risunok kontsa XIX–nachala XX veka, Moskau: Golden Bee, 2010, Kat. 33, 70, 256, 413, 430, 432, 437, 443, 494 und 496. 462 Антонин Пруст, o. J., Öl auf Leinwand, 65 × 54 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 3469. 463 Пейзаж, o. J., Öl auf Leinwand, 21 × 16 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 3208. 464 Лондон. Вестминстер, 1866, Öl auf Holz, 32 × 59 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 2431; Irina Kuznetsova/Elena Sharnova (Hg.), Gosudarstvenny muzei izobrazitelnykh iskusstv imeni A. S. Pushkina. Frantsiia XVI – pervoi poloviny XIX veka. Sobraniie zhivopisi, Moskau: Krasnaia ploshchad, 2001, Kat. 325.

4.2 Von Angesicht zu Angesicht

Ostroukhov nach 1899. Das Pastell Bergfluss465 (o. J.) von Frits Thaulow (1847–1906) kaufte er vermutlich auch erst Ende der 1890er Jahre. Der Verbleib vieler Arbeiten europäischer Künstler, die einst im Haus am Trubnikovsky pereulok zu sehen waren, ist nur schwer nachvollziehbar.466 Ostroukhovs vielfältige Kunstinteressen lassen jedoch die Vermutung zu, dass er noch vor der Eröffnung seines Museums die Neuerungen in der europäischen Kunstszene aufmerksam verfolgte. Sammlung Nikolai Kuznetsov Ein weiterer Sammler zeitgenössischer Kunst aus Serovs Kollegenkreis war Nikolai Kuznetsov (1850–1929). Wann Kuznetsov damit anfing, seine Kollektion zusammenzutragen, wurde bis jetzt kaum erforscht. Fakt ist, dass er 1900 seine Werkstatt und Kunstgalerie in der Lidersovsky Boulevard 1 in Odessa für seine Künstlerfreunde zugänglich machte und sich damit für die Bildung der jungen Malergeneration einsetzte.467 Kuznetsov entstammt einer wohlhabenden Odessaer Adelsfamilie und sollte wie sein Vater eine Offizierskarriere einschlagen.468 Im Alter von 26 Jahren reiste er nach St. Petersburg, um dem Ulansky Garderegiment beizutreten, nahm aber stattdessen an den Aufnahmeprüfungen der Kunstakademie teil. Allerdings brach er bereits 1879 auf Anraten von Ivan Kramskoi und Ivan Shishkin sein Studium ab.469 Im Jahr darauf fuhr Kuznetsov nach Paris, wo er Alexei Bogoliubov und dem Landschaftsmaler Ivan Pokhitonov470 (1850–1923) begegnete. Der Letztere wurde für Kuznetsov, der sich neben Genreszenen und Porträts auf lyrische Naturdarstellungen spezialisierte, zum wichtigen Vorbild und langjährigen 465 Горная речка, o. J., Pastell auf Leinwand, 59,5 × 80 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 3473; Vadim Sadkov/Liubov Savinskaia/Anna Poznanskaia (Hg.), Gosudarstvenny muzei izobrazitelnykh iskusstv imeni A. S. Pushkina. Germaniia, Avstriia, Shveitsariia XV–XX veka. Daniia, Islandiia, Norvegiia, Finliandiia, Shvetsiia XVIII–XX veka. Sobraniie zhivopisi, Moskau: Krasnaia ploshchad, 2009, Kat. 365. 466 1918 wurde Ostroukhovs Museum zu einer Filiale der Tretyakov Galerie und er zum Leiter auf Lebenszeit. 1929 gingen die Werke an das Russische Museum in St. Petersburg, das Polenov Museum in Strakhovo und das Neue Museum der westlichen Kunst (1923–48) in Moskau etc. Aus dem Letzteren wurden sie 1948 an das SPMbK und die Eremitage übergeben. Siehe dazu: Valentin Bulgakov, Vstrechi s khudozhnikami, Leningrad: Khudozhnik RSFSR, 1969, S. 52; Frolov/Polunina 1997, S. 253; Kastro, in: Russkoie iskusstvo, Nr. 3, 2009, S. 34; Ptitsyna, in: Russkoie iskusstvo, Nr. 3, 2009, S. 73. 467 Als Kuznetsov 1920 Russland in Richtung Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen verließ, wurde seine Sammlung nationalisiert und über mehrere Museen verstreut. Nach Auskunft des Odessaer Sammlers Sergei Sedykh gegenüber der Autorin im Juni 2011, brachte Kuznetsov einige Bilder nach Belgrad mit, wo sie bis heute im Serbischen Nationalmuseum aufbewahrt werden. 468 Biografische Angaben zu Kuznetsov siehe in: I. A. Bykhovskaia, Nikolai Dmitriievich Kuznetsov 1850–1930, in: Alexei I. Leonov, Russkoie iskusstvo. Ocherki o zhizni i tvorchestve khudozhnikov vtoroi poloviny XIX veka, Bd. 2, Moskau: Iskusstvo, 1971, S. 241–258; Bruck/Iovleva 2001, S. 321–325, hier S. 321. 469 Seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte Kuznetsov 1881–82 mit der Genossenschaft der Wanderausstellungen und gewann gleich darauf Pavel Tretyakov als Mäzen, 1893 trat er den Peredvizhniki bei. 470 Biografische Angaben zu Pokhitonov siehe in: Sophia G. Kaplanova, Ivan Pavlovich Pokhitonov 1850–1923, in: Leonov 1971, S. 225–232; Milner 1993, S. 332; Yakov V. Bruck/Lidia I. Iovleva, Gosudarstvennaia Tretyakovskaia galereia. Katalog sobraniia. Zhivopis vtoroi poloviny XIX veka, Bd. 4.2, Moskau: Krasnaia ploshchad, 2006, S. 139–144, hier S. 139f.

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4. Die Wege zum Bild

Freund.471 Pokhitonov, der zwischen 1876 und 1904 überwiegend in der französischen Hauptstadt lebte, suchte seinerseits Anregungen bei den Barbizon-Malern und pflegte eine Freundschaft zu Dupré, Harpignies und Gustave Moreau (1826–98).472 Mit seinen miniaturhaften Bildern, die er im Salon (1876, 1878–82) und in der Galerie de George Petit473 (1882) ausstellte, machte er sich in Paris einen Namen und erweckte die Bewunderung des einflussreichen Kritikers Albert Wollf474 (1835–91). Angesichts der engen Freundschaft Kuznetsovs zu Pokhitonov, der in die Pariser Kunstszene integriert war, sowie seiner Verbindung zu Alexei Bogoliubov, der für Sergei Tretyakov und Dmitry Botkin gelegentlich als Sachverständiger fungierte, ist die Frage erlaubt, ob Kuznetsov bereits während seiner ersten Reise in die französische Hauptstadt im Jahr 1880 Werke zeitgenössischer Künstler erwarb. Finanziell wäre er dazu durchaus in der Lage gewesen. Im Verlaufe seines Lebens unternahm er mehrere Europareisen – darunter nach Frankreich, Deutschland, Österreich und Italien – und stellte bei den Weltausstellungen in Paris (1889, 1900) und Chicago (1893) aus, was ihm ermöglichte, die internationale Kunstlandschaft zu studieren.475 Es wurde jedoch keine Bestandsliste seiner Kollektion überliefert; in der Presse wurde sie erst in den 1890er Jahren erwähnt: Heute lässt sich lediglich sagen, dass sich in Kuznetsovs Besitz unter anderem Bilder von Frits Thaulow, Charles Cottet (1863–1925), Gaston de la Touche (1854–1913) und Paul Émile Chabas (1869–1937) befanden.476 Kuznetsov und Serov begegneten einander in der ersten Hälfte der 1880er Jahre in Abramtsevo, wo Kuznetsov in der Zeit ein häufiger Gast war. Die Annahme, dass ihre Verbindung aufrecht erhalten blieb, wird dadurch gestützt, dass Serov im Herbst 1885 auf Kuznetsovs Landgut in Stepanovka bei Odessa fast einen ganzen Monat verbrachte.477 1894 trat er der Genossenschaft der südrussischen Künstler (Tovarishchestvo yuzhnorusskikh khudoznikov, Odessa, 1890–1922) bei, die von Kuznetsov mitbegründet wurde.478 Tiefere Erkenntnisse über Kuznetsovs Kollektion würden daher sicherlich neues Licht darauf werfen, mit welchen Werken ausländischer Maler Serov vor seiner Parisreise von 1889 vertraut war.

471 Bykhovskaia, in: Leonov 1971, S. 242. Kuznetsovs Bildnis von Ivan Pokhitonov (1882, Öl auf Leinwand, 30,2 × 32,7 cm, STG, Moskau, Inv. 702) befand sich bis Anfang 1890er Jahre in der Slg. Ilya Ostroukhov. 472 Kaplanova, in: Leonov 1971, S. 226. 473 George Petit (1856–1920), der 1878 seine ersten impressionistischen Arbeiten kaufte und sich bald als einer der bedeutendsten Unterstützer dieser Stilrichtung etablierte, vertrat auch Ivan Pokhitonov, weswegen sich ein Großteil von dessen Arbeiten heute außerhalb Russlands befindet, in: Kaplanova, in: Leonov 1971, S. 226. 474 Albert Wolff [Wolf], Les Quinze. Jules Dupré. Jean Léon Gérôme. Paul Jacques Baudry. Adolf Menzel. Ludwig Knaus. Alfred Stevens. J.-E. Millais. Lorence Alma Tadema. Joseph de Nittis. Alfred Wahlberg. Raimodo Madrazzo. Edouard Charlemont. Josef Israels. Alexis Bogoluboff. Yvan Pokitonow, in: Le Figaro, Jg. 28, Nr. 135, 15.5.1882, S. 1. 475 In Paris wurde er beide Male mit einer Silbermedaille ausgezeichnet. Siehe dazu: Bruck/Iovleva 2001, S. 321. 476 Diese Informationen wurden der Autorin von Sergei Sedykh im Juni 2011 zur Verfügung gestellt. 477 Grabar 1965, S. 70; Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 94, Anm. 101. 478 Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, S. 68, Anm. 6.

4.2 Von Angesicht zu Angesicht

Es verwundert kaum, dass wohlhabende Kaufleute, deren Interesse in erster Linie der europäischen Kunst galt, nach der Oktoberrevolution zunehmend in Vergessenheit gerieten und ihre Sammlungen in der Forschung kaum Erwähnung fanden. Die Nationalisierung und die Aufteilung der jeweiligen Bestände zwischen den Museen ließen die Erinnerung an sie umso schneller verblassen. Diese obige Ausführung bot einen knappen Überblick über die wichtigen privaten Kollektionen in Serovs Umfeld der 1880er Jahre.479 Damit wurde ersichtlich, dass solche Galerien es schon in den 1880er Jahren ermöglichten, mannigfache Kenntnisse über die aktuelle europäische Kunst zu gewinnen, obgleich das Interesse der Sammler sich noch nicht bis zu den französischen Impressionisten erstreckte. Eine wichtige Erkenntnis für diese Diskussion ist, dass Serov bereits in der ersten Hälfte der 1880er Jahre alle drei der zu dieser Zeit größten russischen Sammlungen zeitgenössischer europäischer Kunst kennenlernte. Zahlreich vertreten waren darin die Barbizon-Maler, deren paysage intime für die Impressionisten und viele anderen Pleinairisten eine Vorbildfunktion hatten. Auch Serov prägten sie nachhaltig: In seinen Werken verfolgte er die Intention, das unmittelbar Wahrgenommene einzufangen, und übersetzte seine Eindrücke in eine individuelle skizzenhafte Sprache. Es darf ferner angenommen werden, dass auch andere Bilder – wie die von Courbet oder Loire – aufgrund ihrer herausragenden koloristischen und maltechnischen Qualitäten ebenfalls seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Jedenfalls war die Wirkung, welche diese Bilder auf den jungen Maler ausübten, seinem Freundeskreis nicht entgangen: 1888 schrieb Elena Polenova480 (1850–98) an Elizaveta Mamontova, dass im Haus Sergei Tretyakovs „klar wird [...], unter welch starkem Einfluss der Franzosen Anton doch arbeitet“.481 Serov war sich ebenfalls dessen bewusst. So fragte 479 Dazu zählt z. B. auch die Kollektion des Moskauer Zuckerfabrikanten Pavel Ivanovich Kharitonenko (1852– 1914), der über 60 Werke europäischer Künstler, darunter auch der Barbizon-Maler, zusammentrug, bevor er sich um 1900 vorwiegend auf die Ikonen konzentrierte. Ferner bedarf es einer Klärung, ob die Bilder, die Alexei Bogoliubov aus Paris an das Radishchev-Museum in Saratow schickte, von Dmitry Botkin – ihrem Empfänger in Moskau – seinen Besuchern zeitweise zugänglich gemacht wurden: Schließlich befanden sich darunter solche maltechnisch herausragenden Stücke, wie die Landschaft. Fontainbleau (o. J., Öl auf Holz, 39 × 60 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 2806) des Marseiller Malers Adolphe Monticelli (1824–86), der für seine pastose Malweise von van Gogh bewundert wurde. Zu Kharitonenko siehe: Bayer 1996, S. 134 und 141; Frolov/Polunina 1997, S. 367. Zum Einfluss von Monticelli auf van Gogh: Marie-Paule Vial/Luc Georget (Hg.), Van Gogh Monticelli, AK Marseille, Centre de la vieille charité 16.9.2008–11.1.2009, Paris: Réunion des musées nationaux, 2008. 480 Elena Dmitriievna Polenova (1850–98), Schwester von Vasily Polenov, studierte 1863–67 unter Chistiakov und Kramskoi an der Zeichenschule des Imperatorskoie obshchestvo pooshchereniia khudozhestv (Kaiserliche Gesellschaft der Kunstförderung, 1820–1929) in St. Petersburg und 1869–70 im Atelier von Charles Chaplin (1825–91) in Paris; ab 1882 aktives Mitglied des Abramtsevo-Künstlerkreises, wo sie die Tischlerwerkstätte leitete. Siehe dazu: Milner 1993, S. 332f. 481 Elena Polenova an Elizaveta Mamontova am 13.11.1888 aus Moskau, auszugsweise zit. in: Ekaterina Sakharova, V. D. Polenov. E. D. Polenova. Khronika semyi khudozhnikov, Moskau: Iskusstvo, 1964, S. 401; Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 116; Demskaia 1983, S. 148. Von den Menschen, die ihm nahestanden, wurde Serov Tosha oder auch Anton genannt. Dieser Beiname ergibt sich aus der schrittweisen Verniedlichung des Namen Valentin: von Valentin zu Valentosha, was wiederum ähnlich wie Antosha klingt. Daraus wurden Anton und Tosha abgeleitet.

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4. Die Wege zum Bild

er Ostroukhov in einem Brief vom 1. Dezember 1888, ob der Rahmen für seinen „Daubigny-Rousseau“ fertig sei: Damit meinte er die Landschaft Verwachsener Teich. Domotkanovo482 (1888), die bei der VIII. Ausstellung der Moskauer Vereinigung der Kunstfreunde wie ein Daubigny-Bild aus der Sammlung Dmitry Botkin den Titel Dämmerung483 trug.

4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887 Die beiden ersten Europa-Reisen Serovs führten ihn noch nicht nach Paris, wo die Impressionisten in der Öffentlichkeit zunehmend Anerkennung fanden. Allerdings stellten die von ihm besuchten Städte in der Entwicklung und Verbreitung moderner Malereitendenzen bedeutende Stationen dar. Daher richtet der folgende Abschnitt den Blick auf München, Amsterdam, Den Haag, Antwerpen, Venedig und Mailand als mögliche Katalysatoren von Serovs Stilwende. Karl Koepping und seine Rolle in Serovs Europa-Reise von 1885 Während seiner Reise nach Deutschland und Holland im Sommer 1885 kam Serov mit Sicherheit mit der aktuellen deutschen und niederländischen Kunst mehrmals in Berührung. Angesichts dessen, dass sein einstiger Lehrer Karl Koepping für ihn als ortskundiger Reiseführer fungierte, klingt diese Annahme umso berechtigter. Mitte der 1880er Jahre war Karl Koepping484 (1848–1914) für seine Stiche nach Tizian, Rembrandt, Hals und Gainsborough europaweit bekannt. 1884 zog er nach Amsterdam, wo er sich zum Zeitpunkt des Wiedersehens mit Serov um die Genehmigung bemühte, von einem großen Gemälde Rembrandts im Rijksmuseum – wahrscheinlich dem Porträt der Vorsteher der Tuchmacherzunft485 (1662) – eine Radierung zu machen.486 National und international war er gut vernetzt. Seit seinem Paris-Aufenthalt von 1876 pflegte er eine Freundschaft mit Max Liebermann, den er in Frankreich in Drucktechniken unterrichtet hatte, sowie mit dem ungarischen Maler Mihály von Munkáscy, nach dessen Werken er

482 Katalog kartinam, sostavliaiushchim sobraniie D. P. Botkina v Moskve, St. Petersburg 1875, S. 21f., Kat. 17. 483 „Готова-ли рама к моему Добиньи-Руссо?“ Serov an Ilya Ostroukhov am 1.12.1888 aus St. Petersburg, in: STG/QS, Moskau, zit. nach: Samkov/ Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 63, S. 113–115, hier S. 113 und 115, Anm. 3. 484 Karl Koepping (1848–1914), ab 1869 Student an der Münchener Kunstakademie, ab 1890 Professor an der Berliner Kunstakademie; bekannt v. a. für seine Gravuren nach alten Meistern, die u. a. in Pan (1895–1900) publiziert wurden, sowie für seine Gläser, die er ab 1895 entwarf. Siehe: Köpping, Karl, in: Ulrich Thieme/ Hans Vollmer (Hg.), Allgemeines Lexikon der bildenden Kunst von der Antike bis zur Gegenwart, Leipzig: E. A. Seemann, 1927, Bd. 21, S. 174f.; Anita Kühnel, Koepping, Karl, in: Turner 1996, Bd. 18, S. 237. 485 De Staalmeesters, Öl auf Leinwand, 191,5 × 279 cm, Rijksmuseum Amsterdam, Inv. SK-C-6. 486 Serov schrieb aus München, dass Koepping Schwierigkeiten habe, eine Genehmigung für eine Radierung nach Rembrandt in einem Amsterdamer Museum zu bekommen: Da Koepping sein Portrait der Vorsteher der Tuchmacherzunft 1887 fertigstellte, ist es wahrscheinlich die Arbeit gewesen, die Serov erwähnte. Siehe: STG/QS 49/10, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 23, S. 56–59, hier S. 57.

4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887

Radierungen anfertigte.487 1889 werden es Koepping, Liebermann und Kuehl sein, die auf Nachfrage von Antonin Proust die Organisation einer unabhängigen deutschen Abteilung in der Pariser Exposition Universelle übernehmen.488 Dass Koepping ein sensibler Kenner der internationalen Kunstlandschaft gewesen sein muss, zeigt nicht zuletzt seine große Sammlung zeitgenössischer Grafiken, die er möglicherweise bereits in Frankreich zusammenzustellen begann.489 1885 war Koepping vier Tage bei den Serovs in München zu Gast bevor er nach Holland abreiste.490 Für Serov war München die längste Station seines Europa-Aufenthalts. Einen Monat nach seiner Ankunft schrieb er voller Elan an Elizaveta Mamontova: „Es scheint mir, ich habe mir hier all das, was mit Kunst zu tun hat, angeschaut“.491 Vermutlich befanden sich unter „all den“ Kunstwerken auch populäre Nähmädchen-Bilder: Aktuelle Kunst stand in der bayerischen Hauptstadt nämlich seit langem hoch im Kurs. Überhaupt war München einer der ersten Städte, in denen Museen für zeitgenössische Kunst eröffnet wurden: die Neue Pinakothek im Jahr 1853 und fünf Jahre danach die Schack-Galerie.492 1869 organisierte die Münchener Künstlergenossenschaft im Glaspalast ihre Erste Internationale Kunstausstellung, in der Courbet, Millet, Corot und Manet zu sehen waren.493 In Folge dessen entwickelte sich München ab den 1870er Jahren zu einem Ort, an dem im Kreis um Wilhelm Leibl (1844–1900) die Freilichtmalerei und die „reinkünstlerische“ Arbeitsweise (die keinem allgemeinverbind 487 So vermutete Achenbach, dass Liebermanns erster Radierversuch Kinder (1876) auf Koepping zurückzuführen sei. Zudem lernte Koepping wahrscheinlich schon Ende 1870er–Anfang 1880er Jahre in Paris Kuehl und von Uhde kennen: Kuehl lebte dort seit 1878 und Uhde ging dorthin 1879 auf die Einladung von Munkácsy. Siehe: Sigrid Achenbach, Die Druckgraphik Max Liebermanns, Heidelberg: Universität Heidelberg, 1974, S. 25; Ulf Küstner, Fritz von Uhde – Biographie, in: Hansen 1999, S. 190–197, hier S. 191; J. Hülsewig-Johnen, in: Hülsewig-Johnen/Kellein 2009, S. 26. 488 Kühnel, in: Turner 1996, Bd. 18, S. 237. 489 Koeppings Sammlung wurde am 25.10.1915 von der Galerie F. A.C. Prestel (gegr. 1774, Frankfurt a. M.) versteigert. Im Auktionskatalog werden u. a. folgende Künstle aufgelistet: Pierre Bonnard, Mary Cassat, Lovis Corinth, Camille Corot, Charles François Daubigny, Honore Daumier, Eugène Delacroix, Maurice Denis, James Ensor, Paul Gauguin, Francesco de Goya, Armand Guillaumin, Jozef Israëls, Max Klinger (Nr. 645–694), Käthe Kollwitz, Max Liebermann, Édouard Manet, Henri Matisse, Emile Orlik, Camille Pissarro, Odilon Redon, August Rodin, Max Slevogt, Henri de Toulouse-Lautrec, James McNeil Whistler (Nr. 1112–1128) und Anders Zorn (Nr. 1151–1060). Leider wird in den Einträgen keine Trennung zwischen der Koepping-Sammlung und dem „anderen Besitz“ gemacht. Da im Versteigerungstitel die Betonung auf Koepping liegt, kamen die meisten Werke wahrscheinlich aus seinem Besitz. Siehe: Handzeichnungen deutscher Meister des 19. Jahrhunderts aus dem Nachlasse der Freifrau Luise von Seebach. Moderne Graphik. Handzeichnungen, Radierungen, Lithographien moderner Meister aus dem Nachlasse des im Jahre 1914 verstorbenen Prof. Karl Koepping, Berlin und anderem Besitze (Frankfurt a. M.: Englert & Schlosser, 1915, S. 29–118, Kat. 120–1163. 490 Serov an Olga Trubnikova am 8.7.1885 (20.7.1885) aus München, STG/QS 49/10, Moskau, zit. nach: Samkov/ Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 23, S. 56–59, hier S. 57. 491 „По части искусства я, кажется, всё пересмотрел здесь“, Serov an Elizaveta Mamontova am 24.6.1887 (6.7.1885) aus München, in: RGALI 799/1/326, Blatt 33–34, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 21, S. 54f., hier S. 54. 492 Birgit Jooss, München als Ursprungsort des deutschen Impressionismus. Zwischen Akademie und Secession – Moderne Kunst aus Süddeutschland, in: Hülsewig-Johnen/Kellein 2009, S. 51–60, hier S. 51. 493 Andrea Grösslein, Die internationalen Kunstausstellungen der Münchener Künstlergenossenschaft im Glaspalast in München von 1869 bis 1888, München: Herbert Utz, 1987, S. 49–53.

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lichen Stil unterworfen war) zu den neuen bildnerischen Prinzipien erklärt wurden. Die Künstler, die diesen Maximen folgten – wie Wilhelm Trübner494 (1851–1917), Hans Thoma (1839–1924) und Johann Sperl (1840–1914) – fanden ihre Vorbilder in Courbet und Manet sowie in den Holländern und Spaniern des 17. Jahrhunderts. Selbst an der Akademie machte sich diese Verschiebung des Fokus bemerkbar, als Genre und Landschaft den Historien ihren Rang abstritten.495 Als eine der bedeutendsten Kunstausbildungsstädte weltweit, zog München, ähnlich wie Paris, kontinuierlich viele ausländische Studenten an. Allen voran waren es die Amerikaner, darunter Frank Duveneck (1848–1919), John White Alexander (1856–1915) und William Merritt Chase (1849–1916).496 Auch viele Norweger – wie Erik Werenskiold (1855–1938), Eilif Peterssen (1852–1928) und Hans Heyerdahl (1857–1913) – kamen hierher, um zu studieren. 1896 ließen sich die russischen Künstler Marianne Werefkin (1860–1938) und Alexej Jawlensky (1864–1941) – und im Jahr darauf Wassily Kandinsky (1866–1944) – in München nieder und kehrten erst nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs dieser Stadt den Rücken zu. Für die führenden Vertreter des deutschen Impressionismus – Liebermann, Corinth, Slevogt und Uhde – wurde die bayerische Hauptstadt ebenfalls zu einer wichtigen Lebensstation.497 Für Serov war sie nach den Worten seiner Mutter die „Wiege seiner künstlerischen Erziehung“.498 1885 versuchte Valentina Serova sogar ihren Sohn zu überzeugen, die Akademie zu verlassen und stattdessen über den Winter entweder dort zu bleiben oder nach Paris zu gehen.499

494 Trübners Aufsatz Die Verwirrung der Kunstbegriffe (1898) spiegelte wider, wie stark er und seine Künstlerfreunde im letzten Viertel des 19. Jh. für die neue Kunstästhetik eintraten. Darin schrieb er u. a.: „bei reinkünstlerischer Schaffensart liegt die Schönheit durchweg in der Darstellungsweise allein [...] die Farbe [wird] selbständig individualisierend zerlegt, wie von Franz Hals, Velasquez, also ein individueller Eindruck hervorgebracht. [...] Der konventionelle Stil ist deswegen immer nur die bereits bekannte und daher laienhafte Erkenntnis des Geschauten, während der individuelle Stil der über die Erkenntnis des Laien hinausgehende neugeschaffene Einblick in die Naturerscheinung ist“. Siehe: Wilhelm Trübner, Personalien und Prinzipien, Berlin: Verlag von Bruno Cassierer, 1907, hier S. 58, 86 und 95; Erik Forssman, Deutsche Maler des 19. Jahrhunderts und die „wahre“ Kunst, in: Hans Dickel (Hg.), Preußen. Die Kunst und das Individuum: Beiträge gewidmet Helmut Börsch-Supan, Berlin: Akademie-Verlag, 2003, S. 329–352, hier S. 344–346. 495 Jooss, in: Hülsewig-Johnen/Kellein 2009, S. 53. 496 Leonid O. Pasternak, Zapisi raznykh let, Moskau: Sovetsky khudozhnik, 1975, S. 26; Dorothee Hansen, Das „Hauptgebiet amerikanischer Künstler“. Portraits aus den Vereinigten Staaten in deutschen Ausstellungen 1880–1910, in: Ortrud Westheider/Michael Philipp (Hg.), High Society. Amerikanische Portraits des Gilded Age, AK Hamburg, Bucerius Kunst Forum 7.6.–31.8.2008, München: Hirmer, 2008, S. 46–65, hier S. 47. 497 Liebermann kam 1878 auf Anregung Franz von Lenbachs nach München und kehrte 1884 nach Berlin zurück. Corinth besuchte 1880–82/83 die Münchener Kunstakademie, kam 1891 erneut nach München und siedelte 1898/99 nach Berlin über. Slevogt studierte hier 1884–90 und verließ die Stadt 1901 ebenfalls in Richtung Berlin. Uhde ließ sich 1880 bis an sein Lebensende in München nieder. Siehe dazu: Hülsewig-Johnen, in: Hülsewig-Johnen/Kellein 2009, S. 34, 102 und 250; Küstner, in: Hansen 1999, S. 191. 498 „сделали из Мюнхена колыбель его художественного воспитания,“ V. Serova 1914, S. 191. 499 Serov an Olga Trubnikova am 8.7.1885 (20.7.1885) aus München, in: STG/QS 49/10, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 23, S. 56–59, hier S. 57.

4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887

Serovs Wege in München können nur bruchstückhaft rekonstruiert werden. Sicher ist, dass er mit Koepping zum Starnberger See fuhr, wo er einst unter dessen Anleitung seine ersten Studien gemacht hatte.500 Es ist nicht auszuschließen, dass die beiden diese pittoreske Landschaft, die viele Münchener Maler – darunter Trübner und Leibl – in ihren Pleinair-Bildern festhielten, auch jetzt zusammen skizzierten. Dafür spricht Serovs Freilichtstudie Buchenhain501 (1885), welche – wie die Inschrift verrät – in dem zwischen München und dem Starnberger See gelegenen Örtchen Pullach entstand. Bereits einen Tag, nachdem Koepping aus München abgereist war, folgte ihm Serov in Richtung Amsterdam.502 Die Stationen seiner Hollandreise wurden vermutlich auf Koeppings Empfehlung hin gewählt, der mit dem holländischen Kunstbetrieb inzwischen vertraut war: Vielleicht stand der Deutsche schon zu dem Zeitpunkt mit dem De Nederlandsche Etsclub (1885–96) in Kontakt, denn seine Radierung nach Rembrandts Portrait der Vorsteher der Tuchmacherzunft wurde 1888 in der Ausstellung dieser Gesellschaft in den Sälen der Amsterdamer Vereinigung der Kunstfreunde Arti et Amicitae (1839–heute) gezeigt.503 Wie in München gab es in Holland viele Möglichkeiten zeitgenössische Kunst kennenzulernen. So zeigte das Amsterdamer Rijksmuseum, das Serov nachweislich besuchte, zum einen die Sammlung des Haarlemer Paviljoen Welgelegen – das 1838 als Museum für zeitgenössische Kunst gegründet worden war – und zum anderen die Gemäldesammlung des Amsterdamer Kaufmanns Chritiaan Pieter van Eeghen (1816–89).504 Ausgestellt waren mitunter Hendrik Mesdag (1831–1915), Willem Roelofs (1822–97; Landschaft in der Umgebung von Den Haag505, ca. 1870–75) und Jozef Israëls (Allein auf der Welt506, 1878). Die namenhafte Kunsthandlung Buffa & Zonen (1785–1951) veranstaltete seit 1874 regelmäßig Wechselausstellungen und vertrat über hundert holländische Künstler, darunter Willem Bastiaan Tholen (1860–1931), Willem Maris (1844–1910), Willem Roelofs, Hendrik Mesdag und Jozef Israëls.507

500 V. Serova 1914, S. 172; Serov an Olga Trubnikova am 30.5.1885 (11.6.1885) aus München, in: STG/QS 49/9, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Nr. 20, S. 52f., hier S. 53. 501 Буковая роща в окрестностях Мюнхена, 1885, Aquarell auf dem grauen Papier, 43,8 × 30,1 cm, sign. und dat. rechts unten, darunter Pulach, SRM, St. Petersburg, Inv. P-13432. 502 STG/QS 49/10, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 23, S. 56–59, hier S. 57. 503 Est naar de Staalmeesters, in: Arti et Amicitiae. Catalogus van de Tweede Jaarlinjksche Tentoonstelling der Nederlandsche Estclub, ’s Gravenshaage: Moutin & Co, 1888, S. 11, Kat. 54. 504 ’s Rijks Verzameling van Schilderijen van modern Meesters (Vroeger in het Pavilioen „Welgelegen“ te HAARLEM), in: Abr. Bredius, Catalogus van het Rijks-Museum van Schilderijen, Amsterdam: Tj. van Holkema, 1885, S. 109–136, Kat. 1–183 und S. 135–145, Kat. 1–47. 505 Landschap in de omgeving van Den Haag, ca. 1870–75, Öl auf Leinwand, 48 × 75 cm, Rijksmuseum, Amsterdam, Inv. SK-A-1166, erworben 1875. 506 Alleen op de wereld, 1878, Öl auf Leinwand, 90 × 139 cm, Rijksmuseum, Amsterdam, Inv. SK-A-1179, erworben 1878. 507 Dekkers 1994, S. 105–108; Jan Frederik Heijbroek, Van eenvoudige prentenkoopman tot gerenommeerde kunsthandelaar: Frans Buffa & Zonen in Amsterdam (ca. 1785–1951), in: De Boekenwereld, 2006–07, Nr. 23, S. 57f.

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Eine weitere bekannte Kunsthandlung Hendrik Jan van Wisselingh (1838–heute) war die erste, die die Werke der Barbizon-Maler in Holland verkaufte.508 Ihr Hauptziel in Haarlem, wohin Serov und Koepping von Amsterdam aus fuhren, muss das 1862 gegründete Frans-Hals-Museum gewesen sein, in dem Courbet, Manet, Monet, Liebermann, Cassatt und viele andere moderne Künstler diesen Pionier der alla-prima-Malerei studierten und kopierten. Auch ihre nächste Reisestation, Den Haag, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für viele europäische Künstler ein wichtiges Reiseziel, da die Haager Schule die Entwicklung holländischer Kunst in der Zeit weitgehend bestimmte. Dort organisierten sich die Künstler in der Vereinigung Pulchri Studio (1847–heute) sowie in der Hollandsche Teeken-Maatschappij (1876–?), zu deren Mitgliedern auch viele Ausländer zählten: darunter der Franzose Henri Harpignies (ab 1882) und der Italiener Giovanni Segantini (ab 1883). Wie jedes Jahr, veranstaltete diese Zeichengesellschaft 1885 eine Ausstellung (9. August–11. September), in der 51 Teilnehmer insgesamt 117 Arbeiten präsentierten.509 Es ist jedoch unklar, ob Serov sie sah, denn er war spätestens am 16. August wieder in München.510 Fest steht, dass er weder in Amsterdam noch in Den Haag die Gelegenheit ausließ, diverse Galerien zu besichtigen.511 In Den Haag gehörte dazu vielleicht auch die Niederlassung der Pariser Kunsthandlung Boussod Valadon & Cie512 (1884–1919), die sich auf die zeitgenössische Kunst Frankreichs, Deutschlands und Hollands spezialisiert hatte. Ein Tag – eine Weltreise: Serov in der Antwerpener Weltausstellung 1885 Aus Den Haag, wo die Wege Serovs und Koeppings sich wieder trennen sollten, reiste Serov nach Antwerpen. Seit jeher eine der wichtigsten Kunst- und Kulturzentren, verfügte diese Stadt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts sowohl über zahlreiche Kirchen und historische Stätten, in denen Schöpfungen von Peter Paul Rubens, Anthonis van Dyck und Jacob Jordaens bewundert werden konnten, als auch über mehrere Museen und Galerien für alte und neuere Kunst: darunter das Musée des Anciens am Place de Musée, das Musée modern in der Rue de Vénus und die Collection de M. Nottebohm in der Rue

508 Siehe dazu: Jan Frederik Heijbroek/Ester Wouthuysen, Portret van een kunsthandel/druk 1: de firma Van Wisselingh en zijn compagnons 1838–heden, Zwolle: Waanders Uitgeveres, 1999. 509 Tiende Tentoonstelling van Teekeningen door de gewone en eere-leden der Hollandsche Teeken-Maantschappij in het gebouw der Akademie van beeldende Kunsten, Princessegracht te ’s Gvavenhage, Augustus-September 1885, Den Haag 1885. Jozef Israëls war mit drei Aquarellen (Kat. 44–46) vertreten, jeweils drei Bilder zeigten auch Henri Harpignies (Kat. 38–40), Jacob Maris (Kat. 52–54) und Anton Mauve (Kat. 59–61). 510 Serov an Olga Trubnikova am 4.8.1885 (16.8.1885) aus München, STG/QS 49/13, Moskau, zit. in: Samkov/ Silberstein 1985, Nr. 25, S. 61f. 511 Serov an Olga Trubnikova am 19.7.1885 (1.8.1885) aus Den Haag, in: STG/QS 49/12, Moskau, zit. in: Samkov/ Silberstein 1985, Nr. 24, S. 59–61, hier S. 60. 512 Boussod Valadon & Cie (1884–1919), Nachfolgefirma der einflussreichen Pariser Kunsthandlung Goupil & Cie (1850–84), zu dessen Partnern 1858–72 Vincent van Gogh (1820–88) – der Onkel des berühmten Malers – gehörte. Der Maler Vincent Van Gogh (1853–90) begann hier mit 16 Jahren seine Lehre. Siehe dazu: Dekkers 1994, S. 103f.; Heijbroek/Wouthuysen 1999, S. 42.

4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887

du Fagot.513 Die Hauptattraktion des Jahres 1885 war aber die Exposition Universelle mit ihren 14.472 Ausstellern aus 22 Ländern.514 Zwischen dem 2. Mai und dem 2. November lockte sie ca. 3,5 Millionen Besucher an. Auf Serov hinterließ diese Schau einen bleibenden, wenngleich gemischten Eindruck. Schnell von den riesigen Industrie- und Handelssälen gelangweilt, richtete er sein Augenmerk auf den abseits des Hauptgeländes eingerichteten Pavillon, in dem ca. 2.800 Arbeiten zeitgenössischer Künstler gezeigt wurden.515 Unter den 681 Werken der französischen Abteilung, die Serov mit Ausnahme von „zweidrei Bildern“516 als enttäuschend empfand, tauchten viele Salonstars auf, darunter Paul Besnard (1849–1934), Léon Bonnat (1833–1922), Jean-Joseph Constant (1845–1902), Jules Laurens (1825–1901) sowie Puvis de Chavannes und Meissonier. Von Bastien-Lepage waren zwei Bildnisse sowie das Genrebild Das Heu517 (1877) zu sehen. Die Impressionisten, die seit über einem Jahrzehnt Paris mit Skandalen erschütterten, waren hier nicht vertreten, dafür aber Henri Harpignies und Félix Ziem, die den Barbizon-Malern nahestanden, sowie Louigi Loire und der mit den Impressionisten befreundete Henri Fantin-Latour (1836–1904). Wie der französische Katalog, umfasste der Belgische ebenfalls etwa 700 Nummern und führte unter anderem die Namen von Théodore Baron (1840–90), Joseph Coosemans (1828–1904) und Franz Courtens (1854–1943) auf, die sich in ihrer Malweise und Themenwahl an den Barbizon-Malern orientierten. Zwar war der modische Alfred Stevens (1823–1906) mit zwölf Werken am besten vertreten und mit einer Medaille ausgezeichnet worden, doch auch Isidore Verheyden (1846–1905) – der zu diesem Zeitpunkt schon den innovativen Les XX (1883–93) beigetreten war und sich in den kommenden Jahren als erster Belgier in die impressionistische Richtung entwickeln sollte – stellte hier vier Bilder aus.518 In der italienischen Sektion, die 297 Nummern aufzählte, zeigte man solche bekannten Gemälde wie Versuchung des Heiligen Antonius519 (1878) von Domenico M ­ orelli (1823–1901) und Place des Pyramide520 (1875) des kurz zuvor verstorbenen Giuseppe de Nittis (1846–84), der an der ersten Impressionisten-Ausstellung (1874) teilgenommen hatte. Ferner gehörten dazu zwei Bilder von Giovanni Segantini: Der schlafende

513 Anvers. Son Exposition universelle, ses curiosités, ses musées, ses monuments, ses plaisirs, ses fêtes. Renseignements pratiques, Verviers: Bibliothèque Gilon, Pont Saint-Laurent, 11, 1885, S. 24–41. 514 Wolfgang Piersig, Ein Exkurs durch die bedeutendsten Weltausstellungen von 1851 bis 2005 für Fachleute, Interessierte und Laien, Norderstedt: Grin Verlag, 2007, S. 77. 515 Exposition universelle des beaux-arts, 1885, Catalogue général, Antwerpen: J.-E. Buschmann, 1885. 516 „[французских] хороших вещей было немного и все те, кот[орые] я знал по фотографиям и, скажу, на фотографиях они мне больше нравились. Две-три были очень для меня интересны“, Serov an Olga Trubnikova am 5.8.1885 (17.8.1885) aus München, in: STG/QS 49/14, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 26, S. 62–64, hier S. 63. 517 Les foins, 1877, Öl auf Leinwand, 180 × 195 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 2748. 518 A travers Paris, in: Le Figaro, 14.8.1885, Nr. 226, S. 1. 519 Le tentazioni di Sant’Antonio, 1878, Öl auf Leinwand, 138 × 225 cm, Galleria Nazionale d’Arte Moderna, Rom, Inv. 989. 520 Place des Pyramide, 1875, Öl auf Leinwand, 92 × 74 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 371.

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Pastor521 (1885?) und Schafschur522 (1883–84). Mit zwei bis drei Arbeiten waren die lombardischen Maler Bartolomeo Bezzi (1851–1923) und Mosé Bianchi (1840–1904) sowie die Venezianer Giacomo Favretto (1849–87), Luigi Nono (1850–1918) und Guglielmo Ciardi (1842–1917) vertreten; der Letztere präsentierte mitunter das Gemälde Messidoro523 (1883), das ihn international bekannt machte. Der Mailander Filippo Carcano (1840–1914), der in Italien zusammen mit Segantini zu den ersten Vertretern der pittura del vero zählte, brachte ein Gemälde und 16 kleine stadtlandschaftliche Studien. Unter den 195 Arbeiten österreichischer Künstler waren außer Hans Makart und Leo­pold Carl Müller (1834–92) auch die Freilichtmaler der Szolnok-Kolonie wie Tina Blau (1845–1916), Olga Wisinger-Florian (1844–1926) und Eugène Jettel (1845–1901) zu finden. Die Schweiz zeigte indes nur 29 Werke, darunter Müller, Sohn und Esel524 (1881/82) von Ferdinand Hodler (1853– 1918). Nicht viel größer war mit 38 Arbeiten die russische Abteilung, über deren Qualität sich Serov in seiner Korrespondenz überaus kritisch äußerte.525 In der Tat war sie kaum als stellvertretend zu bezeichnen: Vasily Vereshchagin (1842–1904) und die Brüder Konstantin (1839– 1915) und Vladimir Makovsky (1846–1920) waren hier die einzigen bekannten Künstler.526 Die deutsche Sektion präsentierte 274 Arbeiten und zählte zu ihren Teilnehmern Wilhelm Diez (1839–1907), Walter Firle (1859–1929), Albert von Keller (1844–1920), Ludwig Knaus (1829–1910), Franz von Lenbach (1836–1904) und Franz Skarbina (1849–1910). Fritz von Uhde zeigte sein berühmtes Gemälde Lasset die Kindlein zu mir kommen527 (1884), welches in Berlin und Paris mit Goldmedaillen ausgezeichnet worden war, und Max Liebermann – seinen Münchener Biergarten528 (1884), in dem er das süße Nichtstun eines Sommernachmittags im schnellen pastosen Duktus festhielt und das Sonnenlicht zu einem der Hauptmotive etablierte. In der niederländischen Abteilung wurden unter den 236 Werken zahlreiche Vertreter der Haager Schule mit bis zu vier Arbeiten exponiert: darunter Jozef Israëls, Anton Mauve, Willem Roelofs, Hendrik Willem Mesdag, Albert Neuhuys (1844–1914) sowie Jacob (1837–1899) und Willem Maris (1844–1910). Von den jüngeren Künstlern war außer Willem Bastiaan Tholen (1860–1931) und Jan Hillebrand Wijsmuller (1855–1925) auch der in Paris lebende George Hendrik Breitner (1857–1923) dabei.

521 Pastore addormentato, 1885? Bleistift auf Pappe, 49,5 × 66 cm, Segantini-Museum, Saint-Moritz. 522 La tosatura delle pecore, 1883–84, Öl auf Leinwand, 117 × 216,5 cm, The National Museum of Western Art, Tokio, ehemalige Slg. Matsukata, Inv. P.2007-0002. Bis Segantinis Tod wurde das Bild in drei weiteren großen Kunstschauen exponiert. 523 Messidoro, 1883, Öl auf Leinwand, 136 × 277 cm, Galleria Nazionale d’Arte Moderna, Rom, Inv. 1096. 524 Müller, Sohn und Esel, 1881/82, Öl auf Leinwand, 94 × 68 cm, Kunsthandel. 525 Serov an Olga Trubnikova am 5.8.1885 (17.8.1885) aus München, in: STG/QS 49/14, Moskau, zit. in: Samkov/ Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 26, S. 62 – 64, hier S. 63. 526 Catalogue de la Section Russe à l’Exposition universelle d’Anvers, Gand: Impremerie Eug. Vanderhaeghen, Rue des champs, 62, 1885. 527 Lasset die Kindlein zu mir kommen, 1884, Öl auf Leinwand, 188 × 290,5 cm, Museum der bildenden Künste, Leipzig, Inv. 550. 528 Münchener Biergarten, 1884, Öl auf Holz, 95 × 68,5 cm, Neue Pinakothek, München, Inv. 14979/ESK 3.

4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887

22 Edvard Munch, Schwester Inger / Inger Munch i svart, 1884, Öl auf Leinwand, 97 × 67 cm, Nasjonalmuseet for kunst, arkitektur og design Oslo, Inv. NG.M.01862

Wie Holland brachte auch Norwegen nach Antwerpen mit insgesamt 100 Ausstellungsstücken das Modernste, was es zu bieten hatte. Gerade die Norweger bewunderte Serov bei seinem Rundgang für ihre „äußerst eigenartige“ Arbeitsweise.529 Frits Thaulow stellte hier vier Gemälde aus, darunter das in feinen Blautönen gehaltene Bild Eistransport530 (1884). Der dänische Skagenmaler Christian Krohg (1852–1925) zeigte zwei Genrearbeiten sowie das impressionistische, in hellen Pastelltönen angelegte Bildnis seines Malerkollegen Gerhard Munthe (1885)531. Christian Skedsvig (1854–1924) und Erik Werenskiold waren mit jeweils drei, Eilif Peterssen und Hans Heyerdahl – mit jeweils zwei Bildern vertreten. Der junge Edvard Munch (1863–1944), der in Antwerpen erstmals an einer Ausstellung außerhalb seiner Heimat teilnahm, reichte das Bildnis seiner Schwester Inger532 (1884, Abb. 22) ein, welches in der Werkdiskussion nochmal Erwähnung finden wird.

529 „Ещё рад, что удалось увидеть шведских и норвежских живописцев – работают очень своеобразно“, Serov an Olga Trubnikova am 5.8.1885 (17.8.1885) aus München, in: STG/QS 49/14, Moskau, zit. nach: Samkov/ Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 26, S. 62–64, hier S. 63. 530 Iskjøring, 1884, Öl auf Leinwand, 101,5 × 151,5 cm, Lillehammer Kunstmuseum, Norwegen. 531 Portrett av den norske maleren Gerhard Munthe, 1885, Öl auf Leinwand, 150 × 115 cm, Nasjonalmuseet for kunst, arkitektur og design, Oslo, Inv. NG.M.01555. 532 Inger Munch i svart, 1884, Öl auf Leinwand, 97 × 67 cm, Nasjonalmuseet for kunst, arkitektur og design, Oslo, Inv. NG.M.01862.

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4. Die Wege zum Bild

Daraus folgt, dass Serov in der Antwerpener Weltausstellung seine Kenntnisse der deutschen Kunstszene vertiefte, spätestens jetzt eine kompakte Übersicht über die Haager Schule bekam und diejenigen Künstler Norwegens kennenlernte, die die erste Blütezeit der Malerei ihres Landes einleiteten. Sein Wunsch, bei seiner Ankunft in Moskau gleich „ein echtes [Damen]bildnis wie sie in den großen Ausstellungen gezeigt werden“533 fertigzustellen, ist wahrscheinlich auf seine Antwerpener Eindrucke zurückzuführen: Denn in dieser Aussage manifestierte sich sein Anspruch, sich mit den Teilnehmern solcher „großen Ausstellungen“ messen zu können. Die mannigfachen visuellen Erfahrungen, die der Künstler in Deutschland, Holland und Belgien machte, müssen einen tiefen Eindruck bei Serov hinterlassen haben. Im Zusammenhang mit dem großen Trubnikova-Porträt (1886, Taf. I), welches ein Jahr nach der Reise entstand, wurde eingehend seine besondere Sensibilität gegenüber den Lichtphänomenen diskutiert, die auf die Beschäftigung mit den Meistern des Goldenen Zeitalters wie Rembrandt oder Vermeer zurückzuführen ist. Ebenso umfassend waren die Ausführungen zum Motiv einer nähenden bzw. stopfenden Frau, das in diesem Porträt präsent ist und ausgehend von der holländischen Kunst des 17. Jahrhunderts in die Werke holländischer und deutscher Künstler des 19. Jahrhunderts Einzug fand. Für die nachhaltige Wirkung der Haager Schule sprechen ihrerseits Serovs verstärkte Hinwendung zu den ländlichen Motiven, die ab dem Herbst 1885 zu beobachten ist, sowie seine tonige Palette, die mit einer lockeren Pinselführung kombiniert wurde. Neue Horizonte: Sehnsuchtsort Italien Zum entscheidenden Katalysator der stilistischen Wende in Serovs Frühwerk von der tonigen Malerei holländischer Prägung hin zur lichten impressionistischen Palette wurde seine Reise nach Italien. Seit Jahrhunderten übte dieses Land eine stimulierende Wirkung auf Künstler aus und „nicht selten vollzog sich hier eine Wende, die werkbestimmend bleiben sollte“.534 Bereits im Spätmittelalter pilgerten die Künstler vereinzelt zu dessen christlichen Heiligtümern. In der Frühen Neuzeit wurde fast jeder bedeutende Meister nördlich der Alpen von Italiens antiken Schöpfungen und zeitgenössischen Neuerungen angezogen. Beginnend mit dem späten 16. Jahrhundert wurde es zum Hauptreiseziel junger Adliger auf ihrer Grand Tour durch Europa und schon bald folgten ihnen die Vertreter des gehobenen Bürgertums. 1666 rief der französische König Ludwig XIV. an der Pariser Kunstakademie Prix de Rome ins Leben und gründete die Académie de France à Rome, womit Italien offiziell zur bedeutendsten Kunst- und Kulturstätte gekrönt wurde. 533 „настоящий портрет [светской дамы], ... какие бывают на больших выставках“, zit. nach: Grabar 1965, S. 69. 534 Angelika Lorenz, Italien. Teil 2: Sehnsuchtshorizonte nordeuropäischer Künstler vom 16. bis 19. Jahrhundert, in: Hermann Arnhold/Andreas Beyer (Hg.), Orte der Sehnsucht. Mit Künstlern auf Reisen, AK Münster, Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte 28.9.2008–11.1.2009, Regensburg: Schnell & Steiner, 2008, S. 95–164, hier S. 95.

4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887

Die Petersburger Kunstakademie schickte bereits kurz nach ihrer Gründung im Jahr 1757 ihre Stipendiaten nach Rom. Während der Romantik entstand in Russland – ähnlich wie in England, Deutschland oder Frankreich – ein regelrechter Kult Italiens.535 Im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts – etwa zeitgleich mit Goethes Italienischer Reise (1816–17) – kamen ähnliche russische Reiseberichte heraus, darunter die des Malers Orest Kiprensky (Dnevnaia zapiska, 1817) und des Herzogs Boris Gesevanov (Dorozhnyie zapisky, 1819).536 Die romantischen Dichter Vasily Zhukovsky (1783–1852), der 1833 und 1838–39 Italien bereiste, und Piotr Viazemsky (1792–1878), der ab den 1850er Jahren überwiegend in Europa lebte, besangen Italien in ihren Werken. Die Tätigkeit russischer Romstipendiaten wurde zum Objekt der Diskussionen über „einen neuen Künstlertypus, [...] über den Platz Europas in der geistigen Geschichte Russlands und über die Entwicklungswege russischer Kunst“537. Maler wie Kiprensky (1782–1836), Feodor Bruni (1799–1875) und Alexandr Ivanov (1806–58) trachteten danach, sich im Süden frei entfalten zu können, und wollten weg von der Petersburger Akademie, die jegliche Kreativität zum Erfrieren zu bringen drohte.538 In der russischen Genremalerei der 1830er–50er Jahre entstand sogar eine eigenständige ‚italienische‘ Strömung. Dieses sogenannte italienische Genre verlor erst ab den 1860er Jahren, als die Forderungen nach kritischen nationalen Themen immer lauter wurden, an Bedeutung.539 Das sei, so Evgeny Yaylenko, auch durch das sinkende Prestige italienischer Maler gegenüber den Franzosen begründet gewesen.540 Viele Absolventen der Akademie zogen es vor, nach Paris zu gehen, oder frühzeitig nach Russland zurückzukehren. Dennoch brachen einige von ihnen, darunter auch Nikolai Ghe (1831–94), die Verbindung zu Italien nie ab und so wurde das „Land, wo die Zitronen blüh’n“ in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wieder einmal als eine wichtige Inspirationsquelle wahrgenommen.541 Viele von Serovs Kollegen machten Italien zu einer obligatorischen Station ihrer Europareisen. So verbrachte Polenov – der das von Serov und seinen Freunden betriebene Moskauer Atelier (1886–89) gelegentlich aufsuchte – zwischen 1872 und 1873 fast ein Jahr lang in Italien. Surikov, ein weiterer gern gesehener Gast in dieser Werkstatt, lebte zwischen Januar und Mai 1884 in Rom und machte in dieser Zeit längere Ausflüge nach Mailand, Neapel, Florenz und Venedig. Repin reiste allein bis Ende der 1880er Jahre dreimal hierher: 1873, 1883 und 1887. Savva Mamontov kam 1863 nach Mailand um Seidenherstellung und -handel 535 Evgeny V. Yaylenko, Italiansky zhanr v russkom iskusstve pervoi poloviny XIX veka, in: Pinakothẽ kẽ , Nr. 16–17, 1997, S. 76–84, hier S. 77f.; Lorenz, in: Arnhold/Beyer 2008, S. 97–100. 536 Yaylenko 1997, S. 78. 537 „о новом типе личности артиста, [...] о месте Европы в духовной истории России, о путях развития русского искусства,“ Grigory Sterin, Mezhdu Rossiiei i Italiei. Iz zhizni russkoi khudozhestvennoi kolonii v Rime v 1830–1840-e gody, in: Pinakothẽ kẽ , Nr. 16–17, 1997, S. 68–75, hier S. 69. 538 Vgl. Sternin 1997, S. 73. 539 Yaylenko 1997, S. 84; ders., Mif Italii v russkom iskusstve pervoi poloviny XIX veka, Moskau: Novoie literaturnoie obozreniie, 2012, S. 87. 540 Yaylenko 2012, S. 112. 541 Sternin 1997, S. 74.

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zu erlernen, beschäftigte sich aber lieber mit der Oper und den schönen Künsten. Viktor Vasnetzov, ein Mitglied der Abramtsevo Künstlerkolonie, unternahm im Mai 1885 eine Tour durch Venedig, Ravenna, Florenz, Rom und Neapel, um die mittelalterlichen Mosaiken und die Renaissancekunst zu studieren. Vrubel blieb zwischen November 1884 und April 1885 in Venedig und fuhr danach mehrfach nach Italien: 1891–92, 1892, 1894 und 1897. Es ist daher nur folgerichtig, dass Serov schon früh südlich der Alpen und nicht in Paris nach neuen Impulsen für seine Kunst suchte. Venedig als Inspirationsstätte der internationalen Moderne Der in der Forschungsliteratur mehrfach zitierte Ausdruck  – No One Enters Venice as a Stranger542 – aus einem 1842 erschienenen britischen Reiseführer traf mit Sicherheit auch auf Serov und seine Reisebegleiter zu, die, wie so viele vor ihnen, von der fremdartigen Romantik der Serenissima angelockt wurden. Schon im 18. Jahrhundert war sie eine der am häufigsten verbildlichten Städte der Welt.543 In dieser Zeit wurde die Vorstellung von Venedig vor allem durch die Bilder seiner letzten großen Vedutenmaler Canaletto (Giovanni Antonio Canal, 1697–1768) und Francesco Guardi (1712–93) geprägt: In den großen europäischen Sammlungen zahlreich präsentiert, dienten ihre Werke über Jahrzehnte der Anreicherung des Venedig-Mythos und wurden zur Vorbereitung auf eine Italien-Reise studiert. Seit jeher als pittoresk und exotisch wahrgenommen und nach den Napoleonischen Kriegen zum romantisierten Sinnbild des materiellen und sittlichen Zerfalls stilisiert, zog die Lagunenstadt im 19. Jahrhundert neben den Künstlern des internationalen juste milieu viele Schlüsselfiguren der Kunst- und Literaturszene an und wurde zum exemplarischen Malermotiv der Zeit. So machte hier William Mallord Turner (1775–1851) 1819, 1833 und 1840 eine Reihe von Skizzen und Aquarellstudien, in deren Folge er ab den 1830er Jahren über 25 Gemälde von ungemeiner Leuchtkraft erschuf.544 John Ruskin (1819–1900), ein Bewunderer Turners, arbeitete in Venedig 1849–50 und 1851–52 an seiner dreibändigen Publikation The Stones of Venice (1851–53), welche 1877 in einer gekürzten traveller’s edition erschien und auch in Russland zum wichtigen Nachschlagewerk für Literaten und Künstler wurde.545 Ruskins Darstellung blieb nicht die einzige Referenz eines kultivierten Venedig-Besuchers. Zeitgleich brachte der Kunstkritiker und Verfechter der l’art-pour-l’art-Philosophie Théophile Gautier (1811–72) unter dem Titel Voyage en Italie (1852) seine Reiseaufzeichnungen heraus, die größtenteils der Serenissima gewidmet wurden. Die topografischen Ansichten der 542 Sir Francis Palgrave, Handbook for Travellers in Northern Italy: States Sardinia, Lombardy and Venice, Parma and Piacenza, Modena, Lucca, Massa-Carrara, and Tuscany as far as the Val d’Arno. With Travelling Map, London [u. a.]: John Murray and Son, Albemarle Street, 1842, S. 326. 543 Die russischen Maler der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten Venedig – verglichen mit Rom oder Florenz – indes noch eher selten dar. Siehe dazu: Yaylenko 1997, S. 82. 544 Siehe dazu: Ian Warrel, Der Einbruch der Nacht – Turners Venedig, in: Martin Schwander (Hg.), Venedig. Von Canaletto und Turner bis Monet, AK Basel, Fondation Beyeler 28.9.2008–25.1.2009, Ostfildern: Hatje Cantz, 2008, S. 57–67, hier 59f. und 62–65. 545 Martin Schwander, Venedigbilder – Geschichte und Mythen einer Stadt, in: Schwander 2008, S. 11–27, hier 16f.

4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887

Stadt und ihrer Lagune waren ebenfalls sehr begehrt. So fand Gautiers Freund Félix Ziem (1821–1911), der von 1842 an fast jährlich nach Venedig kam, mit seinen beliebten Veduten Eingang auch in die bedeutenden russischen Sammlungen (Venedig546, o. J.). Ab den späten 1870er Jahren wurde Venedig für die Künstler aus der ganzen Welt zum wichtigsten italienischen Reiseziel.547 Gerade die Innovatoren unter ihnen kreierten hier Werke, die motivische, stilistische und maltechnische Analogien zu Serov erkennen lassen, wenngleich es unwahrscheinlich ist, dass er sie 1887 kannte. Ihre gemeinsame Verbindung zu Venedig bietet daher in erster Linie eine Gelegenheit, auf diese Ähnlichkeiten zwischen den ästhetischen Grundsätzen und den daraus resultierenden formalen Bildlösungen hinzuweisen.548 Bereits 1853 traf Manet als erster Vertreter der Moderne in der Lagunenstadt ein und kam 1857 und 1874 erneut hierher. Aus der letzten Reise stammen seine zwei locker gemalten, blauweißen Teilansichten549 des Grand Canals, die wie spontan geschossene Fotoaufnahmen wirken. Renoir malte hier 1881 Palazzo Ducale550 und Piazza San Marco551, die wegen ihrer strahlenden Orange-, Gelb- und Hellblautöne vom warmen Licht durchströmt zu sein scheinen.552 Sechs Jahre später fasste auch Serov das letztere Motiv in einer flüchtigen, aquarellierenden Pinselführung auf (Abb. 15). Mit der subtilen Mischung aus Blau, Grau und Ocker hielt er das bewegte Wechselspiel zwischen Architektur und Licht fest und stellte damit unbeabsichtigt unter Beweis, mit den führenden französischen Modernisten wetteifern zu können. Aufschlussreich ist ferner der Vergleich zwischen Serov und James Abbot McNeill Whistler (1834–1903). Whistlers Schaffen war den Pariser Stipendiaten der Petersburger Kunstakademie, wie Polenov oder Repin, möglicherweise schon in den 1870er Jahren oder gar Ende der 1860er Jahre bekannt.553 Nach seinem Bankrott von der Londoner Kunsthan-

546 Венеция, o. J., Öl auf Leinwand, 55 × 72 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 928, bis 1918 in der Slg. Pavel I. und Vera A. Kharitonenko. Siehe: Kuznetsova/Sharnova 2001, Kat. 356. 547 William H. Gerdts, The international milieu, in: Warren Adelson (Hg.), Sargent’s Venice, New Haven/London: Yale University Press, 2006, S. 160–190, hier S. 162. 548 Siehe dazu: Malycheva 2013. 549 Ansicht von Venedig. Grand Canal, 1874, Öl auf Leinwand, 56 × 45,7 cm, Privatbesitz; Blue Venice, 1874, Öl auf Leinwand, 58,7 × 71,4 cm, Shelburne Museum, Vermont, Inv. 1972-69.15. Siehe dazu: Juliet Wilson-Bareau/ David Degener, Manet and the See, in: Juliet Wilson-Bareau/David Degener (Hg.), Manet and the Sea, AK Art Institute of Chicago 20.10.2003–19.1.2004 u. a., Philadelphia (PA): Philadelphia Museum of Art, 2003, S. 55–158, hier S. 84f. und S. 152f., Abb. 65f. 550 Palazzo Ducale, 1881, Öl auf Leinwand, 54 × 65 cm, The Sterling and Francine Clark Art Institute, Williamstown (Mass.), Inv. 1955.596. 551 Piazza San Marco, 1881, Öl auf Leinwand, 65,41 × 81,28 cm, The Minneapolis Institute of Arts, The John R. Van Derlip Fund 51.19. 552 Anne Distel, Renoir, New York [u. a.]: Abbeville Press Publ., 2010, S. 200. 553 Ekaterina Viazova, „Whistlerianstvo“ v Rossii rubezha XIX–XX vekov, in: Galina Andreieva/Margeret F. McDonald (Hg.), Whistler i Rossiia, AK Moskau, STG 7.12.2006–15.2.2007 und St. Petersburg, SRM 03.–05.2007, Moskau: Skanrus, 2006, S. 86–117, hier S. 87f.

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delsfirma The Fine Art Society (gegr. 1876) mit einer Radierungsserie von venezianischen Ansichten beauftragt, hielt sich Whistler ab September 1879 über ein Jahr lang in Serenissima auf.554 In dieser Zeit erschuf er 50 Radierungen, etwa 100 Pastelle sowie einige Gemälde, mit denen er Claude Monets venezianische Farbsymphonien antizipierte.555 Auch er griff das Motiv des Markusdomes auf (Nocturne: Blau und Gold556, 1880), erschuf aber im Unterschied zu Renoir oder Serov eine enigmatische nächtliche Szenerie. Was aber alle drei Darstellungen vereint, ist die Reduktion der Formen auf einzelne Farbtupfer und Auflösung der Konturen, die eine Verschmelzung der Architektur und der Atmosphäre zufolge haben. Einen noch spannenderen Vergleich zu Serov bieten Whistlers spontan gemalte Aquarellstudien wie Grau und Perlfarben: Bank-Holiday-Fahnen557 (1883–84) oder Variationen in Violett und Grau. Markplatz, Dieppe558 (1885). Helle Palette, Transparenz und Auflockerung der Bildstruktur durch bunte Tupfer verleihen diesen Szenerien Leichtigkeit und Lebendigkeit, ähnlich wie Serov sie in seiner Riva degli Schiavoni (1887, Taf. III) anstrebte. Ein weiterer Amerikaner, der im Zusammenhang mit Serovs letztgenanntem Werk Erwähnung finden soll, ist John Singer Sargent (1856–1925). Sargent, der den größten Teil seiner Jugend in Italien verbracht und die Lagunenstadt bereits mit seinen Eltern 1870 und 1873 besichtigt hatte, mietete im September 1880 ein Atelier in Ca’Rezzonico und verkehrte in den gleichen Kreisen wie Whistler, dessen Werke auf ihn einen großen Einfluss ausübten.559 Schon 1882 reiste Sargent erneut nach Venedig und verweilte hier 1898–1913 fast jeden Sommer. Unter den zahlreichen Bildern, die er in Venedig erschuf, steht sein Aquarell Venedig bei grauem Wetter560 (1880–81/82, Taf. IV) Serovs Riva degli Schiavoni verblüffend nahe.561 Beide Künstler malten die Uferpromenade von einem erhöhten Standpunkt mit Blick nach Westen in Richtung Palazzo Ducale und Campanile, wobei Sargent einen größeren Ausschnitt wählte und die Kuppeln der Santa Maria della Salute in seine Komposition 554 John Julius Norwich, A History of Venice, London [u. a.]: Penguin Books, 2003, S. 215f.; Elaine Kilmurray/ Elizabeth Oustinoff, A Topographical Love Affair, in: Adelson 2006, S. 10–25, hier S. 23. 555 Claude Monet (1840–1926) malte im Herbst 1908 eine Reihe an Bildern, die er später in Giverny monatelang vollendete. Siehe dazu: Gottfried Boem, Augenblicke – Monets Verwandlung der venezianischen Vedute, in: Schwander 2008, S. 193–199. 556 Nocturne: Blue and Gold, 1880, Öl auf Leinwand, 44,5 × 59,7 cm, National Museums and Galleries of Wales, Cardiff, Inv. NMW A 2210. 557 Grey and Pearl: Bank Holiday Banners, 1883–84, Aquarell auf Papier, 21,7 × 12,3 cm, Fitzwilliam Museum, Cambridge, Inv. PD.75-1959. 558 Variations in Violet and Grey. Market Place, Dieppe, 1885, Aquarell, Gouache auf Papier, 20,2 × 12,7 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, Inv. 2000.512. 559 Alastair Grieve, Whistler’s Venice, New Heaven [u. a.]: Yale University Press, 2000, S. 27 und 74; Norwich 2003, S. 224; Kilmurray/Oustinoff, in: Adelson 2006, S. 23f. 560 Venise par temps gris (Venice/Venezia tempo grigio), 1880–81/82, Öl auf Leinwand, 52,5 × 70,5 cm, Privatbesitz. 561 Serov malte vom Balkon seines Zimmers, vielleicht an dem einen regnerischen Tag, an dem er im Hotel blieb (Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 254f.). Die Entstehungsumstände von Sargents Bild und dessen Provenienz bis 1923 sind ungeklärt. Siehe: Elaine Kilmurray/Richard Ormond (Hg.), John Singer Sargent: Complete Paintings, 8 Bde., New Heaven [u. a.]: Yale University Press, 1998–2014, hier Bd. 4, S. 366f., WVZ 819.

4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887

mit einbezog. Die Diagonale der Riva dominiert somit in jedem der Bilder die streng geometrische Komposition, was den Bildraum in die Tiefe erweitert und die Dynamik erhöht. Beiden Künstlern ist außerdem die gedämpfte Palette aus subtil abgestuften Grau- und Braunwerten eigen: Serov bevorzugt dabei hellere Töne und untermischt seine Farben mit Weiß, während Sargent auf Blau und auf ein rötliches Braun setzt. Sowohl Sargent als auch Serov betonen das Episodenhafte: Sie reduzieren Figuren auf Punkte, Gondeln auf Linien und Bauten auf Farbflächen und rufen durch die skizzenhafte Malweise einen flüchtigen atmosphärischen Effekt des trüben Wetters hervor. Die narrative Sentimentalität tritt somit gänzlich zurück und stattdessen rücken Themen wie Licht, Luft, Reflexion und Bewegung in den Mittelpunkt des Interesses. Trotz dieser Ähnlichkeiten suggeriert jedes der Bilder eine individuelle Stimmung. Sargent zeigte eine aus ihrem Traum erwachende Stadt. Nur wenige Boote durchqueren die leere Lagune, auf der breiten Straße sind einzelne dunkel gekleidete Gestalten zu sehen. Die von der aufgehenden Sonne golden beschienenen Gondeln, Fassaden und Dächer sowie die im Morgendunst versinkenden Kirchen und Paläste vermitteln den Eindruck des Märchenhaften. Serov hielt indes das lebendige Getümmel einer lauten Touristenmetropole fest. Indem er die Maloberfläche stellenweise mit Primärfarben durchsetzte, verstärkte er die Dynamik der Menschenmenge. Sein Venedig ist real, pulsierend und ganz in der Gegenwart verhaftet. Dass die Lagunenstadt, dieses zwischen Himmel und Wasser errichtete Gebilde, ideale Voraussetzungen für das Studium atmosphärischer Lichteffekte lieferte, wird auch in den Werken vieler Kollegen von Serov und Sargent ersichtlich. William Merritt Chase (Grauer Tag an der Lagune562 ca. 1877) und John Henry Twachtman (The Grand Canal563, 1877) schufen hier skizzenhafte Kompositionen. Surikov, der für seine großen schwermutigen Historien bekannt wurde, machte luftig-leichte Aquarelle: wie die durch zarte Blautöne bestimmte Fata Morgana Basilica di San Marco564 (1884). Levitan, der meist ruhige, elegische Landschaften zum Motiv wählte, hielt den Kanal in Venedig565 (1890) mit hastig gesetzten, fließenden Farbflecken fest. Vrubel erfasste den auf einer Steinbank sitzenden alten Venezianer (Lazzaroni566, 1885) in transparenten, teils verschwommenen Strichen zwischen blendendem Licht und weichem Schatten, sodass der Mensch, die Architektur, das Licht und die Luft sich zu einer Einheit vereinten. Wie reizvoll die Vorstellung auch wäre, Serov sei über die erwähnten Bilder Renoirs, Whistlers oder Sargents gestolpert, es ist nicht belegt, dass dies zu irgendeinem Zeitpunkt geschah. Allerdings hatte der Künstler in Venedig gerade 1887 eine einzigartige Gelegenheit, 562 Gray Day on the Lagoon, ca. 1877, Öl auf Holz, 32,2 × 47,6 cm, Museum of Fine Arts, Boston, Bequest of Ernst Wadsworth Longfellow, Inv. 37.597. 563 The Grand Canal, 1878, Öl auf Leinwand, 27,31 × 40,64 cm, Privatbesitz. 564 Венеция. Собор Св. Марка, 1884, Aquarell auf Papier, Größe unbekannt, Privatbesitz. 565 Канал в Венеции, 1890, Öl auf Papier auf Karton, 32 × 20 cm, Polenov-Museum, Polenovo, Inv. Ж-114. 566 Лаццарони, 1885, Aquarell auf Papier, 34,9 × 18,3 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-13467.

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eine Vielzahl seiner italienischen Kollegen sowie einiger anderer ausländischer Maler zu sehen. Mit dem Ziel, die Stadt als Kunstmetropole wieder in die vorderste Reihe zu stellen, wurde in den Giardini Pubblici vom 1. Mai bis zum 30. Oktober des Jahres die Esposizione nazionale artistica organisiert, mit der der Grundstein für die Biennale (30.4.1895–heute) gelegt wurde.567 In dem speziell errichteten Pavillon zeigte man 1739 Werke und es ist kaum zu bezweifeln, dass Serov und seine Begleiter sie gründlich studierten.568 Obwohl die Kunstschau als „national“ betitelt wurde, war es den in Italien lebenden Ausländern ebenfalls möglich, daran teilzunehmen. So reichte Sargent zwei Portraits ein, die jedoch bis heute nicht genau identifiziert wurden.569 Ralph Curtis (1854–1922) – Sargents Cousin zweiten Grades  – war sogar mit fünf Bildern dabei, darunter eine Pleinairstudie.570 Paolo Troubetzkoy (1866–1938), der ein Jahr zuvor bei der Esposizione annuale di Brera in Mailand debütiert hatte, präsentierte drei Tierskulpturen.571 Allerdings waren angesichts der sehr mageren Präsenz ausländischer Künstler ihre italienischen Kontrahenten eindeutig im Vorteil. Alle namenhaften Venezianer waren hier vertreten. Guglielmo Ciardi (1842–1917) zog mit seinen lichtdurchfluteten Landschaften wie Frühlingswolken über der Laguna von Chioggia572 (o. J.) und Messidoro (1883) eine „gerechte Bewunderung“573 auf sich. Pietro Fragiacomo (1856–1922) sorgte mit „vorzüglichen“ Meeres- und Strandszenerien für Aufsehen: darunter mit dem melancholischen, in Grau- und Ockertönen gestalteten Gemälde Stille574 (o. J.), das eine Uferstraße zwischen dem wolkenverhangenen Himmel und der Lagune zeigt.575 Luigi Nono (1850–1918), der gern rührselige Sujets aufgriff, wurde für sein Kolorit gewürdigt.576 Giacomo F ­ avretto

567 Esposizione nazionale artistica illustrata, Venedig: Premiato stabilimento dell’emporio, Editore, 1888, S. 9; 568 Nach den Angaben des offiziellen Katalogs gehören dazu 1187 Gemälde, Aquarelle und Grafiken, 255 Skulpturen, 17 Architekturentwürfe sowie 280 kunsthandwerkliche Objekte. Jan A. May sprach von ca. 1800 Bildern und 170 Skulpturen, ohne die Quelle für diese Zahlen zu nennen. Es ist durchaus möglich, dass die Endzahl der exponierten Werke höher war, als der Katalog angab, denn es war nicht unüblich, Werke nachzureichen. Siehe: Esposizione nazionale artistica. Catalogo ufficiale, Venezia 1887, AK Venedig, Giardini Publici 1.5.–30.10.1887: Emporio, 1887; Jan Andreas May, La Biennale di Venezia: Kontinuität und Wandel in der venezianischen Ausstellungspolitik 1895–1948, Berlin: Akademie Verlag, 2009, S. 34. 569 Esposizione nazionale... 1887, S. 25f., Saal 9, Kat. 22 und 54. 570 Esposizione nazionale... 1887, S. 18, Saal 4, Kat. 68, 69; S. 46–48, Saal 13, Kat. 38, 58 und 126. 571 Esposizione nazionale... 1887, S. 57f., Saal 13, Kat. 14, 46 und 48. 572 Nubi di primavera, laguna di Chioggia, o. J., Technik, Größe und Verbleib unbekannt; Esposizione nazionale... 1887, S. 15, Saal 2, Kat. 13; Abb. in: Esposizione nazionale artistica illustrata, Nr. 22, 29.8.1887, 1888, S. 173. 573 A. Wolf [Albert Wolff], Die nationale Kunstausstellung in Venedig, I, in: Kunstchronik, XXII, Heft 34, 2.6.1887, S. 552–555, hier S. 555. 574 Silenzio, o. J., Technik, Größe und Verbleib unbekannt; Esposizione nazionale... 1887, S. 23, Saal 8, Kat. 2; Abb. in: Esposizione nazionale artistica illustrata, Nr. 25, 25.9.1887, 1888, S. 196 und Marco Orio, Esposizione Artistica, Venedig: Tipografia Veneta, S. Stefano, Ponte Vetturi, N. 2943, 1887, S. 4. 575 Wolf [Wolff] 1887, S. 555. 576 Esposizione artistica nazionale illustrata, Nr. 10, 5.6.1887, 1888, S. 75; Orio 1887, S. 4.

4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887

(1849–87) wurde für seine farbenfrohen, skizzenhaften Werke Am Rialto577 (ca. 1886), Il Liston578 (1887) und die Fähre von Maddalena579 (1887) gepriesen und von der Mailander Wochenzeitschrift L’Illustrazione Italiana (1873–1962) zum Vertreter der modernen venezianischen Malerei tituliert.580 Das Schaffen dieser Venezianer war ihren Kollegen und den Sammlern im Ausland durchaus vertraut. Die These, dass amerikanische Künstler in Venedig – darunter Sargent, Chase, Frank Duveneck (1848–1919) und Robert Frederick Blum (1857–1903) – mit ihnen im Austausch standen, wurde 2006 von William H. Gerdts überzeugend vorgetragen und 2010 von Paolo Serafini am Vergleich zwischen Sargent und Favretto genauer untersucht.581 Sicherlich gab es eine vergleichbare Einflussnahme auch auf die anderen europäischen Schulen. Gerade im Hinblick auf die lichtdurchtränkte, teils farbenfrohe, teils gedämpfte, mit Weiß abgestufte Palette von Ciardi, Favretto und Fragiacomo liegt die Vermutung nahe, dass Serov sich an ihre locker gemalten Bilder erinnerte, als er kurze Zeit später Vera Mamontova porträtierte. Venezianer waren nicht die einzigen, die bei der Esposizione nazionale artistica mit ihren Werken positiv auffielen. Dazu zählten auch die Freilichtmaler Telemaco Signorini (1835–1901), Silvestro Lega (1826–95) und Giovanni Fattori (1825–1908), die in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre der Florentiner Accademia di Belle Arti den Rücken gekehrt und sich stattdessen an Courbet und den Barbizon-Malern orientiert hatten.582 Diese Künstler, deren protoimpressionistische Zerlegung des Linearen in Farbflecke ihnen den Spottnamen Macchiaioli583 einbrachte, pflegten Kontakte nach Paris und waren seit langem international präsent.584 Obwohl die Gruppe zum Zeitpunkt der Vene-

577 A Rialto (La fiera di Pasqua al Ponte di Rialto), ca. 1886, Öl auf Leinwand, 210,8 × 85,7 cm, Museum of Art, Rhode Island School of Design, Providence, Inv. 56.086; Esposizione nazionale... 1887, S. 21, Saal 7, Kat. 3. 578 Il Liston, 1887, Öl auf Leinwand, 85,5 × 162,5 cm, Galleria Nazionale d’Arte Moderna, Rom, Inv. 819; Esposizione nazionale... 1887, S. 21, Saal 7, Nr. 2. 579 Traghetto della Maddalena, 1887, Öl auf Leinwand, 158 × 268 cm, Privatbesitz; Esposizione nazionale... 1887, S. 21, Saal 7, Kat. 1. 580 Ugo Pesci, L’Esposizione di Belle Arti a Venezia, in: L’Illustrazione Italiana, Nr. 29, 10.7.1887, S. 1–36, hier S. 2; Orio 1887, S. 3; Wolf [Wolff] 1887, S. 553. 581 Gerdts, in: Adelson 2006, S. 187f.; Paolo Serafini, Favreto, Sargent e „la neo-Venetian School“, in: Paulo Serafini (Hg.), Giacomo Favretto: Venezia, fascino e seduzione, AK Rom, Chiostro del Bramante 23.4.–11.7.2010 und Venedig, Museo Correr 31.7.–21.11.2010, Mailand: Silvana Ed., 2010, S. 38–44. 582 Siehe: Esposizione nazionale... 1887: zu Telemaco Signorini S. 16, Saal 2, Kat. 39 und 40 sowie S. 31, Saal 12, Kat. 81, 84, 87 und 89; zu Silvestro Lega S. 23, Saal 7, Kat. 47 und 48; zu Giovanni Fattori S. 31, Saal 12, Kat. 76 sowie S. 44, Saal 19, Kat. 83–85 und S. 48, Saal 23, Kat. 116–120. 583 Macchiaioli, vom ital. macchia (Fleck) abgeleitet, erstmals von der Turiner Gazzetta del Popolo (1848–1983) am 3.11.1862 abwertend verwendet. Den Begriff macchia nutzte schon Giorgio Vasari (1511–74) in der Vita des venezianischen Malers Andrea Schiavone (1510–63), um dessen unfertige Manier zu beschreiben. 584 Zu Verbindungen zwischen den Macchiaioli und den Impressionisten siehe: Carlo Sisi, Le Caffè Michelangiolo avant-poste du réalisme en Europe, in: Beatrice Avanzi (Hg.), Les macchiaioli. Des impressionistes italiens?, AK Paris, Musée d’Orsay 10.4.–22.7.2012 und Madrid, Fundación MAPFRE 20.9.2013–5.1.2014, Paris: Skira/ Flammarion, 2013, S. 70–94, hier S. 74; Biographies, in : Avanzi 2013, S. 222–230, hier S. 228 und 230.

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dig-Ausstellung ihren Zenit überschritten hatte,585 setzte sie wichtige Impulse in der italienischen Malerei und beeinflusste möglicherweise auch russische Künstler wie Ghe, Repin und Levitan.586 Einen wahrlich großen Auftritt hatten die ehemaligen Studenten der Mailander Accademia di Brera. Darunter ist allen voran Giovanni Segantini hervorzuheben, der inzwischen international bekannt war. Unter den fünf Ölbildern und zwölf Studien, die er hier präsentierte, befand sich das Bildnis des Mailander Kritikers und Kunsthändlers Vittore Grubici de Dragon587 (1887), der sich im In- und Ausland entschieden für die moderne Ästhetik einsetzte und Segantini zur Trennung der Farben ermutigt haben soll.588 Zu der Auswahl gehörte auch die zweite Fassung des Gemäldes Ave Maria bei der Überfahrt589 (1886, Abb. 23), dessen erste, 1882 entstandene Version in der Amsterdamer Weltausstellung von 1883 wegen ihrer überwältigenden Lichtwirkung viel Aufmerksamkeit erregt hatte und mit einer Goldmedaille ausgezeichnet worden war. Ferner zeigte Segantini die unter freiem Himmel gemalte, monumentale Berglandschaft An der Stange590 (1886), die ihm 1886 in Amsterdam eine Goldmedaille eingebracht hatte. Zudem präsentierte er die Schafschur (1883–84), die zwei Jahre zuvor in Antwerpen zu sehen war. Alle drei letztgenannten Werke führte Segantini in der divisionistischen Technik aus, welche aufgrund von Pastosität und Fleckigkeit eine eigenartige Oberflächenvibration hervorruft und der Arbeitsweise von van Gogh und den französischen Neoimpressionisten nahe steht.591

585 Dario Durbè/Giuliano Matteucci, Die Macchiaioli und der europäische Naturalismus, in: Toskanische Impressionisten. Der Beitrag der Macchiaioli zum europäischen Realismus, AK Bayerische Staatsgemäldesammlung und Ausstellungsabteilung Haus der Kunst München e. V. 18.10.1975–4.1.1976, München: Atlas-Verlag und Werbung GmbH & Co. KG, 1975, S. 182–218, hier S. 182. 586 Studien hierzu bleiben bisher aus, ikonografische und stilistische Indizien sprechen aber für die Einflussnahme der Macchiaioli. Ghe, der 1857 als Stipendiat nach Rom kam und 1860–70 die meiste Zeit in Florenz lebte, malte eine Reihe von Bildern, wie Livorno und Florenz (1862 und 1864, beide Museum der Russischen Kunst, Kiew) sowie Massa-Carrara (1868, STG, Moskau), die motivisch und maltechnisch denen der Macchiaioli sehr nah stehen. Das Gleiche gilt für Levitans Landschaften, die er 1890 in Italien malte. Repins Wolgatreidler (SRM, 1870–73) weist sogar klare Parallelen zu Signorinis L’alzaia (1864, Jean-Luc Baroni, London) auf. 587 Vittore Grubici de Dragon (1851–1920), 1887, Öl auf Leinwand, 151 × 91 cm, Museum der bildenden Künste, Leipzig; Esposizione nazionale... 1887, S. 13, Saal 1, Kat. 11; Anni-Paule Quinsac, Segantini: catalogo generale, 2 Bde., Mailand: Electra, 1982, hier Bd. 1, S. 115, Kat. 150. 588 Simonetta Fraquelli, Der italienische Divisionismus und seine Nachfolge, in: Revolution des Lichts. Italienische Moderne von Segantini bis Balla, AK Kunsthaus Zürich 26.9.2008–11.1.2009, hg. von Züricher Kunstgesellschaft, Kunsthaus Zürich, Ostfildern: Hatje Cantz 2008, S. 11–20, hier S. 14. 589 Ave Maria a trasbordo, 1886, Öl auf Leinwand, 120 × 93 cm, Segantini Museum, St. Moritz; Esposizione nazionale... 1887, S. 40, Saal 17, Kat. 95; Quinsac 1982, Bd. 2, S. 412–415, Kat. 506. 590 Alla stanga, 1886, Öl auf Leinwand, 170 × 390 cm, Galleria Nazionale d’Arte Moderna, Rom, Inv. 1140; Esposizione nazionale... 1887, S. 13, Saal 1, Kat. 10; Quinsac 1982, Bd. 1, S. 282–284, Kat. 366. 591 Segantini war mit Thesen von George Seurat spätestens seit 1886 vertraut. Siehe dazu: Matthias Frehner, The Path to Modernism. Giovanni Segantini – Life and Work, in: Beat Stutzer/Roland Wäspe (Hg.), Giovanni Segantini, AK St. Gallen, 13.3.–30.5.1999 und St. Moritz, Segantini Museum 12.6.–20.10.1999, Ostfildern: Hatje Cantz 1999, S. 8–33, hier S. 22–24; Fraquelli, in: Revolution des Lichts [...], S. 11f. und 14.

4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887

23 Giovanni Segantini, Ave Maria bei der Überfahrt / Ave Maria a trasbordo, 1886, Öl auf Leinwand, 120 × 93 cm, Segantini Museum, St. Moritz

Eine dem Schaffen von Segantini immanente Thematik war die Wiedergabe des Lichts. Die pittura del vero – die Freilichtmalerei – war ein essenzieller Bestandteil seiner künstlerischen Praxis. Ihr verschrieben sich viele Künstler, die wie er an der Accademia di Brera ausgebildet worden waren und 1887 in Venedig ausstellten. So war Filippo Carcano hier mit fünf Werken vertreten, die von der unmittelbaren Naturbeobachtung herrührten und ihm Anerkennung als Begründer des Lombardischen Naturalismus – der sogenannten nuova scuola lombarda – einbrachten.592 Dazu zählten vier Landschaften, darunter Beim Fischfang593 (1886) und Lombardische Ebene594 (1887) sowie ein Genrebild Maiskolbenschälen595 (1886), welches zwei Jahre später in Paris zu sehen sein wird. Carcanos spontaner, breiter, pasto 592 Elisabetta Chiodini, Filippo Carcano e l’anima del vero, in: Giovanni Anzani/Elisabetta Chiodini (Hg.), La pittura del vero tra Lombardia e Canton Ticino (1865–1910), AK Rancate, Pinacoteca Cantonale Giovanni Züst 21.9.–8.12.2008, Cinisello Balsamo (Mailand): Silvania 2008, S. 47–63, hier S. 47. 593 Pesca (Alla pesca), 1886, Öl auf Leinwand, 83 × 130 cm, Galleria Nazionale d’Arte Moderna, Rom; Esposizione nazionale... 1887, S. 20, Saal 6, Kat. 2. 594 Pianura (Pianura lombarda), 1887, Öl auf Leinwand, 135 × 242 cm, Privatbesitz; Esposizione nazionale... 1887, S. 20, Saal 6, Kat. 1. 595 Lo spoglio del melgone, 1886, Öl auf Leinwand, Größe und Verbleib unbekannt; Esposizione nazionale... 1887, S. 20, Saal 6, Kat. 5; Abb. in: Anzani/Chiodini 2008, S. 56, Abb. 10 nach einer Radierung, die in L’esposizione di Parigi del 1889 illustrata, Sponzogno (Mailand 1889, Nr. 23, S. 177) abgebildet wurde.

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ser Duktus sowie seine kräftigen Farben lösten eine positive Resonanz bei den Kritikern aus, die seine unkonventionelle Technik und sein „tiefes lebhaftes Verständnis der Natur“ bewunderten und ihn als „triumphierenden“, „modernen Denker“ feierten.596 Ein weiterer Mailander Künstler, der zu dieser Strömung gehörte, war Luigi Rossi (1853–1923). Erwähnenswert für diese Diskussion ist insbesondere sein Gemälde Ruhe, das Umland von Lugano597 (1886, Abb. 24), welches in der zeitgenössischen Presse unter dem Titel All ombra (Unter dem Baum) publiziert wurde. Es zeigt zwei junge Frauen, die an einem heißen Sommernachmittag ihre Lektüre im kühlen Schatten eines großen Baumes genießen. Die beiden Mädchen werden links im Vordergrund auf dem Gras sitzend dargestellt. Die Eine, ein Buch in ihren Händen haltend, lehnt sich, Beine ausgestreckt, gegen den Baumstamm. Die Andere lässt sich neben ihr nieder und lauscht mit dem geneigten Kopf aufmerksam den Worten ihrer Freundin. Rechts im Hintergrund wandert der Betrachterblick über eine sonnenbeschienene Wiese, den Hügel hinauf bis hin zu kräftigen Bäumen und einem kleinen, zwischen dem Blattwerk und dem hellen Himmel kaum sichtbaren Haus. Einzelne Lichtflecken hüpfen über das verschattete Gras, als würde der Wind zaghaft die Äste berühren. Diese atmosphärische Wirkung wird durch den fleckenhaften Farbauftrag und differenzierte Grüntöne weiter verstärkt. Rossis Gemälde weist damit motivische und stilistische Analogien zu Serovs Bildnis von Maria Simonovich auf (1888, Taf. VI). Beide Künstler setzten sogar mittels der Baumstämme im Vorder- und Hintergrund gleiche perspektivische Bezugspunkte. Darüber hinaus ähneln Serovs Malweise und das Wechselspiel heller und dunkler Partien den Griffen des Italieners – auch wenn er mit seinem kräftigen pastosen Duktus der divisionistischen Manier Segantinis nähersteht, als Rossis weicher überlappender Pinselführung. Angesichts solch verblüffender Parallelen ist es wahrscheinlich, dass Serov bei seiner Motivwahl Rossis locker gemaltes Sommerbild vor Augen hatte. Dafür spräche zudem seine Studie Ein altes Badehaus in Domotkanovo598 (1888), welche möglicherweise im Vorfeld des Simonovich-Bildnisses gemalt wurde: Wie in Rossis Darstellung wandert der Betrachterblick den Hügel hinauf zu einem schlichten Häuschen, das mit dem dichten Grün und dem Himmel verschmilzt. Allerdings verzichtete Serov in seinem Porträt auf die Beschreibung des idylli 596 „un sentimento vivo e profondo della natura […] Per lui artista, come per ogni pensatore moderno, tutto ha valore: tutto ha un anima“, R. Barbiera, Filippo Carcano e la sua scuola, in: L’esposizione artistica nazionale illustrata – Venezia 1887, Nr. 17, 24.7.1887, S. 138f; „trionfato Carcano“, in: Guida pratica indispensabile del visitatore alla Esposizione Nazionale Artistica di Venezia 1887. Volo d’uccello nel recinto dell’Esposizione, Venedig 1887, S. 9. 597 Riposo, campagna luganese (All ombra/La lettura), 1886, Öl auf Leinwand, Größe unbekannt, Privatbesitz, Mailand; Esposizione nazionale… 1887, S. 40, Saal 18, Kat. 9 unter dem Titel La lettura; Matteo Bianchi, Luigi Rossi, catalogo ragionato, Mailand: Motta, 1999, S. 150, WVZ 61. Dass das Bild 1887 in Venedig gezeigt wurde, wird bei Bianchi nicht erwähnt. Allerdings wurde im Ausstellungsbericht der Zeitschrift L’Illustrazione Italiana gerade dieses Gemälde unter dem Titel All ombra abgebildet. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass Riposo, campagna luganese – und nicht das unter WVZ 60 in Bianchis Catalogo ragionato aufgeführte Gemälde All ombra –1887 in Venedig exponiert wurde. Siehe dazu: Pesci 1887, S. 34f.; Bianchi 1999, S. 150, WVZ 60. 598 Старая баня в Домотканове (Пейзаж с избушкой), 1888, Öl auf Leinwand, 76,5 × 60,8 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4312.

4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887

24 Luigi Rossi, Ruhe, das Umland von Lugano / Riposo, campagna luganese (All ombra / La lettura), 1886, Öl auf Leinwand, Größe unbekannt, Privatbesitz, Mailand

schen Müßiggangs und auf erzählerische Attribute. Stattdessen setzte er die Betonung auf einen intensiven Dialog zwischen dem Modell und dem Betrachter, der kein teilnahmsloser Beobachter bleibt, sondern zu einem integralen Bestandteil der Komposition wird. Ähnlich wie im Trubnikova-Portrait (1886, Taf. I) reflektierte der Künstler also über seine Seherfahrungen, ohne sich sklavisch an fremden Bildformeln festzuhalten. Außer Segantini, Carcano und Rossi machten auch andere ehemalige Studenten der Accademia di Brera – wie Emilio Gola (1851–1923), Eugenio Spreafico (1856–1919) oder Leonardo Bazzaro (1853–1937) – die Malerei an sich zu einem wichtigen Thema ihrer Bilder. So setzte Gola in seinem Gemälde Am Kanal599 (ca. 1887), das zwei Wäscherinnen beim Gespräch zeigt, auf strahlende Blau-, Rot-, Orange- und Gelb- sowie abgestufte Weiß- und Grautöne und steigerte die frische Farbwirkung durch kräftige Pinselführung. Spreafico gestaltete sein sentimental-pathetisches Gemälde Das Leiden600 (1886) – in dem eine junge traurige Witwe an einem regnerischen Tag an einer Grabsteinwand entlang schreitet – in 599 Sul naviglio, ca. 1887, Öl auf Leinwand, 81 × 126 cm, Privatbesitz, Mailand; Esposizione nazionale... 1887, S. 40, Saal 18, Kat. 26; Esposizione Annuale. Catalogo ufficiale, AK Mailand, Società per le Belle Arti und Esposizione Permanente 1887, Mailand: Tipografia A. Lombardi, 2007, S. 19, Kat. 148. 600 Dolori, 1886, Öl auf Leinwand, 87 × 165,8 cm, Musei Civici, Monza; Esposizione nazionale... 1887, S. 24, Saal 8, Kat. 24.

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subtilem Weiß, Hellgrau und Ocker und erreichte mittels unzähliger Spiegelungen auf der durchnässten Straße eine enorme Erweiterung des Bildraumes. Auf das Malerische fokussierte sich auch Bazzaro, der im Genrebild Zu anderen Zeiten601 (1885) die Bäuerin, die Schafe und die grüne Landschaft zu einer Einheit verschmelzen ließ. Wie diese kurze Ausführung zu der Esposizione nazionale artistica bestätigt, wurden hier viele sehenswerte Werke gezeigt. Es ist offenkundig, dass Serov von dieser Kunstschau, die über 100.000 Besucher602 in die Stadt lockte, Kenntnis nahm: Ein Hinweis darauf ist in einem Brief603 von Ilya Ostroukhov an Elizaveta Mamontova zu finden. Durch die Briefe ist zudem belegt, dass er und seine Freunde der „wunderbaren“ Erstaufführung von Giuseppe Verdis Othello beiwohnten, welche im Rahmen des Begleitprogramms im Theatro La Fenice stattfand und den La Scala-Tenor Francesco Tamagno (1850–1905) berühmt machte.604 Unklar bleibt, ob sie Stadtführer nutzen, in denen außer obligatorischen Sehenswürdigkeiten Atelieradressen venezianischer Künstler wie Ciardi, Favretto und Fragiacomo aufgelistet waren.605 Möglich ist, dass Serovs Weg in Venedig sich mit dem von Repin gekreuzt hat.606 Repin, der Ende Mai wegen der Esposizione nazionale artistica ebenfalls nach Serenissima kam, schilderte seine Eindrucke davon in einem Brief an Vladimir Stasov: [...] ich kann mich noch nicht von [dem Gefühl der] Zerschlagenheit und Bedeutungslosigkeit erholen, in das mich die Italiener mit ihrer Ausstellung hier versetzt haben!! [...] Was sind schon Pariser: Bei keinem [von ihnen] findet man diese Frische, Kraft, Unschuld der Komposition und diese brennenden ehrlichen Farben [...] Obwohl alles ein wenig unfertig ist, ist gerade das gut; dafür wirkt alles lebhaft und stark. [...] Wir sind gewöhnt zu glauben, dass die Italiener nichts haben. Und das soll nichts sein?! All das ist so neu, so überraschend; allerdings haben die meisten dieser Bilder kein Sujet – aber was für Energie, Malerei und Pinselführung; die Formen leiden natürlich darunter; die neuen Künstler betrachten diese als wären sie Landschaftsmaler; doch welch’ eine Kraft der unmittelbaren Wahrnehmung der Natur, welche Wahrhaftigkeit, welcher Mut in Allem! [...] Ich bringe

601 Altri tempi, 1885, Öl auf Leinwand, 100 × 160 cm, Privatbesitz, Mailand; Esposizione nazionale... 1887, S. 16, Saal 2, Kat. 51. 602 May 2009, S. 35f. 603 „Завтра большая Serenata на Canal Grande по случаю Esposizione artistica.“ Ilya Ostroukhov an Elizaveta Mamontova am 17.5.1887 (29.5.1887) aus Venedig, in: RGALI 799/323, Moskau, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 254f., hier S. 255. 604 „так чудно спетая“, Ilya Ostroukhov an Elizaveta Mamontova am 17.5.1887 (29.5.1887) aus Venedig, in: RGALI 799/323, Moskau, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 255; Serov an Olga Trubnikova am 17.5.1887 (29.5.1887) aus Venedig, in: STG/QS 49/22, Moskau, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 46, S. 89–91, hier S. 89. 605 Guida illustrata di Venezia di Guarrino e Marcello, Venedig: Antonio Longega Editore 1887, S. 108–112. 606 Serov schrieb an Elizaveta Mamontova aus Florenz am 22.5.1887 (2.6.1887). Repin schrieb an Vladimir Stasov aus Venedig am 1.–2.6.1887. Siehe: Samkov/Silberstein 1985, Nr. 47, S. 91f.; Brodsky 1969, Bd. 1, S. 323–327.

