Urteilen lernen II: Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs 9783737002196, 9783847102199, 9783847002192

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Urteilen lernen II: Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs
 9783737002196, 9783847102199, 9783847002192

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Ingrid Schoberth (Hg.)

Urteilen lernen II Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs

Mit 5 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0219-9 ISBN 978-3-8470-0219-2 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Manfred-Lauterschläger-Stiftung. Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Ingrid Schoberth Einleitung: Urteilen lernen. Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs .

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Erster Teil: Ästhetische Dimension des Urteilen lernen Wolfgang Schoberth Geschmacksurteil und moralische Intuition

. . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans Günther Ulrich Sinn und Geschmack für Gottes Willen. Zum theologischen Verständnis des Urteilens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martin Hailer Urteilen lernen durch Habitus-Erwerb? Vorüberlegungen zu einer evangelischen Tugendethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Juliane Lamprecht und Eva-Marie Ulrich Urteilsbildung und Einbildungskraft. Zum Fremden im Geographieunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ingrid Schoberth Urteilen lernen am Kunstwerk. Zur ästhetischen Dimension des Einübens von Urteilskompetenz in religiösen/ethischen Bildungsprozessen . . . . . 125 Silke Reiser-Deggelmann 100 Jahre Das Urteil: Eine Begegnung in der Schwebe mit Franz Kafka . . 147

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Inhalt

Konstantina Papathanasiou De gustibus et erroribus. Transzendentale Ästhetik und strafrechtliche Irrtumslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

Zweiter Teil: Politische und eschatologische Dimension des Urteilen lernen Christiane Tietz Moralisches Urteilen in der Polis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Nadine Sauber Urteilen als Vollzug des Offenbarwerdens der Wahrheit. Dietrich Bonhoeffer und das Wagnis des Urteilens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Gerhard Dannecker Die Öffentlichkeit von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Urs Espeel Das prophetische Moment des Urteilens

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Josef Wohlmuth »Die Zeit ist kurz« (1 Kor 7,29). Verantwortlich leben und handeln in messianischer Zeit bei Giorgio Agamben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Ingrid Schoberth Moralische Bildung durch Zustimmung. Ein Versuch zu verstehen, wie ethisches Lernen sich vollzieht verbunden mit einer empirisch qualitativen Untersuchung ethischen Lernens im Religionsunterricht an einer beruflichen Schule am Beispiel der Friedensethik . . . . . . . . . . 293 Silke Reiser-Deggelmann »Paradies und Hölle kann man auch auf dieser Welt haben.« Irritationen des Menschseins dargestellt an Franz Kafkas Roman Der Prozess . . . . . 329 Bilderverzeichnis und Genehmigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Ingrid Schoberth

Einleitung: Urteilen lernen. Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs

1.

Zur Fragestellung

Moralische Urteilsbildung hat ihre je besonderen und eigenen Facetten, die aber nicht unmittelbar auf der Hand liegen. Vielmehr eröffnen sie sich erst im interdisziplinären Diskurs, ohne den die zahlreichen Perspektiven und Blickwechsel gar nicht in den Blick kommen würden, die dem moralischen Urteilen anhaften. Der vorliegende Band zum Urteilen lernen geht dem nach und dokumentiert die spannungsvollen Facetten, die das moralische Urteilen zu entfalten vermag. Diese Veröffentlichung ist nicht ohne Bezug zur ersten Veröffentlichung zum Urteilen lernen,1 die nach der Grundlegung und den Kontexten ethischer Urteilsbildung fragt. Insofern nehmen die hier vorgelegten Perspektiven ihren Ausgangspunkt bei der Grundlagenreflexion und erweitern und vertiefen die wissenschaftliche Reflexion, indem das Urteilen nun in ästhetischer wie in politischer Hinsicht bearbeitet werden soll. Die moralisch ethische Reflexion wird dabei durch die theologische Reflexion erweitert, indem der eschatologische ›Rand‹ des Urteilens aufgesucht wird, der eine eigene, ganz spezifische Reflexion eröffnet und im interdisziplinären Kontext das Proprium einer theologischen Wahrnehmung des Urteilens herauszustellen ermöglicht, das dem Thema eine eigene Weite und Tiefe verleiht. In ästhetischer Hinsicht soll das Urteilen in seinem Bezug auf eine gute Gestalt des Lebens wahrgenommen und betrachtet werden. Das gute Leben begegnet im Geschmack, der das Urteilen formt. Er teilt sich mit in der Kunst, dem immer neuen Versuch eines Vorscheins auf das gute Leben. Kunst streckt sich nach dem guten Leben in Spuren aus und fordert in der Wahrnehmung und also Begegnung den Betrachter heraus, sich gerade nicht mit den vermeintlichen Tatsachen des Lebens zufrieden zu geben; dann ist Kunst immer neu und immer wieder 1 Urteilen lernen. Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung; hg. von Ingrid Schoberth, Göttingen 2012.