4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887

Ihnen den Katalog mit Anmerkungen und dann erzähle ich, denn wie schafft man über all dies zu schreiben? Und es gibt so wahnsinnig viele interessante Dinge!607 Inwiefern Repins ehrliche Bewunderung für die „unfertig“ gemalten Werke der Italiener sich in seinen eigenen Arbeiten widerspiegelte oder gar auf den konservativen Stasov überschwappte, sei dahingestellt. Serov, der sich stets intensiver als Repin mit „reinmalerischen“ Fragen beschäftigte, wird die venezianische Ausstellungdazu inspirierte haben, noch entschiedener als bisher neue unkonventionelle Experimente zu wagen. Wie überwältigt er von den gesamten visuellen Erfahrungen in der Lagunenstadt war, bezeugt sein überschwänglich begeisterter Brief an Olga Trubnikova, in dem er sich nach „Sorglosem“ und „Erfreulichem“ in seiner Malerei sehnte.608 Florenz und Mailand zwischen Vergangenheit und Gegenwart Schönes Italien, alles ist mit eigenartiger Ruhe erfüllt, besonders hier: die Museen mit ihren Gemälden, außerhalb der Stadt das Grün, die Zypressen schwingen wie in Böcklins Bildern ... und überall die weichen Berge, über die kleine helle Häuser und Campanillen zerstreut sind, es duftet nach Blumen – schön. Und was für eine Malerei gibt es hier! Ja, es gibt viel zu sehen – nein, genauer gesagt, zu studieren; einfach zu sehen ist zu wenig. Ich erwartete Vieles von Florenz, aber nie habe ich gedacht, solch’ einen Reichtum zu finden.609 In der Medici-Stadt, die Serov in diese poetische, ja ehrfürchtige Stimmung versetzte und an Böcklins Bilder des ewig gültigen Paradieses Italien denken ließ, müssen die vier jungen Künstler fast einen Monat verbracht haben. Noch eineinhalb Jahre später wird Serov sich 607 „[...] и не могу отойти никак от той пришибленности и ничтожества, в которые меня повергли итальянцы своей выставкой здесь!! [...] Что парижане: нет ни у кого этой свежести, силы, наивности композиции и жгучести и правдивости красок. [...] Правда всё немножко недокончено, да ведь это-то и хорошо; зато всё свежо, сильно. [...] мы привыкли считать, что у итальянцев ничего нет. Вот и ничего! Всё это как ново, как неожиданно; правда картины эти большей частью бессодержательны, но зато какая везде энергия, какая художественность, пластика; правда, формы страдают несколько; новые художники относятся к ним как пейзажисты; но какая сила непосредственного впечатления природы, сколько чувства правды, какая смелость везде! ... [...] Да, долой идеи! Надо жить и веселиться здесь! [...] Я Вам привезу каталог с отметками, тогда порасскажу, где же всё писать? А интересного страсть сколько!“ Ilya Repin an Vladimir Stasov am 1.–2.6.1887 aus Venedig, zit. nach: Brodsky 1969, Bd. 1, S. 323–327. 608 Serov an Olga Trubnikova am 17.5.1887 (29.5.1887) aus Venedig, in: STG/QS 49/22, Moskau, zit. nach: Samkov/ Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 46, S. 89–91, hier S. 90. 609 „Хорошая Италия, спокойствие во всём какое-то, здесь в особенности. Музеи, в них живопись, за городом листва, кипарисы качаются по-бёклински, кругом мягкие горы, усыпанные светлыми домиками, компаниллами, пахнет цветами – хорошо. Какая здесь живопись! Да, есть что посмотреть, – нет, вернее, изучать: посмотреть это мало. Я ждал многого от Флоренции, но такого богатства не думал найти.“, Serov an Elizaveta Mamontova am 22.5.1887 (2.6.1885) aus Florenz, in: RGALI 799/1/326, Moskau, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 47, S. 91f., hier S. 91.

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in einem Brief an Andrei Mamontov610 erinnern, dass er hier zum ersten Mal vor einem Kunstwerk geweint habe, als er Michelangelos unvollendete Madonna mit Kind (1521–36/37) in der Kirche San Lorenzo erblickte.611 Leider sind bis heute mit Ausnahme weniger Briefe keine Zeugnisse aufgetaucht, die der Rekonstruktion dieses langen Aufenthalts dienlich wären. Es können daher nur Mutmaßungen angestellt werden, welche Orte – abgesehen von den klassischen Sehenswürdigkeiten – Serov besuchte und ob in der Zeit Begegnungen mit anderen russischen oder gar italienischen Malern stattfanden.612 So lief in Florenz zum Beispiel zwischen März und Juli die Prima esposizione italiana di fotografia con sezione internazionale, welche vom Fotografen Carlo Brogi (1850–1925) ins Leben gerufen wurde.613 Felix Nadar (1820–1910), dessen Werkezahl in dieser Ausstellung nur seinem Pavillon in der Pariser Weltausstellung von 1900 nachstand, zeigte unter anderem Portraits von Literaten, Wissenschaftlern, Kunst- und Kulturschaffenden wie Eugène Chevreul (1786–1889), Jules Verne (1828–1905), Gustave Doré (1832–83), Sarah Bernhardt (1844–1923) und Victor Hugo auf dem Totenbett (1802–85).614 Zugleich veranstaltete die Florentiner Società Promotrici di Belle Arti (1846–1908) die Esposizione Annuale della Società delle Belle Arti, in der aktuelle toskanische Kunst gezeigt wurde. Eine gesicherte – wenngleich wohl eher kurze – Zwischenstation615 von Serovs Reise war Mailand, eine Stadt, in die Savva Mamontov, ein Bewunderer der italienischen Oper, unsterblich verliebt war. Wie oben kurz erläutert, spielte Mailand – seit jeher eine bedeutende Kunststätte – in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle in der Entwicklung der italienischen Moderne. Die Esposizione annuale di Brera ermöglichte vielen jungen Künstlern, darunter den Vertretern der nuova scuola lombarda, ihre Werke einem breiten Publikum zu präsentieren: Hier machte beispielsweise der in Italien geborene russische Bildhauer Paolo Troubetzkoy 1886 sein Debut mit einer Pferdefigur.616 Im Jahr 1887 wurde diese Akademie-Schau am 26. August offiziell eröffnet und zeigte insgesamt

610 Andrei Savvich Mamontov (1869–91), mittlerer Sohn von Savva Mamontov, beendete 1890 sein Architekturstudium an der Moskauer Kunsthochschule, war für kurze Zeit an den Ausmalungen der Vladimirkathedrale in Kiew beteiligt. Siehe: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, S. 143, Anm. 1. 611 Serov an Andrei Mamontov am 11.1.1889 aus St. Petersburg, in: RGALI, 799/1/369, Moskau, zit. in: Samkov/ Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 76, S. 142f., hier S. 142. Als Serov 1904 erneut nach Florenz kam, fertigte er drei Skizzen von dieser Skulpturengruppe an. Siehe: Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 424f. 612 Repins Korrespondenz ist zu entnehmen, dass er Anfang Juni ebenfalls in Florenz war und dort dem Schüler Antokolskys, dem Bildhauer Ilya Ginzburg (1859–1939) begegnete, in: Brodsky 1969, Bd. 1, S. 327–329. 613 Andrea Greco, Italie 1887. Notes et souvenirs. Le vacanze italiane di Felix Nadar, in: Semestrale dell’Archivio Fotografico Toscano. Rivisita di Storia e Fotofragia, Jg. 10, Nr. 20, 12.1994, S. 48–62, hier S. 53. 614 Greco 1994, S. 57f. 615 Die Hotelrechnung des Hotels Rebecchina in Mailand vom 9.6.1887, bestätigt, dass Serov und seine Reisebegleiter sich Anfang Juni 1887 in Mailand aufgehalten haben, in: STG/QS 49, Moskau. 616 Catalogue of Sculpture by Prince Paul Troubetzkoy Exhibited at the Art Institute in Chicago, February 1 to February 28, 1912, Chicago: The Art Institute, 1912, S. 3.

4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887

298 Werke, darunter das einem Farbenfest gleichende Stillleben mit Süßwaren und kandierten Früchten617 (1887) von Emilio Longoni (1859–1932). Diese Ausstellung wird Serov – der zum dem Zeitpunkt wieder zurück in Russland war – nicht gesehen haben.618 Vielleicht besuchte er aber eine andere bedeutende Kunstplattform: die Esposizione permanente di Milano, die seit 1886 im neu eröffneten Palazzo della Permanente in der Via Principe Umberto (heute Via Turati) stattfand und das ganze Jahr über lief. Organisiert wurde diese Verkaufsausstellung von der Società per le Belle Arti ed Esposizione Permanente, welche 1884 aus dem Zusammenschluss der Società per le Belle Arti (gegr. 1844) und der L’Esposizione Permanente (gegr. 1870) entstand und noch bis heute existiert. Der Katalog von 1887 führt 361 Nummern auf, darunter zahlreiche Landschaften, Stillleben und Studien nach der Natur.619 Spreafico und Bianchi waren hier mit je fünf, Fattori und Gola mit je zwei Arbeiten vertreten.620 Giovanni Sottocornola (1855–1917), der seine Ausbildung in Brera an der Seite von Segantini und Longoni gemacht hatte und in den 1880er Jahren neben tendenziösen Genrebildern viele Stillleben erschuf, reichte mitunter zwei Früchtestillleben ein.621 Sein ehemaliger Kommilitone Angelo Morbelli (1853–1919), der 1887 von Vittore Grubicy unter Vertrag genommen wurde und sich der divisionistischen Bewegung anschloss, stellte ein Genrebild aus.622 Ferner waren hier zwei Bronzen von Troubetzkoy zu sehen.623 Eine weitere wichtige Kunstadresse der Stadt war Galleria dei fratelli Alberto e Vittore Grubicy (1876–?) in der Via San Marco 16–18, die zu den ersten modernen Kunsthandlungen Italiens gehörte.624 Zu den Kunden der Gubicy-Brüder zählten solche führenden italieni 617 Studio dal vero. Natura morta con dolciumi e frutta candita oder Natura morta con frutta candita e caramelle, 1887, Öl auf Leinwand, 63 × 110 cm, Tortona, Fondazione Cassa di Risparmio di Tortona, ausgestellt 1887 als Studii del vero; Accademia di Belle Arti in Milano. Esposizione 1887. Catalogo ufficiale, AK Mailand, Palazzo di Brera 26.8.–30.9.1887, Mailand: Topografia Pietro Faverio, Via Marina 8, 1887, S. 7, Kat. 5/6; Giovanna Ginex (Hg.), La meravigla della natura morta, 1830–1910, AK Tortona, Pinacoteca della Fondazione Cassa di Risparmio di Tortona 24.9.2011–19.2.2012, Mailand: Skira, 2011, S. 120f. und S. 152, Kat. 30. 618 Zu den ausgestellten Künstlern zählten u. a. Leonardo Bazzaro, Bartolomeo Bezzi, Mosè Bianchi, Filippo Carcano, Emilio Gola, Giovanni Sottocornola, Eugenio Spreafico und Paolo Troubetzkoy. Eine Kopie des Katalogs wurde der Autorin von der Bibliothek des Kunsthistorischen Instituts in Florenz freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Siehe: Accademia di Belle Arti in Milano. Esposizione 1887…1887. 619 Societa per le Belle Arti ed Esposizione permanente. Esposizione annuale 1887. Catalogo ufficiale, AK Mailand, Palazzo della Permanente, Mailand: Topografia A. Lombardi 1887. Eine Kopie des Katalogs wurde der Autorin vom Archiv der Società per le Belle Arti ed Esposizione Permanente in Mailand freundlicherweise zur Verfügung gestellt. 620 Societa per le Belle Arti ed Esposizione permanente… 1887, S. 10–35. 621 Societa per le Belle Arti ed Esposizione permanente… 1887, S. 11, Kat. 44, 45 und S. 16, Kat. 114, hier S. 11, Kat. 44 und 45. 622 Societa per le Belle Arti ed Esposizione permanente…,1887, S. 14, Kat. 86. Zum Verhältnis zwischen Morbelli und Grubicy siehe: Linda Schädler, Angelo Morbelli, in: Revolution des Lichts... 2008, S. 149. 623 Societa per le Belle Arti ed Esposizione permanente…1887, S. 28, Kat. 258 und S. 30, Kat. 273. 624 Die Brüder Grubicy gehörten einem verarmten ungarischen Adelsgeschlecht an. Vittore, der in London erstmals den modernen Kunsthandel kennengelernt hatte, kaufte 1876 zusammen mit Alberto die Galerie des Mailander Galeristen Pedro Nessi in der Via San Marco 16 und eröffnete an dem Standort noch im

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schen Sammler zeitgenössischer Kunst wie der Kaufmann und Mäzen Giovanni Torelli (1856–1920), der Textilmagnat Carlo Dell’Aqua (1848–1918) sowie der Verleger Giuseppe Treves (1838–1904).625 Bereits in den 1880er Jahren wirkte die Grubicy-Galerie über die nationalen Grenzen hinaus.626. In Mailand zeigten sie schon ab dem Ende der 1870er Jahre Segantini, Morbelli und Longoni und veranstalteten Ausstellungen der Scapigliati (Zerzausten) wie Tranquillo Cremona (1837–1878) oder Daniele Ranzoni (1843–1889), die wegen ihrer antibürgerlichen Ästhetik und ‚nachlässig‘ gemalten Bilder auffielen.627 Diese knappe Darstellung macht deutlich, dass Florenz und Mailand – die kunsthistorisch von enormer Bedeutung waren und daher Kulturschaffende aus der ganzen Welt anzogen – Ende des 19. Jahrhunderts mehr als nur Zeitkapseln aus der Vergangenheit waren. Zum einen fanden hier jährlich große Ausstellungen ortsansässiger Künstler statt, an denen sich bisweilen die in Italien lebenden Ausländer beteiligten. Zum anderen pflegten viele Vertreter progressiver toskanischer und lombardischer Bewegungen Kontakt zu ihren nordeuropäischen Kontrahenten. Am Beispiel der Florentiner Prima esposizione italiana di fotografia... und der international operierenden Mailänder Galleria dei fratelli Alberto e Vittore Grubicy wird deutlich, wie intensiv sich die Italiener mit den neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Kunst- und Bildproduktion auseinandersetzten. Eine Untersuchung der lokalen Vertriebswege und Auswertung illustrierter Zeitschriften könnte genauere Erkenntnisse darüber liefern, wie man den Werken italienischer Künstler abseits der großen Ausstellungen begegnen konnte. Denn selbst wenn Serov und seine drei Begleiter keinen von ihnen direkt trafen, werden sie – gerade angesichts ihrer jüngsten Erfahrungen in Venedig – auch in Florenz und Mailand Kenntnis von deren Aktivitäten genommen haben.

gleichen Jahr Galleria Fratelli Grubicy. Segantini, der von 1879 an von Grubicy unterstützt wurde, residierte ab 1884 unter der gleichen Adresse. Siehe dazu: Quinsac 1982, Bd. 1, S. 22; Linda Schädler, Vittore Grubicy de Dragon und Giovanni Segantini, in: Revolution des Lichts… 2008, S. 142, 163. 625 Giovanna Ginex, La rinascita della natura morta: accademie, nuova scuola e collezionismo, in: Ginex 2011, S. 13– 42, hier S. 20–22; S. 37, Anm. 59 und S. 38, Anm. 79. 626 So pflegte Vittore, der zwischen 1882 und 1886 viel Zeit in Holland und Belgien verbrachte, ein freundschaftliches Verhältnis zu den Vertretern der Haager Schule und wurde in seiner eigenen Malweise von Anton Mauve stark beeinflusst; 1888 wurden die Grubicy-Brüder mit der Auswahl lombardischer Künstler für The Italian Exhibition in London betraut. Siehe: Schädler, in: Revolution des Lichts… 2008, S. 142; Fraquelli, in: Revolution des Lichts… 2008, S. 14. 627 Ranzoni war vielleicht in Russland bekannt, da er als Erster Paolo Troubetzkoy Malunterricht erteilte und ihn in dessen impressionistischer Formgebung stark beeinflusste. Das Gleiche darf von Vittore Grubicy vermutet werden, der Troubetzkoy von Beginn an unterstützte und öffentlich würdigte. Fraquelli, in: Revolution des Lichts… 2008, S. 14f.; Mostra Troubetzkoi-Ranzoni: elenco delle opere al Kursaal, AK Verbania, Museo storico artistico di Pallanza 1.–30.9.1952, Mailand: L-Alfieri, 1952; Monica Vinardi, Paul Troubetzkoy, in: Ginex 2011, S. 161.

4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887

Die Bildnisse von Vera Mamontova (1887) und Maria Simonovich (1888) im Zeichen transalpiner Kunst In der Forschung wurde Serovs Italienreise von 1887 einstimmig als Wendepunkt in seinem Schaffen konstatiert, ohne die Auslöser dieser Wende über die allgemeinen Äußerungen hinaus definiert zu haben. Das erklärt sich teils mit ästhetischen Überzeugungen, nationalen Ambitionen oder mit der Schwerpunktlegung der jeweiligen Arbeit, teils mit der politischen Situation und teils mit diversen praktischen Einschränkungen, die eine weitverzweigte internationale Recherche erschweren. An dieser Stelle genügt das Beispiel des Zeitzeugen Igor Grabar, der eine ganze Reihe von Fakten und Möglichkeiten ausließ, als er Serovs Vita auf das Papier brachte und den Künstler als einen genialen Urheber darstellte, dessen impressionistische Meisterwerke auf eine fast mystische Weise entstanden sein müssen.628 Die ikonografische Analyse des Trubnikova-Porträts von 1886 zeigte bereits, wie Serov auf verschiedenen Ebenen – Palette, Lichtorchestrierung oder Komposition – auf die holländischen und deutschen Künstler reagierte. Dass Serov bei den italienischen Künstlern Anregungen fand, wird meines Erachtens gerade im Hinblick auf die venezianische Esposizione nazionale artistica mehr als ersichtlich. Dieser Einfluss geht aber auch diesmal über den genius loci hinaus. Das Bildnis Vera Mamontova (Taf. V), das unmittelbar nach seiner Italienreise entstand, steht – von der Ikonografie und der Komposition über die Motivwahl bis hin zur Farbigkeit – ganz und gar im Zeichen transalpiner Kunst. Erstens war Serovs Konzeption des Modells mit Sicherheit durch Motive des russischen italienischen Genres des 19. Jahrhunderts vorgeprägt: In den 1830–50er Jahren, als italienische Themen in Russland zu einer Modeerscheinung wurden, erfreuten sich bezeichnenderweise vor allem halbfigurige Darstellungen junger Frauen mit Attributen wie Früchten, Blumen oder Musikinstrumenten einer besonderen Beliebtheit.629 Exemplarisch können hier die Gemälde wie Junge Frau mit Früchten630 (1830er) von Alexei Tyranov (1808–59, Abb. 25) und Junge Italienerin mit Pomeranzen631 (1870er) von Konstantin Makovsky genannt werden. Zweitens waren Serov spätestens seit dem Besuch der Esposizione nazionale artistica ähnliche Motive aus den Werken der Italiener bekannt, denn in Italien waren Bilder jugendlicher Arbeiterinnen in Kombination mit Früchtestillleben im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts noch sehr beliebt. Bei Sottocornola beispielsweise zählten sie gar zu den häufigsten Sujets.632 So porträtierte er in seinem Gemälde Früchteverkäuferin633 (ca. 1886) ein junges Mädchen, das vor einem großen Korb voller Pfirsiche und Weintrauben sitzt und den Betrachter mit einem ernsten Blick fixiert. Doch während in dieser und anderen ähnlichen Genredarstellungen dem Stillleben eine prominente Rolle zugewiesen wird, wird 628 Zur Veränderung des Künstlerbildes im 19. und frühen 20. Jh. siehe: Forssman, in: Dickel 2003, S. 329. 629 Yaylenko 1997, S. 81; ders. 2012, S. 75–79. 630 Девушка с фруктами, 1830er, Öl auf Leinwand, 61,1 × 58,5 cm, STG, Moskau, Inv. 6082. 631 Молодая итальянка с померанцами, 1870er, Öl auf Leinwand, 73 × 60 cm, Privatbesitz. 632 Giovanni Anzani, Giovanni Sottocornola, in: Anzani/Chiodini 2008, S. 136f., Kat. 36. 633 Venditrice di frutta, ca. 1886, Öl auf Leinwand, 78,5 × 48,5 cm, Fondazione Cariplo.

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25 Alexei Tyranov, Junge Frau mit Früchten / Девушка с фруктами, 1830er, Öl auf Leinwand, 61,1 × 58,5 cm, STG, Moskau, Inv. 6082

es bei Serov beiläufig in die Komposition aufgenommen.634 In Verbindung mit dem Interieur wirkt das Porträt dadurch wiederum wie eine Genredarstellung, was zu den Merkmalen modernistischer Porträts – wie die von Manet oder Degas – zählt. Drittens war Serov mit jenen Werken russischer Künstler seiner Generation vertraut, in denen der Nachklang des russischen italienischen Genres deutlich zu hören war. Das gilt mitunter für Surikovs Ölbild Szene beim Karneval in Rom635 (1884) und die dazugehörigen Studien (Italienerin636, 1884). Wie später bei Serov trägt hier eine junge brünette Protagonistin ein zwischen Rosa- und Weißtönen angelegtes Gewand, das fleckenhaft gemalt wird.637

634 Auch als ein eigenständiges Bildmotiv war das Stillleben in Italien in der Zeit sehr populär. In den 1880er und 1890er Jahren war es gerade die progressive nuova scuola lombarda, die mit solchen Bildern in den Kunstschauen glänzte. Ginex (2011, S. 19) schrieb dazu: „Robuste, audaci nel colorito, innovatrici nella struttura compositiva, le nature morte di Cesare Tallone, Filippo Carcano, Giovanni Segantini, Emilio Longoni, Giovanni Sottocornola, Adolfo Feragutti Visconti […] dominano per almeno un decennio le sale di Brera,“. Siehe: Ginex, in: Ginex 2011, S. 13–41, v. a. S. 19–33. Für weitere Beispiele siehe: Anzani/Chiodini 2008. 635 Сцена из римского карнавала, 1884, Öl auf Leinwand, 108 × 93 cm, STG, Moskau, Inv. Ж-308. 636 Итальянка, 1884, Öl auf Leinwand, 40,3 × 30,8 cm, STG, Moskau, Inv. 24811. 637 Insgesamt lassen sich in Serovs Reaktionen auf Italien – und auf modernistische Strömungen im Allgemeinen – starke Ähnlichkeiten zu Surikovs Haltung erkennen. Wie Serov muss Surikov während seiner ersten Auslandsreise 1883–84, die ihn u. a. nach Paris, Mailand, Florenz, Rom und Venedig führte, überwältigende visuelle Erfahrungen gemacht haben. So sprach er beim Besuch von Vasily und Natalia Polenov in Rom ständig davon, dass Manets Karaffe (sic!) für ihn höher als jede Idee stünde. Ihnen gegenüber beteuerte er: „Искусство для искусства, всем в глаза буду бросать это слово“ („Kunst um der Kunst Willen; das werde ich allen ins Gesicht sagen“). Siehe: Mikhail Allenov, Vasily Surikov, Moskau: Slovo, 1998, S. 25f.

4.3 Dem Künstler auf der Spur. Zu den Stationen von Serovs Europa-Reisen von 1885 und 1887

Surikovs lichtdurchströmte Venedig-Aquarelle waren Serov mit aller Wahrscheinlichkeit ebenfalls bekannt.638 Dies traf mit Sicherheit auch auf Vrubels venezianische Skizzen von 1884–85 zu, die Serov während seines Odessa-Aufenthalts zwischen dem späten Herbst 1885 und dem Frühjahr 1886 sehen konnte. Die Werke von Surikov und Vrubel versinnbildlichten eine Erneuerung in der Auffassung Italiens in der russischen Kunst. Eine solche Entwicklung war in der Zeit auch bei ihren europäischen und amerikanischen Kollegen zu beobachten. Maler wie Turner, Whistler oder Sargent suchten im südlichen Nachbarland nach neuen Inspirationen. Manet, Renoir oder Monet bauten hier im blendenden Tageslicht ihre Pleinair-Technik weiter aus und machten in den hier entstandenen Werken die polychrome Farbigkeit zum wichtigsten gestalterischen Prinzip.639 In Frankreich, wo die Zahl italienischer Zuwanderer im späten 19. Jahrhundert deutlich zunahm, griffen viele Künstler auf südländische Modelle zurück: So wurde die in Ancona geborene Besitzerin des Pariser Künstlercafés Tambourin Agostina Segatori (1841–1910) zum Gegenstand zahlloser Italienerinnen-Darstellungen von Corot, Gérôme, Manet und van Gogh.640 Serov nimmt in dieser Reihe insofern eine besondere Stellung ein, als dass er in seinem Bildnis Vera Mamontova Italien nicht explizit thematisiert: Er hat kein italienisches Modell und lässt weder im Interieur noch in der Landschaft etwas typisch Italienisches erkennen. Italien wird vielmehr zu einem ‚Hintergrund‘ seiner Darstellung. So wird Caravaggios sinnlicher Lautenspieler (um 1595, Abb. 16) unauffällig zum Vorbild für die Komposition. Die Ikonografie rezipiert die Darstellungen junger Italienerinnen mit Früchten, die sowohl in der italienischen als auch in der russischen Genremalerei des 19. Jahrhunderts verbreitet waren. Die durchgehend lichte Farbenskala und das Nebeneinander der hellen Rosa-, Blau-, Grün- und Gelbtöne weisen klare Reminiszenzen zum venezianischen Kolorit auf: sowohl zu Paolo Veronese (1528–88) und Giovanni Battista Tiepolo (1696–1770) als auch zu den zeitgenössischen Malern wie Ciardi, Favretto und Fragiacomo. Mutiges Experimentieren mit einem fleckigen Duktus erklärt sich wiederum – mehr noch als mit dem Einfluss barocker Maler – mit Serovs jüngsten Seherfahrungen in der Esposizione nazionale artistica. Sogar die Dargestellte – das sonnengebräunte, dunkelhaarige Mädchen mit großen dunklen Augen, dessen Eltern sich in Mailand trafen – war wie dafür geschaffen, die Rolle einer Italienerin zu spielen.641 Folglich war dieses Bildnis – im Gegensatz zu dem von Grabar kreierten Mythos – keine creatio ex nihilo. Zu seiner Entstehung führte erneut die Summe multipler Eindrücke, die der Künstler über einen langen Zeitraum in seinem visuellen Gedächtnis gespeichert hatte 638 Vgl. zwischen Serovs und Surikovs Venedig-Studien: Golovin, in: Movshenson/Syrkina 1960, S. 38. 639 Maria Grazia Messina, Le Voyage en Italie des impressionistes et post-impressionistes, in: Blandine Chavanne (Hg.), Fascinante Italie de Manet à Picasso, 1853–1917, AK Nantes, Musée des Beaux-Arts 20.11.2009– 1.3.2010, Paris: Gallimard, 2009, S. 49–58, hier S. 51. 640 Blandine Chavanne [u. a.], Introduction, in: Chavanne 2009, S. 11–14, hier S. 13. 641 Zur Mamontov-Familie siehe Kapitel dieser Dissertation.

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und teils bewusst, teils unbewusst aufrief: So bahnte sich die Auflösung architektonischer Formen, die seine Venedig-Studien charakterisiert, schon im Aquarell Amsterdam. Blick aus dem Fenster des Hotels642 (1885) an und ist zudem in der Zeichnung des Wiener Stephansdoms643 zu erkennen, in welcher der steile gotische Bau mittels nervös gestrichelter Linien wiedergegeben wurde (Mai 1887). Während Serov im Mamontova-Porträt noch dem italienischen Genre verpflichtet war, ließ er in der Darstellung von Maria Simonovich derartige Vorbilder zu leisen Anklängen werden, indem er auf die Genreelemente und symbolische Überhöhung verzichtete und stattdessen die Figur maltechnisch und farbig in die Landschaft einblendete. Damit machte er einen weiteren entschiedenen und eigenständigen Schritt in Richtung Modernismus.

4.4 Serovs moderne Unmittelbarkeit ... ... im Nachklang impressionistischer Stimmung Serovs Interesse an der Wiedergabe des Sonnenlichts und sein Experimentieren mit dem fleckigen pastosen Duktus kann in vielen Werken der späten 1880er und 1890er Jahre beobachtet werden. Dazu gehören seine Natur-, Tier- und Genredarstellungen, die en plein air gemalt wurden. In der Sommerlandschaft644 (1891) wird der Blick aus dem langen kühlen Schatten eines Holzschuppens über die sonnenbeschienene Wiese bis hin zum grünen Dickicht im Hintergrund geführt. In der Studie Kholstomer645 (1892), in der weidende Pferde und Kühe dargestellt sind, wird das weite Grasfeld von der blendenden Mittagssonne überstrahlt: Das gleiche Lichtmotiv tauchte noch Jahre später in den Gemälden Baden des Pferdes646 (1905) und Pferde an der Meeresküste647 (1905) auf, in denen Wasser als Reflexionsmedium diente. Die Wiedergabe der Hitze beschäftigte den Künstler im Genrebild Tataren-Dorf auf der Krim648 (1893), das er zum Studium des Lichtspiels auf Fassaden, Blattwerk und ausgetrockneter Erde nutzte: Die Dorfbewohner, die im Schatten eines großen Baumes Zuflucht fanden, wurden ebenso wie die Steine um sie herum mit wenigen Strichen erfasst und auf diese Weise harmonisch der sie umgebenden Welt angeglichen. Serov macht folglich seine Bilder nicht nur zu einer Fläche für spannende maltechnische Experimente, 642 Амстердам. Вид из окна гостиницы, 1885, Aquarell auf Papier, 21 × 28,8 cm, sign. und dat. rechts unten, Privatbesitz. 643 Собор Св. Стефана в Вене, 1887, Bleistift auf Leinwand, 32,3 × 24 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-53343. 644 Летний пейзаж, 1891, Öl auf Leinwand, 54,5 × 72,5 cm, sign. und dat. links unten, STG, Moskau, Inv. Ж-480. 645 Холстомер, 1892, Öl auf Leinwand, 22,2 × 34,3 cm, STG, Moskau, Inv. 11187. Der ungewöhnliche Titel bezieht sich auf den Namen des Pferdes aus Lev Tolstoys gleichnamigen Roman von 1886 (Der Leinwandmesser), in dem die Geschichte aus der Sicht dieses Pferdes erzählt wird. 646 Купание лошади, 1905, Öl auf Leinwand, 72 × 99 cm, sign. rechts unten, SRM, St. Petersbug, Inv. Ж-4285. 647 Лошади на взморье, 1905, Öl auf Leinwand, 48,5 × 64 cm, SRM, St. Petersbug, Inv. Ж-4309. 648 Татарская деревня в Крыму, 1893, Öl auf Leinwand, 53 × 53 cm, sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 1521.

4.4 Serovs moderne Unmittelbarkeit ...

sondern auch zu einem Medium, um visuelle, haptische und akustische Erinnerungen zu wecken, welche im Sinnesgedächtnis eines jeden Menschen gespeichert sind: willkommene Kühle des Schattens, unerträgliche Hitze, leichte Meeresbrise und leises Spielen der Meereswellen, oder stilles Erstarren der Natur und der Menschen in der südlichen Mittagssonne. Beim Kremser von Moskau nach Kuzminki649 (1892) ist es ebenfalls zu beobachten. Bereits das Sujet vermittelt hier den Eindruck einer heißen Mittagszeit: Die Passagiere, die sich kaum vor der Sonne retten können, sitzen eng beieinander und der helle gelbliche Staub, der von der Straße aufsteigt, legt sich wie ein dichter Schleier um die Räder und um die Beine der Pferde. Des Weiteren sind allen Bildelementen ‚zitternde‘ Konturen eigen, die mittels grober, vermutlich mit einem Borstenpinsel gesetzter Pinselstriche erzeugt wurden. Diese Gestaltung der Umrisse und das starke Hell-Dunkel – zwischen der Silhouette des ‚verkohlten‘ Kutschers und dem Himmel sowie zwischen dem schwarzen Wagen und der Kleidung der Fahrgäste – erwecken den Eindruck, dass die Reiseteilnehmer hin und her geschaukelt werden. Fast kann der Betrachter das laute Krachen des Kremsers auf der trockenen, holprigen Straße hören und den aufsteigenden Staub einatmen. Im Fokus steht folglich nicht etwa das triviale Motiv – das Grabar dazu brachte, dieses Bild zu Unrecht als „merkwürdig“ und „minderwertig“ zu bezeichnen – sondern die Empfindungen einer solchen endlosen Fahrt, an denen Serov die Zuschauer teilhaben lässt.650 Die kompositionellen, koloristischen und technischen Formeln, die der Künstler in den Darstellungen von Vera Mamontova und Maria Simonovich entwickelte, variierte er mehrfach in den Frauenbildnissen der Angehörigen seines Familien- und Freundeskreises. Im Dreiviertel-Porträt seiner Cousine Adelaida Simonovich651 (1889) griff Serov das populäre Motiv einer lesenden jungen Frau auf. Wie im Bildnis ihrer Schwester Maria wurde sie in einer hellen Bluse vor die grüne Masse aus Büschen, Wiesengras und Bäumen gesetzt. Der Bildraum hinter ihr wurde mittels der Vertikale des Baumstammes definiert. Bei Praskovya Mamontova652 (1889) wurde wiederum die Komposition des Vera Mamontova-Porträts spiegelverkehrt übernommen und ins Freie übertragen: Diesmal wirkt das Modell aktiver und angespannter, weil es sich entschieden nach vorne beugt und dem Betrachter einen fast rauen Blick zuwirft. Die aquarellierende, spielerisch leichte Pinselführung steht ebenfalls im klaren Gegensatz zum dichten Farbauftrag des früheren Bildes.

649 Линейка из Москвы в Кузьминки, 1892, Öl auf Leinwand, 58 × 83,5 cm, sign. auf der Rückseite, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4301. 650 „Летом 1892 года Сѣров написал ту странную для него картину – ‚Линейка из Москвы в Кузьминки‘, Grabar 1914, S. 112f.; „Ho ещё более страную вещь [...] столь невысокого качества, что почти не верится, что перед нами подлинник Серова,“ Grabar 1965, S. 132. 651 Аделаида Яковлевна Симонович, 1889, Öl auf Leinwand, 87 × 69 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-8480. Zur Entstehung der fünf Bildnisse, die Serov von Adelaida Yakovlevna Simonovich (1872–1945) machte, siehe: A. Simonovich-Deviz, in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 2, S. 245–249. 652 Прасковья Анатольевна Мамонтова, 1889, Öl auf Leinwand, 65 × 54 cm, Privatbesitz. Praskovya Anatol­ yevna Mamontova (1873–1945) war Tochter von Savva Mamontovs Bruder Anatoly Mamontov.

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In der halbfigurigen Darstellung von Elena Konchalovskaia653 (1891) wurde die Verbindung zum Maria-Simonovich-Porträt durch die reliefartige Malweise hergestellt, die der Künstler bei der Gestaltung der weißen, mit hellem Blumenmuster besetzten Bluse einsetzte. Da er seinem Modell wenig schmeichelte und es kräftig und ungelenk erscheinen ließ, fand dieses Porträt in der Forschung kaum Beachtung. Dabei hat es gerade wegen seines weichen, zähflüssigen und überlappenden Duktus eine außerordentliche malerische Qualität. Kaum angesprochen wurde in der Literatur auch das ganzfigurige Bildnis der Schauspielerin Olga Tamara654, welches der Künstler im Sommer 1892 auf ihrem Landgut in Khimki malte. Von Grabar wurde es 1914 als „keinesfalls gelungen“ eingestuft und später als „naturalistisch“, „monoton“ und „prosaisch“ kritisiert.655 Indes werden darin Blumen und Blätter im Sinne der impressionistischen Maltechnik als über das Bild zerstreute Farbtupfer formuliert und das weiße Kleid in einer blaugrauen Palette im breiten Duktus abgestuft. Aufgrund der Buntheit der Farben lässt sich in diesem Bild – wohl als singuläres Beispiel in Serovs Œuvre – die Wirkung der Liebe im Dorf (1882) von Jules Bastien-Lepage erkennen. Doch selbst bei dieser möglicherweise intendierten Anspielung an Bastien-Lepage, vermied Serov explizit die für den Franzosen charakteristische scharfe Konturierung und minuziöse Wiedergabe solcher Details wie Blattrippen oder Holzmaserung. Einen spannenderen Vergleich zu diesem Porträt bietet Manets Gemälde Im Wintergarten656 (1879), welches das schweigende Ehepaar Guillemet vor dem Hintergrund blühender Gewächse zeigt. Ähnlich wie Mme Guillemet sitzt Tamara auf einer Bank, legt einen Arm über die Rückenlehne und den anderen in den Schoß. Ebenso wie die Pariserin trägt sie ein Kleid mit breiten dunklen Schleifen um die Taille und am Kragen. Von grünen Blättern und bunten Blumen umgeben, wirken diese beiden attraktiven jungen Damen wie ein natürlicher Bestandteil ihrer Umwelt. Allerdings ist Mme Guillemet, die sehr gerade sitzt und in

653 Елена Петровна Кончаловская, 1891, Öl auf Leinwand, 62 × 58,5 cm, sign. und dat. SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-6650. Das Porträt von Elena Petrovna Yasinovskaia (geb. Konchalovskaia, 1872–1935) entstand im Auftrag ihres Vaters, des Moskauer Übersetzers und Verlegers Piotr Konchalovsky (1838–1904), mit dem Serov befreundet war und seit 1890 als Illustrator an der Jubiläumsausgabe der Werke von Mikhail Lermontov zusammenarbeitete. Siehe: Grabar 1914, S. 105; Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 708–711, Anm. 16; Bd. 2, S. 60f. und S. 63, Anm. 1 und 4; Kruglov, in: Petrova 2005, S. 34. 654 Ольга Федоровна Тамара, 1892, Öl auf Leinwand, 1892, 150 × 98 cm, Nationales Museum der bildenden Künste der Republik Weißrussland, Minsk, Inv. PЖ-789. Olga Feodorovna Tamara (geb. Mamontova, 1870–1952), Nichte von Savva Mamontov, Schwester der Malerin Maria Feodorovna Yakunchikova (geb. Mamontova, 1864–1952), die Serov 1884 als Amazone zeichnete. 655 „Эта, скорѣе дѣловитая, чѣм художественная работа никоимъ образомъ не пренадлежитъ къ числу удачныхъ вещей Сѣрова.“ Grabar 1914, S. 116 und Abb. S. 91; „Нехороша композиция, неудачна поза, натуралистически обыденна и прозаична вся живопись [...] не по-серовски монотонн[а],“ Grabar 1965, S. 132. Siehe auch: Zhuravliova, in: Mashkovtsev/Sokolova 1964, S. 30; Nina P. Marchenko/Kirill V. Zelenoy, Litsa i sudby. Portret XVIII – nachala XX veka v sobranii Natsionalnogo khudozhestvennogo muzeia Respubliki Belarus, Minks: Four Quarters, 2002, S 114f. 656 Im Wintergarten (Dans la serre), 1879, Öl auf Leinwand, 115 × 150 cm, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Nationalgalerie, Berlin, Inv. 693; 1879 im Pariser Salon ausgestellt, 1896 von Hugo von Tschudi (1851–1911) für die Sammlung erworben.

4.4 Serovs moderne Unmittelbarkeit ...

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die Ferne schaut, in sich gekehrt, ja erstarrt, während der lockeren Pose und dem direkten, entschlossenen Blick von Tamara eine Dynamik innewohnt, die eher den Herrenbildnissen von Frans Hals eigen ist. In ihrem hellen Kleid strahlt sie fast plakativ aus dem Bild heraus, sodass die Aufmerksamkeit des Betrachters nur ihr zu gelten hat, wohingegen Manet mit stiller und geheimnisvoller Interaktion des Paares subtil das Interesse fesselt. Motivische und formale Parallelen zwischen Tamaras Porträt und der modernen französischen Malerei fielen schon Serovs Zeitgenossen auf. Als es in der XXI. Ausstellung der Vereinigung der Wanderausstellungen (St. Petersburg, 15.2.–21.3

und

Moskau

29.3.–

9.5.1893) präsentiert wurde, brandmarkte es der tendenziöse Genremaler Illarion Prianishnikov (1840–94) lautstark als „Syphilis“.657 Der rechtsradikale Kritiker Vladimir Gringmut658 warf Serov in der Zeitschrift Moskovskiia vedomosti (Moskauer Nachrichten, 1756–1917) vor, „die Jagd nach dem billigen ‚impressionistischen‘ Effekt der schlechtesten Sorte“ zu betreiben.659 Solche erbosten Äußerungen interessierten den Künstler wenig. Das zeigt auch das Porträt von Maria Simonovich660 von 1895 (Abb. 26, an dem er, wie einst 1888, in Domotkanovo einen Monat lang, mehrere Stunden täglich arbeitete.661 Der Körperausschnitt und die Pose ähneln stark dem früheren Porträt, aber Marias Erscheinung ist eine andere: Die geraden Schultern, die nervösen langen Finger und ein trauriger, schüchterner Blick zeugen von der Angespanntheit und Unsicherheit. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass das Modell – vergleichbar mit Vera Mamontova – in einem Innenraum im diffusen Gegenlicht positioniert wurde. Dabei verwendete der Künstler zwei Lichtquellen: vermutlich je ein Fenster links und rechts, wie er das bereits im – heute gänzlich vergessenen – Porträt von Liudmila Mamontova662 (Abb. 27) im Jahr 1894 eindrucksvoll umgesetzt hatte. Das Sonnenlicht strömt durch Marias buschiges Haar und berührt zart die Wangen, wodurch 657 „Это не живопись – это какой-то сифилис!“ Illarion Prianishnikov, zit. nach: Piotr. I. Neradovsky, V. A. Serov, in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 26–44, hier S. 28. 658 Vladimir Andreievich Gringmut (1851–1907), dessen Vater Anfang der 1840er Jahre aus Schlesien nach Moskau zog, war einer der Hauptideologen der monarchistisch-nationalistischen Bewegung der Schwarzen Hundertschaften (Чёрная сотня), die zwischen 1904–06 durch zahlreiche antisemitische Pogrome Schrecken verbreiteten. Gringmut war derjenige, der den Namen dieser Bewegung prägte. 659 „Это какая-то погоня за дешёвым ‚импрессионистским‘ эффектом самого дурного вкуса“ V. Gringmut, XXI Peredvizhnaia vystavka. Portrety, in: Moskovskiia vedomosti, 22.4.1893, Nr. 109; zit. nach: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 39, Anm. 4. 660 Madame Lwoff, 1896, Öl auf Leinwand, 90 × 59 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 1980-8, 1980 von den Söhnen der Dargestellten, André-Michele Lwoff (1902–1994) und Stéphane Lwoff (?) geschenkt. 661 Maria, die 1890 nach Paris umgezogen war, um dort ihre Bildhauerausbildung fortzusetzen, war inzwischen mit dem im Frankreich lebenden russisch-jüdischen Arzt Solomon Lwoff (1858–1939) verheiratet. Als sie im Sommer 1895 ihre Familie in Russland besuchte, richtete sie Serov die Bitte ihres Mannes aus, ein Bildnis von ihr zu malen. Siehe: Anna S. Galushkina, M. Ya. Simonovich-Lvova i istoriia ee portreta, napisannogo V. A. Serovym v 1895 godu, in: I. F. Hofman (Hg.), Gosudarstvennaia Tretyakovskaia Galereia. Materialy i issledovaniia, Leningrad: Khudozhnik RSFSR, 1983, S. 103–110, hier S. 106–108. 662 Людмила Анатольевна Мамонтова, 1894, Pastell, sign. und dat. rechts unten, Größe und Verbleib unbekannt; Abb. in: Grabar 1914, S. 99.

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26 Maria Simonovich-Lwoff / Madame Lwoff, 1896, Öl auf Leinwand, 90 × 59 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 1980-8

das Gesicht wie von einem Nimbus umrahmt wird.663 Es bricht in den Falten bauschiger Ärmel sowie in den plissierten Rüschen der weißen Bluse, flattert durch die unordentlich gestapelten Papiere im Wandregal und durch den Kapuzinerkresse-Strauß links auf dem Tisch. In diesem ständigen Wechsel zwischen Schatten, Halbschatten und Reflexen spiegelt sich die innere Unruhe der Dargestellten wider. Im gleichen Sommer malte Serov in Domotkanovo auch das Bildnis seiner Ehefrau Olga664 (Im Sommer, 1895). Hier griff er das Motiv eines Ausflugs ins Freie auf, das bei den Impressionisten sehr beliebt war. Motivisch und stilistisch kann das Porträt beispielsweise mit dem etwa zeitgleich entstandenen Gemälde Mußestunden665 (ca. 1894) von William ­Merritt Chase verglichen werden. Auch Chase zeigte seine Ehefrau und Kinder beim

663 Vgl. Nina Ya. Simonovich-Efimova, zit. in: A. Galushkina 1983, S. 108. 664 Летом, 1895, Öl auf Leinwand, 73,5 × 93,8 cm, sign. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 1523. 665 Idle Hours, ca. 1894, Öl auf Leinwand, 99,1 × 123,5 cm, Amon Carter Museum, Fort Worth, Texas, Inv. 1982.1.

4.4 Serovs moderne Unmittelbarkeit ...

27 Liudmila Mamontova / Людмила Анатольевна Мамонтова, 1894, Pastell, Größe und Verbleib unbekannt, Abb. in: Grabar 1914, S. 99

sorgen­freien Zeitvertreib an einem Rückzugsort, weit entfernt von der lauten Großstadt. Allerdings spielte für ihn das Porträthafte keine Rolle: Die aus der Entfernung dargestellten Figuren blenden sich in die sie umgebende Landschaft ein und so kann der Blick ungestört bis an das Seeufer hinten am Horizont wandern. Bei Serov verdeckt indes eine dichte grüne Kulisse aus Laub und Gras fast vollständig den Himmel, was die Aufmerksamkeit vor allem auf die im Vordergrund sitzende Frauengestalt lenkt, die ihn anlächelt und zugleich aufmerksam studiert. Die Akzentuierung des Miteinanders wird gesteigert, indem die Figur vom unteren Rand angeschnitten wird, als säßen sie und der Betrachter Seite an Seite. Während die Landschaft, ähnlich wie bei Chase, skizzenhaft aufgefasst wird, zeichnet sich das Modell durch eine festere Silhouette, genaue Ausarbeitung der Gesichtszüge und die Intensität des Blickkontakts aus. Die Figürchen von der spielenden Tochter Olga und dem Sohn Sasha auf der Wiese im Hintergrund – im Grün um sie herum nahezu aufgelöst – vervollständigen das lyrische Bild einer Mutter im Einklang mit der Natur. Da dieses Gemälde sich seit 1898 in der Galerie von Pavel Tretyakov befand, war es den russischen Malern sehr

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bekannt. ­Nesterov folgte im Porträt seiner Ehefrau Ekaterina666 (1909) spiegelverkehrt der Komposition von Serov. Nikolai Fechin griff das gleiche Sujet auf, als er seine Frau und seine Tochter667 auf einer Wiese im Schatten der Bäume abbildete (1924). Serov selbst malte ab dem Ende der 1890er Jahre nur noch wenige Porträts im Freien. Die 1898 entstandene Darstellung der Gräfin Varvara Musina-Pushkina668 gehörte zu den letzten Bildern, in denen das Motiv einer jungen Frau in der Natur auftauchte.669 Auch dieses Modell kannte Serov gut, denn bereits 1895 hatte er ihr frontales Pastellporträt670 im Interieur angefertigt. Diesmal arbeitete der Künstler in Aquarell und Gouache en plein air und zeigte die junge Frau in einer Dreivierteldrehung nach rechts auf einer Bank sitzend; über ihr sind die feinen Äste eines Baumes zu sehen, der entweder links neben ihr oder etwas weiter hinten stehen muss.671 Trotz der auffälligen motivischen Nähe zum Simonovich-Bildnis von 1888 erscheint die Dargestellte, die dem Betrachter über die Schulter ein breites Lächeln zuwirft, agil und unbeschwert. Sie trägt ein hochgeschlossenes, zwischen Weiß und Blaugrau changierendes, mit großen Blumen besetztes Tüllkleid, was ihre Unbefangenheit zusätzlich betont. Die erwachende Frühlingslandschaft um sie herum wird durch den gräulich-weißen Himmel und ein gelblich-grünes Feld definiert, wobei die stellenweise mit Deckweiß untermischte Palette insgesamt eher kühl wirkt. Da die hellgrünen Baumblätter in kurzen, weit auseinander gesetzten Pinselstrichen und die geschwungenen Zweige in zarten, hauchdünnen Linien gemalt wurden, entsteht der Eindruck eines leicht böigen Windes.

666 Екатерина Петровна Нестерова за вышиванием, 1909, Öl auf Leinwand auf Karton, 43,2 × 60,5 cm, STG, Moskau, Inv. Ж-1458. 667 Лето, 1894, Öl auf Leinwand, 125 × 125 cm, Privatbesitz. 668 Portrait of the Countess Musin-Pushkin in a garden, 1898, Aquarell, Gouache auf Papier, 53,5 × 36,9 cm, sign. rechts unten, Ashmolean Museum, Oxford, Inv. WA 1949.339. Gräfin Varavara Vasilyevna Musina-Pushkina (1870–1960), eine Ikonenmalerin, Tochter des Zeremonienmeisters Grafen Vasily Alexeievich Kapnist, verheiratet mit dem Grafen Alexei Alexeievich Musin-Pushkin, emigrierte 1920 nach Deutschland, danach nach Frankreich. Nach Salmina-Haskell (1989, S. 107, Kat. 106) soll Serovs Bildnis der Gräfin auf ihrem Landgut in Borisogleb, Molozhsky Gouvernement, entstanden sein: einem Ort, der heute auf dem Grund des Rybinsky Stausees ruht. Zunächst plante der Künstler eine Pendantdarstellung des Grafen (1898, Bleistift auf Papier, 17,4 × 10,7 cm, STG, Moskau, Inv. 100025). Zur Familie Musin-Pushkin siehe: Jacques Ferrand, Histoire et Genealogie des nobles et comtes Moussine-Pouchkine, Paris: J. Ferrand, 1994; Tatiana I. Gulina/Galina V. Razdoburdina/Maria G. Shinamskaya (Hg.), Musiny-Pushkiny, Jaroslawl: Verkhne-Volzhskoye knizhnoye izdatelstvo, 1996; Sergey A. Khomutov (Hg.), Musiny-Pushkiny v istorii Rossii. K 250-letiiu so dnia rozhdeniia A. I. Musina-Pushkina, Rybinsk: Rybinskoie podvorye 1998. 669 Grabar/Vlasov (1965, S. 334f.) nennen ferner die jeweils in einem Garten entstandenen Porträts der jugendlichen Großherzogin Maria Pavlovna (Девочка с бульдогом, 1897, Öl auf Leinwand, 24,5 × 19,5 cm, Verbleib unbekannt) und der Herzogin N. A. Meshcherskaia (1898/1905?, Öl auf Leinwand, 56,2 × 50,2 cm, Amherst College (MA), Inv. AC 2001.19). 670 Графиня Варвара Васильевна Мусина-Пушкина, 1895, Pastell auf Papier, 72,5 × 57,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-9745. 671 In einer Bleistiftstudie (1898, Stift auf Papier auf Pappe, 17 × 24,5 cm, Kostroma-Museum für Geschichte und Architektur, Inv. 153), welche die Dargestellte als Brustbild, liegend und en face abbildete, hielt der Künstler vermutlich seine erste Kompositionsidee fest, die er dann gänzlich verwarf.

4.4 Serovs moderne Unmittelbarkeit ...

Interessante Analogien zum Porträt von Musina-Pushkina bieten die Anfang der 1890er Jahre entstandenen Damenbildnisse von Jean-Louis Forain und Christian Krohg. Forains Aquarell (ca. 1891), das von Ilya Ostroukhov für seine Sammlung zu einem unbekannten Zeitpunkt erworben wurde und möglicherweise Serov vertraut war, zeigt dessen Ehefrau, die Bildhauerin Jeanne Forain, vor einem neutralen dunklen Hintergrund in einer Pose, die spiegelverkehrt der von Musina-Pushkina ähnlich ist. Des Weiteren ist Forains fließende Leichtigkeit des Duktus, der sich durch weich diffundierende Flächen und zaghafte, feine Linien auszeichnet, mit Serovs Pinselführung vergleichbar. Im Hinblick auf die Farbigkeit sowie das Verhältnis zwischen der Figur und dem Hintergrund kann wiederum Krohgs Bild einer Jungen Frau auf einer Bank672 (1890) angeführt werden – wenngleich Krohgs Modell zwischen den dunklen Zweigen, den knorrigen Balken und der Sitzbank von allen Seiten regelrecht eingeschlossen zu sein scheint. Anhand des Vergleichs zu den beiden Künstlern wird Serovs Intention, Musina-Pushkina und ihre Umwelt in Anklang zu bringen, ohne ihre Persönlichkeit in den Hintergrund treten zu lassen, deutlich erkennbar. Im Gegensatz zu Forain – der sich ausschließlich auf die Dargestellte konzentrierte und den Fond lediglich als Mittel nutzte, um ihre helle statuarische Silhouette hervorzuheben – setzte Serov auf ein gattungsübergreifendes Bildniskonzept. Dabei gelang es ihm, im Gegensatz zu Krohg, sowohl motivisch (durch den freien Ausblick auf ein weites Feld) als auch maltechnisch (durch das lockere Übereinander mehrerer transparenter Farbschichten) eine wesentlich größere atmosphärische Wirkung zu entfalten. ... am Beispiel seiner Kinderbildnisse Serov hinterließ vergleichsweise wenige Kinderbildnisse.673 Am häufigsten porträtierte er seine eigenen Kinder674 sowie Kinder seiner Familienmitglieder, enger Freunde und Bekannter. Dass der Künstler in seinem Alltag ein tiefes Verständnis für die Gefühlswelt der Kinder zeigte, bestätigen die Erinnerungen der Zeitgenossen. Vera Chistiakova (1874–1928), Tochter von Pavel Chistiakov, schilderte gegenüber Yaremich, dass Serov – „der die Erscheinung 672 Üng kvinne på en benk, ca. 1889, Öl auf Leinwand, Sotheby’s Sale L03100, 19th Century European Paintings, including German, Austrian, Hungarian Slavic and Scandinavian Works, London 3.6.2001, S. 243, Lot. 238. Vermutlich bildete Krohg eine der Schwestern seiner Ehefrau, Malerin Oda Krohg ab. 673 Nach Grabar/Vlasov erschuf Serov zwölf gemalte und einunddreißig gezeichnete Kinderbildnisse sowie etwa zweiundzwanzig Genredarstellungen bzw. Studien, die Kinder zeigen. Dazu muss eine weitere Bleistiftzeichnung Botkins Kinder (1900, 47,3 × 37,6 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-55996) sowie eine Radierung Junge mit einem Huhn (1898–99, Blattgröße 26,1 × 19,6 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Гр-28235) gerechnet werden, die bei Grabar/Vlasov fehlen. Die früheste dieser Darstellungen entstand 1874–75 und zeigt vermutlich die kleine Vera Repina (Album Nr. 4, Blatt 22v, 1874–75, Blattmaße 14,3 × 23,3 cm, STG, Moskau, Inv. 26580). Die Letzte ist in das Jahr 1910 datiert und stellt Lev Naryshkin dar (Kohle, Pastell, Rötel und Kreide auf Papier, 93 × 64 cm, Privatbesitz). Siehe: Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 327, 329, 332f., 335, 337f., 344–348, 351–354, 357f., 362f., 365, 368f., 373f., 378, 396, 407f., 413, 415, 420 und 423. 674 Serov und seine Ehefrau Olga hatten sechs Kinder: Olga (1890–1946), Alexandr (Sasha, 1892–1959), Georgy (Yury, 1894–1929), Mikhail (1896–1938), Anton (1900–42) und Natalia (1908–50).

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eines kleinen Bären hatte“ – während seiner Ausbildung im Atelier ihres Vaters sich gerne mit ihr und anderen Kindern „beschäftigte und spielte“, während Vrubel kalt und zurückhaltend auf sie reagierte.675 Margarita Morozova (1873–1958), Mutter von Mika Morozov, beschrieb, wie Serov – der „mit einer Art humorvollem Pessimismus den [erwachsenen] Menschen begegnete“ – Kinder beim Malen immer gutmütig behandelte und nach der Sitzung mit ihrem Sohn ihr „bedeutungsvoll und halb ernsthaft, halb scherzhaft“ berichtete, welch amüsante Geschichte über „Papa-Leopard und Mama-Leopard“ ihm der Junge erzählt hatte.676 Besonders eindringlich sind die Memoiren von Olga Serova, der ältesten Tochter des Künstlers: Er liebte Kinder über alles, [er liebte es] sich mit ihnen zu beschäftigen, sie zum Lachen zu bringen, sie mit irgendeinem Witz zu verblüffen, aufzuziehen [...] Mit Kindern verhielt er sich einfach, so wie mit Erwachsenen. Als Mensch von tadellosem Geschmack, erlaubte er sich keinerlei Süßlichkeit oder Gelispel. [...] eines Tages hatte mein Bruder Yura (damals war er etwa drei Jahre alt [...]) einen Trotzanfall, weinte bitterlich und wollte mit seinem Weinen nicht aufhören. Papa hob ihn hoch, setzte ihn auf die Sofarückenlehne [...] und sagte: ‚Schrei lauter‘. Yura erhöht die Lautstärke. ‚Noch lauter‘. Yura weint noch stärker. ‚Komm’, mehr noch‘. Yura hält plötzlich an, atmet tief ein, sein Gesicht ist rot und nass von Tränen, und sagt: ‚Mehr kann ich nicht‘ – ‚Dann komm runter‘. Papa nahm ihn und dieser ging friedlich weg, um weiter zu spielen.677 Die meisten von Serovs Kinderbildnissen entstanden zwischen 1889 und 1905 und markieren gewissermaßen den Übergang vom frühen zum reifen Schaffen des Künstlers. Aufgrund ihrer Unmittelbarkeit – sowohl im Einsatz formaler Mittel als auch im Ausdruck – erlauben sie, Serovs besondere Stellung innerhalb der frühen Moderne anschaulich herauszustellen.

675 „Мы не особенно любили Врубеля, когда были маленькими. Он был какой-то холодный, сдержанный. Тогда как Серов, наоборот, на вид медвежонок, а возился с нами, играл с нами, и вообще было видно, что любит детей“, Vera Chistiakova,o. J., zit. nach: Yaremich 1936, S. 12f. 676 „Тяжелой его чертой был какой-то юмористический пессимизм по отношению к людям. [...] Детей он всегда писал особенно хорошо, что и понятно. [...] Когда Серов писал этот протрет [Мики] он был особенно хорошо и добродушно настроен. Однажды после сеанса с Микой, которому тогда было четыре года, Серов мне говорил с очень значительным и шутливо-серьезным видом, что он слышал сегодня от Мики рассказ о ‚мама-леопард‘ и ‚папа-леопард‘. Этот рассказ очень рассмешил Серова.“ Margarita K. Morozova, V. A. Serov, in: Khudoznik, Nr. 1,1966, S. 35f., zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 263–268, hier S. 265. 677 „Детей он любил очень, любил с ними возиться, смешить, озадачить какой-либо шуткой, любил дразнить [...] С детьми он был прост, как и со взрослыми. Как человек предельного вкуса он не допускал в отношениях никакой слащавости, сюсюкания. [...] как-то раскапризничевшийся брат Юра (было ему года три [...]) ревел и не желал прекращать своего плача. Папа поднял его и посадил на спинку дивана [...] и говорит ему: ‚Кричи громче‘. Юра надбавляет крик. ‚Еще громче‘. Юра ревет еще сильнее. ‚Ну, еще‘. Юра вдруг останавливается, глубоко вздыхает, лицо у него красное, мокрое от слез, и говорит: ‚Больше не могу‘. – ‚Ну, тогда слезай‘. Папа снял его, и тот пошел мирно играть.“ O. Serova 1947, S. 7f.

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28 Liolia Derviz / Леля Дервиз, 1892, Öl auf Leinwand, 67,5 × 45 cm, STG, Moskau, Inv. Ж-478

Das Hüftbild der dreijährigen Liolia Derviz678 (Abb. 28), das Serov im Sommer 1892 en plein air im Domotkanovo-Park malte,679 ist im Kontext seiner vielfältigen Lichtstudien konzipiert worden. Trotz mehrfacher Überarbeitungen weist dieses Werk einen skizzenhaften Charakter auf, da der Künstler die Farben sehr summarisch, teils pastos, teils transparent auftrug, die Details weitgehend vernachlässigte und die Landschaft in einzelne Farbzonen abstrahierte.680 Das kleine blonde Mädchen in einem weißen, rotgepunkteten Kleid wird vollständig in das warme Gelbgrün der Wiese eingetaucht: Nur im oberen Viertel der Komposition verwendete Serov dunklere, ockergrüne Töne, um einen Hain anzudeuten. Liolias leuchtende Gestalt wirkt somit energiegeladen und das obwohl sie streng frontal steht und ihre Arme am Körper hängen lässt. Die innere Anspannung, die durch strahlende Farben suggeriert wird, ist zudem in ihrem Gesicht abzulesen: Ihr misstrauischer Blick, die glänzenden Augen und die roten Wangen verraten, dass sie in jedem Moment weglaufen könnte. 678 Леля Дервиз, 1892, Öl auf Leinwand, 67,5 × 45 cm, sign. und dat. rechts oben, STG, Moskau, Inv. Ж-478. Elena Vladimirovna Derviz (1889–1975), Serovs Nichte zweiten Grades, Tochter von Nadezda und Vladimir Derviz, wurde von Serov im Porträt von Nadezhda Derviz mit Kind (1888–89, STG, Abb. 74) dargestellt. 679 Simonovich-Efimova 1964, S. 43. 680 Nach Simonovich-Efimova (1964, S. 43) nahm Serov die frisch aufgetragene Farbe mehrfach vollständig ab, selbst dann, wenn das Bildnis beendet wirkte, und fing von vorne an.

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4. Die Wege zum Bild

Die Eigenständigkeit von Serovs Bildlösung wird am Vergleich zu Malern wie Repin und Renoir, die zahlreichen Bilder hinterließen, besonders anschaulich. Einige Jahre zuvor malte auch Repin seine Tochter Vera mit Blumenstrauß681 (1878) als ein kleines ernstes Mädchen, das in einem hellen Sommerkleid auf der sonnenbeschienenen Wiese vor einem verschatteten Hain steht. Doch trotz des verkniffenen Gesichtsausdrucks und der gelungenen malerischen Umsetzung des blendenden Sonnenlichts, behielt dieses Porträt den Charakter eines schönen Arrangements. Repin lenkt den Betrachterblick gezielt auf Einzelheiten wie die akkurat betonte Silhouette, den mit Blumen geschmückten Hut oder die sorgfältig zusammengebundenen Blumen. Serov löste indes Liolias Gestalt beinah vollständig im Sonnenlicht auf und akzentuierte durch ihre Haltung die Momenthaftigkeit des Geschehens. Des Weiteren legte er keinen Wert darauf, das Kind als hübsches, puppenartiges Geschöpf darzustellen. Das wird besonders deutlich, wenn man Renoirs Kinderbilder danebenstellt: wie zum Beispiel Mädchen mit Sonnenschirm682 (1883), Mädchen mit Reifen683 (1885) oder Mädchen mit Peitsche684 (1885, Abb. 29).685 Im Gegensatz zu Serov, gestaltete Renoir Kinder oft wie Porzellanfiguren, wenngleich sich in seinem Œuvre durchaus einige Ausnahmen aus dieser Regel finden lassen.686 Sein Interesse galt größtenteils dem fröhlichen Zusammenspiel bunter, schillernder Farben, sei es in der Wiedergabe des Vorder- und Hintergrundes, der Haare und des Inkarnats oder der Lackschuhe und Schleifen. In Serovs locker gemaltem Halbporträt seines Sohnes Sasha687 (1897?) spielte das schöne Dekorum ebenfalls keine Rolle. Der Künstler zeigte Sasha im Profil nach links an einem großen Tisch sitzend, vertieft in das Lesen eines großen Buches, und rezipierte damit die klassische Bildnisformel eines Gelehrten am Lesepult. Der Junge beugt sich weit nach vorne, stützt seinen Kopf gedankenversunken mit seiner rechten Hand und legt den linken Arm auf den Tisch, sodass die Lektüre, die vor ihm liegt, fast zu einem Teil seiner selbst wird. Im Hintergrund ist ein Sofa mit einer lieblos in die Ecke gerückten Puppe zu sehen, die Sasha nicht mehr zu interessieren scheint. Seine zerzausten Haare, die leicht zusammengezogenen Augen­brauen und das weite, zerknitterte Hemd wurden nur mit wenigen, teils transparenten Strichen angedeutet, verleihen ihm aber einen höchst natürlichen Ausdruck. Im ­Hinblick

681 Девочка с букетом цветов (Вера Репина), 1878, Öl auf Leinwand, 61 × 49 cm, Museum der Kunstakademie, Isaak Brodsky Museum, St. Petersburg, Inv. MБрЖ-97. 682 Young girl with a Parasol (Aline Nunes), 1883, Öl auf Leinwand, 130 × 79 cm, Privatbesitz. 683 Girl with a Hoop, 1885, Öl auf Leinwand, 125,7 × 76,6 cm, National Gallery of Art, Washington D. C., Chester Dale Collection, Inv. 1963.10.58. 684 Девочка с кнутиком, 1885, Öl auf Leinwand, 105 × 75 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg, Inv. 9006. 685 Als erster wies Alpatov (1947, S. 22f.) auf die Unterschiede zwischen Serov und Renoir in der Darstellungsweise von Kindern hin. 686 Zur puppenhaften Erscheinung der Kinder in den Werken der Impressionisten, vor allem in denen von Renoir, siehe: Greg M. Thomas, Impressionist dolls: on the commodification of girlhood in Impressionist painting, in: Marilyn R. Brown (Hg.), Constructions of childhood between Roussau and Freud, Burlington (VT): Ashgate, 2002, S. 103–125. 687 Саша Серов, 1897?, Aquarell, Weiß auf Papier, 42 × 58 cm, Privatbesitz.

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29 Pierre-Auguste Renoir, Mädchen mit der Peitsche / Девочка с кнутиком, 1885, Öl auf Leinwand, 105 × 75 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg, Inv. 9006

auf das Motiv und den hohen Grad der Einfühlsamkeit erinnert diese Darstellung an Rembrandts Porträt des vierzehnjährigen Titus am Schreibpult688 (1655), es ist allerdings unwahrscheinlich, dass Serov diese Arbeit – die sich bis 1940 im Privatbesitz befand – kannte. Die Unmittelbarkeit und Vertrautheit wohnt auch dem Doppelbildnis von Sasha und Yura inne, das an der Küste des Finnischen Meeresbusens im Fischerdorf Terijoki (heute Zelenogorsk), auf dem Balkon des Landhauses des Radierers Vasily Maté entstand (­Kinder689,1899, Taf. VII). Darin hielt der Künstler einen kurzen Moment der Ruhe im Dasein der beiden Brüder fest und legte die Darstellung zwischen Porträt und Genrebild an. Er zeigte die Kinder in voller Größe am einfachen Geländer aus überkreuzten Holzbalken stehend. Hinter ihnen erstreckt sich die fast leere Landschaft aus graubeigefarbenem Strand, graublauem Meer und dem bewölkten, zwischen reinem Weiß und Graublau angelegten Himmel. Die Jungs tragen die gleiche schlichte Kleidung: weiße Hemden, dunkelblaue Dreiviertelhosen sowie schwarze Strümpfe und Schuhe. Der kleinere Yura steht weiter links, 688 Titus aan de lezenaar, 1655, Öl auf Leinwand, 77 × 63 cm, Museum Boimans Van Beuningen, Rotterdam, Inv. St 2. Das Gemälde wurde im 19. Jh. nur dreimal ausgestellt: 1866 in der Exhibition of the Works of Ancient Masters in der British Institution in London (Kat. 75), 1898 in der Rembrandt-Ausstellung im Stedelijk Museum in Amsterdam (Kat. 90) sowie in der Winter Exhibition in der Royal Academy of Arts in London (Kat. 23). Siehe diese und weitere Provenienzangaben in: Rembrandt... 2003, S. 162–164, Kat. 31. 689 Дети, 1899, Öl auf Leinwand, 71 × 54 cm, sign. und dat. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4283.

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4. Die Wege zum Bild

stützt sich mit dem linken Ellenbogen auf das Geländer und wendet sich mit einem ernsten Gesichtsausdruck zum Betrachter hin. Dabei hält er seine linke Hand am Kinn und führt seinen rechten Arm ein wenig hinter den Rücken, wodurch der Eindruck einer spontanen Bewegung evoziert wird. Der ältere Sasha wird im Profil dargestellt und nimmt den Betrachter nicht wahr: Er legt die Unterarme auf dem Geländer zusammen, stützt seinen Kopf entspannt darauf ab und schaut sehnsüchtig, beinah traurig, in die weite Ferne. Die Entsagung jeglicher Verniedlichung und Sentimentalität – was in der lockeren, breiten Malweise zusätzlich betont wird – lenkt die Aufmerksamkeit umso mehr auf die beiden Jungen. Im Fokus befindet sich somit ihre innere Welt: ihre Träume und ihre Sorgen, die ernsthaft und einfühlsam studiert werden. Indem Serov den älteren Sasha aus dem Bild hinaus blicken lässt, spielt er unaufdringlich darauf an, dass dessen Gedanken der Zukunft gelten. Dabei bleibt der Ausgang dieser Zukunft offen wie das weite ruhige Meer, das sich vor ihm ausbreitet. Allerdings vermied der Künstler das überflüssige Pathos, wie es beispielsweise bei dem Gemälde Die Welle690 (o. J.) der französischen Malerin Virginie Demont-Breton (1859–1935) der Fall ist, das 1889 in der Pariser Weltausstellung präsentiert wurde und Serov möglicherweise bekannt war. Demont-Breton zeigt, wie zwei ärmlich gekleidete Geschwister aneinander geschmiedet auf einem harten Felsen sitzen und auf das raue Meer, das gefährlich nah an sie heranreicht, hinausschauen: Somit wurde das Meer zur Metapher eines gegenüber den Armen und den Schwachen rücksichtlosen Schicksals etabliert. Serov suchte in seinem Porträt weder nach einer solchen Dramatik, noch nach der pittoresken Leichtigkeit und sorgenfreien Stimmung, die die Motive der am Strand spielenden Kinder oft charakterisieren. Zum Vergleich können exemplarisch die lichtdurchströmten Strandszenen von John Singer Sargent (Badende neapolitanische Kinder691, 1879), Isaac Israëls (Eselreiten den Strand entlang692, 1890–1901) oder Joaquín Sorolla (Die kleinen Amphibien693, 1903; Mittag am Strand von Valencia694, 1904) angeführt werden. Im Unterschied zu diesen Künstlern entsagte Serov vollständig der bunten Farben und kreierte mit seiner gräulichen Palette eine kühle Atmosphäre, die die Ernsthaftigkeit seiner Betrachtung unterstreicht.695 Gleichzeitig gelang es ihm der Nüchternheit und der Distanziertheit zu entkommen, die beispielsweise 690 La Vague, Datierung, Größe, Technik und Verbleib unbekannt, abb. in: Émile Monod, L’Exposition Universelle de 1889. Grand ouvrage illustré. Historique, encyclopédique, descriptif. Album, Paris: E. Dentu,1890, o. S. (S. 51). Siehe auch: Exposition Universelle international de 1889 à Paris. Catalogue général officiel, Bd. 1, Lille: Impremerie L. Danel, S. 18, Kat. 442. 691 Neapolitan Children Bathing, 1879, Öl auf Leinwand, 16,8 × 41,1 cm, Sterling and Francine Clark Art Institute, Williamstown (Mass.), Inv. 1955.825. 692 Ezeltje rijden langs het strand, 1890–1901, Öl auf Leinwand, 51 × 70 cm, Rijksmuseum, Amsterdam, Inv. SK-A3597. 693 The Young Amphibians (Children on the Seashore), 1903, Öl auf Leinwand, 96,2 × 130,5 cm, Philadelphia Museum of Art, Inv. W1904-1-55. 694 Mediodía en la playa de Valencia, 1904, Öl auf Leinwand, 64 × 97 cm, Colección Plácido Arango, Madrid. 695 Den gleichen emotionalen Unterton wählte er in dem 1902–04 angefangenen Temperabildnis der beiden Brüder (1902–04, Tempera, Gouache auf Karton, 74,8 × 56,5 cm, Privatbesitz), in dem sie in dicke Winterkleidung eingewickelt eng beieinandersitzen.

4.4 Serovs moderne Unmittelbarkeit ...

30 Mika Morozov / Мика Морозов, 1901, Öl auf Leinwand, 62,3 × 70,6 cm, STG, Moskau, Inv. 5325

Edgar Degas’ Bildnis von Vicomte Lepic und seinen Töchtern696 (ca. 1875) auszeichnet, das ebenfalls zwischen Genrebild und Porträt angelegt und in Ocker- und Grautönen gestaltet wurde. Indem Degas die Lepic-Familie beim Spaziergang zeigte, alle Figuren in spontanen Drehungen auffasste und vom unteren Bildrand anschnitt, betonte er mehr noch als Serov das Genrehafte und das Momenthafte des dargestellten Geschehens. Durch abgewandte Blicke sowie durch Verkleinerung und Verschiebung der Figuren an den Bildrand, versetzte er den Betrachter jedoch eher in die Rolle eines teilnahmslosen als eines einfühlsamen Beobachters. Im Hinblick auf die zeitliche Situation sowie auf die Intensität des Gefühlszustandes steht dem Doppelbildnis von Sasha und Yura das Porträt ihres vierjährigen Freundes Mika ­ ikhail Morozov697 am nächsten (1901, Abb. 30).698 Es zeigt den Sohn des Kunstsammlers M 696 Place de la Concorde, Vicomte Lepic et ses filles, ca. 1875, Öl auf Leinwand, 79 × 118 cm, St. Petersburg, Staatliche Eremitage, ehem. Slg. Otto Gerstenberg, Berlin. 697 Мика Морозов, 1901, Öl auf Leinwand, 62,3 × 70,6 cm, sign. und dat. links oben, STG, Moskau, Inv. 5325. Mikhail Mikhailovich Morozov (1897–1952), später ein Shakespeare-Experte. Ausführlich zum Verhältnis zwischen Serov und Mikas Vater Mikhail Abramovich Morozov (1870–1903) siehe Kapitel 6.1.4. 698 Vera A. Smirnova-Rakitina, Deti, in: Tvorchestvo, Moskau 1963, Nr. 2, S. 16f., hier S. 17.

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4. Die Wege zum Bild

Morozov als einen zierlichen Jungen mit einer üppigen, gelockten Haartracht, in einer Dreivierteldrehung nach rechts auf einem schlichten Kinderholzstuhl. Die Betonung liegt diesmal auf der Wiedergabe der kindlichen Rastlosigkeit und Neugierde: Mika sitzt aufrecht am Stuhlrand, seinen rechten Unterarm legt er auf die Armlehne, die andere Armlehne greift er fest mit der linken Hand und richtet seinen Blick gefesselt in die Ferne, als wäre er gedanklich schon an dem Ort, dem seine ganze Aufmerksamkeit gilt. Seine glänzenden dunklen Augen, die roten Wangen, der offene Mund, die flatternden Nasenflügel und das zerzauste Haar verraten seine innere Erregung. Die weiße Kleidung des Jungen – ein Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und eine Hose mit Hosenträgern – wird passend dazu in ungeduldig schnellen, großzügigen Pinselstrichen skizziert. Zudem strahlt seine Gestalt durch den starken Hell-Dunkel-Kontrast zum bräunlich-grauen Hintergrund aus dem Bild heraus. Dieser Effekt wird weiter verstärkt, indem die ganze Figur weich beleuchtet wird, sodass fast keine Schatten darauf entstehen: Möglicherweise war dieses reine Weiß in Kombination mit dem Licht als symbolische Anspielung an die kindliche Unschuld gedacht. Ein Gegenbeispiel zu Serovs Mika Morozov kann abermals im umfangreichen Œuvre von Ilya Repin gefunden werden. Wie später Serov, stellte er seine Tochter Vera im Alter von zwei Jahren699 (1874) auf einem Stuhl vor einem neutralen, braungrauen Hintergrund dar und setzte den kleinen Körper des Mädchens in Kontrast zu der Größe des Möbelstücks. Repin interessierte sich jedoch weniger für die individuellen Befindlichkeiten als vielmehr für die äußeren genrehaften Attribute: Veras adrettes Kleidchen, ein niedlicher Strohhut und bunte Spielzeuge (ein Ball und ein Pferdchen) lassen ihre Darstellung unter dem Titel „Kleinkind“ zusammenfassen – so wie Veras Porträt mit dem Blumenstrauß (1878) als „Kind in der heißen Sonne“ und das Bildnis von Nadia Repina (1881) als „Krankes Kind“ betitelt werden könnten. Vergleicht man Mika Morozov jedoch mit Renoirs Porträt von Marguerite-Thérèse Berard700 (1879, Abb. 31), der fünfjährigen Tochter dessen treuen Mäzen Paul Berard, so wird einmal mehr deutlich, dass Serovs moderne Bildkonzepte denen seiner europäischen Kollegen in nichts nachstanden: Beide Künstler kombinierten die Innigkeit des Ausdrucks mit der Schlichtheit der Komposition und einer individuellen Pinselsprache. Als innig und schlicht lassen sich auch die gezeichneten Doppelporträts Serovs von Alexandra und Anastasia Botkina (Botkins Kinder701, 1900, Abb. 32) beschreiben. Wie bei Mika Morozov handelt es sich dabei um eine Darstellung der Kinder, mit deren Eltern er eng befreundet war: Der Arzt Sergei Botkin702 war ein passionierter Kunstsammler und 699 Вера Репина, 1874, Öl auf Leinwand, 73 × 60 cm, STG, Moskau, Inv. 26715. 700 Marguerite-Thérèse (Margot) Berard (1874–1956), 1879, Öl auf Leinwand, 42 × 32,4 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, Bequest of Stephen C. Clark, 1960, Inv. 61.101.15. 701 Дети Боткины, 1900, Bleistift auf Papier, 27,9 × 21,9 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-3162; Дети Боткины, 1900, Bleistift auf Papier, 47,3 × 37,6 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-55996; Дети Боткины, 1900, Schwarzer Stift, bunte Stifte auf Papier, 54 × 50 cm, sign. und dat. rechts mittig, STG, Moskau, Inv. P-866; Дети Боткины, 1900, Aquarell, Bleistift auf Papier, 49,8 × 40,3 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-13439. 702 Sergei Sergeievich Botkin (1859–1910), Enkel des Teehändlers Piotr Kononovich Botkin, Sohn des Sergei Petrovich Botkin (1832–89), des ersten Leibarztes des russischen Zaren; Professor der Militärmedizini-

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31 Pierre-Auguste Renoir, Marguerite-Thérèse (Margot) Berard (1874–1956), 1879, Öl auf Leinwand, 42 × 32,4 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, Bequest of Stephen C. Clark, 1960

Förderer von Mir iskusstva, seine Ehefrau Alexandra Botkina703 – zweite Tochter von Pavel Tretyakov – gehörte wie Serov dem Verwaltungsrat der Tretyakov Galerie an. In der ersten Bleistiftstudie der beiden Mädchen hielt der Künstler mit wenigen Strichen die Komposition fest: Die jüngere Anastasia (1892–1942) sitzt am linken Rand im Profil nach rechts, die ältere Alexandra (1891–1985) sitzt rechts neben ihr und wendet sich zu ihrer Schwester hin. In zwei weiteren Studien (Abb. 32) wurden die Gesichter detaillierter aufgefasst und der jeweilige Körperausschnitt von der Halbfigur zum Kniestück erweitert,

schen Akademie in St. Petersburg, ab 1905 Mitglied der Kunstakademie; sammelte Kunst von ägyptischer Plastik, über mittelalterliche Holzskulpturen bis hin zu den Werken zeitgenössischer Künstler mit dem Schwerpunkt russische Aquarelle und Grafiken der Mir-iskusstva-Mitglieder. Nach seinem Tod ging die Kunstsammlung an seine Frau über, die sie 1917 dem Russischen Museum zur Aufbewahrung übergab und danach aufgrund der Nationalisierung nicht mehr zurückbekam. Siehe dazu: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 220, Anm. 20; Evgenia Petrova (Hg.), Kollektsii Mikhaila i Sergeia Botkinykh, AK St. Petersburg, SRM 1.12.2011–26.3.2012, St. Petersburg: Palace Editions, 2011, S. 253–466. 703 Alexandra Pavlovna Botkina (geb. Tretyakova, 1867–1959), wurde 1899 von der Moskauer Stadtduma in den Verwaltungsrat der Tretyakov Galerie gewählt, dem sie bis 1912 angehörte; kannte Serov seit ihrer Jugend. Zusammen mit Serov und Ostroukhov, der auch zu den Mitgliedern des Verwaltungsrats zählte, trat sie für den Ankauf der Werke jüngerer Maler wie Vrubel, Benois, Korovin, Somov und Kustodiev ein. Siehe dazu: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 276f., Anm. 10 und Bd. 2, S. 490.

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4. Die Wege zum Bild

32 Botkins Kinder / Дети Боткины, 1900, schwarzer Stift, bunte Stifte auf Papier, 54 × 50 cm, STG, Moskau, Inv. P-866

womit die Figuren mehr Freiraum bekamen. Die sparsame, zaghaft fließende Strichführung wurde aber beibehalten. Selbst im Aquarellporträt, das wahrscheinlich als letztes entstand, vermied Serov jede überflüssige Linie, setzte nur wenige Farbakzente und achtete vor allem auf die Gestaltung der Köpfe. In jeder Version nahm er – wie in einer Abfolge von FilmStills – eine minimale Veränderung der Mimik und damit der Stimmung des Bildes vor. Besonders lebendig wirkt die Zeichnung aus der Tretyakov Galerie (Abb. 32): Alexandra wirft ihrer kleinen Schwester einen liebevollen sanften Blick zu, während Anastasia ihre Tränen kaum noch zurückhalten kann. Überhaupt genügten dem Künstler – sowohl bei erwachsenen und als auch bei jungen Modellen – schon wenige, fast nachlässig dahin gehauchte Striche um ihre augenblickliche Befindlichkeit zu erfassen: Misha Serov704 (Ende 1890er) wirkt in sich gekehrt, Sonia Guchkova705 (1902) – verschmitzt und Yury Morozov706 (1905) – melancholisch. In seiner Suche nach einer individualisierten Gefühlsformulierung konzentrierte sich Serov in den 704 Миша Серов, Ende 1890er, Bleistift auf Papier, 63 × 48 cm, Privatbesitz. 705 Соня Гучкова, 1902, Rötel, Kreide auf grauem Papier, 47,5 × 27,5 cm, SPMbK, Moskau, Inv. МЛК ГР 422. 706 Юра Морозов, 1905, Rötel, Kohle auf Papier auf Karton, 62,2 × 47,8 cm, sign. und dat. rechts unten, STG Moskau, Inv. 5327. Georgy (Yury) Mikhailovich Morozov (1892–1918), Sohn von Mikhail Abramovich Morozov (1870–1903).

4.4 Serovs moderne Unmittelbarkeit ...

Zeichnungen, mehr noch als in den Gemälden, häufig nur auf die Kopfpartie, während der Körper angedeutet blieb und der Fond gänzlich ausgelassen wurde. Unter den Kinderbildnissen trifft dies neben den bereits genannten Blättern auf die Darstellungen der Schwestern Nadia707 (1902) und Vera Guchkova708 (1902) zu, in denen sich die flüchtigen Konturen immer stärker auflösen, je weiter sie sich vom Gesicht entfernen. Im Porträt von Liuba Guchkova709 (1902) wurde der Bildraum ebenfalls äußerst sparsam definiert: So wurde die Anordnung des Tisches durch Liubas Silhouette sowie durch Schreibuntensilien und nicht etwa durch Umrisslinien verdeutlicht. Serov verfolgte somit auch in seiner Zeichenmanier die Intention, einen flüchtigen seelischen und physischen Zustand festzuhalten. Damit unterschied er sich konzeptuell-stilistisch von den Kollegen aus seinem Freundeskreis. So verzettelte sich Repin auch zeichnerisch gerne im Narrativen: sei es in früheren Arbeiten wie Mädchen Ada710 (1882), bei der er die Hutschleifen aus kurzen, gebrochenen Strichen zusammensetzte, oder im späteren Porträt von Maria Levenfeld711 (1913), in dem er die arabeskenhafte Streifen des Matrosenhemd-Kragens mit vielen nervösen Linien gestaltete. Vrubel hob wiederum durch die edelsteinähnliche Facettierung der Formen mehr die enigmatische Aura eines Menschen als die Individualität seiner Modelle hervor. Selbst im Bildnis seines einjährigen Sohnes Savva712 (1902) entschied er sich für eine Abstraktion der Gesichtspartie. Ein weiteres Merkmal von Serovs Kinderdarstellungen ist, dass er die Nähe unter Geschwistern stets in die kompositionelle Nähe übersetzte und so Form und Inhalt in Anklang brachte. Damit folgte er einer klassischen Formel, auf die schon Peter Paul Rubens (Albert und Nikolaus Rubens713, um 1626), Anthonis van Dyck (Die Balbi-Kinder714) Thomas Gainsborough (Mary und Margaret Gainsborough mit einer Katze715, ca. 1760–61), Henry Raeburn (Die Allen Brüder716, ca. 1790), Philipp Otto Runge (Die Hülsebeckschen Kinder717, 1805/06)

707 Надя Гучкова, 1902, Kohle, Rötel, Kreide auf Papier, 53,5 × 35 cm, sign. und dat. links unten, Privatbesitz. 708 Вера Гучкова, 1902, Kohle, Rötel, bunte Stifte auf Papier, 51 × 32 cm, sign. und dat. rechts, Privatbesitz. 709 Люба Гучкова, 1902, Kohle, Rötel auf Papier, 34,5 × 50 cm, sign. und dat. links unten, Privatbesitz. 710 Девочка Ада, 1882, Bleistift auf Papier, 18,8 × 11,3 cm, STG, Moskau, Inv. 7331 147. 711 Мария Осиповна Левенфельд, 1913, Rötel, Bleistift, Kohle auf Papier, 63,5 × 49 cm, Regionale Kunstgalerie der Stadt Tscheljabinsk. 712 Портрет сына художника, 1902, Aquarell, Deckweiß, Kohle, Bleistift auf Papier, 53 × 69,7 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-14995. 713 Albert und Nikolaus Rubens, ca. 1626, Öl auf Holz, 157 × 93 cm, Lichtenstein. The Princely Collections, Wien, Inv. GE114. 714 The Balbi Children, ca. 1625–27, Öl auf Leinwand, 219 × 151 cm, National Gallery, London, Inv. NG6502. 715 The Painter’s Daughters with a Cat, ca. 1760–61, Öl auf Leinwand, 75,6 × 62,9 cm, National Gallery, London, Inv. NG3812. 716 James and John Lee Allen (The Allen Brothers), ca. 1790, Öl auf Leinwand, 152,4 × 115,6 cm, Kimbell Art Museum, Fort Worth, Inv. AP 2002.05. 717 Die Hülsebeckschen Kinder, 1805/06, Öl auf Leinwand, 131,5 × 143,5 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv. 1012.

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oder Théodore Géricault (Alfred und Élisabeth Dedreux718, 1817–20) zurückgegriffen hatten.719 Außer den bereits beschriebenen Doppelbildnissen Serovs ist in diesem Zusammenhang das Porträt seiner ältester Tochter Olga und seinem vierten Sohn Anton720 (1906) zu erwähnen, das die beiden auf einer Wiese sitzend zeigt. Hier rückte der Künstler die Figuren dermaßen eng zusammen, dass von Anton kaum mehr als der Kopf sichtbar blieb, während sein Körper auf ein Knäul aus Strichen reduziert wurde. Auch die Töchter des sibirischen Kaufmanns Alexandr Kasyanov721 (1907) wurden so sehr auf die Schulbank gequetscht, dass der Unterkörper des vorderen Mädchens den Unterkörper des Hinteren fast vollständig überblendet. Im Unterschied zu den Porträts aus dem Freundes- und Familienkreis musste der Künstler in den Auftragsarbeiten auf die Repräsentationsansprüche der Eltern mehr Rücksicht nehmen und war daher in der Konzeption der Figur sowie in der Strich- und Pinselführung weniger unbefangen. So achtete er in den oben beschriebenen Porträts der Töchter von Nikolai Guchkov722, dem Sprecher der Moskauer Stadtsduma, darauf, gerade bei den älteren Mädchen die Gesichter mit fast naturalistischer Präzision herauszuarbeiten. Die Kasyanov-Töchter wurden außerdem sehr adrett gekleidet und gekämmt abgebildet, was in der Strenge der Linienführung zusätzlich betont wurde. Das Gleiche lässt sich beim manierierten Hüftbild als Stehfigur von Nina Rappoport723 beobachten (1908). Formell wirken auch die Bildnisse der Kinder von Alexander III., die Serov 1893 als Vorstudien für das heute verschollene Familienporträt724 des Zaren malte (1892–95, Abb. 33).725

718 Alfred et Élisabeth Dedreux, 1817–20, Öl auf Leinwand, 99,2 × 79,4 cm, Privatbesitz, Paris. 719 Siehe weitere Beispiele in: Mirjam Neumeister (Hg.), Die Entdeckung der Kindheit. Das englische Kinderportrait und seine europäische Nachfolge, AK Frankfurt a. M., Städel Museum 20.4.–15.7.2007 und London, Dulwich Picture Gallery, 1.8.–4.11.2007, Köln: Dumont, 2007; Emmanuel Pernoud, L’Enfant obscur. Peinture, éducation, naturalism, Paris: Éditions Hazan, 2007; Matthias Winzen (Hg.), Kindheit eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, AK Baden-Baden, Museum für Kunst und Technik 21.9.2013–9.3.2014, Oberhausen: ATHENA-Verlag, 2013. 720 Дети художника Ольга и Антоша, 1906, Kohle, Kreide, Rötel, bunte Stifte auf Karton, 67 × 97 cm, Privatbesitz. 721 Н. А. и Т. А. Касьянова, 1907, Kohle, Rötel, Kreide auf grauem Papier auf Karton, 86,5 × 68 cm, sign. und dat. links oben, STG, Moskau, Inv. 10029. 722 Nikolai Ivanovich Guchkov (1865–1935), von 1892 an Sprecher der Moskauer Stadtsduma und 1905–13 Moskauer Bürgermeister. Siehe dazu: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 295, Anm. 45. 723 Девочка Нина Захаровна Раппопорт, 1908, Aquarell auf Papier, sign. und dat. links unten, Größe und Verbleib unbekannt. Nina Zakharovna Rappoport (ca. 1893–vor 1970), Tochter von Zakhar Rappoport (?–1915), einem Juristen und Gerichtsmitarbeiter in St. Petersburg. Siehe dazu: Petrova 2005, S. 248, Kat. 363. Im SRM befindet sich ein beinah identisches Porträt von Nina Rappoport (Aquarell auf Karton, 98,5 × 62 cm), das dem Museum von der Schwester der Dargestellten geschenkt wurde, aber möglicherweise nicht echt ist. 724 Император Александр III с семьей, 1892–95, Öl auf Leinwand, 388 × 297 cm, verschollen. Das Bildnis hing im Haus der Kharkover Adelsversammlung und wurde 1928 dem Kharkover Museum übergeben. Dort wurde es mit der Malschicht nach innen zusammengerollt aufbewahrt und sei, so Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 333), wegen des schlechten Zustands, zum Moskauer Restaurator D. F. Bogoslovsky geschickt worden. Nach Valkenier (2001, S. 123) verschwand es aus Kharkov während des Zweiten Weltkrieges. 725 Zu den Umstanden des Auftrages siehe ausführlich Kapitel 4.4.3.

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33 Imperator Alexander III. mit seiner ­Familie / Император Александр III с семьей, 1892–95, Öl auf Leinwand, 388 × 297 cm, verschollen, Abb. in: Grabar 1914, S. 88

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34 Großherzogin Olga Alexandrovna / Великая княжна Ольга Александровна, 1903, Öl auf Leinwand, 60 × 49 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-1918

Sowohl die Großfürstin Xenia Alexandrovna726 als auch ihre jüngeren Geschwister – der fünfzehnjährige Großfürst Mikhail Alexandrovich727 und die elfjährige Großfürstin Olga Alexandrovna728 (Abb. 34) – wurden als frontale Brustdarstellungen vor einen neutralen Hintergrund gesetzt, was die Haltung verfestigt und die Person distanziert erscheinen lässt. Zudem zeichnen sich die Studien durch die Seriosität im Gesichtsausdruck aus, wodurch diese Distanziertheit weiter gesteigert wird. Allerdings gelang es Serov trotz der kompositionellen Gleichheit, die Stimmung seiner Modelle jedes Mal subtil zu variieren: Xenia wirkt neugierig und aufmerksam, Mikhail verschlossen und gelangweilt, Olga traurig. Ferner lockerte der Künstler die jeweilige Gesamtwirkung auf, indem er den Fond von Bild zu Bild in eine neue leuchtende Farbkomposition verwandelte und die Kleider weitgehend unvollen 726 Великая княжна Ксения Александровна, 1903, Öl auf Leinwand, 64,5 × 54 cm, Museum für Geschichte, Architektur und bildende Kunst der Stadt Pskov, Inv. ПМЗ КП 798. Xenia Alexandrovna Romanova (1875–1960), Großfürstin, viertes Kind und älteste Tochter des Zaren Alexander III., emigrierte 1919 nach London. 727 Великий князь Михаил Александрович, 1903, Öl auf Leinwand, 65 × 54 cm, sign. und dat. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-191. Mikhail Alexandrovich Romanov (1878–1918), jüngster Sohn des Zaren Alexander III, wurde von den Bolschewiken in Alapaievka durch Erschießung hingerichtet. 728 Великая княжна Ольга Александровна, 1903, Öl auf Leinwand, 60 × 49 cm, sign. und dat. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-1918. Olga Alexandrovna Romanova (1882–1960), jüngste Tochter des Zaren Alexander III., Malerin, emigrierte nach der Revolution nach Dänemark und 1948 nach Kanada.

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35 James Abbott McNeill Whistler, Harmony in Grey and Green: Miss Cicely Alexander, 1872, Öl auf Leinwand, 190,2 × 97,8 cm, Tate Gallery, London, Inv. N04622

det beließ. Die Farbnuancierung im tonalen Spektrum in Verbindung mit der Seriosität des Gesichtsausdrucks und die Starrheit der Haltung erlauben es, an dieser Stelle ein Vergleich zu Whistler zu ziehen, der seine Porträts als Farbsymphonien und -harmonien interpretierte (Harmonie in Grau and Grün: Miss Cicely Alexander729, 1872, Abb. 35). Das Bildnis der kaiserlichen Familie (Abb. 33) ist nicht erhalten, die Schwarz-Weiß-Abbildung zeigt jedoch deutlich, dass der Maler auch hier auf ein dezentes Dekorum setzte.730 Als ob die Familie zu einem Parkspaziergang hinausginge, schreitet Alexander III. mit der Zarin Maria Feodorovna und seiner jüngsten Tochter Olga die Treppen eines Portikus herunter, gefolgt von den anderen vier Kindern des Paares. Die Umgebung, die sie rahmt – eine klassizistische Architektur mit hohen weißen Säulen und Pilastern in Kombination mit dunklen Treppen und kleinen Bäumchen – zeichnet sich durch eine schlichte Eleganz aus, so wie sie in den Porträtarrangements von Anthonis van Dyck anzutreffen ist. Die Gewänder, selbst Alexanders knielanger Waffenrock, wirken aber eher einfach. Das fällt vor allem bei den jüngeren Kindern auf: Georgy und Mikhail tragen dunkle Matrosenanzüge, Xenia

729 Harmony in Grey and Green: Miss Cicely Alexander, 1872, Öl auf Leinwand, 190,2 × 97,8 cm, Tate Gallery, London, Inv. N04622. Vgl. Leniashin 1989, S. 42f., Bildvergleich ohne Kommentar. 730 Grabar, 1914, S. 88f.; Kridl Valkenier, 2001, S. 123.

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und Olga hochgeschlossene helle Kleider.731 Einfachheit, Menschlichkeit und Zugänglichkeit wurden programmatisch auch in der, verglichen mit den Vorstudien, lebendigeren Haltung und Mimik der Kinder betont: Hinter ihren zögerlichen Bewegungen ist ein leichter Anflug von Neugierde und Fröhlichkeit zu erkennen. Während das kaiserliche Familienbildnis im Haus der Kharkover Adelsversammlung ausgestellt war, wurden die anderen Kinderporträts des Künstlers zu seinen Lebzeiten der breiten Öffentlichkeit nur vereinzelt bekannt. Im Jahr 1900 war das Terijoki-Bild seiner Söhne in der Zweiten Mir iskusstva Ausstellung in St. Petersburg zu sehen. 1901 zeigte er dort in der Dritten Mir iskusstva Ausstellung eine der Zeichnungen mit Alexandra und Anastasia Botkina (1900), die er danach 1902 in der Vierten Mir iskusstva Ausstellung in Moskau sowie 1906 im Salon d’Automne in Paris und im Salon Schulte in Berlin präsentierte. 1902 reichte Serov für die Vierte Mir iskusstva Ausstellung in St. Petersburg Mika Morozov (1901) und Vera Guchkova (1902) ein und für die Fünfte im Jahr 1903 – zwei Zeichnungen der Guchkov-Mädchen.732 Die Kasyanov-Töchter wurden in der Fünften Kunstschau der Union russischer Künstler (1907–08) in Moskau ausgestellt, und die gezeichneten Bildnisse von Mika733 und Yura Morozov (beide 1905) – 1909 im Petersburger Salon. Unter den zeitgenössischen Rezensenten fanden Serovs Kinderporträts überraschenderweise keine besondere Beachtung. Die 1903 gegenüber den Guchkov-Mädchen geäußerten Kritiken waren sehr durchwachsen: von „hervorragend“ über „gar nicht mal so schlecht“ bis hin zur vernichtenden Schlussfolgerung, dass es sich dabei um „schwache Zeichnungen“ handele, „die weder dem Können noch dem Selbstgefühl des Künstlers, der solch unbedeutende Sachen ausstellt, eine Ehre machen.“734 1909 hielten wiederum einige Kritiker gerade die beiden Zeichnungen mit den Morozov-Jungen für besonders gelungen.735 In der früheren Kunstliteratur zu Serov wurden seine Kinderporträts wiederum vereinzelt

731 Serov war an der Wahl der Kleidung mitbeteiligt. So bat er Ostroukhov in einem Brief vom 1.11.1893 darum, einen Matrosenanzug für Mikhail zu besorgen, und teilte ihm mit, Nikolais Husaren-Uniform inzwischen anderweitig besorgt zu haben, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 123, S. 191f. 732 Dass Serov mit zwei der Porträts der Guchkov-Mädchen an der Fünften Mir iskusstva Ausstellung teilnahm, wird im Werkverzeichnis von Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 358) nicht erwähnt. Ein Hinweis findet sich bei Samkov/Silberstein ohne jedoch zu konkretisieren, um welches der vier Mädchen es sich handelt. Siehe: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 614, Anm. 12; dies., 1985, Bd. 1, S. 400f., Anm. 1. 733 Мика Морозов, 1905, Rötel auf Papier auf Karton, 55,7 × 37,5 cm, sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 5328. 734 „Превосходны две карандашные девочки“, Mezenat, Vernisazh „Mira iskusstva“, in: Peterburgskaia gazeta, 14.2.1903, Nr. 44; „Весьма недурны рисунки, изображающие девочек Гучковых,“ Aristarkh, Tri vystavki, in: Russky vestnik, 1903, Nr. 3, S. 424; „‚Девочки Гучковы‘– слабые рисунки, тоже не делающие чести ни мастерству, не самолюбию художника, выставляющего такие крохи,“ N. Kravchenko, Vystavka „Mir iskusstva“, in: Novoie vremia, 19.2.1903, Nr. 9684, alle drei Artikel zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, S. 400f., Anm. 1. 735 Al. Kondratyev, Salon 1909 g. Pismo iz Peterburga, in: Golos Moskvy, 9.1.1909, Nr. 6; A. Sh., Salon, in: Vecher, 9.1.1909, Nr. 213, beide Artikeln zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 268, Anm. 3.

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abgebildet und gelegentlich erwähnt, aber stets positiv bewertet.736 Den besten visuellen Überblick über diese Werkreihe bot Grabars Monografie, die 1914 insgesamt zwölf und 1965 neun solcher Illustrationen enthielt  – ohne das kaiserliche Familienporträt, die jugendhaften Ludmila und Vera Mamontova (1884 und 1887) sowie das Gemälde Im Sommer (1892) mitzurechnen.737 Im Text wurden sie jedoch kaum erwähnt und in den anderen Veröffentlichungen des Autors nur gestreift.738 1947 setzte sich Alpatov am Beispiel von Vera Mamontova (1887), Kinder (1899) und Mika Morozov (1901) als erster mit der Innigkeit in diesen Kinderbildnissen auseinander und zog Renoir zum Vergleich heran, um einerseits Serovs stilistische Fortschrittlichkeit zu implizieren und anderseits seine konzeptionelle Überlegenheit zu unterstreichen.739 1965 betonte Sternin, dass der Künstler stets das unruhige neugierige Wesen seiner kleinen Modelle unmittelbar zu erfassen suchte, anstatt sie als kleine Erwachsene darzustellen.740 Die letztere These wurde 1968 von Murina/Sarabyanov weiter vertieft. Anhand knapper Analysen einiger Werke – Sasha (1897), Kinder (1899), Mika Morozov (1901) sowie Botkinund Guchkov-Mädchen (1900 und 1902) – folgerten die Forscher zutreffend, dass Serov in den Kinderporträts „das Augenblickliche zu greifen scheint, sodass [dieses Augenblickliche] das Typische und das Immerwährende zum Sprechen bringt“. Er sei, so die Autoren weiter, von „der kindlichen Psychologie, der Unbefangenheit ihrer seelischen Bewegungen, von der Naivität und der eigenartige ‚Reinheit‘“ angezogen gewesen, die „[von sich allein schon] die ästhetische Freude und das Gefühl der Schönheit“ hervorrufen könne.741 Später betonte Sarabyanov, dass der Künstler vor allem mit den Kinderbildnissen, die um 1900 entstandenen, und mit den Porträts der Mir-iskusstva-Kollegen „eine Art Momentaufnahmen“ kreierte.742

736 Zu Praskovya Mamontova (1887, Öl auf Leinwand, 59 × 46 cm, Privatbesitz) und Im Sommer (1892): Radlov 1913, Abb. o. S.. Zu Kinder (1899): Piotr N. Ghe, Glavnyie techeniia russkoi zhivoposi v XIX veke v snimkakh s kartin, Moskau: Izdaniie tovarishchestva bratyev Granat, 1904, S. 12 und S. 59; V. A. Serov. Soltse Rossii 1913, Abb. o. S.; Ettinger 1914, Abb. S. 388; Makovsky 1925, Abb. S. 32; Bakushinsky 1935, S. 107. Zu Oktober. Domotkanovo (1895, Radierung, 34,3 × 51,4 cm, sign. und dat. links, SRM, St. Petersburg, Inv. Гр-3209): Radlov 1913, Abb. o. S.. Zu Botkins Kinder (1900): Bakushinsky 1935, S. 120; Olga Liaskovskaya, Graficheskiie portrety Serova, in: Iskusstvo, 1965, Nr. 10, S. 55–61, S. 58f. Zu Mika Morozov (1901): Ternovets 1925, S. 51; Bakushinsky 1935, S. 107. Zu Großfürstin Olga Alexandrovna (1903): Ernst 1921, Abb. o. S.. Zu Nina Rappoport (1908): Radlov 1913, Abb. S. 32; Ernst 1921, o. S.. Zu N. A. und T. A. Kasyanova (1908): Ernst 1921, Abb. o. S.; Hollerbach 1924, Abb. o. S. 737 Grabar 1914, 21f., 57, 88f., 123, 147, 160f., 175 und 196 sowie Tafel abb. zw. S. 144 und 145; ders. 1965, S. 129, 146f., 152, 154, 191, 253, 255, 257, 267 und 270. 738 Grabar 1961, S. 26f. 739 Alpatov 1947, S. 22f. Siehe auch: Smirnova-Rakitina 1963, S. 16f.; Simonovich-Efimova 1963, S. 17 und 43f. 740 Grigory Sternin, Grafika Valentina Alexandrovicha Serova. Risunki, akvareli, litografii, oforty, Moskau: Sovetsky khudozhnik, 1965, S. 9f. 741 „Серов словно ловит моментальное, чтобы оно заставило заговорить типичное, постоянное. [...] Серова привлекает детская психология, непосредственность душевных движений, наивность, своеобразная ‚неиспорченность‘. Эти качества выступают как драгоценные черты человеческой натуры, способные эстетически радовать, рождать чувство красоты.“ Murina/Sarabyanov 1968, S. 200–202, hier 201f. 742 „Они все – некое подобие моментального снимка“, Sarabyanov 1974, S. 15.

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Leniashin erweiterte den Diskurs durch einen Gegenvergleich zu Repins „munterer“ und Vrubels „fast mystischer“ Umsetzung solcher Motive.743 Zudem hielt der Autor fest, dass ein solch ernsthaftes und tiefes Verständnis der kindlichen Seele selbst in der internationalen Kunst gar nicht so einfach zu finden ist. Einzelne gelungene Arbeiten kommen bei vielen Meistern vor (man denke an Renoir und Degas), doch bei Serov [liegt das Primat] woanders, [nämlich] in der Konzeption der Kindheit, in der Konzeption des kindlichen Charakters. Und das ist eine Erscheinung der russischen Kultur.744 Kruglov stellte ebenfalls fest, dass „Arbeiten zum Thema Kindheit – die Wärme und Poesie ausstrahlen und Kenntnis der Psyche der kleinen Modelle offenbaren – zu den fesselndsten Darstellungen in Serovs Erbe gehören.“745 Doch im Unterscheid zu Leniashin verschob Kruglov den Fokus vom vermeintlichen ‚nationalen Exzeptionalismus‘ des Künstlers auf dessen Intention der „poetischen Wiedergabe der Eintracht zwischen dem Menschen und seiner Umgebung“ und bezeichnete das „elegant-lakonisch und breit“ gemalte Doppelporträt von Sasha und Yura (1899, Taf. VII) als ein „hervorragendes Beispiel des russischen Impressionismus“.746 Dieser kurze Exkurs zur Forschungsdiskussion lässt erkennen, dass trotz der ausführlichen maltechnischen, stilistischen und inhaltlichen Analyse einiger weniger Werke eine fundierte wissenschaftliche Studie über die Stellung von Serovs Kinderbildnissen innerhalb der russischen und gesamteuropäischen Entwicklung bis heute ausgeblieben ist. In den Bildern russischer und europäischer Maler der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts posierten sowohl Kinder adeliger als auch bürgerlicher Auftraggeber meist wie hübsche kleine Puppen. Das gilt gleichermaßen für die eigenständigen Kinder­porträts (Alexei Venet­sianov, Panaiev-Kinder mit der Amme747, 1841; Franz Xaver Winter­ halter, ­Albert Edward, Prinz von Wales748, 1846), als auch für die Mutter-Kind-Darstellungen (­Jacques-Louis David, Gräfin Vilain XIII. und ihre Tochter749, 1816; Karl Briullov, Maria Beck mit 743 Leniashin 1980, S. 114–16. 744 „они показывают столь серьезное и глубокое понимание души ребенка, что не так-то просто найти что-либо подобное даже в мировом искусстве. Отдельные удачные работы встречались у многих мастеров (достаточно вспомнить О. Ренуара, Э. Дега), но у Серова другое – концепция детства, концепция детского характера. И это – явление русской культуры.“ ebd. Diese Ansicht wurde auch von Knyzeva/ Pruzhan (1980, Kat. 15) im Katalogbeitrag zu Mika Morozov vertreten. 745 „Работы на тему детства, полные тепла и поэзии, знания психики маленьких моделей, принадлежaт к самому пленительному в наследии Серова.“ Kruglov, in: Petrova 2005, S. 36. 746 „картина [„Дети“] с ее элегантно-лаконичным, широким письмом [...] замечательный образец русского импрессионизма. В ней поэтично передано единство человека и природы.“ ebd., S. 35. 747 Портрет детей Панаевых с няней, 1841, Öl auf Leinwand, 103,5 × 90,5 cm, STG, Moskau, Inv. 10346. 748 King Edward VII (1841–1910), when Albert Edward, Prince of Wales, 1846, Öl auf Leinwand, 127,1 × 88 cm, Royal Collection, Inv. 404873. 749 Portrait of the Comtesse Vilain XIIII and her daughter, 1816, Öl auf Leinwand, 95 × 76 cm, National Gallery, London, Inv. NG6545.

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Tochter750, 1840) oder die Familienbildnisse (Friedrich von Amerling, Rudolf von Arthaber mit seinen Kindern751, 1837; Feodor Slaviansky, Familienbild752, 1852). Der Fokus wurde darin nicht selten auf das Dekorum gelegt, wobei die kleinen Modelle als ein Teil dessen in die Komposition integriert wurden: so wie bei Charles Lethière753 (1818) von Ingres oder Horace Delaroche754 (1838) von Paul Delaroche. Ein weiteres hervorragendes Beispiel dafür ist das Porträt der Volkonsky-Kinder mit dem Mohr755 (1843) von Karl Briullov (1799–1852), der zu den renommiertesten russischen Künstlern seiner Zeit zählte. Der Betrachterblick wandert hier stets zwischen verschiedenen Elementen umher: zwischen den beiden in prachtvolle, goldbestickte Gewänder eingepackten Mädchen und ihrem rassigen Englischen Springer Spaniel, zwischen der grünen ‚Wand‘ aus Kleeblättern im Hintergrund und dem ornamentalen Gusseisenzaun mit dem dahinterstehenden exotischen Diener. In einigen Bildern – wie in den Gemälden Mariuccia756 (1819) von Orest Kiprensky und Junge mit Schoßhund757 (1810er) von Alexandr Varnek – wurde der Akzent wiederum durch die Vergrößerung der Figur innerhalb der Komposition und einen weitgehend neutralen Hintergrund explizit auf das Gesicht des Kindes gelegt. Gleichzeitig wurde solchen Darstellungen oft mittels ‚niedlicher‘ oder ‚schöner‘ Attribute wie Blumen oder Haustiere eine sentimentale Note verliehen, um stärkeres Mitgefühlt zu evozieren – eine Wirkung, die bereits Joshua Reynolds in Miss Jane Bowles758 (1775), Francisco de Goya in Don Manuel Osorio Manrique de Zuñiga759, 1788) oder später Henry Reaburn im Porträt von Henry Reaburn Inglis760 (1814) anstrebten. Durch ihre Innigkeit fallen darunter allen voran diejenigen Werke auf, die Personen aus dem direkten Umfeld der Künstler zeigen. So erscheint Vasily Tropynins Sohn Arseny761 (1818, Abb. 36) trotz der Reduktion des Körperausschnitts auf ein Brustbild und einer gedämpften, auf Ockertöne ausgerichteten Palette sehr lebhaft, was durch die Haltung, geschicktes Arrangement der Details und suggestive Lichtregie erreicht

750 Мария Аркадиевна Бек с дочерью, 1840, Öl auf Leinwand, 246,5 × 193,5, STG, Moskau, Inv. 4626. 751 Rudolf von Arthaber und seine Kinder Rudolf, Emilie und Gustav, o. J., Öl auf Leinwand, 155 × 221 cm, Österreichische Galerie Belvedere, Wien, Inv. 2245. 752 Семейный портрет, 1852, Öl auf Leinwand, 178 × 143 cm, STG, Moskau, Inv. 9251. 753 Charles Lethière, 1818, Bleistift auf Papier, 25,5 × 19,5 cm, Musée des Arts Decoratifs, Paris, Inv. 16442. 754 Horace Delaroche, 1838, Öl auf Leinwand, 95 × 56,4 cm, Petit Palais, Paris, Inv. PPP04983. 755 Портрет детей Волконских с aрапом, 1843, Öl auf Leinwand, 146,1 × 124,1 cm, STG, Moskau, Inv. 13429. 756 Девочка в маковом венке с гвоздикой в руке (Мариучча), 1819, Öl auf Leinwand, 42,5 × 40,9 cm, STG, Moskau, Inv. 5851. Anna Maria Falcacci (ca. 1812–nach 1845), Tochter eines Modells des Künstlers in Rom, wurde von ihm finanziell unterstützt; 1836 heirate sie Kramskoi. 757 Мальчик с болонкой, 1810er, Öl aud Leinwand, 36,1 × 30 cm, STG, Moskau, Inv. 5060. 758 Miss Jane Bowles, 1755, Öl auf Leinwand, 91 × 70,9 cm, The Wallace Collection, London, Inv. P36. 759 Don Manuel Osorio Manrique de Zuñiga, 1787–88, Öl auf Leinwand, 127 × 101,6 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, Inv. 49.7.41. 760 Henry Raeburn Inglis (Boy and Rabbit), 1814, Öl auf Leinwand, 101,6 × 78,8 cm, Royal Academy of Arts, London, Inv. 03/703. 761 Арсений Васильевич Тропынин, ca. 1818, Öl auf Leinwand, 40,4 × 32 cm, STG, Moskau, Inv. 134. Arseny Vasilyevich Tropynin (1809–85), Maler.

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36 Vasily Tropynin, Arseny Tropynin / Арсений Васильевич Тропынин, ca. 1818, Öl auf Leinwand, 40,4 × 32 cm, STG, Moskau, Inv. 134

wird: Der Junge sitzt in einer Dreivierteldrehung nach links und wirft einen aufmerksamen Blick über seine rechte Schulter in die Ferne, seine Augen glänzen, die lockigen Haare liegen leicht unordentlich, das Hemd ist aufgeknüpft, der caravaggesk dramatische Kontrast zwischen Licht und Schatten unterstützt den Eindruck einer plötzlichen Bewegung. Venetsianovs Porträt seiner ältesten Tochter Alexandra762 (1826?) – ebenfalls als Brustbild nach links konzipiert – ist zwar weniger bewegt, besticht aber durch den ernsten, transzendenten Blick des Mädchens, das in die Fußstapfen seines Vaters treten sollte. Die Peredvizhniki, die nach ihrer Akademie-Revolte von 1863 die russische Kunstszene zunehmend dominierten, interessierten sich weniger für Kinderbildnisse als vielmehr für Kinderdarstellungen in einem sozialkritischen oder belehrenden Kontext. Mit solchen und anderen tendenziösen Themen engagierten sie sich zum einen, ähnlich wie progressive Schriftsteller ihrer Zeit, für die Aufklärung und Moralisierung der Gesellschaft. Zum anderen knüpften sie damit an die realistische Tradition ihrer Vorgänger an. Denn in der Kunst lassen sich Motive armer Kinder bis zu Barolomé Esteban Murillo im 17. Jahrhundert

762 Александра Алексеевна Венецианова, vor/in 1826, Öl auf Leinwand, 41 × 33 cm, STG, Moskau, Inv. Ж-789. Alexandra Alexeievna Venetsianova (1816–82), Genre- und Stilllebenmalerin, machte die Lehre bei ihrem Vater.

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(Trauben- und Melonenesser763, ca. 1650) und William Hogarth im 18. Jahrhundert (Verhaftet wegen Schulden764, 1735) zurückverfolgen.765 Doch erst im 19. Jahrhundert – als gleichzeitig Autoren wie Charles Dickens (Oliver Twist, 1837–39), Victor Hugo (Les Misérables, 1862), Feodor Dostoevsky (Der Knabe bei Christus zur Weihnachtsfeier, 1875), Vladimir Korolenko (In schlechter Gesellschaft, 1881–84) oder Émile Zola (Germinal, 1885) das Kinderelend thematisierten – entstand ein „eigenes Genre der ‚armen‘, ‚arbeitenden‘ Kinder, das sich über Holz- oder Kupferstiche, Malerei, bald aber auch über die frühe Fotografie verbreitet[e]“.766 Stellvertretend zu nennen wären hier die idyllisch-verklärenden Arbeiten des österreichischen Biedermeierkünstlers Ferdinand Georg Waldmüller, wie z. B. die Gemälde Eine reisende Bettlerfamilie...767 (1834) oder Der bettelnde Knabe768 (1863). Des Weiteren können an dieser Stelle Evgraf Sorokins Kleine spanische Bettlerin769 (1852) und Frédéric Bazilles Kleine italienische Straßensängerin770 (1866) genannt werden – Bilder, die ebenfalls der „sentimentalen Erbauung“771 des Bürgertums dienten und zusätzlich an dessen ethnografische Neugierde appellierten. Gelegentlich wurde auch scharfer Gesellschaftskritik Ausdruck verliehen, so wie in der Pariser Szene772 (1833) von Philippe-Auguste Jeanron: Im Vordergrund stellte der Künstler eine arme, auf der Steinpromenade der Seine sitzende Familie dar, die vor Hunger völlig kraftlos ist, während er im Hintergrund ein schickes bürgerliches Paar zeigte, das von von ihren leidenden, ja dem Tode nahe stehenden Mitmenschen ‚wegflaniert‘. Die Peredvizhniki bewegten sich im gleichen Motivspektrum. Das krasseste Exempel für die Bloßlegung sozialer Missstände bietet wohl das Gemälde Dreigespann773 (1866) von Vasily Perov, welches zeigt, wie drei kleine, ärmlich gekleidete Kinder im Schneesturm ein riesiges Wasserfass über die holprige, vereiste Straße ziehen. Eine Ausnahme bilden die psychologisierten Darstellungen von Ivan Kramskoi, der die Kindheit als eine Phase der Einsamkeit und der Verletzbarkeit begriff.774 Meistens trugen jedoch Kinderbilder der Peredvizhniki, ähnlich wie die Arbeiten Waldmüllers, einen sentimentalen Charakter: so wie 763 Trauben- und Melonenesser, ca. 1650, Öl auf Leinwand, 145,9 × 103,6 cm, Alte Pinakothek, München, Inv. 605. 764 Arrested for Debt, Bild 4/8 aus der Serie Rake’s progress, 1735, Kupferstich, 35,5 × 41 cm, Kunsthalle Bremen, Inv. 1908/256/262. 765 Johannes Bilstein, Ideal, Ausbeutung und Idylle: Imaginationen der Kindheit im 19. Jahrhundert, in: Winzen 2013, S. 69–91, hier S.81. 766 Bilstein, in: Winzen 2013, S. 81. Siehe auch: Pernoud 2007, S. 74–92. 767 Eine reisende Bettlerfamilie wird am heiligen Christabend von armen Bauersleuten beschenkt, ca. 1834, Öl auf Holz, 37 × 30 cm, Neue Galerie Graz, Inv. I/1632. 768 Koldusfiú, 1863, Öl auf Holz, 65,5 × 52,5 cm, Szépművészeti Museum, Budapest, Inv. 378.B. 769 Нищая девочка-испанка, 1852, Öl auf Leinwand, 146,5 × 110,2 cm, STG, Moskau, Inv. 323. 770 Petite Italienne chanteuse des Rues, 1866, Öl auf Leinwand, 130,5 × 97,5 cm, Musée Fabre, Montpellier, Inv. 2002.5.1. 771 Bilstein, in : Winzen 2013, S. 81. 772 Une Scène de Paris, 1833, Öl auf Leinwand, 97 × 130 cm, Musée des Beaux-Arts, Chartres, Inv. 84.8. 773 „Тройка“. Ученики-мастеровые везут воду, 1866, Öl auf Leinwand, 123,5 × 167,5 cm, STG, Moskau, Inv. 364. 774 Siehe dazu: Tatiana Karpova, Smysl litsa. Russky portret vtoroi poloviny XIX veka. Opyt samopoznaniia lichnosti, St. Petersburg: Aleteia, 2000, S. 104–108.

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Pilgerin mit einem Jungen775 (1860er) von Alexandr Morozov, Fischerjungen776 (1882) von Illarion Prianishnikov oder Kopfrechnen777 (1895) von Nikolai Bogdanov-Belsky. Auch Emily Shanks778, die 1894 als erste Frau in die Genossenschaft der Wanderausstellungen aufgenommen wurde und verglichen mit den meisten anderen Mitgliedern ungewöhnlich oft Kinder abbildete, neigte zur Sentimentalisierung ihrer Modelle (In den Blumen779, o. J.). Konstantin Makovsky, der 1870 zu den Mitbegründern der Vereinigung zählte, aber immer ein Salonkünstler blieb und als Hofmaler der Romanovs eine besonders prominente Stellung genoss, integrierte Kinder, auch seine eigenen, gern in das Dekorum. Diese ‚Verdinglichung‘ artikulierte er überdeutlich im Gemälde Im Atelier des Malers780 (1881): Zwischen antiken Möbeln und Waffen, einem riesigen Golden Retriever, orientalischen Teppichen, Brokatdraperien, exotischen Früchten und Malerutensilien zeigt er auch seinen Sohn Sergei. Bezeichnend ist in diesem Kontext der erste Titel dieses Bildes, Nature morte, unter dem es in der IX. Ausstellung der Genossenschaft der Wanderausstellungen (St. Petersburg, 1881–82, Nr. 42) präsentiert wurde. Eine Ausnahmerolle in der Behandlung des Kinderbildnisses kam unter den Peredvizhniki sicherlich Repin zu, der sich wiederholt mit dieser Thematik beschäftigte und vor allem seine eigenen Kinder in verschiedenen Entwicklungsstadien darstellte. Allerdings trat Repin dabei meist als ein (Geschichten-)Erzähler auf und ordnete die Erscheinung seiner Modelle einem thematischen Gesamtkonzept unter, wie am Beispiel von Vera Repina (1874), Vera Repina mit Blumenstrauß (1878) und Nadia Repina (1881) bereits erläutert wurde. Im Gegensatz zu seinem Mentor scheint Serovs sich stets auf die persönliche Dynamik des jeweiligen Kindes eingelassen und im nächsten Stritt eine Komposition entwickelt zu haben, die diese Dynamik in einer möglichst natürlichen, spontanen Pose zur Geltung bringen würde. Der Künstler thematisierte das Kindsein, ohne in rührselige Narrativität oder tragisches Pathos zu verfallen, die den Darstellungen der meisten seiner Vorgänger und Zeitgenossen innewohnte. Daher mied er explizit, seinen Bildnissen den Charakter einer bunten Illustration zu verleihen und verzichtete weitgehend auf dekoratives Beiwerk sowie feierlich-puppenhafte Kleidung. Ebenso wenig strebte er eine drastische Vereinfachung der Formen oder eine autonome, kontrastreiche Farbgebung an, die die Individualität überladen

775 Странница с мальчиком, 1860er, Öl auf Leinwand, 49 × 40 cm, STG, Moskau, Inv. 24219. 776 Ребятишки-рыбачки, 1882, Öl auf Holz, 31,3 × 40,7 cm, STG, Moskau, Inv. 566. Studie zum gleichnamigen Bild im Regionalkunstmuseum, Ivanovo. 777 Устный счет в народной школе С. А. Рочинского, 1895, Öl auf Leinwand, 107,4 × 79 cm, STG, Moskau, Inv. 1003. 778 Emily Shanks (Emilia Yakovlevna Shanks, 1857, Moskau–1936, London), Tochter des englischen Kaufmanns James Steuart Shanks (1826–1911), der 1852–16 in Moskau den Kleidungsgeschäft Shanks & Bolin. Magazin Anglais unterhielt. Emily Shanks studierte 1882–92 bei Vasily Polenov an der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur, danach v. a. als Genre- und Landschaftsmalerin tätig. 779 В цветах, 1890–1900, Öl auf Leinwand, Größe unbekannt, Privatbesitz. 780 В мастерской художника, 1881, Öl auf Leinwand, 212,4 × 155 cm, STG, Moskau, Inv. 9385. Das dargestellte Kind ist Sergei Makovsky (1877–1962), der zukünftige modernistische Kritiker.

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könnten – wie dies beispielsweise bei Paul Gauguin (Aline Gauguin und einer ihrer Brüder781, 1883/85) oder Vincent van Gogh (Zwei Mädchen782, Juni–Juli 1890) der Fall ist. Die Modernität von Serovs Kinderporträts bestand daher nicht in radikalen Form- und Farbexperimenten. Sie machte sich am Momenthaften im Ausdruck, am nüchternen Einsatz künstlerischer Mittel und an der ernsten und einfühlsamen Auffassung der kindlichen Persönlichkeit erkennbar. Damit gehören diese Werke auch im gesellschaftskulturellen Sinne zu den progressivsten Darstellungen ihrer Zeit.783 ... in den Auftragsporträts des Herrscherhauses und Hochadels Während Serov beim Porträtieren von Freunden, Familienmitgliedern und vielen privaten Auftraggebern größtenteils frei über seine Modelle verfügte, war die Arbeit an den Bildnissen für das Herrscherhaus und den Hochadel stets mit der obligatorischen Rücksichtsname auf die gesellschaftlichen Konventionen und die Repräsentationsansprüche verbunden. Angesichts ihres strengen konzeptionellen Rahmens legen gerade diese Werke ein Zeugnis davon ab, inwieweit der Künstler bereit war, Neues zu wagen und seinen Strebungen nach Unmittelbarkeit in der Komposition und der Pinselsprache nachzugehen. Das im vorigen Kapitel angesprochene Familienporträt des Zaren Alexander III. (1892– 95, Abb. 33) gehört zu den ersten und wichtigsten Arbeiten dieser Art. Als Auftraggeber fungierte die Adelsversammlung der Stadt Kharkov, die damit des misslungenen Attentats auf die Zarenfamilie in der Kharkover Provinzsiedlung Borki im Oktober 1888 gedenken wollte.784 Zunächst wurde dafür Ilya Repin angefragt. Dieser lehnte das lukrative Angebot jedoch aus Zeitgründen ab und vermittelte es an Serov weiter, der wiederum Konstantin 781 Aline Gauguin et l’un de ses frères, 1883/85, Öl auf Leinwand, 31 × 47,5 cm, Privatbesitz. 782 Deux fillettes, Juni–Juli 1890, Öl auf Leinwand, 51,2 × 51 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 1954 16. 783 Zur Wahrnehmung der Kinder um 1900 in Russland siehe: Catriona Kelly, Children’s World. Growing up in Russia, 1890–1991, New Haven/London: Yale University Press, 2007, S. 25–60. Kelly liefert u. a. eine Beschreibung des juristischen Status der Kinder, ihrer Erziehung und Ausbildung und hebt zudem den Einfluss der Kinderzeichnungen auf die Künstler der frühen Avantgarde hervor. Allerdings verfehlt es die Autorin, die besondere Stellung von Serovs Kinderporträts zu erkennen und behauptet (S. 45): „The portraits of Valentin Serov included several charming, but decidedly sentimental, studies (of Mika Morozov […] and of Serov’s own sons Sasha and Yura), showing the subjects in androgynous mode (mops of curls, clothes in pastel hues) and as remote from the adult viewer, lost in alternative world of mysterious, but always benign, dreaminess“. Ebenso oberflächlich und unpräzise wird Serovs frühe künstlerische Ausbildung zusammengefasst (S. 54). Kelly erwähnt zudem nicht, welchen Einfluss auf die Entwicklung der vorschulischen Kindererziehung Serovs Tante Adelaida Simonovich (1844–1933) hatte, die u. a. schon 1863 in Anlehnung an den Pestalozzi-Schüler Friedrich Fröbel (1782–1852) einen der ersten russischen Kindergärten in St. Petersburg eröffnete, die Zeitschrift Detsky sad (Kindergarten, 1866–68) herausbrachte und zusammen mit ihrem Ehemann Yakov Simonovich (1840–83) im Jahr 1874 die zweibändige Ausgabe Prakticheskiie zametki ob individualnom i obshchestvennom vospitanii maloletnikh detei (Praktische Anmerkungen zur individuellen und gesellschaftlichen Erziehung kleiner Kinder) publizierte, die 1884 und 1907 erneut erschien. Siehe dazu: http:// www.ipedagog.ru/parts/part15.html; http://pedagogical_dictionary.academic.ru (Stand: 8.4.2015). 784 Grabar 1914, S. 112; 1965, S. 177f. und S. 333; Ivan E. Zabelin, Dnevnikovyie zapiski (1892–1893), in: Staatliches Historisches Museum, Moskau, Inv. 140/1/6, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 259–262, v. a. S. 260, Anm. 1; Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, S. 190, Anm. 3.

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Korovin zur Mitarbeit einlud. Allerdings trat Korovin, trotz des bereits eingereichten gemeinsamen Entwurfs, wegen seiner langen Parisreise vom Projekt zurück und so musste Serov die fast 4 × 3 m große Leinwand allein ausführen. Wie der Kritiker Boris Lopatin im Jahr 1912 berichtete, bestand der Künstler gleich zu Beginn auf der Notwendigkeit, nach der Natur zu malen. Dieser Wunsch wurde mit Staunen aufgenommen – wie soll man eine solche Erlaubnis für einen Maler erwirken, der in den höheren Kreisen wenig bekannt ist. Aber Serov hielt hartnäckig an seiner Bitte fest und letzten Endes wurde ihm die Möglichkeit gegeben, den Fürsten und [dessen] Familienmitglieder aus der Nähe zu sehen.785 Die wenigen zeitgenössischen Berichte darüber, wann und wie oft Serov den Zaren traf, fallen unterschiedlich aus.786 Nach Vsevolod Mamontov habe Alexander III. ihm mehrfach Modell gestanden, wobei jede Sitzung pünktlich beginnen musste und niemals länger als 20 Minuten dauerte.787 Bei einem dieser Termine verspätete sich der Zar und so konnte Serov aus dem Fenster beobachten, wie sich die Soldaten beim Eintreffen des kaiserlichen Schlittens blitzschnell aufreihten und der monumentalen Gestalt des Herrschers beim Aussteigen halfen: Ich hatte das Gefühl in Babylon oder im alten Assyrischen Reich zu sein [...] er wirkte regelrecht wie irgendein Nebukadnezar – es lief mir sogar kalt den Rücken runter.788 Trotz der Ehrfurcht, die der Zar auf seine Umgebung ausübte, ließ Serov dessen Darstellung im Gegensatz zu den anderen Künstlern deutlich weniger formell erscheinen. Ivan Kramskois als Sitzfigur konzipiertes Porträt789 (1886) sowie das Standbildnis790 von Ivan 785 „Серов заявил, что ему необходимо писать с натуры. Желание это было встречено с изумлением – как же получить такое разрешение для художника, мало известного в высших кругах. Но Серов упорно стоял на своем и в конце концов ему дали возможность увидеть близко государя и членов фамилии.“ B. Shuisky [Boris Petrovich Lopatin], Valentin Alexandrovich Serov. 1865–1911. Opyt biografii, in: Svobodnym khudozhestvam, St. Petersbug 1912, Nr. 4–5, S. 8, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 260, Anm. 1. 786 Grabar 2001 (1937), S. 153; V. Mamontov 2012 (1951), S. 48; Vladimir D. Derviz, Vospominaniia o V. A. Serove, in: Iskusstvo, Nr. 6, 1934, S. 119–130, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 204–220, hier S. 208f. Kridl Valkenier (2001, S. 122–125) folgte unkritisch Derviz, der einen äußert negativen Ton gegenüber dem Kaiserhaus anschlug. Derviz schieb u. a., dass der Künstler nach Fotografien gemalt habe und das jeweilige Modell nur kurze Zeit habe sehen dürfen. Diese pauschale Aussage darf in Zweifel gezogen werden, denn am 21.2.1893 wurde Serov seitens des Erziehers von Alexanders Kindern Grigory G. Danilovich (1825–1906) zu einer Porträtsitzung mit Olga Alexandrovna eingeladen, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 126, S. 194f. 787 V. Mamontov 2012 (1951), S. 48. 788 „Я почувствовал себя в Вавилоне или в древней Ассирии [...] Ни дать ни взять Навуходоносор какой-то – даже холодок у меня по спине пробежал...“ Serov, zit. nach: V. Mamontov 2012 (1951), S. 48. 789 Александр III, 1886, Öl auf Leinwand, 129 × 91,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Inv. Ж-2715. 790 Александр III на фоне Гатчинского дворца в форме Лейб-гвардии Павловского полка, 1890, Öl auf Leinwand, 270 × 170 cm, Staatliches Museum Tsarskoie Selo, Pushkin, Inv. ЕД-624-Х. Ivan Alexeievich Tiurin (1824–

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Tiurin (1890), das den Zaren vor dem Ausblick auf den Gatchina-Palast zeigt, sind naturalistisch genau, sehr steif und eher der korrekten Wiedergabe prunkvoller Insignien als der Lebhaftigkeit verpflichtet. In Repins monumentaler Historie Alexander III. empfängt die Oberhäupter der Amtsbezirke im Hof des Petrovsky Palast in St. Petersburg791 (1885–86) wird der Herrscher ‚erleuchtet‘, standfest und volksnah inszeniert, während dessen Familie – die im Hintergrund zu sehen ist – ihm ‚den Rücken stärkt‘. In Laurits Tuxens Porträt des Zaren mit seiner Gattin Maria Feodorovna und Sohn Mikhail792 (1883–85) werden alle drei erlauchten Personen zwar nicht übermäßig ostentativ – und im Fall des kleinen Großfürsten sogar bürgerlich – gekleidet, aber, der klassischen Tradition folgend, in einer ruhigen, repräsentativen Haltung positioniert. Sicherlich ist auch Serovs Variante in ihrem Konzept den Regeln der Etikette unterworfen. So tragen der Zar und sein zukünftiger Thronfolger Militäruniformen und haben beide eine feste, gerade Haltung, wobei Alexander die Prozession anführt und Nikolai – symbolisch für die Zukunft, zu der man aufsieht – kompositionell über alle anderen gestellt wird. Allerdings unterscheidet sich dieses Porträt von den oben genannten Beispielen durch drei wesentliche Aspekte. Erstens implizierte Serov die ‚Zugänglichkeit‘ der kaiserlichen Familie, indem er sie in Bewegung, die Treppen absteigend zeigte, als ob sie zu einem Spaziergang gehen und dabei den Betrachter passieren würde. Zweitens wurden Einfachheit und Menschlichkeit – wie im vorigen Kapitel betont – in der Kleidung und in der Lebhaftigkeit der vier jüngeren Kinder besonders herausgestellt. Drittens setzte Serov nicht auf die naturalistische Genauigkeit, sondern auf eine malerische Pinselführung, was selbst anhand der alten Schwarz-Weiß-Abbildung erkennbar wird. Ferner ist es wichtig anzumerken, dass dem Künstler die Authentizität seiner Eindrücke enorm wichtig war: Dafür spricht nicht nur sein dringlicher Wunsch, die Modelle nach der Natur zu malen, sondern auch die Tatsache, dass er gleich zu Beginn der Arbeit zusammen mit Korovin nach Kharkow reiste, um Studien von dem im Porträt abgebildeten Haus der Adelsversammlung anzufertigen.793 Einer der ersten, der dieses Bildnis in einem speziell dafür eingerichteten Atelier im Moskauer Historischen Museum sah, war der Maler Piotr Neradovsky (1875–1963), der zwischen 1909 und 1933 die Abteilung für bildende Künste im Petersburger Russischen Museum leiten sollte. Dazu schrieb er: In der Mitte des großen leeren Saals stand eine riesige Leinwand, darauf war die scheinbar schon fertig gemalte Familiengruppe zu sehen, die aus Eltern und fünf Kindern bestand.

1904), Porträtmaler, studierte 1845–50 an der Kaiserlichen Kunstakademie in St. Petersburg. 791 Прием волостных старшин императором Александром III во дроре Петровского дворца в Москве, 1886, Öl auf Leinwand, 294 × 490,5 cm, STG, Moskau, Inv. Ж-10. 792 Alexander 3., Dagmar og Michael Alexandrovitch, 1884, Öl auf Leinwand, 230 × 151 cm, Det Nationalhistoriske Museum, Frederiksborg Slot, Hillerød, Inv. A 2824; als Versatzstück in das Familienbild des Königs Christian IX. integriert (1883–85, Öl auf Leinwand, 75 × 100 cm, Staatliches Museum, Pavlovsk). 793 Olga Serova an Maria Simonovich am 14.7.1891, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, S. 190, Anm. 3.

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Die ganze Familie kam einfach auf den Betrachter zu [...] Das Porträt war komplex, es war nichts Offizielles dran. Alles war auf Serovsche Art gelöst.794 Neradovskys Formulierung „es war nichts Offizielles dran. Alles war auf Serovsche Art gelöst.“ ist überaus aufschlussreich, denn sie impliziert, dass Serovs Methode von vielen Zeitgenossen grundsätzlich als unkonventionell, sachlich und zugleich als unmittelbar wahrgenommen wurde. In der Presse kam die Arbeit ebenfalls gut an. Die Moskauer Tageszeitung Novosti dnia (Tagesnachrichten, 1883–1906), zu deren Autoren die Schriftsteller Anton Chekhov und Vasily Nemirovich-Danchenko zählten, kommentierte die kurze Ausstellung des Bildnisses (Moskau, 23.–25. April 1894) mit den Worten, dass Serov ein „talentierter junger Maler“ sei und ein „in Bezug auf Technik und Ähnlichkeit glänzend[es]“ Werk gemalt habe.795 Die erste Reaktion des Herrscherhauses, dessen Mitglieder das Porträt bei der Kirchweihe in Borki796 begutachten konnten, fiel jedoch ambivalent aus. Am 16. Juni 1894 berichtete Serov seiner Ehefrau in einem Brief: Das erste, was der Zar mir gegenüber erklärte, war: ‚Aber es sieht so aus, als wäre es noch nicht ganz fertig‘, worauf ich antwortete: ‚Ja, noch nicht ganz‘ [...] Naja, so im Wesentlichen habe ich persönlich vom Fürsten nichts Nettes gehört. Übrigens glaube ich, dass die Phrase über die Unfertigkeit von Sergei Al[exandrovich]797 kommt. Der Graf798 erzählte, dass der Fürst beim Eintreffen sagte: ‚Mikhail wirkt so lebendig‘, und fügte hinzu: ‚Aber gegen den Handschuh erhebe ich einen Einwand‘. Die Gräfin sprach davon, dass die Fürstin [ihrer Tochter] Xenia gegenüber sagte, dass papa (d. h. der Fürst) sehr gut geworden sei, und du [Xenia] auch, aber Xenia erklärte, dass die Studie nach der Natur besser sei. Der Thronfolger und Georgy gefielen [ihnen] nicht – womit ich absolut einverstanden bin. Ja, ich wiederhole mich, mit ihren Meinungen bin ich absolut einverstanden, aber ich wartete darauf, dass sie irgendetwas Nettes sagen, wie ‚schön, aber unvollendet‘ und nicht einfach ‚unvollendet‘ [...] Der Graf gratulierte mir zu meinem Erfolg, und der Adel auch. Ja, ich muss sagen, dass der Adel überhaupt sehr zufrieden ist [...].799 794 „В большом пустом зале стоял громадный холст, на нем, казалось, уже окончательно написанная семейная группа, состоящая из родителей и пяти детей. Вся семья просто идет на зрителя [...] Портрет сложный, в нем нет ничего официального. Все было решено по-серовски.“ Piotr I. Neradovsky, V. A. Serov, in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 23–44, hier S. 30. 795 „талантливый молодой художник писал это огромное полотно 2 ½ года, и написано оно блестяще в смысле техники и сходства“, in: Novosti dnia, 23.4.1894, Nr. 3898, zit. nach: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 261f. 796 Anlässlich der Rettung der Zarenfamilie wurde in Borki nach den Plänen von Robert Marfeld (1852–1921) die Christ-Erlöser-Kathedrale errichtet, die im Zweiten Weltkrieg zerstört und bis heute nicht vollständig wiederhergestellt wurde. 797 Großfürst Sergei Alexandrovich (1857–1905), Sohn von Alexander II., Bruder von Alexander III., ab 1891 der Generalgouverneur von Moskau, bekannt für seine reaktionäre Politik. 798 Vasily Alexeievich Kapnist (1838–1910), Hofmeister, Oberhaupt des Kharkover Adels, Vater der Gräfin Varvara Musina-Pushkina. 799 „первое, что мне государь заявил – было: ‚Но, кажется, она еще не совсем кончена‘, на что я ответил – да, еще не совсем. [...] Ну-с, так вот в сущности ничего любезного от государя я сам не слышал. Между

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Diesen Zeilen ist zu entnehmen, wie sensibel Serov auf das mangelnde Lob seitens der Romanovs reagierte. Dass sein Porträt dennoch positiv aufgenommen wurde, wird durch zahlreiche Aufträge bestätigt, die das Herrscherhaus dem Künstler in den folgenden Jahren erteilte. Von Alexander III. fertigte Serov mindestens drei weitere Bildnisse an. Die beiden bekannten Darstellungen, Alexander III. in der Uniform der Königlichen Leibgarde der Dänischen Armee800 (1899) – ein Bild, das in einer leicht veränderten zweiten Fassung801 wiederholt wurde (1899) – und Alexander III. bei den Manövern802 (1900), entstanden zwar postum, wurden aber nicht nach fotografischen Vorlagen, sondern nach verkleideten Modellen angefertigt.803 Auffällig ist, dass diesen Werken eine ungewöhnlich starke narrative Komponente innewohnt. Im erstgenannten Beispiel wird der nachdenklich in die Ferne schauende Fürst vor dem Schloss Fredensborg bzw. vor dem Ausblick auf die Kopenhagener Bucht gezeigt. Er lehnt sich auf seinen Säbel in einer leicht verschraubten Drehung nach rechts, der Stutz seines Helms weht unruhig im Wind. In dem anderen Bildnis steht er auf einem Feld, während die im Hintergrund aufgereihten Soldaten seine Befehle erwarten; in seiner linken Hand hält er einen Rapport, stemmt seine Rechte in die Hüfte und scheint über das gerade Gelesene in die Gedanken versunken zu sein. In beiden Bildern macht der fehlende Augenkontakt den Betrachter zu einem ungestörten Beobachter. Der Maler wird seinerseits zu einem Erzähler, der die Figur situativ definiert. Somit tragen diese Darstellungen einen illustrativen Charakter und sind mit Serovs Historien der russischen Herrscher vergleichbar, die imaginierte Ereignisse aus dem Leben des Hofes abbilden, wie Peter II. und die Zarewna Elizaveta auf der Hundejagd804 (1900) oder прочим, я готов думать, что автор фразы о неоконченности – Сергей Александрович. Граф рассказывал, что когда государь вошел, сказал: ‚Михаил как живой‘, затем: ‚А против перчатки протестую‘. Графиня говорит, что государыня говорила Ксении, что рара (т. е. государь) очень хорош и ты (Ксения). Ксения же заявила, что эскиз с натуры лучше. Наследник и Георгий не понравились. С чем я совершенно согласен. Да, я повторяю, с мнениями их я совершенно согласен, но ждал, что мне скажут что-нибудь этакое любезное, что мол хорошо, но жаль, что не окончено, а не просто неокончено [...] Граф поздравил с успехом, дворяне тоже. Да, я должен тебе сказать, что дворяноство вообще очень довольно [...]“ Serov an Olga Serova am 16.6.1894 aus Borki, in: STG/QS 49, Moskau, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 130, S. 203–206, hier S. 203f. 800 Alexander 3., 1899, Öl auf Leinwand, 170,8 × 117,5 cm, sign. und dat. rechts unten, Den Kongelige Livgarde, Rosenborg Slot, Kopenhagen. Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 418) nennen sechs Blätter mit den vorbereitenden Skizzen vom Schloss, dem Park, der Soldaten und der Militärorden. 801 Александр III в форме датского Королевского Лейб-гвардии полка на фоне моря в копенгагенской гавани, 1899, Gouache, Aquarell, Weiß auf Papier, 41,6 × 32 cm, sign. und dat. links unten, SRM, St. Petersburg, Inv. P-3226. Nach Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 336) gibt es noch eine Kopie dieses Porträts sowie eine dazugehörige Kopfstudie: Gouache auf Papier? Größe und Verbleib unbekannt. Samkov/Silberstein nennen ferner eine Studie des Kopfes von Alexander III. (1890er, Öl auf Leinwand, 72 × 58 cm, sign. rechts unten, Privatbesitz), siehe: dies., 1971, Bd. 1, S. 157, Anm. 9 und Bd. 2, S. 261f., Anm. 4, hier S. 262. 802 Александр III на маневрах, 1900, Öl auf Leinwand, 160 × 107 cm, sign. und dat. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-2004. 803 Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 550, Anm. 22. 804 Петр II и цесаревна Елизавета на псовой охоте, 1900, Aquarell, Gouache auf Papier auf Karton, 41 × 39 cm, sign. und dat. links unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4291.

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Katharina II. bei der Falkenjagd805 (1902). Zu betonen ist jedoch, dass selbst in seinen postumen Porträts des Zaren das stolze Posieren dem kurzen Innehalten weicht. Nikolai II., der 1894 nach dem plötzlichen Tod seines Vaters den russischen Thron bestieg, wurde von Serov ebenfalls mehrfach porträtiert. 1896 hielt der Künstler in über fünfzig Studien die Krönungszeremonie Nikolais fest, die am 14. Mai des Jahres gemäß der bis ins 16. Jahrhundert zurückreichenden Tradition in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale des Kremls stattfand.806 Die Art, wie er an diese Aufgabe heranging, weckte große Bewunderung bei Repin, der seinen lobenden Worten über Kolorit und Malweise Folgendes hinzufügte: Unsere durchschnittlichen Maler – und mit ihnen einstimmig auch Kunstfreunde – [...] laufen weg, sobald ein derart offizielles Thema wie eine Krönung auch nur mit einem Wort erwähnt wird; sie schreien auf und mahnen den Künstlern davon ab, indem sie behaupten, dass ein solch abgeschmacktes und absolut unkünstlerisches Thema niemals ein Bild ergebe, dass daraus etwas Langweiliges und Abgedroschenes werde. Der arme Maler habe sich ... verkauft! Unterdessen zeigte sich gerade hier [...] ein Künstler von großem Talent in seiner ganzen Schönheit.807 Repins Bewunderung richtete sich in erster Linie auf Serovs Wiedergabe der heiligen Salbung808, die 1896 in einer Ölstudie ausgeführt und 1897 in Aquarell und Gouache wiederholt wurde. Die erste Version, die in die Ostroukhov-Sammlung ging, zeichnet sich durch einen freien Duktus aus, bei dem Gesichter, Kleidung und Interieur nur summarisch formuliert wurden. In der zweiten Fassung, die für das Herrscherhaus bestimmt war, arbeitete der Künstler detaillierter, jedoch ohne in einen akribischen Naturalismus zu verfallen. Besonders anschaulich wird das am Vergleich zu Repins Trauung von Nikolai II. und der Großher-

805 Екатерина II на соколиной охоте, 1902, Aquarell, Gouache auf Karton, 23 × 40 cm, sign. rechts oben, SRM, St. Petersbug, Inv. Ж-4292. 806 Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 408–410, 468) nennten 29 Studien sowie ein Skizzenalbum mit 23 bezeichneten Blättern. Dieses Album enthält 34 Blätter, davon sind acht leer und drei fehlen (10,5 × 19,6 cm, STG, Moskau, Inv. P-157). Serov skizzierte u. a. die heilige Salbung des Zaren, Innenansichten der Kathedrale Menschen am Platz davor, Kirchengewänder sowie Köpfe und Figuren einzelner Zeremonienteilnehmer. 807 „Наши заурядные художники, а в унисон с ними все любители [...] при одном только слове о такой официальной теме, как коронация, бегут от нее, сейчас же громко вопиют и отпевают художника, уверяя, что эта казеная и совершенно нехудожественная тема никогда не даст картины, выйдет нечто шаблонное, избитое до скуки. Бедный художник ... продался! Между тем именно здесь, на этой теме, и обнаружился во всей красе истиинный художник громадного таланта.“ Ilya Repin, Valentin Alexandrovich Serov (materialy dlia biografii), in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 19–46 und 63–90, hier S. 33. 808 Миропомазание Николая II в Успенском соборе, 1896, Öl auf Leinwand, 43 × 64 cm , sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 11189; Миропомазание Николая II в Успенском соборе, 1897, Aquarell, Gouache auf Papier, sign. und dat. rechts unten, 36,3 × 55,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-10011.

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zogin Alexandra Feodorovna809 (1894) sowie zu Laurits Tuxens Darstellungen810 der Trauung und der Krönung des Zaren. So erfasste Serov die Gesichtszüge mit wenigen, aber sehr präzise gesetzten Strichen, sodass es an der Identifikation der vorderen Personen keine Zweifel gibt. Die Details der Kleidung und Kirchendekoration wurden von ihm zaghaft skizziert und mosaikähnlich zusammengesetzt, wodurch sie leicht und gleichzeitig kostbar erscheinen. In beiden Fassungen dominieren gelbe Töne, die in Kombination mit dem Weiß und Rot die feierliche Stimmung und den Glanz der Ausstattung auffangen. Diese Wirkung kommt in der zweiten, wesentlich helleren Fassung sogar stärker zum Tragen: Darin haben die Figuren des Fürstenpaares – die fast vollständig mit den weiß-goldenen Hermelin- und Brokatroben bedeckt sind – sinngemäß die größte Strahlkraft innerhalb der Menschenmenge. Im Jahr 1900, etwa gleichzeitig zu Serovs Skizzen811 des kaiserlichen Apells der Streitkräfte in Moskau, entstand sein kleines ganzfiguriges Aquarellporträt von Alexandra Feodorovna812, das sie beim Verlassen der Kirche nach dem Morgengottesdienst zeigt (vor/in 1901, Abb. 37). Diese schlichte und elegante Arbeit wirkt wie eine spontane Genrestudie einer flanierenden jungen Dame. Alle abgebildeten Personen – die mittig situierte Fürstin, die vier Kosaken des Zarenkonvois813 um sie herum und der schwarze Diener (?) im Hintergrund – werden in leichten, fließenden Strichen umrissen, wobei große Partien frei bleiben. Die Palette wird auf ein stark kontrastierendes Rot, Schwarz und Weiß reduziert, das schnell, teils überlappend und transparent aufgetragen wird. Auf diese Weise gelingt es dem Künstler, die Flüchtigkeit der Szene enorm zu steigern. Gleichzeitig deutet er implizit die ‚Übermenschlichkeit‘ der Zarin an: Nicht nur wird sie von den salutierenden und sich beugenden Kosaken ‚verehrt‘, ihre schlanke Silhouette wird von dem weißen Mantel – den einer der Konvoimitglieder ihr über die Schulter legen will – wie von einer Aureole umgeben. Bei dieser kühnen Skizze, die diesmal Sergei Botkin für seine Sammlung sicherte, handelte es sich allerdings um keinen offiziellen Auftrag. Dass Serov auch die von den Romanovs beauftragten Bildnisse außergewöhnlich frei konzipierte, bezeugt am besten das als Geschenk für die Zarin vorgesehene halbfigurige Porträt von Nikolai II. aus dem Jahr 1900, für das der Künstler 16 Sitzungen benötigte und das er gleich nach der Fertigstellung inner-

809 Венчание Николая II и великой княжны Александры Федоровны, 1894, Öl auf Leinwand, 98,5 × 125,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-2773. Alexandra Feodorovna (1872–1918), Victoria Alix Helena Louise Beatrice von Hessen und bei Rein, großherzogliche Prinzessin von Hessen-Darmstadt. 810 Бракосочетание Николая II и великой княгини Александры Федоровны, 1895, Öl auf Leinwand, 65,5 × 87,5 cm; Коронация Николая II и великой княгини Александры Федоровны, 1898, Öl auf Leinwand, 66 × 87,5 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg, Inv. ГЭ-6229 und Inv. ЭРЖ-1638. 811 Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 421) nennen sieben Studien zu dem Thema. 812 Выход императрицы Александры Федоровны от заутрени, vor/in 1901, Bleistift, Aquarell, Weiß auf Papier, 40 × 26 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-3165. 813 Der Zarenkonvoi (Собственный Его Императорского Величества Конвой) wurde am 18.5.1811 gegründet und bestand aus Kosaken verschiedener Regimente und Regionen (u. a. Kuban, Georgien, Aserbaidschan und Krim), darunter Personen sowohl russisch-orthodoxen als auch muslimischen Glaubens.

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37 Alexandra Feodorovna beim Verlassen der Kirche nach dem Morgengottesdienst / Выход императрицы Александры Федоровны от заутрени, vor/in 1901, Bleistift, Aquarell, Weiß auf Papier, 40 × 26 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-3165

halb einer Sitzung in einer Kopie wiederholte (Ab. 38).814 Der Zar trägt hier eine schlichte Militärjacke, die für den alltäglichen Gebrauch bestimmt war: eine graublaue tuzhurka815 mit den roten Kragenpatten und goldenen Schulterstücken. Er sitzt in einer Dreivierteldrehung nach links, legt seine Unterarme auf einen – mit nur wenigen Strichen angedeuteten – Tisch, führt seine Hände zusammen, beugt sich leicht nach vorne und richtet den Blick auf den Betrachter. Alle Formen, vom neutralen Hintergrund bis zum Antlitz, werden mit breiten Pinselstrichen erfasst, sodass das Gemälde den Charakter einer frischen, schnellen Studie hat. Diese Wirkung wird weiter gesteigert, indem die bläulichen Grautöne der Jacke in Kontrast zum warmen, lilaschimmernden Graubeige des Fonds gesetzt und mit Farbakzenten der Militärabzeichen aufgelockert werden. Die glänzeelnden Augen des Zaren und die Intensität seines elegischen Blicks lassen ihn sehr lebhaft und menschlich erscheinen.

814 Император Николай II, 1900, Öl auf Leinwand, 71 × 58,8 cm, STG, Moskau, Inv. 1529. Kopie nach dem Porträt, das sich einst im Besitz der Zarin Alexandra Feodorovna (1900, Öl auf Leinwand, 70 × 58 cm, Verbleib unbekannt), siehe dazu: Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 336. 815 Tuzhurka (тужурка), vom fr. toutjours (immer).

4.4 Serovs moderne Unmittelbarkeit ...

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38 Zar Nikolai II. / Император Николай II, 1900, Öl auf Leinwand, 70 × 58 cm, Verbleib unbekannt, Abb. in Grabar 1914, S. 160f.

Dieses Bildnis, das in der Dritten Mir iskusstva Ausstellung in St. Petersburg (1901, Nr. 193) und in Moskau (1902, Nr. 206) präsentiert wurde, wurde sowohl von Serovs Künstlerfreunden geschätzt als auch von den Kritikern einstimmig positiv aufgenommen.816 Wie überaus zufrieden Nikolai II. mit dem Ergebnis war, zeigen zwei weitere, kurz darauf erfolgte Aufträge für seine Porträts in den Uniformen der Royal Scots Grey817 (1902) und des Kabardinischen Regiments818 (ca. 1900). Den lakonischen Tagebuchnotizen des Zaren – wie „Ich saß oben bei Serov und bin fast eingeschlafen“ – kann diese Zufriedenheit sicherlich nicht entnommen werden.819 Für ein von gegenseitiger Achtung geprägtes Verhältnis zwischen 816 Arnold Haskell, Diaghileff. His Artistic and Private Life, London: Victor Gollancz Ltd., 1935, S. 123f.; Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 296, Anm. 2. 817 His Imperial Majesty Nicholas II, Emperor of Russia, KG, Colonel-in-Chief of the Royal Scots Greys, 1902, Öl auf Leinwand, 115 × 88 cm, sign. und dat. rechts unten, The Castle, Edinburgh, Dauerleihgabe der Scots DG Regimental Trust, Inv. PCF4. Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 336 und 357) nennen eine Vorstudie zu diesem bzw. einem weiteren, nicht ausgeführten Bildnis von Nikolai II. (Fotonegativ in SRM, St. Petersburg C-8530). 818 Николай II в мундире 80-го пехотного генерал-фельмаршала князя А. И. Барянтинского Кабардинского полка, 1900, Technik, Größe und Verbleib unbekannt, befand sich in den 1930er Jahren in Londoner Privatbesitz Siehe: Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 336; Haskell 1935, S. 124; Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 550f., Anm. 23; Olga D. Atroshchenko, Tvorchestvo Valentina Serova v kontekste epokhi, in: Valentin Serov. K 150-letiiu... 2015, Abb. auf der S. 22. 819 „Сидел наверху у Серова и почти заснул.“ Nikolai II. am 18. Februar 1900, die Bemerkung darüber, dass das Porträt fertig sei, stammt vom 21.3.1900, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 294–296, hier S. 295.

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4. Die Wege zum Bild

dem Künstler und seinem hochgestellten Modell spricht aber zum einen Serovs erfolgreiche Fürsprache für den in der Zeit inhaftierten Savva Mamontov820 und zum anderen die auf Serovs Nachfrage erfolgte Sicherung der dreijährigen Finanzierung der Zeitschrift Mir iskusstva (1898–1904) in Höhe von 15000 Rubel. Wie schnell die letztere Angelegenheit über die Bühne ging, berichtete Dmitry Filosofov dem am Projekt mitbeteiligten Publizisten Vasily Rosanov821: „Serov sprach die Zeitschrift dem Zaren gegenüber am 24. Mai an, Diaghilev sah [Alexandr] Taneev [den Hauptleiter der Zarenkanzlei] am 31. Mai und das Geld wurde am 4. Juni für ein Jahr im Voraus bezahlt!“822 Der unerwartete Bruch zwischen Serov und dem Herrscherhaus geschah nicht – wie in der Literatur häufig geschildert – wegen der auf Nikolais Befehl erfolgten Erschießung friedlicher Demonstranten am 9. Januar 1905, die den Künstler zum sofortigen Austritt aus der Akademie und zu bissigen Karikaturen bewegte (Soldaten, die tapferen Jungs, wo bleibt nun Ihr Ruhm?823; Nach der Zähmung824). Das passierte schon 1901, als er eines der beiden letztgennannten Bildnisse des Zaren anfertigte.825 Während einer Sitzung soll Alexandra Feodorovna gegenüber Nikolai II. Serovs Arbeitsweise harsch kritisiert haben, worauf der Künstler ihr seine Palette überreicht und vorgeschlagen habe, selber weiter zu malen.826 Als Ende 1901 die nächste Anfrage für ein Porträt von Nikolai II. erfolgte, lehnte Serov diese mit der Begründung ab, dass die Zarin seine Werke nicht möge.827 Dieser Vorfall demonstriert wie kein anderer, dass Serov ohne zu zögern seine künstlerische Integrität über gesellschaftliche und finanzielle Vorteile stellte, die die lukrativen Aufträge für die Romanovs mit sich brachten. Immerhin hatte die Arbeit an den Bildnissen von Alexander III. und Nikolai II. zu Folge, dass seine Popularität am kaiserlichen Hof

820 Serov an seine Frau Olga am 19.2.1900 aus St. Petersburg, in: STG/QS 49/36, Moskau, zit. in: Samkov/ Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 213, S. 278–280, S. 279. 821 Vasily Vasilyevich Rosanov (1856–1919), Philosoph, Publizist, war für die Literaturrubrik der Zeitschrift Mir iskusstva mitverantwortlich. Siehe dazu: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 467–474, hier S. 467. 822 „Серов говорил о журнале царю 24 мая, Дягилев видел Танеева 31 мая, а деньги были уже выделены за год вперед за год вперед 4 июля!“ Dmitry Filosofov an Vasily Rosanov am 13.6.1900, in: STG/QS, Moskau, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 675, Anm. 5. 823 Солдатушки, бравы ребятушки, где же ваша слава?, 1905, Pastell, Gouache auf Karton, 47,5 × 71,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4297. 824 После усмирения, 1905, Bleistift auf Papier, 30 × 24,5 cm, STG, Moskau, Inv. 25404. Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 427–429) nennen insgesamt 23 Karikaturen (darunter Wiederholungen) zu diesem Thema. 825 Diese falsche Auslegung der Fakten ist u. a. bei Sergei Mamontov und Nikolai Ulyanov sowie in der neueren Literatur zu finden. Siehe: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 217, Anm. 7, S. 526f. und S. 550f., Anm. 23; Elina Knorpp, Valentin A. Serov, Krönung des Zaren Nikolaus II, 1896, in: Beil 2008, S. 42f., hier S. 42. 826 Haskell 1935, S. 124; Grabar 2001 (1935), S. 153f. 827 Sergei A. Sherbatov, Khudozhnik v ushedshei Rossii, New York, 1954, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 659–672, hier S. 664. Siehe auch Tagebuchaufzeichnungen von Vladimir Arkadyevich Teliakovsky (1861– 1924), Direktor der kaiserlichen Theaterhäuser (1901–17). Am 20. und 24.12.1901 beschrieb Teliakovsky die Umstände der Absage Serovs, wie sie ihm von Alexandr Alexandrovich Mosolov (1854–1917), dem Kanzleileiter des Ministeriums des kaiserlichen Hofes, geschildert wurden, in: Staatliches Zentrales Theatermuseum des A. A. Bakhrushin, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 498–519, hier S. 502f.

4.4 Serovs moderne Unmittelbarkeit ...

und bei den staatlichen Institutionen ab der Mitte der 1890er Jahre kontinuierlich anstieg. Sowohl der jüngste Sohn von Nikolai I., Großfürst Mikhail Nikolaievich828 (1900), der 1878 zum Generalfeldmarschall ernannt wurde, als auch dessen Enkel, Großfürst Georgy Mikhailovich829 (1901), der zwischen 1895 und 1917 das Russische Museum leitete, standen Serov Modell. Eine spontane breite Malweise, Schlichtheit der Uniformen und des Interieurs, die diese Darstellungen auszeichnen, machen erneut ersichtlich, dass der Künstler stets seinen eigenen ästhetischen Vorstellungen folgte. Das Gleiche gilt für das temperamentvoll und zügig gemalte Bildnis des Vorsitzenden des Ministerkomitees Sergei Vitte830 (1904), in welchem Serov auf eine imposante Pose verzichtete und den neutralen Fond wie einen stürmischen barocken Himmel aussehen ließ. Dass Serov bei den Vertretern höchster Gesellschaftskreise die Individualität des Modells möglichst adäquat in die Malerei zu übersetzen suchte, kann am Vergleich zwischen den drei Herrenbildnissen der Herzoge Yusupov anschaulich demonstriert werden.831 Statt eine aufeinander abgestimmte Porträtreihe zu kreieren, variierte der Künstler bei von Bild zu Bild fast gleichem Format immer wieder die Komposition, den Duktus und die Palette. Der Herzog Felix Felixovich Yusupov, Graf Sumarokov-Elston, wurde in der weißen Kavallerie-Uniform in einem ganzfigurigen Reiterbildnis832 im Park des Arkhangelskoie Landguts verewigt (1903). Seine rechte Hand in die Hüfte stemmend, hält er mit der Linken die Zügel seines weißen Vollblutarabers fest. Die sichere Haltung, der kritische Blick und eine leichte Untersicht verleihen seiner Gestalt einen gebieterischen Unterton. Ein Gegengewicht dazu bildet die Nervosität des Pferdes, die an den wilden Augen und der angespannten, rasch gemalten Muskulatur abzulesen ist. Diese klassische Ikonografie, bei der der Reiter seinen energiegeladenen Hengst mühelos kontrolliert, charakterisiert Yusupov als einen erfolgreichen Befehlshaber. Seine ‚nachlässig‘ skizzierte Uniform und die summarisch aufgefasste Parklandschaft spiegeln wider, wie wenig er auf die Idealisierung seiner Person achtete: Gegenüber Serov merkte der Herzog sogleich „bescheiden“ an, man solle „lieber ein

828 Великий князь Михаил Николаевич, 1900, Öl auf Leinwand, 90 × 75 cm, sign. rechts unten, STG. Moskau, Inv. Ж-620. Der Verbleib von Serovs Porträt von Mikhail Nikolaievich in der Feldmarschalluniform des Kazansky Infanterieregiment (1900) ist unbekannt; einst befand es sich in der Slg. des Kazansky Infanterieregiments in Belostok (heutiges Poland). Siehe dazu: Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 336; Serov, Valentin Alexandrovich, in: Bruck/Iovleva 2001, Bd. 4.1., S 324–346, hier S. 336, Kat. 1216. 829 Великий князь Георгий Михайлович, 1901, Öl auf Leinwand, 108 × 108 cm, sign. und dat. links unten, Staatliches Museum der bildenden Künste, Saratow, Inv. 834. 830 Finansministern Sergej Witte, 1904, Öl auf Leinwand, 136 × 96,5 cm, sign. und dat. links oben, Konstmuseum, Malmö, Inv. MM 8527. Sergei Vitte (1849–1915), russischer Staatsmann deutscher Abstammung, leitete ab 1889 die Abteilung für Eisenbahnangelegenheiten, 1892–1903 Finanzminister, 1903–06 Leiter des Ministerkabinetts. 831 Zu den Umständen der Auftragsvergabe und dem Bildnis Zinaida Yusupova (Taf. VIII) siehe Kapitel 6.4.2. 832 Князь Феликс Феликсович Юсупов, граф Сумароков-Эльстон, 1903, Öl auf Leinwand, 89 × 71,5 cm, sign. links unten, dat. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4303.

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39 Graf Felix Felixovich Sumarokov-Elston / Граф Феликс Феликсович, Сумароков-Эльстон, 1903, Öl auf Leinwand, 89 × 71,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4304

­Porträt von [seinem] Pferd“ machen, womit er beim Künstler auf volles Verständnis stieß.833 Als ein solches ‚Doppelbildnis‘ konzipierte Serov später auch das halbfigurige Porträt vom ­Yusupov834 (1909). Den älteren Sohn des Herzogs, Nikolai835 (1883–1908), malte Serov in einer tuzhurka in einer leichten Drehung nach rechts, als Sitzfigur und Kniestück vor einem neutralen Hintergrund (1903). Nikolais kühler Blick ist abgewandt und der Ellenbogen seines linken Arms ist aggressiv nach außen gedreht, was die Haltung mit einer an Arroganz grenzenden Kompromisslosigkeit erfüllt. Gesteigert wurde diese Wirkung durch die sehr moderne Bildsprache, nämlich den plakativ flächigen Farbauftrag, der mit einer extremen Reduktion der Formen sowie mit dem Einsatz der Komplementär- und Hell-Dunkel-Kontraste einherging. Der jüngere Sohn Felix836 (1887–1967) wurde wiederum in einem frontalen Hüftbild stehend mit der Bulldogge unter dem Arm im Vestibül des Familienpalastes abgebildet (1903, Abb. 39). Seine manierierte Pose, der elegante Gehrock, ein jovialer Gesichtsausdruck und weiche 833 „Князь скромен, хочет, чтобы портрет был скорее лошади, чем его самого – вполне понимаю.“ Serov an Olga Serova am 12.8.1903 aus Arkhangelskoie, in: STG/QS 49/41, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 364, S. 428. 834 Князь Феликс Феликсович Юсупов, граф Сумароков-Эльстон, 1909, Öl auf Leinwand, 90 × 83 cm, sign. und dat. links unten, Konstantinovsky Palast, St. Petersburg. 835 Граф Николай Феликсович Сумароков-Эльстон, 1903, Öl auf Leinwand, 89 × 68 cm, sign. und dat. links unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4305. 836 Граф Феликс Феликсович Сумароков-Эльстон, Öl auf Leinwand, 89 × 71,5 cm, sign. und dat. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4304.

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40 Anthonis van Dyck, George Gage mit zwei Dienern / Portrait of George Gage with Two Attendants, ca. 1622–23, Öl auf Leinwand, 115 × 113,5 cm, National Gallery, London, Inv. NG49

Züge lassen ihn wie einen gelangweilten und selbstverliebten Dandy erscheinen. Die Marmorstatue einer rassigen Dogge im Hintergrund verweist auf Wohlstand und Kultiviertheit. Vervollständigt wird dieses ‚edle‘ Bild durch Serovs malerische Virtuosität: den flüssigen Farbauftrag, die zarte Ausarbeitung des Gesichts und die feine Ton-in-Ton-Nuancierung der weißen Partien. Diese Art der Repräsentation weckt unweigerlich Reminiszenzen an solch klassische Porträts des Hochadels wie van Dycks George Gage mit zwei Dienern837 (ca. 1622–23, Abb. 40) sowie an die zeitgenössischen, den gleichen Vorbildern geschuldete Werke wie Sargents Graf von Dalhousie838 (1900). Wahrscheinlich war es diese perfekte Balance zwischen Tradition und Gegenwärtigkeit, Repräsentation und Individualität, Regie und Authentizität, die Serovs hoch situierte Kunden überzeugte. Aus seiner Korrespondenz geht hervor, dass er bei den Yusupovs seine Entscheidungen durchzusetzen wusste, wenngleich ihre ästhetischen Vorstellungen nicht immer mit seinen übereinstimmten. So notierte er nach einer Sitzung mit dem jüngeren Felix: Schade, dass die Herzogin und ich nicht wirklich den gleichen Geschmack haben. So zum Beispiel, was man anziehen soll; und das, was ihr gefällt, ist einfach schrecklich –

837 Portrait of George Gage with Two Attendants, ca. 1622–23, Öl auf Leinwand, 115 × 113,5 cm, National Gallery, London, Inv. NG49. 838 Earl of Dalhousie, 1900, Öl auf Leinwand, 152,4 × 101,6 cm, Privatbesitz.

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eine hellblaue Husarenjacke – wenn man sie malen würde, würde man sich sofort übergeben. Komisch. Wenn die Herrschaften zurückkehren, werden sie sehen, was wir gemalt haben, ich bin mir sicher, dass ihnen das nicht gefallen wird – naja, was soll man tun – wir sind doch auch etwas eigensinnig – ja-ja.839 Mit seinen unkonventionellen Formeln des repräsentativen Bildnisses gelang es Serov auch, beim internationalen Publikum tiefen Eindruck zu hinterlassen. Zu seinen Werken, die als erste über Russlands Grenzen hinaus große Bekanntheit erlangten, gehörte das Porträt des Bruders von Alexander III., des Großfürsten Pavel Alexandrovich840 (1860–1918), welches vom Kavallerieregiment der Leibgarde (1721–1918) in Auftrag gegeben worden war (1897, Abb. 41). Es zeigt den General fast ganzfigurig und leicht nach links gewandt, vor einem rassigen, schwarzbraunen Trakehner stehend. Er trägt eine feierliche Uniform, bestehend aus einer weißen Jacke mit goldenen Epauletten, einem goldenen Harnisch sowie dunkelblauen Stiefelhosen und hält mit beiden Händen einen goldverzierten Helm mit einem Doppeladler als Spitze vor sich. Links außen, vom Rand angeschnitten ist ein Soldat zu sehen, der am Geschirr des Pferdes zieht. Der Hintergrund ist sehr nüchtern, beinah neutral. Nur rechts in der Ferne sind an der Horizontlinie aufgereihte Kavalleristen abgebildet. Die obere Partie der Bildfläche zeigt einen mit grauweißen Wolken verdeckten Himmel, die untere ein karges Feld. Durch die aufrechte Haltung, die Militärkleidung und die Nüchternheit der Umgebung verlieh Serov dem General die ihm gebürtige Strenge, ohne ihn pompös erscheinen zu lassen. Das Abnehmen des Helmes und die ruhige, natürliche Stellung des Pferdes unterstützen diese Wirkung enorm. Die jugendstilhaft stilisierte Linienführung, die sich besonders deutlich an den Silhouetten ablesen lässt, und ein kontrollierter, teilweise flacher Duktus verstärken den Eindruck der Konsolidierung der Bildmotive. Ein Anschneiden der Szenerie am linken und am unteren Rand suggeriert wiederum eine spontan gewählte, zufällige 839 „Жаль, что мы не очень с княгиней сходимся во вкусах. Так, к примеру, какую куртку графчику одеть и то, что нравится ей, прямо ужасно – голубая венгерка – если ее написать, то тут же может стошнить. Странно. Вот приедут господа, посмотрят, что мы написали, уверен, придется не по вкусу – ну, что делать – мы ведь тоже немножко упрямы – да.“ Serov an Olga Serova am 6.8.1903 aus Arkhangelskoie, in: STG/QS 49/40, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 363, S. 426f., hier S. 426. 840 Великий князь Павел Александрович, 1897, Öl auf Leinwand, 166,7 × 149,5 cm, sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 15697; 1898 in Diaghilevs Ausstellung der finnischen und russischen Maler in St. Petersburg (Nr. 258) zu sehen, welche nach München, Düsseldorf, Köln und Berlin ging (siehe Kapitel 5.2.1); 1900 in der Pariser Weltausstellung mit dem Grand Prix ausgezeichnet. Die sozialdemokratische Zeitschrift Zhizn (Leben, St. Petersburg, 1897–1901), in der u. a. Gorky, Chekhov, Lenin und Marx ihre Schriften publizierten, beschrieb das Bildnis als „hervorragend“ und lobte insbesondere die gelungene Wiedergabe des strahlenden Sonnenlichts. Positiv äußerten sich auch Gustav Keyßner (1898) und E. N. Pascent (1900). Bénédite (1900) schrieb begeistert: „pour être une représentation officielle, n’en est pas moins une peinture fort intelligemment comprise“. Siehe: P. Nikolaiev, Sovremennoie iskusstvo, in: Zhizn, 1898, Nr. 6, S. 356f., zit. in: Samkov/ Silberstein 1971, Bd. 2, S. 77f., hier S. 77; Keyßner 1898, S. 72, mit Abb; E. N. Pascent, Von russischer Kunst. Gelegentlich der Pariser Ausstellung, in: Kunst für Alle, Bd. 16, Heft 10, 15.2.1901, S. 226–230, hier S. 228; Bénédite 1900, S. 496.

4.4 Serovs moderne Unmittelbarkeit ...

41 Großfürst Pavel Alexandrovich / Великий князь Павел Александрович, 1897, Öl auf Leinwand, 166,7 × 149,5 cm, STG, Moskau, Inv. 15697

Komposition. Ebenso natürlich wirkt die Rhythmisierung der Fläche in die Breite und in die Tiefe, obwohl sie mittels einer konsequenten Abwechslung bzw. Staffelung heller und dunkler Partien erreicht wird. Auf diese Weise gelingt es dem Künstler, Repräsentation und Unmittelbarkeit sowie Bewegung und Festigkeit in Einklang zu bringen, und dabei jegliche Künstlichkeit im Ausdruck zu vermeiden.

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5. Sehen und gesehen werden. Serovs Auslandsreisen und ausstellungsbeteiligungen ab 1889

In den 1890er Jahren festigte Serov seine Position in der russischen Kunstszene mit den Aufträgen für das Herrscherhaus, den Hochadel und die kaufmännische Oberschicht und löste Repin als führenden Porträtisten des Landes allmählich ab. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, mit den Ausstellungen in München, Paris, Berlin, Venedig, Wien und Rom sowie mit den Erfolgen, die er mit den Ballets Russes feierte, stieg sein internationaler Bekanntheitsgrad sowie die Häufigkeit seiner Auslandsaufenthalte. Insofern ist eine Übersicht darüber, welche Länder er seit dem Ende der 1880er bereiste und in welchen europäischen Ausstellungen er präsent war, für die weitere Werkdiskussion unentbehrlich. Vorgestellt werden daher erst die Kunstwerke, die ihn auf seinen Reisen umgaben, bevor im nächsten Kapitel seine eigenen Arbeiten unter Einbeziehung seiner Seherfahrungen detailliert besprochen werden.

5.1 Die ‚erste‘ Parisreise: Exposition Universelle von 1889 Gemeinsam und absolut pleite, ohne auch nur einen Groschen zu haben [...] war es eigentlich rücksichtslos nach Paris zu fahren. Mir schien, es sei eine Sünde, diese Ausstellung zu verpassen [...]. Abgesehen vom Louvre, den ich nicht kannte, gibt es hier in Paris so viel Kunst, dass man kaum den Überblick behalten kann. In der Ausstellung war ich von ganzen Herzen froh, Bastien le Page zu sehen: ein guter Maler, vermutlich der einzige, der einen angenehmen Eindruck hinterlassen hat [...] Aber man wundert sich, wie viel Kram es gibt; und dass dieser Kram doch um einiges besser als Illustration aussieht [...]. Die Spanier enttäuschten mich mit ihrem Pradilla. Meissoniers frühe, sehr bekannte Sachen sind hervorragend, aber die neueren äußerst schlecht; noch ein bisschen und er wird wie [Bogdan] Willewalde841 sein. Mit Freude studierte ich die Landschaftsmaler: Rousseau, Daubigny und gelegentlich Corot (er ist einfach zu monoton). Troyon ist wirklich gut. Die Ausstellung ist grandios, aber nicht reizend. 841 Bogdan (Gottfried) Pavlovich Willewalde (1818/19–1903), von 1848 an Dozent der Petersburger Kunstakademie, bekannt v. a. durch seine Schlachtendarstellungen zum Sechsten Koalitionskrieg (1812–14).

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5. Sehen und gesehen werden

Was mir gefällt, sind die asiatischen Völkchen mit ihren kleinen Dörfern, Musik, Altären usw. Für mich ist das ein erstklassiges Vergnügen.842 In diesem Brief an Ostroukhov vom 29. September 1889 wird ersichtlich, dass Serov sich verpflichtet fühlte, der Exposition Universelle beizuwohnen – und das trotz der angespannten finanziellen Lage. Zu erklären ist seine ‚Rücksichtslosigkeit‘ mit der Tatsache, dass diese Ausstellung als das europäische Kulturereignis des Jahres zwischen dem 5. Mai und 5. November ca. 32 Millionen Besucher anzog.843 Zwar veranstaltete Frankreich von 1855 bis 1900 etwa alle zehn Jahre eine Weltausstellung, der Schau von 1889 wurde aber wegen der hundertjährigen Feier der Französischen Revolution eine besondere Bedeutung beigemessen. In seinem nächsten Brief an Ostroukhov – dem zweiten und letzten noch erhaltenen Bericht über die Reise in die französische Metropole – schrieb Serov, dass „sich zurzeit scheinbar so ziemlich alle in Paris aufhalten. Die Polenovs, die Tretyakovs, Maria F[eodorovna Yakunchikova], Tuchkov, Krivoshein, [Sergei Timofeievich] Morozov, die Gvozdanovichs, die Abrikosovs [und] die Sheimans.“844 Hinzuzufügen wäre an dieser Stelle, dass aus seinem engen Bekanntenkreis außerdem Repin, Nesterov, Korovin und Savva Mamontov nach Frankreich aufbrachen. Wie der Korrespondenz des Künstlers ferner zu entnehmen ist, verblieb er etwa zwei Wochen in Paris und besichtigte das Musée du Louvre, das Musée de Cluny, Notre-Dame und St. Chapelle.845 Darüber, wo er seine Neugier noch zu stillen suchte, lässt sich nur mutmaßen.846 Unbekannt ist auch, welchen Sehenswürdigkeiten seine Aufmerksamkeit in Berlin, Dresden, Nürnberg und München galt, wo er sich auf der Hinfahrt kurz aufhielt.

842 „Собственно ехать нам сюда в Париж было с моей стороны безрассудством, не имея за душою ни гроша [...]. Мне казалось упустить эту выставку грехом [...]. Вместе с Лувром, кот[орого] я не знал [sic!], здесь в Париже оказалось такая тьма по художеству, что еле разберешься. На выставке рад был всей душой видеть Basien le Page’а – хороший художник, пожалуй, единственный, оставшийся хорошо и с прятностью в памяти. [...]. Но какая масса хламу – удивительно; и настолько этот хлам иллюстрированный благообразнее, чем здесь на выставке. / Испанцы меня разочаровали со своим Прадиллой. Мейссонье, его прежние хорошо известные вещи превосходны, но последние плохи совсем, еще немножко и до [Богдана] Видевальда недалеко. С удовольствием рассматривал пейзажистов – Руссо, Добиньи, и иногда Коро (очень уж он однообразен). Тройон хорош. Выставка, надо отдать справедливость, грандиозна, но не скажу привлекательна. / Что приятно, это азиатские народцы со своими деревушками, музыкой, капищами и т. д. Для меня это первое удовольствие,“ Serov an Ilya Ostroukhov, 16.91889 (29.9.1889) aus Paris, in: STG/QS 10/5723, Moskau, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 100, S. 162–164, hier S. 162. 843 http://www.mediatheque-patrimoine.culture.gouv.fr/fr/archives_photo/visites_guidees/expo_1889.html (Stand 1.6.2015). 844 „В Париже теперь решительно все, кажется. Поленовы, Третьяковы, Мария Ф, Тучков, Кривошеин, Морозов С. Т., Гвозданович, Абрикосовы, Шейманы,“ Serov an Ilya Ostroukhov am 3.10.1889 aus Domotkanovo, in: STG/QS 10/5724, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 101, S. 164–166, hier S. 164f. 845 Ebd.; Serov an Ilya Ostroukhov am 16.91889 (29.9.1889) aus Paris, in: STG/QS 10/5723, Moskau, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 100, S. 162–164, hier S. 162. 846 Da Serov in der Rue Le Sueur 23 wohnte, ist anzunehmen, dass er dem Musée d’Ethnographie du Trocadéro (gegr. 1878) einen Besuch abstattete, um seine Kenntnisse außereuropäischer Kulturen zu vertiefen.

5.1 Die ‚erste‘ Parisreise: Exposition Universelle von 1889

Französische Kunst Die bildenden Künste nahmen in der Weltausstellung erwartungsgemäß eine prominente Stelle ein. Im speziell erbauten Palais des Beaux-Arts et des Arts libéraux veranstaltete man eine internationale Kunstausstellung und im Palais du Champ de Mars eine Exposition Centennale d’Art Français.847 Zudem fanden in einem Pavillon auf den Wiesen vor dem Palais des Beaux-Arts zwei weitere Ausstellungen statt: Exposition de la Société d’Aquarellistes Français und Exposition de la Société de Pastellistes Français.848 Als stellvertretender Kommissar der Exposition Centennale sowie der französischen Sektion der internationalen Kunstschau fungierte der den modernistischen Kreisen nahe stehende Antonin Proust, der für seine Verdienste als Journalist und Politiker im In- und Ausland großes Ansehen genoss. Auf Serov übte die Exposition Centennale wahrscheinlich die größte Anziehungskraft aus.849 Ausschließlich französischer Kunst gewidmet, zeigte sie 652 Gemälde, 558 Zeichnungen und Aquarelle, 465 Radierungen und Lithografien sowie Hunderte von Skulpturen, Gravuren, Medaillen, Miniaturen, Fächern und Architekturstudien. Von Bastien-Lepage waren 19 Gemälde und zwei Zeichnungen zu sehen, darunter Jeanne d’Arc hört den Stimmen zu850 (1879), Kommunionsmädchen851 (1875) und das Bildnis von Sarah Bernhardt852 (1879). Eine wichtige Stellung wurde mit 14 Gemälden, zwei Pastellzeichnungen, einem Aquarell und einer Porträtvorstudie dem damals bereits verstorbenen Manet eingeräumt.853 Außer der skandalumwobenen Olympia854 (1863) präsentierte man zum einen Gemälde, die in altmeisterlich dunklen Tönen gehalten wurden, wie Getöteter Toreodor855 (1864), Spanischer Sänger856 (1862), Mondschein über dem Hafen von Boulogne857 (1869) oder das elegante Hüftbild von Antonin Proust858 (1880). Zum anderen wurden Manets Werke ausgestellt, bei denen strah-

847 Exposition Universelle International de 1889 à Paris. Catalogue Général Officiel, Bd. 1, Lille: L. Danel, 1889; Catalogue Général Officiel. Beaux-Arts. Exposition Centennale d’Art Français (1789–1889), Lille: L. Danel, 1889. 848 Exposition Universelle International de 1889 à Paris... 1889, S. 312–322, Kat. 1–463 und S. 323–328, 150 nicht nummerierte Werke. 849 Catalogue Général Officiel. Beaux-Arts. Exposition Centennale d’Art Français (1789–1889)… 1889: Bastien-Lepage S. 1–2, Kat. 7–25 und S. 20, Kat. 11–12. 850 Jeanne d’Arc écoutant les voix, 1879, Öl auf Leinwand, 254 × 279,4 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, Inv. 89.21.1. 851 La Communiante, 1875, Öl auf Leinwand, 53,02 × 37,78 cm, Musée des Beaux-Arts Tournai, Inv. 1971/33. 852 Sarah Bernhardt, 1879, Öl auf Leinwand, 110 × 82 cm, Privatbesitz. 853 Catalogue Général Officiel. Beaux-Arts. Exposition Centennale… 1889: Manet S. 15, Kat. 485–498 und S. 31, Kat. 399–402. 854 Olympia, 1863, Öl auf Leinwand, 130,5 × 191 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 644. 855 The Dead Toreodor, 1864, Öl auf Leinwand, 75,9 × 153,3 cm, National Gallery of Art, Washington D. C., Inv. Widener Collection 1942.9.40. 856 The Spanish Singer, 1862, Öl auf Leinwand, 147,3 × 114,3 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, Gift of William Church Osborn, 1949, Inv. 49.58.2. 857 Clair de lune sur le port de Boulogne, 1869, Öl auf Leinwand, 81,5 × 101 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF1993. 858 Antonin Proust, 1880, Öl auf Leinwand, 129,5 × 95,9 cm, The Toledo Museum of Art, Gift of Edward Drummond Libbey, Inv. 1925.108.

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42 Édouard Manet, Frühling. Jeanne / Le Printemps. Jeanne, 1881, Öl auf Leinwand, 73 × 51 cm, The J. Paul Getty Museum, Inv. 2014.62

lende, helle Töne dominieren, wie Bootsfahrt859 (1874), Die Spargel860 (1880), Argenteuil (1875) und das Porträt von Jeanne Demarsy (Jeanne (Frühling)861, 1881, Abb. 42). Für die kommende Werkdiskussion sind darunter vor allem Kommunionsmädchen und Sarah Bernhardt von Bastien-Lepage sowie Manets Frühling. Jeanne hervorzuheben, weil sie eine Ton-in-Ton-Erforschung der weißen Farbe darstellen. Dieses koloristische Thema wurde in der Zeit gerade in den Frauenporträts immer wieder neu interpretiert. So war 1889 in Paris auch der modische Salonmaler Besnard mit einem solchen Gemälde vertreten (Madame Roger Jourdain862, 1886).863 Serov befasste sich mit dieser Farbpalette erstmals im Bildnis von Maria Yakunchikova (1885–88), sodass die Vermutung nahe liegt, dass er schon

859 Boating, 1874, Öl auf Leinwand, 97,2 × 130,2 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, H. O. Havemeyer Collections, Bequest of Mrs. H. O. Havemeyer, 1929, Inv. 29.100.115. 860 Spargel-Still-Leben, 1880, Öl auf Leinwand, 46,5 × 55 cm, Wallraf-Richarz-Museum & Fondation Corboud, Köln, Inv. WRM Dep. 318. 861 Jeanne (Frühling) / Jeanne (Frühling), 1881, Öl auf Leinwand, 74 × 51,5 cm, The J. Paul Getty Museum, Inv. 2014.62. 862 Madame Roger Jourdain, 1886, Öl auf Leinwand, 199 × 150,5 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 2302, LUX 1352. 863 Exposition Universelle International de 1889 à Paris…1889: Bernard S. 6, Kat. 109–114, hier Kat. 111.

5.1 Die ‚erste‘ Parisreise: Exposition Universelle von 1889

durch Repin (Ivan Yurkevich864, 1879) spätestens aber während seiner Europa-Reise von 1885 auf die malerischen Arrangements in Weiß aufmerksam wurde. Zu einem meisterhaften Ergebnis auf diesem Gebiet kam er im Porträt von Zinaida Yusupova865 (Taf. VIII), an dem er zwischen 1900 und 1902 arbeitete. Doch zurück zur Exposition Centennale. Außer Manet waren hier auch seine kontrovers diskutierten Künstlerfreunde zu bewundern. Monet stellte drei Gemälde aus (Die Tuilerien866, 1876). Pissarro zeigte zwei und Cézanne ein Gemälde. Von den Malern, die 1874 an der ersten Ausstellung der später als Impressionisten bekannt gewordenen Société Anonyme des Artistes, Peintres, Sculpteurs et Graveurs teilgenommen hatten, präsentierte Eugène Boudin (1824–98) drei Stadt- und zwei marine Landschaften, Stanislas Lepine (1835–92) zwei gemalte Darstellungen der Pariser Brücken, Felix Bracquemont (1833–1914) zwei und Gustave-Henri Colin (1828–1910) fünf Pastelle. Adolphe-Félix Cals (1810–80), der sich an allen vier Impressionisten-Schauen beteiligte, steuerte zwei gemalte Arbeiterinnenbilder bei. Marcellin Gilbert Desboutin (1823–1902), der 1876 beim zweiten Auftritt der Société Anonyme dabei war, war mit einem Ölporträt vertreten. Von Jean-François Raffaëlli (1850– 1924), der 1880 und 1881 zusammen mit den Impressionisten ausgestellt hatte, waren in der Exposition Centennale fünf Gemälde und ein Aquarell sowie sieben weitere Gemälde in der Exposition des Beaux-Arts zu sehen: darunter das dunkle, ganzfigurige Porträt von Edmond de Goncourt867 (1888).868 Ferner waren viele Künstler zu sehen, die der Société Anonyme nahestanden. Der Symbolist Eugène Anatole Carrière (1849–1906) zeigte in der Exposition des Beaux-Arts fünf Gemälde (Louis-Henri Devillez869, 1887). Léon Bonnat (1833–1922), in dessen Atelier Maler wie Caillebotte, Munch oder Toulouse-Lautrec Unterricht nahmen, stellte sieben Werke in der Exposition Centennale sowie zehn in der Exposition des Beaux-Arts aus, darunter Bildnisse von Alexandre Dumas870 (1886), Victor Hugo871 (1879) und Puvis de Chavannes872 (o. J.?). Henri Fantin-Latour präsentierte in der internationalen Schau fünf und in der Exposition Centen 864 Иван Юркевич, 1879, Öl auf Leinwand, 53,5 × 43,5 cm, Staatliches Abramtsevo Museum für Geschichte, Kunst und Literatur, Inv. MA KП 3969 Ж 535. 865 Kнягиня Зинаида Николаевна Юсупова, 1900–02, Öl auf Leinwand, 181, 5 × 133 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4307. 866 Les Tuileries, 1876, Öl auf Leinwand, 54 × 73 cm, Musée Marmottan, Paris, Inv. 4016. 867 Edmond de Goncourt, 1888, Öl auf Leinwand, 260 × 170 cm, Musée des Beaux-Arts de Nancy, Inv. 812. 868 Catalogue Général Officiel. Beaux-Arts. Exposition Centennale …1889: Boudin Kat. 88–90; Bracquemont Kat. 63–64; Cals Kat. 116–117; Cézanne Kat. 124; Colin Kat. 145–147; Desboutin Kat. 283; Monet Kat. 526–528; Pissarro Kat. 541–542; Raffaëlli Kat. 563–567 und Kat. 497; Exposition Universelle International…1889: Boudin S. 8, Kat 154–155; Colin S. 14, Kat. 321–322; Lepine S. 36, Kat. 905–906; Raffaëlli S. 47, Kat. 1160–1166. 869 Louis-Henri Devillez, 1887, Öl auf Leinwand, 220 × 181 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 3095. 870 Alexandre Dumas, 1886, Öl auf Leinwand, 78 × 63 cm, Musée National du Château de Versailles, Inv. RF 3846, MV 6166. 871 Victor Hugo, 1879, Öl auf Leinwand, 138 × 110 cm, Musée National du Château de Versailles, Inv. RF 2247, MV 7383. 872 Puvis de Chavannes, Datierung, Technik, Größe und Verbleib unbekannt.

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nale sechs Werke, darunter drei Porträts: Hommage an Delacroix873 (1864), Édouard Manet874 (1867) und das Doppelbildnis des Radierers Edwin Edwards und seiner Frau875 (1875).876 Folglich wurde in Paris im Jahr 1889 mit über sechzig Werken bei weitem keine umfassende, aber eine sehenswerte Zusammenstellung moderner französischer Kunst geschaffen. Eine wichtige Position wurde zudem ihren Vorgängern, den Barbizon-Malern eingeräumt, die Serov eingehend studierte. Zahlreiche Bilder kamen von Millet, Troyon, Ziem, Harpignies und Dupré.877 Weitere 20 Landschaften stammten von Theodor Rousseau und 14 von Daubigny. Corot hatte mit insgesamt 44 Gemälden und acht Zeichnungen eine überragende Präsenz: Abgesehen von einigen Figurenbildern wie Mädchen mit der Perle878 (ca. 1868–70?), überwogen in dieser  – von Serov zu Recht als „monoton“ wahrgenommenen  – Bilderauswahl pittoreske, zum Teil durch idyllische Genremotive und mythologische Themen romantisch verklärte Landschaftsszenerien. Einen starken Akzent legte man auch auf die französischen Klassiker neueren Datums. Die Exposition Centennale glänzte mit neun Gemälden und fünf Zeichnungen von David, mit sieben Gemälden, einer Ölstudie, einem Aquarell, einem Tuschebild und 25 Zeichnungen von Ingres, mit 21 Gemälden, sechs Aquarellen und zehn Zeichnungen von Delacroix und mit zwölf Gemälden und zwei Zeichnungen von Courbet.879 Außer Davids Madame ­Récamier880 (1800, Abb. 43) – die in der Besprechung von Sophia Botkina881 (1899, Taf. IX) noch erwähnt wird – könnten Serov Ingres’ feinlinige Porträts (Lorenzo Bartolini882, 1820;

873 Hommage à Delacroix, 1864, Öl auf Leinwand, 160 × 250 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. 1664. 874 Édouard Manet, 1867, Öl auf Leinwand, 117, 5 × 90 cm, The Art Institute of Chicago, Stickney Fund, Inv. 1905.207. 875 Mr and Mrs Edwin Edwards, 1875, Öl auf Leinwand, 130,8 × 98,1 cm, National Gallery, London, Dauerleihgabe der Tate Gallery, Inv. L702. 876 Catalogue Général Officiel. Beaux-Arts. Exposition Centennale …1889: Bonnat S. 3, Kat. 70–76 und S. 21, Kat. 53; Carrière S. 6, Kat. 264–268; Fantin-Latour S. 10, Kat. 337–340; Exposition Universelle International de 1889 à Paris… 1889: Bonnat S. 7, Kat. 136–145; Fantin-Latour S. 22, Kat. 545–549. 877 Catalogue Général Officiel. Beaux-Arts. Exposition Centennale… 1889: Corot S. 6, Kat. 144–191 und S. 23, Kat. 115–122; Daubigny S. 7, Kat. 217–227 und S. 24, Kat. 131–133; Dupré S. 10, Kat. 321–332 und S. 26, Kat. 201–206; Harpignies S. 12, Kat. 409–411; Millet S. 16, Kat. 513–525; Theodor Rousseau S. 18, Kat. 600–615 und S. 35, Kat. 518–521; Troyon S. 19, Kat. 627–636 und S. 35, Kat. 535; Ziem S. 20, Kat. 652 und S. 36, Kat. 556–558; Exposition Universelle International de 1889 à Paris... 1889: Dupré, S. 21, Kat. 516–519; Harpignies S. 29, Kat. 733–740 zzgl. zwei nicht nummerierte Werke. Des Weiteren stellte Harpignies elf Aquarelle in der Exposition de la Société d’Aquarellistes Français aus, in: ebd., S. 317, Kat. 201–211. 878 La Femme à la perle, 1868, Öl auf Leinwand, 70 × 55 cm, Musée du Louvre, Paris, Inv. RF 2040. 879 Catalogue Général Officiel. Beaux-Arts. Exposition Centennale... 1889: Courbet S. 7, Kat. 200–211 und S. 23, Kat. 126–127; David S. 7f., Kat. 234–242 und S. 24, Kat. 142–146; Delacroix S. 8, Kat. 250–270 und S. 24f., Kat. 156–172; Ingres S. 13, Kat. 439–445 und S. 29f., Kat. 328–355. 880 Madame Récamier, née Julie (dite Juliette) Bernard (1777–1849), 1800, Öl auf Leinwand, 174 × 244 cm, Musée du Louvre, Paris, Inv. 3780. 881 София Михайловна Боткина, 1899, Öl auf Leinwand, 189 × 139,5 cm, sign. und dat. links unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4314. 882 Lorenzo Bartolini, 1820, Öl auf Leinwand, 108 × 86 cm, Musée du Louvre, Paris, Inv. 1942-24.

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43 Jacques-Louis David, Madame Récamier, née Julie (dite Juliette) Bernard (1777–1849), 1800, Öl auf Leinwand, 174 × 244 cm, Musée du Louvre, Paris, Inv. 3780

Schöne Zélie883, 1806) und dessen Zeichnungen interessiert haben. Schließlich bekundete er wiederholt seine Bewunderung für Ingres, besonders für dessen Strichmanier und forderte seine Schüler dazu auf, diese genau zu studieren.884 Da er eine große Anzahl an Ingres’ Zeichnungen nur in Paris 1889 und 1900 hätte sehen können, musste seine eingehende Kenntnis davon auf den visuellen Eindrücken beruhen, die er dort gewonnen hatte. Kaum zu übersehen gewesen wäre für ihn Delacroix, von dem schwungvoll gemalte Bilder wie die furiose Tigerjagd885 (1854) sowie monumentale Historien von exquisitem Kolorit zu sehen waren. Nicht unbemerkt werden von ihm Courbets Schlafende Spinnerin886 (1853), Die jungen Mädchen am Ufer der Seine887 (1856/58) oder Frau mit Papagei888 (1866) geblieben sein, welche sich durch virtuose Umsetzung der stofflichen und körperlichen Fülle auszeichnen. Mit Sicherheit darf angenommen werden, dass sein Augenmerk auf Courbets

883 La Belle Zélie, 1806, Öl auf Leinwand, 49 × 59 cm, Musée des Beaux-Arts de Rouen, Inv. 870.1.1. 884 Nikolai Ulyanov, Vospominaniia o Serove, in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 113–190, hier S. 144; Henrietta Hirschman, Moi vospominaniia o Serove, in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 324–344, hier S. 333. 885 Chasse au tigre, 1854, Öl auf Leinwand, 73 × 92,5 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 1814. 886 La Fileuse endormie, 1853, Öl auf Leinwand, 81 × 65 cm, Musée Fabre, Montpellier. 887 Les Demoiselles des bords de la Seine, 1856/58, Öl auf Leinwand, 174 × 206 cm, Musée du Petit Palais, Paris, Inv. P. P.P. 377. 888 Woman with a Parrot, 1866, Öl auf Leinwand, 129,5 × 195,6 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, H. O. Havemeyer, Bequest of Mrs. H. O. Havemeyer, Inv. 29.100.57.

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44 Gustave Courbet, Hector Berlioz, 1850, Öl auf Leinwand, 60,5 × 48,3 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 2320

schlichtem und mehrfach ausgestelltem Brustbildnis von Hector Berlioz889 (1850, Abb. 44) lag, das den Komponisten als einen desillusionierten Mann darstellt: Inhaltlich wie formal lassen sich darin Parallelen zu Serovs Porträt des Opernsängers Angelo Masini890 (1890, Abb. 45) erkennen, das kurz nach der Paris-Reise entstand. Erwartungsgemäß waren in der Exposition Universelle viele erfolgreiche Salonmaler ausgestellt. Hervorzuheben ist an dieser Stelle Carolus-Duran: neun (sic!) von zwölf hier präsentierten Gemälden waren Porträts.891 Für Serov – wie für viele andere aufstrebende

889 Hector Berlioz, 1850, Öl auf Leinwand, 60,5 × 48,3 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 2320. 890 Анжело Мазини, 1890, Öl auf Leinwand, 89 × 70 cm, sign. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 24787. 891 Exposition Universelle International de 1889 à Paris… 1889: Carolus-Duran S. 11, Kat. 254–263.