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Ingrid Schoberth

provokativ, dass sie immer neu das Heilsame für das Leben entdecken zu lernen verpflichtet. In ganz eigener Weise wird das erlebbar und wahrnehmbar mit dem Kunstwerk Guernica von Pablo Picasso; in der Wahrnehmung dieses Bildes lässt sich die Sehnsucht nach dem guten Leben in seiner ganzen Gebrochenheit erspüren; an ihm eröffnet sich eine Erkundung, die den Betrachter mit seiner Sehnsucht nach dem guten Leben nicht allein läßt; es präsentiert Spuren dahin, indem es aufbegehrt gegen Krieg und Unrecht. Es wird in ästhetischer Hinsicht zu einem Symbol der Sehnsucht. An diesem Kunstwerk tut sich auf, was für ein Lernen des Urteilens unerlässlich ist: die Dimension des Ästhetischen, die die Wahrnehmung des guten Lebens eröffnet und zugleich vertieft. Die Ambivalenz im Ästhetischen selbst darf dabei nicht übergangen werden; in der Perversion des Politischen ist das abzulesen;2 auch an ihr scheint etwas auf von dem, was die ästhetische Dimension des Urteilens bestimmt: Ihre Wahrnehmung drängt hin zum Politischen, freilich immer so, dass es zu aufmerksamer und zugleich notwendig kritischer Auseinandersetzung herausfordert. Demgegenüber schlägt die eschatologische Dimension des Urteilens einen anderen, vielleicht neuen aber unumgänglichen Ton an; sie führt vor Augen, was sich der Realisierung noch entzieht, aber verheißungsvoll versprochen ist: die Hoffnung auf Überwindung der Tatsachen, die das gute Leben verschleiern und die doch im Urteilen Raum schaffen für neue Perspektiven, Urteile beeinflusst und ihnen eine eigene Kontur zu geben vermag. Diese nun zweite Monographie zum Urteilen lernen will den Facetten des Urteilens in ästhetischer, politischer und eschatologischer Hinsicht nachgehen. Mit der genauen Analyse der Modi der Wahrnehmung soll eine differenzierte Vorstellung von den Bedingungen gewonnen werden, die das Urteilen ermöglichen bzw. Raum für das Urteilen schaffen. Im Fokus der vorliegenden Überlegungen steht dabei die Reflexion der Aufgabe, ins Urteilen einzuüben, wobei dieser Fokus erst in seiner Vernetzung mit den facettenreichen und interdisziplinären Fragestellungen deutlich und genau umrissen werden kann. Es ist also zu fragen, in welcher Hinsicht das Urteilen in ästhetischer, politischer und eschatologischer Perspektive wahrgenommen werden kann? Was zeigt sich in diesen Perspektiven? Wird daran deutlich, worum es einem Lernen zu tun ist, das sich auf ästhetische Eindrücke und ästhetisch angeregte Vermittlungen verlässt, das sich zugleich aber auch seiner politischen und also öffentlichen Gestalt bewußt ist und zudem nach der Zukünftigkeit des Urteilens fragt, das freilich mehr beinhalten muss als bloß eine utopische Idee zu sein, die über das Heute hinausweist? 2 Reichel, Peter : Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München, Wien 1995.