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45 Angelo Masini / Анжело Мазини, 1890, Öl auf Leinwand, 89 × 70 cm, STG, Moskau, Inv. 24787

Porträtmaler – mussten sie geradezu zwangsläufig ein Blickfang gewesen sein. Ein Vergleich zwischen Carolus-Durans Gräfin Vandal892 (1879, Abb. 46), einem Bild, das im Ausstellungskatalog893 von François Guillaume Dumas als Erstes abgebildet wurde, und Serovs Feodor Chaliapin894 (1905, Abb. 47) scheint dies sogar zu belegen. Chaliapins überspitzt aufrechte Haltung und scharfe Oberkörperdrehung, die an die Brust geführte linke Hand und der leidende Gesichtsausdruck stimmen mit dem affektierten Posieren von Vandal spiegelbildlich 892 Portrait de Mme la comtesse Vandal, 1879, Öl auf Leinwand, Größe und Verbleib unbekannt. 893 François Guillaume Dumas (Hg.), Exposition Universelle de 1889. Catalogue Illustré des Beaux-Arts (1789– 1889), Lille: L. Danel, 1889, S. 6, Nr. 254; Abb. 1. 894 Федор Иванович Шаляпин, 1905, Kohle, weiße Kreide auf grundierter Leinwand, 235 × 133 cm, sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 27807.

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46 Charles Auguste Émile Carolus-Duran, Mme la comtesse Vandal, 1879, Öl auf Leinwand, Größe und Verbleib unbekannt, abb. in: Dumas 1889, S. 6, Nr. 254, 1

überein. Ferner ist das in schwarzer Kohle und weißer Kreide gezeichnete Bildnis Serovs beinah ein genaues Negativ der Schwarz-Weiß-Abbildung aus Dumas’ Publikation. Zugegeben, auf einen uneingeweihten Betrachter wirkt Chaliapins elegante Haltung wie eine mise en scène. In Serovs Umfeld wird man darin möglicherweise auch eine Anspielung auf die Diva-Allüren des berühmten Opernsängers gesehen haben. Ein weiteres Werk von Carolus-Duran, das Bildnis von Lucy Lee-Robbins895 (1884), diente vielleicht als Anregung für Serovs Zinaida Morits896 (1892, Abb. 109). Kompositionell bestehen zwischen den beiden Bildern mehrere Gemeinsamkeiten: die schräg gehängte, changierende Draperie im Hintergrund, die Haltung der Figur und ein Federzaum um die

895 Lucy Lee-Robbins, 1884, Öl auf Leinwand, 169,5 × 121,9 cm, Chrysler Museum of Art, Gift of Walter P. Chrysler, Jr., Norfolk, Inv. 71.627. 896 Зинаида Мориц, 1892, Öl auf Leinwand, 81 × 83 cm, Kunstmuseum, Ivanovo, Ж-116.

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47 Feodor Chaliapin / Федор Иванович Шаляпин, 1905, Kohle, weiße Kreide auf grundierter Leinwand, 235 × 133 cm, STG, Moskau, Inv. 27807

Schulter. Die Analogie zu Carolus-Duran ist hier auch insofern zutreffend, als das Morits-Bildnis dem Künstler in der Forschung den Vorwurf einbrachte, sich vom Salonglanz beinah verführt haben zu lassen.897 Da Serov jedoch sein Modell weder idealisierte noch eine oberflächliche Aufwertung des Motivs mittels kostbarer Materialien anstrebte, hält dieser Vorwurf nicht stand. Die Ernsthaftigkeit von Morits erweckt eine andere Stimmung als das flirtende Lächeln von Lee-Robbins. Bei der Wiedergabe der Stoffe fokussierte sich Serov primär auf die malerischen Aufgaben wie die Farbnuancierung zwischen dem Lila der Draperie und dem dadurch schimmernden Ocker sowie die Hell-Dunkel-Dynamik zwischen dem lokalen Schwarz des Kleides und dem differenzierten Elfenbeinweiß der Stola.898

897 Leniashin 1980, S. 33. 898 Bakushinsky 1935, S. 106.

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Folglich lässt sich resümieren, dass Serov beim Studieren seiner französischen Kollegen sein Augenmerk zwar auf Bastien-Lepage oder Carolus-Duran richtete, die eigenen Werke aber weder süßlich sentimental noch überspitzt narrativ gestaltete. Im Gegenteil, sein Interesse galt der ausgewogenen Form- und Farbkomposition, der Erforschung der malerischen und zeichnerischen Mittel und dem damit erzeugten Ausdruck. In dieser Hinsicht stand er den Modernisten wie Manet näher als den beiden oben genannten gefeierten Salon­ malern. Die Vereinigten Staaten Wenngleich das Gastgeberland in der Kunstausstellung zahlenmäßig deutlich überragte, sorgten auch andere Sektionen für Aufsehen. In erster Linie waren es die Amerikaner, die mit 572 Werken die größte ausländische Abteilung hatten.899 William Merritt Chase, der Präsident der Society of American Artists (1877–1906), reichte dafür acht thematisch wie farbig sehr unterschiedliche Gemälde ein: darunter die im dezidierten Grauweiß gehaltene Bucht von Gowanus900 (ca. 1887), der fröhlich bunte Park901 (ca. 1888) sowie zwei Frauendarstellungen, die eine zwischen Schwarz, Braun, Blau und Ocker nuancierte Farbskala aufweisen (Mrs. Marietta Benedict Cotton902, 1888; Das erste Porträt903, ca. 1888).904 Im letzteren Bild ließ er die Frauengestalt sogar fast vollständig mit ihrer dunklen Umgebung verschmelzen und die Gewandornamente wie Sterne hervorglitzern. Ein weiteres, noch raffinierteres Arrangement in Schwarz zeigte Whistler mit seinem Porträt der Lady Archibald Campbell905 (ca. 1883), das in der britischen Sektion zu sehen war.906 Zu dem Zeitpunkt war es bereits mehrfach ausgestellt worden – 1884 in London, 1885 in Paris und 1888 in München – und gehörte zu Whistlers bekanntesten Arbeiten.907 In subtilen, bläulich-bräunlichen Schwarztönen gestaltet und mit goldenem Ocker kombiniert, strahlt es eine geheimnisvolle Stimmung aus. Diese Art von Malerei, bei der unter dem Einsatz einer limitierten Palette eine reizvolle Farbdifferenzierung kreiert wird, ist ein wichtiger Berührungspunkt zwischen dem Schaffen 899 Exposition Universelle International de 1889 à Paris… 1889: Etats-Unis S. 173–194, Kat. 1–572; Annette Blaugrund, Preface, in: Eisenstein 1990, S. 9–31, hier S. 14. 900 Gowanus Bay, ca. 1887, Öl auf Holz, 26 × 40 cm, Christie’s, Sale 1838, Lot 99, 24.5.2007. 901 A City Park, ca. 1888, Öl auf Leinwand, 34,6 × 49,8 cm, The Art Institute of Chicago, Inv. Bequest of Dr. John J. Ireland, 1968.88. 902 Portrait of a Lady in Black, 1888, Öl auf Leinwand, 188,6 × 92,2 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, Gift of William Merritt Chase, Inv. 91.11. 903 The First Portrait, ca. 1888, Öl auf Leinwand, 178,1 × 102 cm, The Museum of Fine Arts, Houston, Gift of Ehrich Newhouse Gallery, New York. 904 Exposition Universelle International de 1889 à Paris… 1889: Chase S. 175, Kat. 49–56. 905 Arrangement in Black: The Lady in the Yellow Buskin (Lady Archibald Campbell), ca. 1883, Öl auf Leinwand, 215 × 109,7 cm, Philadelphia Museum of Art, W. P. Wilstach Collection, Inv. W1895-1-11. 906 Exposition Universelle International de 1889 à Paris... 1889: Whistler S. 206, Kat. 165–166 und S. 218, Kat. 459 als eine Katalognummer für neun Radierungen. 907 Siehe dazu: Eisenstein 1989, S. 229.

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der Künstler wie Whistler oder Chase und dem Serovs. Wie die Werkdiskussion noch zeigen wird, entwickelte Serov vielfach solche tonalen Konzepte nicht nur im weißen, sondern vor allem im schwarzen Farbspektrum. Gerade diese Bilder stellen ihn als einen überragenden Maler heraus, denn mit dunklen Farben Ton-in-Ton zu arbeiten, heißt, auf all die Elemente zu verzichten, mit denen es leichter fällt, Spannung zu erzeugen: auf den sicheren Halt der Linie, auf die dekorativen Farbkontraste und auf den narrativ ausgestatteten Raum. Sargent, der ebenfalls viele tonale Kompositionen erschuf, glänzte in der Weltausstellung jedoch mit sechs repräsentativen Auftragsporträts: Töchter von Edward Darley Boit908 (1882), Mrs. Edward Darley Boit909 (1888), Mrs. Henry White910 (1883), Misses Vickers911 (1884), Mrs. Benjamin Kissam912 (1888) und Mrs. Elliott Fitch Sherpard913 (1888).914 Diese elegante Werkreihe brachte Sargent, der 15 Jahre zuvor nach Paris gekommen war, um bei Carolus-Duran zu studieren, eine Ehrenmedaille und die Auszeichnung des Chevaliers der Légion d’Honneur ein, womit er seine Stellung unter den erfolgreichsten Porträtmalern Europas und Amerikas endgültig festigen konnte. Mit der Gefälligkeit der modischen Gewänder, mit der makellosen Haut und den Schwanenhälsen seiner Modelle gewann er die Herzen des Pariser Salonpublikums. Eine Ausnahme in dieser Zusammenstellung bildete das Porträt der Töchter von Sargents Malerfreund Edward Darley Boit. Sargent wählte dafür ein quadratisches Format und situierte die vier Mädchen im geräumigen Foyer ihres Familienappartements zwischen den japanischen Vasen, dem roten Paravent und dem Durchgang in den verschatteten Salon: asymmetrisch, in ruhiger Haltung, wie Schachfiguren auf einem Brett.915 Schlicht und adrett gekleidet, mit Gesichtern voller Ernst, erscheinen sie als eigenwillige Persönlichkeiten und erinnern damit an Serovs unmittelbar und authentisch wirkende Kinderbildnisse. Eines der interessantesten Porträts der amerikanischen Sektion, das schmale Hüftbild des Malers William Walton916 (1886), stammt von James Carroll Beckwith (1852–1917), ­einem weiteren Schüler von Carolus-Duran.917 Es zeigt Walton kultiviert, abgeklärt und ent 908 The Daughters of Edward Darley Boit, 1882, Öl auf Leinwand, 221,93 × 222,57 cm, Boston Museum of Fine Arts, Inv. 19.124. 909 Mary Louisa Cushing, 1888, Öl auf Leinwand, 152,4 × 108,58 cm, Boston Museum of Fine Arts, Gift of Mrs. Julia Overing Boit, Inv. 63.2688. 910 Mrs. Henry White, 1883, Öl auf Leinwand, 225,1 × 143,8 cm, Corcoran Gallery of Art, Washington D. C., Inv. 49.4. 911 Misses Vickers, 1884, Öl auf Leinwand, 137,8 × 182,9 cm, Sheffield Galleries and Museum Trust, Inv. VIS. 2601. 912 Mrs. Benjamin Kissam, 1891, Öl auf Leinwand, 151,8 × 91,4 cm, Biltmore Estate. 913 Mrs. Elliott Fitch Sherpard, 1888, Öl auf Leinwand, 214,6 × 123,2 cm, San Antonio Museum of Art, Inv. 84.57. 914 Exposition Universelle International… 1889: Sargent S. 181, Kat. 262–267. 915 Sargents Bildnis war in Russland offenbar bekannt. So findet sich bei Vasily Ivanovich Komarov (1868–1918) das Porträt der sechsjährigen Valia Khodasevich (1900, Öl auf Leinwand, 71,5 × 142,5 cm, STG, Inv. 4525), deren Haltung mit der Haltung der vierjährigen Julia Darley Boit identisch ist. 916 William Walton, 1886, Öl auf Leinwand, 120,3 × 71,5 cm, The Century Association, New York, Schenkung von Herbert Satterlee, Inv. 1918.1. 917 Exposition Universelle International... 1889: Beckwith S. 173, Kat. 9–11, hier Kat. 10.

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schlossen: Er steht in einem schwarzen Dreiteiler frontal vor einer tiefroten Wand, die mit impressionistischen Studien bedeckt ist, seine rechte Hand ist in die Hosentasche gesteckt, in der Linken hält er eine Zigarette. Dieses Porträt, das im Kontext des Künstlerbildnisses in Serovs Œuvre noch zur Sprache kommen wird, brachte Beckwith viel Lob von seinem ehemaligen Lehrer ein, der es zum besten Bildnis erklärte, das jemals aus Amerika kam.918 Zu den weiteren Ausstellern gehörten Ralph Curtis (Ansicht von Venedig919, 1884), Gari Melchers, Cecilia Beaux, Thomas Eakins (George F. Barker920, 1886) und der für seine bemerkenswerte tonale Malerei bekannte Thomas Dewing (1851–1938).921 Dewings Lady in Gelb922 (1888), deren gelbes Tüllkleid den Betrachterblick völlig vereinnahmt, verdient im Zusammenhang mit Serov ebenfalls Beachtung, denn zehn Jahre später wird Serov mit Sophia Botkina (1899, Taf. IX) seine eigene, wesentlich gewagtere ‚Lady in Gelb‘ erschaffen. Sicherlich darf Botkina – ähnlich wie Zinaida Yusupova – keinesfalls einzig auf hier erwähnte flüchtige, vielleicht gar unbewusste Pariser Begegnungen zurückgeführt werden, sondern ist als ein Kondensat mannigfacher Eindrücke zu verstehen. Vergleiche wie diese machen vielmehr deutlich, dass sich geografisch sehr unterschiedlich positionierte Künstler den gleichen malerischen Aufgaben stellten und damit über dem nationalen Kontext standen. Grundsätzlich zeigen die thematischen und stilistischen Parallelen zwischen Serov und den oben aufgelisteten Amerikanern, dass sie künstlerisch ähnlich agierten. Zum einen ist das auf die gestiegene Mobilität sowie auf die rasante Entwicklung der Bildvervielfältigungstechniken zurückzuführen. Zum anderen offenbart es ihre Weltoffenheit und das Besinnen auf die gleichen Vorbilder. Den kosmopolitischen Charakter im Schaffen Serovs veranschaulichen umso mehr die Gemeinsamkeiten zwischen seinem künstlerischen Werdegang und dem der amerikanischen Maler. So hatten alle oben aufgeführten Künstler eine enge Verbindung zu Europa und ließen sich in Paris aus- oder weiterbilden. Für Maler wie Melchers bildete zudem die Düsseldorfer Akademie eine wichtige Station ihres Kunststudiums, während Sargent, Curtis und Whistler ihre kreativen Impulse aus Italien schöpften. Auch in Holland suchten viele – darunter Chase, Melchers oder Sargent – nach Inspiration. Wie zuvor eingehend erläutert, spielten dieselben vier Länder eine prägende Rolle in Serovs künstlerischer Entwicklung.

918 Barbara Dayer Gallati, James Carrol Beckwith, William Walton, 1886, in: Philipp/Westheider 2008, S. 114f., hier S. 114, Kat. 17. 919 Drifting on the Lagoon, 1884, Öl auf Leinwand, 64 × 94,5 cm, Privatbesitz, courtesy Richard York Gallery, New York. Im Katalog der Exposition Universelle als Vue à Venise betitelt. 920 George F. Barker, 1886, Öl auf Leinwand, 152,4 × 101,6 cm (heute gekürzt auf 83,82 × 73,66 cm), Gift of Mr. and Mrs. S. Alden Perrine, Coll. of the John R. and Elenaor R. Mitchel Foundation, Cendarhurst Center for the Arts, Mount Vernon (Ill.), Inv. 1973.6.01a. 921 Exposition Universelle International… 1889: Beaux S. 173, Kat. 8; Dewing S. 176, Kat. 87, Eakins S. 177, Kat. 97–99, hier Kat. 97; Melchers S. 181, Kat. 207–210. 922 Lady in Yellow, 1888, Öl auf Holz, 50,2 × 40 cm, Isabella Gardner Museum, Boston, Inv. P1w3.

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Deutschlands unabhängige Abteilung von Karl Koepping, Max Liebermann und Gotthard Kuehl Im Gegensatz zu der amerikanischen fiel die deutsche Beteiligung mit nur 64 Gemälden, 25 Aquarellen, Gouachen und Zeichnungen, vier Skulpturen und neun Gravuren sehr bescheiden aus.923 Diese geradezu schockierende Zurückhaltung war auf die Entscheidung des deutschen Kaiserhauses zurückzuführen, das die Teilnahme wegen der hundertjährigen Feier der Französischen Revolution absagte. Daher organisierten Karl Koepping, Max Liebermann und Gotthard Kuehl – der persönlichen Bitte von Antonin Proust folgend – eine unabhängige Sektion mit circa 40 Teilnehmern, wofür sie in Deutschland vom freisinnigen Bürgertum gefeiert und von chauvinistischen Kreisen scharf kritisiert wurden.924 Koepping war das einzige Mitglied des Organisationskomitees, das zu dieser Zeit in Paris wohnte. Daher spielte er bei der Kommunikation mit Proust vermutlich eine führende Rolle. Er selbst reichte vier Radierungen ein: zwei Blätter nach Rembrandts Bildern Die Vorsteher der Tuchmacherzunft (1662) und Bildnis eines alten Mannes (?), ein Blatt nach Mihály Munkácsys monumentalem Historienbild Christus am Kalvarienberg925 (1884) und eine weitere Radierung nach Georges Clairins ironisierender Darstellung einer modischen Kokotte (Frou Frou926, 1882).927 Dem Catalogue Général – den Serov zweifelsohne konsultierte – ist zu entnehmen, dass Koepping in der Zeit in Impasse Hélène 15 lebte. Damit stellt sich die Frage, ob Serov seinem ersten Kunstlehrer einen Besuch abstattete: Fühlte er sich diesem doch innerlich verbunden und durch den Anblick der Radierung Die Vorsteher der Tuchmacherzunft vermutlich auch an die gemeinsame Reise nach Amsterdam erinnert. Außer Koepping waren Serov viele andere Künstler in der deutschen Sektion spätestens seit seinem Aufenthalt in München und Antwerpen im Jahr 1885 ein Begriff. Leibl präsentierte sechs Gemälde und vier Zeichnungen, Menzel sechs Gouachen, Kuehl sechs Gemälde, Trübner und von Uhde jeweils drei. Des Weiteren waren hier Stuck, Firle und Keller zu sehen.928 Liebermann zeigte sechs Genrebilder, die durch seine Holland-Aufenthalte inspiriert waren. Neben der Stopfenden Alten am Fenster (1880) gehörten dazu die impressionistisch anmutenden Gemälde Der Hof des Waisenhauses in Amsterdam929 (1881/82) und Die Netzflicke-

923 Exposition Universelle International... 1889: Allemagne S. 143–147, Kat. 1–101. 924 Kühnel, in: Turner 1996, Bd. 18, S. 237; Matthias Eberle, Max Liebermann: 1847–1935, Werkverzeichnis der Gemälde und Ölstudien, München: Hirmer, 1995, Bd. 1, S. 18. 925 Golgota, 1884, Öl auf Leinwand, 460 × 712 cm, Déri Museum, Debrecen, Leihgabe aus Privatbesitz. 926 Frou Frou, 1882, Öl auf Leinwand, 241,3 × 140,9 cm, Christie’s Sale 2696, 29.4.2013, Lot 28. 927 Exposition Universelle International… 1889: Koepping S. 147, Kat. 94–97. 928 Exposition Universelle International… 1889: Firle S. 143, Kat. 5; Kalckreuth S. 143, Kat. 13; Keller S. 143, Kat. 14–15; Kuehl S. 144, Nr. 16–21; Leibl S. 144, Nr. 22–27, S. 145, Nr. 69–72; Menzel S. 146, Kat. 73–78; Stuck S. 146, Kat. 84; Trübner S. 145, Kat. 57–59; Uhde S. 145, Kat. 60–62. 929 Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus, 1881/82, Öl auf Leinwand, 79 × 108 cm, Städel Museum, Frankfurt a. M., Inv. 1351.

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rinnen930 (1887–89).931 Letzteres wurde von Wilhelm von Bode, dem zukünftigen Direktor der Berliner Gemäldegalerie, gegenüber Alfred Lichtwark, dem Direktor der Hamburger Kunsthalle, als „das bedeutendste Werk der deutschen Abteilung“ hervorgehoben und von Lichtwark kurz darauf für die Hamburger Sammlung erworben.932 Die Deutschen zeichneten sich also weder durch Objektmenge noch durch provozierende Modernität aus. Ihre Sektion bot dennoch einen Einblick in die aktuellen Trends der jungen deutschen Malerei. Dass diese Kunst bei den bewanderten Parisern auf Anerkennung stieß, verdeutlichen die von der Ausstellungsjury an Liebermann, Koepping und Uhde verliehenen Ehrenmedaillen und die an Leibl verliehene Medaille 1. Klasse. Niederlande, Italien, Dänemark und Norwegen Die Niederlande, die 288 Werke zusammenstellten, präsentierten zahlreiche Künstler, die Serov während seiner Europa-Reise von 1885 bzw. in russischen Privatsammlungen hatte studieren können, darunter Breitner, Jozeph Israëls, Jacob und Willem Maris, Mauve, Mesdag, Roelofs und Tholen.933 In der italienischen Sektion, die an die 400 Werke zeigte, hätte er wiederum seine Kenntnisse über diejenigen Künstler festigen können, mit denen er sich in der Antwerpener Weltausstellung (1885) und in der Esposizione nationale artistica in Venedig (1887) vertraut gemacht hatte: Bezzi, Boldini, Carcano, Ciardi, Fattori, Favretto, Lega, Rossi, Segantini, Zandomeneghi und Troubetzkoy.934 Von Carcano kamen fünf Gemälde, darunter das Maiskolbenschälen (1886), das er 1887 in Venedig ausgestellt hatte. Segantini stellte seinerseits seine lichterfüllten, divisionistischen Meisterwerke aus: die symbolistische Mutter-Kind-Darstellung Die Frucht der Liebe935 (1889) und die idyllisch überhöhte Genreszene An der Tränke936 (1888), die ihm die Medaille 1. Klasse einbrachte. Die dänische Abteilung, die 274 Werke enthielt, übte mit Blick auf Vilhelm Hammershøi (1864–1916), Peder Severin Krøyer (1851–1909), Anna Ancher (1859–1935) und Thorvald Niss (1842–1905) auf viele Besucher einen großen Reiz aus und es ist plausibel anzunehmen,

930 Die Netzflickerinnen, 1887–89, Öl auf Leinwand, 180,5 × 226 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv. 1580. 931 Exposition Universelle International… 1889: Liebermann S. 144, Kat. 28–33. 932 Stefan Pucks, „Caviar für’s Volk?“ Max Liebermanns Förderer und Sammler in Deutschland, in: Dorothee Hansen/ Anne Röver-Kann (Hg.), „Nichts trügt weniger als der Schein“ Max Liebermann der deutsche Impressionist, AK Bremen, Kunsthalle Bremen 16.12.1995–24.3.1996, München: Hirmer, S. 44–49, hier S. 45. 933 Exposition Universelle International… 1889: Pays-Bas S. 149–260, Kat. 1–288. 934 Exposition Universelle International… 1889: Italie S. 228–241, Kat. 1–327. Dumas’ Katalog führt eine größere Zahl der Werke in der italienischen Abteilung auf (S. 93–101, Kat. 1–393). Vermutlich reichten die Italiener mehr Bilder ein, als zunächst geplant war bzw. gemeldet wurde. Daher dient Dumas’ Katalog als Referenz für die weiteren Angaben zur italienischen Sektion. 935 Die Frucht der Liebe, 1889, Öl auf Leinwand, 88,2 × 57,2 cm, Museum der bildenden Künste, Leipzig; Dumas 1889, S. 97, Kat. 184–190, hier Kat. 187. 936 An der Tränke (Kühe im Joch), 1888, Öl auf Leinwand, 84,1 × 141,2 cm, Kunstmuseum Basel, Depositum der Gottfried Keller Stiftung 1904, Inv. 563; Dumas 1889, S. 97, Kat. 184–190, hier Kat. 189.

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dass Serov in dieser Hinsicht keine Ausnahme war.937 Krøyer, der führende Pleinairist des Landes, zeigte das dynamische Porträt des Architekten Ferdinand Meldahl938 (1882) und das Gruppenbildnis Hip, hip hurra! Künstlerfest in Skagen939 (1886), in dem er die Skagenmaler-Gemeinschaft bei einem ausgelassenen Gartenfest dargestellt hatte. Vom „heimlichen König der dänischen Malerei“940 Hammershøi kamen vier stille, surreal anmutende, nebelige Gemälde, die von Bewunderung für Vermeer zeugten und zugleich in ihrer an Abstraktion grenzenden Schlichtheit ausgesprochen modern wirkten (Junges Mädchen941, 1887). Anziehend muss auf Serov auch Norwegen gewirkt haben, denn vier Jahre zuvor war er von der norwegischen Kunst in Antwerpen zutiefst beeindruckt gewesen.942 In Paris stellten die Norweger 143 Werke aus. Mit jeweils drei Gemälden waren Krohg und Thaulow vertreten, während Munch, der im gleichen Jahr in Kristiania in seiner ersten Einzelausstellung 63 Gemälde und 46 Zeichnungen zeigte, nur das zwischen Weiß, Grau und Blau angelegte Gemälde Morgen943 (1884) nach Frankreich schickte. Bereits diese knappe Beschreibung der einzelnen Sektionen bestätigt, dass die Pariser Weltausstellung eine kompakte und fundierte Übersicht über die aktuellen Trends in der europäischen Malerei bot, wenngleich die radikalsten Neuerer wie van Gogh oder Gauguin hier noch nicht Einzug fanden. Außerdem fällt auf, dass sich das Thema Licht wie ein roter Faden durch beinah alle Kunstabteilungen der Exposition Universelle zog. In einigen Werken wurde das Licht betont physikalisch studiert (Liebermann, Curtis), in anderen symbolisch überhöht (Segantini); es erschien mal blendend (Manet, Segantini), mal diffus und kühl (Hammershøi), als ein in bunte Farbflecken umgewandeltes Sonnenlicht (Manet, Chase, Krøyer), als geheimnisvolles Funkeln (Whistler, Chase) oder als warmes rembrandteskes Schimmern (Jozeph Israëls). Wie sich in der obigen Werkdiskussion herausstellte, deklinierte Serov dieses Thema seit Mitte der 1880er Jahre in immer neuen motivisch wie thematisch sehr unterschiedlichen Varianten. Mit Blick auf die 1889 in Paris gezeigten Werke lässt sich festhalten, dass der vierundzwanzigjährige Künstler trotz seines jungen Alters in seinen Lichtexperimenten mit den westeuropäischen Kollegen inzwischen Schritt halten konnte.

937 Exposition Universelle International… 1889: Anna Ancher S. 156, Kat. 2–5; Hammershøi S. 157, Kat. 44–47; Krøyer S. 158, Kat. 32–38; Niss S. 159, Kat. 103–107. 938 Ferdinand Meldahl, 1882, Öl auf Leinwand, 87 × 68,5 cm, Det Nationalhistoriske Museum på Frederiksborg Slot, Hillerød, Inv. 9090. 939 Hip hip hurra! Kunstnerfest på Skagen, 1888, Öl auf Leinwand, 134,5 × 165,5 cm, Göteborgs Konstmuseum, Inv. F62. 1889 unter dem Titel „Hip, hip, hip, hurra, hurra, hurra!“ ausgestellt (Dumas 1889, S. 72, Nr. 86). 940 Julius Elias, Vilhelm Hammershøi, in: Kunst und Künstler, Jg. 14, Nr. 8, 1916, S. 403–408, hier S. 404. 941 Ung pige, der syr, 1887, Öl auf Leinwand, 37 × 35 cm, Ordruppgaardsamlingen, Kopenhagen, Inv. WH 46. 942 Exposition Universelle International… 1889: Norvége, S. 242–248, Kat. 1–143. 943 Morgen, 1884, Öl auf Leinwand, 96,5 × 103,5 cm, Kunstmuseene i Bergen, Bergen Kunstmuseum, Rasmus Meyer Samligner, Inv. RMS.M.00236.

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Russland Die russische Abteilung ist aber eine Schande. Makovsky drückt nichts aus, die anderen sind ebenfalls schlecht, dafür sind die Engländer, Finnen und Norweger hervorragend und Amerika ist originell und gut.944 Mikhail Nesterov aus Paris, August 1889 Während die neueste russische Musik in Paris durch zwei moderne, von Nikolai Rimski-Korsakov dirigierte Konzerte und durch vier Auftritte der Volksmusiker der Slavyanskaya kapella (Slawische Kapelle) im Jahr 1889 einen nachhaltigen Eindruck hinterließ, erregten die bildenden Künste zu Recht sehr wenig Aufmerksamkeit.945 Obwohl die Russen – trotz der offiziellen Absage – immerhin 205 Kunstwerke exponierten, bot ihre Sektion im Unterschied zu den anderen Abteilungen keinesfalls einen repräsentativen Überblick über die führenden Künstlergruppierungen, von den Vertretern der jungen Generation ganz zu schweigen. Zu den Teilnehmern zählten Ivan Aivazovsky, Alexei Harlamoff, Ivan Kramskoi, Nikolai Kuznetsov, Illarion Prianishnikov sowie Konstantin und Vladimir Makovsky. Innovatoren wie Ghe, Levitan, Polenov, Repin, Surikov, Vrubel oder Serov wurden jedoch von den Organisatoren nicht berücksichtigt. Lediglich durch zwei Radierungen von Vasily Maté – nach Alexei Ivanovs Johannes der Täufer946 (1837–57) und Vasily Surikovs Boyarynya Morozova947 (1884–87) – erfuhren zwei Werke bedeutender Historienmaler eine Würdigung.948 Die einzige erfreuliche Ausnahmeerscheinung war hier die inzwischen verstorbene naturalistische Malerin Marie Bashkirtseff949 (1858–84), eine Schülerin und Freundin von Bastien-Lepage und eine der wenigen Künstlerinnen des 19. Jahrhunderts, deren Werke in einer staatlichen französischen Sammlung, dem Musée National du Luxembourg, zu sehen waren.950 Mit 944 „Вот русский отдел позорный. Маковский ничего не выражает, другие тоже плохи, но зато англичане, финляндцы и норвежцы молодцы и оригинальны, хороша Америка.“ Mikhail Nesterov an die Verwandten, Paris, 22.7.[3.8.]1889, zit. nach: Alla A. Rusakova (Hg.), M. V. Nesterov. Iz pisem, Leningrad: Iskusstvo, 1968, Nr. 36, S. 31–34, hier S. 33f. 945 Siehe dazu: Annegret Fauser, Musical Encounters at the 1889 Paris World’s Fair, Rochester: University of Rochester Press, 2005, S. 43–47, S. 321–322; Repin an Vladimir Stasov am 17.7.1889 aus Paris, zit. in: Brodsky 1969, Bd. 1, S. 360f. 946 Es handelte sich um die Radierung nach einer von Ivanovs Vorstudien zu seinem Gemälde Christus erscheint dem Volke (1837–57, Öl auf Leinwand, 540 × 750 cm, STG, Moskau, Inv. 8016). 947 Боярыня Морозова, 1884–1887, Öl auf Leinwand, 304 × 587 cm, STG, Moskau, Inv. 781. 948 Exposition Universelle International… 1889: Russie S. 264–271, Kat. 1–205. Zu den im Katalog aufgelisteten Werken zählen 176 Gemälde (Kat. 1–146), 24 Pastelle, Aquarelle, Zeichnungen (Kat. 147–170), elf Skulpturen, Gravuren und Medaillen (Kat. 171–202) und zwei Radierungen und Lithografien (Kat. 203–205). 949 Bashkirtseff war nicht zuletzt aufgrund der Publikation der gekürzten Fassung ihres Tagebuchs, Le Journal de Marie Bashkirtseff (1887), international bekannt geworden. Siehe dazu: Louly Peacock Konz, Marie Bashkirtseff’s Life in Self-Portraits (1858–1884). Woman as Artist in 19th Century France, Lewiston (NY): Mellen, 2005, S. 14 950 Georg Voss, Frauen in der Kunst, Berlin: Taendler, 1895, S. 276.

5.1 Die ‚erste‘ Parisreise: Exposition Universelle von 1889

zehn Gemälden, einer Pastellzeichnung und einer Bronzestatuette war diese Künstlerin immerhin besser vertreten als Aivazovsky, Kramskoi und die Makovsky-Brüder zusammen.951 Insgesamt muss die französische Kunstausstellung von 1889 schon durch ihre Fülle einen überwältigenden Eindruck auf die Besucher hinterlassen haben. Der Catalogue Général führt allein für Frankreich 2777 Nummern auf, davon 1419 Nummern für Gemälde und 214 für Aquarelle, Pastelle und Zeichnungen, wobei unter einer Nummer durchaus mehrere Werke stehen können.952 Sicherlich war darunter bei weitem nicht jeder Künstler überdurchschnittlich. So wird Serovs Anmerkung – „Aber man wundert sich, wie viel Kram es gibt; und dass dieser Kram doch um einiges besser als Illustration aussieht [...]“ – überaus nachvollziehbar. Dieses Zitat deutet zugleich darauf hin, dass Serov die Gelegenheit wahrnahm, die anlässlich der Exposition Universelle herausgegebenen Postkarten und Begleitbücher zu sichten. Und davon gab es eine Fülle. Dazu zählte der Katalog von François-Guillaume Dumas, in dem 229 von 367 Seiten überwiegend ganzseitige Abbildungen enthielten.953 Der Chefredakteur der Gazette des Beaux-Arts Louis Gonse brachte in Zusammenarbeit mit dem Kunstkritiker Alfred de Lostalot das 592 Seiten starke Buch Exposition Universelle de 1889. Les Beaux-Arts et les Arts Décoratifs954 (1889) heraus, welches neben Kommentaren zu den einzelnen Ländern 26 Radierungen, neun Heliogravüren und 250 Stiche beinhaltete. Die reich bebilderte, zweibändige Publikation L’Exposition chez soi955 berichtete über die Ausstellungsbauten und ermöglichte einen Einblick in die Länderpavillons sowie in die Kolonialausstellung. Die Beihefte von Le Figaro hatten sogar farbige Illustrationen.956 Noch im Jahr 1890 erschienen vier prachtvolle Bände L’Exposition Universelle de 1889. Grand Ouvrage Illustré. Historique, Encyclopédique, Descriptif 957 des Generalkommissars der Weltausstellung Émile Monod. Demnach befand sich Serov 1889 in Paris mitten in einer Bilderflut. Und es war nicht nur die Kunst des Abendlandes, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Wie sein erster Brief an Ostroukhov belegt, empfand er „ein erstklassiges Vergnügen“ bei seiner – vermutlich ersten – Begegnung mit der außereuropäischen Kultur, mit den „asiatischen Völkchen mit ihren kleinen Dörfern, Musik [und] Altären“. Damit meinte er die Kolonialausstellung, in der kleine Siedlungen aus Java, Cochinchina, Angkor, Annam, Tonkin und anderen Gebieten nachgebaut wurden.958 Die hier gespielte javanische Gamelanmusik gehörte ebenso wie Le 951 Exposition Universelle International… 1889: Bashkirtseff S. 264, Kat. 5–14; S. 269, Kat. 147; S. 270, Kat. 176. 952 Exposition Universelle International… 1889: France S. 1–138, Kat. 1–2777. 953 Dumas 1889. 954 Louis Gonse/Alfred de Lostalot, Exposition Universelle de 1889. Les Beaux-Arts et les Arts Décoratifs. L’Art Français Retrospectif au Trocadéro 1789–1889, Paris: Journal Le Temps, 5, Boulevard des Italiens, 1889. 955 L’Exposition chez soi, Bd. 1 und 2, Paris, 83 Rue de Renne: L. Boulanger Editeur, 1889. 956 Philippe Gille/George Grison/Gaston Jollivet, 1889 Figaro-Exposition, Paris: Goupil & Cie Éditeur, Boussod, Valadon et Cie., Succrs, 9, Rue Chaptal, 1889. 957 Monod 1890. 958 Siehe dazu: Monod 1890, Bd. 3, S. 128–139; ders. 1890, Bd. 4, S. 56; L’Exposition chez soi 1889, Bd. 1, S. 455– 471 ; L’Exposition chez soi 1889, Bd. 1, S. 471–478 und 607–627. Siehe zudem: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 100, S. 162–164, hier: S. 163, Anm. 1.

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Théatre Annamité (Annamitisches Theater) zu den größten musikalischen Attraktionen der Weltausstellung. Er könnte aber auch den japanischen Pavillon gemeint haben, in dem nicht nur über 650 Bilder und andere kunsthandwerkliche Exponate ausgestellt waren, sondern auch Musik auf traditionellen Instrumenten gespielt wurde.959 Dass die exotische Ästhetik Asiens Serov nicht gleichgültig gelassen hat, wird im Kapitel noch genauer erläutert. Zunächst ist festzuhalten, dass der Künstler in Paris eingehende sinnliche Erfahrungen machte, die seinen Geist zu neuen Bildideen antrieben.

5.2 Serov in Deutschland und Österreich: Reiseaufenthalte und Ausstellungen Serovs Verbindung zu Deutschland, die in den Jahren 1872–74 ihren Anfang nahm und 1885 während seiner Europa-Reise reaktiviert wurde, blieb in der Folgezeit aufrechterhalten. So gehörte er zu den ersten russischen Künstlern, die zusammen mit der Münchner Secession (gegr. 1892) ausstellten und zu deren Mitgliedern wurden.960 1896 beteiligte er sich zusammen mit Isaak Levitan, Apollinary Vasnetsov und Vasily Perepliotchikov an der vierten Internationalen Kunst-Ausstellung der Münchner mit dem Bildnis von Maria Lwoff (1895, Abb. 26) und der Genredarstellung Lappländisches Dorf961 (1894, Abb. 48).962 1898 war er hier im Rahmen von Diaghilevs Kunstschau zu sehen, die circa 120 Werke russischer und finnischer Maler enthielt, und präsentierte unter anderem Bildnisse von Vera Mamontova (1887, Taf. V) und Großfürst Pavel Alexandrovich (1897, Abb. 41) sowie die Landschaften Herbstabend963 (1886) und Verwachsener Teich (1888).964 959 Siehe dazu: L’Exposition chez soi 1889, Bd. 1, S. 695–706. Zu den chinesischen und japanischen Bauten siehe: ebd., S. 151–194, hier S. 182–184. 960 Troubetzkoy war 1893 in der ersten Internationalen Kunst-Ausstellung der Secession mit fünf bildhauerischen Werken vertreten, wurde aber unter den korrespondierenden Mitgliedern als Italiener aufgeführt: Internationale Kunst-Ausstellung des Vereins bildender Künstler Münchens (A. V.) „Secession“, München: A. Bruckmann’s Verlag, 1893, S. 45, Kat. 818–822; S. 59, Nr. 264. 961 Ein lappländisches Dorf, 1894, Technik, Größe und Verbleib unbekannt, ehem. Slg. des Prinzregenten Luitpold von Bayern, Abb. in: Grabar 1914, S. 100. Eine an die Neue Pinakothek gerichtete Anfrage lieferte keine Erkenntnisse zum Verbleib der Arbeit. 962 Internationale Kunst-Ausstellung des Vereins bildender Künstler Münchens (A. V.) „Secession“, München: Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft vormals Friedrich Bruckmann, 1896: Levitan S. 20, Kat. 232–234; Perepliotchikov S. 24, Kat. 301; Serov S. 28, Kat. 348–349; Vasnetsov S. 33, Kat. 419–421. Von den Kritikern wurden russische Künstler kaum gewürdigt. Schulze Naumburg schrieb nur: „Auch ein paar Russen haben sich eingestellt, die sich als solide und ehrliche Naturalisten vorstellen.“ Siehe: ders., Die Ausstellung der Secession in München, in: Die Zeitschrift für bildende Kunst, Jg. 8, 1896/96, S. 49–55, hier S. 55. 963 Осенний вечер. Домотканово, 1886, Öl auf Leinwand, 56,7 × 72 cm, sign. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 1515. 964 Ein Katalog wurde nicht publiziert, weswegen die Zahl der Werke auf Diaghilevs Angaben basiert. Welche von Serovs Gemälden aus dem Bestand der STG 1898 in München waren, konnte dem Sammlungskatalog entnommen werden. Zudem wurden einige Bilder von Serov in der Kritik von Gustav Keyßner (1898, S. 73) beschrieben: Siehe: Sergei Diaghilev, Nemetskaia pechat o russkikh khudozhnikakh, in: Novoie vremia (ill. prilozheniie), 15.8.1898, Nr. 8069, zit. in: Samkov/Silberstein 1982, Bd. 1, S. 76–80; Bruck/Iovleva 2001, S. 324–346, Kat. 1170, 1177, 1180 und 1209; Kridl Valkenier 2001, S. 66.

5.2 Serov in Deutschland und Österreich: Reiseaufenthalte und Ausstellungen

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48 Ein lappländisches Dorf, 1894, Technik, Größe und Verbleib unbekannt, ehem. Slg. des Prinzregenten Luitpold von Bayern, Abb. in: Grabar 1914, S. 100

Um diese letztere Ausstellung zu sehen, reiste Serov nach München und besuchte bei dieser Gelegenheit auch Berlin. Kurz nach seinem erfolgreichen Auftritt wurde er eingeladen, als korrespondierendes Mitglied der Secession beizutreten.965 Bereits im folgenden Jahr reiste er erneut nach München, wo er an der internationalen Ausstellung der Secessionisten teilnahm und dafür das Bildnis von Mara Oliv966(1895, Taf. X) sowie die Pastellzeichnung einer Bäuerin mit dem Pferd967 (1898) einreichte.968 Offenbar war es Serov nicht gleichgültig, wo, wie und von wem er im Ausland präsentiert wurde. So bat ihn der Vize-Präsident der Petersburger Kunstakademie, Graf Ivan Tolstoy (1858–1916), Ende Dezember 1896 für die russischen Abteilungen in Venedig, München und Kopenhagen Bilder zur Verfügung zu stellen.969 Alle drei dieser lukrativen Einladungen lehnte der Künstler jedoch mit der Begründung ab, er habe „keine freien Sachen“

965 Internationale Kunst-Ausstellung des Vereins bildender Künstler München (A. V.) „Secession“, München: Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G., 1899, S. 59. 966 Мара Константиновна Олив, 1895, Öl auf Leinwand, 88 × 68,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4284. 967 В деревне. Баба с лошадью, 1898, Pastell auf Papier auf Karton, 53 × 70 cm, sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 1527. 968 Internationale Kunst-Ausstellung des Vereins bildender Künstler München (A. V.) „Secession“, München: Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G., 1899, S. 25, Kat. 209–210, Kat. 209 mit Abb. (o. S.). Außer Serov waren in dieser Schau Gemälde von zwei anderen russischen Künstlern, Leo Bakst (S. 13, Nr. 9) und Isaak Levitan (S. 20, Kat. 126, 127) zu sehen, außerdem zeigte man die Erzeugnisse von Fabergé (S. 36, Kat. 387–393). 969 Ivan I. Tolstoy an Serov am 18. und am 24.12.1896, Kopien der Briefe in: Zentrales Staatliches Historisches Archiv (ЦГИА), St. Petersburg, zit. in: Samkov/Silberstein 1895, Bd. 1, Nr. 157 und 158, S. 229–231.

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und „alle großen Bildnisse“ befänden sich bei den Auftraggebern.970 Schließlich wurde doch noch in der Stockholmer Allmänna konst- och industriutställningen (15. Mai–3. Oktober 1897) sein Gemälde Im Sommer (1895) gezeigt, das 1898 Pavel Tretyakov für seine Sammlung erwarb.971 Dass sein internationales Debut im Jahr 1896 in der Münchner Secession stattfand, unterstreicht zum einem die innere Verbundenheit, die er gegenüber der Stadt verspürte, in der sein künstlerischer Weg seinen Anfang nahm. Zum anderen müssen ihm die akademischen Ausstellungen weniger reizvoll vorgekommen sein, selbst wenn die Münchner Secession eine eher moderate Opposition darstellte. Fest steht, dass Serov hier erstmals Seite an Seite mit den Künstlern präsentiert wurde, die er zuvor in den Weltausstellungen in Antwerpen (1885) und Paris (1889) nur aus der Ferne betrachtet hatte: Besnard, Böcklin, Breitner, Cottet, Degas, Jozef Israëls, Krøyer, Leistikow, Liebermann, Monet, Putz, Rodin, Segantini, Stuck, Thaulow, Trübner, Uhde und Zorn. Serovs erster Auftritt in Berlin fand abermals in einer ‚abtrünnigen‘ Vereinigung statt: 1903 zeigte er zwei Werke, Damenporträt (Zinaida Yusupova, 1900–02, Taf. VIII) und Bauernhof (Finnischer Hof972, 1902), in der Siebten Kunstausstellung der Berliner Secession, in der auch Arbeiten von Bonnard, Cézanne, Corinth, Forain, Gauguin, Hodler, Isaac Israëls, Liebermann, Monet, Nolde, Pissaro, Rodin, Segantini, Slevogt, Thaulow, Toulouse-Lautrec, Valotton und van Gogh zu sehen waren.973 Im darauffolgenden Jahr wurde er im Katalog der Neunten Kunstausstellung der Berliner Secession als korrespondierendes Mitglied genannt.974 Noch Ende Frühling bzw. Anfang Sommer 1903 erhielt der Künstler vom führenden Berliner Verleger und Galeristen Paul Cassirer die Einladung, eine Einzelausstellung in Berlin im Winter 1903/04 zu organisieren. Diese Schau, die sein Schaffen in den modernistischen Kreisen Deutschlands noch bekannter zu machen versprach, fand allerdings nicht statt. Der Grund dafür war wahrscheinlich Serovs schwere Erkrankung Anfang Oktober und sein monatelanger Aufenthalt in der Moskauer Chagodaev-Klinik.975 1906 war Serov dann wieder in Berlin zu sehen: Im Salon Schulte erregten seine Werke in der von Diaghilev kuratierten Exposition de l’art russe, die zuvor in Paris im Salon d’Automne gezeigt worden war und danach nach Venedig ging, große Aufmerksamkeit bei

970 Serov an Ivan I. Tolstoy im Januar 1897 aus Moskau, in: Zentrales Staatliches Historisches Archiv (ЦГИА), St. Petersburg, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 161, S. 236. 971 Konstafdelningen vid Allmänna Konst- och Industriutställningen i Stockholm, Stockholm: Generalstabens Litografiska Anstalts Förlag 1897, S. 180, Kat. 1760. 972 Финляндский дворик, 1902, Öl auf Karton, 75 × 99,5 cm, sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 1530. 973 Katalog der Siebten Kunstausstellung der Berliner Secession, Berlin: Paul Cassierer, 1903, S. 32, Kat. 172a und 172b. Außer Serov gab es drei weitere russische Teilnehmer: Maliavin, Roerich und Somov. 974 Katalog der Neunten Ausstellung der Berliner Secession, Berlin: Paul Cassierers Kunst-Verlag, 1904, S. 49. 975 Nach den sich über Monate ziehenden gesundheitlichen Beschwerden, die seine Arbeit erschwerten, erlitt Serov einen Magendurchbruch. Am 25.11.1903 wurde er in der Chagodaev-Klinik operiert und blieb dort bis 15.–20.1.1904.

5.2 Serov in Deutschland und Österreich: Reiseaufenthalte und Ausstellungen

seinen deutschen Kollegen.976 Trotzdem folgte er nicht der von Koepping geäußerten Bitte, so viele Bilder wie nur möglich für die von der Kunstakademie organisierten Großen Berliner Kunstausstellung von 1908 zur Verfügung zu stellen.977 In Wien war es, wohlgemerkt, erneut die Secession, die Serovs Werke erstmals in Österreich exponierte: 1908 öffneten die Wiener ihre Säle für die mit 192 Arbeiten bestückte Ausstellung Moderne russische Kunst, an der außer Serov auch Anisfeld978, Bakst, Bilibin, Braz, Dobuzhinsky, Kustodiev, Maliutin, Ostroumova-Lebedeva, Pasternak, Roerich, Sapunov979, Sudeikin980, Vasnetsov und Yakulov981 teilnahmen.982 Auch in diesem Fall wurde der Künstler, dessen Werke Teich (?) und Nikolai Pozniakov983 (1908, Abb. 49) sehr positiv bei den Kritikern ankamen, noch im gleichen Jahr zusammen mit Roerich und Kustodiev zum korrespondierenden Mitglied984 der Vereinigung gewählt. Welch tiefen Eindruck Serov in Wien hinterließ, zeigen die Worte der Vorkämpferin der Secession Berta Zuckerkandl (1864–1945), die, inspiriert von der Pozniakov-Darstellung, voller Begeisterung vermerkte:

976 „Ich wollte Ihnen sagen, wie sehr sie mir und anderen Künstlern gefallen haben, ebensosehr die grossen Portraits als auch die kleinen Sachen, ganz besonders die drei entzückenden Gouachebilder, die historischen Jagdszenen darstellten“, Koepping an Serov am 26.10.1907 aus Berlin, in: STG/QS 49/139, Moskau. 977 “Wir veranlassten demzufolge den Moskauer Spediteur Gerhardt & Hey vor Kurzem, zu Ihnen zu kommen, um die Bilder abzuholen, doch wurde uns mitgeteilt, dieser habe von Ihnen die Antwort bekommen, dass Sie ihm nichts geben könnten. Wir sind hierüber sehr betroffen und ich denke, dass vielleicht ein Missverständnis insofern vorliegt als Sie möglicherweise den Spediteur nicht für genügend autorisiert hielten oder auch wegen Ihrer Zugehörigkeit zur Berliner Secession Bedenken hatten. [...] Es wäre sehr bedauerlich für uns, wenn wir unter den Repräsentanten ausländischer Kunst (ausser Ihnen nur Besnard und Sargent) Sie vermissen müssten. [...] Je mehr Bilder Sie schicken desto lieber wird es uns sein.” Ebd. 978 Boris Izrailevich Anisfeld (1878–1973), Maler und Bühnenbildner, studierte in der Zeichenschule in Odessa und in der Petersburger Kunstakademie; von 1901 an Mitglied von Mir iskusstva. 979 Nikolai Nikolaievich Sapunov (1880–1912), Maler und Bühnenbildner (u. a. für Vsevolod Meyerhold), studierte an der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur bei Serov, Korovin und Levitan. 980 Sergei Yuryevich Sudeikin (1882–1946) Maler, Grafiker und Bühnenbildner, studierte an der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur, u. a. bei Pasternak, Serov und Korovin. Mitbegründer der symbolistischen Künstlervereinigung Blaue Rose (1907–10), trat 1911 der Mir iskusstva bei. 981 Georgy Bogdanovich Yakulov (geb. Yakulyan, 1884–1928), Maler, Grafiker und Bühnenbilder; besuchte 1901 die Werkstatt von Konstantin Yuon, danach die Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur. 982 XXXI. Ausstellung der Vereinigung bildender Künstler Österreichs Secession Wien  – Moderne russische Kunst, Wien: Secession, 1908. Als Kurator der Ausstellung fungierte Alexei Ivanovich Filippov (?), Herausgeber der Kiewer Zeitschrift V mire iskusstv (In der Welt der Künste, 1908–09). Siehe dazu: Konstantin Akinsha, Russische Kunst in Wien 1873–1921, in: Silver Age. Russische Kunst in Wien um 1900, AK Wien, Belvedere 27.6.–28.9.2014, Wien: Belvedere, 2014, S. 19–39, hier S. 29–34. 983 Николай Степанович Позняков, 1908, Öl auf Leinwand, 83 × 100 cm, sign. und dat. rechts oben, STG, Moskau, Inv. 27315. Karl Kuzmany schrieb dazu: „Von der russischen Volksseele, von ihrer träumerisch lässigen Neigung, gibt durch das Porträt eines Jünglings W. Seroff“. Siehe: Karl M. Kuzmany, Die russische Ausstellung der Wiener Secession, in: Kunst für Alle, 1.1.1909, S. 169–172, hier S. 170. 984 XXXI. Ausstellung der Vereinigung bildender Künstler Österreichs Secession Wien – Moderne russische Kunst ... 1908, Kat. 9 und 39, Kat. 39 mit Abb.; Mitglieder-Verzeichnis im Katalog der XXXIV. Ausstellung der Vereinigung bildender Künstler Österreichs Secession Wien, Wien: Secession, 1909.

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49 Nikolai Pozniakov / Николай Степанович Позняков, 1908, Öl auf Leinwand, 83 × 100 cm STG, Moskau, Inv. 273

Was wirklich nationaler Anschlag ist, beweist das Porträt von Ssjerow. Ein junger Mann liegt, aufgestützt auf einem Kanapee. Nichts weiter. Und sofort fühlt der Beschauer russisch intellektuelles Milieu. Ein von schwarzen Locken umrahmtes, nachdenkliches, schöngeformtes Antlitz. Weiße, weiche, gepflegte Hände und ein lässiger Körper, der widerstandlos der lösen Ruhe sich hingibt; daraus entsteht ein Typus [...] Die ‚Oblomowerei‘, das ist nach der herrlichen Schilderung, die Gontscharow vom jungen Oblomow entwarf, die bleibende Bezeichnung für jene Sorte von Menschen, die man Lazzaroni des Nordens nennen könnte. [...] Genießer alles Geistigen, Enthusiasten alles Schönen, Gefühlshelden, Träumer aller Taten, unfähig aber das Leben zu leben. Sie verbringen ihr Dasein, am Kanapee gestreckt, doch nicht im seligen animierten Dolce farniente des Südens, sondern im Kampf mit sich selbst, in der Empörung gegen ihre Schlaffheit, in unendlich philosophierender Trostlosigkeit, der unbezwingbaren Faulheit. Und all das hat Ssjerow ganz unbewußt gegeben, indem er das Porträt eines Jünglings malte. Das russischste Bild der Ausstellung ist es ohne jeden ethnologischen Behelf [sic!]. Die Seele braucht kein ­Kostüm.985

985 Berta Zuckerkandl, Sezession, in: Wiener Allgemeine Zeitung, 19.11.1908, S. 12f. Siehe auch: Adalbert Franz Seligmann, Sezession, in: Neue Freie Presse, Abendausgabe, 6.11.1908, S. 3.

5.2 Serov in Deutschland und Österreich: Reiseaufenthalte und Ausstellungen

50 Emmanuel Nobel, 1909, Öl auf Leinwand, 114 × 87,6 cm, Slg. Pyotr Aven, Moskau

Ein Jahr nach den Erfolgen in Wien kam es zu einer erneuten Präsentation von Serovs Arbeiten in Deutschland. 1909 zeigte er sein dynamisches Porträt von Emmanuel Nobel986 (1909, Abb. 50) sowie die Darstellung eines Hundes987 in der Münchner X. Internationalen Kunstausstellung, die von der Secession mitorganisiert wurde – und in der 52 russische Künstler mit insgesamt 84 Werken zu sehen waren: darunter Antokolsky, Benois, Kustodiev, Kuznetsov, Nesterov, Repin, Roerich, Troubetzkoy und Apollinary Vasnetsov.988 Im September und November des gleichen Jahres reiste er nach Berlin im Rahmen eines Projekts, das Theatergeschichte schrieb: als Bühnen- und Kostümbildner der Ballets Russes. 986 Emmanuel Nobel, 1909, Öl auf Leinwand, 114 × 87,6 cm, sign. und dat. rechts unten, Slg. Piotr Aven, Moskau. 987 Möglicherweise handelte es sich bei dieser Darstellung um das Bild Windhund Filu (1905, 40 × 74 cm, Aquarell, Gouache auf Karton, Privatbesitz?). Siehe dazu: Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 427. 988 Katalog der X. Internationalen Kunstausstellung im kgl. Glaspalast. Illustrierter Katalog. Künstlergenossenschaft. Secession, München: 1909, Russland Saal 69–70, S. 338–342, hier Saal 70, S. 341, Kat. 1439 und 1928.

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Sergei Diaghilevs Ausstellung in der Münchner Secession und im Salon Schulte (1898) und die Reaktionen deutscher Kritiker Unter den oben erwähnten deutschen Ausstellungen, an denen Serov teilnahm, war Diaghilevs Ausstellung russischer und finnischer Künstler im Jahr 1898 mit Abstand die wichtigste. In der Forschung wurde diese Kunstschau allerdings zu Unrecht weitgehend übergangen, was daran liegen mag, dass kein Katalog herausgebracht wurde.989 Um die Bedeutung von Diaghilevs Unterfangen bewusst zu machen, ist es notwendig kurz zu erläutern, wie unterrepräsentiert die russischen Künstler in den europäischen Metropolen bis dahin waren. Während Russlands Galerien, Kunsthandlungen und Privatsammlungen eine repräsentative Zahl westeuropäischer Kunstwerke aus verschiedenen Epochen besaßen, erwarben die Museen und Privatsammler Westeuropas noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur selten russische Künstler. Die international orientierten Händler wie Galerie de George Petit oder Goupil & Cie gehörten zu den wenigen Häusern, die russische Bilder zum Verkauf anboten. Ada Raev konstatierte im Jahr 2000 mit Ernüchterung: „russische Kunst [...] wurde als Teil europäischer Kultur kaum mitgedacht“.990 Dass diese Lücke bis heute nicht gefüllt wurde, verrät der Blick in Europas museale Schausammlungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.991 Dabei waren die Russen auf vielen internationalen Großausstellungen vertreten: auf den Weltausstellungen in London992 (1862), Wien993 (1873), Paris994 (1867, 1878, 1889), Philadelphia995 (1876) und Antwerpen996 (1885) sowie auf den großen Kunstschauen in Berlin (1886, 1891, 1896) und München (1892, 1895, 1897). Der Kriegs- und Historienmaler Vasily 989 Etwas genauer ging darauf Ada Raev ein, siehe: dies., Von „Halbbarbaren“ und „Kosmopoliten“. Russische Kunstausstellungen in Deutschland der Jahrhundertwende und ihre Rezeption, in: Mechthild Keller (Hg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 19./20. Jahrhundert: Von der Bismarckzeit bis zum Ersten Weltkrieg, München: Wilhelm Fink Verlag, 2000, S. 695–756, hier S. 710–715. 990 Dies., S. 695. 991 Zu den Sammlungen Frankreichs, des Ashmolean Museum und des Malmö Konstmuseum siehe: Tatiana Mojenok, Les peintres réalistes russes en France (1860–1900), Paris: Publications de la Sorbonne, 2003, S. 189–218; Salmina-Haskell 1989; David Jackson, Ett kaos av färg och form, in: Baltiska spreglingar. Malmö Konstmuseums samling. Tiden kring Baltiska utställningen 1914, hg. v. Malmö Konstmuseum, Malmö: Malmö Konstmuseum, 2014, S. 124–153. 992 Catalogue of the Russian Section. International Exhibition of 1862. With List of Awards, London: L. Czerniecki, 1862, S. 118–124, Kat. 1621–1746, unter Beteiligung von Aivazovsky, Bogoliubov, Borovikovsky, Briullov, Kiprensky, Levitsky, Sylvester Shchedrin, Evgraf Sorokin, Tropynin und Venetsianov. 993 Zu den Teilnehmern gehörten Vereshchagin, Perov, Bogoliubov, Siemiradzki, Konstantin und Vladimir Makovsky sowie finnische Künstler. Repins Wolgatreidler (1873, SRM) wurden hier erstmals im Ausland gezeigt. 994 Im Vergleich zur Pariser Weltausstellung von 1889 und zur Weltausstellung von 1867, in der 142 Werke gezeigt wurden, stach die russische Sektion 1878 positiv heraus. Der Katalog enthielt 239 Werke russischer und finnischer Künstler, u. a. von Antokolsky, Aivazovsky, Bogoliubov, Kuindzhi, Kramskoi, Konstantin und Vladimir Makovsky, Maté, Polenov, Repin, Savrasov und Vereshchagin. Siehe: Catalogue spécial de la section russe à l’Exposition universelle de Paris en 1867, Paris: impr. C. Lahure, 1867, S. 17–29. 995 International Exhibition. 1876…, S. 134–136, Kat. 1–82, unter Beteiligung von Aivazovsky, Bogoliubov und Vereshchagin. Im Hauptgebäude waren weitere Exponate ausgestellt. 996 Catalogue de la Section Russe à l’Exposition universelle d’Anvers… 1885.

5.2 Serov in Deutschland und Österreich: Reiseaufenthalte und Ausstellungen

Vereshchagin zog mit seinen spektakulären Einzelauftritten in London (1873, 1879, 1887), Paris (1879, 1881), Wien (1881, 1885), Berlin (1882, 1887), Amsterdam (1887), Brüssel (1882) und New York (1891) große Aufmerksamkeit auf sich und wurde von den europäischen Kritikern der 1880er Jahre zum „Inbegriff des Modernen und Kühnen [Russlands]“997 erhoben.998 Des Weiteren gab es Beteiligungen russischer Künstler an kleineren internationalen Ausstellungen, beispielsweise bei George Petit (1882 und 1883), sowie seltene Sonderpräsentationen einzelner Bilder, wie die von Arkhip Kuindzhis Mondschein999 in der Pariser Galerie Sedelmeyer (1880). Es muss an dieser Stelle hinzugefügt werden, dass russische Abteilungen in den Welt­ ausstellungen in London, Philadelphia oder Paris hohe Teilnehmerzahlen aufwiesen, wenngleich sie qualitativ sehr unterschiedlich ausfielen. In Berlin agierte man unterdessen zögerlicher.1000 An der Jubiläums-Ausstellung der Königlichen Akademie der Künste von 1886 nahmen mit jeweils einem Bild nur 21 Künstler teil, von denen alle entweder Absolventen oder Mitglieder der Petersburger Kunstakademie waren. Dazu zählten Aivazovsky, Vereshchagin sowie Konstantin und Vladimir Makovsky.1001 Im Katalog der Internationalen Kunst-Ausstellung von 1891 waren in der russischen Abteilung 107 Arbeiten von 51 Teilnehmern verzeichnet.1002 Außer den stets präsenten Aivazovsky, Bogoliubov und den Makovskys waren diesmal immerhin Bashkirtseff, Ghe, Polenov, Repin und Vasnetsov mit vertreten. In der Interna­ tio­nalen Kunst-Ausstellung von 1896 gab es 37 russische Beteiligte, die 59 Gemälde und acht Skulpturen einreichten: darunter Bakst, Kuznetsov, Repin und Antokolsky.1003

997 Raev 2000, S. 696. 998 Le Figaro konstatierte 1879, Vereshchagin sei „le peintre russe dont tout Paris s’occupe depuis quelques jours“, in: A Travers Paris, in: Le Figaro, Nr. 363, 29.12.1879, S. 1. Siehe auch: Jules Claretie, L’exposition des œuvres de M. Basile Vereschagin, in: Gazette des Beaux-Arts, Bd. 21.2, 1880, S. 164–166; Raev 2000, S. 708f.; Valentin Belentschikow, Anstiftung zum Frieden. Wereschtschagin in Deutschland, in: Mechthild Keller (Hg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 19./20. Jahrhundert: Von der Bismarckzeit bis zum Ersten Weltkrieg, München: Wilhelm Fink Verlag, 2000, S. 672–694; Mojenok 2003, S. 159–174. 999 Da Kuindzhi das Thema in mehreren Bildern festhielt, ist es der Autorin nicht gelungen, herauszufinden, welches davon 1880 in Paris zu sehen war. Siehe dazu: A Travers Paris, in: Le Figaro, Nr. 364, 29.12.1880. 1000 Zu der Wahrnehmung russischer Künstler in Deutschland siehe: J. Norden, Etwas von der russischen Kunst und ihren Vertretern, in: Die Kunst für Alle, 3. Jg., Heft 13, 1.4.1888, S. 195–220; Wilhelm Henckel, Neuere russische Künstler, in: Die Kunst unserer Zeit. Eine Chronik des modernen Kunstlebens, München: Franz Hanfstaegl Kulturverlag A. G., 1891, S. 62–72; Raev 2000. 1001 Jubiläums-Ausstellung der Kgl. Akademie der Künste im Landes-Ausstellungsgebäude zu Berlin, 05.–10.1886, Berlin: Berliner Verlags-Comtoir (Akt.-Ges.), Verlag der „Deutschen Illustrierten Zeitung“, 1886, Kat. 12, 51, 138, 585, 602, 637, 638, 643, 728, 729, 801, 858, 878, 879, 1149, 1150, 1172, 1173, 1240 und 1248. 1002 Internationale Kunst-Ausstellung, veranstaltet vom Verein Berliner Künstler anlässlich seines fünfzehnjährigen Bestehens (1841–1891), Berlin: Verlag des Vereins Berliner Künstler, 1891, S. 228–234, Kat. 4201–4306. 1003 Internationale Kunst-Ausstellung. Berlin 1896. Zur Feier des 200jährigen Bestehens der Königlichen Akademie der Künste, Berlin: Verlag von Rud. Schuster, 1896. Siehe dazu: Adolf Rosenberg, Die Internationale Kunstausstellung in Berlin IV., in: Kunstchronik, Jg. 8, Nr. 3, 1896/97, Sp. 34–38, hier 35; Hans Rosenhagen, L’Exposition international des Beaux-Arts de Berlin en 1896. 2e et dernier article, in: Gazette des Beaux-Arts, Bd. 16.3., 7.–12.1896, S. 341–348, hier S. 345.

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In München war man noch zurückhaltender. Obwohl es dort schon seit der I. Interna­ tio­nalen Kunstausstellung (1869) russische Teilnehmer gab, lag deren Anzahl insgesamt hinter der in den anderen Großstädten deutlich zurück. 1883 waren hier Repin und Kramskoi und 1892 Bashkirtseff und Antokolsky zu sehen, wobei der Letztere mit 20 Skulpturen und Plastiken eine kleine Einzelschau ausgerichtet bekam.1004 1895 wurden auf der Münchner Jahresausstellung nur 14 Werke von elf Künstlern gezeigt.1005 Repin, der drei Gemälde einreichte, hinterließ mit seinen Zaporoger Kazaken (1880–91) den größten Eindruck und bekam dafür die Medaille I. Klasse verliehen. Auf der VII. Internationalen Kunstausstellung von 1897, welcher sich auch die Secession anschloss, waren 17 Russen mit insgesamt 33 Arbeiten zu sehen.1006 Leonid Pasternak, der während seiner Studienjahre die Münchner Kunstakademie besucht hatte (1882–85, 1887), präsentierte zwei Gemälde und wurde mit der Medaille II. Klasse ausgezeichnet. Des Weiteren zeigte man fünf Aquarelle von Benois, je ein Gemälde von Repin und Vasnetsov und drei bildhauerische Werke von Troubetzkoy, eines davon war das Segantini-Bildnis1007 (ca. 1896). Folglich spielte die Ausstellung von circa 120 Bildern russischer und finnischer Maler, die zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juni 1898 im Rahmen der Internationalen Kunst-Ausstellung der Münchner Secession stattfand, eine besondere Rolle, denn es handelte sich dabei um den ersten großen internationalen Auftritt junger russischer Künstler, die sich den modernistischen Strömungen verbunden fühlten.1008 Bereits drei Jahre zuvor hatte der Geschäftsführer der Secession, Hofrat Adolf Paulus (1851–1924), gegenüber Alexandre Benois die Bitte geäußert, eine Auswahl der Werke der vermeintlichen „mystischen“ Schule der russischen Malerei für die kommende Ausstellung zusammenzustellen, worauf Benois umgehend geantwortet hatte, dass es in Russland „eigentlich keine Schule der Mystiker“ gebe und dass es „in Anbetracht der Vielseitigkeit ihrer Kunst das Beste wäre, eine einfache Neorussische Abteilung aufzubauen.“1009 Auf die bescheidenen neun Werke, die Serov, 1004 Internationale Kunstausstellung im Königl. Glaspalaste in München, München: Verlagsanstalt für Kunst- und Wissenschaft vormals Friedrich Bruckmann, 1883: Kramskoi Kat. 1101–1102, Repin Kat.1647a; VI. Internationale Kunstausstellung Jahres-Ausstellung im Kgl. Glaspalaste zu München, München: Verlagsanstalt für Kunst- und Wissenschaft vormals Friedrich Bruckmann, 1893: Antokolsky Kat. 2399–2418, Bashkirtseff Kat. 106–108. 1005 Münchner Jahresausstellung von Kunstwerken aller Nationen im Königlichen Glaspalaste, München: Verlag von Franz Hanfstaengl, 1895, Kat. 103, 157a, 157b, 340, 371a, 371b, 444, 587, 588, 588a, 666, 799 und 987a. 1006 VII. Internationale Kunstausstellung im Königlichen Glaspalaste zu München, AK München 1.6.–31.10. 1897, München: Verlag von Rudolf Mosse, 1897, Kat. 273, 274, 379, 380, 413, 848, 881, 882, 920, 927, 1069–1072, 1260, 1261, 1351, 1445, 1550, 1551, 1785, 1844, 1905–1909, 2079, 2467–2469. 1007 Vom Troubezkoys Segantini-Bildnis gibt es mehrere Fassungen, dazu gehört Busto di Giovanni Segantini, ca. 1896, Bronze, 101 × 83 × 35 cm, Privatbesitz. 1008 Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 385f., Anm. 20. 1009 Alexandre Benois an Walter Nuvel am 15.7.1895, in: RGALI, 781/1, Nr. 3, Blatt 11, zit. nach: Grigory Sternin, Khudozhestvennaia zhizn v Rossii na rubezhe XIX–XX vekov, Moskau: Iskusstvo 1970, S. 166. Adolf Paulus kam zu Benois vermutlich über den Kunsthistoriker Richard Muther (1860–1909) in Kontakt. Da Benois empört war, dass in Muthers Geschichte der Malerei im 19. Jahrhundert russische Malerei keine Erwähnung fand, schrieb er diesen 1893 an und bot ihm seine Dienste bei der Recherche an. Daraufhin schlug ihm

5.2 Serov in Deutschland und Österreich: Reiseaufenthalte und Ausstellungen

Levitan, Perepliotchikov und Apollinary Vasnetsov daraufhin 1896 nach München schickten, folgte 1898 eine auf circa 120 Nummern komprimierte Fassung der vom 15. Januar bis 15. Februar des Jahres im Petersburger Stieglitz-Museum gezeigten Ausstellung von 295 Bildern.1010 Zu den Teilnehmern zählten außer Serov: Bakst, Korovin, Levitan, Nesterov, Somov, Apollinary Vasnetsov, Vasily Perepliotchikov, Maria Yakunchikova, Vilhelms Kārlis Purvītis1011, Jan Ciągliński1012, Sergei Maliutin, sowie Albert Edelfeld, Väinö Blomstedt, Akseli Gallen-Kallela, Erro Järnefelt, Magnua Enckell und Berndt Lagerstam. Angesichts dessen, dass ihre Werke weder im Katalog der Secession noch in einem separaten Katalog aufgeführt wurden, sind die Beiträge von Diaghilev und Gustav Keyßner sowie der Petersburger Ausstellungskatalog die einzigen Quellen, die einen Überblick über diese Schau liefern.1013 So erwähnte Diaghilev in seinem Artikel Die deutsche Presse über die russischen Maler, der im August 1898 in der Beilage der Petersburger Zeitung Novoie Vremya (Neue Zeit, 1868–1917) erschien, die Namen der 18 Teilnehmer, die Anzahl der Werke sowie die auf München folgenden Ausstellungsstationen Düsseldorf (Juli), Köln (August) und Berlin (September) – damit meinte er die Niederlassungen der Galerie Eduard Schulte in der Alleestraße 42 in Düsseldorf, in der Richartzstraße 16 in Köln und im Palais Redern am Pariser Platz in Berlin. Keyßners Kritik in Kunst für Alle enthielt die Beschreibung einzelner Bilder und ließ zudem positive Veränderungen in der Wahrnehmung russischer Kunst erkennen, wenngleich der Autor an kritischen Bemerkungen nicht sparte. Keyßner stellte nüchtern fest, dass das Ensemble russischer Künstler, „das sich [im Jahr 1898] den Besuchern der siebenten ‚Internationalen‘ darstellte [...] nicht gerade glänzend“ gewesen sei. Man sei, so der Autor weiter, doch etwas verwundert [gewesen], daß ein Volk, das dem die europäische Litteratur den grandiosen und völlig eigenartigen Realismus Dostojewskis und Tolstois [...] verdankt, sich in der Malerei nicht gleichfalls zu einem wirklich künstlerischen, d. h. individuellen Realismus [...] erheben können [sollte]. Heute wissen wir, dass es mindestens auf dem Weg zu einer solchen Erhebung ist. Muther vor, das Kapitel über russische Kunst selber zu schreiben. Siehe dazu: Richard Muther, Geschichte der Malerei im 19. Jahrhundert, Bd. 3, München: Hirth, 1894, S. 324–365; Alexandre Benois, Moi vospominaniia, Bd. 1, Moskau: Zakharov, 2005, S. 883–885; Benois, Alexandre, in: Bruck/Yovleva 2005, S. 46f., hier S. 46. 1010 In die Verhandlungen mit Adolf Paulus war auch Diaghilev involviert. Schon als er im Vorfeld der Petersburger Ausstellung die Künstler anschrieb, teilte er ihnen mit, dass er eine zweite Station bei der Münchner Secession plane und mit Paulus über eine russische Abteilung verhandle. Siehe u. a.: Diaghilev an Serov am 20.5.1897, in: STG/QS, Blatt 1–3, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 167, S. 241–245, hier 242. 1011 Vilhelms Kārlis Purvītis (1872–1945), lettischer Landschaftsmaler, Schüler von Arkhip Kuindzhi, besuchte die Petersburger Kunstakademie, Mir iskusstva-Mitglied. 1012 Jan Ciągliński (1858–1913), polnisch-russischer Maler, lebte ab 1879 in St. Petersburg, wo er 1879–85 die Kunstakademie besuchte, Mir iskusstva-Mitglied. 1013 Vystavka russkikh i finliandskikh khudozhnikov, AK St. Petersburg, Stieglitz-Museum 15.1.–15.2.1898, St. Petersburg 1898; Sergei Diaghilev, Nemetskaia pechat o russkikh khudozhnikakh, in: Novoie Vremia. Illustrirovannoie prilozheniie, 8.1898, zit. in: Samkov/Silberstein 1982, Bd. 1, S. 76–80; Keyßner 1898, S. 70–73.

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Keyßner merkte ferner an, dass „[d]as beste der ganzen Kollektion [...] aber doch auf dem Gebiet des Porträts und der Landschaft [lag]“. Er hob Levitan und Korovin hervor, bevor er auf Serov einging und ihn im längsten Abschnitt seines Artikels mit höchstem Lob bedachte: Dagegen wie scharf und groß gesehen, wie sicher und breit gemalt die Porträts von Valentin Seroff, die dem russischen Saal erst seine Prestige gaben! Zwei von diesen drei Meisterleistungen (übrigens waren auch gute Landschaften von Seroff da) finden unsere Leser reproduziert: das Bildnis des Großfürsten Paul [Pavel Alexandrovich, Abb. 41] und das eines jungen Mädchens [Vera Mamontova, Taf. V]. Ich weiß nicht ob der Großfürst sich als Militär Ansprüche auf Unsterblichkeit erworben hat; eine gewisse und ziemlich dauerhafte Art von Unsterblichkeit aber hat er sich dadurch sicherlich verschafft, daß er sich von Seroff malen ließ. Das beste, was der Porträtist geben kann: eine indifferente Persönlichkeit zum Gegenstand eines bedeutenden Kunstwerks zu machen, ohne sie in ein falsches Heroentum hinaufzuschrauben [...] Mit derselben Treffsicherheit hoher Objektivität wie hier [...] schildert er dann wieder die prächtige Jugendfrische, die rassige Gesundheit des schwarzhaarigen rotwangigen Mädchens („Fräulein M.“) und die etwas aufgedunsene, schwerfällige Behaglichkeit einer alten Dame1014. Ueberall, bei diesen Porträts, wie bei seinen und der Uebrigen Landschaften erscheint die beinahe unpersönliche Sachlichkeit, eine den raffinierten Reiz technischer und farbiger Pikanterien verschmähende Schlichtheit und Herbheit des Ausdrucks als die bezeichnende, vielleicht bestimmende Eigenschaft. Dass Serov schon zwei Jahre vor Keysners lobenden Artikel von den Münchner Kunstfreunden gefeiert wurde, berichtete Grabar, der zwischen 1896 und 1901 in München lebte und dort ab 1897 in der Mal- und Zeichenschule von Anton Ažbe unterrichtete.1015 Grabars Aussage wird durch den Kauf von Serovs Genredarstellung Ein lappländisches Dorf (1894, Abb. 48) seitens des Prinzregenten Luitpold von Bayern bestätigt, obwohl die positiven Reaktionen auf den Künstler offenbar keinen Niederschlag in den Printmedien fanden. 1898 war die Presse bereits deutlich mehr an ihm interessiert. Der Kunsthistoriker Karl Voll (1867–1917), der viel Lob für die russischen Landschaftsmaler fand – und das obgleich die Russen seiner Meinung nach auf einer „älteren, von uns [Deutschen] schon überwundenen Stufe der Malerei“ stünden –, merkte an, dass „Seroff und Levitan [...] mit Recht besonders viele Freunde“ fanden.1016 Auch Die Gegenwart (Berlin, 1872–1931) vertrat die Ansicht, dass unter den „internationalen Imitatoren“ in erster Linie der „treffliche Porträtmaler Valentin

1014 Welches Bild Keyßner meinte, ist unklar. Das Bildnis von Liudmila Mamontova (geb. Muravyova, 1894), das Serov zuvor in St. Petersburg zeigte, kann es wegen der Jugendlichkeit des Modells nicht gewesen sein. Der Beschreibung entsprächen Maria Morozova (1897, SRM) und Gräfin Varvara Kapnist (1895, SRM). Siehe: Vystavka russkikh i finliandskikh khudozhnikov ... 1898, Kat. 295; Kridl Valkenier 2001, S. 66. 1015 Grabar 2001 (1937), S. 111–138, hier S. 127. 1016 Karl Voll, Die V. Internationale Ausstellung der „Münchner Secession“, in: Kunst für Alle, Jg. 13, 1898, S. 273–277 und S. 289–293, hier S. 290.

5.2 Serov in Deutschland und Österreich: Reiseaufenthalte und Ausstellungen

Seroff“ hervorstach.1017 Selbst der völkisch gesinnte Georg Fuchs, der die Russen dafür tadelte, dass sie „in allen modernen Stilen: schottisch, holländisch, namentlich aber impressionistisch im Sinne der Pariser Schule“ malten, schrieb Serov Eigenständigkeit und eine überragende Stellung unter seinen Kollegen zu.1018 Dieser Ansicht waren offenbar auch gestandene deutsche Maler. Grabar erinnerte sich, „welch [große] Diskussionen Serovs Porträtcharakteristik [...] hervorrief und wie aufmerksam er von einem Meister seines Fachs wie Lenbach betrachtet wurde.“1019 Mit Begeisterung empfingen ihn die in München lebenden Marianne Werefkin, Alexej Jawlensky und Wassily Kandinsky: Werefkin bereitete ihm zu Ehren sogar einen großen Empfang vor.1020 Aus den Briefen von Nesterov – der nach München fuhr, um die Ausstellung zu sichten – geht ebenfalls hervor, dass die Russen als „geniale Provinz“ „laut gefeiert“1021 wurden und Serovs Bildnisse „der Nachbarschaft jedes Deutschen, Spaniers und Italieners hätten sicher standhalten können“1022. Mit der darauf folgenden Aufnahme von Serov in die Münchner Secession wurde ihm im Ausland auch die institutionelle Anerkennung als „Künstlerpersönlichkeit vom europäischen Rang“1023 zugestanden – kurz nachdem er im April 1898, im Vorfeld seines deutschen Auftritts, von der Petersburger Kunstakademie trotz des fehlenden Diploms den Titel des Akademikers1024 verliehen bekommen hatte. Serovs Beteiligung an der Secessionsschau im Jahr 1899 muss demnach auf die direkte Einladung des Künstlers gefolgt sein. Diesmal notierte Karl Voll, dass man an „die Franzosen unmittelbar das geschickte Porträt des Russen Seroff [Mara Oliv, 1896, Taf. X] anschließen“ dürfe, womit er den Künstler in die gleiche Reihe mit Degas und Monet stellte, die 1899 in München zu sehen waren.1025 1017 S., Kunstausstellungen, in: Die Gegenwart. Wochenzeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben, Jg. 27, Bd. 54, Nr. 42, 22.10.1898, S. 254. 1018 Georg Fuchs, Die Ausstellung der Secession in München 1898, in: Deutsche Kunst und Dekoration, Bd. 2, Nr. 9, 1898, S. 315–319, hier S. 318f. Manche Autoren waren weniger schmeichelhaft, siehe: Adolf Rosenberg, Aus Schulte’s Kunstausstellung in Berlin, in: Kunstchronik, Jg. 10, Heft 2, 20. Oktober 1898, Sp. 24–26, hier S. 24f. 1019 „я помню, какъ много толковъ вызвала Сѣровская характеристика портрета на выставкѣ Мюнхенского Сецессiона, и как внимательно разглядывалъ его такой мастеръ своего дѣла, как Лѣнбахъ.“ Grabar 1914, S. 134. 1020 Wahrscheinlich fand der Empfang in Werefkins Salon im Sommer 1897 statt, als Serov eine Deutschland-Reise mit Aufenthalt in München, Berlin und Hamburg machte. Serov besuchte in München auch Igor Grabar in seinem Atelier. Er lernte Anton Ažbe und dessen Unterrichtsmethoden kennen. Vermutlich machte der Künstler diese Reise im Rahmen der Vorbereitungen der russischen Ausstellung in Münchner Secession im Jahr 1898. Für die Annahme, dass Serov auch 1898 nach München reiste, sind weder in seiner Korrespondenz noch in den Aussagen der Zeitgenossen Anhaltspunkte zu finden. Siehe: Grabar 2001 (1937), S. 127. 1021 „В Мюнхене мы – русские – имеем шумный успех, мы – злоба дня, нас называют ‚гениальной провинцией‘.“ Nesterov an Alexandr Turygin am 26.5.1898 aus Moskau, zit. in: Rusakova 1968, Nr. 194, S. 133. 1022 „портрет Серова может смело выдержать соседство любого немца, испанца и итальянца.“ Nesterov an Alexandr Turygin am 19.6.1898 aus München, zit. in: Rusakova 1968, Nr. 195, S. 133–135, hier S. 134. 1023 Raev 2000, S. 713. 1024 Ivan. I. Tostoy an Serov am 15.4.1898 aus St. Petersburg, in: Zentrales Staatliches Historisches Archiv (ЦГИА), St. Petersburg, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 177, S. 251f. 1025 Karl Voll, Die VII. internationale Kunstausstellung der Münchner Secession, in: Kunst für Alle, Jg. 14, Heft 21, 1899, S. 321–327, hier S. 324.

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5.3 Serov in Skandinavien Während Serovs Verhältnis zu Deutschland größtenteils beruflicher Natur war und er seit 1885 nur einmal privat dorthin gereist war – im Sommer 1902 fuhr er zusammen mit seiner Mutter und dem Dirigenten Alexandr Khessin1026 nach Bayreuth, Berlin und Leipzig –, entwickelte sich seine Beziehung zu den skandinavischen Ländern gänzlich anders. Ein hinsichtlich seiner Karriere erwähnenswertes Ereignis war nur die Einladung des Vorsitzenden der Kommission für bildende Künste, des zukünftigen Königs Gustav V. von Schweden und Norwegen für die Stockholmer Allmänna konst- och industriutställningen (15. Mai–3. Oktober 1897), in der Serov sein Gemälde Im Sommer (1895) präsentierte.1027 Bei der Erarbeitung neuer Motive und Farbkombinationen spielten seine skandinavischen Dienst- und Privatreisen dagegen eine große Rolle. Mitte Sommer 1894 fuhr Serov zusammen mit Korovin über Arkhangelsk, Murman und Novaia Zemlia bis nach Hammerfest im Norden Norwegens, um die eigenartige Schönheit der nördlichen Gebiete in Skizzen festzuhalten. Initiator und Sponsor ihrer Reise war Savva Mamontov, der für die nördlichen Regionen Investitionspläne schmiedete und kurz zuvor mit der Delegation des Finanzministers Sergei Vitte einer beinah identischen Route gefolgt war.1028 Unter dem Eindruck spezifischer Lichtverhältnisse und Landschaftskonstellationen erarbeitete Serov, ähnlich wie Korovin, eine neue, kühle Graublaupalette (Im Norden...1029; Pomoren1030), mit der er danach in einigen anderen Bildern experimentierte (Nach der Kulikov-Schlacht1031, 1894; Varvava Musina-Pushkina, 1895). Ein beliebtes privates Reiseziel Serovs wurde in der Zeit Finnland, das Ende des 19. Jahrhunderts als wichtiges Bindeglied der Entfaltung kultureller Beziehungen zwischen Russland und den skandinavischen Ländern diente.1032 Viele russische Künstler suchten hier 1026 Alexandr Borisovich Khessin (1869–1955), Komponist und Dirigent, arbeitete u. a. in Leipzig, Karlsruhe, Breslau, St. Petersburg und Moskau; unterrichtete 1935–1941 am Moskauer Konservatorium. 1027 Prinz Gustav von Schweden und Norwegen an Serov im Dezember 1896 aus Stockholm, in: STG/QS 49/283, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, S. 231–233. 1028 Arenzon 1995, S. 101f., 104–106. 1029 На севере. Норвежский город Варде, 1894, Öl auf Papier auf Karton, 22 × 37,5 cm, Regionale Savitsky-Gemäldegalerie, Pensa, Inv. 223. 1030 Поморы, 1894, Öl auf Holz, 33 × 23,3 cm, STG, Moskau, Inv. 4688. Pomoren (vom rus. pomorye – dt. in Meeres Nähe) gehören einer Untergruppe der russischen Ethnien im Norden Russlands an. Sie stammen von den Siedlern ab, die sich im 12. Jh. an den Küsten des Weißen Meeres niederließen. 1031 После Куликовской битвы, 1894, Studie des Tympanons für das Historische Museum in Moskau, SRM, St. Petersburg, Inv. P-6550. 1032 Das in Russland in den 1890er Jahren rapide wachsende Interesse an skandinavischen Malern erreichte mit Diaghilevs Ausstellung skandinavischer Künstler (St. Petersburg, Oktober 1897) seinen ersten Höhepunkt. In der Schau war u. a. Hammershøi zu sehen, der auf der Exposition Universelle von 1889 auf sich aufmerksam gemacht hatte: 1897 suchte Diaghilev Hammershøi in Kopenhagen auf und erwarb von ihm gleich zwei Bilder (http://www.hamburger-kunsthalle.de/archiv/seiten/hammershoi2.html, Stand: 24.8.2015). Zur Entwicklung finnisch-russischer kultureller Beziehungen siehe: Tatiana D. Mukhina, Russko-skandinavskiie khudozhestvennyie sviazi, Moskau: Izdatelstvo MGU, 1984.

5.4 Serov in Frankreich (1900, 1906), Deutschland (1906–07) und Italien (1907)

nach Inspiration und erwarben gerne Landhäuser (russ. dacha). Die Finnen waren ihrerseits in den russischen Sektionen der internationalen Ausstellungen präsent, wobei Russland in den Katalogen oder Rezensionen oft unter skandinavischen Ländern aufgeführt war. Serov, der im Sommer 1901 auch ein eigenes Ferienhaus im Dorf Ino (heute Privetninskoie) kaufen wird, ging erstmals im Juni 1899 nach Finnland, um mit seiner Familie den befreundeten Radierer Vasily Maté im Fischerdorf Terioki (heute Zelenogorsk) zu besuchen. Dass sein vor dem Ausblick auf den Finnischen Meerbusen entstandenes Doppelbildnis Kinder (1899, Taf. VII) abermals durch ein bläuliches Grau bestimmt wurde, bestätigt die obige Beobachtung, dass die skandinavische Landschaft und das Licht einen spürbaren Effekt auf seine Palette hatten. Das gleiche Farbspektrum wählte der Künstler bemerkenswerterweise auch für den Hintergrund des Porträts von Alexander III. in der Uniform der Königlichen Leibgarde der Dänischen Armee (1899), das er nach den Skizzen malte, die er im Juli 1899 in Kopenhagen angefertigt hatte.1033

5.4 Serov in Frankreich (1900, 1906), Deutschland (1906–07) und Italien (1907) Der Blick in die russischen Sammlungen westeuropäischer Kunst sowie in die internationalen Ausstellungen in Antwerpen (1885), Venedig (1887) und Paris (1889) legte die große Bandbreite visueller Informationen offen, denen der junge Serov ausgesetzt war. Seine eigenen Auftritte in Deutschland (1896, 1898 und 1899) stießen sowohl bei den Künstlern als auch bei den Kritikern auf eine positive Resonanz. Zugleich legten diese Auftritte offen, dass er mit vielen etablierten westeuropäischen Kollegen sich erfolgreich messen konnte. Um seine Stellung als Ausstellungsteilnehmer in der europäischen Kunstszene des frühen 20. Jahrhunderts zu erläutern, ist eine auf kontextrelevante Highlights beschränkte Beschreibung der Kunstschauen in Paris, Berlin und Venedig von zentraler Bedeutung. Die Exposition Universelle von 1900 und Serovs Stellung innerhalb der russischen Abteilung im Licht der internationalen Kunstkritik Die Exposition Décennale des Beaux-Arts de 1889 à 1900, die 1900 im Rahmen der Pariser Exposition Universelle (15.4.–12.11.) organisiert wurde und in ihrem Katalog 8519 ­Nummern enthielt, war die erste französische Ausstellung, an der Serov beteiligt war.1034 Die meis 1033 Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 550, Anm. 22. 1034 Diese Zahl basiert auf den Angaben des offiziellen Katalogs, wobei unter einer Nummer manchmal mehrere Werke aufgeführt wurden, womit sich die Unterschiede zu den Zahlen aus anderen Publikationen erklären lassen. Siehe: Exposition International Universelle de 1900. Catalogue Général Officiel, Bd. 2, Groupe II, Œuvres d’Art, Classe 7 à 10, Paris: Imprimeries Lemercier/Lille: L. Danel, 1900. Für Abb. siehe: Catalogue Officiel illustré de L’Exposition Décennale des Beaux-Arts de 1889 à 1900, Paris: Imprimeries Lemercier et Cie, 44, Rue

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ten der 30 Teilnehmernationen dieser Schau, darunter auch Russland, richteten ihre Abteilungen im Grand Palais des Champs-Élysées ein, einige wenige in den Pavillons in der Rue des Nations entlang der Seine. Frankreich war in der Exposition Décennale – ohne die Kolonien mitzuzählen – mit 3336 Werken vertreten und zeigte im Grand Palais die Exposition Centennale de l’Art Français (1800–1889), deren Katalog weitere 3066 Nummern aufwies.1035 Im Petit Palais präsentierte das Gastgeberland die Exposition Retrospective d’Art français des Origines à 1800, die 4741 Nummern verzeichnete.1036 Andere Teilnehmer hatten ebenso zusätzliche Plattformen außerhalb der Exposition Décennale: in den Länderpavillons sowie in den Industrieabteilungen auf der Esplanade des Invalides und auf dem Champ-de-Mars. Auf dem Gebiet der Künste war Frankreich zahlenmäßig deutlich überlegen. Die Exposition Décennale berücksichtige jedoch überwiegend  – wenngleich nicht ausschließlich – Vertreter konservativer Stilrichtungen: in der Abteilung der Maler zeigte man Besnard, Bonnat, Breton, Carolus-Duran, Carrière und Harpignies, in der bildhauerischen Sektion immerhin Astruc, Bourdelle, Claudel und Rodin.1037 Ganz modern wirkte indes die Exposition Centennal. Hier, so Meier-Graefe, glaubte man „in de[n] berühmten Salon des Refusés der sechziger Jahre versetzt“ worden zu sein, „wo die Manet, Monet, Degas, Sisley, Cézanne, Renoire, Pissarro u. s.w. [...], die berüchtigten Impressionisten“ gehangen hatten.1038 Von Manet waren 13 Gemälde sowie einige Aquarelle und Druckgrafiken ausgestellt, darunter Frühstück im Grünen (1863), ein Aquarell der Olympia (1865), Die Bar in Folies-­ Bergères1039 (1882, Abb. 51) sowie die Bildnisse von Marcellin Desboutin1040 (1875) und Eva

Vercingétorix/Ludovic Baschet, éditeur, 12 Rue de l’Abbaye, 1900. Siehe auch: Julius Meier-Graefe (Hg.), Die Weltausstellung in Paris 1900. Mit zahlreichen photographischen Aufnahmen, farbigen Kunstbeilagen und Plänen, Paris/Leipzig: Verlag von F. Krüger, 1900, S. 82. 1035 Exposition internationale universelle de 1900. Catalogue Général officiel œuvres d’art. Exposition centennale de l’art français (1800–1889), Paris: Imprimeries Lemercier/Lille: L. Danel, 1900. 1036 Catalogue Officiel illustré de L’Exposition Rétrospective de l’Art Français des Origines à 1800, Paris: Imprimeries Lemercier et Cie, 44, Rue Vercingétorix/Ludovic Baschet, éditeur, 12 Rue de l’Abbaye, 1900. 1037 Exposition International Universelle de 1900. Catalogue Général Officiel, Bd. 2… 1900: Besnard S. 17, Kat. 156–163 und S. 136, Kat. 34–35; Bonnat S. 20, Kat. 210–216; Breton S. 24f., Kat. 292–307, Caloris-Duran S. 29, Kat. 360–367; Carrière S. 29f., Kat. 375–382 und S. 139, Kat. 78; Desboutin S. 47, Kat. 630–632 und S. 143, Kat. 131–133; Harpignies S. 69f., Kat. 980–995; Astruc S. 174, Kat. 11; Bourdelle S. 179, Kat. 76; Claudel S. 183, Kat. 139–141; Rodin S. 219, Kat. 544–545 1038 Meier-Graefe 1900, S. 83. 1039 A Bar at the Folies-Bergères, 1882, Öl auf Leinwand, 96 × 130 cm, Courtauld Institute of Art, London, Inv. P.1934.SC.234. 1040 Marcellin Desboutin, 1875, Öl auf Leinwand, 195,5 × 131,5 cm, Museu de Arte de São Paulo Assis Chateau­ briand, Inv. 77P.

5.4 Serov in Frankreich (1900, 1906), Deutschland (1906–07) und Italien (1907)

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51 Édouard Manet, Bar in Folies-Bergères / A Bar at the Folies-­ Bergères, 1882, Öl auf Leinwand, 96 × 130 cm, Courtauld Institute of Art, London, Inv. P.1934.SC.234

Gonzales (18701041).1042 Zu den zwölf Arbeiten von Renoir gehörten Die Loge1043 (1874) und Tänzerin1044 (1874) – letztere in einer nuancierten Palette in grünlich-blauen Weißtönen gehalten. Degas präsentierte zwei Gemälde und fünf Pastelle, davon vier Szenen mit Balletttänzerinnen. Ganze 14 Bilder kamen von Monet, jeweils acht von Pissarro und Sisley, sechs von Gonzalès, vier von Morisot und drei von Cézanne. Fantin-Latour stellte 14 Arbeiten aus, Moreau war mit sechs Werken vertreten, von den Künstlern der jungen Generation waren mitunter Gauguin und Redon zu sehen.1045

1041 Eva Gonzales, 1870, Öl auf Leinwand, 191,1 × 133,4 cm, National Gallery, London, Inv. NG3259. 1042 Exposition internationale universelle de 1900. Catalogue Général officiel œuvres d’art. Exposition centennale… 1900: Manet S. 53, Kat. 440–452, hier 440, 443 und 446–448; S. 95, Kat. 1150–1152, hier 1152; S. 173, Kat. 2383; S. 189, Kat. 2617–2618. 1043 La Loge, 1874, Öl auf Leinwand, 80 × 63,5 cm, Courtauld Gallery, London. 1044 The Dancer, 1874, Öl auf Leinwand, 142,5 × 94,5 cm, The National Gallery of Art, Washington D. C., Inv. ­Widener Collection 1942.9.72, abb. in: Meier-Graefe 1900, S. 84. 1045 Exposition internationale universelle de 1900. Catalogue Général officiel œuvres d’art. Exposition centennale… 1900: Cézanne S. 33, Kat. 86–88; Degas S. 38, Kat. 209–210 und S. 78, Kat. 878–882; Fantin-Latour S. 42, Kat. 279–284; S. 81, Kat. 930–931, S. 185, Kat. 2537–2542; Gauguin S. 44, Kat. 307; Gonzales S. 45, Kat. 329– 336; Monet S. 55, Kat. 577–490; Moreau S. 55f., Kat. 499–503, S. 98, Kat. 1205–1206; Morisot S. 56, Kat. 504–506 und S. 99, Kat.1209; Pissarro S. 57, Kat. 516–522; S. 101, Kat. 1233; Redon S. 192, Kat. 2643–2645; Renoir S. 58, Kat. 555–565, hier 561–562 und S. 103, Kat. 1288.Sisley S. 62, Kat. 613–620, hier 614. Siehe auch: Meier-Graefe 1900, S. 83–85.

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5. Sehen und gesehen werden

Es fehlten auch nicht die großen Salonstars wie Bastien-Lepage, Besnard (Madame Roger Jourdain), Bonnat, Carolus-Duran und Puvis de Chavannes.1046 In großer Fülle waren die Werke der Barbizon-Maler und der ihnen nahestehender Künstler ausgestellt, darunter pittoreske Landschaften von Daubigny sowie eine scheinbar unendliche Anzahl an Bildern von Corot.1047 Viel Fläche räumte man den Meistern des 18. und 19. Jahrhunderts ein, wie Watteau, Greuze (­Bonaparte, erster Konsul...1048, 1803), David, Delacroix, Ingres (Madame de Senonnes1049, 1814) oder Courbet.1050 Verglichen mit Frankreich hatten andere Länder ihre Kunstabteilungen wesentlich kleiner gehalten. An der Spitze standen die Vereinigten Staaten mit ‚nur‘ 565 Arbeiten von Malern wie Alexander, Beckwith, Chase (Frau mit einem weißen Schal1051, 1893), Melchers, Sargent (Mrs. Carl Meyer und ihre Kinder1052, 1896; Miss Carey Thomas1053, 1899) sowie auch Whistler, dessen drei Porträts – Symphonie in Weiß, Nr. 2: Kleines weißes Mädchen1054 (1864), Mutter von Perlen und Silber..1055 (ca. 1888?–1900) und Braun und Gold: Selbstbildnis1056 (ca. 1895–1900) – unangefochten die Highlights dieser Sektion waren.1057 Deutschland verzeichnete 349 Werke, darunter Bilder von Firle, Koepping, Liebermann, Menzel, Slevogt, Stuck und Uhde. Zu den Österreichern, die 316 Arbeiten brachten, gehörten Tina Blau, Gustav Klimt und Alfons Maria Mucha. Die Italiener waren mit 231 Katalognummern dabei und präsentierten mitunter 1046 Exposition internationale universelle de 1900. Catalogue Général officiel œuvres d’art. Exposition centennale… 1900: Bastien-Lepage S. 28, Kat. 11–15, S. 68, Kat. 702–704, S. 114, Kat. 1471 und S. 163 Kat. 2263; Besnard S. 29, Kat. 34, hier Kat. 34 und S. 163, Kat. 2207; Bonnat S. 30, Kat. 45–48 und S. 70, Kat. 737; Carolus-Duran S. 32, Kat. 78–80; Puvis de Chavannes S. 58, Kat. 536–538, S. 102, Kat. 1262. 1047 Exposition internationale universelle de 1900. Catalogue Général officiel œuvres d’art. Exposition centennale… 1900: Daubigny S. 36f., Kat. 161–172; S. 77, Kat. 843–844 und S. 166, Kat. 2299–2301; Corot S. 34f., Kat. 115–118; S. 76, Kat. 827–834; S. 166, Kat. 2294–2296 und S. 182, Kat. 2491–2492. 1048 Napoléon Bonaparte, Premier Consul, représenté devant une vue de la ville d’Anvers en 1803, 1803, Öl auf Leinwand, 242 × 177 cm, Musée de Versailles, Inv. MV 4634. 1049 Madame de Senonnes, 1814, Öl auf Leinwand, 106 × 84 cm, Musée des Beaux-Arts, Nantes, Inv. 1028. 1050 Exposition internationale universelle de 1900. Catalogue Général officiel œuvres d’art. Exposition centennale… 1900: Courbet S. 35f., Kat. 142–149 und S. 76, Kat. 835–836; David S. 38, Kat. 192–200 und S. 78, Kat. 864–868; Delacroix S. 39, Kat. 214–229; S. 79, Kat. 883–896, S. 166, Kat. 2304–2306 und S. 183f., Kat. 2509–2518; Greuze S. 45, Kat. 333–336, hier 335; Ingres S. 47f., Kat. 366–382, hier Kat. 367; S. 90f., Kat. 1065–1090 und S. 187, Kat. 2585; Watteau S. 65, Kat. 666–667. 1051 Portrait Mrs. C. (Woman with a White Shawl), 1893, Öl auf Leinwand, 190,5 × 132,1 cm, Pennsylvania Academy of Fine Arts, Joseph E. Temple Fund, 1895.1. 1052 Mrs. Carl Meyer and her Children, 1896, Öl auf Leinwand, 209,9 × 135,9 cm, Privatbesitz. 1053 Miss Carey Thomas, 1899, Öl auf Leinwand, 147,3 × 96,5 cm, Bryn Mawr College, Pennsylvania. 1054 Symphony in White Nr. 2: Little White Girl, 1864, Öl auf Leinwand, 76,5 × 51,1 cm, The Tate Gallery, London, Inv. N.03418. 1055 Mother of Pearls and Silver: The Andalusian, ca. 1888?–1900, Öl auf Leinwand, 191,5 × 89,8 cm, The National Gallery of Art, Washington D. C., Harris Wittemore Collection 1943.6.1. 1056 Brown and Gold: Self-portrait, ca. 1895–1900, Öl auf Leinwand, 95,8 × 51,5 cm, Hunterian Art Gallery, University of Glasgow, Birnie Philip Bequest, YMSM 440. 1057 Exposition International Universelle de 1900. Catalogue Général Officiel, Bd. 2… 1900, S. 355–378, hier: Alexander S. 355, Kat. 6–8; Beckwith S. 356, Kat. 26–27; Chase S. 359, Kat. 58–60, hier Kat. 58; Melchers S. 369, Kat. 212–214, hier. Kat. 212; Sargent S. 373, Kat. 270–272; Whistler S. 377, Kat. 338–340.

5.4 Serov in Frankreich (1900, 1906), Deutschland (1906–07) und Italien (1907)

Boldini (Porträt von Whistler1058, 1897), Carcano, Ciardi, Fattori, F ­ ragiacomo, Troubetzkoy und Segantini, wobei der Letztere durch das Format und die Anzahl seiner Gemälde besonders auffiel (An dem Pfeil1059, 1886; Die Bösen Mütter1060, 1894; Das Alpen­triptychon1061, 1898–99).1062 Unter den 274 Nummern der dänischen Sektion waren Krøyer und Hammershøi gut vertreten: Der Erste zeigte fünf Gemälde (Edvard und Nina Grieg1063, 1898), drei Aquarelle, drei Zeichnungen und drei Grafiken, der Zweite zehn Gemälde (Interieur mit einem lesenden jungen Mann1064, 1898) und eine Zeichnung. In der schwedischen Abteilung, die 172 Werke zählte, stellte Zorn drei Gemälde und sieben Radierungen aus. Holland – unter Beteiligung von Jan Toorop sowie Jozeph und Isaac Israëls – brachte 161 Arbeiten. Norwegen glänzte mit den altbekannten Namen wie Krogh, Munthe und Thaulow – ohne Munch wirkte diese Zusammenstellung von immerhin 136 Werken jedoch unvollständig.1065 Eine besondere Erwähnung verdient Japan, das in der Exposition Décennale... 268 Werke zeigte: 193 größtenteils auf Seide gemalte Bilder, eine Druckgrafik, 71 Skulpturen und drei Architekturentwürfe.1066 Zu der Gruppe der Maler des traditionellen nihonga-Stils gehörten Hashimoto Gahō (1835–1908), Mizuno Toshikata (1866–1908), Suiseki Ohashi (1865–1945), Kanzan Shimomura (1873–1930), Shunkyo Yamamoto (1871–1933), Kawabata Gyokusho (1842–1913) und Fukui Kotei (1866–1937), zu den Vertretern des westlichen yōga-Stils ­Fujishima Takeji (1867–1943), Asai Chū (1856–1907), Kuroda Seiki (1866–1924), Ishikawa Toraji (1875–1964), Okada Saburōsuke (1869–1939) und Wada Eisaku (1874–1959).

1058 James Abbott McNeill Whistler, 1897, Öl auf Leinwand, 170,8 × 94,6 cm, Brooklyn Museum, Gift of A. Augustus Healy, Inv. 09.849. 1059 Alla stanga, 1886, Öl auf Leinwand, 170 × 390 cm, Rom, Galleria nazionale d’arte moderna e contemporanea, Inv. 1140. 1060 Die bösen Mütter/Le cattive madri, 1894, Öl auf Leinwand, 105 × 200 cm, Österreichische Galerie Belvedere, Inv. MG 269. 1061 Das Alpentryptichon (Leben/La vita, 190 × 320 cm; Die Natur/La natura, 235 × 400 cm; Der Tod/La morte, 190 × 320 cm), 1898–99, Öl auf Leinwand, Segantini Museum, St. Moritz. 1062 Exposition International Universelle de 1900. Catalogue Général Officiel, Bd. 2… 1900, S.451–464, hier: Blau S. 290, Kat. 19; Boldini S. 451, Kat. 8–11, hier Kat. 10; Carcano S. 451, Kat. 16–17; Chairdi S. 452, Kat. 21; Fattori S. 453, Kat. 35 und S. 458; Firle S. 267, Kat. 30; Fragiacomo S. 453, Kat. 38–39; Klimt S. 294, Kat. 71–73, Koepping Kat. 31; Liebermann S. 271, Kat. 97; Menzel S. 272, Kat. 106–109; Mucha S. 296, Kat. 99–102; Slevogt S. 274, Kat. 143; Segantini S. 457, Kat. 94–109 ; Stuck S. 274, Kat. 143; Troubetzkoy S. 464, Kat. 81–83; Uhde S. 275, Kat. 156–157. 1063 Edvard und Nina Grieg, 1898, Öl auf Leinwand, 58,5 × 73 cm, Nationalmuseet, Stockholm, Inv. NM1571. 1064 Interior med ung. læsende mand, 1898, Öl auf Leinwand, 64,4 × 51,8 cm, Den Hirschsprungske Samling, Kopenhagen, Inv. 149. 1065 Exposition International Universelle de 1900. Catalogue Général Officiel, Bd. 2… 1900, Hammershøi S. 327, Kat. 23–33, hier Kat. 24; I. Israëls S. 495, Kat. 34; J. Israëls S. 495, Kat. 35–36; Krogh S. 487, Kat. 52–56; Krøyer S. 329, Kat. 68–78, hier Kat. 72 und S. 333, Kat. 20–22; Munthe S. 488, Kat. 64–76, Thaulow S. 489, Kat. 107–108; Toorop S. 500, Kat. 93–94 und S. 502, Kat. 205; Werenskiold S. 115, Kat. 115–117. 1066 Exposition International Universelle de 1900. Catalogue Général Officiel, Bd. 2… 1900, S. 465–480. Siehe auch: Claudia Delank, Die Weltausstellungen in Paris, Wien, Chicago sowie das neue Printmedium der Fotografie als Vermittler japanischer Kunst und Kultur im Westen, in: Franziska Ehmcke (Hg.), Kunst und Kunsthandwerk Japans im interkulturellen Dialog (1850–1915), München: Iudicium, 2008, S. 19–48, hier S. 31

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5. Sehen und gesehen werden

In der japanischen Kunstgewerbe-Ausstellung auf der Esplanade des Invalides waren außerdem die auf Papier oder Seide gemalten Kakemonos (hochformatige Rollbilder) präsentiert.1067 Im japanischen Pavillon am Palais du Trocadéro zeigte man eine vom Hayashi Tadamasa1068 (1853–1906) organisierte Retrospektivausstellung, in der die Europäer zum ersten Mal die „buddhistische Plastik aus der Heian- (794–1184) und Kamakura-Zeit (1185–1333) sowie Hänge-, Querrollen- und Stellschirmmalerei der Muromachi- (1334–1567), Momoyama- (1568–1614) und Edo-Zeit (1603–1867) aus der kaiserlichen Sammlung“ bewundern konnten.1069 Ein weiterer Höhepunkt waren die Xylografien von Suzuki Harunobu (ca. 1725–70), Kitagawa Utamaro (ca. 1753–1806) und Katsushika Hokusai (1760–1849).1070 Der erfolgreiche Auftritt Japans setzte sich außerhalb des Ausstellungsgeländes fort: Die berühmte Geisha Kawakami Sada Yakko (1871–1946) begeisterte ab dem 4. Juni im Theater der Loïe Fuller (1889–1928) mit ihren Vorstellungen Hunderte von Besuchern.1071 Erfolgreich war diesmal auch Russland: Während Japan den Hauptakzent auf Tradition und Geschichte setzte, war Russland mit insgesamt 2400 Teilnehmern so gut und vielseitig präsentiert, dass die Journalisten diese Ausstellung als „Ausstellung des Fortschritts“ bezeichneten.1072 Auf der Esplanade des Invalides und auf dem Champ-de-Mars waren diverse industrielle Errungenschaften des Landes zu bewundern. In der Exposition Colonial, direkt am Palais du Trocadéro, befand sich der große Pavillon des Reiches, der auf dem Ausstellungsplan mit der Überschrift „Asie Russie Sibérie“ versehen wurde, und in der Rue des Nations der separate finnische Pavillon. Den Entwurf für den großen Pavillon lieferte Korovin, dem die nordische Architektur Russlands des 17. Jahrhunderts als Inspiration gedient hatte.1073 Das Interieur wurde von Golovin gestaltet, der zudem einige Keramikplastiken beisteuerte. Zur Ausstattung gehörten ferner sowohl das historische Kunsthandwerk als auch die neorussischen Erzeugnisse aus Savva Mamontovs Abramtsevo, Maria Tenishevas Talashkino und anderen Werkstätten. Vrubel zeigte eine Serie von Majolika-Plastiken nach den Motiven der Rimski-Korsakov-Opern Sadko und Snegurochka sowie einen mit Majolika bestückten Kamin. 1067 R. M. Orlow, Das japanische Kunstgewerbe auf der Pariser Weltausstellung, in: Georg Malkowsky (Hg.), Die Pariser Weltausstellung im Wort und Bild, Berlin: Kirchhoff & Co. (Kurt Schindowski), 1900, S. 107f. 1068 Hayashi Tadamasa (1853–1906) kam 1878 nach Paris, um in der Exposition Universelle als Dolmetscher tätig zu sein, 1883 eröffnete er dort einen Kunstladen, der zum Anziehungspunkt für viele Künstler und Kunstfreunde wurde. Seine Tätigkeit hatte einen enormen Einfluss auf die Verbreitung der Grafik des ukio-e. 1069 Delank, in: Emcke 2008, S. 31. Zu den Reaktionen der Zeitgenossen siehe: Malkowsky 1900, S. 166–168. 1070 Meier-Graefe 1900, S. 102. 1071 Arsène Alexandre, Théâtre de la Loïe Fuller: Pantomimes Japonaise, in: Le Théâtre, Jg. 3, Nr. 41, September 1900, S. 16–18; Kokuritsu Seiyō Bijutsukan (Hg.), Le japonisme: Galeries Nationales du Grand Palais Paris, AK Tokio, Musée National d’Art Occidental 17.5.–15.8.1988 und Paris, Galerie Nationales d’Exposition du Grand Palais 23.9.–11.12.1988, Paris: Éd. De la Réunion des Musées Nationaux, 1988, S. 116. 1072 Die russische Ausstellung, in: Malkowsky 1900, S. 461–464, Abb. S. 325, 465–467, hier S. 464. Siehe auch: Sibirien auf der Ausstellung, in: Malkowsky 1900, S. 87f., Abb. S. 86. 1073 Zum russischen Pavillon siehe: Konstantin Yu. Narvoit, Rossiia na Vsemirnoi vystavke 1900 goda, in: Russkoie iskusstvo, Nr. 2, 2005, zit. in: http://www.russiskusstvo.ru/journal/2-2005/a364/.

5.4 Serov in Frankreich (1900, 1906), Deutschland (1906–07) und Italien (1907)

In der Exposition Décennale... nahm Russland vier Säle ein und war mit 387 Katalognummern der viertgrößte Aussteller nach Frankreich, den USA und Großbritannien.1074 Neben den international bekannten Salonmalern Aivazovsky, Harlamoff und Konstantin Makovsky waren hier viele Peredvizhniki zu sehen: sowohl die eher eintönigen wie Bogdanov-Belsky, Shishkin, Kuznetsov, Miasoedov oder Alexei und Vladimir Makovsky als auch die vom großen Einfallsreichtum geprägten wie Nesterov, Arkhipov, Pokhitonov, Polenov, Repin, Surikov sowie Viktor und Apollinary Vasnetsov. Zu den Vertretern der neuen Generation zählten – außer Serov – mitunter Braz, Korovin, Levitan, Maliavin und Roerich sowie finnische Künstler wie Edelfelt und Gallen-Kallela. Trotz der gerade vorgestellten überwältigenden Bilderfülle, die die internationale Kunstausstellung charakterisierte, erntete gerade Serov viel Lob seitens der europäischen und amerikanischen Presse. Dabei stellte er nur fünf Gemälde aus: L’Automne (Herbstabend..., 1886), La Crépuscule (Verwachsener Teich..., 1888), Portrait de M. S. M. Botkine (Sophia Botkina, 1899, Taf. IX), Portrait de Mlle W. S. Mamontow (Vera Mamontova, 1887, Taf. V) und Portrait de S. A. le Grand duc Paul Alexandrovitch (1897, Abb. 41).1075 Der Amerikaner William Walton hielt dazu Folgendes fest: Als Porträtist gehört Serov dem ersten Rang an: Seine Technik, seine Wiedergabe des Charak­ters variiert von der glänzenden Präsentation des Großfürsten Paul Alexandro­vitch [...] bis hin zur subtilen, intimen Studie eines jungen Mädchens, Mlle. W. S. Mamontow [...]. Das letzte [Bild] ist eines der besten Porträts der Ausstellung und trug wahrscheinlich entscheidend zum Grand Prix des Malers bei [...] Das Licht und der Bildaufbau, die Leichtigkeit und die Flexibilität von [Serovs] technischen Methoden würde ihn innerhalb jeder Schule auffallen lassen; und seine Landschaften, grau oder strahlend und gleichermaßen ehrlich, sind nur seinen Bildnissen unterlegen.1076 Äußert positiv fielen auch die Einschätzungen französischer Kritiker aus: Léonce Bénédite lieferte in der Gazette des Beaux-Arts eine schwärmerische Beschreibung von Serovs Porträts, Camille le Senne bewunderte in der musikalischen Wochenzeitung Le Ménéstrel (1833–1940) das „bemerkenswerte Bildnis“ des Großfürsten; der anonyme Autor des Le monde artiste illustre (1862–1914) unterstrich die „Feinfühligkeit“ des Künstlers bei der Ge-

1074 Exposition International Universelle de 1900. Catalogue Général Officiel, Bd. 2… 1900, S. 524–545. 1075 Exposition International Universelle de 1900. Catalogue Général Officiel, Bd. 2… 1900, S. 535, Kat. 219–223. 1076 „As a portrait painter, Valentine Serov, is entitled to first rank, – his technique, his rendering of character, range from the brilliant presentation of the Grand Duke Paul Alexandrovitch […] to the subtle and intimate study of a young girl […] Mlle. Mamontov. The latter is one of the best portraits in the Exposition, and probably contributed largely to the painter’s Grand Prix […] The lighting and arrangement of the artist’s canvasses, the ease and flexibility of his technical methods, would make him conspicuous in any school: and his landscapes, gray and luminous but equally sincere, are inferior only to his portraits.“ William Walton, The Art of Russia, Poland and Finland, in: William Walton/André Saglio/Victor Champier, Chefs d’Œuvres of the Exposition Universelle, Bd. 5, Russia, Minor European and Oriental, Philadelphia: George Barrie & Son Publishers, 1900, S. 5–52, hier S. 25, Abb. von Vera Mamontova auf S. 11.

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staltung der Details.1077 In der Münchner Zeitschrift Kunst für Alle (1886–1943) feierte E. N. Pascent den „Farbenaccord“ des Botkina-Porträts und vertrat die Meinung, dass Serov Repin „an rein malerische[m] Esprit“ überrage.1078 Dass einige konservative Stimmen dennoch die vermeintlich nachlässige Malweise des Künstlers bemängelten – obwohl sie zeitgleich seine herausragende Stellung in der Exposition Décennal anerkannten –, weist darauf hin, dass er auf sie zu modern gewirkt haben muss. So schrieb ein deutscher Autor: Als Triumphator der Ausstellung gilt Serov, dem auch der Preis zum Teil ward [...] Zwei von ihm vorhandene Damenporträts zeigen sein Bestreben Lenbach nachzueifern, aber es bleibt bei der guten Absicht, die Nachlässigkeit der Zeichnung, in welcher Serov posiert, breitet eine schattenhafte Undeutlichkeit über die Leinwand, die umso störender wirkt, als man das Gefühl hat, diese Nachlässigkeit ist nichts weiter, als eine schöne Geste. Serov sollte seine Kunst nicht dieser Komödie opfern, er hat das nicht notwendig, das zeigen seine Landschaften, die thematisch zu dem Besten gehören, was das Grand Palais überhaupt aufzuweisen hat. Serov als Landschaftsmaler bleibt über dem Niveau der internationalen Mittelmäßigkeit, die sich sonst im Grand Palais breit macht.1079 Sowohl die zahlreichen internationalen Kritiken als auch die Auszeichnung mit dem Grand Prix stellten Serov zu Beginn des neuen Jahrhunderts nun auch ‚offiziell‘ in eine Reihe mit den führenden Malern Europas: Zu den anderen Preisträgern gehörten nämlich Boldini, Lenbach, Klimt, Stevens, Sargent, Sorolla, Krøyer, Taulow, Uhde, Whistler und Zorn.1080 Serov im Salon d’Automne (1906), im Salon Schulte (1906–07) und auf der Biennale di Venezia (1907) Sechs Jahre nach seinem Erfolg in der Exposition Universelle von 1900 waren Serovs ­Arbeiten erneut in Paris zu sehen. Im Rahmen des Salon d’Automne, der zwischen dem 6. Oktober und dem 15. November im Grand Palais des Champs-Élysées stattfand, veranstaltete Sergei Diaghilev die umfangreichste Ausstellung russischer Kunst, die bis dahin im Westen jemals gezeigt wurde. Zeitlich von den Ikonen des 15. Jahrhunderts bis hin zur Gegenwart angesetzt, enthielt sie 750 Werke und wurde von einem reich illustrierten Katalog 1077 Bénédite 1900, S. 496; „M. Valentin Serov, l’auteur d’un remarquable portrait du grand duc Paul Alexandrowitch“, Camille Le Senne, Promenades esthétiques. À l’exposition universelle. Dixième article, in: Le Ménestrel, Jg. 66, Nr. 35, 2.–8.9.1900, Paris 1900, S. 275f., hier S. 275; „Les portraitistes sont en bonne posture, ils nous offrent avec M. Serov des figures où la arguer de facture le dispute à la délicatesse du détail“, L’art étranger. 2e article, in: Le monde artiste illustré. Musique-théatre-beaux-arts, Jg. 40, Nr. 40, 7.10.1900, S. 627. Wie nachhaltig Serov den französischen Kritikern in Erinnerung blieb, verdeutlicht ferner die Anmerkung von Denis Roche in seinem ausführlichen Artikel über Ilya Repin, dass beide „Triumphatoren“ der russischen Abteilung in der Exposition Universelle von 1900, Serov und Maliavin, Schüler von Repin waren: Denis Roche, I. E. Répine, in: Revue Illustrée, Nr. 12, 1.6.1902, o. S. [S. 13–20, hier S. 19], Anm. 1. 1078 Pascent 1901, S. 226–230, hier S. 228. 1079 Die russische Kunstausstellung, in: Malkowsky 1900, S. 323f., hier S. 324. 1080 Exposition universelle de 1900. Récompenses officielles, in: Le monde artiste illustré. Musique-théatre-beaux-arts, Jg. 40, Nr. 34, 26.8.1900, S. 535.

5.4 Serov in Frankreich (1900, 1906), Deutschland (1906–07) und Italien (1907)

begleitet, in dem Alexandre Benois in einem Vorwort die Entwicklungsgeschichte der Kunst seines Landes erläuterte.1081 Sogar eine gekürzte Liste der beteiligten Künstler – Levitsky, Borovikovsky, Rokotov, Shchedrin, Briullov, Alexandr Ivanov, Venetsianov, Kiprensky, Ghe, Polenov, Repin, Levitan, Serov, Vrubel, Korovin, Troubetzkoy, Bakst, Benois, Golovin, Bilibin, Grabar, Somov, Roerich, Maria Yakunchikova, Yuon, Kustodiev, Sudeikin, Maliavin, Borisov-Musatov, Ostroumova-Lebedeva, Kruglikova, Jawlensky, Goncharova und Larionov – lässt keinen Zweifel an der Einzigartigkeit dieser Präsentation aufkommen. Serov, der es diesmal nicht geschafft hat, nach Paris zu reisen, war mit 19 Bildern einer der am besten vertretenen Teilnehmer.1082 Einerseits stellte er einige ältere Arbeiten aus: Francesco Tamagno1083 (1891, Abb. 52), Konstantin Korovin1084 (1891, Taf. XI), Nikolai II. Regimentschef der Royal Scots Greys (1900), Großherzog Mikhail Nikolaievich (1900), Mikhail Morozov1085 (1902, Abb. 53), Graf Felix Sumarokov-Elston (1903, Abb. 96), Botkin-Kinder (1900, Abb. 32), eine radierte Darstellung von Vasily Maté1086 (1899), ein Pastell Bäuerin mit dem Pferd (1898), drei in Aquarell und Gouache gemalte Jagdszenen aus dem Leben russischer Herrscher1087 (1900 und 1902) und zwei Radierungen (Pferde, ?, und Wolf1088, ?). Weiterhin schickte er vier aktuelle Werke nach Paris: Maria Ermolova1089 (1905, Abb. 56), Glikeria Fedotova1090 (1905), Konstantin Balmont1091 (1905) und Junge Pferde an der Tränke1092 (1904).

1081 Alexandre Benois, Préface, in: Salon d’Automne. Exposition de l’Art Russes, Paris: L. Moreau, Succr., 1906, S. 9–18. 1082 Salon d’Automne. Exposition de l’Art Russes... 1906, S. 84 und 105, Kat. 510–528, Abb. S. 99 und 128. Gleich viele bzw. eine größere Zahl an Bildern kam von Levitsky, Borovikovsky, Vrubel, Benois, Ostroumova-Lebedeva, Somov, Borisov-Musatov und Yakunchikova. 1083 Франческо Таманьо, 1891, Öl auf Leinwand, 78,3 × 69,2 cm, sign. und dat. links, STG, Moskau, Inv. 5589. 1084 Константин Алексеевич Коровин, 1891, Öl auf Leinwand,112 × 89,7 cm, STG, Moskau, Inv. 8633. 1085 Михаил Абрамович Морозов, 1902, Öl auf Leinwand, 216 × 81,5 cm, sign. und dat. links unten, STG, Moskau, Inv. 5337. 1086 Serov fertigte 1898–99 mehrere radierte Bildnisse von Maté an, um welches genau es sich handelt, ist unklar. 1902 wurde eines von Serovs Maté-Bildnissen bereits in der Beilage zur Gazette des Beaux-Arts im Revue der Mir iskusstva Ausstellung vorgestellt und als „spirituell“ beschrieben, siehe: Mir Isskustva. (Le Monde artiste), in: La Chronique des Arts et la Curiosité. Supplément à la Gazette des Beaux-Arts, 30.8.1902, S. 234. 1087 Peter II. und Zarewna Elizaveta auf der Hundejagd (1900, SRM, Ж-4291) und Katharina II. bei der Falkenjagd (1902, SRM, Ж-4292), die im Kapitel 4.4.3 vorgestellt wurden sowie Peter der Große auf der Hundejagd (1902, Aquarell, Gouache auf Karton, 29 × 50 cm, sign. und dat. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4290). 1088 Möglicherweise handelte es sich um eine der Illustrationen zu den Fabeln von Ivan Krylov: Der Wolf und der Kranich (1896–98, 17,5 × 32 cm, sign. links unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Гр-44084) oder Der Wolf und die Hirten (1896, 14,8 × 23 cm, sign. links unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Гр-28213). 1089 Мария Николаевна Ермолова, 1905, Öl auf Leinwand, 224 × 120 cm, sign. und dat. links unten, STG, Moskau, Inv. 28079. 1090 Гликерия Николаевна Федотова, 1905, Öl auf Leinwand, 123 × 95 cm (am oberen Rand halbrund), STG, Moskau, Inv. 28080. 1091 Константин Бальмонт, 1905, Kohle, Pastell, Rötel, Kreide auf Papier, 72,5 × 41,5 cm, sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 9133. 1092 Стригуны на водопое. Домотканово, 1904, Pastell auf Papier auf Karton, 40 × 63,8 cm, sign. und dat. links unten, STG, Moskau, Inv. 5655.

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52 Francesco Tamagno / Франческо Таманьо, 1891, Öl auf Leinwand, 78,3 × 69,2 cm, STG, Moskau, Inv. 5589

Angesichts des Umfangs der russischen Ausstellung verwundert es kaum, dass sie einen großen Anklang in der Öffentlichkeit fand. Dabei erfuhr Serov in den vielen Presseberichten eine überwiegend positive Wertung. Casimir de Danilowicz (1873–?), der spätere Gründer der Société des amis de l’art rustique français (1913–?), bezeichnete ihn in seinem ausführlichen Artikel in L’Art et les artistes für die Bildnisse von Nikolai II., Morozov und Korovin als einen „exzellenten“ Künstler, der „kraftvolles Kolorit“ und die „richtige Zeichnung“ besitze.1093 Einer der führenden modernen Kritiker, Arsène Alexandre1094 (1859–1937) – ein eifriger Verteidiger des Salon d’Indépendant, der Impressionisten und der Nabis sowie ein Ehrenmitglied des Salon d’Automne –, sprach in Le Figaro von der russischen Ausstellung 1093 „Parmi les maîtres dont l’histoire de l’art devra tenir compte, citons l’excellent Serow, et ses portraits de S. M. Nikolas II, de Morosoff et de Korovine, artiste d’un coloris puissant et d’un dessin correct.“ C. de Danilowicz, L’Exposition russe, in: L’Art et les Artistes, Nr. 4, Paris 10.1906–03.1907, S. 313–320, hier S. 318–320, Abb. von Graf Sumarokov-Elston auf S. 318. 1094 Zu Arsène Alexandre siehe: Jean-Paul Boullon/Catherine Méneux (Hg.), La Promenade du critique influent. Anthologie de la critique d’art en France 1850–1900, Paris: Hazan, 1990, S. 386–391.

5.4 Serov in Frankreich (1900, 1906), Deutschland (1906–07) und Italien (1907)

53 Mikhail Morozov / Михаил Абрамович Морозов, 1902, Öl auf Leinwand, 216 × 81,5 cm, STG, Moskau, Inv. 5337

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54 Vasily Perov, Ankunft der Gouvernante im Haus eines Kaufmannes / Приезд гувернантки в купеческий дом, 1866, Öl auf Holz, 44 × 53,5 cm, STG, Moskau, Inv. 36215

55 Kopie nach Hans Holbein d. J., Heinrich VIII. / ­Henry VIII, ca. 1537, Öl auf Leinwand, 233,7 × 134,6 cm, Walker Art Gallery, Liverpool, Inv. 1350

5.4 Serov in Frankreich (1900, 1906), Deutschland (1906–07) und Italien (1907)

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56 Maria Ermolova / Мария Николаевна Ермолова, 1905, Öl auf Leinwand, 224 × 120 cm, STG, Moskau, Inv. 28079

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als einer „Offenbarung“ und nannte Serov einen „außerordentlichen“ und „tapferen“ Porträtisten.1095 Der Diplomat und Literat Eugène-Melchior de Vogüé (1848–1910), der mit seinem Hauptwerk Le Roman russe (1880) die russischen Schriftsteller in Frankreich bekannt gemacht hatte, merkte in Le Figaro an, dass man die „soliden Qualitäten des Porträtisten“ Serov den Kennern nicht zu erklären brauche  – und da der Autor sich als ein solcher Kenner verstand, monierte er gleichzeitig die Auswahl der Bilder, die keinen Einblick in das Schaffen von Aivazovsky, Kuidzhi oder Vereshchagin bot.1096 Der Maler und Kurator Paul Jamot (1863–1939), der trotz seiner eurozentrisch gefärbten Äußerungen den Russen einen Platz in der europäischen Kunstgeschichte zuerkannte, widmete Serov in der Gazette des Beaux-Arts einige Zeilen, mit denen er ihn immerhin den Anhängern der französischen Kunstneuerer und der finno-skandinavischen Malerei zurechnete und als einen „erfahrenen Porträtisten“ und „guten Koloristen“ beschrieb.1097 Dass Serovs Name selbst in den kürzeren Anzeigen – wie die in Le Musée: revue d’art mensuelle (1906) – in der Auflistung moderner Künstler auftauchte, verrät, wie er der breiten Leserschaft grundsätzlich vermittelt wurde.1098 Uneinigkeit über Serovs Stellung herrschte aber offenbar zum einen unter einigen jüngeren russischen Teilnehmern, was sich darin äußerte, dass sein Karzinkina-Porträt1099 (1905–06) als unpassend empfunden und kurz vor der Eröffnung aussortiert wurde: Wie Léon Bakst in einem Brief an Serov schilderte, plädierten dafür gleich mehrere Künstler – Benois, Yaremich, Sudeikin, Jawlensky, Alexandr Shervashidze1100 und Pavel Kuznetsov.1101 Zum anderen soll er auf den Widerstand der Mitglieder des Salon d’Automne gestoßen sein. Dazu schrieb Grabar in Avant-Propos der ersten Ausgabe seiner Serov-Monografie:

1095 „ La révélation de toute une école, mieux, de toute une race, ardentes, subtiles, ingénieuses, dévorées du besoin de vivre […] Serov, Kustodieff, éminents et vaillants portraitistes“, Arsène Alexandre, L’Exposition russe, in: Le Figaro, Nr. 288, 15.10.1906, S. 5. 1096 „Les connaisseurs n’ont pas besoin les avertisse pour remarquer […] les solides qualités du portraitiste Sérof“, Eugène-Melchior Vogue, Peintres russes, in: Le Figaro, 1906, 4.11.1906, S. 1. 1097 „Tous les mouvements de notre art contemporain, jusqu’aux témérités des plus récents novateurs, ont en Russie des adeptes. Chez un certain groupe d’artistes, non des moindres, à l’accoutumance française se mêle une influence nouvelle, plus proche, celle de l’école qu’on pourrait appeler finno-scandinave, et dont M. Zorn serait vraisemblablement le chef. C’est M. Sérov, habile portraitiste et bon coloriste […] Que leur originalité soit plus ou moins nationale, les noms [...] ont désormais leur place dans l’histoire de l’art européen.“ Paul Jamot, Le Salon d’automne. Deuxième et dernier article. L’exposition de l’art russe, in: Gazette des Beaux-Art, Bd. 37.3, 01–06.1907, S. 43–53, hier S. 50. 1098 „…une intéressante série de toile modernes parmi lesquelles on remarque celles de Benoît, Kouspetov, Roerich, Moussatov, Sérov, Maliavine, Vroubel, Korovine, Jon, etc. […] Le public paraît fort intéressé par cette manifestation très neuve d’une âme aussi différent de la nôtre“, L’Armateur, Exposition rétrospective et modern d’art russe, in: Le Musée : revue d’art mensuelle, Bd. 3, Nr. 1–12, 31.1.–31.12.1906, S. 436. 1099 Елизавета Сергеевна Карзинкина, 1905–06, Öl auf Leinwand, 104 × 73,7 cm (oval), sign. und dat. Links unten, Kunstmuseum Taganrog, Inv. Ж-130. 1100 Alexandr Konstantinovich Shervashidze (1867–1968), abchasischer Adliger, Künstler und Kunstkritiker, besuchte 1891–93 die Polenov-Klasse an der Moskauer Kunsthochschule. 1101 Leon Bakst an Serov am 1.12.1906 aus St. Petersburg, STG/QS, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 2, Nr. 497, S. 79–82, hier S. 79.

5.4 Serov in Frankreich (1900, 1906), Deutschland (1906–07) und Italien (1907)

Die Ausstellung [von 1906] hatte enormen Erfolg [...] Nur [...] derjenige, der als erster das Recht auf Aufmerksamkeit hatte, blieb im Schatten [...]: Serov. Er wurde nicht ‚übersehen‘, ganz im Gegenteil, er fiel gleich auf, wurde aber nicht als ‚dazugehörig‘ eingeschätzt, sondern den offiziellen Künstlern zugerechnet, die ihren Platz in einem Frühlingsalon hatten, und nicht im Salon d’Automne, unter den radikalen Linken der französischen Moderne. Man wollte Serov nicht einmal zu den Mitgliedern des Herbstsalons wählen, wo viele von uns aufgenommen wurden. Eine etwas veraltete Sprache seiner Kunst überschattete in den Augen der Modernisten den wahren künstlerischen Wert dieses Meisters, der [...] einen Kopf höher als die meisten seiner russischen und französischen Kollegen stand.1102 Vor dem Hintergrund der zuvor zitierten französischen Kritiken klingt Grabars Darstellung sehr überspitzt, wenngleich darin sicherlich ein Stück Wahrheit steckt: Serov wurde in der Tat nie zum Mitglied des Salon d’Automne, während die Namen von Bakst, Benois, Grabar, Pavel Kuznetsov, Ostroumova-Lebedeva, Vrubel und einiger anderer schon in der Mitgliederliste von 1907 auftauchten.1103 Auch Yaremich, der zu den Kritikern des Karzinkina-Bildnisses gehörte, merkte in seiner Rezension der Pariser Ausstellung an, dass Serov „unverstanden“ blieb.1104 Allerdings steht der positive Ton der Kritik von Arsène Alexandre, eines Ehrenmitglieds des Salon d’Automne, im Widerspruch zu den pauschalisierenden Äußerungen von Grabar und Yaremich. Ein weiteres Ehrenmitglied der Vereinigung, Léonce Bénédite, hatte Serov bereits im Jahr 1900 in den höchsten Tönen gelobt.1105 Ferner ist an dieser Stelle hinzuzufügen, dass der Herbstsalon nicht nur die Stars der „radikalen Linken“ willkommen hieß: So zählten zu seinen Mitgliedern auch Max Liebermann, John Lavery und Alexandre Bloch. In der internationalen Ausstellung von 1906, die immerhin 1805 Werke umfasste, gesellten sich zu Cézanne, Delaunay, Derain, van Dongen, Gauguin, Kandinsky, Redon, Renoir, Vallotton und Vlaminck auch zahlreiche, heute weitgehend vergessene Künstler, darunter Pierre Lissac (1878–1955), Jean Peské (1870–1949), Manuel Robbe (1872–1936), Hermann Sandkuhl (1872–1936) und Ivan Thiele (1877–1948).1106 1102 „Выствака имѣла шумный успѣхъ, [...] Только [...] тотъ, кто имѣлъ наибольшее право на вниманiе, остался въ тѣни [...] – Сѣровъ. Его не проглядѣли, напротивъ того, – хорошо замѣтили, но не признали своимъ, причисливъ къ тѣмъ офицiальнымъ мастерамъ, которымъ мѣсто на одномъ изъ весеннихъ салоновъ, а не на Осеннемъ, этой крайней лѣвой французского модернизма. Сѣрова даже не хотѣли выбрать въ члены Осенняго салона, куда попали многiе изъ насъ. Нѣсколько старомодный языкъ его искусства заслонялъ въ глазахъ модернистовъ подлинную художественную цѣнность этого мастера, стоявшаго [...] головою выше большинства своихъ русскихъ и фрацузскихъ товарищей.“ Grabar 1914, S. 5. 1103 Siehe: Société du Salon d’Automne. Catalogue des Ouvrage de Peinture, Sculpture, Dessin, Gravure, Architecture et Art décoratif, AK Paris, Grand Palais des Champs-Élysées 1.–22.10.1907, Paris: Compagne Française des Papiers-Monnaie, 1907, S. 7–13. 1104 S. Yaremich, Russkoie iskusstvo v Parizhe, in: Pereval, Nr. 2, 1906, S. 53, zit. nach: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 2, Nr. 497, S. 79–82, hier Anm. 3, S. 81. 1105 Bénédite 1900, S. 496. 1106 Société du Salon d’Automne. Catalogue … 1906: Cézanne S. 53f., Kat 317–326; Delaunay S. 62, Kat. 419–420; Derain S. 63f., Kat. 438–445; Dongen S. 68, Kat. 492–494; Gauguin S. 176–201, 227 Nummern; K ­ andinsky

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5. Sehen und gesehen werden

Serov fiel keinesfalls aus dem Konzept des Salon d’Automne heraus, wenngleich er nicht zu den lautesten Rebellen seiner Zeit zählte. Dass er gleichermaßen von einem modernistischen Kritiker wie Arsène Alexandre und von einem eher konservativ gesinnten Literaten wie Eugène-Melchior de Vogüé als ein bemerkenswerter Meister hervorgehoben wurde, zeigt, dass seine Kunst im Bewusstsein ausländischer Betrachter – völlig zurecht – eine Brücke zwischen der kunstgeschichtlichen Tradition und der internationalen Moderne bildete. Als Diaghilevs Ausstellung anschließend um die Jahreswende in leicht reduzierter Fassung1107 im Salon Schulte in Berlin gezeigt wurde, erfuhr Serov in den deutschen Printmedien erneut eine positive Wertung. In den Berliner Neuesten Nachrichten sprach Wilhelms Micheels von der russischen Schau als vom „größte[n] künstlerische[n] Ereignis“, das seit Langem in der deutschen Hauptstadt veranstaltet wurde, und lobte dabei das „breite Verve der Porträts Serovs“.1108 Die linksliberale Freisinnige Zeitung notierte: „Als ein ganz vorzüglicher Maler erscheint Valentin Serow in seinen Porträts voller Kraft und farbiger Schönheit, breit und wuchtig, dabei freilich reich, in seinen historischen Skizzen direkt an Menzel gemahnend.“1109 Sogar von den Kritikern, die sich abweisend gegenüber den russischen Künstlern äußerten, wurde Serovs Begabung nicht in Frage gestellt: In Kunst und Künstler – in der lautstark über die „falsche[n] Gauguins, van Goghs, Liebermanns, Slevogts, Zorns, falsche[n] Larssons, Beardsleys, Vallotons und Ludwig von Hofmanns“ geklagt wurde – merkte der anonyme Autor bissig an, dass die Schau selbst dann keinen großen Eindruck mache, wenn „in dieser Pseudokunst ein echtes Talent, wie das Serow[s]“ auftauche.1110 In dieser Haltung gegenüber dem Künstler bestand in Deutschland offenbar seit den ersten Pressereaktionen auf seine Bilder im Jahr 1898 eine gewisse Kontinuität: In der Allgemeinen Kunstgeschichte von 1902 notierte Walther Gensel (1835–1916) beispielsweise, dass die „mit ebenso großer Kühnheit wie Treffsicherheit breit hingestrichene und dabei einen höchst vornehmen Farbengeschmack zeigende[n] Bildnisse [von Serov], die 1900 in Paris den großen Preis errangen, [...] malerisch sogar noch bedeutender [als die von Ilya Repin]“ seien, und stellte Serov als einen Vertreter moderner Malerei heraus.1111 S. 97, Kat. 838–857; Matisse S. 121, Kat. 1171–1175; Meerson S. 122, Kat. 1186–1187; Redon S. 144, Kat. 1454–1461; Renoir S. 145, Kat. 1467–1471; Peské S. 135, Kat. 1334–1336; Robbe S. 146, Kat. 1478–1483; Rouault S. 147f., Kat. 1489–1498; Sandkuhl S. 149, Kat. 1514–1516; Thiele S. 161, Kat. 1662–1664; Vallotton S. 163, Kat. 1688–1693; Vlaminck S. 167, Kat. 1732–1738. 1107 Die Ausstellung wurde in Dezember eröffnet und am 13.1.1907 geschlossen. Bertelé sprach von über 600 Werken, die in Berlin gezeigt wurden. Siehe: Kunst und Wissenschaft, in: Unterhaltungsblatt der Freisinnigen Zeitung, Nr. 8, 10.1.1907, o. S. [S. 1]; Matteo Bertelé, La Russia all’Esposizione internationale d’Arte di Venezia (1895–1914). Per una storia della ricezione dell’arte russa in Italia. Dottorato di recerca in Studi dell’Europa Orientale, Scuola di dottorato in Lingue, culture e Società, Università Ca’Foscari Venezia 2010, S. 141. 1108 Wilhelm Micheels, Russische Kunst, in: Berliner Neueste Nachrichten. Unterhaltungsbeilage, 21.12.1906, o. S. [S. 1f.]. 1109 P. L., Kunstausstellung bei Schulte, in: Unterhaltungsblatt der Freisinnigen Zeitung, Nr. 3, 4.1.1907, o. S. [S. 2]. 1110 Die russische Kunstausstellung, in: Kunst und Künstler, Jg. 5, 1906–07, S. 212–214, S. 213. 1111 Walther Gensel, Die moderne Kunst seit dem Zeitalter der französischen Revolution, in: Walther Gensel/Hermann Knackfuß/Max Georg Zimmermann (Hg.), Allgemeine Kunstgeschichte, Bd. 3., Bielefeld/Leipzig: ­Verhagen & Klasing, 1902, S. 698.

5.4 Serov in Frankreich (1900, 1906), Deutschland (1906–07) und Italien (1907)

Als ein begabter Maler wurde Serov dem deutschen Leser außerdem in zwei Abhandlungen russischstämmiger Autoren vorgestellt, obwohl ausgerechnet sie sich kritischer gaben. Grabar rechnete ihn in der Zeitschrift für bildende Kunst zusammen mit Levitan und Korovin den Meistern zu, die der russischen Malerei „erst die künstlerische Form“ gaben.1112 Er stellte heraus, dass er schon früh „einige Porträts [schuf], welche alles bis dahin Gemalte hinter sich ließen“, bedauerte aber, dass Serov zu „eleganten silbergrauen, auf die Dauer aber einförmig langweiligen Harmonien“ überging und es nicht geschafft habe, „die Koloristik seiner ersten Porträts zu erreichen“.1113 Kritisch lautete auch die Darstellung Ettingers in Kunst für Alle: die Sjeroffschen Bildnisse [zeichnen sich] stets durch eine unvergleichlich malerische Auffassung und geschmackvolle Komposition aus und stehen fast immer auf dem Niveau modern-europäischer Porträtkunst. Vielleicht denkt der geschätzte Künstler manchmal sogar etwas zu viel an dieses Niveau, denn durch viele seiner späteren Werke huschen hin und wieder Reminiszenzen an Zorn, Sargent etc. – allerdings ohne deren meisterhafte Formvollendung – welche den Eindruck eines subjektiven Stils nicht aufkommen lassen. Seine früheren Porträts, so z. B. Rimsky-Korsakoff1114 in der Tretjakoff-Galerie [1898, Abb. 57], das wunderbare Damenbildnis in Braun im Petersburger Alexander Museum [Mara Oliv, 1895, Abb. 378] – zweifellos eines der schönsten Gemälde Sjeroffs! – wirken überzeugender, individueller und das gleiche kann auch von seinen seltenen, stimmungsvollen Landschaften gesagt werden, die, nach Levitan, zu den besten Seiten des russischen paysage intime gehören.1115 Die Formulierungen von Grabar und Ettinger bestätigen in Anbetracht der zuvor von Bakst, Grabar und Yaremich geschilderten Pariser Reaktionen auf Serov den Eindruck, dass vor allem innerhalb der jungen russischen Kunstszene eine widersprüchliche Kritik an der aktuellen künstlerischen Entwicklung des Malers aufkeimte: Einerseits wurde er dem Vorwurf einer vermeintlich altmodischen Sprache ausgesetzt, anderseits unterstellte man ihm, dass seine älteren Werke koloristischer bzw. „individueller“ wirkten und dass er sich danach zu sehr von anderen europäischen Porträtisten beeinflussen lassen habe. Da aber sowohl Grabar als auch Yaremich Serovs Schaffen postum längere monografische Abhandlungen voll lobender Worte widmeten, hielt ihre einstige kritische Haltung dem wahren Wert und der generationsübergreifenden Anerkennung des Künstlers nicht stand.

1112 Grabar 1907 [Dezember 1906], S. 70. 1113 Ebd., S. 70 und 72. 1114 Николай Андреевич Римский-Корсаков, 1898, Öl auf Leinwand, 96,5 × 113,2 cm, STG, Moskau, Inv. 1526. 1115 Ettinger 1907, S. 276.

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5. Sehen und gesehen werden

57 Nikolai Rimski-Korsakov / Николай Андреевич Римский-Корсаков, 1898, Öl auf Leinwand 96,5 × 113,2 cm, STG, Moskau, Inv. 1526

Zur letzten Station von Diaghilevs Ausstellung wurde die siebte Biennale di Venezia, die zwischen dem 22. April und dem 31. Oktober im Palazzo dell’Esposizione auf dem Gelände der Giardini Publici stattfand und 1317 Kunstwerke in ihrem Katalog auflistete.1116 Die Idee, eine Auswahl der im Salon d’Automne gezeigten russischen Bilder in Venedig zu präsentieren, kam vom ersten Generalsekretär der Biennale Antonio Fradeletto (1858–1930), der vom Erfolg der Pariser Schau erfahren hatte.1117 Dieser wandte sich mit seinem Anliegen an die Kunstmäzenin Élisabeth de Riquet de Caraman, Gräfin Greffulhe (1860–1952), die ihn wiederum mit Diaghilev in Paris bekannt machte.1118 Nach langen Verhandlungen zwischen 1116 Settima Esposizione Internationale d’Arte della città di Venezia 1907, AK Venedig, Palazzo dell’Esposizione 22.4.– 31.10.1907, Venedig: Ferrari, 1907. 1117 Vittorio Pica, L’Arte mondiale alla VII Espositione di Venezia, Bergamo: Instituto italiano d’arti Grafiche – Editore, 1907, S. 131. 1118 Eine ausführliche Darstellung zum Verlauf der Verhandlungen zwischen Diaghilev und Fradeletto sowie zu den Reaktionen auf die russische Ausstellung in Italien siehe: Bertelé, S. 119–142, hier S. 121f.

5.4 Serov in Frankreich (1900, 1906), Deutschland (1906–07) und Italien (1907)

Fradeletto und Diaghilev – die eine Zeit lang im Scheitern des Projekts zu enden drohten – richtete Russland mit 90 Arbeiten eine der größten Sektionen der siebten Biennale aus; nur Italien (442), Belgien (120) und Österreich (92) waren zahlenmäßig bedeutender. Im Hinblick auf die Bilderauswahl hatte Russland zudem die jüngste und modernste Abteilung. So präsentierten die Italiener die Künstler, die bereits in den 1880er und 1890er Jahren ihre internationale Bekanntheit erlangten: wie Bezzi, Fattori, Fragiacomo, Carcano, Chiardi, Grubicy de Dragon, Nono und Troubetzkoy.1119 Die Franzosen zeigten Besnard, Carolus-Duran, Fantin-Latour und Signac, die Deutschen Habermann und Leistikow.1120 Norwegen brachte Christian und Oda Krogh, Munthe und Thaulow.1121 Die Niederlande stellten unter anderem Breitner sowie Jozef und Isaak Israëls aus, Schweden Zorn, und Großbritannien Brangwyn und Lavery.1122 Zu den Briten gesellte sich Sargent, der in Venedig wie einst 1889 in Paris mit eleganten Salonbildnissen Eindruck machen wollte: Mrs Charles Hunter1123 (1898), Colonel Ian Hamilton1124 (1898), Francis Cramner Penrose1125 (ca. 1898), Lord Ribblesdale1126 (1902), Die Acheson Schwestern1127 (1902) und Lady Warwick und ihr Sohn1128 (1905).1129 Eine überaus spannende Bilderauswahl hatte indes Belgien. So gehörten dazu einige Gründungsmitglieder der Les XX (1883–93): Rodolphe Wytsman (1860–1927), Théo van Rysselberghe (1862–1926), Fernand Khnopff (1858–1921) und James Sidney Ensor (1860–1949). Ferner präsentierte man die impressionistischen, neoimpressionistischen und symbolistischen Maler.1130

1119 Settima Esposizione…1907: Bezzi S. 97, Kat. 19–20; Carcano S. 113, Kat. 13–14; Guglielmo Chardi S. 99, Kat. 11–13; Fattori S. 116, Kat. 3–4; Fragiacomo S. 97, Kat. 22–24; Gola S. 113, Kat. 23; Grubici di Dragon S. 107, Kat. 14–16; Nono S. 101, Kat. 32–34; Troubetzkoy S. 107, Kat. 19–20 und S. 115, Kat. 38–39. 1120 Settima Esposizione…1907: Besnard S. 50, Kat. 2; Carolus-Duran S. 51, Kat. 9–11; Cottet S. 51, Kat. 11–12 und S. 81, Kat. 11–14; Fantin-Latour S. 52, Kat. 20–21; Signac S. 54, Kat. 40. Ebd.: Habermann S. 61, Kat. 17; Leistikow S. 62, Kat. 27–28. 1121 Settima Esposizione…1907: Christian Krogh S. 35, Kat. 19–20; Oda Krogh S. 36, Kat. 21–22; Munthe S. 36, Kat. 25–26; Thaulow S. 38, Kat. 46–47. 1122 Settima Esposizione…1907: Breitner S. 40, Kat. 9; Jozef Israëls S. 41, Kat. 15; Isaak Israëls S. 41, Kat. 16. Ebd.: Zorn S. 58f., Kat. 40–44. Ebd.: Lavery S. 67, Kat. 9–13; Brangwyn S. 74f., Kat. 47–58. 1123 Mrs. Charles Hunter, 1898, Öl auf Leinwand, 148 × 89,5 cm, Tate Gallery, London, Inv. N04469. 1124 Colonel Ian Hamilton, CB, DSO, 1898, Öl auf Leinwand, 138,4 × 787 cm, Tate Gallery, London, Inv. N05246. 1125 Francis Cramner Penrose, ca. 1898, Öl auf Leinwand, 143,5 × 95,3 cm, Royal Institute of British Architects, London, Inv. UK100014. 1126 Lord Ribblesdale, 1902, Öl auf Leinwand, 258,4 × 143,5 cm, National Gallery, London, NG3044. 1127 Acherson Sisters, 1902, Öl auf Leinwand, 262,2 × 198 cm, Devonshire Collection, Chatsworth, Inv.PA 606. 1128 Lady Warwick and her Son, 1905, Öl auf Leinwand, 170,5 × 153 cm, Worcester Art Museum (Mass.), Inv. 1913.59. 1129 Settima Esposizione…1907: Sargent S. 68f., Kat. 23–28, Abb. 2–7. 1130 Settima Esposizione…1907: Boch S. 134, Kat. 4; Ciamberlani S. 134, Kat. 10–11; Delville S. 135, Kat. 20; Ensor S. 135, Kat. 23–26; Evenepoel S. 135f., Kat. 27–30, hier 27, Abb. 27; Fabry S. 136, Kat. 31–32; Khnoppf S. 136, Kat. 35–37; Lemmen S. 136, Kat. 40–44; Morren S. 137, Kat. 48; van Rysselberghe S. 137, Kat. 56; Wytsman S. 138, Kat. 65.

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5. Sehen und gesehen werden

In den russischen Sälen wurde der Schwerpunkt allerdings noch klarer auf die modernen Strömungen gesetzt: Man zeigte Werke von Anisfeld, Bakst, Bogaievsky1131, Golovin, Grabar, Yuon, Korovin (Feodor Chaliapin1132, 1905), Kustodiev (Porträt der Polenov-­Familie1133, 1905), Pavel Kuznetsov, Larionov, Levitan, Maliavin (Bäuerinnen1134, 1904), Borisov-­Musatov, Ostroumova-Lebedeva, Roerich, Somov, Vrubel (Die Nacht bricht an1135, 1900) und Yakunchi­kova.1136 Der offizielle Kunstkritiker der Biennale, Vittorio Pica (1864–1930), konstatierte dazu: Also kein anderer Saal der aktuellen venezianischen Ausstellung zeigt einen höheren Grad an Neuem und eine höhere Anziehungskraft des Unbekannten, als der russische Saal, und es ist [nur] natürlich, dass unter allen [Sälen], dieser immer überfüllt ist und [...] [zum Ort] lebhafter Kommentare und Diskussionen wird.1137 Serov gehörte mit drei Gemälden und einem Pastell – Konstantin Korovin (1891, Taf. XI), Nikolai II. Regimentschef der Royal Scots Greys (1900), Graf Felix Sumarokov-Elston (1903, Abb. 96) und Junge Pferde an der Tränke (1904) – auch diesmal zu den am besten vertretenen Malern.1138 Vor allem sein Bildnis des Zaren erfuhr in der Öffentlichkeit große Beachtung. Die Gazetta di Venezia berichtete, dass der König Vittorio Emanuele III. „in der russischen Sektion lange vor Serovs Bildnissen, vor allem vor dem Porträt des Kaisers Nikolai“ verweilt habe.1139 Sicherlich war diese Geste als ein Tribut an den Souverän eines anderen Landes und mit ihm an dessen gesamte Nation zu werten, doch unabhängig von dem offiziellen Regelwerk war dies auch ein Zeichen künstlerischer Anerkennung.1140 Ähnliche Reaktionen kamen von anderen Besuchern und Kritikern. Wie der Dichter und Schriftsteller Guelfo Civinini (1873–1954) in seinem Artikel über die Ausstellungseröffnung berichtete, fand der Graf von Turin für Serov „viele Worte des Lobes“, als er das Porträt des Grafen Felix ­Sumarokov-Elston sah.1141 Pica beschrieb Serov zusammen mit Korovin und Levitan als ei 1131 Konstantin Feodorovich Bogaievsky (1872–1943) symbolistischer Landschaftsmaler, Schüler Ivan Aivazovskys, 1891–95 Student der Petersburger Kunstakademie; 1908–16 Mitglied im Union russischer Künstler, ab 1912 Mitglied der Mir iskusstva; stellte 1903–05 und 1907 in der Münchner Secession aus. 1132 Федор Иванович Шаляпин, 1905, Öl auf Leinwand, 65 × 46,1 cm, STG, Moskau, Inv. 9140. 1133 Портртет семьи Поленовых, 1904–05, Öl auf Leinwand, 182,5 × 198 cm, Belvedere, Wien, Inv. 931 1134 Бабы (крестьянки), 1904, Öl auf Leinwand, 205 × 159 cm, SRM, St. Petersburg, Ж-1914. 1135 К ночи, 1900, Öl auf Leinwand, 129 × 180 cm, STG, Moskau, Inv. 1462. 1136 Siehe: Settima Esposizione…1907, S. 119–126. 1137 „Nessuna sala, adunque, dell’attuale mostra veneziana possiede una maggiore dose di nuovo ed una maggiore attrattiva d’inedito della sala russa ed è più che naturale che essa, fra tutte, sia sempre la più affollata e quella in cui più vivacemente si commenta e si discute.“ Pica 1907, S. 131. 1138 Siehe: Settima Esposizione…1907: Grabar S. 120, S. 8–12; Serov S. 123, Kat. 44–47; Somov S. 1234, Kat. 48–52 und S. 125, Kat. 71–73; Tarkhov S. 124, Kat. 53–56; Vrubel S. 124, Kat. 58 – 62 und S. 126, Kat. 82–90. 1139 I grandi festeggiamenti, in: Gazetta di Venezia, 12.3.1907, S. 3. 1140 Bertelé 2010, S. 137. 1141 Guelfo Civinini, Inaugurazione della VII Esposizione Internazionale d’Arte, in: Gazzetta di Venezia, 28.4.1907, S. 1f., hier S. 1.

5.5 Anmerkungen zu Serovs Mitwirkung in Sergei Diaghilevs Mir iskusstva und Ballets Russes

nen der „Innovatoren und führenden Repräsentanten der nationalen Moskauer Malerei“.1142 Er verglich Korovin mit Liebermann, Levitan mit den russischen Schriftstellern Pushkin, Gogol und Turgenev und merkte zu Serov Folgendes an: Seroff tritt in Venedig [...] in einem [...] trefflichen Pastell als ein synthetischer und fähiger Maler von Pferden auf und vor allem als ein Porträtist in drei Ölgemälden, in denen er mit der Virtuosität, die an Sargent oder Zorn erinnert, den Zar Nikolai II., den Maler Korovine und den jungen Grafen Sumarokoff-Elston darstellte; und es ist richtig, ihn insbesondere als Porträtisten zu kennen, denn es waren seine Porträts, die ihm über die Grenzen seines Landes hinaus Ruhm brachten und einen triumphalen Auftritt [möglich machten].1143 Im Ausstellungskatalog erfuhr Serov interessanterweise ebenfalls eine Gegenüberstellung zu Sargent: Die ersten Seiten des Abbildungsteils wurden durch fünf schicke Bildnisse von Sargent dominiert (Kat. Abb. 2–7), während die letzte Illustration (Kat. Abb. 112) Serovs frei und malerisch gestaltetes Korovin-Porträt zeigte. Dieser unbeabsichtigte, stille Vergleich ist sehr aussagekräftig, denn er führt vor Augen, dass Serov, entgegen jeglichen Vorwürfen und trotz seiner technischen Virtuosität, im Gegensatz zu seinem amerikanischen Kollegen es nie anstrebte, in die gefällige Salonmalerei zu verfallen.

5.5 Anmerkungen zu Serovs Mitwirkung in Sergei Diaghilevs Mir iskusstva und Ballets Russes Serovs Teilnahme an der russischen Ausstellung im Rahmen der siebten Biennale di Venezia markierte das zehnjährige Jubiläum seiner Freundschaft mit Sergei Diaghilev, dem wohl bedeutendsten russischen Entrepreneur um 1900. Als Serov Diaghilev im Frühjahr 1897 kennenlernte, nahm seine künstlerische Entwicklung endgültig eine moderne Richtung an. Noch im gleichen Jahr beteiligte er sich an den Vorbereitungen der von Diaghilev kuratierten Ausstellung skandinavischer Künstler, die später im Oktober in St. Petersburg stattfand und zu seiner Bekanntschaft mit Zorn führte.1144 Anfang 1898 war er, wie zuvor geschildert, Teilnehmer der russisch-finnischen Kunstschau in St. Petersburg, die danach in einer reduzierten Fassung durch Deutschland tourte und mit seiner Mitgliedschaft in der Münchner Secession einherging. Im Herbst des Jahres zählte er zu den Gründern der neuen kosmopolitischen Künstlervereinigung Mir iskusstva und der gleichnamigen modernistischen

1142 Pica 1907, S. 136. 1143 „Seroff, esso non già come paesista ci appare a Venezia, ma come pittore sintetico ed efficace di cavalli in un piccolo ed abile pastello e sopra tutto come ritrattista in tre quadri ad olio, nei quali, con sapiente virtuosità che ricorda più di una volta quella di Sargent o di Zorn, ha raffigurato lo Zar Nikola II, il pittore Korovine ed il giovane conte Sumarokoff-Elston, ed è giusto che in lui si sia tenuto a farci conoscere in ispecie il ritrattista, perché è ai ritratti che egli deve se la sua fama è uscita trionfante fuori dei confini della propria patria.“ Pica 1907, S. 136f. 1144 Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 474, Anm. 55.

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5. Sehen und gesehen werden

Zeitschrift, die sich in Opposition zum trockenen Akademismus und zum nationalen sozialkritischen Realismus der Peredvizhniki stellte sowie die Maxime l’art pour l’art propagierte. Nur wenig später, 1899, saß Serov als Mitglied im Ausstellungskomitees der I. Internationalen Mir iskusstva Ausstellung (Januar–Februar), die im Museum für Angewandte Kunst der Petersburger Stieglitz Akademie veranstaltet wurde und zum ersten Mal in Russland die russischen und ausländischen Maler, darunter viele Modernisten, Seite an Seite zeigte. Insgesamt waren hier über 324 Werke bildender Kunst sowie kunsthandwerkliche Erzeugnisse von 28 russischen (davon fünf finnischen) und 40 ausländischen Künstlern aus sieben Ländern zu sehen, darunter Anquetin, Besnard, Böcklin, Boldini, Carrière, Degas (Bei den Rennen auf dem Land1145, 1869), Forain, Léon Frédéric, Lenbach (Gabriella Lenbach1146, 1898), Liebermann, Monet, Moreau, Puvis de Chavannes, Renoir, Thaulow, Whistler sowie Bakst, Benois, Edelfeldt, Gallen-Kallela, Golovin, Korovin, Levitan, Maliavin, Nesterov, Repin, Somov, Troubetzkoy, Vrubel (nicht im Katalog), Yakunchikova und Elena Polenova.1147 In der kunsthandwerklichen Abteilung wurden Gegenstände aus den Werkstätten von Abramtsevo sowie Schmuck des bekannten französischen Art-Nouveau-Künstlers René Jules Lalique (1860–1945) und der amerikanischen Juwelierfirma Tiffany & Co. (1837–heute) gezeigt.1148 Serov war mit sieben Werken dabei: einer Aquarelllandschaft (?), einer Reihe von drei Pastellen mit dem Titel Im Dorf (?) sowie mit den Bildnissen von Mara Oliv (1895, Taf. X), Paolo Troubetzkoy1149 (1898) und Maria Tenisheva1150 (1898) – die Letztere war eine der wichtigsten Förderinnen der Mir-iskusstva-Schau und -Zeitschrift.1151 Welch großen Erfolg diese Ausstellung hatte, wird daran ersichtlich, dass sie am 13. Februar 1899 von Nikolai II. und seiner Familie besucht wurde.1152 Und wie modern die Werkauswahl – die bei weitem nicht die radikalste war – auf die russischen Besucher wirkte, zeigt die vernichtende, den vielsagenden Titel Hinterhof der Leprakranken tragende Kritik von Stasov, 1145 At the races in the Countryside, 1869, Öl auf Leinwand, 36,6 × 55,9 cm, Museum of Fine Arts, Boston, Inv. 26.790. 1146 Портрет девочки (Габриэлла Ленбах), 1898, Öl auf Leinwand, 64,5 × 56 cm, SPMbK, Moskau, Inv. Ж-3505. 1147 Katalog mezhdunarodnoi vystavki zhurnala „Mir iskusstva“, in: Mir iskusstva, Nr. 6, 1899, S. 1–4, Abb. S. 91–106: Anquetin Kat. 7–11; Bakst Kat. 12–13; Benois Kat. 23–24; Besnard Kat. 18–22; Böcklin Kat. 17; Boldini Kat. 40–44; Carrière Kat. 107–109; Degas Kat. 80–87, hier Kat. 81; Edelfeldt Kat. 308–311; Forain Kat. 281–282; Frédérique Kat. 283–304; Gallen-Kallela Kat. 60–68; Golovin Kat. 69–71; Korovin Kat. 118–120; Lenbach Kat. 131–132, hier Kat. 132; Levitan Kat. 133–141; Liebermann Kat. 145–151; Maliavin Kat. 152–154; Monet Kat. 161–162; Moreau Kat. 163; Nesterov Kat. 164–169; Polenova Kat. 175–221; Puvis de Chavannes Kat. 223–225, hier Kat. 223; Renoir Kat. 246–246a; Repin Kat. 250–252; Somov Kat. 260–264; Thaulow Kat. 272–274; Troubezkoy Kat. 275–278a; Whistler Kat. 279–280; Yakunchikova Kat. 315–322. 1148 Ebd. S. 4, nicht nummeriert. 1149 Павел Петрович Трубецкой, 1898, Pastell auf Papier, sign. links unten, Größe und Verbleib unbekannt. 1150 Мария Клавдиевна Тенишева, 1899, Öl auf Leinwand, 100 × 115 cm, sign. und dat. links oben, Staatliches Museum der Stadt Smolensk, Inv. Ж 91. 1151 Katalog mezhdunarodnoi vystavki zhurnala „Mir iskusstva“, in: Mir iskusstva, Nr.  6, 1899: Serov S.  4, Kat. 265–271, Abb. S. 91 und 101; Maria K. Tenisheva, Vpechatleniia moiei zhizni, Leningrad: Iskusstvo, 1991, S. 162–169. 1152 Tenisheva 1991, S. 164f.

5.5 Anmerkungen zu Serovs Mitwirkung in Sergei Diaghilevs Mir iskusstva und Ballets Russes

58 Sergei Diaghilev / Сергей Павлович Дягилев, 1904, Öl auf Leinwand, 97 × 83 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-1922

der seine Eindrücke mit den Worten „Unheil“, „Horror“ und „Schande“ beschrieb.1153 Die große Verachtung, die die Mitglieder und Unterstützer der Genossenschaft der Wanderausstellungen gegenüber den jungen, ‚dekadenten‘ Künstlern lautstark zum Ausdruck brachten, führte dazu, dass Serov im Jahr 1900 seine Mitgliedschaft bei den Peredvizhniki beendete, womit sein Bruch mit der alteingesessenen Vereinigung nun auch offiziell und endgültig wurde. Umso stärker wurde seine Bindung an die Modernisten der neuen Künstlergeneration. Noch Ende Februar 1900 wurde er zusammen mit Diaghilev und Benois in das Komitee der Ausstellung des nächsten Jahres gewählt und beteiligte sich in der Folgezeit an vier weiteren Mir-iskusstva-Ausstellungen, bis die Gruppe 1904 – in dem Jahr, in dem Serovs unvollendetes Bildnis von Diaghilev1154 entstand (Abb. 58) – de facto zerfiel und die Herausgabe ihrer Zeitschrift Anfang 1905 einstellte.1155 Sein Engagement mit den Kräften, die sich nach Veränderungen in der russischen Kunstszene sehnten, reichte aber über Mir iskusstva hinaus. 1903 bekam Serov die Einladung, der Moskauer Künstlervereinigung Soyuz russkikh

1153 „О ужас, о бедствие, о бедные мы! [...] Какой позор! Какой стыд!“ Vladimir Stasov, Podvorye Prokazhennykh, in: Novosti i birzhevaia gazeta, Nr. 39, 8.2.1899, zit. in: V. V. Stasov. Izbrannyie sochineniia v triokh tomakh, Bd. 3, Moskau: Iskusstvo, 1953, S. 257–263, hier S. 258 und 259. Ähnlich klang auch Stasovs einen Monat zuvor erschienene Kritik Geistesarme, die er in der Zeitschrift Mir iskusstva veröffentlichte, siehe: ders., Nishchiie dukhom, in: Novosti i birzhevaia gazeta, Nr. 5, 5.1.1899, zit. in: V. V. Stasov... 1953, S. 232–238. 1154 Сергей Павлович Дягилев, 1904, Öl auf Leinwand, 97 × 83 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-1922. 1155 Eine Zusammenfassung der einzelnen Mir-iskusstva-Ausstellungen siehe bei: Marcadé 1971, S. 111–114.

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­khudozhnikov1156 (Union Russischer Künstler, 1903–23) beizutreten. 1905 trat er dem Moskovsiky literaturno-khudozhestvenny kruzhok1157 (Moskauer Literatur- und Kunstkreis, 1899–1917) bei, der progressive Literaten und Kulturschaffende zusammenbrachte. Im Jahr 1907 wurde er in das Komitee des Kulturvereins Obshchestvo Svobodnoi estetiki1158 (Verein der Freien Ästhetik, 1907–17) berufen, der aus dem Moskauer Literatur- und Kunstkreis hervorging. 1909 und 1910 nahm er an den Ausstellungen teil, die von der Zeitschrift Apollon (1909–17) organisiert wurden. Erinnert man sich an Serovs Mitgliedschaften in der Münchner (1898), Berliner (1903) und Wiener Secession (1908) und seine Zurückhaltung, den Einladungen zu den großen akademischen Ausstellungen Folge zu leisten, so wird ersichtlich, wie konsequent der Künstler seine modernistische Haltung verfolgte. Seine enge Bindung an Diaghilev hielt Serov trotz der in den Mir-iskusstva-Reihen herrschenden Zerstrittenheit und seiner anderweitigen Mitgliedschaften auch nach 1904 stets aufrecht. Zwischen März und April 1905 nahm er mit fünf Werken – Alexander III. bei den Manövern (1900), Großherzog Georgy Mikhailovich (1901), Großherzog Mikhail Nikolaievich1159 (1900), Graf Felix Sumarokov-Elston (1903, Abb. 96) und Maria Ermolova (1905, Abb. 56) – an der Historischen Ausstellung der russischen Porträts von 1705 bis 1905 im Taurischen Palais in St. Petersburg teil, in der Diaghilev 2308 Bildnisse aus diversen russischen und ausländischen Museen und Privatsammlungen zusammentrug.1160 Anfang 1906 beteiligte er sich mit sieben Arbeiten – Glikeria Fedotova (1905), Feodor Chaliapin (1905, Abb. 47), Baden des Pferdes (1905), Pereslavl-Zalessky1161 (1904–05), Pferd an der Scheune1162 (1905), Pferde am Teich1163 (1905) und Windhund Filu1164 (1905) – an der VI. Mir iskusstva Ausstellung in St. Petersburg, die ebenfalls von Diaghilev kuratiert wurde. Noch im gleichen Jahr waren Serovs Bilder, wie im vorigen Kapitel eingehend beschrieben, in Diaghilevs Ausstellung in Paris sowie anschließend in 1156 Die Union russischer Künstler (1903–23) zu deren Mitgliedern Arkhipov, Benois, Grabar, Korovin, Somov und Yuon zählten, veranstaltete im Laufe der Jahre 18 Ausstellungen in Moskau, St. Petersburg, Kazan und Kiew. 1157 Der Moskauer Literatur- und Kunstkreis (1899–1919) wurde u. a. von Konstantin Stanislavsky, Anton Chekhov und Maria Ermolova ins Leben gerufen. Zu seinen Aufgaben gehörte die Organisation von Vorträgen, Lesungen und Debatten, an denen russische und ausländische Literaten, Künstler und Schauspieler teilnahmen. 1158 Dem Verein der Freien Ästhetik (1907–17) schlossen sich im Laufe der Zeit etwa 200 Kulturschaffende an: darunter der Theaterregisseur Konstantin Stanislavsky, der Sänger Feodor Chaliapin, die Maler Grabar, Larionov, Sapunov, Saryan und Yuon sowie die Sammler Ivan Morozov, Ivan Troianovsky und Sergei Shchukin, siehe dazu: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 340f., Anm. 17. 1159 Вел. кн. Михаил Николаевич в фельдмаршалском мундире, 1900, Technik, Größe und Verbleib unbekannt. 1160 Siehe dazu u. a.: Vladimir Stasov, Itogi nashei portretnoi vystavki, in: Novosti i birzhevaia gazeta, 2.6.1905, Nr. 137 und 3.6.1905, Nr. 138, zit. in: V. V. Stasov. Izbrannyie sochineniia v triokh tomakh. Zhivopis, skulptura, muzyka, Bd. 3, Moskau: Iskusstvo, 1952, S. 304–314. 1161 Провинция (Переславль-Залесский), 1905, Aquarell, Kohle auf Papier, 37,5 × 54,2 cm, sign. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. P-13441. 1162 Лошадь у сарая, 1905, Aquarell, Lack auf Karton, 35,8 × 52,5 cm, sign. und dat. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. P-3225. 1163 Лошади у пруда, 1905, Aquarell, Weiß, Tusche auf Karton, 37,2 × 54,2 cm, sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 11300. 1164 Борзая Филу, 1905, Aquarell, Gouache auf Karton, 40 × 74 cm, sign. und dat. rechts unten, Verbleib unbekannt.

5.5 Anmerkungen zu Serovs Mitwirkung in Sergei Diaghilevs Mir iskusstva und Ballets Russes

59 Nikolai Rimski-Korsakov / Николай Андреевич Римский-Корсаков, 1908, gepresste Kohle auf Papier auf Karton, 64 × 45 cm, STG, Moskau, Inv. 5777

Berlin (1906–07) und Venedig (1907) zu sehen. 1908 zeichnete er im Auftrag des Entrepreneurs ein Porträt von Rimski-Korsakov1165 (Abb. 59), der bei Diaghilevs Musikkonzerten in der Pariser Grand Opéra in den Jahren 1907 und 1908 auftrat.1166 Die Korrespondenz zwischen den beiden Männern belegt, dass sie auch freundschaftlich verbunden waren. Eine Folge dieser Bindung war, dass Serov in Diaghilevs nächstes großes Projekt, die Ballets Russes, involviert war. Bereits 1908, lange vor der Eröffnung der ersten russischen Ballett-Saison im Théâtre du Châtelet am 19. Mai 1909, wurde er mit den Bühnenbildentwürfen für die Oper seines Vaters Judith (1862) beauftragt, die am 6. Juni 1909 in der französischen Hauptstadt Premiere feierte.1167 Im März 1909 stellte er den Entwurf des Plakats Anna Pavlova in La Sylphide1168 fertig, der im Vorfeld der Auftritte der rus 1165 Николай Андреевич Римский-Корсаков, 1908, Gepresste Kohle auf Papier auf Karton, 64 × 45 cm, sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 5777. 1166 Im Mai 1907 nahm Rimski-Korsakov zusammen mit Sergei Rakhmaninov und Feodor Chaliapin u. a. an der Serie aus fünf Konzerten in der Grand Opéra teil. Ein Jahr später zeigte Diaghilev dort Mussorgskys Boris Godunov (1870) in der Bearbeitung von Rimski-Korsakov und mit Feodor Chaliapin in der Hauptrolle. 1167 Dieser Entwurf befindet sich heute im Petersburger Staatlichen Museum für Theater und Musik. Eine Anfrage an das Museum bez. Technik, Größe und Abbildung blieb unbeantwortet. Stand: Januar 2016. 1168 Анна Павлова в образе Сильфиды, 1909, Farblithografie auf Papier, 257,4 × 199 cm, Staatliche Russische Bibliothek, Moskau, Inv. 723-09.

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sischen Tanztruppe in ganz Paris hing. Der Wiedererkennbarkeitswert dieses Plakats war für das europäische Publikum offenbar so groß, dass der französische Maler Jean Cocteau es zwei Jahre später für seine Ballets Russes-Plakatentwürfe beinah als Bildzitat übernahm. Serov war zwar nicht bei den ersten Aufführungen der Ballets Russes anwesend, verbrachte aber den Herbst und Winter 1909 in Paris, wo er zusammen mit seiner Cousine, der Grafikerin Nina Efivoma (geb. Simonovich, 1878–1948), und ihrem Ehemann, dem Tiermaler Ivan Efimov (1878–1959), lebte und in der Kapelle der Sacré-Coeur de Jésus (heute eine Filiale des Musée Rodin) ein Atelier mietete. In dieser Zeit besuchte er die Académie Julian (1839–heute) und die Academie Colarossi (1870–1930), die mit ihren Aktklassen Künstlern die Gelegenheit gaben, Bewegungs- und Körperstudien zu betreiben. Die meisten von Serovs Croquis-Akten werden wahrscheinlich während seiner späten Parisaufenthalte entstanden sein, denn diese Art von schneller Zeichenmanier, bei der der Körper in reinen Umrisslinien und mit wenig Modellierung erfasst wird, wurde dort konsequent praktiziert (Sitzender weiblicher Akt1169, 1910–11; Stehender weiblicher Rückenakt1170, 1910–11, Abb. 60). 1910 machte Serov die französische Hauptstadt mehrfach zu seinem Reiseziel. Als er hier zwischen Mitte Mai und Mitte Juni verweilte, wohnte er den Ballets Russes-Auftritten bei, darunter Rimski-Korsakovs Scheherazade (1888), malte in der Sacré-Coeur-Kapelle das Aktbildnis der Tänzerin Ida Rubinstein1171 (Taf. XII) und nahm den Unterricht an den beiden genannten Privatakademien wieder auf. In der zweiten Oktoberhälfte kam er nochmals kurz nach Paris und dann erneut Ende November, nach seinen Aufenthalten in Madrid, Toledo und Berck (Pas-de-Calais). Zurück in Moskau begann Serov noch im Dezember, an den Entwürfen1172 für das neue Bühnenbild der Scheherazade zu arbeiten. Die Idee dazu muss ihn aber schon zuvor beschäftigt haben, denn im Februar – bevor er der Aufführung dieses Musikstücks beiwohnte – hatte er die ersten Kopien1173 nach den alten orientalischen Miniaturen angefertigt. Als er am 16. Mai 1911 wieder nach Paris kam, erstellte er mit Hilfe der Efimovs das Bühnenbild1174, 1169 Сидящая натурщица, 1910–11, schwarzer Stift auf Papier, 39,8 × 26,6 cm, sign. rechts unten, STG, Moskau, Inv. P-4414. 1170 Стоящая натурщица (со спины), 1910–11, schwarzer Stift auf Papier, 42,8 × 26,6 cm, sign. rechts unten, STG, Moskau, Inv. P-621. 1171 Ида Рубинштейн, 1910, Tempera und Kohle auf Leinwand, 147 × 233 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-1915. 1172 Эскиз занавеса к балету „Шехеразада“, 1910, Gouache auf Karton, 56 × 72 cm, sign. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-1920; Выезд на охоту, 1910–11, Aquarell, schwarzer Stift auf Karton, 37,3 × 27,7 cm, STG, Moskau, Inv. P-1062; Принц, 1910–11, Aquarell, bronzene Farbe auf Papier, 25,2 × 17 cm, Museum der Stadt Pskov, Inv. ПКМ-725; Эскиз занавеса к балету „Шехеразада“, 1910–11, Gouache, bronzene Farbe, Bleistift, Weiß auf Karton, 68 × 87 cm, sign. rechts unten, STG, Moskau, Inv. P-1159. Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 439f.) listen 16 dazugehörige Studien auf. Des Weiteren nennen die Autoren zwei dazugehörige Skizzenalben: ein Album mit 34 Blättern, davon eines mit der Studie des Bühnenbildes (14,2 × 8,3 cm, STG, Moskau, Inv. P-165) und ein Album mit 50 Blättern, davon 48 mit dazugehörigen Studien (17,5 × 11,2 cm, STG, Moskau, P-164). 1173 Всадник, 1910–11, Bleistift auf Papier, 17,5 × 11,2 cm, STG, Moskau, Inv. P-164. Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 440) nennen acht weitere Studien sowie ein dazugehöriges Album, aus dem auch die Kopie des Reiters nach einer iranischen Miniatur stammt (siehe ebd.). 1174 Занавес к балету „Шехеразада“, 1911, Leimfarben, Mischtechnik auf Leinwand, 554 × 810 cm, Slg. Rostropovich und Vishnevskaya, St. Petersburg.

5.5 Anmerkungen zu Serovs Mitwirkung in Sergei Diaghilevs Mir iskusstva und Ballets Russes

60 Stehender weiblicher Rückenakt / Стоящая натурщица (со спины), 1910–11, schwarzer Stift auf Papier, 42,8 × 26,6 cm, STG, Moskau, Inv. P-621

das zwischen dem 11. und dem 17. Juni im Théâtre du Châtelet und dann am 7. Juli im Convent Garden in London zum Einsatz kam. Serovs Begegnung mit Diaghilev und ihre Zusammenarbeit bei Mir iskusstva und Ballets Russes öffneten seinem Schaffen neue Wege. Das äußerte sich nicht nur in seiner Ausstellungstätigkeit, sondern auch in seiner Bildsprache: teils in der dekorativen Farbigkeit und Vereinfachung der Formen (Spazierfahrt am Butterfest1175, 1904; Raser1176, 1908), teils in der noch größeren malerisch-abstrahierenden Pastosität des Duktus (Wäschewaschen am Fluss1177, 1901). In diese Zeit fiel zudem seine vertiefte Auseinandersetzung mit Illustration, Genre- und Bühnenbild – den zentralen Arbeitsfeldern vieler anderer miriskussniki, sei es Somov, Bakst, Dobuzhinsky oder Roerich. Welch große Rolle Serov wiederum für den geistigen Zusammenhalt der Mir-iskusstva-Individualisten spielte, verdeutlicht die Aussage von Benois, dass er als einziger für die „Seele von jedem einzelnen [...] und für die Gemeinschaftsseele“ der Gruppe sorgen 1175 Катание на маслениц масленицу (Деревенская масленица), 1904, Pastell, Gouache auf Karton, 49,5 × 31,3 cm, sign. rechts oben, Staatliche Gemäldegalerie der Stadt Perm, Inv. РК-4425, Ж-372. 1176 Лихач, 1908, Pastell, Tempera, Grafit, Gouache auf Papier auf Karton, 37,5 × 53 cm, sign. und dat. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4300 . 1177 Полоскание белья (На речке), 1901, Öl auf Karton, 47,5 × 66 cm, Privatbesitz.

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5. Sehen und gesehen werden

61 Bucht. Naupli / Пристань Наупли, 1907, Aquarell, Bleistift auf Papier, 27,5 × 18,3 cm, SRM, St. Peters­burg, Inv. P-6541

konnte.1178 Nach den Worten des Komponisten Igor Stravinsky (1882–1971) sei Serov, den Diaghilev als „Justice elle-même“ („Justitia höchst persönlich“) bezeichnet habe, das Gewissen der Vereinigung gewesen.1179 Dass der Künstler seinerseits empfänglich gegenüber den Einschätzungen seiner jüngeren Kollegen war, zeigte sich an seiner Reflektion, die auf die Kritik seiner Bilder im Salon d’Automne von 1906 folgte.1180 Angespornt, nach einem neuen Form- und Farbempfinden zu suchen, wandte er seinen Blick verstärkt in Richtung antikes Griechenland (Raub der Europa1181, 1910, Taf. XIII), alter Orient (Bühnenbild zum Ballet Scheherazade, 1911) und Asien (Bucht. Naupli1182, 1907, Abb. 61; Ida Rubinstein, 1910, Taf. XII). Dabei scheute er sich nicht, wieder zum Studenten zu werden und bei Colarossi und Julian Seite an Seite mit den weniger erfahrenen Kollegen fleißig zu üben.

1178 „We needed him, not as a famous artist, an undisputed authority [...] but for the care of our souls, for the souls of each of us separately, and for the „collective soul“ of our circle“, Benois 1977, S. 193. 1179 Igor Stravinsky, Dialogi, Leningrad: Muzyka, 1971, S. 8. 1180 Leon Bakst an Serov am 1.12.1906 aus St. Petersburg, STG/QS, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 2, Nr. 497, S. 79–82. 1181 Похищение Европы, 1910, Tempera, Gouache, Kohle auf Leinwand, 80 × 100 cm, STG, Moskau, Inv. P-2729. 1182 Пристань Наупли, 1907, Aquarell, Bleistift auf Papier, 27,5 × 18,3 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-6541.

5.6 Anmerkungen zur Weltausstellung in Rom (1911)

62 Utagawa Hiroshige I, Mitsuke. An der Überfahrt am Fluss Tenrugawa / Мицуке. Переправа на реке Тэнрюгава, 1855, Xylografie, 34,3 × 22,4 cm (Ōban), SPMbK, Moskau, Inv. A. 18905

5.6 Anmerkungen zur Weltausstellung in Rom (1911) Die Esposizione Internazionale di Belle Arti, die zwischen dem 28. März und dem 31. Dezember 1911 in Rom stattfand, war die letzte internationale Ausstellung, an der Serov teilnahm.1183 Diese Kunstschau zählte zusammen mit der Mostra Regionale, Mostra Etnografica, Mostra dell’Argo Romano, Mostra archeologica alle Terme di Diocleziano, Mostra Reprospettive und Mostra del Risorgimento zu der großen Ausstellungsreihe, die anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens des Italienischen Königreichs veranstaltet wurde.1184 Für die Esposizione Internazionale di Belle Arti wurde ein 5000 m2 großes Areal zwischen dem Museo di Villa Giulia und der Villa Umberto errichtet, auf dem die Kunstwerke im Palazzo delle Belle Arti (heute GNAM) sowie in elf speziell aufgestellten Länderpavillons präsentiert wurden. Die Italiener zeigten unter anderem Bezzi, Carcano, Ciardi, Fragiacomo, Zandomeneghi und Merdardo Rosso; die Franzosen Besnard, Monet, Redon, Renoir und Rodin; die Holländer Isaac und Jozeph Israëls, Willem und Jacob Maris, Mesdag, Mauve und Breitner. Die Dänen brachten Krøyer, Anna und Michael Ancher, Tuxen und Hammershøi

1183 Catalogo della Mostra di Belle Arti: esposizione internazionale di Roma, Bergamo: Ist. Italiano d’arti Grafiche, 1911. 1184 Siehe: Stefania Massri, La Festa delle Feste. Roma e l’Esposizione Internazionale del 1911, Rom: Palombi & Partner Srl, 2011.

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(Der Maler und seine Ehefrau1185, 1898), die Norweger Thaulow, Munthe, Christian und Oda Krogh, Wesenskiold und Munch (Inger Munch1186, 1892) und die Deutschen Menzel, Feuerbach, Leibl, Uhde, Corinth, Slevogt und Liebermann (Stopfende Alte am Fenster, 1880; Alfred von Berger1187, 1905). Im englischen Pavillon, der mit seiner Retrospektivausstellung der Werke von Hogarth, Gainsborough, Reynolds, Constable und Turner Eindruck machte, traf man auch einige Präraffaeliten, John Lavery sowie die Amerikaner Sargent (Madame X1188, 1884) und Whistler (Arrangement in Schwarz: Bildnis von Señor Pablo de Sarasate1189, 1884). Von den Amerikanern nahmen ferner Alexander, Beaux, Cassatt und Chase an der Ausstellung teil. Zu den weiteren Malern, die exponiert wurden, gehörten Zorn, Klimt (Margaret Stonborough-Wittgenstein1190, 1905), Hodler, Ensor, Sorolla und Zuloaga (Lola la gitana1191, 1909).1192 Es fällt auf, dass in dieser verkürzten Teilnehmerliste zwar bedeutende Namen auftauchten, aber gleichzeitig eine ganze Reihe der inzwischen bekannten linken Künstler fehlte. Das lag jedoch weniger an den italienischen Organisatoren, sondern eher an den Ländervertretungen: So schlossen die Franzosen nicht nur die Fauves und die Kubisten aus, sondern lehnten es trotz ausdrücklicher Anfrage seitens der Italiener kategorisch ab, sogar den Impressionisten mehrere Säle einzuräumen, während die Holländer auf van Gogh und Toorop verzichteten.1193 Im russischen Pavillon, dessen Eröffnung am 15. Mai stattfand, wurde der Schwerpunkt indes – ähnlich wie bei der Biennale in Venedig im Jahr 1907 – auf die modernen Tendenzen gelegt, wenngleich man ebenfalls mehrere ältere und konservative Maler miteinbezog und gleichzeitig einige wichtige progressive Künstler wie Vrubel, Borisov-Musatov und die Vertreter des Bubnovy Valet (Karo Bube1194, 1910–17) nicht berücksichtigte. So waren hier – außer Serov – mitunter Benois, Braz, Dobuzhinsky, Grabar, Konenkov, Korovin, ­Kustodiev, ­Lanceray, Maliavin, Nesterov, Ostroumova-Lebedeva, Petrov-Vodkin, Repin, Roerich, Saryan, Surikov, Troubetzkoy und Yuon vertreten.1195

1185 Kunstnerens og hans hustru, 1898, Öl auf Leinwand, 71,5 × 86 cm, ARoS Aarhus Kunstmuseum, Inv. М627. 1186 Inger Munch, 1892, Öl auf Leinwand, 172,5 × 122,5 cm, Nasjonalmuseet, Oslo, Inv. NG.M.00499. 1187 Alfred von Berger, 1905, Öl auf Leinwand, 111 × 92 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Inv. 2457B. 1188 Madame X, 1883–84, Öl auf Leinwand, 208,6 × 109,9 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, Arthur Hoppock Hearn Fund, 1916, Inv. 16.53. 1189 Arrangement in Black: Portrait of Señor Pablo de Sarasate, 1884, Öl auf Leinwand, 228,6 × 121,9 cm, Carnegie Museum of Art, Pittsburgh (PA), Inv. 96.2 1190 Margaret Stonborough-Wittgenstein, 1905, Öl auf Leinwand, 179,8 × 90,5 cm, Neue Pinakothek, München, Inv. 13074. 1191 Lola la gitana, 1909, Öl auf Leinwand, 128 × 200 cm, Museo Revoltella, Triest, Inv. 313. 1192 Die hier aufgeführten Informationen zu Künstlern und Bildern basieren auf den Angaben des Ausstellungskatalogs sowie auf der bebilderten Kritik von Yakov Tugendhold, siehe: Catalogo della Mostra di Belle Arti ...1911; Yakov Tugendhold, Mezhdunanodnaia vystavka v Rime, in: Apollon, Nr. 9, 1911, S. 30–52. 1193 Tugendhold 1911, S. 30f. 1194 Zu den Mitgliedern des Bubnovy Valet (Karo Bube, 1910–17) zählten u. a. Piotr Konchalovsky, Ilya Mashkov, David und Vladimir Burlyuk, Natalia Goncharova, Mikhail Larionov und Kasimir Malevich. Sie ließen sich von Cézanne, den Fauves, den Kubisten sowie vom russischen Kunsthandwerk inspirieren. 1195 Tugendhold 1911, S. 47–49.

5.6 Anmerkungen zur Weltausstellung in Rom (1911)

Serov und Repin, die zur Eröffnung des Pavillons nach Rom reisten, hatten in separaten Räumen kleine Einzelausstellungen ausrichten können. Serov präsentierte 18 Werke aus unterschiedlichen Schaffensphasen, davon zehn Porträts, nämlich: Francesco Tamagno (1891, Abb. 52), Mikhail Morozov (1902, Abb. 53), Alexandr Turchaninov1196 (1907), Maria Akimova1197 (1908, Taf. XIV), Elena Oliv1198 (1909), Alexandr Lensky und Alexandr Yuzhin1199 (1908), Maria Tsetlin1200 (1910), Ivan Morozov1201 (1910), Ida Rubinstein (1910, Taf. XII) und Großfürstin Olga Orlova1202 (1910–11, Abb. 63). Zu den weiteren Werken gehörten drei Jagdszenen1203 aus dem Leben russischer Herrscher (1900 und 1902), Weib auf dem Pferdewagen1204 (1896), Finnischer Hof (1902), Pferde an der Meeres­küste (1905), Windhund Filu (1905) sowie der Kopf einer Frau (?) aus der Sammlung des Grafen Dmitry Tolstoy, der als Kommissar der russischen Ausstellung fungierte.1205 Die Zusammensetzung fiel weniger umfangreich aus als die von Repin, der 23 Gemälde sowie 39 Zeichnungen, Aquarelle und Skizzen zeigte.1206 Doch Serov, der den russischen Pavillon für den besten hielt, aber Repins Bilderauswahl überaus kritisch beäugte, war mit seiner Einzelpräsentation überaus zufrieden.1207 Die italienischen Kritiker waren das auch. Viele lobende Worte für die Linienführung und die Palette erntete allen voran seine Ida Rubinstein (1910, Taf. XII), von der, nach den Worten von Ugo Ojetti, „keiner – und zwar nicht 1196 Александр Николаевич Турчанинов, 1907, Öl auf Leinwand, 87,5 × 97,5 cm, sign. links oben, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4306. 1197 Мария Николаевна Акимова, 1908, Öl auf Leinwand, 77 × 62 cm, sign. rechts unten, Armenische Nationalgalerie, Jerewan, Inv. ж-548/766. 1198 Елена Павловна Олив, 1909, Gouache, Aquarell, Pastell auf Karton, 93,5 × 66,2 cm, sign. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. P-13426. 1199 Александр Павлович Ленский и Александр Иванович Южин, 1908, Tempera, Öl auf Leinwand, 149 × 143 cm, STG, Moskau, Inv. 28081. 1200 Мария Самойловна Цетлин, 1910, Tempera auf Leinwand, 109 × 74 cm, sign. und dat. links, Privatbesitz. 1201 Иван Абрамович Морозов, 1910, Tempera auf Pappe, 63,5 × 77 cm, sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 10872. 1202 Княгиня Ольга Константиновна Орлова, 1910–11, Öl auf Leinwand, 237,5 × 160 cm, sign. und dat. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4289. 1203 Peter II. und Zarewna Elizaveta auf der Hundejagd (1900, SRM, Ж-4291); Katharina II. bei der Falkenjagd (1902, SRM, Ж-4292); Peter der Große auf der Hundejagd (1902, SRM, Ж-4290). 1204 Баба в телеге, 1896, Öl auf Leinwand, 48 × 70 cm, sign. und dat. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4302. 1205 Mostra individuale di Valentin Serow, in: Catalogo della Mostra di Belle Arti: esposizione internazionale di Roma, S. 294, Kat. 386–404, davon Kat. 397 leer. Die leere Katalognummer erklärt sich damit, dass der Künstler ursprünglich plante, auch Sophia Botkina (1899, SRM, St. Petersburg, Taf. IX) nach Rom zu schicken, siehe: Serov an Dmitry I. Tostoy am 11.10.1910 aus Moskau, in: SRM, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 2, Nr. 686, S. 232–234, hier S. 233. Dass Ivan Morozov (1910, STG) in der Ausstellung war (offenbar Kat. 393, als „Ritratto di M. N. Marozov“ betitelt), wird aus der Kritik von Tugendhold (1911, S. 48) ersichtlich. 1206 Mostra individuale di Ilia Repin, in: Catalogo della Mostra di Belle Arti: esposizione internazionale di Roma, S. 202f., Kat. 362–385, unter Kat. 385 werden 39 Titeln aufgeführt. 1207 Serov an Ilya Ostroukhov am 1., 9. und 11.5.1911 aus Rom, in: STG/QS, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 2, Nr. 758, S. 280f., hier S. 281, Nr. 762, S. 284 und Nr. 763, S. 285; Serov an Margarita Morozova am 11.5.1911 aus Rom, in: Russische Nationalbibliothek, St. Petersburg, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 2, Nr. 764, S. 286.

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5. Sehen und gesehen werden

63 Herzogin Olga Orlova / Княгиня Ольга Константиновна Орлова, 1910–11, Öl auf Leinwand, 237,5 × 160 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4289

5.6 Anmerkungen zur Weltausstellung in Rom (1911)

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64 Dmitry Levitsky, Ekaterina Molchanova / Екатерина Ивановна Молчанова, 1776, Öl auf Leinwand, 181,5 × 142,5 cm, SRM, St. ­Petersburg, Inv. Ж-4990

nur die Künstler – die Augen lassen konnte“1208. In Russland fand der Auftritt des Künstlers ebenfalls ein sehr positives Echo. Yakov Tugendhold, der in seiner Kritik der römischen Ausstellung mit exzellenten Kenntnissen der europäischen und amerikanischen Kunst glänzte, konstatierte „mit gewisser patriotischer Zufriedenheit... ..., dass unter allen zeitgenössischen Porträtisten die Palme des Sieges an Serov verliehen werden sollte. Neben Sargent, Besnard, Lavery, Zorn und Liebermann wirkt er als der ehrlichste, der eindringlichste Maler des menschlichen Gesichts. [...] Er besitzt einen dermaßen scharfen Blick, eine solche magische Kraft, die menschliche Seele zu offenbaren, dass es einem in diesem kleinen Serov-Saal, wo den Besucher von allen Seiten unterschiedlichste menschliche Gesichter-Seelen anschauen, unheimlich wird.“1209 1208 „gli squardi di tutti, non solo degli artisti“ Ugo Ojetti, L’esposizione d’arte e Roma: pittura russa, in: Corriere della sera, 14.3.1911, S. 3. Ugo Ojetti (1871–1946), Schriftsteller, Kunstkritiker, Journalist, neben dem für Corriere della sera u. a. für La Tribuna, La Stampa, Il Giornale di Roma und Il Giornale d’Italia tätig. Im August 1910 stattete Ojetti, der an russischer Kunst und Literatur sehr interessiert war, Serov in dessen Sommerhaus im finnischen Ino einen Besuch ab, siehe dazu: Serov an Ilya Ostroukhov am 19.8.1910, in STG/QS, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 2, Nr. 676, S. 224f. 1209 „приходится съ извѣстнымъ патрiотическимъ удовлетворенiемъ констатировать, что Сѣрову должна быть выдана пальма первенства среди всѣх портретистовъ современности. Рядомъ съ Сарджентомъ, Бенаромъ, Левери, Цорномъ, Либерманомъ онъ кажется самымъ правдивымъ, самымъ проникновеннымъ

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5. Sehen und gesehen werden

Wie bleibend der Eindruck war, den Serovs „Gesichter-Seelen“ bei den europäischen Betrachtern im Laufe der Jahre hinterließ, zeigten nicht nur die zahlreichen veröffentlichten Kritiken, sondern auch die scheinbar unzähligen Meldungen, die auf seinen plötzlichen Tod am 22. November 1911 in der internationalen Presse folgten.1210 Die nun folgende Werkdiskussion geht unter anderem der Frage nach, warum der Künstler aus der Bilderflut der westeuropäischen Ausstellungen so hervorstach und mit seinen „Gesichter-Seelen“ nachhaltig ins Gedächtnis eindrang.

художникомъ человѣческаго лица. [...] У него такая острота зрѣнiя, такая магическая сила выявлениiя чужой души, – что жутко становиться въ этой маленькой Сѣровской залѣ, гдѣ со всѣхъ стѣнъ глядятъ на посѣтителя самыя противоположныя человѣческiя лица-души.“ Tugendhold 1911, S. 48. 1210 Ausschnitte mit den Todesanzeigen aus den Zeitungen Frankreichs, Deutschlands, Italiens, Belgien und Österreichs werden in der Quellensammlung der Tretyakov Galerie aufbewahrt (STG/QS 49/190).