Einleitung: Urteilen lernen

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Welchen Beitrag die eschatologische Orientierung des Lebens und Handelns der Gläubigen ausmacht wird in diesem Zusammenhang in besonderer Weise zu würdigen sein, da es der politischen Dimension des Urteilens eine eigene Ausrichtung gibt. Die eschatologische Dimension christlichen Glaubens konturiert die Orientierung auf das gute Leben in eigener Weise; dabei kann die enge Verwobenheit von christlichem Glauben und politischer Existenz deutlich machen, welche Bedeutsamkeit der eschatologischen Dimension zukommt. Dieser Diskurs bleibt dabei immer ein notwendig kritischer. Die ästhetische und politische Dimension erfährt in dieser Wahrnehmung eine Erweiterung und Vertiefung und schafft so die Möglichkeit, die Tiefe und Weite der Wirklichkeit des guten Lebens auszuloten. In dieser Hinsicht sind darum auch Bildungsprozesse, die sich dieser Perspektiven bedienen, dazu geeignet, moralische Urteilsbildung zu unterstützen und ihr eine eigene Kontur zu geben. Das wird dann möglich, wenn die Lernund Lehraufgabe in vielperspektivischer Weise beschrieben wird und entsprechend auch Lernwege erarbeitet und ermöglicht werden, die in die Einübung des Urteilens führen. In anderem Zusammenhang macht Martina Blasberg-Kuhnke auf die Notwendigkeit solcher Lernwege aufmerksam und arbeitet die methodischen Möglichkeiten für solche Einübung ins Urteilen heraus: »Unterscheidungen anstellen, Urteile bilden, Pläne erwägen, Vorschläge realisieren, Sanktionen beschließen und durchführen, moralische Gefühle ausdrücken, in Rollenspielen in die ›Haut anderer Schlüpfen‹, Verantwortung erkennen und übernehmen.«3

Damit Schülerinnen und Schülern die Unterstützung widerfährt, urteilsfähig zu werden, indem ihnen Wege der Einübung ins Urteilen angeboten werden, braucht es Reflexionen, die die Wege der Ausbildung des Urteils und die Befähigung zum Urteilen erörtern und kritisch untersuchen. In dem vorliegenden Zusammenhang soll dabei deutlich werden, warum es die ästhetischen, politischen und eschatologischen Dimensionen sind, die eine besonders geeignete Weise sind, ethische Urteilsbildung differenziert zu erfassen. Zwei wissenschaftliche Tagungen, die im Sommer 2010 und 2011 in Heidelberg stattgefunden haben, haben sich das bereits zur Aufgabe gemacht. Die Fortsetzung der Tagungsreihe im Sommer 2012 und 2013 stellt nun dar, wie dem Urteilen lernen auf die Spur zu kommen ist, wenn weitere bisher noch nicht aufgegriffene und reflektierte Dimensionen eine Rolle spielen: Die Dimensionen des Ästhetischen, des Politischen und des Eschatologischen. Der vorliegend Band Urteilen lernen II dokumentiert die Ergebnisse dieser 3 Blasberg-Kuhnke, Martina: Die Entwicklung des moralischen Urteils im Lebenslauf; in: Werte-Erziehung und Schule. Ein Handbuch für Unterrichtende, hg. von Reinhold Mokrosch und Arnim Regenbogen, Göttingen 2009, 146 – 153, 152.