6. Linie, Farbe und Form: Tradition und Neuerung um 1900

Serovs unermüdliches Interesse der Erkundung diverser Techniken und Stile blieb ein entscheidendes Charakteristikum seines Schaffens. Dabei betrachtete er colore und disegno nicht als Entweder-oder-Prinzipien, sondern als zwei Hälften eines vollkommenen Ganzen. Das gleiche Streben nach Eintracht verfolgte er auch in seiner Haltung gegenüber kunsthistorischen Traditionen und modernistischen Neuerungen. Zum obersten Prinzip seines Umgangs mit technischen und stilistischen Mitteln wurde somit die varietas. In seinem Œuvre der späten 1880er–90er Jahre existieren parallel zu den impressionistischen Werken viele schlichte, unter Einsatz dunkler Farben gemalte Arbeiten, die noch das Gepräge seiner Vorgänger tragen: wie beispielsweise die Bildnisse des Leiters des Moskauer Historischen Museums Ivan Zabelin1211 (1892) und des Schriftstellers Nikolai Leskov1212 (1894, Abb. 65). Serov porträtierte Zabelin in einem der Räume des Historischen Museums und ließ ihn wie einen Gelehrten aus der Vergangenheit erscheinen, indem er einer klassischen, seit der Renaissance verwendeten Formel folgte. Der Dargestellte wird sitzend als Halbfigur in einer Dreivierteldrehung gezeigt, sein rechter Unterarm ruht fest auf dem Tisch, im Hintergrund sind dunkelbraune Holzregale mit Ikonen zu sehen. Zabelin trägt einen weiten schwarzen Anzug, der an eine altertümliche Robe aus einem Holbein-Bildnis erinnert. Sein nachdenklicher Blick ist abgewandt. Die weißen Haare und der Bart rahmen sein Gesicht wie eine Aureole. Leskovs Bildnis wurde ebenfalls als sitzende Halbfigur in einer Dreivierteldrehung nach links formuliert, die narrativen Details wurden aber ausgeblendet und durch einen neutralen, zwischen Graublau und gräulichem Braun changierenden Fond ersetzt. Zudem wurde

1211 Иван Егорович Забелин, 1892, Öl auf Leinwand, 80 × 67 cm, sign. und dat. rechts oben, Staatliches Historisches Museum, Moskau, Inv. 2882. Ivan Egorovich Zabelin (1820–1908), Archäologe, Historiker, Mitglied der Kaiserlichen Wissenschaftsakademie, einer der Initiatoren des Russischen Historischen Museums Alexander III. (heute Staatliches Historisches Museum) in Moskau. 1212 Николай Семенович Лесков, 1894, Öl auf Leinwand, 64 × 53 cm, sign. und dat. rechts oben, STG, Moskau, Inv. 1522. Nikolai Semionovich Leskov (1831–95) war neben Tolstoy und Dostoevsky einer der bedeutendsten russischen Prosaautoren, beeinflusste u. a. Anton Chekhov. Zu den bekanntesten Werken zählt Lady Macbeth von Mtsensk (1864), das für die gleichnamige Oper von Shostakovich als Vorlage diente.

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6. Linie, Farbe und Form

65 Nikolai Leskov / Николай Семенович Лесков, 1894, Öl auf Leinwand, 64 × 53 cm, STG, Moskau, Inv. 1522

das Modell durch das Anschneiden der Arme am Bildrand und den direkten, durchbohrenden Blick. Ein Vergleich zwischen Zabelin und Leskov verdeutlicht, dass Serov in diesen beiden, auf den ersten Blick ähnlichen Werken durch eine kleine ‚Phasenverschiebung‘ im Körperausschnitt, in der Hintergrundgestaltung, der Blickführung und der Palette unterschiedliche Wirkungen erzeugte, um seinen Modellen gerecht zu werden: Der Archäologe Zabelin befindet sich nicht nur gedanklich sondern wahrlich mit seinem ganzen Wesen in einer längst vergangenen Zeit, während der Schriftsteller Leskov die vor ihm liegende Gegenwart mit aller Kraft zu begreifen sucht. Referenzpunkte seiner frühen Bildnisse wurden für den Künstler wie im Leskov-Porträt vor allem Repin und auch der von Repin verehrte Velázquez.1213 Als Serov den Komponisten Pavel Blaramberg1214 (1888) und den Eisenbahningenieur Semion Chokolov1215 (1887) malte, kokettierte er ähnlich wie Velázquez mit der dunklen geschwungenen Kontur auf dem hel 1213 Korovin erinnerte sich auch, dass Serov „Velázquez liebte [und] Repin schätzte“, zit. in: Boris Petrovich Vysheslavtsev, Moi dni s K. A. Korovinym, in: Novy zhurnal, New York, Nr. 40, 1955, S. 158f., zit. nach: Samkov/ Silberstein 1971, Bd. 1, S. 308f., hier S. 309. 1214 Павел Иванович Бларамберг, 1888, 59 × 49 cm, sign. und dat. links oben, STG, Moskau, Inv. 15702. 1215 Семен Петрович Чеколов, 1887, Öl auf Leinwand, 68 × 54 cm, sign. und dat. links oben, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-1923.

5.6 Anmerkungen zur Weltausstellung in Rom (1911)

len Fond, was die grafische Wirkung dieser beiden farbig reduzierten Darstellungen deutlich steigerte. Die daraus resultierende Verfremdung – oder Verschlüsselung – der realen Form hat zur Folge, dass der Betrachter, von den ‚sprechenden‘ Details unbelastet, der Melodie der Linie lauscht und sich so unbewusst auf das Wesentliche – auf die Entschlüsselung der Aussage – konzentriert. Die im Blaramberg- und im Chokolov-Porträt erkennbare Akzentuierung der Silhouette als einer aus der Linie und Fläche hervorgehenden Einheit wurde von Serov in der Folgezeit als ein bedeutendes Charakterisierungswerkzeug verwendet. Exemplarisch können an dieser Stelle die Bildnisse von Vasily Surikov1216 (Ende 1890er), Liudmila Mamontova1217 (1894), Maria Ermolova (1905, Abb. 56) und Ida Rubinstein (1910, Taf. XII) genannt werden. In ­Surikovs unvollendetem Hüftbild wird durch kantige Umrisse Unerschrockenheit suggeriert. Der für seine dramatischen Historienbilder bekannte Maler steht einem Herkules gleich in einer entschlossenen Pose: die Linke in die Hüfte gestemmt, die Rechte in die Hosentasche gesteckt. Bei Mamontova sind die Konturen des hochgeschlossenen, puffärmeligen Kleides indes fließend und abgerundet, was mit der Lieblichkeit des Gesichts korrespondiert. Liudmilas schlichte Eleganz zeugt von ihrer Zurückhaltung, während die Arabeske des rechten Armes einen Hauch von mädchenhafter Verspieltheit in sich birgt. Im ganzfigurigen Bildnis von Maria Ermolova (1905, Abb. 56), der führenden tragischen Schauspielerin des Moskauer Maly Theaters, wird das kontemplative Insichgekehrtsein nicht nur durch den elegischen, in die Ferne gerichteten Blick, sondern auch durch die Silhouette verdeutlicht. Ermolova trägt ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid, das fast ohne Licht-Schatten-Modellierung ausgemalt wird und sich klar vor dem hellgrauen Hintergrund abzeichnet. Ihre Arme werden eng am Körper gehalten. Der Saum ihres Gewandes verschmilzt mit dem Boden, sodass sie fest mit ihm verwurzelt wirkt. Sie strahlt Unnahbarkeit aus, da die leichte Untersicht den Betrachter dazu bringt, zu ihr aufzusehen. In ihrer Monumentalität einer archaischen Statue gleichend, erscheint sie wie die Verkörperung der „Tragödie selbst“.1218 1910 gipfelten Serovs Linien-Experimente im Aktbildnis der Ballets-Russes-Tänzerin Ida Rubinstein (1910, Taf. XII), in dem die magere, entblößte Figur mit einer dunklen, direkt auf die ungrundierte Leinwand gesetzten Kontur kaligrafisch umrissen wird. Rubinsteins enigmatische, in ihrer Farbigkeit fast ausschließlich auf Schwarz-, Weiß- und Ockertöne reduzierte Gestalt weckt gleichzeitig Assoziationen zu archaischen Flachreliefs1219 und zu

1216 Василий Иванович Суриков, Ende 1890er Jahre, Öl auf Leinwand, 110 × 80 cm, STG, Moskau, Inv. Ж-479. 1217 Людмила Анатольевна Мамонтова, 1894, Öl auf Leinwand, Größe unbekannt, sign. und dat. rechts unten, 1919 bei einem Brand zerstört. 1218 Vgl. Grabar 1965, S. 168. 1219 Dying Lioness, Detail des Basreliefs aus dem Nordpalast von Assurbanipal, Raum C, Tafel 36, Nineveh, Irak ca. 645–635 v. Chr., Alabaster, 160 × 124 cm, British Museum, London, Inv. 124856.

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6. Linie, Farbe und Form

den traditionellen japanischen Wandschirmen1220 (Abb. 81 und 82). Kantig und in ihrer Weiblichkeit radikal zurückgenommen, erscheint sie trotz ihrer Nacktheit nicht wie eine verführerische Odaliske, sondern wie ein irreales und entmaterialisiertes, mit Trauer und Schmerz erfülltes, mythologisches Wesen. Die aufgeführten Beispiele zeigen, Serov die Haltung der Figur – definiert durch Linie und Fläche – als eine psychologisierende Charakteristik mit einbezog, anstatt sich an ‚sprechende‘ Details zu klammern. Mehr noch. Oft beließ er große Partien in einem werdenden, angedeuteten Zustand, wich absichtlich von einer naturalistischen Vollendung zurück und regte den Betrachter an, die Formen im Geiste fortzuschreiben und dadurch über Poesie der Linie und Farbe zu reflektieren. An dieser Stelle soll an die viel zitierte Aussage des Nabis-Malers Maurice Denis (1870–1943) erinnert werden: „Ein Bild ist – bevor es ein Schlachtpferd, eine nackte Frau oder irgendeine Anekdote darstellt – vor allem eine plane Fläche, die in einer bestimmten Ordnung mit Farbe bedeckt ist.“1221 Gerade in einer solchen bestimmten Ordnung setzte Serov konsequent die Bildelemente ein, um eine bestimmte Stimmung zu evozieren, ohne allerdings wie die Nabis seine Protagonisten auf einen Bestandteil des Bilddekorums zu reduzieren. Ebenso effektiv löste der Künstler die rein malerischen Aufgaben. Besonders deutlich wird das in der erfolgreichen Umsetzung seiner tonalen Bildkonzepte, in denen er die Emanzipation der Farbe anstrebt und die damit einhergehende Entmaterialisierung seiner Gestalten evoziert. An erster Stelle sind die in der dunklen Palette gehaltene Werke zu nennen, da gerade sie, wie zuvor betont, Serov als einen überragenden Maler herausstellen: Hier schaffte er ohne den sicheren Halt der Linie, ohne die dekorativen Farbkontraste oder einen narrativ ausgestatteten Raum Spannung zu erzeugen und sowohl seinen Modellen als auch der Malerei an sich gerecht zu werden. Mit Ausnahme des Gesichts drängte er das Figürlich-Mimetische immer wieder zurück, ließ bewusst die Spuren des Arbeitsprozesses sichtbar und gab die Bildformen – und mit ihnen die dargestellte Welt – in einem non-finiten, transitorischen Zustand wieder. In seinen Werken reflektierte er damit nicht nur die sichtbare Wirklichkeit, sondern auch die, die er erfühlte, und die in ihrer ständigen Metamorphose ihm zu entgleiten drohte.1222

1220 Kano Kōi, Pheasant and Pine, ca. 1626, sechsteiliger Wandschirm, Tusche, Farbe, Gold, Silber auf Papier, 170,2 × 380 cm, Saint Louis Art Museum, gestiftet von Mary und Oliver Landenberg, Mr. and Mrs. Richard A. Liddy sowie Susan und David Mesker, Inv. 105:2002; Kitagawa Utamaro, Bijin Holding Cloth for Wiping Tea-Ceremony Bowl, 1801–04, Seidenmalerei, 39,4 × 55 cm, British Museum, London, Inv. 1965, 0724, 0.4. 1221 „Se rappeler qu’un tableau, avant d’être un cheval de bataille, une femme nue ou une quelconque anecdote, est essentiellement une surface plane recouverte de couleurs en un certain ordre assemblées“, Maurice Denis unter dem Pseudonym Pierre Louis, Définition du Néo-Traditionalisme, in: Art et Critique, Nr. 65, 66, 23.8.1890, o. S. 1222 Zum bereits von Dante, Leonardo und Michelangelo formulierten Topos, dass die Vorstellung eines Künstlers mit den materiellen Mitteln nicht wiedergegeben werden, siehe: Joseph Gartner, Rodin und Michelangelo, Wien: A. Schroll, 1953, S. 43–45.

6.1 Die Farbe Schwarz

6.1 Die Farbe Schwarz Immer Farben, Farben ... versuch’ doch, mit Schwarz gut zu malen.1223 Valentin Serov Wie im Kapitel zu der Pariser Weltausstellung von 1889 angesprochen, betrieb Serov viele koloristische Studien des schwarzen Farbenspektrums. Der folgende Abschnitt ist der Analyse seiner bekanntesten Porträts dieser Art sowie der Erläuterung der biografischen und kunsthistorischen Rahmenbedingungen gewidmet, die die Entstehung dieser Werke tangierten bzw. mit bedingten, sodass Text und Kontext in Zusammenhang gesehen werden. Savva Mamontov (1887/90), die Abramtsevo-Künstlerkolonie und die erste Russische Privatoper Das Bildnis von Savva Mamontov1224 (1887/90, Abb. 66) wurde wie die Porträts von Vasily Surikov und Liudmila Mamontova stehend und als Hüftbild nach rechts formuliert. Im Gegensatz zur Surikovs physischer Beweglichkeit oder Mamontovas organisch geschwungener Silhouette wurde diesmal die Haltung des Dargestellten mit innerer Spannung erfüllt. Savvas kompakte breitschultrige Figur verschmilzt stellenweise mit dem dunklen Hintergrund, was seine sichere Pose zementiert. Sein Gesicht ist dagegen so hell erleuchtet, dass es fast zur Lichtquelle wird. Der transzendente Blick wirkt nervös, wodurch Mamontovs Antlitz noch mehr einer in der Dunkelheit flackernden Flamme ähnelt. Eine vergleichbare Hell-Dunkel-Lösung ist beispielsweise in Munchs etwa zeitgleich entstandenem Selbstbildnis mit Zigarette1225 (1895, Abb. 67) zu finden. Munch verlieh jedoch seiner Gestalt – durch das von unten kommende Licht und den aufsteigenden Zigarettenrauch – eine fast geisterhafte Transparenz und eine mystische Aura. Mamontov tritt seinerseits wie aus dem Nichts ins Scheinwerferlicht. Die Ungeduld, die er beim langen Stehen verspürt, ist nicht nur an seinem brennenden Blick, sondern auch an der Bewegung der Hände abzulesen, denn es ist unklar, ob er gerade dabei ist, sie in die Hosentaschen zu stecken oder sie herauszunehmen. Serov stellte den Eisenbahnmagnaten ohne Prunk und Insignien dar. Stattdessen betonte er die Agilität des Geistes und den Handlungsdrang, die das Wesen von Savva Mamontov bestimmten und ihn zu stets neuen innovativen Unternehmungen trieben. Dass Serov jeglicher Idealisierung und Förmlichkeit fernblieb, deutet auf die Nähe, die zwischen ihm und seinem Auftraggeber bestand: Als freigiebiger Gastgeber schuf Mamontov für Serov und für viele andere Künstler ideale Bedingungen für eine freie Entfaltung. Wie kein anderer 1223 „Все краски-краски... Ты черным напиши хорошо,“ Serov, o. J., zit. in: Samkov/Silberstein 1990, S. 90. 1224 Савва Иванович Мамонтов, 1887/90, Öl auf Leinwand, 89 × 71,5 cm, Gemäldegalerie, Odessa, Inv. Ж-542. Nach Grabar (1914, S. 98) soll das Porträt parallel bzw. nach dem Masini-Bildnis (1890) angefertigt worden sein. Nach Samkov/Silberstein (1985, Bd. 1, S. 83, Anm. 2), malte Serov es Ende 1886–Anfang 1887, als er bei den Mamontovs in Moskau lebte. Dieser Datierung folgte auch Kridl Valkenier (2001, S. 39, 41). 1225 Selvportett med sigarett, 1895, Öl auf Leinwand, 110,5 × 85,5 cm, Nasjonalmuseet, Oslo, Inv. NG.M.00470.

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6. Linie, Farbe und Form

66 Savva Mamontov / Савва Иванович Мамонтов, 1887/90, Öl auf Leinwand, 89 × 71,5 cm, Gemäldegalerie, Odessa, Inv. Ж-542

russischer Mäzen vor ihm strebte er an, dem kulturellen Leben seines Landes eine neue Richtung zu geben. Im Unterschied zu den Brüdern Tretyakov und Botkin, deren Sammlungen sichere Investition ihres Vermögens garantierten, zeigte er mit seinen Kulturprojekten wesentlich mehr Risikobereitschaft.1226 Seit 1864 ein Mitglied der Moskauer Vereinigung der Kunstfreunde, pflegte Mamontov einen engen Kontakt mit führenden Vertretern der russischen Kunstszene.1227 Den Beginn seines aktiven kulturellen Engagements markiert der Erwerb des nordöstlich von Moskau gelegenen Abramtsevo im Jahr 1870. Das Landgut, das sich unweit des Dreifaltigkeitsklosters Troitse-Sergiyeva Lavra (gegr. 1337) befindet, hatte zuvor dem slawophil gesinnten Schriftsteller Sergei Aksakov (1791–1859) gehört und wurde seiner Zeit zum Treffpunkt für Nikolai Gogol, Ivan Turgenev und Lev Tolstoy. An diesem symbolträchtigen Ort initiierte Mamontov gegen Ende der 1870er Jahre eine Künstlerkolonie, die heute als die Wiege der russischen Moderne gilt. Hier richtete er mehrere Ateliers ein, in denen Künstler oft über Monate

1226 Kunstwerke kaufte Mamontov spontan, ohne eine repräsentative Kollektion zusammenstellen zu wollen. Wie der Autorin im Abramtsevo Museum in Juni 2013 mitgeteilt wurde, existiert keine Auflistung über die Objekte der Savva Mamontov Sammlung. 1227 Arenzon 1995, S. 30.

6.1 Die Farbe Schwarz

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67 Edvard Munch, Selbstporträt mit ­Zigarette / Selvportett med sigarett, 1895, Öl auf Leinwand, 110,5 × 85,5 cm, Nasjonalmuseet, Oslo, Inv. NG.M.00470

hinweg arbeiteten und im intensiven Austausch miteinander standen.1228 Man organisierte Architektur- und Gartenprojekte, Musik- und Leseabende, Pleinairausflüge und Theateraufführungen. Die von vielen Abramtsevo-Künstlern vertretene Ästhetik und ihr Streben nach einer alle Bereiche des Lebens umfassenden Kunst fand ihre Parallele im englischen Arts and Crafts Movement sowie in der Lebensreform in Deutschland und in der Schweiz.1229 Zu den ersten Mitgliedern der Kolonie zählten ab 1877 Vasily Polenov, den Mamontov 1871 in Rom traf, und Ilya Repin, den er 1874 in Paris kennenlernte.1230 Serov, der zusammen mit seiner Mutter bereits 1875 – noch vor Polenov und Repin – erstmals nach Abramtsevo gekommen war, wurde in die kreative Arbeitsgemeinschaft harmonisch eingebunden; in den Mamontovs fand er eine zweite Familie und in der Person von Savvas Ehefrau Elizaveta eine zweite Mutter.1231 Bereits als Jugendlicher skizzierte er während seiner Abramtsevo-

1228 V. S. Mamontov 2012 (1950), S. 20, 25, 27, 30f., 33, 35, 38, 45; Kridl Valkenier 2001, S. 37. 1229 Die ungezwungene Atmosphäre inspirierte sie zu thematisch wie stilistisch unterschiedlichen Werken: Nesterov zu religiös-philosophischen Kompositionen, Polenov und Levitan zu intimen Landschaften, Viktor Vasnetsov und Elena Polenova zu Illustrationen der Volksmärchen. Repin beschäftigte sich hier mit Gesichtsstudien für seine Genrebilder. Serov schuf Freilichtstudien und Porträts. Siehe dazu: Kridl Valkenier 2001, S. 37. 1230 Polenova 1922, S. 26f.; Grabar 1965, S. 31. 1231 V. S. Mamontov 2012 (1950), 43–46, 50–52.

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6. Linie, Farbe und Form

Aufenthalte Mamontovs Angehörigen und Besucher.1232 Eine dieser Studien1233 (1879?), die Savva beim Mittagsschlaf auf dem Sofa abbildet, demonstriert besonders deutlich, welche Vertrautheit zwischen Serov und seinen Gastgebern herrschte.1234 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Serov beim Konzipieren des Mamontov-Porträts von 1887/90 jegliche Zeichen der hohen gesellschaftlichen Stellung auslassen konnte und offenbar eigenständig über die Pose, die Palette und die Lichtverhältnisse bestimmte. Ein weiteres seiner früheren Porträts1235 ist ebenfalls schlicht und zeigt den Mäzen kontemplativ in das Schreiben vertieft. Mit seiner starken erzählerischen Komponente und seiner einfachen, eindeutigen Haltung stellt es allerdings den genauen Gegensatz zu der verschlüsselten Formel dar, die Serov in dem dunklen Mamontov-Bildnis einige Jahre später fand. Als Vorstudie dazu diente möglicherweise eine Zeichnung1236 vom 29. August 1885, welche mit dem Kommentar „Savva Ivanovich sitzt und übersetzt ‚Carmen‘ “ versehen wurde.1237 Diese Zeichnung ist ein wichtiges Zeitzeugnis, denn im Januar 1885 startete Mamontov in Moskau sein zweites grandioses Projekt: die erste russische Privatoper (1885–91, 1896–99).1238 Mamontovs Leidenschaft für die Oper entflammte noch 1863 in Mailand, wohin er von seinem Vater, einem aus dem sibirischen Tobolsk stammenden Kaufmann, geschickt wurde, um Seidenherstellung und Textilhandel zu studieren.1239 Dort traf er auch seine zukünftige Ehefrau Elizaveta Sapozhnikova (1847–1908), selbst Tochter eines großen Seidenhändlers. Elizaveta, die mit den Moskauer Textilmagnaten Alexeiev verwandt war, zählte zu ihren Cousins den späteren Theaterreformer Konstantin Stanislavsky (geb. A ­ lexeiev, 1863–1938), der als Kind an den im Mamontovs Familienkreis veranstalteten Theateraufführungen teilnahm.1240 Es war Stanislavsky, mit dem Serov Seite an Seite auf der Bühne

1232 Als Serovs erstes Mamontov-Bildnis wird von Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 344) eine 34 × 25 cm große, auf den 31.5.1879 datierte Bleistiftzeichnung genannt, Aufbewahrungsort unbekannt. 1233 Савва Иванович Мамонтов, спящий на диване, 1879?, Bleistift auf Papier, 20 × 34 cm, Staatliches Abramtsevo-Museum für Geschichte, Kunst und Literatur, Inv. P-206. 1234 Mit solchen Skizzen folgte Serov wahrscheinlich dem Rat Repins, der Savva mehrfach porträtierte. In einem schlichten Halbfigurenbild verlieh Repin dem Mäzen den träumenden Gesichtsausdruck eines romantischen Dichters (1879, Staatliches Abramtsevo-Museum für Geschichte, Kunst und Literatur, Inv. MA KП 6/10 Ж 77). In einem weiteren Porträt sitzt Mamontov locker in einem ländlichen weißen Kittel; seine verdrehte Haltung drückt Rastlosigkeit aus (1880, Zentrales Staatliches Bakhrushin-Theatermuseum, Moskau, Inv. Ж-221). Während der Sitzungen zu diesem Bildnis fertigte auch Serov eine Zeichnung von Mamontov an, schlug aber im Gegensatz zu Repin eine melancholische Note an, indem er den nachdenklichen Blick des Modells vom Betrachter abwandte (21.8.1879, Bleistift auf Papier, 34,8 × 25,1 cm, sign. und dat. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. P-56234). 1235 Савва Иванович Мамонтов, 1880er Jahre, Öl auf Leinwand, 62 × 58,5 cm, Landesmuseum der bildenden Kunst, Tula, Inv. Ж-670. 1236 Савва Ивановичъ сидитъ и переводитъ „Carmen“, 29. August 1885, Bleistift auf Papier, 30 × 26,3 cm, sign. und dat. rechts unten, Staatliches Abramtsevo-Museum für Geschichte, Kunst und Literatur, Inv. P-271. 1237 Vgl. Kridl Valkenier 2001, S. 39. 1238 Siehe: Arenzon 1995, S. 86; Letopis zhizni i tvorchestva Korovina, in: Iovleva 2012, S. 384–397, hier S. 385f. 1239 Arenzon 1995, S. 27f.; Kridl Valkenier 2001, S. 34f. 1240 V. S. Mamontov 2012 (1950), S. 9; Arenzon 1995, S. 29; Bayer 1996, S. 57; Kridl Valkenier 2001, S. 35.

6.1 Die Farbe Schwarz

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68 Anders Zorn, Savva Mamontov / Савва Иванович Мамонтов, 1894, Öl auf Leinwand, 130 × 96,5 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 3454

stand, als er sich im Alter von vierzehn Jahren erstmals an Mamontovs Haustheater beteiligte: in der Rolle eines stummen Sklaven in Apollon Maikovs Drama Zwei Welten (1872).1241 Mit Bedacht auf Mamontovs Engagement für die Bühne, erscheint Serovs kompositionelle Entscheidung, im Bildnis von 1887/90 den Dargestellten aus der Dunkelheit in das Scheinwerferlicht treten zu lassen, überaus schlüssig. Mit gleichem Motiv spielte auch Anders Zorn, der Mamontov 1896 nach ihrer Begegnung in Paris porträtierte1242 (Abb. 68). In seinem Bildnis steht Mamontov gekleidet in einen schwarzen Frack, frontal und aufrecht an 1241 Diese Inszenierungen wurden ab dem Silvester 1878 einmal jährlich, 1881–84 sowie 1888 zweimal jährlich veranstaltet. Aufgeführt wurden Stücke bekannter Literaten und die vom Hausherrn selbst verfassten. Die Herstellung der Kostüme und Bühnenbilder verlief fast ebenso aufwendig wie in den staatlichen Theaterhäusern: So wurde das Bühnenbild für das Ostrovsky-Märchen Snegurochka (1873) von Viktor Vasnetsov gestaltet, der später für das Mariinsky Theater und für das Bolshoi Theater arbeiten sollte. 1884 entwarf Serov zusammen mit Ostroukhov Dekorationen und Kostüme für die Erstinszenierung von Mamontovs Komödie Schwarzer Turban, in der er selbst als Mulla Abderasul in einem Frauengewand tanzen durfte (in der im Abramtsevo-Museum aufbewahrten Ausgabe von Mamontovs Khronika… gibt es einen handschriftlichen Vermerk zu dem Datum dieser Aufführung mit dem Verweis auf Mamontovs Letopis seltsa Abramtsevo, Pyк-36, л. 31). Siehe: Savva I. Mamontov (Hg.), Khronika nashego khudozhestvennogo kruzhka, Moskau: [izdaniie S. S. Mamontova v tipografii A. S. Mamontova],1894, S. III–IV; Sergey Savvich Mamontov, Serov na Podmostkakh, in: Russkoie slovo, 20.2.1914, Nr. 42, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 171f.; Arenzon 1995, S. 79. 1242 Савва Иванович Мамонтов, 1894, Öl auf Leinwand, 130 × 96,5 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 3454.

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6. Linie, Farbe und Form

69 Mikhail Vrubel, Savva Mamontov / Савва Иванович Мамонтов, 1895, Öl auf ­Leinwand, 187 × 142,5 cm, STG, Moskau, Inv. 5622

seinem Schreibtisch, die Finger seiner Linken ruhen auf den darauf liegenden schneeweißen Blättern: Als wäre diese tabula rasa für die Gedanken bestimmt, die gerade durch seinen Geist ziehen. Er tritt mit einem transzendenten Blick – ähnlich wie in Serovs Bildnis von 1887/90 – aus der Dunkelheit hervor, aber diesmal wird ein real existierender Raum durch den Tisch, den Stuhl und den tiefschwarzen Vorhang klar definiert. Das barocke Schlaglicht, welches an grelle Bühnenbeleuchtung erinnert, evoziert eine dramatische Wirkung und setzt die Figur in Bewegung, die im breiten Duktus ferner aufgefangen wird. Zorn stellte Mamontov als einen Impresario im Augenblick einer Inspiration dar, wählte aber eine prosaische Raumsituation. In Serovs Bildnis spielen indes weder Raum noch Zeit eine Rolle: Seine Intention war in erster Linie, Savvas ruhelosen Geist wiederzugeben, sodass die materielle Umgebung absichtlich ausgeblendet wurde. Vrubel, der ein Jahr nach Zorn ein lebensgroßes Porträt1243 von Mamontov machte (Abb. 69) und sich im Wettbewerb mit den beiden anderen Künstlern sah, trachtete ebenfalls danach, die Ungeduld des Mäzens zur Geltung zu bringen.1244 Er zeigte Mamontov in die Ecke seines Arbeitszimmers

1243 Савва Иванович Мамонтов, 1895, Öl auf Leinwand, 187 × 142,5 cm, STG, Moskau, Inv. 5622. 1244 Vrubel an Zabela Vrubel im Sommer 1904 aus Moskau, in: SRM/QS 34/94, Blatt 10f., zit. nach: Gomberg-Verzhbinskaia/Novikov/Podkopaieva 1976, Nr. 84, S. 84f., hier S. 85.

6.1 Die Farbe Schwarz

gedrängt, in einer verschraubten Haltung in einem Savonarola-Sessel sitzend. Als wolle Mamontov gleich aufstehen, berührt er mit der linken Fußspitze den Boden und stützt seine linke Hand auf die Sessellehne, seine Rechte ist zu einer Faust geballt. Jeder Muskel scheint angespannt zu sein und der fast wahnsinnige Blick der hervorstechenden Augen wandert unruhig am Betrachter vorbei. Wie Serov entschied sich auch Vrubel für eine dunkle Palette, die der Darstellung eine Aura des Geheimnisvollen verleiht. Er verstärkte diese Wirkung, indem er einzelne Partien wie funkelnde Kristalle aufleuchten ließ: So ist Mamontovs runder, fast kahler Kopf dermaßen abstrahiert, dass er an einen Schädel – ein vanitas-Symbol – erinnert. Umgeben von märchenhaftem Glitzern und bedrohlichen Schatten, sitzt Mamontov verzweifelt mit dem Rücken zur Wand und scheint fliehen zu wollen. Bereits Serovs Porträt des Mäzens strahlt durch die Nervosität des Blicks und der Umrisse sowie durch die Unbestimmtheit der Haltung und des Raumes Unsicherheit und Verletzlichkeit aus.1245 Dem Bildnis von Vrubel haftet etwas Prophetisches an: Noch 1896 im Auftrag des Finanzministers Sergei Vitte für die Allrussische Industrie- und Kunst-Ausstellung (28. Mai–1. Oktober 1896) in Nizhny Novgorod zuständig, fiel Mamontov ein Jahr später in Ungnade, wurde bei der Finanzierung seiner Eisenbahngesellschaft der illegalen Machenschaften beschuldigt und am 11. September 1899 verhaftet.1246 Angelo Masini (1890), Francesco Tamagno (1891) und die Alten Meister Seit der Gründung der Russischen Privatoper wurde Serov mehrfach von Mamontov beauftragt, die bei ihm gastierenden Sänger zu porträtieren. Die ersten Darstellungen dieser Art – die im Anschluss an Serovs erste Europareise gemalten Bildnisse von Antonio d’Andrade (1885) und Marie van Sandt (1886) – fielen eher bescheiden aus. Das Bildnis des Tenors Angelo Masini (1890, Abb. 45) zog indes große Aufmerksamkeit auf sich und wurde noch im Jahr seiner Entstehung in der Ausstellung der Moskauer Vereinigung der Kunstfreunde (1860–1919) mit der ersten Prämie ausgezeichnet. Angelo Masini (1845–1926), dessen Stimme ihm den Spitznamen tenore angelico einbrachte, war seit 1877 ein häufiger Gast in Moskau und St. Petersburg. Zwischen Januar und März 1890 verweilte er in Moskau anlässlich der geplanten Aufführung in Mamontovs Oper und saß in der Zeit Serov Modell. Der Künstler vermerkte dazu gegenüber seiner Ehefrau:

1245 Kridl Valkenier 2001, S. 39. 1246 Mamontovs Absturz schlug viele seiner Freunde in die Flucht. Auf Serov hatten diese Ereignisse keine solche Wirkung. Mehr noch: Serov, der im Februar 1900 Nikolai II. porträtierte (Abb. 38), sprach vor dem Zaren Mamontovs Verdienste um die russische Kunst an, in der Hoffnung, dessen Entlassung zu bewirken. Kurz darauf wurde Savva in der Tat unter Hausarrest gestellt und noch im Mai des Jahres freigesprochen. Gleich danach reiste er nach Paris, wo er in der Exposition Universelle als Exponent der Keramik-Abteilung des russischen Pavillons mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde. Nach diesen Ereignissen zog Mamontov in ein Haus am Moskauer Stadtrand, wo er weiterhin Künstler empfing. Seine einstige wirtschaftliche und kulturelle Rolle büßte er aber ein. Siehe: Arenzon 1995, S. 180, 182–189; Kridl Valkenier 2001, S. 59f.

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Die Malerei an sich gefällt mir irgendwie nicht besonders, die Farben sind nicht frei. Alle mögen sie, angefangen mit Masini, der sich [bei unseren Treffen] wie ein sehr netter Kavalier verhält. [Er ist] überraschend zuvorkommend [...], hebt die heruntergefallenen Pinsel auf (wie bei Karl V. und Tizian). Doch am angenehmsten ist, dass er zwei Stunden lang bemüht ist, akkurat zu sitzen, und, wenn er gefragt wird, woher er diese Geduld habe, erklärt: Warum auch nicht, wenn das Porträt gut wird, wäre es schlecht, hätte er mich schon verjagt ([klingt] nett, gefällt mir).1247 In der Serov-Forschung gilt dieses dunkle, als sitzende Halbfigur nach rechts konzipierte Porträt als eines der innigsten Frühwerke des Künstlers. Zurückgelehnt und beide Hände in die Hosentaschen gesteckt, blickt der Sänger melancholisch zum Betrachter auf. Seine zerzausten Haare, der leicht geneigte Kopf, ein Dreitagebart und Augenringe lassen ihn trotz seiner eleganten schwarzen Kleidung alt und erschöpft erscheinen. In der Komposition und im Licht-Schatten-Verhältnis ist dieses Werk auffallend ähnlich dem Ivan Kramskois Bildnis des Malers Pavel Briullov1248 (1879), das Serov wahrscheinlich kannte. Serov wählte aber einen wesentlich höheren emotionalen Unterton. Im Gegensatz zu Kramskois Briullov, der mit seinem Blick den Betrachter kritisch beurteilt, strahlt Masini Elegie aus. Die traurige Stimmung wird ferner durch die Palette aufgefangen, die durch das Untermischen von Blau und Weiß eine deutlich kalte Note bekommt. In Bezug auf die Haltung, die Farben und den ernsten Ausdruck können beide Bildnisse wiederum mit Courbets Porträt von Hector Berlioz (1850, Abb. 44) verglichen werden, zu der Zeit eines der bekanntesten Werke des Franzosen: Allein in Paris wurde es 1850, 1867, 1878, 1882 und 1883 sowie 1889 ausgestellt.1249 Dass Serov mit dieser Arbeit vertraut war – sei es durch Illustrationen oder durch eine direkte Begegnung in der Exposition Universelle von 1889 –, ist daher sehr wahrscheinlich. In seinem Œuvre findet sich sogar ein weiteres Porträt –, das vom desillusioniert und kränklich wirkenden Piotr Romanov1250 (1901), – das zu Courbets Berlioz formal eine noch stärkere Ähnlichkeit aufweist. Einen weiteren spannenden Vergleich bietet das zeitgleich von Konstantin Korovin gemalte Masini-Bildnis1251 (1890). Wie Serov entschied sich Korovin für einen traurigen

1247 „немного сама живопись мне не особенно что-то, цвета не свободные. Всем нравится, начиная с самого Мазини, весьма милого в общежитии кавалера. Предупредителен [...] на удивление, подымает упавшие кисти (вроде Карла V и Тициана). Но что приятнее всего, это то, что он сидит аккуратно 2 часа самым старательным образом, и когда его спрашивают, откуда у него терпение, он заявляет: отчего же бы не посидеть, если портрет хорош, если б ничего не выходило, он прогнал бы меня уже давно (мило, мне нравится)“, Serov an Olga Serova am 5.2.1890 aus Moskau, in: STG/QS 49/31, Moskau, zit. nach: Samkov/ Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 106, S. 172–174, hier S. 172f. 1248 Павел Александрович Брюллов, 1879, Öl auf Leinwand, 73,5 × 61 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-11604. 1249 http://www.musee-orsay.fr/en/collections/index-of-works/notice.html?no_cache=1&nnumid=016691&cHash=79c428cb7e, Stand: 1.6.2014. 1250 Porträtt av herr Peter M. R. Romanov, 1901, Öl auf Leinwand, 70 × 56 cm, Malmö Konstmuseum, Inv. MM 8526. 1251 Анжело Мазини, 1890, Öl auf Leinwand, 105 × 70,3 cm, STG, Moskau, Inv. 22465.

6.1 Die Farbe Schwarz

Gesichtsausdruck, erreichte jedoch nicht die gleiche Intensität des Blickkontakts. Indem er einen größeren Bildausschnitt wählte, entfernte er die Figur vom Betrachter. Mit Details wie einem großen weinroten Sessel und einer Zigarette brachte er erzählerische Komponenten ein, die die Aufmerksamkeit vom Gesicht wegziehen. Ferner machte er die Malerei selbst fast zu einem eigenständigen Protagonisten: besonders stark bei den Falten des schwarzen Anzugs, die mit zickzackförmigen Pinselstrichen in dunklen Blau- und Ockertönen gestaltet werden. Während also Korovin sein Masini-Porträt zum Anlass nahm, mit dem Pinsel frei zu experimentieren, setzte Serov auf die ‚nostalgische‘ Komponente und verlieh der Darstellung mit der reduzierten Palette und der Schlichtheit des schwarzen Gewands eine deutliche altmeisterliche Note, die Leniashin und Allenova eine treffende Analogie zu Velázquez ziehen ließ (Gaspar de Guzman, Conde Duque de Olivares1252, ca. 1638). Die altmeisterlichen Reminiszenzen erklingen noch klarer in Serovs Bildnis des La-Scala-Tenors Francesco Tamagno (1891, Abb. 52). Dieser steht nach links gewandt, den Blick erhobenen Hauptes entschlossen in die Ferne gerichtet. Sein linker Arm, der am Bildrand stark angeschnitten ist, ruht vermutlich auf einen Kaminsims, wodurch seine Haltung an Festigkeit gewinnt. Die dunkle Gestalt des Sängers wird in den Hintergrund eingeblendet, aber sein Gesicht und sein Hals strahlen aus dem Bild heraus – ähnlich wie ein Laut in alle Richtungen ausstrahlen kann. Die golden schimmernde dunkle Palette mit durchscheinender roter Untermalung erinnert an das Kolorit von Rembrandt oder Rubens, während die impulsive breite Malweise an Frans Hals denken lässt. Ebenso altmeisterlich wirkt das Hell-Dunkel-Verhältnis zwischen Figur und Hintergrund sowie das – im 16. und 17. Jahrhundert favorisierte – voluminöse schwarze Gewand: Rubens’ Selbstporträt1253 von 1623 ist nur eines der vielen Bilder, die hier stellvertretend genannt werden könnten. Tamagnos Bildnis entstand ebenfalls im Auftrag von Mamontov, auf dessen Einladung der Sänger Ende März bzw. Anfang April 1891 zum ersten Mal nach Russland kam.1254 Zu diesem Zeitpunkt war Tamagno (1851–1905) nach erfolgreichen Auftritten in Buenos Aires, Rio de Janeiro, Chicago und San Francisco ein Star von Weltrang. Sein berühmter Part als Otello war der erste, den er am 4. April in Moskau sang. Sein letzter Auftritt, in Rossinis Guglielmo Tell, fand am 21. April statt, woraus folgt, dass Serov an dem Bildnis im April 1891

1252 Gaspar de Guzman, Conde Duque de Olivares, ca. 1638, Öl auf Leinwand, 67 × 54,5 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg, Inv. ГЭ-300.Vgl. Leniashin 1989, S. 36f., als Bildvergleich, ohne Kommentar. Allenova (2000, S. 14) schrieb, dass Serov Masini à la Velázquez gemalt habe, ohne einen konkreten Vergleich zu ziehen. Für diesen Vergleich spricht die Tatsache, dass Serov eine Skizze nach dem Velázquez-Gemälde anfertigte (in einem Zeichenalbum, STG, Moskau, P-174). 1253 Portrait of the Artist, 1623, Öl auf Leinwand, 85,7 × 62,2 cm, Royal Collection Windsor Castle, Inv. RCIN 400156. 1254 Nach Tamagnos Biografen Ugo Piovano hatte der Sänger am 23.3.1891 eine Aufführung in Lissabon und reiste daraufhin nach Moskau (Piovano spricht an dieser Stelle vom „Teatro Scialiaponthine“, d. h. „Theater von Chaliapin“). Zu diesem und weiteren Auftritten Tamagnos in Russland siehe: Ugo Piovano, „Otello fu“. La vera vita di Francesco Tamagno il „tenore-cannone“, Milan: Rugginenti 2005, S. 327, 655, 658, 663 und 665f.

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und nicht wie zuvor angenommen im Winter 1890/91 gearbeitet haben muss.1255 Serov wird Tamagnos ersten, nach seinen eigenen Worten „vollkommenen“1256 Auftritt als Otello in Venedig im Jahr 1887 nicht vergessen haben. Da er den Sänger mit einem rot gepunkteten Barett und in einem Umhang – und damit offensichtlich in einem Kostüm – malte, ist es verlockend anzunehmen, dass er ihn ausgerechnet in dieser Rolle festhielt. Dagegen spricht jedoch Tamagnos Fotoaufnahme in Otello-Kostümierung, die ihn als einen dunkelhäutigen Mohr in reich geschmücktem Gewand zeigt (1896). Daraus folgt: Serov zeigt den Tenor nicht bei einem konkreten Auftritt, sondern im Zustand höchster Konzentration, was als Verinnerlichung der Rolle im Vorfeld einer unmittelbar bevorstehenden Aufführung oder als die stille gedankliche Zäsur vor dem Singen interpretiert werden kann. Sein künstlerisches Wesen lasse sich in diesem Bildnis, so Sarabyanov, in allem erraten, obwohl er nicht geschminkt ist und nicht singt.1257 Es wäre wohl falsch, die Kunstgeschichte nach konkreten Vorbildern für Serovs M ­ asiniund Tamagno-Porträts zu durchsuchen.1258 Vielmehr handelt es sich um die Summe multipler Eindrücke, die in seinen Bildkompositionen und in seiner Farbigkeit ihren Niederschlag fanden. In seiner Orientierung an den Alten Meistern war Serov wahrlich das Kind seiner Zeit, denn unter den Künstlern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war dies ein weit verbreitetes Phänomen. In den Schöpfungen moderner Maler wie Manet, Cézanne, Degas und Renoir ist die Rezeption von Rubens, Hals, Velázquez, Murillo, Vermeer oder Fragonard keine Seltenheit.1259 Mehr noch: Neben der Rezeption galt das Anfertigen von Kopien als eine wichtige Übung und zugleich als eine Möglichkeit, sich mit dem Genius des anderen zu messen. Anklänge altmeisterlicher Kunst finden sich in Serovs gesamten Œuvre, sei es als deutliches Zitat oder als leiser Licht- und Farbakkord. Noch Jahre nach seinem Studium fertigte er Kopien in der Eremitage an. Im Winter 1889–90 stellte er sogar seine Kopie nach der Studie zum Kopf von Innozenz X.1260 (1650) von Velázquez aus der Eremitage-Sammlung in der IX. Alljährlichen Ausstellung der Moskauer Vereinigung der Kunstfreunde aus. Der Kritiker Alexandr Kurepin (1847–91) merkte dazu jovial an:

1255 Nach Piovano (2005, S. 655) trat Tamagno in Othello (4.4.), Aida (11.4.), Il Trovatore (13.4.), Poliuto (18.4.) und in Guglielmo Tell (21.4.) auf. Die im Porträt stehende Jahreszahl „93“ ist möglicherweise vom Künstler später hinzugefügt worden. Dass sie auf der Schwarz-Weiß-Abbildung in Grabars Monografie (1914, S. 87) nicht erkennbar ist, kann an der Bildqualität liegen. 1256 „Таманьо молодец – совершенство“, Serov an Olga Trubnikova am 17.5.1887 (29.5.1887) aus Venedig, in: STG/QS 49/22, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, S. 89–91, hier S. 89. 1257 Sarabyanov 1987, S. 13. 1258 Siehe dazu: Grabar 1914, S. 108; 1965, S. 125; Radlov [1920er], S. 44; S. Makovsky 1922, S. 17; Zhuravliova, in: Mashkovtsev/Sokolova 1964, S. 24; Sarabyanov 1971, S. 13; ders. 1974, S. 12; ders. 1987, S. 13; Rosenwasser 1990, S. 19; Leniashin 1980, S. 60; ders. 1989, S. 38; Allenova 2000, S. 14f. 1259 Siehe dazu: Belting 1998, S. 142, 237–239; Dumas 2007. 1260 Kopie nach der Studie zum Kopf von Innozenz X. von Diego Velázquez, 1889, Öl auf Leinwand, Größe unbekannt, war 1985 im Privatbesitz, Paris.

6.1 Die Farbe Schwarz

Einige begeisterte Mäzene ersehnen im Herrn Serov einen „Moskauer Velázquez“, aber ihr Lob und ihre Bewunderung nahm Herr Serov bis jetzt lediglich [zum Anlass], sich vermeintlich geniale Frechheiten bezüglich des Kolorits zu erlauben. Das ist schade. Denn auch ein Velázquez muss an sich selbst und an seinen Porträts arbeiten.1261 Auch Serovs Bildnis von Tamagno stieß bei den Zeitgenossen jedes Mal auf ein sehr geteiltes Echo, als es erstmalig im Winter 1891–92 in der XI. Ausstellung der Moskauer Vereinigung der Kunstfreunde, dann erneut 1896 in der Allrussischen Ausstellung in Nizhny Novgorod und schließlich 1898 in der XXVI. Ausstellung der Genossenschaft der Wanderausstellungen in St. Petersburg gezeigt wurde. Offenbar wirkte es auf den damaligen Betrachter ausgesprochen modern, denn Tamagnos Konturen sind schwungvoll und breit erfasst, die Binnenflächen und der Hintergrund schnell ausgemalt – eine ähnliche Malweise wurde beispielsweise oft von Manet angewandt (Isabelle Lemonnier1262, 1879). Auffällig ist, dass selbst die wohlgesonnenen Kritiker beim Beschreiben dieses Porträts symptomatisch von einer „talentierten“ und „unvollendeten“ Studie sprachen.1263 So notierte Sergei Goloushev: Die Gruppe unserer ‚Modernisten‘ ist von dem Bildnis begeistert und ist bereit, diese Art von Malerei zur Quintessenz der zeitgenössischen Kunstauffassung und des künstlerischen Genies zu ernennen; die Alten zucken mit den Schultern und sind überrascht, dass solche Werke überhaupt in der Ausstellung gezeigt werden. Strenggenommen haben sowohl die einen als auch die anderen Unrecht. Dieses Porträt ist ein unwiderlegbarer Beweis für den Ausmaß und die Stärke von Serovs Begabung, und ist zugleich nichts mehr als eine sehr oberflächliche Studie.1264 Ähnlich klangen die Äußerungen des Schriftstellers Nikolai Alexandrov:

1261 „Иные восторженные меценаты уже видят в г. Серове „московского Веласкеса“, но, пока что, восторженность и хвала меценатов дали только г. Серову повод небрежничать в отделке деталей и позволять себе якобы гениальные дерзости в колорите. Это жаль. Веласкес Веласкесом, а работать над собой и над портретами всё-таки нужно“ A. Kurepin, Moskovsiky felyeton, in: Novoie Vremia, 30.12.1890, Nr. 497, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, S. 155f., Anm. 5. 1262 Isabelle Lemonnier, 1879, Öl auf Leinwand, 91,4 × 73 cm, Dallas Museum of Art, Gift of Mr. and Mrs. Algur H. Meadows and the Meadows Foundation Incorporated, Inv. 1978.1. 1263 Vladimir Sizov, Odinadtsataia vistavka kartin Obshchestva liubitelei khudozhestv, in: Russkiie vedomosti, 12.1.1892, Nr. 17; Alexander P. Lukin, XII, in: Novosti i birzhevaia gazeta, 25.1.1892, Nr. 25; Khudozhnik, 15.1.1892, Nr. 2, S. 145; V. Chuyko, XXVI Peredvizhnaia vystavka, in: Vsemirnaia illustratsiia, 28.3.1898, Bd. 59, Nr. 1522; Zhivopisnoie obozreniie, 8.3.1898, Nr. 10, S. 203, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 280. 1264 „Группа наших „модернистов“ от портрета в восторге и готова провозгласить такое писание – за квинтэссенцию современного понимания искусства и художественного гения; старики пожимают плечами и удивляются, что такие произведения могут быть на выставке. В сущности, и те и другие неправы. Портрет этот – неоспоримое доказательство мощи и силы таланта г. Серова, и в тоже время не более, как самый поверхностый набросок.“ S. Glagol [Sergei Goloushev], Dekabrskiie kartinniie vystavki v Moskve, in: Artist, Januar 1892, Nr. 19, S. 176f., zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 279f.

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Der erste Platz in der alljährlichen Ausstellung als einem jungen Talent gehört dem Herrn Serov. [...] Letztes Jahr machte er alle mit dem Porträt von Masini auf sich aufmerksam und jetzt mit dem von Tamagno. Das sind keine vollendeten Bildnisse, sondern nur Studien, wenngleich hervorragende und außergewöhnlich gute. [...] Mit seiner [...] kraftvollen Malweise und Lebendigkeit des Ausdrucks hat Serov eine so hohe Note genommen, die selbst Tamagno nicht singen kann.1265 Viele Rezensenten reagierten auf diese „kraftvolle Malweise“ jedoch mit Empörung. Enttäuscht beschrieben sie die Arbeit als „formlos, verschwommen, wie geschmiert“, „sehr schwach“ und sic! „impressionistisch“.1266 Der unter dem Pseudonym Starover (Altgläubiger) schreibende Nikolai Selivanov merkte 1898 bissig an, dass Serov „zu seiner früheren Manier mit Waschmopp zu malen“ zurückgekehrt sei und den Sänger mit „gelbem Pfannkuchen anstelle des Gesichts“ dargestellt habe.1267 Noch ein Jahr später bezeichnete er Serovs Tamagno und Masini als „hässlich“ und „antikünstlerisch“.1268 In der sich in diesen Kritiken abzeichnenden Polemik ging es nicht nur um Serovs Malweise, sondern um die grundsätzliche Definition eines Bildes in Bezug auf dessen Vollendungsgrad und damit um seine Existenzberechtigung als ein eigenständiges Werk. Die Kommentare zeigen, dass selbst die progressiven Rezensenten in einem non-finito wie diesem nur eine „sehr oberflächliche Studie“ erkannten und sich damit in einem ästhetischen Rahmen bewegten, der vom breiten Publikum als einzig wahr und unantastbar angesehen, aber inzwischen obsolet geworden war. Folglich blieben auch sie immer einen Schritt zurück hinter dem Künstler, dessen schöpferischer Geist ihn dazu antrieb, die von seinen Vorgängern gesetzten Grenzen zu hinterfragen, zu überschreiten und neu zu definieren. Serov selbst räumte seinem Bildnis von Tamagno einen hohen Stellenwert ein. Als er für Grabar eine Liste seiner 15 besten Werke niederschrieb, stand Tamagno an dritter Stelle – gleich nach Vera Mamontova und Maria Simonovich.1269 Wie die folgende Diskussion noch

1265 „Первое место на периодической выставке по силе молодого таланта принадлежит г. Серову. [...] В прошлом году он обратил общее внимание портретом Мазини, теперь Таманьо. [...] По [...] силе письма и по жизнености г. Серов взял такую высокую ноту, которую не дотянуть и Таманьо.“ N. Alexandrov, Vystavochny sezon, in: Moskovskaia illustrirovannaia gazeta, 30.1.1892, Nr 30, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 280f. 1266 „Это нечно совсем бесформенное, расплавленное, точно размазанное,“ N. I. Kravcheno, XXVI Peredvizhnaia vystavka kartin, in: Novoie Vremia, 13.3.1898, Nr. 7917; „Серов экспонирует очень слабую вещь – портрет Таманьо, написанный со всеми ухватками импрессионизма“ S. A. S-v, XXVI Peredvizhnaia vystavka, in: Novosti i birzhevaia gazeta, 27.2.1898, Nr. 57. Zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 282. 1267 „В. А. Серов [...] возвратился к своей прежней манере писать шваброй [...] Вместо лица нарисован какой-то жёлтый блин.“ Starover [N. Selivanov], XXVI Peredvizhnaia i piataia vystavka kartin, in: S-Peterburgskiie vedomosti, 18.3.1898, Nr. 75, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 282. 1268 „безобразные, антихудожественные портреты [...] Мазини и Таманьо“, Starover [N. Selivanov], XXVII vystavka kartin Tovarishchestva peredvizhnykh vystavok, in: Iskusstvo i khudozhestvennaia promyshlennost, 7.4.1899, S. 608, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 282. 1269 Siehe Anhang 1.

6.1 Die Farbe Schwarz

mehrfach zeigen wird, waren seine Entscheidungen über den Vollendungsgrad des jeweiligen Bildes stets an die Ganzheit des Werkkonzepts gekoppelt. Im Sinne der „ästhetischen Autonomisierung“ eines modernen Künstlers befreite er sich vom „Kanon der Überlieferung und herrschenden Publikumsgeschmacks, vom Wirkungs- und Sinnzusammenhang einer (dem Kunstwerk abgeforderten) Ganzheit.“1270 In dieser Haltung von Serov bestand ein fundamentaler Unterschied zum Kunstverständnis der meisten seiner Zeitgenossen. Isaak Levitan (1893) Levitan besaß ein geradezu afrikanisches Äußeres: olivfarbene Haut, einen schwarzen Vollbart und schwarze Haare sowie traurig blickende schwarze Augen – alles deutete auf den Süden hin … [...] seine ruhigen, würdevollen Gesten, seine Art zu sitzen, zu gehen und zu stehen und [...] sein Kleidergeschmack hinterließen sofort den Eindruck, dass er zur besten Gesellschaft gehörte.1271 Alexandre Benois Serov lernte Isaak Levitan (1860–1900) wahrscheinlich zwischen 1884 und 1886 kennen, als dieser als Bühnenbildner an Mamontovs Privatoper arbeitete.1272 Aus den erhaltenen Zeugnissen geht hervor, dass die beiden Maler durch tiefe gegenseitige Anerkennung und innige Freundschaft verbunden waren.1273 In ihrem Werdegang und ihrer künstlerischen Position lassen sich zudem mehrere Gemeinsamkeiten feststellen. Beide fühlten sich den Aufklärungsidealen des tendenziösen Realismus nicht verpflichtet und befanden sich damit abseits des Mainstreams der russischen Kunstszene. Während Serov auf dem Gebiet der Porträtmalerei neue Horizonte öffnete, setzte Levitan mit seinen paysage intime entscheidende Impulse für die Öffnung der russischen Landschaftsmalerei gegenüber modernen koloristischen Tendenzen. Die beiden Künstler feierten etwa zeitgleich ihre ersten Erfolge. Als Serov von der Moskauer Vereinigung der Kunstfreunde (1860–1919) im Dezember 1888 für Vera Mamontova (1887) mit der ersten Prämie in der Kategorie Bildnis ausgezeichnet wurde, bekam Levitan für Anbruch der Nacht (?) in der Kategorie Landschaft den zweiten Preis verliehen.1274 Einen weiteren gemeinsamen Nenner bildeten für sie die formellen und 1270 Julius Fetscher, Fragment, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. 2, Stuttgart: Metzler, 2010 (2001), S. 551–587, hier S. 552. 1271 „Левитан имел прямо-таки африканский вид: оливковый цвет кожи, и густая черная борода, и черные волосы, и грустное выражение черных глаз, – все говорило о юге ... [...] своими спокойными, благородными жестами, тем, как он садился, как вставал и ходил [...] тем вкусом, с которым он одевался, он сразу производил впечатление человека лучшего общества.“ Benois 1990, Bd. 2, S. 89f. 1272 Tatiana N. Shipova/Liubov I. Zakharenkova, Osnovnyie daty zhizni i tvorchestva Levitana, in: Lidia I. Iovleva (Hg.), Isaak Levitan. K 150-letiiu so dnia rozhdeniia, AK Moskau, STG 14.10.2010–20.3.2011, Moskau: Ajax-Press, 2010, S. 332–336, hier S. 333. 1273 Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 38, Anm. 3. 1274 Siehe dazu: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, S. 120, Anm. 1.

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70 Isaak Levitan / Исаак Ильич Левитан, 1893, Öl auf Leinwand, 82 × 86 cm, STG, Moskau, Inv. 152

informellen Künstlergruppierungen: Peredvizhniki, Moskauer Vereinigung der Kunstfreunde, Mamontovs Privatoper, Mir iskusstva und die Münchner Secession.1275 Serov führte zwei Bildnisse von Levitan aus: ein gemaltes1276 (1892–93, Abb. 70) und ein postumes, in Pastell gezeichnetes Porträt1277 (1900er).1278 Ersteres entstand im Winter 1892–93 im Moskauer Atelier des Dargestellten.1279 Zwischen Halbfigur und Kniestück formuliert, zeigt es Levitan hinter einem niedrigen Strohsessel sitzend, auf dessen Rückenlehne sein linker Arm lässig ruht. Sein nachdenklicher, trauriger Blick richtet sich direkt auf den Betrachter. Durch das zeitgleiche Ab- und Zuwenden mit innerer Spannung erfüllt, wirkt er trotz seiner ruhigen Haltung innerlich bewegt. Diese Wirkung wird gesteigert, indem das dezente Ab- und Zuwenden der Figur im Hell-Dunkel fortgesetzt wird. Levitans schwarzblaues Jackett verschmilzt mit dem schwarzbraunen Fond. Das Inkarnat sowie der Sessel werden indes in warmen, strahlenden Ockertönen gehalten. 1275 Bruck/Iovleva 2001, Bd. 4.1., S. 344; dies. 2005, Bd. 5, S. 324. 1276 Исаак Ильич Левитан, 1893, Öl auf Leinwand, 82 × 86 cm, sign. und dat. links unten, STG, Moskau, Inv. 1520. 1277 Исаак Ильич Левитан, 1900er, Pastell auf grundiertem Karton, 100 × 64 cm, sign. links, STG, Moskau, Inv. 4921, aus der Erinnerung gezeichnet, siehe dazu: Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 335. 1278 Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 333, 336 und 356. 1279 Grabar 1965, S. 132f.

6.1 Die Farbe Schwarz

Ebenso dezent wie die innere Bewegung wurde die Raumsituation angedeutet. Im Unterschied zu Masini und Tamagno ist der Hintergrund nicht mehr neutral: Die asymmetrische Zweiteilung der Wandfläche und die skizzenhaft gemalte Lampe links im Bild muten ein Interieur an. Auf diese Weise wird der Eindruck des Posierens für einen Maler bzw. für ein Publikum – wie es in den beiden Sängerbildnissen kommuniziert wird – abgemildert. Stattdessen suggeriert Serov eine sich im realen Innenraum abspielende Situation, bei der der Dargestellte still und reflektierend dem Gespräch anderer zuzuhören scheint. Der ruhige Duktus, mit dem der Künstler in diesem Werk arbeitete, kann angesichts der im Tamagno-Bildnis erreichten Pinselfreiheit, als Rückbesinnung auf die traditionelle Malweise missinterpretiert werden. Zur gleichen Schlussfolgerung verleiten die dunkle Palette sowie die fast naturalistische Ausarbeitung der Gesichtspartie. Dieser Pinselstrich spiegelt jedoch vielmehr den Realismus von Levitans Bildern und seinen durch perfekte Manieren und Zurückhaltung charakterisierten Umgang wider. Das Spektrum der Ocker- und Brauntöne korrespondiert seinerseits mit den von Levitan oft eingesetzten Farben und mit seinem ‚südlichen‘ Erscheinungsbild, das von Benois so anschaulich beschrieben wurde. Dieses Porträt zeigt deutlich, dass Serov selbst in den Darstellungen seiner Künstlerfreunde auf die traditionellen Formeln zurückgriff, sofern es dem ‚Gesamtbild‘ des Modells entsprach. Levitans ruhige Pose, die melancholische Handhaltung und sein elegischer Blick evozieren den Eindruck eines „traurigen Dandys“1280. Sie erinnern unweigerlich an das Selbstbildnis von Karl Briullov1281 (1848, Abb. 71), das sich zwischen 1867 und 1925 im Rumiantsev-Museum in Moskau befand, sodass Serovs Kenntnis davon vorausgesetzt werden darf.1282 Als eine weitere Anregung könnte außerdem Sergei Zariankos Porträt von Nikolai B. Yusupov1283 (1868) gedient haben, in dem der olivhäutige Herzog einen eleganten blauschwarzen Anzug trägt und seinen linken Arm lässig über die Sessellehne legt. Serovs Levitan-Porträt hinterließ wiederum einen tiefen Eindruck auf andere Maler. 1893– 94 wurde es in der XXI. Ausstellung der Genossenschaft der Wanderausstellungen in St. Petersburg, Moskau, Kharkov, Elisavetgrad (heute Kropywnyzkyj), Odessa und Kiew gezeigt und anschließend von Pavel Tretyakov für seine Galerie erworben. Schon 1896 ahmte Repin in der Darstellung des Schriftstellers Alexei Tolstoy1284 Levitans Ikonografie, Körperausschnitt und Raumsituation nach. Sapunov, der an der Moskauer Kunsthochschule von Serov und Levitan unterrichtet wurde, übernahm 1908 beim Porträtieren von Nikolai Milliotti1285 beinah identisch die Haltung und den Ausdruck von Serovs Bildnis. Das Gleiche gilt für Nesterovs Viktor Vasnetsov1286 (1925).

1280 Vgl. Allenov 1992, S. 344. 1281 Автопортрет, 1848, Öl auf Karton, 64,1 × 54 cm, STG, Moskau, Inv. 5051. 1282 Zu Serovs lobenden Äußerungen über Briullov siehe: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 23–44, hier S. 32; S. 113–190, hier S. 145; S. 444–449, hier S. 447. 1283 Николай Борисович Юсупов, 1868, Öl auf Leinwand, 151,8 × 106,8 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg. 1284 Алексей Константинович Толстой, 1896, Öl auf Leinwand, 84 × 70 cm, Staatliches Literaturmuseum, Moskau. 1285 Николай Дмитриевич Милиоти, 1908, Öl auf Karton, 77 × 66,7 cm, STG, Moskau, Inv. 4642. 1286 Виктор Михайлович Васнецов, 1925, Öl auf Leinwand, 98,9 × 106,5 cm, STG, Moskau, Inv. ЖC-8650.

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Mara Oliv (1895) Das Hüftbild von Mara Oliv (1895, Taf. X), das in einer feinen Palette aus Schwarz-, Braunund Ockertönen gemalt ist, gehört zu Serovs bekanntesten Werken der 1890er Jahre und zu seinen spannendsten malerischen Kompositionen überhaupt. Über die Dargestellte wird indes sowohl in den publizierten Quellen als auch in der Forschungsliteratur wenig berichtet. Mara Konstantinovna Oliv (1870–1963) entstammt einem französisch-russischen Adelsgeschlecht und war zur Zeit der Entstehung von Serovs Bildnis mit Savva Mamontovs Neffen Yury verheiratet.1287 Serov lernte sie spätestens am 6. Januar 1890 kennen, als er zusammen mit ihr, Vrubel und Maria Yakunchikova an den weihnachtlichen Theatervorstellungen in Mamontovs Moskauer Stadthaus teilnahm.1288 Da Oliv im Laufe der Jahre auch von Vrubel1289 (1890), Repin1290 (1906) und Maliavin1291 (1922) porträtiert wurde, wird sie einen engen Kontakt zu den Künstlern gepflegt haben und außerdem als Mäzenin aktiv gewesen sein. Vrubel beschrieb sie im Mai 1890 schwärmerisch: Ich fühle mich zu einer Person sehr hingezogen [...] – und ihre Moralvorstellungen versprechen keine langweilige Zuflucht [...] Sie hat braune Haare und braune Augen, aber sowohl ihre Haare als auch ihre Augen wirken pechschwarz neben ihrem matten, blassen, offenen, scheinbar geschliffenen Gesicht. Sie ist nicht groß [...] die Nase ist sehr fein gearbeitet, leicht krumm, erinnert an eine kleine Füchsin. Der ganze Eindruck von ihrem ovalen Gesicht [...] ist von feiner Rätselhaftigkeit, nicht ohne Bosheit – wie die Sphinx. Aber ich habe [...] gesehen, wie diese Augen ganz einfach und weich geguckt haben, als würden sie einem Kalb [gehören].1292 Von Serov sind keine solchen schriftlichen Äußerungen erhalten. Es ist sein Porträt, das seine Bewunderung für sein Modell offenbart. Oliv wird stehend in einer Dreiviertelansicht nach links vor einem neutralen Hintergrund positioniert. Mit ihrer linken Hand greift sie an den Kragen ihres hochgeschlossenen Gewandes, ihre Rechte ist etwas oberhalb der Taille 1287 Maras Vater, Konstantin Wilhelmovich Oliv (1829–?), war Sohn des französischen Adeligen Wilhelm (Guillaume) Simon Oliv (?–1854), der sich nach den Napoleonischen Kriegen mit dem Bruder des russischen Zaren, Konstantin Pavlovich, anfreundete und in der russischen Armee diente. 1288 S. I. Mamontov 1894, S. VII. 1289 Мара Константиновна Олив, 1890, Stift auf Papier, Größe unbekannt, Privatbesitz, Moskau. 1290 Мара Константиновна Олив, 1906, Öl auf Leinwand, 90 × 72 cm, Museum der bildenden Künste, Tiumen. 1291 Мара Константиновна Олив, 1922, Öl auf Leinwand, 88 × 68 cm, Staatliches Radishchev Museum der bildende Künste, Saratow. 1292 „Я сильно привязался [...] к одной особе, [...] – и нравственный облик ее не манит тихим пристанищем [...] Она только темная шатенка с карими глазами; но и волосы и глаза кажутся черными-черными, рядом с матово-бледным, чистым, как бы точеным лицом. Она неболшего роста [...] Носик очень изящной работы, с горбинкой, напоминает лисичку. Все впечатление [...] личика [...] напоминет тонкую загадочность не без злинки – сфинксов. Но я несколько раз видел, как эти глаза смотрели просто-просто и мягко, как у телушки“, Mikhail Vrubel an seine Schwester Anna aus Moskau am 1.5.2890, zit. in: Gomberg-Verzhbinskaia/Podkopaieva/Novikov 1976, S. 55, Nr. 31.

6.1 Die Farbe Schwarz

angedeutet, als würde sie damit an einer Schleife ziehen. Die Momenthaftigkeit ihrer Erscheinung wird durch diverse malerische Effekte weitergetragen. Der Künstler kombiniert die Transparenz der Ärmel mit dem Durchscheinen der Leinwand, lenkt den Blick durch Glitzer auf dem Halstuch zum Gesicht hin, arbeitet rechts mit stilisierter Konturlinie und links mit ineinanderfließenden Farben; er suggeriert einen neutralen Hintergrund, stellt aber in Wirklichkeit einen bis zur Unkenntlichkeit abstrahierten Raum dar, wie es die beiden horizontalen Flächen oben sowie die schmalen Vertikalen zu beiden Seiten der Figur kenntlich machen. Diese Abwechslung und der gewollt nachlässige Duktus bewirken, dass das Modell und die Welt um es herum sich in einem transzendenten Zustand befinden, womit die Flüchtigkeit des Moments betont wird, welche bereits Olivs Bewegung immanent ist. Der Künstler lässt die Realität dahingleiten und das Porträt zu einer Symphonie der Farben werden. Gleichzeitig verraten Olivs warmer Blick, ihr verspieltes Schmunzeln und gerötete Wangen ein lebhaftes, inniges Interesse am Betrachter und ziehen damit seine Aufmerksamkeit beinah magisch an. So bleibt der Mensch thematisch im Vordergrund, ohne dass die Malerei an Bedeutung verliert. Vergleicht man Mara Oliv mit Whistlers ganzfigurigem Bildnis der Lady Archibald Campbell (ca. 1883), das 1889 in Paris zu sehen war, so finden sich Parallelen hinsichtlich der Koloristik und der künstlerischen Intention. Denn nicht nur entwickelte Whistler eine raffinierte Palette unterschiedlicher schwarzer und brauner Töne, wie später für Serov spielte für ihn der Effekt der Bewegung und der Vergänglichkeit des Moments eine wichtige Rolle. Einen weiteren spannenden Vergleich bietet in Bezug auf das Hell-Dunkel, die Haltung und den Körperausschnitt Munchs Bildnis seiner Schwester Inger an (1884, Abb. 22), das Serov 1885 in der Antwerpener Weltausstellung – in der er die Norweger für ihre „äußerst eigenartige“1293 Arbeitsweise bewundert hatte – gesehen haben muss: Ähnlich wie bei Oliv verschmilzt Ingers schwarzes hochgeschlossenes Kleid mit dem schwarzen Hintergrund, die Ärmel sind teils transparent, um den Kragen herum ist Glitzer angebracht. Der Unterschied zwischen Serov und Munch liegt vor allem im Duktus und im Ausdruck. Fest in tiefes Schwarz eingebettet, blickt Inger traurig und nachdenklich in die Ferne und strahlt eine trübsinnige Stimmung aus, die von Olivs fröhlicher, koketter Laune weit entfernt ist. Wie Whistler und Munch machte auch Serov mit seinem Bildnis auf der internationalen Bühne auf sich aufmerksam. 1899 wurde es in der 1. Internationalen Mir iskusstva Ausstellung als Porträt der Frau M. und kurz darauf als Porträt in der Münchner Secession gezeigt.1294 Im Münchner Katalog sticht es unter vielen abgebildeten Werken sogar in einer schlechten Schwarz-Weiß-Reproduktion deutlich hervor. Ein deutscher Kritiker notierte dazu: „Auch sonst weist das Porträtfach mannigfache und erfreuliche Vertretung auf in der Secession. 1293 „Ещё рад, что удалось увидеть шведских и норвежских живописцев – работают очень своеобразно“, Serov an Olga Trubnikova vom 5.8.1885 (17.8.1885) aus München, in: STG/QS 49/14, Moskau, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 26, S. 62–64, hier S. 63. 1294 Internationale Kunst-Ausstellung des Vereins bildender Künstler München (A. V.) „Secession“ ... 1899, S. 25, Kat. 209–210, Kat. 209 mit Abb. (o. S.).

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71 Karl Briullov, Selbstbildnis / Автопортрет, 1848, Öl auf Karton, 64,1 × 54 cm, STG, Moskau, Inv. 505

Man siehe nur des Russen Valentin Seroff köstliches Frauenbildnis.“1295 Karl Voll schloss sogar „das geschickte Porträt des Russen Seroff“ an „unmittelbar“ an die Franzosen an und stellte den Künstler damit in die gleiche Reihe mit Degas und Monet, die 1899 in München ebenfalls zu sehen waren.1296 Mikhail Morozov (1902) Eine größere Beachtung als dem Bildnis von Mara Oliv kam seitens der Serov-Forschung seiner Darstellung von Mikhail Morozov zu, was nicht zuletzt auf den Bekanntheitsgrad und die Gesellschaftsstellung dessen Familie zurückzuführen ist. Er gehörte zu der vierten und letzten Generation der sagenhaft reichen Textilhändlerdynastie, die von seinem Urgroßvater Savva Vasilyevich Morozov (1770–1860), dem einstigen Leibeigenen des Grafen Riumin, Ende des 18. Jahrhunderts gegründet worden war.1297 Mikhail, Ivan und Arseny – drei Söhne von Abram Abramovich Morozov (1839–82), einem von Savvas Enkeln – wur 1295 Fred Walter, Bilder aus der Münchner Secession, in: Die Kunst unserer Zeit. Eine Chronik des modernen Kunstlebens, 2. Halbband, München 1899, S. 52–59, hier S. 56. 1296 Karl Voll, Die VII. internationale Kunstausstellung der Münchner Secession, in: Kunst für Alle, Jg. 14, Heft 21, 1899, S. 321–327, hier S. 324. 1297 Zur Morozov-Familie siehe: Beverly W. Kean, French Painters, Russian Collectors: The Merchant Patrons of Modern Art in Pre-Revolutionary Russia, London: Hodder & Stoughton, 1994 (1983), S. 85–88; Albert Kostenewitsch, Russische Sammler französischer Kunst. Die Familienclans der Schtschukin und Morozow, in: Georg-W. Költzsch (Hg.), Morozow – Schtschukin, die Sammler: 120 Meisterwerke aus der Eremitage, St. Petersburg, und dem Puschkin-Museum, Moskau. Monet bis Picasso, AK Essen, Museum Folkwang 25.6.–31.1.1994,

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den nach dem frühen Tod ihres Vaters von ihrer Mutter Varvara Alexeievna Morozova1298 (geb. Khludova, 1848–1917) großgezogen. Sie war eine gebildete, emanzipierte Frau und eine der fortschrittlichsten Wohltäterinnen Moskaus: Sie gründete die Turgenev-Bibliothek (die erste öffentliche kostenfreie Bibliothek des Landes, 1885–heute), organisierte mehrere Schulen und stiftete der Medizinischen Fakultät der Universität eine psychiatrische Anstalt. Den größten Teil ihres Vermögens hinterließ sie den Arbeitern der Twerer Baumwollmanufaktur, welche sie nach der Erkrankung ihres Gatten leitete.1299 In ihrem Haus unterhielt sie einen liberalen Literatursalon, den Lev Tolstoy, Gleb Uspensky und Anton Chekhov frequentierten. Mikhail Morozov (1870–1903), der älteste ihrer Söhne, zeigte zunächst kein Interesse an Kommerz. Er studierte Geschichte an der Moskauer Universität und arbeitete dort danach als Dozent. Unter dem Pseudonym Mikhail Yuriev veröffentlichte er historische Studien (darunter die Monografie Karl V. und seine Zeit, 1894), publizierte eine Auswahl der eigenen Briefe (Moi pisma, 1895) und versuchte sich sogar als Romancier. Ferner schrieb er Kritiken für die Moskauer Zeitung Novosti Dnia (Tagesnachrichten, 1896–1906) und für die Petersburger Monatszeitschrift Severny Vestnik (Bote des Nordens, 1885–98).1300 Berühmtheit erlangte Morozov jedoch in erster Linie für seine Exzentrik. Bis zu seinem 21. Geburtstag bekam er monatlich nur 75 Rubel zugewiesen und sobald er sein Anteil am Familienvermögen erbte, konnte und wollte er sich alles leisten.1301 Noch im selben Jahr heiratete er und kaufte eine imposante Stadtvilla mit Marmorsäulenfassade am Smolensky Boulevard, wo er sogleich die Stromversorgung durch ein eigenes Kraftwerk einrichten ließ. In seiner ägyptischen Lobby stellte er neben dem Telefon einen echten Sarkophag mit Mumie darin auf.1302 Bei einem Kartenspiel im Englischen Klub verlor er an nur einem Abend über eine halbe Million Rubel an einen Tabakfabrikanten.1303 Seine schillernde Persönlichkeit schaffte es sogar auf die Theaterbühne: Sie diente dem georgischen Herzog Alexandr Sumbatov-Yuzhin als Vorbild für den selbstverliebten Protagonisten seiner populären Komödie Der Gentleman (1897), welche die neue Bourgeoisie schonungslos monierte.

Moskau, Puschkin-Museum 30.11.1993–30.1.1994, St. Petersburg, Staatliche Eremitage 16.2.–16.4.1994, Köln: DuMont, 1993, S. 35–137, hier S. 83–84. 1298 Varvara entstammt der kaufmännischen Familie Khludov. Ihr Vater sammelte Handschriften, die später zum Kern der Handschriftenabteilung des Historischen Museums in Moskau wurden. Siehe: Dumova 1992, S. 68; Kean 1994 (1983), S. 91. 1299 Abram Morozov litt wie Varvaras Bruder Mikhail unter einer psychischen Erkrankung und verbrachte die letzten Monate seines Lebens in einer Psychiatrie. Siehe: Dumova 1992, S. 66–67; Költzsch 1993, S. 85. 1300 Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 266–267, Anm. 1. 1301 Kostenewitsch, in: Költzsch 1993, S. 87–88. 1302 Ebd. 1303 Pavel A. Buryshkin, Moskva kupecheskaia, New York: Izdatelstvo imeni Chekhova, 1954, S. 123–124, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 267, Anm. 1.

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Das Sammeln von Kunst rückte in den Fokus von Mikhails Interesse, als er 1895 die Leitung der Twerer Manufaktur übernahm.1304 Mit Blick auf Mikhail startete auch Ivan nach seinem Umzug nach Moskau im Jahr 1900 eine eigene Kollektion. Die Beschäftigung mit Kunst seitens der Morozov-Brüder geschah nicht zufällig: Bereits als Jugendliche bekamen sie Mal- und Zeichenunterricht bei Konstantin Korovin, damals noch einem Studenten der Moskauer Kunsthochschule.1305 Des Weiteren hatten andere renommierte Moskauer Sammler kaufmännischer Abstammung wie Tretyakovs oder Botkins für sie sicherlich eine Vorbildfunktion. Die Morozovs unterschieden sich von ihnen jedoch insofern, als dass sie ihr Augenmerk schwerpunktmäßig auf die europäische Moderne richteten. Im Gegensatz zu Ivan war für Mikhail moderne Kunst keine Liebe auf den ersten Blick. Im Jahr 1895, zu Beginn seiner Sammeltätigkeit, beauftragte er Korovin, noch eine „Dekoration im Stile Corots“ in seiner Stadtvilla anzufertigen.1306 Für seine Kollektion kaufte er zunächst die ‚Alten Meister’, die er, laut Korovin, gegenüber seinen Gästen folgendermaßen kommentierte: „Man sagt, es sei Raffael oder Murillo, doch wer weiß das schon. Oder hier – ein Tizian, aber die Figur des Säuglings rechts [im Bild] soll Correggio gemalt haben. Versuch mal da durchzublicken“.1307 Bald besann sich Mikhail Morozov aber eines Besseren und zog es vor, Bilder direkt von den Künstlern zu kaufen. Viele von ihnen gehörten zu seinen regelmäßigen Gästen. Seine Ehefrau Margarita erzählte später in ihren Erinnerungen: Von etwa 1898 bis 1903 [...] trafen sich bei uns jeden Sonntag um zwei Uhr zum Frühstück russische Maler, die mein Ehemann sehr liebte und von denen er ständig Bilder kaufte. Am häufigsten kamen: V. A. Serov, K. A. Korovin, V. I Surikov, A. M. Vasnetsov [...]. Selten kamen M. A. Vrubel, V. M. Vasnetsov, I. S. Ostroukhov [und] Paolo Toubezkoy [...] Von allen Malern, die in unserem Haus verkehrten, liebte mein Mann besonders Serov.1308 Auffallend ist, dass Morozov bei den renommierteren Künstlern vor allem Studien für sich sicherte. So erwarb er von Surikov kein einziges vollendetes Gemälde, sondern sechs Studien, die sich durch einen spontanen, kraftvollen Duktus auszeichnen.1309 Außerdem kaufte er progressive europäische Maler und – zusammen mit Sergei Shchukin als einer der ersten

1304 Kean 1994 (1983), S. 93; Kridl Valkenier 2001, S. 104 1305 Kostenewitsch, in: Költzsch 1993, S. 90; Kridl Valkenier 2001, S. 104. 1306 Kostenewitsch, in: Költzsch 1993, S. 93. 1307 Samkov/Silberstein 1990 (1971), S. 402. Die vermeintlichen ‚Alten Meister‘ soll Morozov, so Kostenewitsch (1993, S. 91), später „in aller Stille“ losgeworden sein. 1308 „Приблизительно с 1898 г. до 1903 г. [...] у нас каждое воскресенье к 2-м часам дня, к завтраку, собирались русские художники, которых мой муж очень любил и произведения которых он все время покупал. Чаще всех бывали: В. А. Серов, К. А. Коровин, В. И. Суриков, А. М. Васнецов [...]. Изредка приходил М. А. Врубель, В. М. Васнецов, И. С. Остроухов, Паоло Трубецкой [...] Из всех бывавших у нас художников мой муж особенно любил Серова.“ Margarita K. Morozova, V. A. Serov, in: Khudoznik, 1966 [1957], Nr. 1, S. 35f., zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 264–268, hier S. 264f. 1309 Siehe dazu: Kostenewitsch, in: Költzsch 1993, S. 91.

6.1 Die Farbe Schwarz

in Russland überhaupt – französische Modernisten. Ihm gehörten Manets Kneipe1310 (1879), Monets Mohnblumenfeld1311 (ca. 1890), Bonnards Hinter dem Zaun1312 (1895), Renoirs Jeanne Samary1313 (1878), Munchs Weiße Nacht. Aasgardstrand1314 (1902–03), van Goghs See bei Saintes-Maries1315 (1888) und Gauguins Einbaum1316 (1896). Den Letzteren sowie auch die Nabis soll Morozov sogar als erster russischer Sammler entdeckt haben.1317 Die Brüder Morozov gehörten zur neuen Generation russischer Kaufleute, die mit ihrer energischen Manier die konservativen, zurückhaltenden kuptsy (Kaufleute) allmählich ablösten. Als eine solche ehrgeizige Persönlichkeit wurde Mikhail in Serovs repräsentativem ganzfigurigen Bildnis gezeigt (1902, Abb. 53). Dem Betrachter gegenüber steht ein stämmiger und elegant gekleideter Mann. Sein langes schwarzes Jackett ist fest zugeknöpft, das Halstuch ein wenig gelockert. In Dreivierteldrehung gegen die Blickführung gerichtet, blockiert er die Sicht auf den Raum hinter ihm. Die Monumentalität seiner Erscheinung wird durch die Situierung in einem länglichen Hochformat vor einem dunklen Hintergrund entscheidend konsolidiert. Sein Gesicht fast en face gewandt, fixiert Morozov den Betrachter mit seinen funkelnden Augen. Der Sammler posiere hier, so Grabar, im chinesischen Gästesaal seines Stadthauses.1318 Das stark verschattete Interieur lässt sich aber nur ansatzweise erkennen. In der linken oberen Ecke ist das Fragment eines Fensters sichtbar, an dem ein ausgestopfter (?) Pfau aufgestellt ist. Auf dem Kaminsims rechts hinten steht eine nicht genau identifizierbare Frauenbüste. Der Übergang zwischen den horizontalen und vertikalen Ebenen kann erst bei längerer Betrachtung entdeckt werden: Es handelt sich dabei nicht – wie im Bild suggeriert wird – um den breiten, schwarzen Streifen, der schräg in Kniehöhe der Figur verläuft. In Wirklichkeit liegt die kaum sichtbare Schnittstelle zwischen dem Boden und der Kaminfront parallel dazu, über den Händen des Modells. Da diese Kante fast unsichtbar ist, baut sich scheinbar nur einen Schritt hinter Morozov eine Wand auf, sodass die Tiefenwirkung stark zurückgenommen wird und seine robuste Gestalt umso näher an den Betrachter rückt. Wegen seiner breitbeinigen Stellung wirkt Morozov ausgesprochen selbstbewusst. In der russischen Kunst gehört ein breitbeiniges Stehen bzw. Sitzen durchaus zur Ikonografie eines Kaufmannes.1319 Eine vergleichbare Beinstellung ist zum Beispiel in Vasily Perovs An 1310 Кабачек (Le Bouchon), 1879, Öl auf Leinwand, 72 × 92 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 3443. Das erste Manet-Bild in einer russischen Sammlung, 1900 von Shchukin erworben, der es an Morozov weiterverkaufte. 1311 Поле маков, ca. 1890, Öl auf Leinwand, 60,5 × 92 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg, Inv. ГЭ-9004. 1312 Derrière la grille, 1895, Öl auf Karton, 31 × 35 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg, Inv. 7709. 1313 Жанна Самари, 1878, Öl auf Leinwand, 174 × 101,5 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg, Inv. 9003. 1314 Белая ночь. Осгардстран, 1902–03, Öl auf Leinwand, 86 × 75,8 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 3437. 1315 Море в Сент-Мари, Juni 1888, Öl auf Leinwand, 44,5 × 54,5 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 3438. 1316 Te Vaa, 1896, Öl auf Leinwand, 95,5 × 131,5 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg, Inv. 9122. 1317 Kostenewitsch, in: Költzsch 1993, S. 94. 1318 Grabar 1954, S. 148. 1319 Zu der gesellschaftlichen Stellung und Ikonografie des russischen Kaufmannes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe: Karpova 2000, S. 57.

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kunft der Gouvernante im Haus eines Kaufmannes1320 (1866, Abb. 54) oder in Andrei Riabushkins Kaufmannsfamilie im 17. Jahrhundert1321 (1896) zu finden.1322 Doch im Gegensatz zu Serov überzeichnete Perov, der im Sinne der sozial-kritischen Peredvizhniki die gesellschaftlichen Verhältnisse anprangerte, die Figuren so stark, dass sie einer Karikatur gleichen: Der wohlgenährte Hausherr begutachtet mit einem skeptischen Blick die dünne, scheue Frau, die er als Lehrerin für seine Kinder zu engagieren gedenkt. Riabushkin betonte seinerseits mit der Symmetrie der breiten Kaufmannsfigur den dekorativen Gesamtton der Komposition. In Serovs Porträt gibt es weder eine negative Färbung noch eine Neigung zum Dekorativen. Morozovs muntere Haltung und europäisiertes Äußeres lassen ihn nicht nur selbstsicher, sondern auch weltoffen erscheinen, wobei eine explizite Charakterisierung des Modells als kupets vermieden wird. Stärker als Reminiszenzen an die Ikonografie der Kaufleute erklingt hier die Ikonografie ganzfiguriger Bildnisse von Herrschern und Feldherren. An dieser Stelle ist als Erstes das durch Kopien bekannte Bildnis Heinrich VIII.1323 von Hans Holbein d. J. zu nennen (Abb. 55), in dem der König mit gespreizten Beinen im länglichen Hochformat dargestellt wird und mit seiner imposanten Figur die Komposition dominiert. Des Weiteren kann eine ganze Reihe von Hofporträts genannt werden, deren Aufbau folgendes Muster aufweisen: Die Figur wird stehend in der Mittelachse situiert, das Gesicht stark beleuchtet; im Hintergrund ist auf einer Seite entweder ein heller Fensterausblick oder ein Panorama zu sehen und auf der anderen ein architektonisches oder skulpturales Element sowie eine Draperie in der oberen Ecke. Eine solche Struktur haben beispielsweise die von Godfrey Kneller1324 und Alexei Antropov1325 gemalten Bildnisse von Peter dem Großen (1698 und 1770), Lampis Bildnis von Platon Zubov1326 (1793), Napoléon Bonaparte... von Greuze (1803) sowie einige Porträts von Anthonis van Dyck (Wolfgang Wilhelm Pfalzgraf bei Rhein zu Neuburg1327, ca. 1630). Bei Morozov ist ein Echo dieser Formel noch zu hören, obwohl der skizzenhafte Fond beinah vollständig in der Dunkelheit versinkt. Dass diese kompositionellen Ähnlichkeiten zufällig auftreten, ist aufgrund von Serovs Tendenz zur komplexen Bildkonstruktionen kaum vorstellbar. Vielmehr handelt es sich dabei um eine kluge und dezente Anspielung auf die veränderte gesellschaftliche Bedeutung der Bourgeoisie, die in wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen nach und nach die Rolle übernahm, welche einst dem Adel vorbehalten war.

1320 Приезд гувернантки в купеческий дом, 1866, Öl auf Holz, 44 × 53,5 cm, STG, Moskau, Inv. 36215. 1321 Семья купца в XVII веке, 1896, Öl auf Leinwand, 143 × 213 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. 4354. 1322 Vgl. zur Ikonografie eines Kaufmannes bei Dintses 1935, S. 8; Vgl. zu Ankunft der Gouvernante... bei Kridl Valkenier 2001, S. 106. 1323 Henry VIII, ca. 1537, Öl auf Leinwand, 233,7 × 134,6 cm, Walker Art Gallery, Liverpool, Inv. 1350. 1324 Peter the Great, Tsar of Russia, 1698, Öl auf Leinwand, 241,2 × 145,4 cm, Royal Collection, Inv. RCIN 405645. 1325 Петр I, 1770, Öl auf Leinwand, 286 × 159 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-25. 1326 Платон Александрович Зубов, 1793, Öl auf Leinwand, 107,5 × 88,2 cm, STG, Moskau, Inv. 5107. 1327 Wolfgang Wilhelm Pfalzgraf bei Rhein zu Neuburg, ca. 1630, Öl auf Leinwand, 204,5 × 141 cm, Kunsthalle Bremen, Inv. 794-1959/13.

6.1 Die Farbe Schwarz

Trotz dieser gewollten Reminiszenzen wirkt Morozovs Pose äußerst unkonventionell und zufällig. Ihr fehlt die für die Herrscherbildnisse charakteristische gestellte Gestik: Nicht nur verzichtete der Maler auf den Kontrapost, er ließ zudem beide Arme regungslos entlang des Körpers hängen. Diese Lösung ist den meisten Ganzkörper- oder Dreiviertelporträts nicht immanent, genau genommen wird sie gezielt vermieden, da sie die Gefahr der Eintönigkeit in sich birgt. In den wenigen Bildnissen, in denen die Arme parallel zueinander gemalt wurden, wurde dies meist durch eine Handlung begründet. So ließ Fantin-Latour Édouard Manet in dessen Bildnis von 1867 – das 1889 in Paris zu sehen war – mit beiden Händen den Spazierstock halten. Corinths Hermann Eichfeld1328 (1893) hat beide Hände lässig in die Hosentaschen gesteckt. Eakins stellte seinen Schwager Louis N. Kenton mit gesunkenem Kopf und beiden Händen in den Hosentaschen als einen grübelnden Denker1329 dar (1900). Eines von Eakins früheren Werken macht dagegen anschaulich, welchen negativen Effekt eine unbegründete Parallelität der Arme haben kann: In seinem Porträt des Finanzmagnaten George F. Barker (1886), das 1889 ebenfalls in Paris gezeigt wurde, wirkt die Pose unnatürlich, ja misslungen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die meisten Künstler der Zeit alternative Armhaltungen bevorzugten. Serov selbst arbeitete 1901 in einem anderen altmeisterlich dunklen Stehporträt (Alexei Goriainov1330, 1901) noch mit einer natürlich asymmetrischen Haltung. Er zeigte den Dargestellten als Kniestück, in einer Drei-Viertel-Drehung nach rechts, mit seiner Linken in der Hosentasche und nahm damit Bezug zu dem Bildnis von Mamontov von 1887/90 (Abb. 66). Als Vergleich kann in diesem Zusammenhang ferner eine ganze Reihe von Porträts der Vertreter der reichen Bourgeoisie genannt werden, die von bekannten europäischen bzw. amerikanischen Künstlern erschaffen wurden: Manets Théodore Duret1331 (1868), Whistlers Arrangement in Schwarz: Porträt R. Leyland1332 (1870–73) oder Zorns Edward E. Bacon1333 (1897).1334 In allen drei Porträts sind die Dargestellten in schwarze Anzüge gekleidet, werden in einer Dreiviertelansicht vor dunklem Hintergrund gezeigt und wenden ihren Blick dem Betrachter zu. Dennoch ist die Wirkung jedes Mal eine andere. Manet be 1328 Hermann Eichfeld, 1893, Öl auf Pappe, 109 × 81 cm, Kunsthalle Mannheim, Inv. M1015. 1329 The Thinker: Portrait of Louis N. Kenton, 1900, Öl auf Leinwand, 208,3 × 106,7 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, Inv. John Stewart Kennedy Fund, 17.172. 1330 Алексей Михайлович Горяинов, 1901, Öl auf Leinwand, 112 × 82 cm, Regionales Kunstmuseum, Donezk, Inv. ж-1370. 1331 Théodore Duret, 1868, Öl auf Leinwand, 46,5 × 35,5 cm, Musée du Petit Palais, Paris, Inv. 485. Théodore Duret (1838–1927), Erbe einer Cognac-Dynastie, Sammler und Kunstkritiker, Verfechter des Impressionismus. 1332 Arrangement in Black: Portrait of F. R. Leyland, 1870–73, Öl auf Leinwand, 218,5 × 119,4 cm, Freer Gallery of Art, Washington D. C., Gift of Charles Lang Freer F1905.100a–b. Frederick Richards Leyland (1832–92), Eigentümer einer der größten britischen Reedereien und Kunstsammler aus Liverpool; einer der wichtigsten Förderer Whistlers (Auftraggeber des Peacock room, 1876–77, Freer Gallery of Art, Washington D. C.). 1333 Edward E. Bacon, 1897, Öl auf Leinwand, 122,6 × 89,5 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, Bequest of Virginia Purdy Bacon, Inv. 19.112. Edward Rathbone Bacon (1847–1915), Vorsitzender der Baltimore and Ohio Company. 1334 Vgl. zu Manets Théodore Duret: Leniashin (1989, S. 52f.), als Bildvergleich ohne Kommentar.

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tonte Durets ungelenke Pose durch die steife, gerade Beinstellung und durch den schräg zur Hüfte gestellten Spazierstock. Whistler ließ Leyland als einen eleganten Dandy erscheinen und kaschierte durch die Profildrehung seiner schmalen Figur die symmetrische Haltung der Arme: Der Ellenbogen des rechten Arms sticht kantig heraus, während der linke unsichtbar bleibt – nur der darüber geworfene Mantel ist erkennbar. Zorn erfüllte sein Bildnis mit barocker Dramatik. Bacons aufgeknöpfter Mantel ist nach hinten geworfen; die linke Hand steckt in der Hosentasche, die andere ist in die Hüfte gestemmt. Vom Schlaglicht erfasst, tritt er scheinbar stürmisch aus der Dunkelheit hervor, obwohl keine physische Bewegung angedeutet wird. Mit Bedacht auf diese drei Beispiele sticht die Einzigartigkeit von Serovs Komposition von 1902 besonders hervor, denn er entschied sich für die wohl gewagteste Variante, ohne an Spannung einzubüßen. Morozovs Impetus kommt aus der unterbrochenen Bewegung, welche scheinbar in nächsten Moment fortgesetzt wird: Er wirkt so, als hätte er sich beim Aufstehen mit beiden Händen vom Stuhl abgestoßen und sei kurz stehen geblieben, bevor er den engen (Bild)Raum verlassen bzw. sprengen wird. Diese dynamische Wirkung wird durch das kräftige Schwarz unterstützt, das großzügig in einem breiten, raschen Duktus differenziert über die Leinwand verteilt wurde: Die Hände sind schematisch wiedergegeben, das Jackett wurde in langen vertikalen Pinselstrichen, und die Faltengliederung der Hosen kantig gestaltet. Alle Formen – sei es im Vor- oder im Hintergrund – befinden sich aufgrund ihrer skizzenhaften Behandlung in einem fließenden Zustand, als würden sie sich in jedem Augenblick verändern können. Morozovs Dynamik fiel schon Serovs Zeitgenossen auf: Aus der Sicht des Kritikers Sergei Mamontov (1867–1915) sah Morozov so energiegeladen aus, als hätte der Maler ihn „aus einer Königskanone geschossen“.1335 Die Gestaltung der Arme ist somit nicht als eine „Schwäche“1336, sondern als entscheidendes und sehr bedacht eingesetztes kompositionelles Element zu verstehen. In der sowjetischen Forschung wurde das Bildnis von Mikhail Morozov zu den wichtigsten Werken des Künstlers gezählt, aber nicht nur wegen seiner malerischen Qualitäten, denn es wurde zum Inbegriff eines Bildes erklärt, welches die ‚Laster der Großbourgeoisie‘ entlarve.1337 Sicherlich spielten dabei die vereinzelten zeitgenössischen Vorwürfe des Karikierens eine Rolle.1338 Die Tatsache, dass Morozov als Vorbild für Sumbatov-Yuzhins Komödie Der Gentleman (1897) gedient hatte, kam sehr gelegen. Die zeitgenössischen Aussagen 1335 „точно им только из Царь-пушки выстрелили.“ S. S. Mamontov, Vospominaniia o V. A. Serove, in: Izvestiia Obshchestva prepodavatelei graficheskikh iskusstv v Moskve, 1911, Nr. 10, S. 465–469, zit. in: Samkov/ Silberstein 1971, Bd. 1, S. 164–183, hier S. 168. Dies schrieb Mamontov später Serov zu, in: S. S. Mamontov, Serov-portetist, in: Russkoie slovo, Nr. 35, 1914, zit. in: ebd., S. 177, Anm. 11. 1336 Grabar (1954, S. 148) erachtete die Parallelität der Arme im Morozov-Porträt als eine Schwäche. 1337 Die negative Deutung des Porträts in der Forschung begann mit Ternovets Äußerung (1925, S. 51f.), Serov sei in diesem Werk mehr am Karikieren der Person als an den malerischen Aufgaben interessiert gewesen. 1338 Kvidam [Alexandr Krugel], Peterburg, in: Russkoie slovo, 25.2.1903, Nr. 55, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 177–179, Anm. 11, hier S. 178; Kol-Kol [Nikolai Efros], Moskovskaia pestriad, in: Odesskiie novosti, 26.11.1911, Nr. 8581, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, 363–371, hier S. 366.