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Tagungen, die damit einer notwendigen, auf die moralische Urteilsbildung ausgerichteten Bildungsaufgabe nachgegangen sind: Die Einübung ins Urteilen und die Unterstützung der Befähigung zu Urteilskompetenz von Kindern und Jugendlichen in facettenreicher Hinsicht. Die Manfred-Lautenschläger-Stiftung macht es diesmal wieder möglich, im Rahmen einer wissenschaftlichen Tagungsreihe (2010 bis 2014) kontinuierlich am Thema Urteilen lernen zu arbeiten. Die Ergebnisse der dritten und vierten Tagungen, die 2012 und 2013 in Heidelberg stattgefunden haben, werden nun in diesem zweiten Sammelband zum Thema Urteilen lernen veröffentlicht. Verbunden mit großem Dank für die Förderung wird darum diese zweite Veröffentlichung die weiteren Ergebnisse der Tagungsreihe dokumentieren. Ich bin sehr dankbar über diese Möglichkeit, an einem so dringlichen Thema über die Perspektiven moralischer Urteilsbildung am Lehrstuhl Praktische Theologie/Religionspädagogik in Heidelberg im Diskurs mit Kolleginnen und Kollegen, mit Doktorandinnen und Doktoranden weiterarbeiten zu können. Dank gilt auch dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen, der die Veröffentlichung übernommen hat. In großzügiger Weise hat die Manfred-LautenschlägerStiftung auch den Druckkostenzuschuss übernommen.

2.

Notwendigkeit des Urteilen lernen

Angesichts der jetzt-dringlichen Herausforderungen in vielfältigen Lebenskontexten, die zum Urteilen drängen und gleichsam das Urteilen zu einer anthropologischen Grundaufgabe des Menschseins werden lassen, sehen sich Bildung und Erziehung und mit ihr religiöse Bildung und Erziehung herausgefordert, Lernwege anzubieten, die dieser Befähigung zu ethischem Urteilen und also ethischer Urteilskompetenz zuarbeiten. Insofern wurde im wissenschaftlichen Kontext der Tagungen versucht, die Praxis der Einübung ins Urteilen nicht aus den Augen zu verlieren. Darum sind auch hin und wieder konkrete Ideen zu Lernprozessen dargestellt, die ein Verständnis und also Profilierung der Aufgabe moralischer Bildung verdeutlichen sollen. Die Bildungsaufgabe, die sich in der Gegenwart stellt, ist also auch in didaktischer Hinsicht auszuloten. Welche Wege sind zu gehen, um die Lernenden, die Schülerinnen und Schüler, darin zu unterstützen, das je eigene Urteilen genauer zu reflektieren? Was trägt und bildet das Urteilen aus? Woran orientiere ich mich, wenn ich urteile? Diese Bildungsaufgabe ist nicht nur auf den je Einzelnen bezogen, sondern greift auch aus auf eine gemeinsame Praxis des Lebens und Handelns; um des gemeinsamen Lebens willen provoziert darum eine Beschäftigung mit den Wegen der Urteilsfindung bzw. Urteilsbildung auch ein

Einleitung: Urteilen lernen

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Engagement für das gemeinsame Leben und damit verbunden die Einübung der Nächstenschaft.

3.

Ein nicht bloß assoziativer Bezug auf Franz Kafka

Darum wird diese Veröffentlichung gerade auch nicht bloß zufällig die Reflexion und das Nachdenken aufsuchen, die das literarische Vermächtnis von Franz Kafka bestimmen: Kafka führt durch die Destruktion von Leben hindurch und greift auf ihre Überwindung aus. Dabei wird die bedrängende Ambivalenz deutlich, die dem Urteilen anhaftet: Was Urteile bedingen und welcher Ernst jedem Urteil anhaftet, zeigt seine Novelle Das Urteil. Kafka erinnert literarisch an die Machtkonstellationen von Beziehungen und verweist auf Abhängigkeiten, die selbstbestimmtes und urteilfähiges Leben verhindern und zerstören. Das Urteil des Vaters über den Sohn ist ein Urteil zum Tode, ein Urteil, das nicht zum je eigenen bzw. gemeinsamen Leben befreit, sondern das Leben des Protagonisten zerstört. Hannah Arendt macht mit ihren Reflexionen zu Kafka auf die Helden seiner Erzählungen aufmerksam: »Der Antrieb der Kafkaschen Helden sind nicht irgendwelche revolutionären Überzeugungen; es ist einzig und allein der gute Wille, der, fast ohne es zu wissen oder zu wollen, die geheimen Strukturen dieser Welt bloßlegt.«4 Hannah Arendt erkennt in Kafka den Paria, der in seinem »Pariadasein«5 den Ausdruck der dichterischen Version »von dem Schicksal eines Menschen, der nichts ist als einer, der guten Willens ist«6 erkennen lässt. Im und mit dem Pariadasein verbindet sich noch die letzte Chance auf Überwindung, die freilich vom Schmerz des Ungelebten bestimmt ist: »Denn dies ist die größte Wunde, welche die Gesellschaft von eh und je dem Paria, welcher der Jude in ihr war, schlagen konnte, ihn nämlich zweifeln und verzweifeln zu lassen an seiner eigenen Wirklichkeit, ihn auch in seinen eigenen Augen zu dem ›Niemand‹ zu stempeln, der er für die gute Gesellschaft war.«7