6.1 Die Farbe Schwarz

über Serovs Ironisierung einiger seiner Modelle wurden als ein Merkmal seines ‚Wahrheitskults‘ hingestellt und auf das Morozov-Porträt übertragen.1339 Grabars plakativ formulierter Satz, „es war gefährlich, sich von Serov malen zu lassen“1340 entwickelte sich zu einem geflügelten – ja einem inflationär gebrauchten – Wort in der Serov-Forschung. Gerade die Schriften von Grabar machen die künstliche Politisierung des Morozov-Bildnisses besonders deutlich. Noch 1914 verglich er Morozovs „monumentale“ Wirkung mit der „Bedeutung und Feierlichkeit eines Freskos“1341. 1935 erinnerte er sich dann an Serovs belustigende Bemerkung über Morozovs Zufriedenheit mit dem Ergebnis und interpretierte es als „eine der giftigsten Gesellschaftssatiren in der gesamten Geschichte der russischen Malerei“.1342 In der späteren Forschung wurde diese Behauptung gerne zitiert, sinngemäß erweitert und als prävalierende Deutung des Bildnisses akzeptiert, wenngleich die malerischen Qualitäten des Werks weitgehend anerkannt blieben.1343 Positive oder neutrale Interpretationen gab es dagegen ausgesprochen selten.1344 Die zeitgenössischen Aussagen rückten dieses Porträt allerdings meist in ein überaus positives Licht. Nesterov zählte es zu den besten Gemälden der Mir iskusstva Ausstellung von 1902 und bewunderte sowohl die „energische Malerei“ als auch die Charakterisierung der Person, die er für „wesentlich wertvoller als die [Darstellung] im berüchtigten Theaterstück von Sumbatov“ hielt.1345 Alexander Eliasberg beschrieb es als „eine vollkommene Verkörperung der gebildeten und kultivierten Moskauer Kaufmannschaft“1346 und selbst Stasov äußerte sich positiv über Serovs „runden, fröhlichen, geröteten und munteren“1347 Morozov. 1903 vermerkte Sergei Diaghilev im Nachruf an den plötzlich verstorbenen Sammler, dass dessen „extravagante lebensfreudige Persönlichkeit, die von Serov so treffend in einem

1339 Margarita Morozova gestand z. B., sie habe sich erst nicht getraut, sich von Serov malen zu lassen, da er „solche Damen“ wie sie nicht mochte. In: Margarita Morozova, V. A. Serov, in: Khudoznik, Nr. 1, 1966, S. 35f., zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 263–268, hier S. 265. 1340 „писаться у Сѣрова опасно“, Grabar 1914, S. 160. 1341 „фигура [...] прiобрѣла значительность и торжественность фрески [...] выросла въ монументальное изображенiе“, Grabar 1914, S. 148–150. 1342 „являющийся одной из самых ядовитых социальных сатир в живописи за всю историю русского искусства“, Grabar 2001 (1935), S. 155. 1343 Grabar 1954, S. 150; ders. 1965, S. 160; Simonovich-Efimova 1964, S. 68; Zhuravliova, in: Mashkovtsev/ Sokolova, 1964, S. 39; Vladimir P. Lapshin, Uroki velikogo portretista, in: Iskusstvo, Nr. 1, 1965, S. 45–54, hier S. 50; Mark I. Kopshitser, Valentin Serov, Moskau: Iskusstvo, 1967, S. 237; Leniashin 1980, S. 41, 69, 70f.; ders., in: Petrova 2005, S. 6; Viktor B. Rosenwasser, Valentin Alexandrovich Serov. K 125-letiiu so dnia rozhdeniia, Moskau: Znaniie, 1990, S. 31. 1344 Dintses 1935, S. 4; Sarabyanov/Murina 1968, S. 217; Sarabyanov 1974, S. 15; ders. 2001, S. 41. 1345 „Портрет Серова – это целая характеристика, гараздо более ценная, чем в пресловутой пьесе Сумбатова“, Mikhail Nesterov an A. A. Tugygin am 15.12.1902 aus Kiew, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 53. 1346 Eliasberg 1915, S. 95. 1347 „кроме, может быть, портрета М. А. Морозова, кругленького, весёленького, красненького, бодренького“, V. Stasov, Vystavki. IV. Dve dekadenskiie vystavki, in: Novosti i birzhevaia gazeta, 1903, Nr. 112, zit. in: Samkov/ Silberstein 1971, Bd. 2, S. 378f., hier. S. 378.

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[…] Bildnis festgehalten wurde“, vielen in Erinnerung bleiben werde.1348 Sergei Mamontov bejahte in seiner Gedenkrede an Serov im Jahr 1911 zwar die Ansicht, dass der Künstler die ihm unsympathischen Menschen in seinen Porträts böse auslachte, stritt jedoch ein solches Vorgehen bei Morozov ab und sprach indes vom „gutmütigen Augenzwinkern“.1349 Es ist in der Tat nicht vorstellbar, dass der für seine Ehrlichkeit bekannte Serov, der regelmäßig an den Künstlertreffen im Haus des Sammlers teilnahm, diesen bei den Ankäufen beriet und dessen kleinen Sohn liebevoll porträtierte (1901, Abb. 30), Morozovs repräsentative Darstellung als „giftige Gesellschaftssatire“ formulieren würde. Vielmehr kreierte er ein wahres Meisterwerk der dunklen Ton-in-Ton-Malerei, das ihn über die anderen berühmten Porträtmaler stellte, deren Bilder er in den großen Kunstschaus begegnete.

6.2 Valentin Serov und Anders Zorn Der schwedische Künstler Anders Zorn zählte um 1900 zu den gefragtesten Malern seiner Generation. 1889 wurde er in der Pariser Weltausstellung mit der Goldmedaille I. Klasse ausgezeichnet und danach in die Légion d’honneur aufgenommen. In Deutschland war er nach seinem Auftritt in der Münchner Jahresausstellung von 1891 an fast 80 Einzel- und Gruppenausstellungen beteiligt. 1893 trat er als Kommissar der schwedischen Abteilung der World’s Columbian Exposition in Chicago seine erste USA-Reise an, auf die sechs weitere folgten und ihm Verbindungen zu amerikanischen Kunstsammlern der upper class einbrachten – darunter zu Isabella Stuart Gardner, die den Künstler 1894 in ihrer Residenz in Venedig empfing. 1900 fungierte er erneut als Kommissar der schwedischen Abteilung, diesmal in der Weltausstellung in Paris. Sechs Jahre später fand in der französischen Hauptstadt auf Initiative von Rodin Zorns Einzelausstellung in der Galerie Durand-Ruel statt. Zorns Einfluss auf Serov wurde schon von seinen Zeitgenossen kontrovers diskutiert. 1900 bezeichnete der Kritiker Piotr Ghe1350 (1859–1923) Serov abwertend als „den wahrsten Imitator Zorns“, dessen Arbeiten für das russische Publikum nach der direkten Begegnung mit den Werken des Schweden uninteressant erschienen.1351 Yaremich konterte indes 1906, 1348 „большинство художниковъ-москвичей и любителей искусства и театра долго не забудутъ его оригинальной, жизнерадостной фигуры, так мѣтко обрисованной на оставшемся намѣ портретѣ работы Сѣрова,“ S. D. [Sergei Diaghilev], M. A. Morozov, in: Mir iskusstva, 1903, Nr. 7–8, S. 141, Abb. S. 140. 1349 „он изобразил этого мецената удивительно похожим, но в то же время тут не зло, а, наоборот, остроумно над ним посмеялся, выразив его жизнерадостность, блестящие глаза, наивно расставленные руки, как будто человек куда-то готов броситься, или точно им только из Царь-пушки выстрелили.“ S. S. Mamontov, Vospominaniia o V. A. Serove, in: Izvestiia Obshchestva prepodavatelei graficheskikh iskusstv v Moskve, 1911, Nr. 10, S. 465–469, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 163–183, hier S. 168. 1350 Piotr Nikolaievich Ghe (1859–nach 1927), Kunstwissenschaftler und -kritiker, Sohn des Malers Nikolai Ghe. 1351 „По своей манере Серов является важнейшим подражателем Цорна, и это обстоятельство, несмотря на все достоинства мастерства Цорна и успешность в подражании г. Серова, лишает работы последнего в значительной степени интереса для русской публики с тех пор, как она имела возможность видеть оригинальные произведения самого Цорна.“ P. N. Ghe, Khudozhestvennyie vystavki v Peterburge 1900 –1901 g., in: Zhizn, 1901, Nr. 4, S. 206, zit. nach: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 705, Anm. 4. Siehe auch: Nikolai

6.2 Valentin Serov und Anders Zorn

dass es „mehr als ungerecht“ sei, Serov Nachahmung von Zorn zu unterstellen, denn er sei „nervöser“ und habe ein „ungemein stärkeres Farbgefühl“.1352 1914 bestritt auch Radlov Zorns übermäßige Wirkung auf Serov.1353 1954 resümierte Grabar: Es war nicht zu verhindern, dass die allgemeine Begeisterung für Zorn bis auf einem gewissen Grad auf Serov wirkte, aber sein ausgeglichenes Temperament, sein künstlerisches Taktgefühl und weises Gespür für Mäßigung haben ihm die richtigen Grenzen aufgezeigt. [...] Der Vorwurf des ‚Zornismus‘, der von einigen Kritiken geäußert wurde, ist unbegründet.1354 Betrachtet man die schnell und pastos aufgetragenen dunklen Farben des gerade besprochenen Morozov Porträts, so könnte man darin Anklänge an Zorns Malweise sehen wollen. Ein Vergleich zu den Bildnissen von Zorn – sei es Antonin Proust1355 (1888), Max Liebermann1356 (1891), Edward E. Bacon (1897) oder Savva Mamontov (1897, Abb. 68) – lässt durchaus Ähnlichkeiten in der Palette und der Pinselführung erkennen. Zudem gibt es darüber, dass Serov mit Zorns Werken zu dem Zeitpunkt vertraut war, keinen Zweifel, denn sie waren sowohl 1889 und 1900 in Paris als auch 1896 in der Münchner Secession zu sehen. Mehr noch: Er lernte den Schweden sogar persönlich kennen, als dieser im Herbst 1897 anlässlich Diaghilevs Ausstellung skandinavischer Künstler auf Einladung von Mamontov nach Russland kam. Wie viele junge russische Maler, war Serov von dessen Arbeitsweise und selbstbewusstem Auftreten beeindruckt: Einer Anekdote zufolge soll Zorn Savvas Frage, warum er auf seinem Jackett keine Knöpfe gemalt habe, mit den Worten „Ich bin ein Maler und kein Schneider“ pariert haben.1357 Ob Serov deswegen in seinem Morozov-Bildnis maltechnisch mit Blick auf Zorn arbeitete, ist allerdings fraglich. Denn im Gegensatz zu Zorn führte er den Pinsel weicher, gestaltete die Formenumrisse insgesamt geschlossener und ließ die Knöpfe ebenfalls erhalten. In seinem minuziösen Komponieren der Farbtöne steht Serov Whistler wesentlich näher als Zorn. Zudem brauchte er keine drei Tage, sondern drei Monate, um sein Bild-

Ghe, Glavnyie techeniia russkoi zhivopisi v XIX veke v snimkakh s kartin, Moskau: T-vo „Br. A. i I. Granar i Ko“, 1904, S. 59. 1352 „На мой взгляд, – это больше чем несправедливо, так как Серов – художник более нервный и с несравненно более тонким чувством красок, нежели Цорн.“ S. Yaremich, Russkoie iskusstvo v Parizhe, in: Pereval, 1906, Nr. 2, S. 53, zit. nach: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 705, Anm. 4. 1353 Radlov 1914, S. 25f. 1354 „Всеобщее увлечение Цорном не могло до известной степени не отразиться и на Серове, но уравновешенный темперамент, художественный такт и мудрое чувство меры удержали его в должных пределах. [...] обвинение в „цорнизме“, возводимое на него некоторыми критиками, не имеет под собой почвы.“ Grabar 1954, S. 144. 1355 Antonin Proust, 1888, Öl auf Leinwand, 106 × 138 cm, Privatbesitz. 1356 Max Liebermann, 1891, Öl auf Leinwand, auf Pappe gezogen, 72,7 × 59,9 cm, Zornmuseet, Mora, Inv. ZO145. 1357 Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 474, Anm. 55.

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nis fertigzustellen.1358 Schließlich ging es ihm nicht nur um die malerische Bravur, sondern um das Gesamtkunstwerk aus malerischen, kompositionellen und individuellen Komponenten. Nikolai Rimski-Korsakov (1898) Ähnlich wie das Bildnis von Mikhail Morozov demonstrieren viele andere breit gemalte Werke des Künstlers, dass Serov sich nur bedingt für den ‚Zornismus‘ begeistern ließ und stets nach mannigfachen Ausdruckmöglichkeiten seiner Intentionen suchte. Dazu zählt auch das dem gleichen Vorwurf ausgesetzte Porträt von Nikolai Rimski-Korsakov (1898, Abb. 57). Die Bekanntschaft zwischen Serov und Rimski-Korsakov war auf Mamontovs Privatoper zurückzuführen, in der seine musikalischen Stücke wiederholt zum Repertoire gehörten. Seine Snegurochka (1881) wurde 1885 sowie 1896 ins Programm genommen und von Korovin, Levitan und Viktor Vasnetsov mit Kostümen und Bühnenbildern ausgestattet.1359 Bei Sadko (1897), dessen Premiere am 26. Dezember 1897 unter der Leitung des italienischen Dirigenten Eugenio Esposito (1863–1935) stattfand, wirkte Serov als Kostüm- und Maskenbildner mit.1360 Zuletzt wurde am 6. November 1898 Rimksi-Korsakovs Mozart und Salieri (1872) mit Chaliapin in der Rolle von Salieri uraufgeführt. Serovs erstes Bildnis des Komponisten entstand zwischen den beiden letztgenannten Opern. Nach den Tagebuchaufzeichnungen von Vasily Yastrebtsev1361 (1866–1934), einem Bekannten Rimski-Korsakovs, machte der Künstler am 6. März 1898 seine erste Studie und beendete seine Arbeit zwei Monate später, am 5. Mai.1362 Noch im gleichen Jahr wurde das Porträt von Pavel Tretyakov erworben und zwischen 1899 und 1900 in der XXVII. Ausstellung der Genossenschaft der Wanderausstellungen in Moskau und in St. Petersburg gezeigt. Serov stellte Rimski-Korsakov beim Komponieren in seinem Arbeitszimmer dar. Der bärtige Mann sitzt an seinem mit Aufzeichnungen und Büchern bedeckten Tisch und ist mit erhobenem Stift über das aufgeschlagene Notenalbum gebeugt. Seine angespannte Haltung und sein nach innen gerichteter Blick verraten, dass sich hinter der äußeren Ruhe ein agiler Geist verbirgt. Diese Dynamik wird im Durcheinander der verstreuten Papiere, im Zickzack heller und dunkler Partien und in breiter, schwungvoller Pinselführung aufgegriffen. Die gesamte Malfaktur des Bildes wird damit von einem den Meereswellen oder den Windströmen gleichen Rhythmus beherrscht, als würde Rimski-Korsakovs stürmische Kreativität wie eine Naturgewalt die Welt um ihn herum in Bewegung setzen.

1358 Grabar 1954, S. 148. 1359 Paston 2003, S. 116. 1360 Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 283, Anm. 2. 1361 Vasily Vasilyevich Yastrebtsev (1866–1934), ein Bankangestellter, der sich für Musik interessierte; nach der Oktoberrevolution leitete er die Museen von Glinka und Rubinstein im Petrograder Konservatorium, unterrichtete danach in einer Musikschule auf der Vasilyevsky Insel. 1362 Vasily V. Yastrebtsev, Dnevnikovyie zapisi (1898–1908 gg.), zit. nach: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 397– 401, hier S. 398.

6.2 Valentin Serov und Anders Zorn

Für eine solch freie Malweise erntete Serov 1914 von Grabar harsche Kritik. Dieser bemängelte die vermeintlich schwach gemalten Hand- und Kopfpartien und unterstellte dem Künstler, zu stark unter dem Einfluss von Zorn gestanden zu haben.1363 Auch Ternovets sah in diesem Werk stilistische Parallelen zum Schweden.1364 Bakushinsky unterstrich indes mit Nachdruck, dass sich gerade in diesem Bildnis Serovs Eigenständigkeit zeige.1365 Danach wurde der Vergleich zu Zorn in der Forschung nicht mehr forciert. War der Vorwurf des ‚Zornismus‘ an dieser Stelle vielleicht berechtigt? In Zorns Œuvre lässt sich in der Tat ein stilistisch und kompositionell vergleichbares Porträt finden, nämlich das Bildnis von Antonin Proust (1888), in dem der Dargestellte als Halbfigur an einem breiten, mit aufgeschlagenen Büchern bedeckten Tisch gezeigt wurde. Interessanterweise weist auch Vrubels zwischen 1896 und 1897 entstandenes Porträt von Konstantin Artsybushev1366 einen ähnlichen Bildaufbau auf. Dass Zorns oder Vrubels Bildnisse für Serov als Anregung fungierten, ist dennoch nicht zwingend. Schließlich wurde eine solche Ikonografie des Gelehrten in einem schöpferischen Augenblick bereits in der Renaissance angewandt und war um 1900 ausgesprochen beliebt. Als eines der prominentesten Renaissance-Beispiele kann das Bildnis des Erasmus von Rotterdam1367 (1523) von Hans Holbein dem Jüngeren genannt werden. Im 19. Jahrhundert gehörten dazu unter anderem Manets Émile Zola1368 (1868), Caillebottes Henri Cordier1369 (1883), Slevogts Karl Voll1370 (vor/in 1898) und Ghes Lev Tolstoy1371 (1884). Dem gleichen Typus folgte später Corinth im Porträt von Gerhard Hauptmann1372 (1900). In Russland könnten in der Nachfolge von Serov und Vrubel Kustodievs Porträt von Vasily Maté1373 (1902) sowie Nesterovs Bildnisse des Chirurgen Sergei Yudin1374 (1935) und des Geophysikers Otto Schmidt1375 (1937) angeführt werden. Es kann vorausgesetzt werden, dass Serov von den aufgezählten Werken sicherlich das Holbein-Gemälde aus der Louvre-Sammlung kannte. Das Gleiche gilt für Vrubel sowie für Slevogt, dessen Bild 1898 in der Münchner Secession gezeigt und im Ausstellungskatalog

1363 Grabar 1914, S. 136. 1364 Ternovets 1925, S. 60. 1365 Bakushinsky 1935, S. 106. 1366 Константин Дмитриевич Арцыбушев, 1896–97, Öl auf Leinwand, 101,5 × 136,7 cm, STG, Moskau, Inv. 9121. 1367 Erasme, 1523, Öl auf Lindenholz, 42 × 32 cm, Musée du Louvre, Paris, Inv. 1345. 1368 Émile Zola, 1868, Öl auf Leinwand, 146 × 114 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 2205. 1369 Henri Gordier, 1883, Öl auf Leinwand, 65 × 81,5 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 2729, LUX 1448. 1370 Dr. Karl Voll, vor/in 1898, Öl auf Leinwand, Größe und Verbleib unbekannt, abb. in: Internationale Kunst-Ausstellung des Vereins bildender Künstler München (A. V.) „Secession“...1898, S. 25, Kat. 140, Abb. o. S. 1371 Лев Николаевич Толстой, 1884, Öl auf Leinwand, 95 × 71,2 cm, STG, Moskau, Inv. 2637. 1372 Cornelius Hauptmann, 1900, Öl auf Leinwand, 87 × 106 cm, Kunsthalle Mannheim, Inv. M462. 1373 Василий Васильевич Матэ, 1902, Öl auf Leinwand, 125 × 151 cm, SRM, St. Petersburg, Ж-4360. 1374 Сергей Сергеевич Юдин, 1935, Öl auf Leinwand, 81 × 97 cm, STG, Moskau, Inv. 15720. 1375 Отто Юльевич Шмидт, 1937, Öl auf Leinwand, 83 × 121 cm, STG, Moskau, Inv. 22500.

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abgebildet wurde.1376 Nicht ausgeschlossen ist seine Vertrautheit mit Manets Zola: Zum einen war der Schriftsteller in Russland sehr bekannt, zum anderen gehörte sein Bildnis im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zu den am häufigsten exponierten Arbeiten von Manet.1377 Daraus folgt, dass sich Serov beim Rimski-Korsakov-Porträt weniger auf ein konkretes Werk von Zorn fokussierte, als vielmehr mit Blick auf die traditionelle und in seiner Zeit populäre Ikonografie arbeitete. Zwar könnte er von Zorns großzügiger Malmanier inspiriert gewesen sein, doch selbst in dieser Hinsicht entwickelte er seine eigene Pinselsprache: Er trug die Farbe nicht etwa in den für Zorn typischen kräftigen Schlägen auf, sondern malte im geschwungenen wellenförmigen Duktus, womit er scheinbar colore und disegno in Einklang zu bringen suchte. Viel wahrscheinlicher sah er sich in Wettbewerb mit Vrubel, wie die Ähnlichkeit im Aufbau der Komposition und im Gesamtausdruck zeigen. Serovs Bildnis von Rimski-Korsakov wurde zu Lebzeiten des Künstlers nie im Ausland ausgestellt, war aber über die Grenzen des Landes bekannt.1378 Der Komponist äußerte sich jedoch eher kritisch darüber. Gegenüber Yastrebtsev soll er 1902 gestanden haben: „Gäste kommen von weit her und loben [es]. Mir persönlich gefällt [...] diese Art von Malerei eigentlich nicht (Watte auf dem Tisch und Watte auf dem Bart).“1379 Dennoch ließ sich Rimski-Korsakov auf Diaghilevs Anfrage von Serov 1908 erneut porträtieren (Abb. 59). Diesmal hielt der Künstler innerhalb von zwei Sitzungen nur sein Gesicht in einer strengen Frontalansicht in einer Kohlezeichnung fest. Dafür, dass er dem Komponisten wegen früherer Kritik nicht nachtragend war, spricht seine Antwort auf die Bemerkung, sein neues Porträt ähnele einer Ikone: „So muss es auch sein, sollen die Franzosen ihn doch anbeten.“1380 Nikolai II. (1900), Großherzog Mikhail Nikolaievich (1900), Pavel Kharitonenko (1901), Alexei Goriainov (1901), Ilya Ostroukhov (1902) und Evdokia Loseva (1903) Als unter dem Eindruck von Zorn entstandene Malexperimente konnten ferner die Darstellungen von Nikolai II. (1900, Abb. 38), dem Großherzog Mikhail Nikolaievich (1900), dem Zuckergroßproduzenten Pavel Kharitonenko1381 (1901), dem Ingenieur Alexei G ­ oriainov

1376 Internationale Kunst-Ausstellung des Vereins bildender Künstler München (A. V.) „Secession“ ... 1898, S. 25, Kat. 180 mit Abb. 1377 Pariser Salon (1868), Portraits du siècle (1783–1883) (1883), Exposition des oeuvre de Edouard Manet (1884), Exposition des portraits des écrivains et journalistes du siècle: 1783–1893 (1893). 1378 „V. A. Syeróv (1865–1911), Portrait of the composer N. A. Rimski-Kórsakov (1898)“, Karl Baedeker, Russia with Teheran, Port Arthur, and Perking. Handbook for Travellers, Leipzig: K. Baedeker, 1914, S. 316–319, hier S. 318. 1379 „Вот издалека гости наезжают, равно бы и хвалят. А мне лично [...] такая живопись (c ватою на столе и ватою на бороде), в сущности, не нравится“, Rimski-Korsakov gegenüber Yastrebtsev am 20.1.1902, zit. in: Vasily V. Yastrebstsev, Dnevnikovyie zapisi (1898–1908 gg.), zit. nach: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 397–401, hier S. 399. 1380 „Так и надо, пускай французы на него молятся“ Serov, zit. nach: Nikolai A. Rimski-Korsakov, Letopis moiei muzykalnoi zhizni, Moskau: Muzgiz, 1955, S. 316. 1381 Павел Иванович Харитоненко, 1901, Öl auf Leinwand, 57 × 55 cm, STG, Moskau, Inv. 15696.

6.2 Valentin Serov und Anders Zorn

(1901) sowie von dem Maler Ilya Ostroukhov1382 (1902) und Serovs Schülerin Evdokia Loseva1383 (1903) interpretiert werden, denn der Künstler malte sie abermals mit schnellen, breiten Pinselstrichen. Doch wie im Fall von Rimski-Korsakov (1898) folgte Serov in der Komposition der vier Herrenbildnisse erneut einer klassischen Formel, auf die sowohl er selbst als auch Zorn mehrfach zurückgriffen: Er malte sie als sitzende Figur in frontaler Haltung bzw. leichter Dreivierteldrehung nach links, mit einem zwischen Brust- und Kniestück variierenden Körperausschnitt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich beispielsweise Zorns Max Liebermann (1891) und Serovs Ilya Ostroukhov (1902) kompositionell wie stilistisch zum Vergleich eignen, ohne dass notwendigerweise eine direkte Verbindung zwischen den beiden Bildern bestand. Das Kharitonenko-Porträt verdeutlicht zudem besonders stark, dass Serov klassische Farbformeln zum Vorbild nahm, ohne auf die moderne freie Malmanier zu verzichten: Die überwiegend in Schwarz- und Brauntönen gehaltenen Palette, der dramatische Hell-Dunkel-Kontrast zum hellen Gesicht sowie das einer Draperie ähnelnde, aufflammende Rot im Hintergrund rufen hier Assoziationen zu barocken Bildnissen hervor. Die fünf Bilder veranschaulichen, dass zwischen Zorn und Serov grundsätzliche Unterschiede im Umgang mit Farbe und Farbigkeit bestehen. Während Zorn fast durchgehend mit Dunkelbraun, Schwarz und Ocker arbeitete, tendierte Serov zu einer insgesamt differenzierteren Palette und griff gerne auf Graublau- und Grünblautöne sowie auf starke gelbe, grüne und rote Akzente zurück. Immer wieder erweiterte er sein Hell-Dunkel-Spektrum, indem er semitransparente hellere Farben auf eine dunkle Untermalung legte, wie es bei Ilya Ostroukhov (1902) klar zum Vorschein kommt. Sogar im dunklen Loseva-Porträt (1903), in dem er das Sofa, das Kleid und die Haare des Modells als bewegliche pastose Farbmasse in breiten, weich ineinander schlingenden Linien gestaltete, schimmern durch das Schwarz und Braun Blau, Lila und Grau hindurch. Des Weiteren wirkt Serovs Farbauftrag lebendiger, da dessen fließende Qualität teils an das Aquarellieren grenzt. Falten und Schatten erfasste er mit einer geschwungenen Konturlinie, die stellenweise reißt und in ihrer Stärke und Farbintensität stets variiert. Die oben zitierte Bemerkung von Stepan Yaremich, Serov sei im Vergleich zu Zorn „nervöser“ und stärker in seinem Farbgefühl, ist daher mehr als berechtigt.1384

1382 Илья Семенович Остроухов, 1902, Öl auf Leinwand, 86 × 76 cm, sign. und dat. links oben, STG, Moskau, Inv. 11185. 1383 Евдокия Ивановна Лосева, 1903, Öl auf Leinwand, 97 × 112, sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 27314. Evdokia Ivanovna Loseva (geb. Chizhova, 1881–1936) unterhielt in Moskau einen Salon, den zunächst Maler – darunter Serovs Schüler Nikolai Ulyanov und Pavel Kuznetsov –, danach auch Kritiker, Philosophen und Dichter frequentierten. Zu ihren ausländischen Gästen zählten Emile Verhaern, Filippo Tommaso Marinetti und Paul Fort. Siehe: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 442f. 1384 „Серов – художник более нервный и с несравненно более тонким чувством красок, нежели Цорн.“ S. Yaremich, Russkoie iskusstvo v Parizhe, in: Pereval, 1906, Nr. 2, S. 53, zit. nach: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 705, Anm. 4

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6.3 Die Frage des non-finito in Serovs Œuvre: Der Fall Konstantin Korovin (1891) Bereits in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre experimentierte Serov mit non-finito1385 als einem eigenständigen Kunstmittel und ging dabei in seiner Intention über die rein ästhetische Wirkung hinaus. Olga Trubnikovas Porträt von 1886 (Taf. I) – ein Gemälde, das im Besitz des Künstlers blieb und jederzeit hätte nachgearbeitet werden können – demonstrierte, dass er schon früh vermied, naturalistische Perfektion anzustreben, wenn das Werk in seiner skizzenhaften Form ein in sich geschlossenes Konzept aufwies: Trubnikovas Bildnis ist unvollendbar, da es sich – wie das Licht, das ihre Gestalt erfasst – in einem transitorischen Zustand befindet. Bei altmeisterlich dunklem, stürmisch gemaltem Opernsänger Francesco Tamagno (1891, Abb. 52) setzte Serov non-finito kalkuliert als ein wirkungsvolles Gestaltungsprinzip ein, obgleich ihm bewusst war, dass die meisten seiner Zeitgenossen diese Art von Malerei als vermeintlich unabgeschlossene Konzeption bzw. Repräsentation wahrnehmen würden. Der Einblick in die Rezeption des Tamagno-Bildnisses machte deutlich, wie unsensibel seine Kritiker gegenüber den optischen Raffinessen einer skizzenhaften Formauffassung waren. Selbst die wohlgesonnenen unter ihnen betrachteten das Porträt des Sängers bestenfalls als eine geniale Studie. Als ein ästhetisches Konzept blieb non-finito ihnen grundsätzlich fremd. Dass Serov indes solche ‚Studien‘ als autonome Kunstwerke ansah, demonstriert der erste große Streit zwischen ihm und Repin, der sich ereignete, nachdem die beiden Künstler im Jahr 1889 in Repins Atelier Sophia Dragomirova porträtiert hatten und Repin danach in Serovs Abwesenheit es gewagt hatte, dessen skizzenhaftes Bild zu ‚verbessern‘.1386 Für Serov, der als eine Grenzfigur zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert zu sehen ist, wurde non-finito zu einem prinzipiellen Bestandteil seiner künstlerischen Formauffassung, sei es in den Auftragsarbeiten oder in den ohne einen Auftrag entwickelten Werken. Jedes der zuvor besprochenen abgeschlossenen Bilder – selbst das Levitan-Porträt von 1893 1385 Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung des Terminus non-finito, wird an dieser Stelle notwendigerweise ausgelassen, da sie zum einen den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, und zum anderen bereits von Christiane Wohlrab in ganzer Ausführlichkeit durchgeführt wurde. In der hier vorliegenden Werkdiskussion wird der Begriff in seiner heute gültigen Bedeutung als stilistische Bezeichnung verwendet und ist von dem Begriff der Unvollendung abzugrenzen, die technisch, zeitlich oder durch die Unklarheit des Entwurfs bedingt werden kann. Ausführlich zum Terminus non-finito am Vergleich zwischen Michelangelo und Rodin sowie zur Aufwertung des Unvollendeten durch die Kunsttheorie der Romantik siehe: Christiane Wohlrab, Non-finito als Topos der Moderne. Die Marmorskulpturen von August Rodin, Paderborn: Wilhelm Fink, 2016, S. 20–47. Zum Fragment in der Kunst und Kunsttheorie siehe: Das Fragment. Der Körper in Stücken, AK Paris, Musée d’Orsay 5.2.–3.6.1990 und Frankfurt am Main, Schirn Kunsthalle 24.6.–26.8.1990, Bern: Benteli AG, 1990; Eberhardt Ostermann, Das Fragment. Geschichte einer ästhetischen Idee, München: Wilhelm Fink Verlag, 1991; Fetscher 2010 (2001), S. 551–587. Siehe ferner: Hans Belting, Die Hölle der Vollendung, in: ders., 1998, S. 233–242. 1386 София Михайловна Драгомирова, 1889, Öl auf Leinwand, 71 × 57 cm, unsign. und undat., Museum der bildenden Künste der Republik Tatarstan, Kazan, Inv. Ж-101; Ilya Repin, София Михайловна Драгомирова, 1889, Öl auf Leinwand, 98,5 × 78,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4070. Siehe Repins Briefe an Serov vom 16.1 und 29.1.1890 aus St. Petersburg, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 104 und 105, S. 170–172.

6.3 Die Frage des non-finito in Serovs Œuvre: Der Fall Konstantin Korovin (1891)

(Abb. 70) oder das Familienbildnis des Zaren Alexander III. (1892–95, Abb. 33) – enthält große skizzenhaft bearbeitete Partien. Serovs Gestalten leben von der Ambivalenz zwischen Auflösung in der Farbe bzw. in der planen Fläche des Bildträgers und ihrer gleichzeitigen Entstehung aus diesen Elementen. Allen voran in Serovs zahlreichen Porträt-Zeichnungen, deren Expressivität aus dem Kontrast zwischen dem Vollendeten und dem Unvollendeten hervorgeht, wurde non-finito zu seiner Signatur. In seiner Illustrationsserie zu den Krylovs Fabeln wurde der Werkprozess selbst unendlich: In der Suche nach den absoluten Bildformeln, erschuf der Künstler immer neue Varianten des gleichen Motivs, mit denen er dem Ideal seiner Werkidee näher zu kommen glaubte. Die organisch ins Nichts gleitende Striche, aus denen sich Serovs Gestalten entfalten, regen den Betrachter dazu an, seine teils noch mit der planen Untergrundmaterie verschmolzenen Formen in immer neuen Variationen imaginativ zu vollenden. Die Unmittelbarkeit des Ausdrucks, die aus gewollten Unbestimmtheit der Form und der Leichtigkeit der technischen Ausführung hervorgeht, verbirgt, dass der Künstler im Vorfeld oft mehrere Tage oder gar Monate mit seinen Modellen verbrachte, ihr Wesen studierte, sie sich frei bewegen ließ, um hinter der Pose, in der er sie schließlich fixierte, die Natur zu finden. Die charakteristischen und scheinbar spontanen Haltungen und Gesten unterwarf er dabei stets einem durchgängigen abstrakten Bildrhythmus, anstatt sie ungefiltert auf den Bildträger zu übertragen, sodass jede Komposition zu einer Synthese aus Natur und Kunst wurde. In dieser ästhetisch-konzeptuellen Herangehensweise unterschied sich Serov wesentlich von seinem Künstlerfreund Konstantin Korovin, der spontan und schnell nach der Natur arbeitete und in erster Linie auf die ästhetische Wirkung eines Werks bedacht war. In seinem Bildnis von Korovin (1891, Taf. XI), der in der Zeit mit seinem impressionistischen Malstil aus allen Lagern Kritik auf sich zog und kaum Anerkennung fand, mache Serov non-finito zum Motiv und spitzte damit die inhaltliche Aussage zu. Er stellte Korovin in einer ungezwungenen, fast faulen Pose dar: Mit angezogenen Beinen auf dem Diwan halb liegend, halb sitzend, stützt er sich mit seinem rechten Ellenbogen auf der gestreiften Sofarolle ab und richtet seinen forschenden Blick auf den Betrachter. Er trägt ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Weste, was seine Nachlässigkeit in Bezug auf Kleidung anspricht und den informellen Charakter des Bildnisses betont. Indem Serov das Interieur nur fragmentarisch zeigte, die kleinen Naturstudien an der Wand unregelmäßig verteilte und die Figur über den Knien anschnitt, suggerierte er den Eindruck einer zufälligen Momentaufnahme, die dem Schnappschuss einer Fotokamera gleicht. In Wirklichkeit wird Korovins Haltung im Bildraum geschickt fixiert: Der S-förmige Aufbau der Figur – entlang der Diagonale von links oben nach rechts unten – wird links unten mit dem gegenläufig gestellten Klavier und rechts oben mit einer längsrechteckigen Landschaft dezent ausgeglichen. Die helle Wand hinter dem Diwan verhindert die Bildung eines tiefen Raumes, ohne dass die Figur eingeengt wird. Die scheinbar unordentlich gehängten Bilder lockern den Hintergrund auf und schwächen die farbige Dominanz des Vordergrundes etwas ab.

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Der Eindruck einer unmittelbar erfassten Situation wird durch die breite, schnelle Malweise aufrechterhalten. Die Formen wurden vor allem durch Farbflächen und Farbschichtstärke definiert: Zum Beispiel bilden die dunkelblauen Weste und Hose scheinbar eine Einheit, obgleich sie zwei separate Kleidungsstücke sind, der virtuos gemalte linke Ärmel – dessen Farbe sich kaum von dem Weiß der Wand unterscheidet – hebt sich durch seine Pastosität von dieser ab. Nur die Kopfpartie kontrastiert, wie so oft in Serovs Porträts, zu der restlichen Maloberfläche. In kurzen, breiten Tupfen mosaikartig ausgearbeitet, korrespondiert das Gesicht zwar tonal mit dem Ocker, das im Klavier, im Diwan und in den Studien auftaucht, hebt sich aber von der durch Rot, Weiß, Blau und Schwarz bestimmten Palette klar hervor. Korovins zerzaustes Haar und sein gepflegter Bart tragen zu dem Effekt einer bohemistischen Lässigkeit bei und lassen zugleich sein Antlitz so dominierend erscheinen, dass die intensiven Kontraste der Kleidung und des Interieurs diese Wirkung nicht schmälern. Serov füllte die Leinwand mit dezenten Hinweisen auf Korovins Leben und Werk. So ist die gewählte Palette eher für Korovin als für ihn selbst bezeichnend.1387 Die linke Hand des Dargestellten wurde vermutlich nicht zufällig stärker herausgearbeitet, denn Korovin war Linkshänder.1388 Die Studien an der Wand liefern möglicherweise einen Hinweis auf die gemeinsame Reise ins Vladimirskaia Gouvernement im Frühling des Jahres, wo die beiden Künstler Landschaften malten.1389 Das Klavier könnte eine Anspielung darauf sein, dass Korovin, der eine Baritonstimme besaß, gerne zur musikalischen Begleitung sang.1390 Als Anregung für dieses Porträt diente wahrscheinlich Repins Bildnis von Pavel Chistiakov1391 (1878, Abb. 72), welches sich bis zu seiner Einzelausstellung im Jahr 1891 in Repins Besitz befand. Spiegelverkehrt gesehen sind Chistiakovs und Korovins Posen sehr ähnlich. Auch in den Details – wie ein stark gemustertes Kissen unter dem Arm – sind Parallelen zu Repins Darstellung unverkennbar. Allerdings weicht Serov mit seiner hellen kontrastreichen Palette, dem raschen Duktus und dem Ungezwungenheitsgrad deutlich von Repin ab. Repins Chistiakov erscheint trotz der lockeren Pose elegant und selbstsicher: Verglichen mit Korovin sitzt er aufrechter, sein dunkles Sakko, wenngleich aufgeknöpft, wird anbehalten, die Haare sind ordentlich zurückgekämmt. Korovin, der den Betrachter mit einem ernsten, leicht ironischen und fast traurigen Blick fixiert, wirkt indes zu müde, um mitten in der kreativen Unordnung seines Ateliers auf die Etikette zu achten. Dieser Vergleich wirft die Frage auf, ob Serov an dieser Stelle nicht bewusst den Künstlerstreit mit Repin fortsetzte, den er um sein Dragomirova-Porträt geführt hatte. Stilistisch 1387 An dieser Stelle können u. a. Korovins Unbekannte in Rot (1885, Öl auf Leinwand auf Karton, 42,1 × 33,7 cm, STG, Moskau, Inv. 5300) und Unbekannte mit Fächer (1889, Öl auf Leinwand, 106 × 87,3 cm, STG, Moskau, Inv. Ж-841) genannt werden. 1388 Rosenwasser 1990, S. 17. 1389 Zhuravliova, in: Mashkovtsev/Sokolova 1964, S. 29. 1390 Raisa I. Vlasova, Konstantin Korovin. Tvorchestvo, Leningrad: Khudozhnik RSFSR, 1969, S. 80. 1391 Павел Петрович Чистяков, 1878, Öl auf Leinwand, 87 × 67, STG, Moskau, Inv. 719.

6.3 Die Frage des non-finito in Serovs Œuvre: Der Fall Konstantin Korovin (1891)

72 Ilya Repin, Pavel Chistiakov / Павел Петрович Чистяков, 1878, Öl auf Leinwand, 87 × 67, STG, Moskau, Inv. 719

gesehen steht sein Bildnis nämlich den Werken französischer Modernisten, wie Manets Bildnis des Literaten Stéphane Mallarmé1392 (1876, Abb. 73) viel näher. In den Pariser Kreisen muss Manets Mallarmé-Porträt bekannt gewesen sein, denn es wird von Paul Verlaine in der Erstausgabe seiner Serie literarischer Dichterporträts Les Poètes maudit (Die verfemten Dichter, 1884) in Form einer Radierung reproduziert und im Vorwort euphorisch beschrieben.1393. Unklar ist, ob Serov dieses Werk, das sich bis 1928 im Besitz der Familie des Dargestellten befand und 1884 bei der postumen Ausstellung des Künstlers gezeigt wurde, jemals begegnete, sei es nur in Form einer Reproduktion.1394 Die Gemeinsamkeiten zwischen

1392 Stéphane Mallarmé, 1876, Öl auf Leinwand, 27,5 × 36 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 2661. 1393 „Manet a peint Mallarmé dans une attitude et à un âge immémoriaux en dépit des cigare et veston qu’affectionnait pour ses portrait d’homme le grand artiste moderniste, si intuitif et si fin sous le dandysme de sa bonhomie. Ici le poète est en quelque sorte apothéosé, immortalisé […]“, in: Paul Verlain, Les Poètes maudit, Paris: Léon Vanier, Libraire-Éditeur, 1884, S. IIf., Abb. S. 42f. 1394 Ob Repin das Original oder eine Abbildung des Mallarmé-Porträts gesehen hat, ist ebenfalls unbekannt. Repin schätzte Manet und besuchte sein Atelier in der Rue de Saint-Pétersbourge, als dieser dort nach der erneuten Ablehnung durch die Salon-Jury vom 15. April bis 1. Mai 1876 eine Ausstellung veranstaltete. Allerdings ist Manets Bildnis erst im September/Oktober 1876 entstanden, als Repin schon nach Russland zurückgekehrt war. Siehe: Repin an Vladimir Stasov am 12.4.1876 aus Paris, zit. in: Brodsky 1969, Bd. 1, S. 177f.; Manuela B. Mena Marqués/Gudrun Mühle-Maurer, in: Manuela B. Mena Marqués (Hg.), Manet del

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73 Édouard Manet, ­Stéphane Mallarmé, 1876, Öl auf Leinwand, 27,5 × 36 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 2661

Korovin und Mallarmé sind offensichtlich: sei es die Komposition und der schnelle Duktus, denen die Momenthaftigkeit innewohnt, oder die private Raumsituation, die von der Vertrautheit zwischen dem Künstler und seinem Gegenüber zeugt.1395 In beiden Bildnissen werden zudem ähnliche Persönlichkeiten dargestellt: Wie der poète maudit Mallarmé, der 1891 in seinem Aufsatz Sur l’Evolution littéraire die Fragmentierung der poetischen Sprache forderte, stellte auch Korovin mit seinem impressionistischen Malstil die Traditionen der vollendeten Werke in Frage.1396 In der zeitgenössischen Porträtmalerei lässt sich eine ganze Reihe von Beispielen für diese Pathosformel finden. Auf eine ähnliche Weise wurde Manet selbst im Jahr 1868 von Edgar Degas porträtiert.1397 Sein rechtes Bein angezogen, seine linke Hand in die Hosentasche gesteckt, liegt Manet auf dem Sofa und blickt melancholisch in die Ferne. Die gleiche Lässigkeit ist auch in Giovanni Boldinis studienhaftem Bildnis von Giovanni Fattori (ca. 1867) zu beobachten.1398 Henri de Toulouse-Lautrec zeigte den Künstler Gustave Lucien Dennery (1883)1399 gemütlich zwischen den Kissen auf dem bunt drapierten Bett sitzend.

Prado, AK Madrid, Museo Nacional del Prado, 13.10.2003–11.1.2004, Madrid: Museo Nacional del Prado, 2003, S. 479, Kat. 95. 1395 Vgl. Guerman 1998, S. 131f. 1396 Jules Huret (Stephane Mallarmé), Sur l’Evolution littéraire, in: L’Echo de Paris. Journal littéraire et politique du matin, 14.3.1891, S. 2 und 19.3.1891, S. 2, siehe dazu: Fetscher 2010 (2001), S. 574–577, hier. S. 574. 1397 マネとマネ夫人像, 1868, Öl auf Leinwand, 65 × 71 cm, Kitakyushu Municipal Museum of Art. 1398 Giovanni Fattori nel suo Studio, 1867, Öl auf Holz, 13 × 24 cm, Banca Commerciale Italiana, Mailand. 1399 Gustave Lucien Dennery, 1883, Öl auf Leinwand, 55 × 46 cm, Musée du Louvre, Paris, Inv. RF-1961-82.

6.3 Die Frage des non-finito in Serovs Œuvre: Der Fall Konstantin Korovin (1891)

Das von Beckwith gemalte Hüftbild William Waltons (1886), das 1889 in Paris für Aufmerksamkeit sorgte, zeichnet sich zwar durch eine streng frontale Haltung des Modells aus, aber die scheinbar zufällige Anordnung kleiner impressionistischer Ölskizzen auf der Wand im Hintergrund bringt die Komposition – ähnlich wie bei Serov – in ein dynamisches Gleichgewicht, während die lässig gehaltene Zigarette in der Linken die Symmetrie der Figur auflockert. Das Porträt von Korovin entspricht somit der modernen Ikonografie eines Künstlers der Boheme. Serov muss es zu seinen gelungensten Werken gezählt haben, denn er stellte es mehrfach aus: 1902 in der Mir iskusstva Ausstellung in Moskau und St. Petersburg, 1906 im Salon d’Automne in Paris, 1906–07 im Salon Schulte in Berlin und 1907 auf der Biennale in Venedig.1400 Überraschenderweise soll der Dargestellte zurückhaltend auf das Bildnis reagiert haben, da ausgerechnet er es für unvollendet hielt.1401 Er lehnte es, so Ternovets, sogar ab, das Porträt 1895 in der XXIII. Ausstellung der Genossenschaft der Wanderausstellungen zeigen zu lassen.1402 Vielleicht lag dies daran, dass Korovin wiederholt mit dem Vorwurf konfrontiert war, unvollendete – und damit als minderwertig diffamierte – Werke zu schaffen.1403 Schon in den frühen 1890ern war er im Mamontovs Abramtsevo aufs herzlichste willkommen, wurde aber noch Jahre später von den Peredvizhniki, den Kritikern – und sogar von jungen Malern wie Ostroukhov – für seinen skizzenhaften Malstil verspottet und als „Dekorateur“ abgestempelt. Die 1902 veröffentlichte Karikatur von Borovkov, die Korovin vor der Staffelei mit einem Stiefel und nicht mit dem Pinsel zeigt, erinnert an die gegen die französischen Impressionisten gerichteten Bildkommentare.1404 Dass Serov das Porträt bereits 1895 ausstellen wollte, ist ein klares Indiz dafür, dass das Vollendungsgrad dieser Arbeit aus seiner Sicht ausreichte, um sie der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. In diesem Werk, das er innerhalb weniger Sitzungen im Herbst 1891 in der gemeinsamen Werkstatt der beiden Freunde in der Dolgorukovskaia ulitsa malte,1405 verzichtete er auf die technische Perfektion und ließ bewusst die Spuren des kreativen malerischen Arbeitsprozesses sichtbar, bei dem pastose Ölfarbe zum Bild wird. Er steigerte den Grad des Studienhaften, da es nun symbolisch für die fortdauernde Metamorphose künstlerischer Schöpfung stand und als eine eigenständige ästhetische Kategorie postuliert wurde. Die Tatsache, dass er diese Leinwand weder signierte noch datierte, kann kaum als Argument für ihre „Unfertigkeit“ herangezogen werden: Schließlich weisen die signierten und datierten Bildnisse vieler seiner Künstlerkollegen – wie die von Ilya Repin1406 (1892

1400 Bruck/Iovleva 2005, S. 331, Kat. 1185. 1401 Kruglov 2000, S. 44. 1402 Ternovets 1925, S. 48. 1403 Grabar 1914, S. 132; ders., 1965, S. 127; Kruglov 2000, S. 44. 1404 Kruglov 2000, S. 44f. 1405 Grabar 1965, S. 127. Es ist das erste und bekannteste von Serovs sechs Korovin-Bildnissen. 1406 Илья Ефимович Репин, 1892, Öl auf Leinwand, 66,4 × 53,3 cm, sign. und dat. links oben, STG, Moskau, Inv. 6264; ders.,1901, Aquarell, Deckweiß auf Papier,34,6 × 35 cm, St. Petersburg, SRM, Inv. P-13443.

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und 1901), Paolo Troubetzkoy (1898) und Anton Chekhov1407 (1902) – eine gleichermaßen freie, skizzenhafte Pinselsprache auf. Während beispielsweise Serovs Bildnis von Sergei Diaghilev (1904, Abb. 58) eindeutig unfertig blieb, ist Korovins Porträt im Hinblick auf die kompositionelle und malerische Ausführung konzeptuell abgeschlossen. Bereits in seinen frühen Werken – sei es in den Porträts von Trubnikova (1886, Taf. I), Mamontova (1887, Taf. V) und Simonovich (1888, Taf. VI) oder in solchen Bildern wie Bauernhof (1886, Abb. 11) und Offenes Fenster. Flieder (1886, Abb. 14) – befreite sich Serov vom Zwang der naturgetreuen Nachahmung. In der Haptik der Bildoberfläche, im Linienrhythmus und in der kompositionellen Farb- und Form-Ordnung erkannte er autonome Quellen sinnlicher Erfahrungen, die die Wirkung einer Darstellung steigern. Es ist geradezu bezeichnend, dass er zum ersten Mal vor einem Kunstwerk weinte, als er 1887 in der Basilika San Lorenzo in Florenz Michelangelos unvollendete Madonna mit Kind (1521–36/37) erblickte.1408 Denn Vollkommenheit und Authentizität einer künstlerischen Schöpfung wurden für ihn und andere Vertreter des aufkommenden Modernismus nicht durch den Grad des Mimetischen definiert.

6.4 Von tonalen Farbsymphonien zu Farbkontrasten und Klarheit der Form Die bisherige Werkdiskussion machte anschaulich, dass Serov die Farb- und Duktuswahl sowie den Grad technischer Vollkommenheit seiner Arbeiten von mehreren Faktoren abhängig machte. In seinem Streben, der inneren Welt seiner Modelle und der erfühlten Stimmung des Augenblicks näher zu kommen, griff er assoziativ-abstrakte bildphilosophische Themen wie Bewegung und Stille, Licht und Dunkelheit, Gegenwärtiges und Vergangenes, Augenblickliches und Immerwährendes auf. Ebenso abstrakt waren der Bildrhythmus und die Komposition, denen er die in der Natur ersehene Haltungen, Gesten und Bewegungen unterwarf. Ausschlaggebend für die endgültige Bildlösung war stets das Gesamtkonzept und nicht bloß die rein ästhetische Entscheidung, impressionistisch helle oder altmeisterlich dunkle Farbigkeit oder finite bzw. non-finite Formen zu verwenden. Um 1900 entwickelte der Künstler in seinen großformatigen Porträts komplexe, polychrome Farbsymphonien, in denen die figurativ-mimetischen Elemente sich teilweise entmaterialisierten. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts experimentierte er dann immer häufiger mit organisch schwingenden Silhouetten und flächenhaften Formen sowie mit starken Hell-Dunkel- und Farb-Kontrasten.

1407 Антон Павлович Чехов, 1902, Aquarell auf Papier, 36,3 × 23,5 cm, sign. und dat. rechts unten, Staatliches Literaturmuseum, Moskau, КП 51808. 1408 Serov an Andrei Mamontov am 11.1.1889 aus St. Petersburg, in: RGALI, 799/1/369, Moskau, zit. in: Samkov/ Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 76, S. 142f., hier S. 142. Als Serov 1904 erneut nach Florenz kam, fertigte er drei Skizzen von dieser Skulpturengruppe an. Siehe: Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 424f.

6.4 Von tonalen Farbsymphonien zu Farbkontrasten und Klarheit der Form

Sophia Botkina (1899) Die Auftragsvergabe für das Bildnis von Sophia Mikhailovna Botkina (1899, Taf. IX) erfolgte durch die Vermittlung von Ostroukhov.1409 Über die Dargestellte ist wenig bekannt, außer dass sie die Gattin des Teehändlers Piotr Botkin (1865–1931) war, des Sohnes des Kunstsammlers Dmitry Botkin. Das Botkina-Porträt ist das Erste von Serovs ganzfigurigen Bildnissen, die er von den Damen der hohen Gesellschaft malte, und es ist eine der wenigen Ganzkörperdarstellungen aus den 1890er Jahren überhaupt: Lediglich sein Familienporträt des Zaren Alexander III. (1892–95, Abb. 33) weist ein größeres Format auf. Die Dargestellte wird deutlich nach rechts von der Mittelachse gerückt und auf das Ende eines großen, schräg gestellten Sofas situiert. Ihr zierlicher Körper ist in einer Dreiviertelansicht zu sehen. Das Gesicht ist fast en face zum Betrachter gedreht, aber ihr transzendenter Blick gleitet scheinbar an ihm vorbei. Botkinas Körperhaltung wirkt unsicher und angespannt: Während der Rücken gerade bleibt, werden die Beine zusammengerückt und die Arme eng am Körper gehalten, die linke Hand – die Finger zu einer Faust zusammengeschlossen – liegt im Schoß, mit der Rechten drückt sie einen winzigen schwarzen Windhund fest an ihre Hüfte. Botkinas Unsicherheit spiegelt sich ferner im Verhältnis zwischen der Figur und dem Hintergrund wider. Der Raum wird durch das Sitzmöbel und die Spiegelung auf dem Boden angedeutet, bleibt aber weitgehend undefiniert. Alle Ebenen verschmelzen miteinander übergangslos und bieten keinen festen Halt. Die zierliche Gestalt wird dadurch in die Tiefe geschoben und erscheint in dieser Leere klein und einsam. Die leichte Draufsicht verstärkt diesen Effekt und macht den Betrachter zum übergeordneten Beobachter, der die Schönheit der jungen Frau ungestört studieren kann: ihre großen dunklen Augen, die geschwungenen schwarzen Augenbrauen, den kleinen wohl geformten Mund, ihre Elfenbeinhaut und das kostbare Designerkleid. Allerdings spielt im Porträt die große, mit Gold verzierte Couch eine scheinbar ebenso wichtige Rolle wie die Dame, die darauf sitzt. Bereits zuvor – bei Maria Simonovich (1888, Abb. 96), Varvara Musina-Pushkina (1895) oder Maria Tenisheva (1898) – verschob Serov seine Modelle aus dem kompositionellen Zentrum, um Spannung zu erzeugen. Doch erst im Botkina-Bildnis machte er die Asymmetrie zum wichtigsten Gestaltungsprinzip und wandte sie in allen Bildelementen konsequent an: in den halbrunden-halbeckigen Umrissen des Sofas, im schrägen Dekolleté, in den schielenden Augen, im Hell-Dunkel des Hintergrundes oder im Größenverhältnis zwischen der Figur und dem Interieur. Er erzeugte mit dieser fehlenden Ausgeglichenheit nicht nur kompositionelle Spannung, sondern trug implizit der Unsicherheit seines Modells Rechnung. Den Eindruck der Spannung verstärkte der Künstler mit dem ungestümen Duktus und den effektvollen Kontrasten zwischen dem tiefen Blau und dem Goldgelb des Sofas einerseits und dem Gelb und dem blassen Rosa des Kleides andererseits. Da der Nachklang dieser Töne sich in der Fußbodenspiegelung sowie im Ockerbraun und blaugrünem Grau des Fonds 1409 Kridl Valkenier 2001, S. 98.

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wiederfindet und die gräulichen Schatten wiederum in das Inkarnat und in das Gelb des Gewandes eindringen, wirken die gewagten Farbkontraste keinesfalls zu hart. Ohnehin gleicht der Hintergrund eher der aufsteigenden Morgenröte auf dem wolkenverhangenen Himmel und erinnert stark an die vor eine Landschaft gemalten englischen Bildnisse der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – wie die von Joshua Reynolds oder Thomas Gainsborough. Eine weitere Reminiszenz, die aufkommt, ist die zur unvollendeten Madame Récamier (1800, Abb. 43) von Jacques-Louis David, welche 1889 in der Pariser Weltausstellung zu sehen war. Wie bei Serov wurde hier eine einsame, traurige Schönheit auf einer langen, etwas schräg stehenden Sitzbank in einem leeren Raum abgebildet. Das helle Kleid der jungen Frau sticht vor dem dunklen, skizzenhaft gemalten Fond deutlich heraus und ihre Armhaltung – ein Arm angewinkelt und der andere an der Hüfte ruhend – ähnelt spiegelbildlich der von Botkina. Angesichts dieser Parallelen und der Tatsache, dass Davids Gemälde durch Abbildungen verbreitet war und von Serov in Paris mit Sicherheit gesehen wurde, wäre es abwegig auszuschließen, dass der Künstler sich davon anregen ließ. Doch wie bereits bei dem Vergleich mit Dewings Lady in Gelb (1888) – die ebenfalls 1889 in Paris ausgestellt war – resümiert wurde, war Botkina das Kondensat eigener Überlegungen und mannigfacher Eindrücke und nicht das Resultat einer bestimmten Begegnung. Gewiss wollte der Künstler sich auch mit den repräsentativen Salonbildnissen messen, wie es die Art seines Auftrages von ihm verlangte, blieb aber der schmeichelnden Art dieser Arbeiten fern. Betrachtet man zum Beispiel Nadezhda Polovtsova1410 (1876) von Carolus-Duran1411 – ein in russischen Künstlerkreisen dieser Zeit bekanntes Damenporträt – so wecken weder die Komposition noch die Haltung oder die Kleidung Zweifel an Polovtsevas Würde und gehobenem Status: Sie sitzt mittig im Bild in einer selbstsicheren Pose, ihre schmalen Hände sind elegant ineinander gelegt, alle Rüschen, die blumigen Muster und reiche Stofffakturen wurden sorgfältig ausgearbeitet. Dieser Grad an Repräsentanz fehlt bei Serov ebenso wie die Detailfreude am Gestalten luxuriöser Textilien und das exzessive Zurschaustellen materieller Besitztümer. Glanz und Oberflächlichkeit der Salonkunst irritierten ihn: „Bei uns ist lediglich Konstantin Makovsky groß, und das überhaupt nur, weil er falsch ist“1412, merkte er einst bissig an und hatte damit Recht: In Makovskys Bildnis von Varvara Morozova1413 (1884), die wie Botkina einer bedeutenden kaufmännischen Familie angehörte, wandert der Blick zwischen himmelblauer Seide, dunkelrotem Pelzüberwurf, Goldstickereien und -schmuck sowie der in vier Reihen

1410 Надежда Михайловна Половцoва, 1876, Öl auf Leinwand, 206 × 124,5 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg, Inv. 5175. Nadezhda Polovtsova (1843–1908), Adoptivtochter des Barons Stieglitz, der 1877 das Zentralinstitut für technisches Zeichnen und 1896 das Stieglitz-Museum in St. Petersburg gründete. Polovtsova übernahm später die Leitung des Instituts. 1411 Vgl. Leniashin 1980, S. 38; ders. 1989, S. 36–38. 1412 „У насъ одинъ Константинъ Маковскiй пышенъ, и то только потому, что фальшивъ,“ Serov, o. J., zit. nach: Grabar 1914, S. 273. 1413 Варвара Алексеевна Морозова, 1884, Öl auf Leinwand, 212 × 137,2 cm, STG, Moskau, Inv. 9129.

6.4 Von tonalen Farbsymphonien zu Farbkontrasten und Klarheit der Form

gelegten Perlenkette. Morozova selbst wird zum Beiwerk des Gemäldes, und ihrer Rolle als gebildete, aktive Wohltäterin – in keiner Weise gerecht. In Bezug auf das Farbverhältnis zwischen der Figur und dem Hintergrund bietet ferner Sargents La Carmencita1414 (1890) einen guten Vergleich an, wenngleich Sargent darin nicht nur ein Porträt erschuf, sondern auch den Auftritt einer spanischen Tänzerin inszenierte: Er setzte auf eine plakativ feste Pose, auf die Idealisierung der Gesichtszüge, die Pracht des reich bestickten gelben Gewandes sowie auf ein starkes Hell-Dunkel, womit er sein Modell wahrlich ins Scheinwerferlicht rückte. Serov befasste sich indes dezidiert mit der gesamten Farbwirkung und ließ die Beschaffenheit aller Materialien hinter einen beweglichen wässrigen Farbauftrag zurücktreten. Botkinas Gewand wurde – ähnlich wie zum Beispiel das Gewand in Renoirs Bildnis von Jeanne Samari (1878) – zum einen Bestandteil des malerischen Ganzen und nicht zu einer einzig wichtigen Komponente. Als würde Serov in diesem Bildnis verkünden wollen: „C’est un tableau, ce n’est pas seulement un portrait.“1415 Serovs Virtuosität im Umgang mit der Malmaterie bekam auf der internationalen Bühne hohen Zuspruch. Als Botkina 1900 in der Pariser Weltausstellung präsentiert wurde, sprach Léonce Bénédite in der Gazette des Beaux-Art von „Geschmeidigkeit“ und einem „Leuchten“ dieses Werks.1416 Auch E. N. Pascent schwärmte davon in Kunst für Alle: Val. Seroff überragt Repin als Bildnismaler an rein malerischem Esprit; sein ‚Großfürst Paul‘ [Abb. 41], das rotbackige kurzhaarige Mädchen [Taf. V], die Dame im schwarzen Paillettenkleid [Taf. X] [...] werden an koloristischem Reiz noch übertroffen durch die Dame im hellen Ballkleid auf dem dunkelblauen, reichgemusterten Sofa: der Farbenaccord dieses [...] Bildes prägte sich dem Gedächtnis so unverwischbar ein, wie die rassenvolle Pikanterie des unregelmässigen, gelblichen Gesichts mit den schwarzen Augen und ­Haaren.1417 Ein Jahr später beschrieb die renommierte Londoner Monatszeitschrift The Studio (1893– 1964) das Porträt als eine der „schönsten, gewagtesten und originellsten“ Arbeiten von Serov und konstatierte, dass man „selten solch frische und meisterhafte Malerei“ sehe.1418 1414 La Carmencita, 1890, Öl auf Leinwand, 229 × 140 cm, Musée d’Orsay, Paris, Inv. RF 746, 1892 für die Sammlung des Musée du Luxembourg erworben. 1415 Das sind die von mir paraphrasierten Worte des Kunsthändlers Firmin Martin „C’est un tableau, ce n’est pas un portrait“ über Claude Monets Bildnis von Camille Monet (1866, Kunsthalle Bremen). In: Dorothee Hansen, Das Porträt als Kunstwerk – Monets Camille und das Ganzfigurenbild in der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts, in: Dorothee Hansen/Wulf Herzogenrath (Hg.), Monet und Camille – Frauenporträts im Impressionismus, AK Kunsthalle Bremen, 15.10.2005–26.2.2006, München: Hirmer, 2005, S. 16–21, hier S. 18. 1416 „beaucoup de souplesse et d’éclat“, Bénédite 1900, S. 496. 1417 Pascent 1901, S. 228, Abb. S. 226. 1418 „Seroff’s portraits invariably have a certain, irresistible charm, and among his most beautiful, boldest and his most original are those of Mme. Botkine and the Emperor Nikolas II. […] Seldom does one see such paintings – so fresh, so masterly – as the water-colour, Le Depart de L’Imperatrice Elisabeth pour la Cliasse, and the little picture, Sur la riviere“, in: Studio-Talk, in: The Studio. Illustrated Magazine of Fine & Applied Art, 5 Henrietta Street, Covent Garden, London WC, 15.7.1901, Bd. 23, Nr. 100, S. 114–144, hier S. 138.

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Die Meinung russischer Kritiker war dagegen erneut gespalten. So bewunderte Benois Serovs „Mutigkeit der malerischen Aufgabe … die beinah an Frechheit“ grenzte.1419 Der Aquarellist Alexandr Rostislavov1420 sprach 1901 von einer „in malerischer Hinsicht mutigen und wunderbaren“ Arbeit, die selbst für Serov außergewöhnlich sei.1421 Der Maler Nikolai Kravchenko1422 bezeichnete es als eine „koloristische Erfindung“ und drückte sein Verständnis dafür aus, dass „inzwischen viele“ die Bildnisse Serovs „sogar“ denen von Repin vorzogen.1423 Vladimir Stasovs Urteil fiel jedoch vernichtend aus: [...] oh mein Gott, was ist das! Besonders das Bildnis einer Dame im gelben Kleid – das sieht doch nach gar nichts aus! Die Hände sind ausgesprochen furchtbar gemalt, die Pose ist dekadent, die Palette ist insgesamt schwarz-gelb und abstoßend. Darf man solche Sachen überhaupt ausstellen?1424 Der Amateurmaler Alexandr Kosorotov1425 ging noch weiter. Er bezeichnete Botkina als „Dame auf einem Sofa in der Wüste“ und den Hund der Dargestellten als „schwarzen Hundebrei“, bemängelte den „schmutzigen“ Hintergrund, den vermeintlich absurden Körperbau und die verzerrte Perspektive, bei der das Sofa auf einem Abhang zu stehen scheine, und folgerte, dass „dieses Bild lediglich eine Art Impressionismus“ sei.1426 1419 „Смелость живописной задачи ... доходит почти до дерзости.“ Alexandre Benois, Pisma so Vsemirnoi vystavki, in: Mir iskusstva, 1900, Nr. 4, S. 156f. 1420 Alexandr Alexandrovich Rostislavov (1860–1920), Kunstkritiker, Aquarellmaler, v. a. für seine Artikel über Nicholas Roerich bekannt. 1421 „Смелость его [Серова] портретов неоспорима, но пожалуй и у него немного таких смелых, дивных в живописном отношении, изящных и оригинальных вещей, как портрет г-жи NN.“ A. A. Rostislavov, Svoboda zhivopisi, in: Teatr i iskusstvo, 8.2.1901, Nr. 8, S. 164, zit. nach: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 288–291, Anm. 30, hier S. 290. 1422 Nikolai Ivanovich Kravchenko (1867–1941), 1888 in die Petersburger Kunstakademie aufgenommen, lebte 1891–93 in Paris, besuchte dort die Académie Julian und die Académie Colarossi; arbeitete später im Auftrag des Zaren als Kriegsmaler in China (1900–01) und Japan (1905). 1423 „Если говорить о том, что у нас принято называть „гвоздями“, то нужно начать с великолепного портрета г-жи NN работы В. А. Серова, так как это самый блестящий портрет на выставке, да [...] и самая колоритная вещь из всего того, что [...] написал этот мастер. [...] Портрет не только красив как портрет, но и как картина, как колоритный замысел художника. [...] многие в настоящее время отдают ему [Серову] предпочтение даже перед И. Е. Репиным [...]“ N. Kravchenko, Vystavka „Mira iskusstva“, in: Rossiia, 12.1.1901, Nr. 616, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 288–291, Anm. 30, hier S. 289–290. 1424 „[...] ах, боже, что это такое! Особливо портрет дамы в желтом платье – вот уже ни на что не похоже! Руки – прегадко нарисованы, поза – декадентская, общий тон – черно-желтый, отталкивающий. Можно ли такие вещи выставлять?“ V. Stasov, Dekadenty v Akademii, in: Novosti i birzhevaia gazeta, 2. Februar 1901, Nr. 33, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 377–378, hier S. 378. 1425 Alexandr Ivanovich Kosorotov (1868–1912), Schriftsteller, als Kunst- und Theaterkritiker für Novoie Vremia (Neue Zeit) tätig, ging 1901 als Korrespondent nach Paris, wo er die École des Beaux-Arts besuchte. 1426 „[...] какой-то глухой, грязноватый фон [...] Кто-то из зрителей [...] назвал картину дамой на диване в пустыне [...] но никак не могу себя уверить, что диван стоит на ровном полу, а не косогоре. Перспективные линии не в одну точку, как следовало бы [...] Это не собачка, а какая-то черная каша из сабачки, просачивающаяся сквозь пальцы ее владелицы. [...] Эта картинa [...] своего рода импрессионизм, так

6.4 Von tonalen Farbsymphonien zu Farbkontrasten und Klarheit der Form

In der Forschung wurde Botkina indes fast nie der formalen Schwächen bezichtigt.1427 Wie im Fall von Mikhail Morozov (1902, Abb. 53) war es die Interpretation des Bildnisses, die äußerst negativ ausgelegt wurde. Von Grabar 1914 noch für die „schöne Farbengamma“ gefeiert, erfuhr das Werk von ihm später eine pejorative Bewertung, die eine nachhaltige Wirkung auf andere Autoren hatte.1428 1954 beschrieb es Grabar als „eine ganze Erzählung über das Leben einer gelangweilten reichen Moskauer Herrin“ und erinnerte sich daran, dass Serov ihm gegenüber gesagt haben soll: „Ich wollte sie wirklich so setzen, dass die Einsamkeit dieser modischen Gestalt, ihre aufgetakelte Erscheinung und die plumpen Möbel betont werden. Ich konnte dieses Bildnis doch nicht mit Liebe und Zärtlichkeit malen.“1429 Wie wirkt dieses Gemälde, wenn die ästhetischen Streitigkeiten und ideologischen Zwänge des letzten Jahrhunderts ausgeblendet werden? Zweifelsohne spiegelt es den Anspruch der Botkin-Familie auf die kosmopolitische Erscheinung und den hohen gesellschaftlichen Status wider.1430 Es zeigt eine Frau aus der Oberschicht der neuen russischen Kaufleute. Im Gegensatz zu Serovs Maria Morozova1431 (1897), die sich in ihrer voluminösen, schwarzen Tracht und Haube matronenhaft gibt, erscheint Botkina nicht wie eine traditionelle kupchikha (Kaufmannsfrau).1432 Der Künstler hob ihr europäisiertes Aussehen hervor, wie es beispielweise auch bei Makovskys Varvara Morozova (1884) noch nicht der Fall war: Varvava Morozova sitzt in einer repräsentativen Pose, welche adligen Modellen immanent ist, trägt aber volkstümlich anmutende Kleidung und hat die charakteristische Frisur einer kupchikha – ein in einen Knoten gebundenen und geschmückten Zopf. Es ist mehr als fraglich, ob Serov hier eine moralische Kritik an der vermeintlichen geistigen Langeweile und dem verschwenderischen Konsum zum Ausdruck bringen wollte. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass der Künstler seine Auftraggeber der „Frankomanie“ zu bezichtigen versuchte, da die frankophile Haltung schon seit mehreren Generationen in

как в ней действительно верно схвачено талантливым художником первое, мимолетное впечатление с натуры, – но и только.“ Storonny [A. I. Kosorotov], Tretya vystavka „Mira iskusstva“, in: Novoie Vremia, 1901, Nr. 8943, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 288–291, Anm. 30, hier S. 289. 1427 Bakushinsky 1935, S. 115. 1428 Grabar 1914, S. 134–136. Siehe auch: Leniashin 1980, S. 36–40, hier S. 39; ders. 1989, S. 18–24; Rosenwasser 1990, S. 22; Allenov 2000, S. 251. 1429 „[...] портрет [...] С. М. Боткиной [...] является по существу целым повествованием о жизни скучающей богатой московской барыни. [...] Когда я спросил Серова, почему он так необычно решил его в композиционном смысле [...] он сказал: ‚Так и хотел посадить, чтобы подчеркнуть одинокость этой молодой картинки, её расфуфыренность и нелепость мебели. Не мог же я писать этого портрета с любовью и нежностью.‘“ Grabar 1954, S. 146. 1430 Kridl Valkenier 2001, S. 98. 1431 Мария Федоровна Морозова, 1897, Öl auf Leinwand, 108 × 87,5 cm, sign. und dat. links unten, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4313. Maria Morozova (1820–1911), Großtante von Mikhail und Ivan Morozov; übernahm nach dem Tod ihres Mannes, des Textilfabrikanten Timofei Morozov, die Leitung des Unternehmens; betrieb aktive Wohltätigkeitsarbeit. 1432 Vgl. Kridl Valkenier 2001, S. 97.

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der Botkin-Familie tradiert wurde und der Künstler selbst liebte es, in Paris zu verweilen.1433 Vielmehr verspürte Serov viel Mitgefühl für sein trauriges einsames Model, das sich in seiner neuen gesellschaftlichen Rolle als Repräsentantin einer der einflussreichsten und öffentlich präsenten kaufmännischen Familien noch unwohl fühlte.1434 Ohne inhaltliche Intention einzubüßen erschuf er ein malerisch und kompositionell ein einzigartiges Meisterwerk, das über die Jahrhunderte hinweg den Betrachter zum Mitgefühl für die geheimnisvolle traurige Schönheit bewegt. Herzogin Zinaida Yusupova (1900–02) Im Unterschied zu Sophia Botkina tritt Serovs Herzogin Zinaida Yusupova (1900–02, Taf. VIII) in ihrer Rolle als Gesellschaftsdame wesentlich gekonnter auf.1435 Die Porträts der vier Mitglieder der Yusupov-Familie entstanden zwischen 1900 und 1903. In dieser Zeit lebte und arbeitete der Künstler mit einigen Unterbrechungen in der imposanten neoklassischen Landvilla der Familie in Arkhangelskoie bei Moskau und beschäftigte sich in den ersten zwei Jahren fast ausschließlich mit dem Bildnis der Herzogin.1436 Zinaida Nikolaievna Yusupova (1861–1939) entstammt einem alten Adelsgeschlecht, dessen Geschichte ins 16. Jahrhundert zurückreichte.1437 Ihrem Charme, ihrer Schönheit und ihrer Klugheit, die viele Zeitgenossen bewunderten, war auch Serov gleich bei der ersten Begegnung erlegen. Am 2. Juli 1896 berichtete er seiner Ehefrau Olga aus Arkhangelskoie, wo er eines seiner Porträts des verstorbenen Zaren Alexander III.1438 angeliefert hatte: Die Herzogin ist gekommen, eine liebenswerte Herzogin, alle loben sie sehr und wahrlich hat sie etwas Feines und Gutes an sich. Sie erklärte, dass mein Bildnis des verstorbenen Zaren überhaupt das beste aller seiner Bildnisse sei, und ich sage, naja, das ist, weil die anderen so schlecht sind – sie lacht[e], und, wie es scheint, ist sie überhaupt verständnisvoll.1439 1433 Viele russische Aristokraten beschuldigten den neuen Geldadel, der durch den Kauf europäischer Möbel, Kleidung und Kunst seinen Status zu legitimieren suchte, der ‚Frankomanie’. Siehe: Kridl Valkenier 2001, S. 97. 1434 Siehe auch: Murina/Sarabynov 1968, S. 196. 1435 Siehe auch den Vergleich der beiden Bildnisse in: Bakushinsky 1935, S. 115; Sarabyanov 1980, S. 196; Valkenier 2001, S. 175. 1436 Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 302–304, Anm. 3, hier S. 302. 1437 Da Zinaida Yusupova die letzte Repräsentantin ihres Adelsgeschlechts war, bekam ihr Gatte, Graf Felix Sumarikov-Elston, vom Zar eine Sondererlaubnis, zusätzlich zu seinem Nachnamen den Nachnamen seiner Ehefrau zu nehmen. Ihre Söhne taten das Gleiche. Nach der Revolution floh die Familie nach Rom, siehe dazu: Piotr P. Shostakovsky, Put k pravde, Minsk: Gosudarstvennoie izd-vo BSSR, 1960, S. 176, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 301f., Anm. 1; Kridl Valkenier 2001, S. 173. 1438 Um welches Bildnis es sich handelt, sei, so Samkov/Silberstein (1985, Bd. 1, S. 226, Anm. 2), unbekannt. 1439 „Княгиня пришла, славная княгиня, её все хвалят очень, да и правда, в ней есть что-то тонкое, хорошее. Она заявила, что мой портрет покойного царя вообще лучший из всех его портретов, я говорю, ну это потому, что остальные уж очень плохи – смеется, кажется, она вообще понимающая “ Serov an seine Ehefrau am 2.6.1896 aus Arkhangelskoie, STG/QS, 49/37; zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 153, S. 224–226, hier. S. 224.

6.4 Von tonalen Farbsymphonien zu Farbkontrasten und Klarheit der Form

Diesem Brief ist ferner zu entnehmen, dass Serovs positiver Eindruck von den Yusupovs sogleich bestätigt wurde: Der Herzog lud ihn zum gemeinsamen Frühstück ein und überreichte ihm danach ein Logenticket für die Oper Lalla Rookh1440, die im eigenen Theater der Familie unter Beteiligung von Sigrid Arnoldson1441 und Angelo Masini an nächsten Tag stattfinden sollte. Zum kleinen Kreis geladener Gäste dieser Aufführung, die mit einem Feuerwerk abgeschlossen wurde, zählte auch Nikolai II. mit seiner Familie. Serovs Darstellung von Zinaida Yusupova lässt seine Hochachtung vor ihr buchstäblich nachfühlen. Aus dem Porträt blickt freundlich und nachdenklich eine elegante schöne Dame im weißen Kleid, die frontal auf einem hellen Seidensofa in einem luxuriösen, erleuchteten Zimmer sitzt. Rechts neben ihr hat es sich ein gepflegter weißer Spitz gemütlich gemacht. Links und rechts im Hintergrund sind auf der weißen, mit Stuckornamenten verzierten Wand kleine, goldgerahmte Kabinettbilder zu sehen. Diese Komposition ähnelt einer Fotografie, die Yusupova sitzend auf einem Sofa vor einer Wand voller Kunstgegenstände zeigt und wahrscheinlich in der gleichen Zeit wie Serovs Gemälde gemacht wurde: Sogar der treue Spitz nimmt wieder Platz neben seiner Herrin ein. Der Vergleich zu der Fotografie veranschaulicht den hohen Stilisierungsgrad von Serovs Porträt. Wie im Bildnis von Sophia Botkina orchestrierte er ein stimmiges Miteinander zwischen der Figur und ihrer Umgebung. Wird die Komposition im Botkina-Bildnis durch Asymmetrien beherrscht, so durchdringt der jugendstilhafte Arabesken-Rhythmus1442 das Yusupova-Porträt: Er erklingt in der S-förmigen Körperhaltung, in der gebogenen Sofalehne und den Sofabeinen, in dem verschnörkelten Goldrahmen und dem Rankenwerk der Wand, in den geblümten Stoffmustern, in den Rüschen des Kissens, in den Umrissen des scheinbar sorglos über die Armlehne geworfenen Pelzmantels und sogar im Schnauzer des Hundes. Diese geschwungene Linienstruktur wirkt keinesfalls irritierend, da die Bildfläche in mehreren Schritten harmonisiert wird: durch die Geraden der Stuckornamente links und die symmetrische Hängung der Bilder rechts, durch die gleichmäßige Lichtverteilung mit nur wenigen diffusen Schatten sowie durch das tonale Angleichen zwischen Vor- und Hintergrund. Das Letztere – kombiniert mit der Frontalität der Figur – evoziert den Eindruck der Flächigkeit, ohne jedoch die Darstellung in Plakativität verfallen zu lassen. Dieses Kompositionsschema knüpft an das Bildnis von Varvara Musina-Pushkina an (1895), welches Serov einige Jahre zuvor gemalt hatte.1443 Dem manierierten, nervösen Posieren Yusupovas fehlt jedoch die männliche Lässigkeit, mit der Musina-Pushkina ihre Beine 1440 Oper nach dem orientalischen Liebesroman von Thomas Moore Lalla Rookh (1817). Bei der Aufführung in Arkhangelskoie handelte es sich wahrscheinlich um Anton Rubinsteins Adaption des Romans Feramors (1862). 1441 Sigrid Arnoldson (1861–1943), schwedische coloratura soprano, trat 1886, ein Jahr nach ihrem Debut im Nationaltheater in Prag, erstmals im Bolshoi Theater in Moskau auf. 1442 Der Verweis auf den jugendstilhaften Charakter der Darstellung tauchte erstmals bei Arbuzov (1960, S. 25) auf, der diesen auf Serovs Mitwirkung bei der Mir iskusstva führte. Siehe auch: Leniashin 1980, S. 88; ders. 1989, S. 59–60; Kruglov, in: Petrova 2005, S. 38. 1443 Vgl. Leniashin 1980, S. 88.

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übereinander schlägt und sich gegen den Sofarücken lehnt. Yusupova beugt sich leicht nach vorne und stellt ihre eng aneinandergehaltenen Beine unterschiedlich hoch auf ein großes Seidenkissen. Ihren rechten Arm stützt sie auf ihren rechten Oberschenkel, den Linken dreht sie nach außen und drückt dabei die Faust gegen das Sofa, um ihre graziöse Haltung ein wenig zu stabilisieren. Diese Anspannung setzt sich in der engen Schnürung des um die Taille dunkelgrün gehaltenen Corsagenkleides und in dem fest gebundenen schwarzen Halsband weiter fort. Zugleich steuert der rasche Duktus den Effekt der Momenthaftigkeit bei, während das schöne Antlitz mit seinen glänzenden grauen Augen, den glühenden rosafarbenen Wangen und den roten Lippen die Agilität des Geistes und die innere Erregung offenbart – die wiederum mit der kontrollierten aber unruhigen Körperhaltung korrespondieren. Der Kontrast zwischen der gekünstelten Beweglichkeit der Pose und der Farbeinheitlichkeit, die eine ‚Verfestigung‘ der Figur im Raum zur Folge hat, war vom Künstler offenbar intendiert, um den Eindruck der Lebendigkeit aufrechtzuerhalten. Im Gesicht entkam er einer maskenhaften Wirkung ebenfalls mittels minimaler Kontraste: Yusupovas ernster, ein wenig trauriger Blick wurde mit einem leichten Lächeln kaschiert. Dieser Dualismus reflektiert die Gratwanderung zwischen der üblichen gesellschaftlichen Höflichkeit und der ehrlichen Freundlichkeit der Herzogin, welche Serov so berückte. Die manierierte Haltung, das rokokohafte Ambiente und die wie eine gepuderte Perücke wirkenden, akkurat hochgesteckten grauen Haare1444 der Herzogin versetzen die Darstellung scheinbar in eine frühere Epoche.1445 Yusupova erinnert unweigerlich an die eleganten Damen auf den Gemälden von Gainsborough, Reynolds oder Lawrence – exemplarisch sind an dieser Stelle Gainsboroughs Ann Ford1446 (1760) und Reynolds’ Mary Wordsworth, Lady Kent1447 (1777) zu nennen. Auch Werke russischer Künstler um 1800 können zum Vergleich herangezogen werden, wie das halbfigurige Bildnis Maria Lopukhinas1448 (1797) von Vladimir Borovikovsky. Borovikovsky wählte eine klassische, an die Praxiteles’ Statue des Ruhenden Satyr1449 angelehnte Pose, bei der die Figur in einer S-Kurve aufgebaut wird: Sein junges Modell stützt sich entspannt mit seinem linken Unterarm auf eine Konsole und dreht seinen Kopf leicht zur Seite. Vor dem Hintergrund der üppigen, verschatteten Vegetation in

1444 Das Haar der Herzogin fing schon in der Kindheit an, grau zu werden. Siehe: Samkov/Silberstein1971, Bd. 2, S. 301f., Anm. 1, hier S. 301. 1445 Siehe dazu: Bakushinsky 1935, S. 115; Maria B. Milotvorskaia (Hg.), Istoriia russkogo iskusstva. Iskusstvo kontsa XIX–nachala XX veka, Moskau: Izobrazitelnoie iskusstvo, 1981, S. 36–43, hier S. 41; Allenova 2000, S. 56. 1446 Ann Ford, 1760, Öl auf Leinwand, 197,2 × 134,9 cm, Cincinnati Art Museum, Bequest of Mary M. Emery, Inv. 1927.396. 1447 Mary Wordsworth, Lady Kent, 1777, Öl auf Leinwand, 127 × 101,6 cm, Sotherby’s Important British Art Auction, London 12.6.2003, Lot 7. 1448 Мария Лопухина, 1797, Öl auf Leinwand, 72 × 53,5 cm, STG, Moskau, Inv. 102. Vladimir Borovikovsky (1757– 1825), einer der führenden Porträtisten seiner Zeit, malte u. a. Katharina II. 1449 Kapitolinischer Faun, ca. 130 n. Chr., eine der 115 erhaltenen Kopien nach dem Faun von Praxiteles (ca. 390–320 v. Chr.), Kapitolinische Museen, Rom, Inv. 739.

6.4 Von tonalen Farbsymphonien zu Farbkontrasten und Klarheit der Form

ihrem weißen Gewand heraus strahlend, wird die Frau von Weizenähren (Attribute der Demeter) und Rosen (Attribute der Aphrodite) flankiert und damit sprichwörtlich vergöttert. Diffuses Licht und die in einen blauen Dunst verschwindende Landschaft sowie der Anflug von einem Lächeln auf Lopukhinas Gesicht lassen sie umso mehr wie ein herbei geträumtes, irreales Wesen erscheinen. Serovs Yusupova zeichnet sich jedoch ganz im Sinne der modernen Frau der Zeit durch leichte ‚Nervosität‘ aus.1450 Ihr fehlen der träumerische Habitus und die Sentimentalität romantischer Frauenporträts. Der Künstler erschuf damit eine gelungene Kombination aus dem Altmeisterlichen und dem Modernen, die ihm für die Repräsentantin eines alten Adelsgeschlechts besonders adäquat vorgekommen sein muss. Dabei verwies er erwartungsgemäß auf den luxuriösen Lebensstil seiner Auftraggeber, setzte aber, so Kruglov, im Gegensatz zu Sargent, Zorn oder Boldini keinen Hauptakzent darauf.1451 Er konzipierte sein Porträt vielmehr als eine diffizile, kompositionelle und koloristische Aufgabe. Damit trat Serov nicht nur mit den führenden europäischen Malern seiner Zeit (Franz Xaver Winterhalter, Herzogin Tatiana Yusupova1452, 1858) in einen Wettstreit, sondern auch mit seinen russischen Künstlerfreunden wie Mikhail Vrubel. In dessen enigmatischem Porträt der Nadezhda Zabela-Vrubel (1898), in dem das stoffreiche Gewand und der neutrale Fond in einer mit Weiß untermischten polychromen Palette abgestuft werden, scheint die Dargestellte einer Blume zu gleichen und im Raum zu schweben. Im Gemälde Zarevna Schwan1453 (1900), das Zabela-Vrubel als verfluchte Schönheit aus Rimski-Korsakovs Oper Märchen über den Zaren Saltan (1900) abbildet, wird das zum kostbaren Kleid werdende weiße Gefieder in changierendem Weiß, Grau und Blau angelegt. Dass Vrubel in beiden Fällen wesentlich mutiger malte, ist nicht von der Hand zu weisen. Zu Serovs Verteidigung muss allerdings mit Nachdruck unterstrichen werden, dass er keine märchenhaften Szenerien kreierte, sondern mit Blick auf den Status der Yusupovs und auf den ‚historistischen‘ ikonografischen Kontext arbeitete. Die Gratwanderung zwischen dem Repräsentativen und dem Malerischen fiel Serov nicht unbedingt leicht. Bis zur Fertigstellung des Bildnisses vergingen achtzig Sitzungen, die jeweils zwei bis drei Stunden dauerten.1454 Scherzvoll erzählte die Herzogin später dem Herzog Shcherbatov, dass sie in dieser Zeit mehrmals ab- und wieder zunahm, doch Serov malte immer weiter.1455 Dem Maler gegenüber beteuerte sie, sein Porträt sei das beste, das von ihr gemacht wurde, wies ihn jedoch gleichzeitig darauf hin, dass sie damit nur den

1450 Siehe dazu: Andreas Steiner, Das nervöse Zeitalter. Der Begriff der Nervosität bei Laien und Ärzten in Deutschland und Österreich um 1900, Zürich: Juris-Verlag, 1964. 1451 Vgl. Kruglov, in: Petrova 2005, S. 28. 1452 Kнягиня Татьяна Александровна Юсупова, 1858, Öl auf Leinwand, 147 × 104 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg, ГЭ-5816. Tatiana Alexandrovna Yusupova (1828–79), Mutter von Zinaida Yusupova. 1453 Царевна-Лебедь, 1900, Öl auf Leinwand, 142,5 × 93,5 cm, STG, Moskau, Inv. Ж-42. 1454 Kridl Valkenier 2001, S. 174. 1455 Felix F. Yusupov, Vospominaniia o V. A. Serove, in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, 297–305, hier S. 298.

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Kopf meine, denn „alles andere sei gar nicht gut“.1456 Diese Ansicht war unter den Yusupovs offenbar so stark vertreten, dass eine Zeit lang überlegt wurde, ein Oval aus dem Gemälde ausschneiden zu lassen.1457 Als das Bildnis 1902 in der IV. Mir iskusstva Ausstellung dem Petersburger und Moskauer Publikum präsentiert wurde, löste es eine lebhafte Debatte aus.1458 Ein Kritiker bemängelte in der reaktionären Tageszeitung Russky listok (Russisches Blatt, Moskau, 1890–1907) das „zu einseitig zerstreute Licht“, die „unangemessen breiten, scharfen Pinselstriche“ und das „leblose Gesicht“.1459 Ein anderer beklagte in der Zeitschrift Iskusstvo stroitelnoye i dekorativnoye (Architektonische und dekorative Kunst, St. Petersburg, 1903) die „Disharmonie der Farben“, den „nachlässigen Duktus“ und die sinnlose Anordnung der Bilder im Hintergrund.1460 ­Alexandr Rostislavov lobte Serovs „Formverständnis“ und seine „wunderbare Lebhaftigkeit der Malerei“, kritisierte aber gleichzeitig die „zu sehr überarbeitete Kopfpartie“.1461 Der konservative deutsche Kunstkritiker Hans Rosenhagen (1858–43), der das Porträt 1903 in der Ausstellung der Berliner Secession sah, bemängelte seinerseits die Farbigkeit: Der kecke Seroff ist pariserisch elegant geworden. Sein „Damenbildnis“ [...], bis auf die olivgrüne Corsage der Dargestellten auf Weiß gestellt, ist einschließlich des Hundes nach Sargents Vorbild gemalt und nicht einmal gut. Echter und besser ist ein „Bauernhof“ [Finnischer Hof, 1902], in dem zwischen einer gelben Mauer und einer grauen Holzwand ein Mädchen in rötlicher Jacke eine schwarze Kuh melkt.1462 Überschwängliche Äußerungen kamen indes von Alexandre Benois, Sergei Makovsky und Sergei Goloushev. Benois konstatierte 1902 in seiner Geschichte der russischen Kunst, dass

1456 „уверяла, что мой лучше всех, т. е. голова, но что остальное всё очень не хорошо,“ Serov an seine Ehefrau Olga am 6.7.1903 aus Moskau, in: STG/QS 49, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 361, S. 424f., hier S. 424. 1457 Alexandra Pavlovna Botkina an Ilya Ostroukhov am 7.4.1902, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 302– 304, Anm. 3, hier S. 304. 1458 Mit dieser Ausstellung präsentierte sich die Vereinigung erstmalig auch in Moskau. 1459 „свет [...] слишком однообразно рассеян [...] некоторые детали фона [...] написаны неуместно широким и резким мазком [...] лицо выглядит безжизненным“, B. Bozhidarov, Vystavka kartin zhurnala „Mir iskusstva“, in: Russky Listok, 10.12.1902, Nr. 339, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 302–304, Anm. 3, hier S. 302f. 1460 „Положенное неверной рукою начало дисгармонии красок проходит по всему полотну [...] Отсюда необходимость [...] подчеркнутости линии сильными, небрежными мазками [...] Никакого впечатления, никаких пояснений не дает группа портретов в позолоченных рамках, так и выпирающих из картины вследствии грубости и силы тона [...]“ M. Mikhailov, Pominki, in: Iskusstvo stroitelnoie i dekorativnoie, 1903, Nr. 4, S. 13–14, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 302–304, Anm. 3, hier S. 303. 1461 „столько понимания формы, столько удивительной жизненности живописи [...] впрочем не гармонирует живопись головы, слишком уж переработанная [...]“, Alexandr A. Rostislavov, Nasha zhivopis, in: Theatr i iskusstvo, 1902, Nr. 16, S. 328, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 302–304, Anm. 3, hier S. 304. 1462 Hans Rosenhagen, Die siebente Ausstellung der Berliner Secession, in: Die Kunst. Monatshefte für freie und angewandte Kunst, Bd. 7, München 1903, S. 415–421, hier S. 417.

6.4 Von tonalen Farbsymphonien zu Farbkontrasten und Klarheit der Form

Serov sich mit dem Porträt der Herzogin auf Augenhöhe „mit den größten Meistern der weiblichen Schönheit“ befinde.1463 1910 zählte Makovsky das „breit und etwas impressionistisch gemalte“ Bild zu den größten „chef d’œuvres“ des Künstlers.1464 Goloushev hob 1911 Serovs Fähigkeit hervor, in seinen Bildnissen „die innige Bedeutung des Lebens [der Dargestellten] in seiner Gesamtheit zu begreifen“. Yusupova, so Goloushev weiter, „lebt ein besonders Leben [...], schwebt über ihrer ganzen Umgebung [...] [voller] Zärtlichkeit, Grazie und Raffinesse [...] [, so] wie einst die Markisen gelebt haben“.1465 In der Forschung fiel die stilistische Analyse des Bildnisses überwiegend positiv aus.1466 Zu den Ausnahmen zählen die Aussagen von Grabar, Ternovets und Yaremich, die jedoch eher die Vorliebe dieser Autoren für eine spontane impressionistische Malweise als Serovs mangelndes Können widerspiegeln. Grabar bezeichnete schon 1914 die Komposition als „zu zufällig und unzureichend dekorativ für ein solch großes und komplexes Bild“; und merkte 1965 an, dass dem Porträt „Serovs einstige Frische“ fehle.1467 Ternovets monierte Yusupovas gequälte, kaum zu deutende Haltung.1468 Yaremich erkannte darin „ein hervorragendes Bildnis, aber kein[en] lebendige[n] Mensch[en]“, da die „Unmittelbarkeit des Eindrucks“ unter den „ausgeklügelt übereinander gelegten, koloristischen Schichten“ begraben werde.1469 Ab den 1960er Jahren stellte man die technische Ausarbeitung kaum noch in Frage, umso stärker rückte nun die Deutung des Porträts in den Vordergrund. So schrieb Zhuravliova, der Künstler gehe an das Modell „mit sehr viel Wärme“ heran, schenke aber dem Interieur große Aufmerksamkeit, da er die Damen der hohen Gesellschaft stets gelangweilt in ihren „goldenen Käfigen“ darstelle.1470 Murina/Sarabyanov sahen in der Wiedergabe kleiner

1463 „въ портрете княгини Юсуповой, Сѣров всталъ вровень съ величайшими мастерами женской красоты.“ Benois 1902, S. 234f. 1464 „Мнѣ хочется только напомнить о chef d’oeuvre’ахъ Сѣрова [...] портрет кн. Юсуповой, въ широкой, нѣсколько импрессiонистической манерѣ, съ обдуманно-небрежно написанными складками платья и лицомъ тонко-обласканнымъ кистью [...],“ Makovsky 1910, S. 14. 1465 „ постижения внутреннего содержания всей окружающей жизни [...] эта женщина живет какой-то особой жизнью [...] на какой-то высоте от всего окружающего [...] нежная, изящная и утонченная [...] живет именно той жизнью, которой когда-то жили маркизы.“ Sergei S. Glagol [Goloushev], Khudozhestvennaia lichnost Serova, in: Izvestiia Obshchestva prepodavatelei graficheskikh iskusstv v Moskve, Nr. 10, 1911, S. 473–474, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 302–304, Anm. 3, hier S. 303. 1466 Bakushinsky 1935, S. 111 und 117; Murina/Sarabyanov 1968, S. 196; Leniashin 1980, S. 76, 84, 95; ders., 1989, S. 53f. und 56; Pruzhan 1980, Kat. 18; Allenova 2000, S. 56. 1467 „Слабое мѣсто произведенiя – композицiя, слишкомъ случайная и недостаточно декоративная для столь крупной и сложной картины. Нѣт большой, красивой линiи и нет архитектуры, но все это с избытком искупается серiезностью и какой то солидностью долго работанной чеканной живописи,“ Grabar 1914, S. 144f., und: „как бы возвращается к его ранним, более совершенным портретам, но [...] [создает] слегка засушенное, лишенное былой ‚серовской‘ свежести [произведение].“ ders. 1965, S. 185. 1468 Ternovets 1925, S. 67. 1469 „Это великолепный портрет, но не живой человек. [...] непосредственного впечатления натуры нет, оно погреблено под пластами остроумнейших красочных наслоений.“ Yaremich 1936, S. 14. 1470 „светские женщины в портретах Серова изображены тоскующими в своих ‚золотых клетках‘.“ Zhuravliova 1964, S. 48.

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Details aus der Welt der Dinge einen ironischen Unterton.1471 Leniashin merkte an, dass Yusupova sich in ihren Accessoires auflöse, und sprach von einer „Vergegenständlichung“ des Modells, womit der Maler auf eine „raffinierte“ Weise seine Ironie zum Ausdruck bringe.1472 Pruzhan und Kruglov entzogen sich indes jeglicher pejorativen Wertung und beschrieben die Dargestellte als liebevoll, menschlich und freundlich.1473 Da Serov seine komfortable Unterbringung in Arkhangelskoie sehr genoss und seine Bewunderung für die Herzogin und den gastfreundlichen Umgang der Yusupov-Familie in seinen Briefen hervorhob, ist es abwegig, ihm zu unterstellen, dass er unterschwellig eine ausgeklügelte Porträtformel erfand, mit der er seine ‚wahre‘ ironische Haltung geschickt verbarg. Im Gegenteil: In seiner ‚Symphonie in Weiß und Grau‘ rückte er Yusupovas besonderen gesellschaftlichen Status und ihre Liebenswürdigkeit in den Vordergrund.1474 Henrietta Hirschman (1906, 1907 und 1911) Ihre Rolle in der russischen Kunst ist bemerkenswert. Damit die Kunst blüht, benötigt man nicht nur Künstler sondern auch Mäzene. Sie und Ihr Ehemann nahmen diese Rolle an und übten sie viele Jahre mit viel Talent und Können aus. [Ich] danke Ihnen beiden. Die Geschichte wird über Sie das sagen, was Ihre Zeitgenossen nicht geschafft haben.1475 Konstantin Stanislavsky an Henrietta Hirschman, 1963 Das Ehepaar Hirschmann spielte in der Moskauer Kunstszene eine sehr aktive Rolle. Vladimir Osipovich (1867–1936), der die kleine Nadelfabrik seines Vaters in ein Monopol verwandelt und damit ein Vermögen verdient hatte, engagierte sich in den 1900er Jahren zunehmend als Kulturmäzen. 1907 war er einer der Mitbegründer und der wichtigste Finanzier des modernistischen Vereins Obshchestvo Svobodnoi estetiki (Verein der Freien Ästhetik,

1471 „к Юсуповой [он относится], может быть, с мягкой иронией“, Murina/Sarabyanov 1968, S. 196; Sarabyanov 1987, S. 14f; ders. 1996, S. 29f.; ders. 2012, S. 68. 1472 Leniashin 1975, S. 90f.; „идея ‚дегероизации‘ [...] присутствует и здесь, но проведенная в еще более тонкой форме своебразного ‚овеществления‘ модели, растворения ее в мишуре окружения. В холсте проступает, звучит изысканный язык подтекста.“ ders. 1980, S. 100. 1473 Pruzhan, 1980, Kat. 18; Kruglov, in: Petrova 2005, S. 38. 1474 Siehe auch: Kridl Valkenier 2001, S. 175 1475 „Ваша роль в русском искусстве – замечательна. Для того, чтобы процветало искусство, нужны не только художники, но и меценаты. Вы с мужем взяли на себя эту трудную роль и несли ее много лет, талантливо и умело. Спасибо Вам обоим. История скажет о Вас то, что не сумели сказать современники. Пусть сознание исполненного красивого дела облегчат Вам посланное всем нам испытание. Душевно преданный и любящий Вас К. Станиславский“, zit. in: Iz alboma H. L. Hirschman, in: Novy zhurnal, New York 1963, Bd. LXXI, S. 260, zit. nach: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 324f.

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1907–17).1476 Seine Kollektion, die er in den 1890er Jahren zusammenzustellen begonnen hatte, wuchs so an, dass sie 1917 in einem Stadtführer als private Galerie Erwähnung fand.1477 Henrietta Leopoldovna (geb. Leon, 1885–1970), die Vladimir 1903 heiratete, teilte die Interessen ihres Mannes. Sie war in einer kunstaffinen Petersburger Kaufmannsfamilie aufgewachsen: Ihr Vater, ein Getreideexporteur, sammelte Gemälde und ihre Mutter machte einen Abschluss als Klavierspielerin am Berliner Konservatorium.1478 Zu den Gästen ihres Elternhauses zählten viele Musiker, und zu den Nachbarn unter anderem der Architekt Leonty Benois (1856–1928), der ältere Bruder des Malers Alexandre Benois.1479 Nach Beendigung der Schule ging Henrietta für zwei Jahre nach Dresden, wo sie Fremdsprachen-, Klavierspielen-, Gesang- und Malunterricht bekam. Zurück in Russland fing sie auf Anraten Repins an, Mal- und Zeichenstunden bei dessen ehemaligem Studenten Osip Braz (1873–1936) zu nehmen. Braz lenkte als Erster ihre Aufmerksamkeit auf die Mir-iskusstva-Bewegung, der er von Beginn an angehörte. Bald darauf lernte die junge Frau Sergei Diaghilev kennen, mit dem sie – und später auch ihr Mann – eine enge Freundschaft pflegte: 1906 wurde dem Ehepaar für ihre Unterstützung von Diaghilevs russischer Ausstellung die lebenslange Ehrenmitgliedschaft im Salon d’Automne verliehen. Das Haus der Hirschmans im Miasnitsky proezd 6 (nicht erhalten) wurde zu einem beliebten Treffpunkt führender Vertreter der russischen Kulturszene und ihrer ausländischen Gäste: So stattete zum Beispiel Maurice Denis den beiden mitunter Besuche ab, als er 1908 für Ivan Morosov in Moskau Wandmalereien anfertigte. Zu Serov, mit dem Henrietta 1903 Bekanntschaft schloss, hatte das Paar ein kordiales Verhältnis.1480 Der Künstler war ein willkommener Gast ihrer gesellschaftlichen soirées und fuhr oft auf ihr Landgut, wo er sich gemeinsam mit anderen Besuchern die Zeit mit Bootsfahrten, Reiten, Pilzesammeln und Zielschießen vertrieb. Er begleitete die Dame des Hauses zu Opernvorstellungen und Konzerten und traf die Hirschmans während der Ballets Russes-Auftritte in Paris. Er verkaufte an sie unter anderem die frühe Ölstudie Bauernhof (1886, Abb. 11) und das Tamagno-Porträt (1891, Abb. 52) und wurde zudem als Berater bei Kunstankäufen mit einbezogen. Dass Vladimir Hirschman 1914 zum Organisationskomitee der postumen Serov-Ausstellung gehörte, unterstreicht die tiefe Wertschätzung, die er gegenüber dem Schaffen des Malers empfand.

1476 Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 340f., Anm. 17. 1477 1917 besaß das Paar ca. 200 Gemälde und Zeichnungen meist jüngerer russischer Künstler, 373 russische, englische und französische Möbel sowie viele kunsthandwerkliche Objekte. Siehe: Po Moskve: Progulki po Moskve i eio khudozhestvennym i prosvetitelnym ucherezhdeniiam, Moskau: Izdatelstvo imeni Sabashnikovykh, 1917, S. 46 und 648; Grabar 2001 (1935), S. 142; Frolov/Polunina 1997, S. 112–116, hier S. 113f. 1478 Frolov/Polunina 1997, S. 117–120, hier S. 117. 1479 Zur Biografie Henrietta Hirschmans siehe: Henrietta L. Hirschman, Moi vospominaniia o V. A. Serove, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 324–345. 1480 Ebd. S. 325–334.

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Serov fertigte im Laufe der Jahre mehrere Porträts von den Hirschmans an. Einschließlich der Skizzen wurden bis heute zwei Porträts von Vladimir1481 (1903 und 1911) und sieben von Henrietta identifiziert. An den Studien zum ersten Bildnis von Henrietta Hirschman begann der Künstler, so die Dargestellte in ihren Erinnerungen, schon 1903 zu arbeiten.1482 Es vergingen jedoch mehrere Monate, bevor er die (vorerst) endgültige Komposition fand (1904/05/06, Taf. II).1483 Diese Variante zeigt das Modell fast ganzfigurig in Dreiviertelansicht nach rechts auf einem Sofa sitzend, mit dem Gesicht en face zum Betrachter gewandt. Dabei wird die Haltung sehr manieriert konzipiert: Die linke Hand ruht auf der Brust, die Rechte ist in einem scharfen Winkel auf der Rückenlehne liegend und nach außen gedreht. Eine solche Lösung erschien dem Künstler jedoch zu schlicht und „provinziell“1484, um den Charme der großen Gesellschaftsdame angemessen zu würdigen. Er zerriss den Karton sowie das dazu gehörige Aquarell und warf beides in den Kamin, woraufhin Vladimir Hirschman ohne Serovs Wissen die Kartonstücke rettete und von einem Pariser Restaurator zusammenführen ließ. Erst nach dem Tod des Künstlers traute sich das Paar, das Bildnis aufzuhängen.1485 Daraufhin suchte der Künstler nach einer, „festlicheren“1486 Komposition und entwarf vermutlich zunächst eine Variante1487 (1904/05/06), die dem ersten Porträt noch stark ähnelt. Danach folgte wohl eine in Kohle, Rötel und Kreide ausgeführte Studie1488 (1904/05/06). Letzten Endes wurde in einer Bleistiftskizze1489 (1907) die Drehung der Figur und in einer Aquarellstudie1490 (1906/07) die Komposition für das Temperabildnis1491 (1907, Taf. XV) festgelegt, das zum bekanntesten Porträt von Henrietta werden sollte – einem Porträt, in dem Serov feminine Sinnlichkeit mit einem modernen Frauenbild verband.

1481 Владимир Осипович Гиршман, 1903, Kohle auf Karton, 62,7 × 47,8 cm, sign. und dat. rechts unten, STG, Moskau, Inv. 9132; Владимир Осипович Гиршман, 1911, Öl auf Leinwand, 96 × 77,5 cm, sign. u. dat. links unten, STG, Moskau, Inv. 5587. 1482 Henrietta L. Hirschman, Moi vospominaniia o V. A. Serove, in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 324–343, hier S. 326f. 1483 Генриетта Леопольдовна Гиршман, 1904/05/06, Tempera auf Pappe, 99,2 × 68,2 cm, STG, Moskau, Inv. 5585. 1484 Serov, o. J., zit. nach: Grabar, 1965, S. 214. 1485 Henrietta L. Hirschman, Moi vospominaniia o V. A. Serove, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 324–343, hier S. 327. 1486 Serov, o. J., zit. nach: Grabar, 1965, S. 214. 1487 Генриетта Леопольдовна Гиршман, 1904/05/06, Kohle, Rötel und Grafitstift auf Papier auf Leinwand, 132,2 × 98 cm, STG, Moskau, Inv. 5584. 1488 Генриетта Леопольдовна Гиршман, 1904/95/06, Kohle, Rötel und Kreide auf Papier auf Karton, 87 × 69 cm, STG, Moskau, Inv. 22745. 1489 Генриетта Леопольдовна Гиршман, 1907, Bleistift auf Papier, 31,4 × 24,6 cm, sign. und dat. unten, SPMbK, Inv. P-10290. 1490 Генриетта Леопольдовна Гиршман, 1906/07, Aquarell, Weiß, Stift, auf dem gelben Papier auf Karton, 39 × 38,5 cm, STG, Moskau, Inv. 5586. 1491 Генриетта Леопольдовна Гиршман, 1907, Tempera auf Leinwand, 140 × 140 cm, sign. und dat. unten links, STG, Moskau, Inv. 5586.

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Bei diesem Temperabildnis handelt es sich um ein Kniestück in einem quadratischen Format. Die Figur ist nach links in einer leicht verschraubten Drehung positioniert: Der Unterkörper ist im Profil, der Oberkörper und das Gesicht in einer Dreiviertelansicht zu sehen. Die Dargestellte stützt sich mit ihrer Rechten auf den breiten, schräg gestellten Trumeau ihres Ankleidezimmers. Mit der Linken hält sie ihren Schal an der Brust fest. Dem Betrachter wirft sie einen durchdringenden Blick zu. Ihren nach vorne geneigten Kopf schmückt eine voluminöse Hochsteckfrisur, die einer Blume ähnelt. Ihre Kleidung ist von einer schlichten Eleganz: eine eng taillierte schwarze Jacke mit Puffärmeln und weißen Manschetten, dazu ein grauer, in dünnen Falten fallender Rock, eine hochgeschlossene weiße Bluse sowie ein schmaler, über die Oberarme gelegter weißer Schal mit langen Fransen. Verglichen mit den Bildnissen von Botkina (1899) und Yusupova (1900–02) ist dieses Porträt nicht nur wesentlich intimer in seiner Wirkung, sondern auch komplexer in seinem Aufbau. Der Eindruck der Bewegung, der durch die Körperwendung und die Schwingung der Rockfalten entsteht, wurde durch die mehrfache Spiegelung enorm verstärkt. Im horizontalen Trumeauspiegel hinter Hirschman ist zunächst ihre Rückenansicht zu sehen. Daneben erkennt man die Staffelei sowie das Gesicht des Malers, das in der rechten Facettierung bricht, und dahinter einen weiteren, halbrunden Spiegel, in dem die zweite, diesmal frontale Spiegelung Hirschmans angedeutet wurde. Auf diese Weise wird die Dargestellte wie eine Ballerina in einer Musikschatulle gedreht. Der Bildraum wird stark in die Tiefe erweitert und die Existenz eines Bildraumes vor dem Modell suggeriert. In der Glasoberfläche des Tisches, auf dem glänzende Flakons stehen, wird das Motiv der Reflektion noch einmal aufgegriffen, sodass auch in der Vertikale eine Ausdehnung des Bildraumes stattfindet. Serovs Idee, den Bildraum mittels zweier Spiegel in die Tiefe und zum Betrachter hin auszuweiten, gründete auf dem Eindruck von Velázquez’ berühmtem Gemälde Las ­Meninas1492 (1656, Abb. 74), das der Künstler zwar erst 1910 im Original sah, aber durch Abbildungen kannte.1493 Eine weitere wichtige Referenz zum Schaffen von Velázquez ist Serovs subtiles Nebeneinander der Schwarz-, Grau-, Weiß- und Ockertöne sowie die anscheinend über alle Bildelemente gelegte graue Patina. Zu den Werken des Spaniers, die sich durch eine feine Graupalette auszeichnen und Serov sicherlich vor 1907 im Original bekannt waren, gehörte beispielsweise das Bildnis einer Dame1494 (ca. 1630–33) aus der Gemäldegalerie in Berlin, welches 1887 in die Sammlung kam. Velázquez war allerdings nicht der Einzige, der Serov dazu inspirierte, einen Spiegel als kompositionelles Schlüsselelement einzubeziehen. Schließlich wurde dieser Gegenstand in der abendländischen Malerei seit der Renaissance sehr häufig als ein allegorisches bzw. 1492 Las Meninas, 1656, Öl auf Leinwand, 318 × 276 cm, Museo del Prado, Madrid, Inv. P01174. 1493 Henrietta Hirschman selbst war ebenfalls der Meinung, dass ihr Bildnis von 1907 an Velázquez Las Meninas anknüpfte. In: Henrietta L. Hirschman, Moi vospominaniia o V. A. Serove, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 324–343, hier S. 330. 1494 Bildnis einer Dame, ca. 1630–33, Öl auf Leinwand, 123 × 99 cm, Gemäldegalerie Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Inv. 413E.

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74 Diego Rodríguez de Silva y Velázquez, Las Meninas, 1656, Öl auf Leinwand, 318 × 276 cm, Museo del Prado, Madrid, Inv. P01174

kompositionelles Motiv verwendet.1495 Im Fall von Hirschman, die von vielen Zeitgenossen als die schönste Moskowiterin bezeichnet wurde,1496 darf eine Anspielung an das Motiv einer Venus vor ihrem Spiegel vermutet werden. Bis zu einem gewissen Grad rekurrierte der Künstler an dieser Stelle auf Tizians Venus vor ihrem Spiegel1497 (1555), das sich in der Zeit in der Eremitage befand und Serov bestens vertraut war (Aquarellkopie nach Tizian Venus vor ihrem Spiegel1498, 1890er, Abb. 75).1499 Auf den ersten Blick scheinen die Divergenzen zwischen dem Renaissancebild und Serovs Porträt zu groß zu sein: Tizians entblößte Göttin sitzt

1495 Es sei zudem daran erinnert, dass die Metapher des Spiegels in der Kunst dem griechischen Mythos von Narziss – dem Ursprungsmythos der Porträtmalerei – entstammt. Siehe dazu: Nicola Suthor, P. Ovidus Naso: Der Irrtum des Narziß (vor 8. n. Chr.), in: Hannah Baader/Rudolf Preimesberger/Nicola Suthor, Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Bd.2: Porträt, Berlin: Reimer 1999, S. 96–111. 1496 Diese schmeichelnde Beschreibung der Henrietta Hirschman ist u. a. bei Benois und Grabar zu finden. Siehe dazu: Samkov/Silberstein, 1971, Bd. 1, S. 427 und 531. 1497 Venus with a Mirror,1555, Öl auf Leinwand, 124,5 × 105,5 cm, National Gallery of Art, Washington D. C., Inv. 1937.1.34. Das Gemälde wurde 1931 aus der Eremitage an Andrew Mellon verkauft und befindet sich seit 1937 in der Washingtoner Nationalgalerie. 1498 Венера перед зеркалом. Копия с Тициана в Эрмитаже, 1890er, Aquarell auf Papier, 54,2 × 44,8 cm, Stempel des Autors rechts unten, STG, Moskau, Inv. 11317. 1499 Vgl. Kridl Valkenier 2001, S. 163 und S. 238, Anm. 16.

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75 Venus vor dem Spiegel. Kopie nach ­Tiziano Vecellio / Венера перед зеркалом. Копия с Тициана, 1890er, Aquarell auf Papier, 54,2 × 44,8 cm, STG, Moskau, Inv. 11317

frontal auf einem Kissen und schaut über ihre linke Schulter in den schmalen Spiegel, der von einem Amoretto hochgehalten wird, während ein zweiter Amoretto ihr einen Kranz auf das Haupt legt. Den beiden Werken ist allerdings nicht nur die Thematik einer bewunderten Schönheit gemein. Ähnlich sind auch die verschraubte Bewegung, die gegenläufige Haltung der Arme und die Reflektion der Figur im Hintergrund. Dennoch wird Tizians Venus mehr zu einem leisen Echo als zur Grundlage von Serovs Komposition. Dass Serov in seinen Hirschman-Bildnissen bewusst mehrere epochenübergreifende Referenzen zog, wird durch eine Bemerkung deutlich, die er während seiner Sitzungen zum letzten, ovalen Bildnis der Mäzenin1500 (1911, Abb. 76) machte: „Nun wird es nicht à la Ingres sein, jetzt werden wir uns dem Raffael persönlich nähern.“1501 Dieser beiläufige Kommentar ist für die vorliegende Diskussion von höchstem Interesse. Denn er belegt zum einen, dass der Künstler beim Konzipieren seiner Werke die Alten Meister grundsätzlich im Fokus behielt. Zum anderen wurden hier zwei konkrete Anregungsquellen für seine Hirschman-Bildnisse benannt: Ingres für die früheren und Raffael für die späten Darstellungen.

1500 Генриетта Леопольдовна Гиршман, 1911, Tempera auf Karton, 99,2 × 68,2 cm, STG, Moskau, Inv. 5585. 1501 „Теперь уже не под Энгра, а к самому Рафаэлю подберёмся“, Serov zu Henrietta Hirschman, zit nach: Henrietta L. Hirschman, Moi vospominaniia o V. A. Serove, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 324–343, hier S. 333.

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76 Henrietta Hirschman / Генриетта Леопольдовна Гиршман, 1911, Tempera auf Karton, 99,2 × 68,2 cm, STG, Moskau, Inv. 5585

Inwieweit können diese Referenzen bestätigt werden? Mit den Arbeiten von Ingres machte sich der Künstler in den Weltausstellungen von 1889 und 1900 sowie in den öffentlichen Pariser Sammlungen vertraut und es ist anzunehmen, dass ihm viele Bilder des Franzosen aus diversen Publikationen bekannt waren. Zwei Aspekte in Ingres’ Werk müssen Serov im Hinblick auf die Hirschman-Porträts besonders angezogen haben: das wiederkehrende Spiegel- bzw. Spiegelungsmotiv und die besondere Bedeutung des disegno. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang vor allem Ingres’ Madame de Senonnes (1814), die 1900 in Paris ausgestellt wurde, sowie Madame Moitessier1502 (1856) und Vincomtesse Louise-Albertine d’Haussonville1503 (1845). Aus allen Bildern blicken elegant gekleidete und manieriert posierende Damen heraus, deren Rückenansicht in einem Spiegel hinter ihnen reflektiert wird. Während Madame Moitessier, die in einer Drehung nach rechts auf einem Sofa sitzt und ihren rechten Ellenbogen auf die Rückenlehne stützt, eher mit Serovs Kartonstudie (1904/05/06) verglichen werden kann, ist Louise-Albertine d’Haussonville dem Temperaporträt von 1907 näher. Serov wählt eine ähnliche Raumsituation sowie einen fast identischen Körperausschnitt und verleiht der Wendung seines Modells die gleiche Manieriertheit,

1502 Madame Moitessier, 1856, Öl auf Leinwand, 120 × 92,1 cm, National Gallery, London, Inv. NG4821. 1503 Vincomtesse Louise-Albertine d’Haussonville, 1845, Öl auf Leinwand, 131,8 × 92 cm, Frick Collection, New York, Inv. 1927.1.81. Vgl. Leniashin 1989, S. 58f., als Bildvergleich ohne Kommentar.

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wenngleich er auf ein kokettes Lächeln verzichtet. Auch die Elemente des Dekorums werden ähnlich angeordnet: Den Platz kleiner Porzellanvasen und -blumentöpfe, die Ingres auf den Kaminsims stellt, nehmen bei Serov glitzernde Glasflakons auf dem Toilettentisch ein. Serovs künstlerischer Dialog mit Ingres, Tizian und Velázquez ist wegen seiner Äußerungen und seines nachweislichen Studiums ihres Œuvres sowie aufgrund formaler Bezüge offensichtlich. Schwieriger nachzuvollziehen ist dagegen, inwiefern sich der Künstler mit zeitgenössischen Umsetzungen des Spiegelmotivs auseinandersetzte – schließlich bedienten unzählige Künstler des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sich dieses Elements. Beispiele dafür lassen sich im Werk von Whistler (Symphony in White Nr. 2: The Little White Girl, 1864), Toulouse-Lautrec (Selbstbildnis vor dem Spiegel1504, 1880), Degas (Vor dem Spiegel1505, ca. 1889), Sargent (Mrs. Louis Raphael1506, ca. 1906), Bonnard (Spiegel über dem Waschbecken1507, 1908), van Dongen (Vor dem Spiegel1508, 1908) und vieler anderer finden. Einen besonders spannenden Vergleich bietet Manets Gemälde Eine Bar in den Folies-Bergère an (1881–82, Abb. 51) – ein Bild, bei dem Manet, wie später Serov, mit Blick auf die Las Meninas von Velázquez gearbeitet hatte. Manets Modell, das Barmädchen Suzon, steht vor einer breiten Marmortheke, auf der bunte Flaschen, ein Glas mit Rosen und eine Kristallvase mit Orangen aufgereiht sind. Die gesamte Wand hinter ihr nimmt ein Spiegel ein, in dem die vielen Gäste des Lokals, ihre eigene Rückenansicht sowie rechts die Gestalt eines Mannes mit Schnurrbart reflektiert werden (so wie auch Serovs eigenes Antlitz, wenngleich wesentlich dezenter neben dem Spiegelbild von Hirschman am rechten Rand erscheint). ­Suzon ist in eine engtaillierte schwarze Jacke mit weißen Manschetten und einen blaugrauen Rock gekleidet – Hirschmans Kleidung ist sehr ähnlich geschnitten, allerdings hat ihre Jacke kein so einladendes Dekolleté. Das koloristische Konzept beider Maler ist ebenfalls vergleichbar und ist auf Velázquez zurückzuführen, sei es in Bezug auf die Farbwahl oder die Rhythmisierung der Oberfläche durch bunte Details und einen ständigen Wechsel von hellen und dunklen Partien: Serovs Farbskala wird von Grau, Ocker, Schwarz und Weiß dominiert, Manets Palette bestimmen bläuliche Weiß-, Schwarz- und Grautöne. Die Figur wird jeweils überwiegend auf den Kontrasten von Schwarz und Weiß aufgebaut. Bei Serov wird sogar das Inkarnat durchgehend mit viel Weiß und Grau vermengt, was der Dargestellten etwas Statuarisches verleiht und damit den Effekt der Distanziertheit zum Betrachter hervorruft.1509 Dass Serov Manets Gemälde zum Entstehungszeitpunkt des Hirschman-Porträts bereits kannte, ist sehr wahrscheinlich, da es 1900 in der Pariser Exposition Universelle zu 1504 Portrait de Lautrec devant une glace, 1880, Öl auf Karton, 40 × 32 cm, Musée Toulouse-Lautrec, Albi, Inv. MTL. 20. 1505 Vor dem Spiegel, 1889, Pastell auf Papier, 49 × 64 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv. 1078. 1506 Mrs. Louis Raphael (Henriette Goldschmidt), ca. 1906, Öl auf Leinwand, 149,86 × 99,06 cm, Montgomery Museum of Fine Arts, Inv. The Blount Coll., 1989.0002.0036. 1507 Зеркало над умывальником, 1908, Öl auf Leinwand, 120 × 97 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 3355. 1508 In Front of the Mirror, 1908, Öl auf Leinwand, 205,74 × 165,1 cm, Privatbesitz. 1509 Vgl. Makovsky 1910, S. 14.

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sammen mit 18 anderen Bildern des Künstlers ausgestellt wurde und zu den bekanntesten Werken des Malers gehörte.1510 Es steht außer Zweifel, dass Serov Manets Arbeiten 1900 in Paris studierte: Schließlich schätze er das Schaffen des Franzosen, den er – neben Ingres – seinen Schülern immer wieder als Beispiel darbot.1511 Serovs Porträt erntete von der Presse viele lobende Worte hinsichtlich der Komposition und der Virtuosität der Maltechnik, als es in der V. Ausstellung des Vereins russischer Künstler im Dezember 1907 zunächst in Moskau und danach im März 1908 in St. Petersburg erstmals exponiert wurde. Der Symbolist Vasily Milliotti (1875–1943) bezeichnete es in der Zeitschrift Zolotoe runo (Goldenes Vlies) als ein „unendlich wichtiges“ Werk des Künstlers.1512 Paul Ettinger und der Schriftsteller Nikolai Breshko-Breshkovsky zählten es zu Serovs besten Arbeiten.1513 Bei einigen Autoren stieß Serovs koloristische Lösung jedoch auf wenig Verständnis. Vor allem die weißgraue Farbgebung der Gesichtspartie wurde häufig als misslungen charakterisiert. Der Schlachtenmaler Nikolai Kravchenko bemerkte sarkastisch in einer der größten Tageszeitungen der Hauptstadt Novoie Vremya (1868–1917, Neue Zeit), dass die „wunderschöne“ Dame in Serovs Porträt ihren „wunderschönen schwarzen Bart“ gerade abrasiert habe.1514 Auch Grabar beschrieb Hirschmans Gesichtsfarbe zunächst als „schmutzig“ und „tot“, äußerte allerdings Jahre später sein Bedauern darüber, dass dieser „Höhepunkt in Serovs Kunst“ von den Zeitgenossen unterschätzt wurde.1515 Die Mäzenin schenkte den bissigen Kritiken keine Beachtung und sah ihr Porträt als ein Meisterwerk, das sich mit den Alten Meistern messen ließe.1516 1911 wurde sie erneut von Serov portraitiert (Abb. 76). Die Entstehungsgeschichte dieses letzten, ovalen Bildnisses von Hirschman, das der Künstler nicht mehr fertig stellen sollte, zeigt, wie innig sein Ver-

1510 Exposition International Universelle de 1900. Catalogue Général Officiel. Œuvre d’art. Exposition Centennale… 1900, S. 53, Kat. 448. Zuvor wurde das Gemälde mehrfach ausgestellt: 1882 im Pariser Salon, 1884 in der École des Beaux-Art, 1895 bei Durand-Ruel in New-York und 1896 in Paris, siehe dazu: Denis Rouart/Daniel Wildenstein, Édouard Manet. Catalogue raisonné, Bd. 1–2, Lausanne/Paris: La Bibliothèque des Arts, 1975, hier Bd. 1, S. 286, WVZ 388. 1511 Nikolai Ulyanov, Vospominaniia o Serove, in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 113–177 und 181–190, hier S. 144. 1512 „бесконечно важен“, Vasily D. Milioti, O „Soyuze“, in: Zolotoie Runo, 1908, Nr. 1, S. 96, zit. in: Samkov/ Silberstein 1971, Bd. 2, S. 338–340, Anm. 11, hier S. 338. 1513 Paul D. Ettinger, Khudozhestvennyie vystavki, in: Russkiie vedomosti, 16.1.1908, Nr. 13, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 338–340, Anm. 11, hier S. 338f.; N. Breshko-Breshkovsky, V gostiakh u Pushkina. Vernisazh vystavki Soyuza, in: Birzhevyie novosti, 1.3.1908, Nr. 10381, in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 338–340, Anm. 11, hier S. 338f. 1514 „у молодой красивой женщины он так не хорошо написал лицо, что кажется, будто [...] только что сбриты прекрасная черная борода и усы.“ Nikolai I. Kravchenko, Vystavki kartin, in: Novoie Vremia, 18.3.1908, Nr. 11500, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 338–340, Anm. 11, hier S. 340. 1515 „никак не можешь примириться с грязным, мертвым цветом лица“, Igor Grabar, „Soyuz“ i „Venok“, in: Vesy, 1908, Nr. 1, S. 138f., zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 338–340, Anm. 11, hier S. 339f; ders. 1965, S. 217. 1516 Henrietta L. Hirschman, Moi vospominaniia o V. A. Serove, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 324–343, hier S. 330.

6.4 Von tonalen Farbsymphonien zu Farbkontrasten und Klarheit der Form

77 Raffaello Sanzio da Urbino, Madonna della Seggiola, 1514, Öl auf Holz, ø 71 cm (Kreis), Palazzo Pitti, Florenz, Inv. 1912 n

hältnis zu dem Ehepaar war. Als er vom Tod ihrer kleinen Tochter erfuhr, besuchte er seine Freunde fast jeden Abend in ihrer Moskauer Wohnung.1517 An einem dieser Tage schlug er Henrietta plötzlich vor: „Wollen Sie für mich wieder Modell sitzen? Wenn man ehrlich ist, hat Somov1518 sie auch nicht so ganz ähnlich gemalt. Ich aber habe eine Idee“1519. Genau diese Idee erläuterte er mit dem bereits zitierten Satz: „Nun wird es nicht à la Ingres sein, jetzt werden wir uns dem Raffael persönlich nähern.“ Serov hielt sein Versprechen. Diesmal stellte er Hirschman als Rückenfigur nach rechts in einem antikisch anmutenden Gewand und Kopftuch dar. Sie lehnt ihren linken Arm auf die hohe Sofakante, dreht ihren Kopf über die rechte Schulter und richtet ihren traurigen Blick auf den Betrachter. In dieser Pose sind zwar Anklänge an Davids Madame Récamier (1800, Abb. 43) und Ingres Große Odaliske1520 (1814) enthalten, doch das runde Format, das Verhältnis zwischen der Bildfläche und der Figur, die Kleidung und der Habitus weisen darauf hin, dass der Künstler beim Komponieren seines Bildnisses vor allem Raffaels Madonna della Seggiola1521 (1514, Abb. 77) vor Augen hatte. Es wird kaum ein Zufall gewesen sein, dass

1517 Henrietta L. Hirschman, Moi vospominaniia o V. A. Serove, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 324–343, hier S. 333. 1518 Генриетта Леопольдовна Гиршман, 1911, Öl auf Leinwand, 118 × 75 cm, Bildergalerie der Region Promorye, Wladiwostok, Inv. Ж-30. 1519 Serov zu Henrietta Hirschman im Jahr 1911, zit nach: Henrietta L. Hirschman, Moi vospominaniia o V. A. Serove, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 324–343, hier S. 333. 1520 Une Odalisque, 1814, Öl auf Leinwand, 91 × 162 cm, Musée du Louvre, Paris, Inv. R. F. 1158. 1521 Madonna della Seggiola, 1514, Öl auf Holz, ø 71 cm (Kreis), Palazzo Pitti, Florenz, Inv. 1912 n.

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6. Linie, Farbe und Form

Serov für die Darstellung einer Mutter, die um ihr Kind trauert, die erhabene Darstellung der Muttergottes zum Vorbild wählte. Maria Akimova (1908), Nikolai Pozniakov (1908) und Ivan Morozov (1910) Während im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts sich Serovs Farbengamma zunächst durch fein nuancierte Grau-, Blau-, Schwarz- und Ockertöne auszeichnete, experimentierte der Künstler in der zweiten Hälfte der Dekade vermehrt mit einer farbintensiven, kontrastreichen Palette. Zu den prägnantesten Bildern dieser Art gehören seine Porträts von Maria Akimova1522 (1908, Taf. XIV), Nikolai Pozniakov (1908, Abb. 49) und Ivan Morozov (1910). Im Hüftbild von Akimova besteht die Farbzusammensetzung, mit Ausnahme der Köperpartien, überwiegend aus kräftigen Rot- und Blautönen sowie aus gelblich schimmernden Abstufungen von Weiß, Grau und Ocker. Akimova, die ein weißes, goldbesticktes Kleid trägt, lehnt sich gegen ein rotes Kissen zurück, welches beinahe den gesamten Hintergrund einnimmt. Ihren linken Arm stützt sie auf die tiefblaue Lehne und greift mit der Hand an den Saum ihres Ausschnitts. Nur ein um den oberen linken Rand geführter Streifen, der die Existenz eines Raumes andeutet, wird im grünlichen Grau gehalten und verstärkt in einem Komplementärkontrast das Rot des Kissens. Die Farbbereiche von Blau, Weiß, Rot und Grün werden dabei von unten rechts nach oben links diagonal gegen die ‚Leserichtung‘ gestaffelt, sodass der Betrachterblick auf die Person fixiert wird. Geschickt steigert der Künstler durch die Komposition die Intensität des Blicks von Akimova, die den Betrachter aufmerksam zu studieren und zu beurteilen scheint. Die zuerst als sorglos gemalt wahrgenommene Anordnung der Blumenornamente auf dem Kissen bildet in Wirklichkeit einen Doppelbogen um die Figur und lenkt die Konzentration auf die Dargestellte. Das helle Gesicht wird in das rote Kissen eingebettet und von den schwarzen hochgesteckten Haaren umrahmt. Zur seiner mutigen und für ihn ungewöhnlichen Farbzusammenstellung wurde Serov wahrscheinlich von Karl Briullov (1799–1852) inspiriert, für dessen Palette Rot, Blau und Weiß charakteristisch waren.1523 Exemplarisch können an dieser Stelle das Porträt des Dichters Alexandr Strugovshchikov1524 (1840) und das Gemälde Türkin1525 (1837–39) genannt werden. Ähnlich wie im Akimova-Porträt lehnt sich der Dargestellte im ersten Bild gegen die breite rote Sessellehne zurück, vor der sein helles Gesicht erstrahlt. In der letzteren Komposition sind die Figur und die Farben fast spiegelverkehrt zu Akimova angeordnet: Die junge schwarzhaarige Schönheit, zum linken Bildrand gewandt, lagert in einem wei 1522 Maria Akimova (eigentl. Akimian, 1869–1933), Tochter einer Moskauer Wohltäterin V. I. Kananova (in erster Ehe Akimova). 1523 Grabar (1965, S. 224) schrieb, ohne genaue Quellenangaben zu machen, dass die zeitgenössischen Kritiker Serov vorgeworfen hätten, im Akimova-Porträt Briullov nachzuahmen. 1524 Александр Николаевич Струговщиков, 1840, Öl auf Leinwand, 80 × 66,4 cm, STG, Moskau, Inv. 219. 1525 Турчанка, 1837–39, Öl auf Leinwand, 66,2 × 79,8 cm, STG, Moskau, Inv. 5053.

6.4 Von tonalen Farbsymphonien zu Farbkontrasten und Klarheit der Form

ßen Untergewand auf einer blauen Decke vor einem karminroten Fond. Allerdings setzte Briullov – ganz im Sinne seiner Epoche – auf eine ruhige und kontemplative Stimmung, romantisch idealisierende Züge und einen naturalistischen Duktus, welche seine Gestalten in Raum und Zeit verfestigten. Serov entwickelte indes eine ungemein größere kompositionelle Dynamik und Farbexpressivität sowie eine breite, teils abstrahierende Pinselsprache, um den momenthaften seelischen und physischen Zustand einer ‚nervösen‘ modernen Frau festzuhalten. Mit den gleichen Farbtönen arbeitete Serov auch in seiner malerischen Darstellung von Nikolai Pozniakov1526 (Abb. 49). Die schlanke, geschwungene Silhouette des Balletttänzers, der sich dem süßen Nichtstun hingibt, wurde hier als eine dunkelblaue Liegefigur vor dem hellen, zwischen Blau und Ocker differenzierten Grauweiß des Sofas und der Wand effektvoll zur Geltung gebracht. Auch in diesem Porträt Künstler dem Narrativen weitgehend fern. Vergleicht man Serovs Akimova und Pozniakov mit Repins Bildnis des Bankiers Boris Kaminka1527, das im gleichen Jahr entstand und eine sehr ähnliche Palette aufweist, so stellt man fest, dass Repin die Farben attributiv einsetzte und dabei stets auf die Materialität der Gegenstände – wie die des glänzenden Ledersofas – achtete. Im halbfigurigen Bildnis des Kunstsammlers Ivan Morozov1528 (1910) kamen die Primärfarben ebenfalls verstärkt zum Einsatz. Frontal situiert, beugt sich Morozov, der ein braunes Jackett trägt, energisch nach vorne, stützt seine Unterarme auf eine schmale weiße Tischkante – als wolle er mit den Ellenbögen die Porträtgrenzen sprengen – und richtet seinen prüfenden Blick auf den Betrachter. Unmittelbar hinter ihm ragt das Stillleben von Henri Matisse Früchte und Bronze1529 hervor (1910), welches beinah den gesamten Hintergrund einnimmt. Die Dominanz von Morozov robuster Gestalt wird durch das dekorative Gemälde nicht geschmälert, sondern forciert, da das Bild hinter ihm leicht nach vorne kippt und die Figur scheinbar zum Betrachter anschiebt. Im Unterschied zu den Bildnissen von Akimova und Pozniakov trug Serov er in dieser Arbeit die Farben sehr flach, matt und semitransparent auf. Bereits in den früheren Werken experimentierte er mittels diverser Medien mit flächigen, matten Farbflächen – sei es durch die Verwendung bzw. Beimischung von Tempera (Henrietta Hirschman, 1907, Taf. XV; Alexandr Lenski und Alexandr Yuzhin, 1908) oder durch den Einsatz von Gouache, Aquarelle

1526 Nikolai Stepanovich Pozniakov (1879–1941), Tänzer, später Professor des Moskauer Konservatoriums und Ballettmeister des Bolshoi Theater. 1527 Борис Абрамович Каменка, 1908, Öl auf Leinwand, 180 × 113 cm, Kunstmuseum, Dnepr. 1528 Ivan Abramovich Morozov (1871–1921), Textilmagnat, Bruder des Kunstsammlers Mikhail Morozov. Bei seinen Ankäufen ließ er sich mehrfach von Serov beraten. Seine Sammlung, die nach der Revolution zum Staatseigentum erklärt wurde, zählte über fünfhundert Meisterwerke der russischen und westeuropäischen Moderne. Siehe dazu: Dumova 1992, S. 108–130; Kean 1994 (1983), S. 95; Bayer 1996, S. 126f., 169f.; Frolov/ Polunina 1997, S. 216–220; Kostenewitsch, in: Költzsch 1993, S. 125f.; Kridl Valkenier 2001, S. 194–199. 1529 Бронза и фрукты, 1910, Öl auf Leinwand, 89 × 116,5 cm, SPMbK, Moskau, Inv. 3394. Ivan Morozov erwarb das Gemälde im Frühjahr 1910. Der Bilderrahmen ist heute noch derselbe wie in Serovs Porträt.

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6. Linie, Farbe und Form

und Pastell (Leonid Andreev1530, 1907; Alexei Morozov1531, 1909). Im Porträt von Ivan Morozov wurden die Flächigkeit und die Mattheit der Oberfläche bewusst durch die Wahl der Materialien (Tempera und Pappe) und eine gleichmäßige Lichtführung evoziert, sodass die Malerei in ihrer Wirkung näher an die Grafik gerückt wurde. Herzogin Olga Orlova (1910–11) Im gleichen Jahr, in dem er den Kunstsammler Ivan Morozov malte, arbeitete Serov an dem großen Ganzfigurenbildnis von Olga Orlova. Olga Konstantinovna Orlova (1872–1923), geborene Herzogin Beloselskaia-Belozerskaia, gehörte wie Zinaida Yusupova einer alten Aristokratenfamilie an.1532 Ihr Gatte Vladimir Nikolaievich Orlov (1868–1928) war ein enger Vertrauter von Nikolai II., dessen militärische Feldkanzlei er zwischen 1906 und 1915 leitete. Für sein Porträt der Herzogin benötigte der Künstler hundert Sitzungen und folgte seinem Modell durch ganz Europa.1533 Viele von Serovs Künstlerkollegen äußerten ihre Wertschätzung für dieses Bildnis. Noch bevor das Gemälde vollendet wurde, bezeichneten Alexandre Benois und Graf Dmitry Tolstoy es als Meisterwerk, wobei Tolstoy es zur besten Arbeit des Künstlers kürte und für das Museum Alexander III. anfragte.1534 Repin beschrieb es als interessant und energisch.1535 Golovin zählte es zu Serovs wichtigsten Schöpfungen.1536 Natan Altman griff nur drei Jahre später die markante Sitzhaltung von Orlova in seinem Bildnis der Dichterin Anna Akhmatova1537 (1914) auf.1538 Mit Reminiszenzen zu Serov spielte noch Jahre später Konstantin Somov in seinem Bildnis von Evgeniia Mantseva1539 (1933). Im Hinblick auf die erst in der sowjetischen Forschung entstandene Deutung des Bildnisses als ein Exempel der „degene-

1530 Леонид Николаевич Андреев, 1907, Aquarell, Gouache auf Papier, 71 × 55 cm, sign. und dat. links unten, Staatliches Literaturmuseum, Moskau, Inv. X-214. 1531 Алексей Викулович Морозов, 1909, Gouache, Pastell auf Papier, 93,4 × 59,8 cm, sign. und dat. rechts mittig, Nationales Museum der bildenden Künste der Republik Weißrussland, Minsk, Inv. РГ-56. 1532 Zur Biografie Olga Orlovas und ihres Gatten siehe: Grabar 1965, S. 220; Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 485, Anm. 94 und Bd. 2, S. 42, Anm. 15. 1533 Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 370) nennen sechs Vorstudien, die sie alle in das Jahr 1910 datieren, eine davon zeigt Orlova stehend in Dreivierteldrehung nach rechts (Verbleib unbekannt). In der erhaltenen Korrespondenz erwähnt der Künstler aber die Arbeit an Orlovas Auftrag schon in einem Brief an Olga Serova, ca. 10.3.1909 aus St. Petersburg, in: STG/QS 49, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 2, Nr. 617, S. 168f., hier S. 169. Siehe auch: Grabar 1965, S. 222; Piotr I. Neradovsky, V. A. Serov, in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 25–44, hier S. 37. 1534 Serov an Olga Serova am 1.2.1911 aus St. Petersburg, in: STG/QS, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 2, Nr. 744, S. 270f., hier S. 271. 1535 Repin 1912, S. 69f. 1536 Golovin 1960, S. 34. 1537 Анна Ахматова, 1915, Öl auf Leinwand, 123,5 × 103,2 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. ЖБ-1311. 1538 Vgl. Leniashin 1989, S. 76, als Bildvergleich ohne Kommentar; Kridl Valkenier 2001, S. 177. 1539 Елизавета Соломоновна Манцева, 1933, Öl auf Leinwand, 81 × 65 cm, STG, Moskau, Inv. Ж-1531.

6.4 Von tonalen Farbsymphonien zu Farbkontrasten und Klarheit der Form

rierenden Aristokratie“1540, merkte Kruglov 2005 treffend an, es sei kaum vorstellbar, dass Serov Orlova durch ganz Europa folgte, nur um „eine Art ‚erbarmungslose‘ Wahrheit im monumentalen Format“1541 zu erschaffen.1542 Eine Antipathie gegenüber Orlova wird auch in der Korrespondenz des Künstlers nicht ersichtlich. Im Januar 1911 schrieb er seiner Ehefrau: „Wie es scheint, male ich Orlova zu Ende. Noch posiert sie geduldig […] jeden Tag. Das Porträt gefällt mir.“1543 In seinem Bildnis der Herzogin meisterte Serov die schwierige Balance zwischen einer formal spannenden Lösung, der standgerechten Repräsentation und der Individualisierung der Dargestellten, ohne sich zu wiederholen oder dem Modell zu schmeicheln. Die Pose und das Interieur formulierte er in einer wahrscheinlich schon 1910 entstandenen Vorstudie.1544 Auf einem weiteren Blatt legte er die Details und die Farbigkeit genauer fest.1545 In der Endfassung (Abb. 62) präsentierte er schließlich Orlova als eine exquisit gekleidete Dame in einem geschmackvoll eingerichteten, klassischen Saal auf einem niedrigen weißen Hocker sitzend. Leicht nach links aus der Mitte gerückt und im Profil zum rechten Rand gedreht, wendet sie ihr Gesicht fast en face zum Betrachter. Ihre geschwollenen Augenlider, die schlaffen Wangen und die kurze Stupsnase wirken weder sinnlich noch schön. Der kühle Blick der hellgrauen Augen, die hellen hochgezogenen Augenbrauen und die fest zusammengedrückten Lippen verleihen ihr einen stolzen, wenn nicht gar einen hochmutigen Ausdruck – der für sie offenbar typisch war (Großfürstin Olga Orlova1546, 1911).

1540 „тип вырождающейся аристократки“ Grabar 1961, S. 29f.hier S. 30. Siehe: Arbuzov 1930, S. 52; Grabar, 1965, S. 222; Murina/Sarabyanov 1968, S. 230; Sarabyanov 1971, S. 28; Lenyshin, 1980, S. 188; Pruzhan 1980, Kat. 21; Rosenwasser 1990, S. 37f. In den neueren Publikationen findet dieser Interpretationsansatz immer noch Anklang, siehe: Allenov 2000, S. 251; Allenova 2000, S. 62. 1541 „чтобы создать некую ‚беспощадную‘ правду в монументальном формате“, Kruglov, in: Petrova 2005, S. 23. 1542 Nach Serovs Tod, als das Interesse für sein Schaffen rasant anstieg und die Tretyakov Galerie das Porträt für ihre Sammlung anfragte, gelang es Dmitry Tolstoy das Herzogenpaar zu überreden, es dem Petersburger Museum zu schenken. Hielten die Orlovas das Bildnis für misslungen, hätten sie es wohl kaum einem öffentlichen Museum übergeben, wo es für ewig zur Zielscheibe des Spottes geworden wäre. Zudem war Serov dem Luxus nicht abgeneigt und fand Wohlgefallen an den Aufenthalten in den Villen seiner Auftraggeber oder in den teuren Hotels. Siehe: Kruglov, in: Petrova 2005, S. 23; Lapshin 1995, S. 276f., S. 285, S. 298f.; Serov an Olga Serova am 6.7.1903 aus Moskau, in: STG/QS 49, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 361, S. 424f.; Serov an Olga Serova am 26.10.[7.11.]1910 aus Biarritz, in: STG/QS 49, zit. in: Samkov/ Silberstein 1985, Bd. 2, Nr. 694, S. 240f. 1543 „Кажется, оканчиваю Орлову. Она пока терпеливо сидит, хотя и обманщица – сидит все же каждый день. Портрет мне нравится.“ Serov an Olga Serova am 29.1.1911 aus St. Petersburg, in: STG/QS 49/83; zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 2, Nr. 740, S. 267–269, hier S. 267f. 1544 Княгиня Ольга Константиновна Орлова, 1910, Bleistift auf Papier, 34,5 × 21 cm, STG, Moskau, Inv. 11314. 1545 Княгиня Ольга Константиновна Орлова, 1910, Bleistift, bunte Stifte, Pastell auf Papier auf Karton, 65 × 43,1 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-13442. Ich neige zu einer Datierung in das Jahr 1910, weil Serov das Porträt bereits vor März 1911 beendete. 1546 Княгиня Ольга Константиновна Орлова, 1911, Kohle, Pastell auf Papier auf Karton, 65,5 × 48,5 cm, sign. und dat. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. P-13436.

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6. Linie, Farbe und Form

Orlovas Kopf schmückt ein riesiger, mit Federn und Tüll geschmückter schwarzer Hut. Um ihren Hals ist eine lange Perlenkette gelegt, welche die Herzogin um ihre Finger wickelt. Gleichzeitig hält sie ihren schweren dunkelbraunen Zobelmantel – dessen Saum auf dem Boden liegt – an der Brust fest, um ihn nicht noch tiefer von ihren nackten Schultern rutschen zu lassen. Verglichen mit den Vorstudien verliert der Mantel an Volumen, wodurch die Silhouette gestraffter und die Körperhaltung angespannter erscheint, so als wolle die Dargestellte in Kürze aufstehen und den Raum verlassen. Der gehobene Kopf und der gestreckte Hals unterstützen diese Wirkung. Ein hoher Grad an Nervosität ist auch in der Situierung der Beine zu beobachten: Wegen der tiefen Sitzposition wird das linke Bein über das rechte so geschlagen, dass das Knie spitz nach oben ragt. Die Kantigkeit in der Erscheinung der Frauengestalt wird ferner durch die spitzen schwarzen Lackschuhe unterstrichen, die unter dem hellen Seidenkleid hervorstechen. Das maskulin selbstsichere Auftreten der Großfürstin entspricht nicht dem traditionellen Frauenbild, wie das bei Botkina und Yusupova der Fall war. Es veranschaulicht Veränderungen in den gesellschaftlichen Konventionen. Ein zeitgenössischer Kritiker, der das Porträt 1911 in der Weltausstellung in Rom sah, erkannte darin eine Synthese der „Züge der alten Adelsabstammung mit der … psychologischen Finesse einer zeitgenössischen Frau“ sowie die „besondere Nervosität“ seines Zeitalters, die durch das spitze Knie unterstrichen werde.1547 Dieses prominent hervorstechende Knie beschrieb Kridl Valkenier zutreffend als ein Pendant zum „aggressiven Ellenbogen“, der in den Männerbildnissen der Renaissance Macht und Selbstbeherrschung zum Ausdruck brachte.1548 Der Eindruck der Flüchtigkeit des Augenblicks wird jetzt weniger durch den Duktus als durch die Pose suggeriert und das stilistische Prinzip des Unvollendeten weniger durch die Pinselführung als durch die Fragmentierung der Formen verwirklicht. Das Interieur ist nämlich nur fragmentarisch zu sehen, woran abermals der Einfluss zeitgenössischer Fotografie erkennbar ist. Links hinten steht ein kleiner vergoldeter Tisch mit einer Porzellanvase darauf. Darüber – in der oberen linken Ecke – ist ein angeschnittenes Gemälde gerade noch sichtbar. Oben rechts ist ein Ausschnitt eines weiteren Ölbildes angeordnet.1549 Unter diesem Bild steht ein Stuhl, der teilweise hinter dem rechten Rand verschwindet. Mit dieser Einordnung der Gegenstände hob der Künstler gleichzeitig hervor, dass der dargestellte Raum weit über den Bildrand hinaus reicht, und dass das, was wir sehen nur ein Ausschnitt, ein Fragment ist. Im Unterschied zum Porträt von Yusupova (1900–02, Taf. VIII), in dem die Bildebenen horizontal und eng hintereinander gestaffelt sind, entfaltet

1547 „В [этом] портрете ... синтезированы черты родового аристократизма с ... психологической тонкостью современной женщины. Острое ... колено ... подчёркивает исключительную нервность современной женщины.“ A. Kamyshnikov, Russkoie iskusstvo v Rime, in: Moskovskaia gazeta, Nr. 68, 14.3.1911, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, Anm.15, S. 43f., hier 43. 1548 Kridl Valkenier 2001, S. 177. 1549 Welches Gemälde hier dargestellt wurde, ist nicht bekannt. Der dunklen Farbigkeit, dem Hell-Dunkel und der bewegten Gestik nach zu urteilen, könnte es ein italienisches Bild des 17. Jahrhunderts sein.

6.4 Von tonalen Farbsymphonien zu Farbkontrasten und Klarheit der Form

sich die Komposition dieses Gemäldes wie ein dreidimensionales Koordinatensystem, was den Effekt der Raumtiefe verstärkt und die Figur vom Betrachter distanziert. Die Öffnung der Bildfläche in drei Richtungen wird durch die Geraden des Stuckornaments, der Bilderrahmen und des Teppichs – die alle über den Außenrand hinaus geführt werden – deutlich artikuliert. Die Person wird dabei zum kompositionellen Zentrum, da sich die Raumecke – der Ursprung des kompositionellen Gerüstes – hinter ihr befindet. Wie beim Darstellen von Yusupova vereinte der Künstler auch diesmal Elemente klassischer Bildnisformeln des 18.  Jahrhunderts und einen modernen Ausdruck. Das veranschaulicht ein Vergleich zum ganzfigurigen Porträt der Studentin des Smolny Instituts1550 Ekaterina Molchanova1551 von Dmitry Levitsky (1776, Abb. 64), mit dessen Schaffen Serov bestens vertraut war.1552 Die prachtvoll gekleidete Molchanova, die den Betrachter freundlich anlächelt, wird sitzend gezeigt und zum rechten Bildrand gewendet, ohne jedoch ihre Drehung wie bei Orlova zu forcieren. Ihrer gezierten, aufrechten Haltung fehlt der Eindruck des nervösen Wartens, der Orlovas Pose beherrscht: Ruhig legt sie ein Buch auf ihren linken Oberschenkel ab, das sie gerade noch gelesen haben muss, und hebt ihre rechte Hand, als wolle sie ihrem Gegenüber etwas mitteilen. Serov formuliert seine Figur deutlich schärfer, behält aber gleichzeitig das Grandeur, das die repräsentativen Porträts des 18. Jahrhunderts auszeichnet – sei es in der Innenausstattung oder in der Kleidung. Es ist kaum ein Zufall, dass Orlova einen großen, schwarzen Gainsborough-Hut trägt: Ein Accessoire, das Thomas Gainsborough in seinen Damenbildnissen einsetzte (Georgiana Cavedish, Herzogin von Devonshire1553, 1778; Sarah Siddons1554, 1785) und das im frühen 20. Jahrhundert wieder in Mode war. In den Frauendarstellungen der Modernisten ist ein solcher Hut ebenso anzutreffen wie in den Bildern populärer Salonmaler, sei es Lovis Corinth (Frau Luther1555, 1911), Kees van Dongen (Frau mit schwarzem Hut1556; 1550 Das Petersburger Smolny Institut vornehmer Fräulein (1764–1917), das von Katharina der Großen gegründet wurde, war das erste russische Institut, das Mädchen aus adeligen Familien Bildung in der Sekundarstufe ermöglichte. 1551 Екатерина Ивановна Молчанова, 1776, Öl auf Leinwand, 181,5 × 142,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4990. Serov bewunderte Levitskys Werke (Grabar 1914, S. 166f.), daher kannte er wahrscheinlich Molchanovas Porträt, das zu seiner berühmten Serie der sieben Absolventinnen des Smolny Instituts gehörte. 1552 Vgl. Leniashin, 1989, S. 76, als Bildvergleich ohne Kommentar. Sarabyanov (1971, S. 27) vertrat die Ansicht, dass die Sitzhaltung in Serovs Porträt den Bildnissen des 17. und 18. Jahrhunderts entspräche. Leniashin (1975, S. 92; 1989, S. 90f.) und Pruzhan (1980, Kat. 21) zogen zwar in Erwägung, dass Serov seine Vorbilder in der Malerei des 18. Jahrhunderts suchte, sahen aber in der endgültigen Positur der Dargestellten zu Recht eine eigenständige Konzeption. 1553 Georgiana Cavedish, Duchess of Devonshire, 1785–87, Öl auf Leinwand, 127 × 101,5 cm, Chatsworth House, Derbyshire, Inv. PA1091. Das Porträt war durch Stiche weit verbreitet, siehe: http://www.npg.org.uk/collections/ search/person.php?linkID=mp01280 (Stand: 29.1.2016). 1554 Mrs. Siddons, 1785, Öl auf Leinwand, 126 × 99,5 cm, National Gallery, London, Inv. NG683. 1555 Frau Luther, 1911, Öl auf Leinwand, 115,5 × 86 cm, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Inv. KM 137/1949. 1556 Женщина в черной шляпе, 1908, Öl auf Leinwand, 100 × 81,5 cm, Staatliche Eremitage, St. Petersburg, ГЭ6572, ehem. Slg. Sergei Shchukin. Vgl. Leniashin, 1975, S. 90.

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1908), Gustav Klimt (Der schwarze Federhut1557, 1910) oder Philip Alexius de László (Elizabeth Maude Guinness1558, 1910). Im Orlova-Bildnis drückt er, wie kein anderes Kleidungsstück, den extravaganten Geschmack und die Selbstsicherheit des Modells aus. Auf die Frage von Zinaida Yusupova, warum der Hut einen solch prominenten Platz im Bildnis einnehme, soll Serov mit den Worten „Ohne ihn gebe es sonst keine Herzogin Orlova“ geantwortet haben.1559 Doch obwohl der Künstler einen Akzent auf exquisite Accessoires setzte und dem Betrachter einen Einblick in das kostbare Ambiente gewährte – wie es sich im klassischen Ganzfigurenbildnis einer hochgestellten Gesellschaftsdame gehört – verfiel er weder dem Salonglanz noch dem Naturalismus. Er behandelte Bildelemente wie separate Farbflächen, erfasste die Konturen im leicht geschwungenen Rhythmus und wiederholte sie wie ein Echo in diffusen Schatten. Durch das Untermischen von Weiß reduzierte er die Primärfarben auf die matten, pastelligen Zwischentöne, womit er die Kontraste harmonisierte. So tritt das Blau in dem dunklen Teppich, in dem graublauen Porzellan und in der blaugrün schimmernden Seide des Kleides auf. Das Gelb wird zwischen dem gelblichen Stuck und dem satten Ocker der Vergoldung variiert. Das Rot ist in den Wangen und Lippen, im blassen Rosa der Wand und in der Stuhlpolsterung zu finden. Im Unterschied zum Bildnis von Ivan Morozov (1910), in dem die Primärfarben direkt nebeneinandergesetzt wurden und daher äußerst dekorativ wirken, wird dieser Effekt in dem Orlova-Porträt durch die Dominanz großer, heller und brauner Partien entschärft, auch wenn die dekorative Note beibehalten wird. Des Weiteren wird der Farbauftrag überwiegend flächig gehalten, sodass die stürmisch malerische ‚emotionale‘ Pastosität, die noch die Darstellungen von Botkina (Taf. IX) und Akimova (1908, Taf. XIV) charakterisierte, zugunsten einer grafisch ‚sachlichen‘ Behandlung der Fakturen weitgehend zurückgedrängt wird. Nur bei den glänzenden Oberflächen (Porzellan, Seide, Mantelfutter) wurde die Farbe mit einem trockenen Pinsel über den trockenen Untergrund gelegt, um mit diesem ‚reißenden‘ Auftrag die Illusion der Lichtreflexe zu erzeugen, während der weiche Pelz im breiten Duktus bearbeitet wurde. Die eingehende Analyse der Bildnisse, in denen Serov seit den späten 1890er Jahren das Kolorit und die Materialität der Farbe intensiv erforschte, legte offen, dass er sich davor scheute, seine Palette bloß dekorativ-bunt wirken zu lassen und sie damit zu trivialisieren. In den großformatigen Farbsymphonien zerlegte, vermischte und überblendete er die Töne durch skizzenhafte Pinselführung und Polychromie so weit, dass die Bildelemente sich stellenweise zu entmaterialisieren drohten. In anderen Werken ordnete er wiederum einige wenige expressive Farben blockhaft und haptisch ein, sodass bestimmte Kompositionspartien 1557 The Black Feather Hat, 1910, Öl auf Leinwand, 79 × 63 cm, Privatbesitz, New York. 1558 Elizabeth Maude Guiness, 1910, Öl auf Leinwand, 101,6 × 76,2 cm, Royal Holloway, University of London, Inv. P1600. 1559 „Иначе ведь не была бы княгиня Орлова“ Serov, zit. nach: Felix F. Yusupov, Vospominaniia o V. A. Serove, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 297–305, hier S. 300. Siehe auch: Grabar 1965, S. 220.

6.5 Silhouette, Linie, Fläche: Die Suche nach einer neuen Form- und Farbsprache

beinah abstrakt erschienen. Dabei griff er wiederholt auf Primärfarben zurück und setzte effektvoll starke Kontraste zwischen Gelb und Rosa, Rot und Blau ein. Die Gegenwärtigkeit der Person verlor er jedoch nicht aus dem Fokus und ließ sie nie hinter die Malerei treten. In ihrer gegenständlichen und physiognomischen Ähnlichkeit blieben seine Darstellungen stets an die Realität gebunden und in ihrem malerischen und kompositionellen Ganzen auf die Individualität ausgerichtet, um auf einer symbolischen Fläche, die man Bild nennt, dem Mysterium der Seele hinter der Maske des Gesichts näher zu kommen. Mit dem Ziel der Dynamik des Momenthaften, dem transitorischen Charakter eines jeden Existenzzustandes ihren Ausdruck zu verleihen, griff der Künstler immer wieder auf das bereits im Frühwerk erprobte Stilmittel der Fragmentierung zurück, das zunächst sich vor allem im studienhaften Duktus äußerte und dann auch im Anschneiden der Form auf ein Fragment derer erprobt wurde. In seinem Streben Malerei und Grafik in Einklang zu bringen testete er neue Farbzusammensetzungen, um dem Glanz der Ölfarbe zu entkommen, und arbeitete zunehmend mit organisch schwingenden Silhouetten und flächenhaften, teils semitransparenten Formen. In dieser minuziösen Erforschung der künstlerischen Ausdrucksformen und Materialien spiegelte sich Serovs Bildfindungsprozess wider: seine quellende Suche nach einer Harmonisierung zwischen Form, Linie, Farbe und der Vorstellung von der dargestellten Gestalt – seine Suche nach einer absoluten Balance zwischen Idee, Material und Ausführung. Das Bildnis Orlovas stellt eine Verwirklichung dieser Synthese im einer repräsentativen Auftragsarbeit dar. Wesentlich gewagtere Formeln seiner neuen synthetischen Farb- und Formsprache erarbeitete der Künstler in den Werken, in denen er nicht auf die Repräsentationsansprüche hochrangiger Auftraggeber Rücksicht nehmen musste und wahrlich frei schöpfen konnte.

6.5 Silhouette, Linie, Fläche: Die Suche nach einer neuen Form- und Farbsprache Noch mehr als in den Auftragsporträts fand Serovs stilistische Wandlung ihren Ausdruck in den Bühnenentwürfen zu Scheherazade (1911), in den Historien zu Nausikaa (1909–10, Taf. XVI), Raub der Europa (1909–10, Taf. XIII) und den Metamorphosen von Ovid (1910–11) sowie im Bildnis von Ida Rubinstein (1910, Taf. XII). Eine essenzielle Bedeutung für diese Entwicklung hatten seine intensive Beschäftigung mit der Kunst alter Kulturen wie die griechische Antike und altes Persien sowie Anregungen, die er aus der Kunst Japans schöpfte. In seiner Suche nach einer neuen Form- und Farbsprache richtete er seinen Blick in die weit zurückliegende Vergangenheit und in den fernen Osten, als wollte er über die Zeit und Raum hinaussehen, in denen er körperlich und geistig verhaftet war.

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Serovs Beschäftigung mit der Antike und seine Reise nach Griechenland (1907): Odysseus und Nausikaa (1909–10), Raub der Europa (1909–10) und Metamorphosen von Ovid (1910–11) Das Interesse des Künstlers an antiken Themen und Formen kam in seinen Arbeiten seit den späten 1880er Jahren immer wieder zum Vorschein, ohne jedoch, dass die thematischen und formalen Einflüsse der Kunst alter Kulturen von Beginn an dominant wurden. Als Student der Kunstakademie fertigte er Studien von Odysseus, Polyphem, Bacchus, Prometheus und Narziss sowie Zeichnungen nach klassischen Gipsen an.1560 Im Auftrag der Familie Selezniov führte er Ende 1886 bis zum Frühjahr 1887 im Gouvernement Tula ein Deckengemälde mit der Darstellung des Helios in einer Quadriga aus. Im Frühling 1887 machte er ferner – durch die Tanagra-Figuren aus der Eremitage und dem Kunsthistorischen Museum in Wien zu einer weiteren Auseinandersetzung mit der griechischen Mythologie inspiriert – mindestens vier Studien zur Geburt der Venus1561. Während seines Sommeraufenthalts auf der Krim im Jahr 1893 entwickelte er das Sujet der Iphigenie auf Tauris1562 und griff kurze Zeit später in Abramtsevo die Motive von Sphinx1563 und Najade1564 in seinen Skizzen auf. 1900 wurde der Künstler vom Mariinski Theater angefragt, Kostüme für das Ballett Sylvia ou La Nymphe de Diane (1876) des französischen Komponisten Léo Delibes (1836–91) zu entwerfen, doch die Aufführung fand nicht statt und die heute erhaltenen drei Satyr-Skizzen1565 sind die einzigen Zeugnisse seiner Beschäftigung mit diesem Projekt. Vier Jahre danach sprach Vasily Polenov Serov an, im Vorfeld der Eröffnung des Moskauer Museums der bildenden Künste (heute SPMbK) für die Innenausstattung des Hauses eine Komposition zum Leben des griechischen Bildhauers Lyssip sowie große Gemälde für die Säle der archaischen Kunst, der Niobiden und der Ägineten zu entwerfen.1566 Serov reagierte begeistert und hoffte, „auf der Wand irgendwie dieses Gefühl auszudrücken“, das er

1560 Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 384–387. 1561 Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 394. 1562 Ифигения в Тавриде, 1893, Öl auf Leinwand, 94 × 134 cm, Staatliches Museum der bildenden Künste der Republik Tatarstan, Kazan, Inv. Ж-102; Ифигения в Тавриде. Этюд, 1893, Öl auf Leinwand, 23,1 × 32,6 cm, Staatliches Historisches Museum, Moskau, Inv. И-I-5567; Ифигения в Тавриде. Этюд, 1893, Öl auf Leinwand, 23,1 × 31 cm, Staatliches Historisches Museum, Moskau, Inv. И-I-5566. Von Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 405f.) werden sieben weitere dazugehörige Studien genannt. 1563 Сфинкс-львица, 1893, Öl auf Holz, 18 × 42 cm, Isaak Brodsky Museum, St. Petersburg, Inv. Ж-129. Grabar/ Vlasov (in: Grabar 1965, S. 406) führen zwei weitere Sphinx-Skizzen auf. 1564 Grabar/Vlasov (in Grabar 1965, S. 406) nennen eine Skizze betitelt Najade, die eine Muschel bläst, die sich einst in der Slg. Olga Serova befand. 1565 Два сатира с козлом, 1900, Aquarell, Weiß auf Papier auf Karton, 21,4 × 28,8 cm, sign. rechts unten, SRM, St. Petersburg, Inv. P-6548; Сатир, 1900, Bleistift, Aquarell auf Papier, 27,9 × 19,8 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-6547. Eine weitere Studie befindet sich im Isaak Brodsky Museum in St. Petersburg (32,1 × 23,1 cm, Aquarell auf gelbem Karton, Inv. Г-283). 1566 Vasily Polenov an Serov am 25.3.1904 aus Moskau, STG/QS, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 394, S. 455f., hier S. 455.

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„beim Betrachten dessen, was von den Händen der Griechen erschaffen worden war“, immer empfand, nämlich „das Lebendige, das Bewegte, was aus irgendeinem Grund als klassisch und kalt“ bezeichnet werde.1567 Daraufhin studierte er eifrig Originale und Abgüsse aus der stetig wachsenden Sammlung des Hauses sowie aus der Eremitage, zu denen Stücke der mykenischen und minoischen Kultur zählten, darunter Kopien der Ausgrabungsfunde von Heinrich Schliemann wie die Goldmaske des Agamemnon. Leider kam aufgrund knapper finanzieller Mittel auch dieses Projekt nicht zustande.1568 Es hinterließ allerdings eine wesentlich tiefere Spur in Serovs Œuvre als der gescheiterte Auftrag für das Mariinski Theater. Bereits 1903 soll der Künstler Benois seine Idee anvertraut haben, die Heldin des Odysseus-Mythos, die Tochter des phaiakischen Königs Alkinoos Nausikaa, darstellen zu wollen: und zwar „nicht so, wie sie normalerweise gemalt wird, sondern so, wie sie wirklich war“.1569 Die Realisation dieser Idee1570 erfolgte aber wahrscheinlich erst 1909–10 (Taf. XIII), was vermuten lässt, dass die endgültige Absage an Serov seitens des Museums sehr spät erfolgt sein muss. Mittlerweile hatte der Künstler seine Beschäftigung mit der Antike zunehmend ausgeweitet. So unternahm er zwischen Mai und Mitte Juni 1907 zusammen mit Léon Bakst eine Reise über Konstantinopel nach Griechenland. Der Weg der beiden Maler führte unter anderem nach Athen, Kreta, Mykene, Argos, Nauplia, Epidauros, Korinth, Delphi, Olympia, Patras, Knossos und Korfu.1571 Von seinen Eindrücken war Serov regelrecht überwältigt:

1567 Serov an Vasily Polenov am 26.3.1904 aus Moskau, STG/QS, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 395, S. 456f., hier S. 456. 1568 Ursprünglich sah Polenov vor, außer Serov Korovin und Golovin in die Ausstattung des Museums zu involvieren und diese Künstler auf Kosten des Museums zum Studium in die Länder zu schicken, wo sich die Altertümer befanden. Wegen fehlender finanzieller Unterstützung wurde das Projekt jedoch stark zurückgefahren: Polenov führte für das Museum acht Gemälde mit griechischen Motiven aus und Golovin ein Wandgemälde, das einen hellenistischen Friedhof an der Via Appia zeigte (zerstört 1941). Siehe: Samkov/ Silberstein 1985, Bd. 1, Nr. 394, S.455f., hier S. 455, Anm. 4. 1569 „Въ 1903 г. художникъ говорилъ Александру Николаевичу Бенуа, что ему очень бы хотѣлось написать Навзикаю, но ‚не такой, какъ ее пишутъ обыкновенно, а такой, какъ она была на самомъ дѣлѣ‘.“ Serov zit. nach Ernst 1921, S. 67, Anm. 1. Dass die Vorstellung von Nausikaa Serov immer wieder beschäftigte, wird ferner durch einen Brief von Alexandre Benois vom 18.4.[1.5.]1907 aus Paris bezeugt, der dem Künstler vor seiner Reise nach Griechenland riet, zurückzukommen, sobald er „seine“ Nausikaa gefunden habe, in: STG/ QS, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 2, Nr. 516, S. 96f., hier S. 96. 1570 Одиссей и Навзикая, 1909–10, Aquarell, Kohle auf Papier auf Karton, 63,2 × 92,9 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-5943; Одиссей и Навзикая, 1910?, Pastell, Tempera, Gouache auf Papier auf Karton, 34 × 166 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4288; Одиссей и Навзикая, 1910?, Gouache, Weiß auf Karton, 50,5 × 97 cm, STG, Moskau, Inv. 1536; Одиссей и Навзикая, 1910?, Aquarell, Bleistift auf Papier, 19,9 × 27,7 cm, STG, Moskau, Inv. 15787; Одиссей и Навзикая, 1910?, Öl auf Karton, 49,5 × 65 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. Ж-4298; Одиссей и Навзикая, 1910?, Gouache, Weiß auf Karton, 85,5 × 101 cm, STG, Moskau, Inv. 7866. Weitere Studien sind in zwei Skizzenalben zu finden (STG, Moskau, Inv. P-151 und P-185). 1571 Siehe dazu: Grabar 1914, S. 220–226; ders. 1965, S. 229; Ernst 1921, S. 66f.; Bakst 1925; O. Serova 1947, S. 82f.; Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 611–613, Anm. 8.

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Die Akropolis (der Athener Kreml) ist einfach etwas Unglaubliches. Keine Bilder, keine Fotografien können dieses wundervolle Gefühl wiedergeben, das [man] vom Licht, leichten Wind und den Marmor[gebilden] [bekommt], hinter denen die Bucht und das Zickzack der Hügel zu sehen sind. Eine erstaunliche Eintracht des Verständnisses der hohen Dekorativität, die gar an Pathos grenzt, und der Gemütlichkeit [...] In den Museen gibt es genau solche Sachen, die ich schon lange sehen wollte und die ich jetzt sehe, und das ist ein großes Vergnügen. Vom Pantheon [...] braucht man gar nicht zu sprechen: Das ist wahrhaftig eine reale Perfektion.1572 In seinen mit Licht und Luft durchfluteten Reiseskizzen antiker Ruinen (Propyläen1573, 1907) versuchte der Künstler scheinbar genau das Gefühl einzufangen, das er in diesem Brief an seine Ehefrau beschrieb. Die gleiche Absicht verfolgte er in den Nausikaa-Bildern: Während in der ersten Studie der Fokus noch auf die beiden Protagonisten gelegt wird, wird die Bedeutung des Atmosphärischen in den nachfolgenden Variationen verstärkt. In einem der Bilder (1910?) erstreckt sich der strahlende, mit lockeren Kumuluswolken bedeckte Himmel drei Viertel des Kartons und spiegelt sich zudem in der gekräuselten Meeresoberfläche und auf dem nassen Strand, sodass in dieser aus Licht und Luft gewebten Welt die friesartige Figurengruppe einer Fata Morgana gleicht. In zwei anderen Fassungen (Taf. XVI) werden die Figuren und die Landschaft wiederum durch den gestiegenen Stilisierungsgrad zu einer Einheit zusammengefügt. Alle Elemente werden in einer länglichen, den antiken Friesen entlehnten Komposition aufgereiht und durch kräftige Braun-, Orange- und Gelbtöne bzw. tiefes Saphir-, Aquamarin- und Türkisblau definiert. Dabei werden die Figuren stark den Felsen und den Sandverwehungen angeglichen, als wären sie aus der gleichen Materie wie die Natur um sie herum erschaffen worden. Stilisierung und klarer formaler Bezug zur Antike zeichnet auch Serovs Serie Raub der Europa (1909–10) aus, die wie die Nausikaa im Zusammenhang mit der geplanten Ausmalung des Museums der bildenden Künste entstand.1574 Die Idee dazu muss schon in Griechenland

1572 „Акрополь (Кремль афинский) нечто прямо невероятное. Никакие картины, никакие фотографии (не в силах) передать этого удивительного ощущения от света, легкости ветра, близости мраморов, за которыми виден залив, зигзаги холмов. / Удивительное соединение понимания высокой декоративности, граничащей с пафосом даже, – с уютностью [...] / В музеях есть именно такие вещи, которые я хотел видеть и теперь вижу, а это большое удовольствие. Храм Парфенона нечто такое, о чем можно и не говорить – это настоящее действительное совершенство.“ Serov an Olga Serova am 11.5.1907 aus Athen, in: STG/QS 49/52, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 2, Nr. 522, S. 101f. 1573 Пропилеи, 1907, Aquarell auf Papier, 35 × 22,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-13435. Wahrscheinlich handelt es sich um die Propyläen der Akropolis von Athen. Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 431f.) nennen insgesamt 32 Studien von der Griechenland-Reise sowie zwei dazu gehörige Skizzenalben: Album mit 84 Blättern (davon 25 leer), 1907, 11,7 × 15,8 cm, STG, Moskau, Inv. P-182; Album mit 78 Blättern (davon 77 erhalten), 1907, 17 × 11,4 cm, STG, Moskau, Inv. P-163. 1574 Grabar/Vlasov (in: Grabar 1965, S. 436–438) nennen 37 dazugehörige Studien und Varianten (davon zwei Plastiken). Weitere Studien sind in vier Skizzenalben zu finden (drei davon in STG, Moskau, Inv. P-183, P-185, P-155), siehe: Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S. 470f.

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78 Weiblicher Akt / Натурщица, 1909–10, Bleistift auf ­Papier, 42,5 × 26,8 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. 13423

geboren sein, wie Polenovs Anmerkung über eine „wunderbare“ Studie des Jupiters und der Europa nach antikem Original in Serovs Reisealbum verrät.1575 Die erste zaghafte Aquarellskizze1576 der Bildkomposition (1909–10, Taf. XVII) zeigt noch die ungegenständlich abstrakten Farbzonen, aus denen wenig später der Stier und seine Reiterin, das Meer, die Delfine und der Himmel ihre Gestalt annehmen werden (Raub der Europa1577, 1909–10 und 1910, Taf. XIII). Mehrere weitere Studien verraten, dass bei der Formulierung der Haltung der mythischen Gestalt der Künstler ein Aktmodell nutzte, da es ihm offensichtlich wichtig war, von der Natur auszugehen, damit das Lebendige, das Atmende nicht dem Körper entflieht (Frauenakt1578, 1909–10; Frauenakt1579, 1909–10, Abb. 78). 1575 „Несколько чудных вещей (Юпитер в виде быка похищает Европу).“ Polenov, zit. in: Ekaterina V. Sakharova, Vasily Dmitriievich Polenov: Pisma, dnevniki, vospominaniia, Moskau: Iskusstvo, 1948, S. 450. 1576 Похищение Европы, 1909–10, Aquarell, Bleistift auf Papier, 25 × 35,3 cm, links unten in Tusche und Feder die „1“ eingetragen, STG, Moskau, Inv. P-495. 1577 Похищение Европы, 1909–10, Bleistift auf gelblichem Papier, 23 × 31,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-13422; Похищение Европы, 1909–10, Aquarell, Gouache, Bleistift auf Papier, 25,3 × 31,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-13448; Похищение Европы, 1910, Aquarell, Bleistift auf Papier, 25 × 33,2 cm, Museum der Kunstakademie, Isaak Brodsky Museum, St. Petersburg, Inv. MБрГ-270. 1578 Натурщица, 1909–10, Bleistift auf Papier, 32,4 × 20,5 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-6554. 1579 Натурщица, 1909–10, Bleistift auf Papier, 42,5 × 26,8 cm, SRM, St. Petersburg, Inv. P-13423.

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Beim Äußeren – sowohl beim Gesicht mit seinen mandelförmigen Augen als auch bei Gewand und Kopfschmuck – verzichtete der Künstler indes darauf, die keusche Königstochter entblößt oder in einer erotischen Haltung darzustellen und orientierte sich stattdessen an den archaischen Koren (Kopf einer Kore1580, 1910?; Kopf der Europa1581, 1910; Kore1582, ca. 500 v. Chr.).1583 Als Vorbild für den Kopf des Stieres diente seinerseits das mykenische silberne Rhyton1584 (1550– 1500, v. Chr.), das während der Schliemann-Ausgrabungen 1876 zu Tage gefördert wurde. Beim Umsetzten seiner Bildideen zu den Sujets über Nausikaa und Raub der Europa übten Serovs Alltagsbeobachtungen während der Griechenlandreise große Wirkung auf ihn aus: Schließlich erblickte er in der Erscheinung des zeitgenössischen Griechenlands die Antike. So merkte er Bakst gegenüber an, als ein Wagen mit delphischen Bauernmädchen an ihnen vorbeifuhr: „Die Beine sind schön und die Augen sind schön... Schau dir die Erste an – sie ist [wie] eine Antilope oder eine archaische ‚Jungfrau‘ aus dem Akropolis­mu­seum“1585. Genau dieses „Lebendige“ und „Bewegte, was aus irgendeinem Grund als klassisch und kalt bezeichnet wird“, erkannte Serov in den griechischen Steinfiguren. Vergangenheit und Gegenwart, Mythos und Realität, Kunst und Natur wurden für ihn in Griechenland zu einer Einheit, die er in seinen Historien wiederzugeben suchte. Der Korrespondenz des Künstlers ist ferner zu entnehmen, dass für die Zusammensetzung der Blaupalette – welche in Nausikaa- und Europa- Darstellungen eine große Bedeutung bekam –Natureindrücke eine wichtige Rolle spielten. In seinem Brief aus Korinth vom 30. Mai 1907 schilderte er voller Begeisterung die einzigartige Farbe des Ionischen Meeres: „ [...] am Tag ist die Hitze unerträglich, aber es ist schön, was für eine Bucht, was für eine Farbe des Smaragdwassers – Phosphor“.1586 In den Varianten zu Raub der Europa, vor allem in den großformatigen Fassungen1587 (Taf. XIII), wird das Meer zu einer allumfassenden Naturgewalt, deren Farbwechsel dem Changieren von Edelsteinen gleicht. Zusammen mit der unruhigen Horizontlinie, den Mondsicheln spielender Delphine, der unsicheren Haltung der

1580 Голова коры, 1910?, Bleistift auf Papier, 15,3 × 10,4 cm, STG, Moskau, Inv. P-768. 1581 Голова Европы, 1910, Tempera auf Holz, 31,5 × 27,5 cm, Privatbesitz, Moskau. 1582 H Kóρη με τα αμυγδαλωτά μάτια, ca. 500 v. Chr., Marmor, H 92 cm, Akropolismuseum, Athen, Inv. Acr. 674. 1583 Im Brief an seine Ehefrau Olga vom 13.5.1907 aus Athen notierte der Künstler: „Wir arbeiten im Museum: Hier gibt es wunderbare archaische bemalte Frauenfiguren.“ (in: STG/QS 49/54, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 2, Nr. 523, S. 102f., hier S. 101). Weitere Studien nach antiken Originalen machte der Künstler mitunter im Louvre (Skizzenalbum, 1900er, STG, Moskau, Inv. P-152 und 185). Auch im Fall der Nausikaa-Serie ging er von antiken Kunstwerken aus und machte im Britischen Museum sowie nach diversen Publikationen Skizzen antiker Kostüme (Skizzenalbum, 1900er, STG, Moskau, Inv. P-151). 1584 Ρυτό, 1500–1550 v. Chr., mykenisch, Gräberfund A, Grab Schliemann IV, Gold, Silber, Bronze, Archäologisches Nationalmuseum, Athen, Inv. Π384. 1585 „И ноги хороши и глаза хороши... Посмотри – первая: не то антилопа, не то архаическая ‚д ва‘ изъ Акропольского музея“ Serov zu Bakst 1907, zit. nach Bakst 1925, S. 55. 1586 „днем жара отчаянная, но красиво, такой залив, такой цвет изумрудной воды – фосфор.“ Serov an Olga Serova, in: STG/QS 49/57, zit. in: Samkov/Silberstein 1985, Bd. 2, Nr. 526, S. 104f., hier S. 104. Grabar/ Vlasov (in: Grabar 1965, S. 431) nennen sechs Meeresstudien aus Griechenland. 1587 Похищение Европы, 1910, Öl auf Leinwand, 71 × 98,7 cm, STG, Inv. 1535.

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mädchenhaften Frauengestalt und der Schräge des kräftigen Stieres, welcher entschlossen die Wellen durchpflügt und breite Gischtstreifen hinter sich lässt, bewirkt dieser Farbwechsel den Eindruck einer ständigen Bewegung, sodass der Komposition – trotz starker flächiger Stilisierung und des weitgehenden Verzichts auf die Licht-Schatten-Modellierung – das Lebendige erhalten bleibt. Aus diesem Grund klingen die kritischen Worte von Grabar, diese Bilder seien „nicht überzeugend und nicht märchenhaft“1588, ebenso subjektiv und deplatziert wie die Aussagen von Shcherbatov, Serovs „Experimente“ im Bereich Wandmalerei seien „hilflos“ und „unglücklich“1589. Wie Serovs oben zitierter Bemerkung gegenüber Benois von 1903 zu entnehmen ist, war es nie seine Intention, dekorative und gefällige Märchenillustrationen zu komponieren, vielmehr strebte er an, seine Protagonisten so wie sie „wirklich war[en]“ darzustellen. Daher wandte er sich zur antiken und zeitgenössischen Wirklichkeit der Hellenen als einzig wahrem Vorbild für seine Werke. Wie oben erwähnt, wurden weder Nausikaa und Odysseus noch Raub der Europa wie angedacht in die Wandmalereien übertragen. Das entmutigte den Künstler aber nicht, sich eines weiteren Ausmalungsprojekts mit antiker Thematik anzunehmen: einer Serie von Wandbildern zu Ovids Metamorphosen für den klassizistischen Speisesaal des Stadthauses von Evfimia Nosova1590 und Vasily Nosov1591 an der Malaia S ­ emionovskaia ulitsa 1 in Moskau. Von Grabar/Vlasov werden 38 Studien sowie fünf Alben mit den dazugehörigen Skizzen erwähnt.1592 Darunter befinden sich Darstellungen von Apoll und Daphne, Apoll und Diana, Diana und Actaeon, Venus, Putti, ­Karyatiden, Delphinen, Hirschen und Amazonen (Diana und Actaeon. Putto, Apoll und Daphne. Venus1593, 1910–11). 1588 „картины не убедительны и не сказочны, хотя внешне и красивы“ Grabar 1965, S. 229. Ähnlich äußerte sich Grabar bereits 1914 (S. 228), als er schrieb, dass weder Nausikaa noch Europa zu Serovs Meisterwerken gezählt werden können. 1589 „Опыты в этой области (для росписи особняка Носовой) были донельзя беспомощными и неудачными.“ Sergei Shcherbatov, Khudozhnik v ushedshei Rossii, New York: Izd. im. Chekhova, 1954, zit. nach: Samkov/ Silberstein 1971, Bd. 1, S. 658–672, hier S. 663. 1590 Evfimia Pavlovna Nosova (geb. Riabushinskaia, 1883–1951), Tochter des Textilhändlers und Mäzens Pavel Mikhailovich Riabushinsky (1820–99). Ihr Bruder Stepan (1874–1942) war ein Ikonensammler, ihr Bruder Mikhail (1880–1960) ein Sammler moderner russischer und westeuropäischer Malerei und der dritte Bruder Nikolai (1877–1951) der Herausgeber der Zeitschrift Zolotoie Runo (Goldenes Vlies, 1906–09), Kurator und Kunstsammler (Ikonen, Alte Meister, moderne westeuropäische und russische Malerei). Nosova sammelte russische Malerei (vom späten 18. Jh. an), hatte einen Kunst- und Literatursalon. Mit den Ausmalungen ihres Stadthauses beauftragte sie außer Serov Somov, Benois und Dobuzhinsky – nur die Arbeiten des Letzten sind erhalten. 1591 Vasily Vasilyevich Nosov (1871–1939), einer der führenden Textilhändler und Bankiers Moskaus. 1592 Skizzenalbum, 1910–11, 17,3 × 11 cm, 84 Blätter (davon 71 leer), STG, Moskau, Inv. P-159; Skizzenalbum, 1910–11, 34,3 × 21,2 cm, 76 Blätter (davon 48 leer), STG, Moskau, Inv. 15785; Skizzenalbum, 1910–11, 42,7 × 27,2 cm, acht Blätter (davon drei leer), STG, Moskau, Inv. 23388; Skizzenalbum, 1910–11, 42,7 × 27,4 cm, 19 Blätter (davon fünf leer), STG, Moskau, Inv. 28398; Skizzenalbum, 1910–11, 42,5 × 27,3 cm, 18 Blätter (davon drei leer), STG, Moskau, Inv. 28390. Siehe: Grabar/Vlasov, in: Grabar 1965, S.446–448 und S. 471. 1593 Диана и Актеон. Эрот, Аполлон и Дафна. Венера, 1910–11, Kohle auf Karton, 70 × 101 cm, STG, Moskau, Inv. P-807.

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Diese schnellen, lockeren, stilistisch und kompositionell sehr unterschiedlichen Vorzeichnungen zeigen, wie gekonnt der Künstler mit dem Formenvokabular spielte. So zeichnet sich eine Skizze zu Diana und Actaeon1594 (1911) durch Asymmetrie, geschwungene Arabesken und leuchtende Farben aus, in denen sich moderne Tendenzen der Zeit wiederfinden. In einer anderen Version des gleichen Themas (Diana und Actaeon1595, 1911) entschied sich Serov wiederum für eine symmetrische, durch Vegetation, Hirsche und Voluten gerahmte Komposition, manieristische Formen und ruhige Blau- und Ockertöne, die an die Malerei der Hoch- und Spätrenaissance erinnern. In einer weiteren Studie zog er den Bildraum friesartig in die Breite, rahmte ihn oben und unten durch strenge Architekturelemente, teilte ihn mittels Pfeiler in drei fast quadratische Bereiche auf und gestaltete die Figuren als drahtige, en face und in Profil gesetzte Silhouetten, wie sie von antiken Vasen bekannt sind (Apoll und Diana töten die Niobiden1596, 1911). Die Ideenvielfalt und die Leichtigkeit der technischen Ausführung dieser Studien lassen erahnen, dass sich der Künstler nach seinem beeindruckenden Bühnenbild für Rimski-Korsakovs Scheherazade (1911) mit diesem Projekt endgültig als monumentaler Maler hätte behaupten können. Sein plötzlicher Tod in Folge eines Stenokardieanfalls am 22. November 1911 verhinderte die Verwirklichung dieses vielversprechenden Projekts. Ida Rubinstein (1910) im Kontext japanischer Kunst Das Aktbildnis von Ida Rubinstein1597 (1910, Taf. XII) ist mit Abstand das außergewöhnlichste Porträt, das Serov je erschaffen hat.1598 Ebenso außergewöhnlich war die Frau, die er malte. In ihrer Exzentrik, narzisstischen Selbstbewunderung und Gleichgültigkeit gegenüber Moralkonventionen und gesellschaftlicher Rollenverteilung übertraf sie die Kühnsten ihrer Zeitgenossen. Ida Lvovna Rubinstein1599 (1885?–1960) entstammt einer reichen jüdischen Bankierfamilie aus Kharkov. Da sie ihre Eltern in früher Kindheit verloren hatte, wuchs sie in der Obhut ihrer Tante, Madame Horwitz, in St. Petersburg auf.1600 In deren kultiviertem Umfeld erhielt sie eine exzellente Bildung, lernte mehrere Sprachen und bekam – wie die 1594 Диана и Актеон, 1911, Aquarell, Gouache, schwarzer Stift auf Papier, 27,8 × 18,8 cm, STG, Moskau, Inv. P-15789. 1595 Диана и Актеон, 1911, Aquarell, Bleistift auf Papier, 43 × 26,8 cm, STG, Moskau, Inv. 11308. 1596 Диана и Аполлон, убивающие детей Необеи, 1911, Aquarell, Weiß, bronzene Farbe, schwarzer Stift auf Papier, 25,5 × 45,7 cm, STG, Moskau, Inv. 11309. 1597 Ида Рубинштейн, 1910, Bleistift auf Papier, 26,6 × 42,5 cm, STG, Moskau, Inv. 11313. 1598 Tanja Malycheva, East and West, Past and Present: the Manifold Iconographic Code in Valentin Serov’s Portrait of Ida Rubinstein (1910), in: In Memoriam: Dmitry Vladimirovich Sarabyanov, Experiment. A Journal of Russian Culture, Bd. 23, hg. von Isabel Wünsche, Sebastian Borkhardt und Tanja Malycheva, Leiden: Brill: 2017, S. 55–65. 1599 Samkov/Silberstein nennen 1880 als Geburtsjahr, Kridl Valkenier 1883 und Woolf 1885. Siehe: Samkov/ Silberstein 1971, Bd. 1, S. 73, Anm. 32; Vicki Woolf, Dancing in the Votex: The Story of Ida Rubinstein, Amsterdam: Hardwood Academic, 2000, S. 157; Kridl Valkenier 2001, S. 204. 1600 Zur Biografie von Ida Rubinstein siehe: Woolf, 2000, S. 3–16, S. 157; Kridl Valkenier 2001, S. 204–211.

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anderen vornehmen jungen Damen – regelmäßig Ballettstunden. Trotz der Verbote ihres Vormunds widmete sie dem Tanzen immer mehr Zeit und versuchte sich – ohne Erfolg – im Schauspielunterricht bei Konstantin Stanislavsky und Vsevolod Meyerhold.1601 Im Rahmen einer privaten Wohltätigkeitsveranstaltung tanzte sie 1904 den Hauptpart in Sophokles’ Antigone (442 v. Chr.), einem Stück, das sie selbst produzierte. Die Kostüme dafür ließ Rubinstein von Léon Bakst entwerfen, den sie unangemeldet in seinem Atelier aufgesucht und davon überzeugt hatte, ihr Projekt zu unterstützen. Bakst war auch derjenige, der sie dem Starchoreografen des Mariinski Theater Mikhail Fokine vorstellte, der zu ihrem Mentor wurde.1602 Rubinsteins Wunsch, eine Theaterkarriere zu beginnen, stieß bei ihrer – auf dem Feld des Mäzenatentums sehr engagierten – Familie auf vehementen Protest. Ihr Schwager erklärte sie für geistesgestört und wies sie in die psychiatrische Anstalt von St. Cloud ein.1603 Diese Entscheidung schien zunächst Früchte zu tragen, da die junge Frau sagte, dass sie und ihr Cousin Vladimir Horwitz heiraten würden. Sobald sie aber die Kontrolle über ihr riesiges Erbe übernahm, fuhr sie nach Palästina, wo sie in der Exotik des Orients nach neuen Anregungen für ihre Kunst suchte und mit einem syrischen Prinzen in ihrem Zelt dinierte. Als Sergei Diaghilev 1909 die Ballets Russes plante, wurde Rubinstein neben Fokine, Pavlova und Nijinsky zu einem der Hauptakteure dieses grandiosen Spektakels. Sie spielte die Hauptrolle in Kleopatra, einem choreografischen Drama in einem Akt zu Musik von Glazunov, Glinka, Mussorgsky und Rimsky-Korsakov (Léon Bakst, Kostümentwurf für Ida Rubinstein als Kleopatra1604, 1909). Als Teil der Werbekampagne für das Stück lancierte Diaghilev in Paris Skandalgeschichten über eine junge geheimnisvolle Gesellschaftsdame, die nackt auf der Bühne auftreten würde.1605 Für Kleopatra wurde Rubinstein – groß gewachsen, extrem dünn, kantig, mit langen Beinen – türkisblau bemalt und zog sich in der Szene des Liebesaktes zwischen der ägyptischen Königin und Amune, gespielt von Nijinsky, in der Tat fast vollständig aus.1606 Nach diesem Auftritt stellte Rubinstein, die als einzige in der Truppe keine professionelle Theaterausbildung hatte, sogar Pavlova in den Schatten.1607 Einen noch größeren Erfolg feierte sie im darauffolgenden Jahr als Zobeida in Rimski-Korsakovs Scheherazade.1608

1601 Kridl Valkenier 2001, S. 204. 1602 Kridl Valkenier 2001, S. 204f. 1603 Woolf 2000, S. 17f. 1604 Costume design for Cleopatra, for Ida Rubinstein, 1909, Aquarell, Bleistift auf Papier, 28 × 21 cm, Slg. Nikita und Nina Lobanov-Rostovsky, London. 1605 Nach Benois (1990, Bd. 2, S. 471) hielten Diaghilev und Fokine sogar vor ihm Rubinsteins Identität geheim. 1606 Woolf 2000. S. 31. 1607 Benois, Bd. 2, 1990, S. 469. 1608 Nach Benois (1990, S. 503) brachte Scheherazade in dem Jahr die größten Einnahmen.

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Das Drama erzählte, wie der Schah (Alexei Bulgakov) seine Gattin, Königin Zobeida, bei der Liebesorgie mit dem schwarzen Goldenen Sklaven (Nijinsky) sowie F ­ rauen und Odalisken in seinem Harem überraschte.1609 Darauf ließ der Schah den gesamten Harem von seinen Wachen exekutieren, doch Zobeida kam ihm zuvor, indem sie sich selbst mit einem Dolch tötete. Über diese Vorstellung der Tänzerin sagte Serov begeistert: „Die Monumentalität ist in jeder ihrer Bewegungen – einfach ein lebendig gewordenes archaisches Bas­relief!“.1610 Daraufhin fragte er Rubinstein an, für ihn nackt zu posieren, und sie willigte ein. Wie einst Ingres’ Große Odaliske (1814) und Manets Olympia (1863) in Frankreich, löste Serovs Bildnis von Ida Rubinstein in Russland einen Skandal aus. Allerdings empörte die russischen Kritiker die neue Formsprache des Künstlers viel mehr als die Tatsache, dass das Gemälde eine Gesellschaftsdame, die bereits im Vorfeld mit ihrem ‚unmoralischen‘ Verhalten für Aufregung gesorgt hatte, nackt abbildete. Repin, der das Bild 1911 in der E ­ sposizione Internazionale di Belle Arti in Rom sah, bezeichnete es als eine „galvanisierte Leiche“ – eine Meinung, die zahlreiche russische Künstler und Kritiker, darunter Kustodiev und Yuon, teilten.1611 Zugleich wurde das Gemälde von einer ganzen Reihe von Kunst- und Kulturschaffenden wie Benois, Golovin, Ostroukhov, Goloushev und Yaremich als eine der besten Schöpfungen des Malers gefeiert.1612 Als es vom Museum Alexander III. erworben wurde, verlangten viele einflussreiche Gönner des Hauses lautstark, es aus der Schausammlung zu entfernen.1613 Serov genoss die Aufregung. Im Oktober 1911 schrieb er an Maria Tsetlin:

1609 Woolf, 2000, S. 41f. 1610 „Монументальность есть въ каждомъ ея движенiи, – просто ожившiй архаическiй барельефъ!“ Serov, zit. nach: Grabar, 1914, S. 218. 1611 „ гальванизированный труп“, Ilya Repin, O dvukh dekadenstvakh – vizantiiskom i nashego vremeni, in: Mir, 1912, Nr. 1, S. 69f., hier S. 70. Die gleiche Meinung äußerte Repin in einem anderen Artikel, siehe: ders., [O portrete Idy Rubinstein], in: Put, 12.1912, Nr. 2, S. 38f., zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 44–46, 89f. Siehe auch.: Konstantin Pervukhin, Tagebuchaufzeichnungen vom 5.10.1911, in: RGALI, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd.  2, S.  110; Isai Rosenberg [Bruder von Léon Bakst], Eskizy i kroki, 1911–14, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 444–449, hier S. 447; N. Breshko-Brechkovsky, Valentin Serov, in: Birzhevyie novosti, 24.11.1911, Nr. 12650, zit. in: Samkov/Silbertein 1971, Bd. 2, S. 547f., hier S. 548; Boris Kustodiev an Feodor F. Notgraf am 16.3.1912, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 98f., Nr. 5; Konstantin Yuon, Realism i ego khudozhestvennyie formy, in: Iskusstvo, 1948, Nr.  3, S.  76; Grabar 1965, S. 234–236. 1612 Alexandre Benois, Vystavka sovremennogo iskusstva v Rime, in: Rech, 12.5.1911, Nr. 128; Ilya Ostroukhov an Dmitry I. Tolstoy vom 29.11.1911 aus Moskau, in: SRM/QS, auszugsweise zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 273, Nr. 53 und S. 303, Anm. 72, 73; Sergei Mamontov, Chego my lishilis v Serove?, in: Rampa i Zhizn, 18.12.1911, Nr. 51, S. 7, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 1, S. 174f., hier S. 175; Sergei Goloushev, Khudozhestvennaia lichnost Serova, in: Izvestiia obshsestva prepodavatelei graficheskikh iskusstv v Moskve, 1911, Nr. 10, S. 470–78, zit. in: Samkov/Silberstein 1971, Bd. 2, S. 12–24, hier S. 18, 20; Sergei Yaremich, Lichnost Serova, in: Rech, 13.1.1914, Nr. 12; Dmitriiev 1914, S. 15; Grabar 1914, S. 219; Ernst 1921, S. 71; Golovin 1960, S. 33. 1613 Olga Orlova übergab ihr eigenes Bildnis dem Museum unter der Bedingung, dass es nie zusammen mit Ida Rubinstein in einem Saal ausgestellt werde. In: Kruglov, in: Petrova 2005, S. 23, Anm. 13.

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Ostroukhov erzählte mir übrigens über ihr Vorhaben, meine arme Ida zu beherbergen, sollte sie, arme, nackt aus dem Museum Alexander III. auf die Straße gesetzt werden. Na ja, ich hätte da sicherlich keine Einwände […] Übrigens, es ist anzunehmen, dass der Museumsdirektor Graf Dmitry Tolstoy, der entschied, im Falle eines solchen Skandals zurückzutreten, sie persönlich am Arm geleiten wird. Solche Skandale gibt es […] Ich bin froh [darüber], denn in meinem Inneren bin ich streitsüchtig und in der Wirklichkeit eigentlich auch.1614 Das besagte Porträt entstand im Sommer 1910 in Paris, in der Kapelle der Sacré-Coeur de Jésus (heute eine Filiale des Musée Rodin), wo der Künstler ein Atelier mietete.1615 Er stellte sein nacktes Modell halb sitzend, halb liegend auf einem Bett dar und knüpfte damit an das Bildmotiv der Odaliske1616 an, welches für eine Frau, die sich auf der Bühne in einem Harem der Liebe hingab, wie geschaffen schien. In der westeuropäischen Malerei war das Motiv der Odaliske1617 schon im Werk von François Boucher (Odaliske1618, 1745?) präsent und fand zunächst in Frankreich im frühen 19. Jahrhundert eine weite Verbreitung, wo es unter anderem von Ingres (Große Odaliske, 1814) und Delacroix (Odaliske1619, ca. 1825) häufig aufgegriffen wurde. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert machten sowohl Salonmaler wie Benjamin Constant (Odaliske, die sich dehnt1620, ca. 1870) oder Gérôme (Bad in einem Harem1621, ca. 1876) als auch die Modernisten wie Manet (Odaliske1622, ca. 1862–68), Renoir (Schlafende Odaliske1623, 1915–17) und Matisse (Lagernde Odaliske in türkischer Hose1624, 1920/21) die Odalisken zum Gegenstand ihrer Arbeiten. In allen diesen Darstellungen wird die Frau oft in der exotischen Umgebung eines ­Harems oder eines Sklavenmarktes situiert und nackt – bzw. mit Puderhosen und durch-

1614 „Остроуховъ мнѣ между прочимъ говорилъ о вашемъ намѣренiи прiютить у себя бѣдную Иду мою Рубинштейнъ, если ее, бѣдную, голую, выгонятъ изъ музея Александра III на улицу. Ну, что же, я, конечно, ничего не имѣлъ бы противъ [...] Впрочемъ, надо полагать, ее подъ ручку сведетъ самъ директоръ музея графъ Д. И. Толстой, который рѣшилъ на случай сего скандала уйти. Вот какiе бываютъ скандалы […] Я радъ, ибо въ душѣ – скандалистъ –, да и на дѣлѣ, впрочемъ“, Serov an Maria Tsetlin nach 20.10.1911 aus Moskau, Verbleib unbekannt, zit. in: Grabar 1914, S. 220. 1615 Ernst 1924, S. 71f., Anm. 2. 1616 Odalisken [frz. odali(s)que, von türk. odalik, zu oda >Zimmer