4 Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition. Essays; 1. Aufl. Frankfurt am Main 1976, 100 – 101. 5 A.a.O., 47. 6 A.a.O., 48. 7 A.a.O., 63. Auf die Suche Kafkas nach der eigenen Identität in der Erfahrung der Assimilation machen die Überlegungen von Helmut Kiesel aufmerksam: »Auch ist zu bedenken, dass der Prager Autor Kafka, der sich wahrlich Mühe gab, sich seines Judentums bewußt zu werden, ein authentisches jüdisches Selbstverständnis stark in Frage stellte und sich selber einmal ausdrücklich als den ›westjüdischeste(n)‹ aller ihm bekannten ›Westjuden‹ bezeichnete. Daraus ist wohl zu folgern, daß es Judentum im Kontext der europäischen Moderne nur als (west) europäisch und modern gebrochenes oder überformtes Judentum gab – was die Rede von der ›jüdische(n) Identität der (expressionistischen) Epoche‹ zusätzlich in Frage stellt.« (Kiesel,

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Diese Beschreibungen von Existenz bestimmen die Modelle von Leben, die Kafka in seinen Romanen und Novellen darzustellen sucht und die Kafkas »neue aggressive Art des Nachdenkens«8 über die Gesellschaft ausdrückt. Das Ringen um das menschliche Leben, das Ringen um die, die guten Willens sind, bleiben die bestimmenden Momente seiner literarischen Reflexionen: »Seine Romane sind eine solche antizipierte Destruktion, durch deren Ruinen er das erhabene Bild des Menschen als eines Modells des guten Willens trägt, der wahrhaft Berge versetzen kann und Welten erbauen, der die Zerstörung aller Fehlkonstruktionen und die Trümmer aller Ruinen ertragen kann, weil ihm die Götter, wenn er nur guten Willens ist, ein unzerstörbares Herz gegeben haben.«9

Diese literarischen Eindrücke hinterlassen Spuren und bestimmen das Nachdenken über das Urteilen, weil sie nach dem Menschen zu fragen aufgeben, der guten Willens ist. Wodurch macht er sich erkennbar und wodurch läßt er sich formen? Wie bildet sich unter den Bedingungen des guten Willens ein Urteil aus? Was also heißt ›guter Wille‹? Ist der gute Wille die Voraussetzung des Urteilens um des guten Lebens willen? Ist er gleichsam eine Plattform, auf der dann das Urteilen aufruhen kann, eine erste Ahnung, die ins Urteilen führt, um des guten auch gemeinsamen Lebens willen? Von Kafka ausgehend kommt die Bildungsaufgabe in ihrer ganzen Dringlichkeit in den Blick, soll sie eben gerade nicht Unfreiheiten10 und Abhängigkeiten befördern, weder ausgrenzen noch beengen, sondern – wenn man so will – in selbstbestimmte Abhängigkeiten führen, auf die Harry G. Frankfurt aufmerksam gemacht hat: »Denn einem solchen Ideal von Selbstbestimmung liegt die These zugrunde, dass es gut für uns ist, wenn starke Bindungen unser Handeln bestimmen.«11 Um dem inne zu werden, ist es darum auch in Bildungsprozessen notwendig,

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Helmut: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, 79). A.a.O., 65. A.a.O., 106. Vgl. auch a. a. O., 71: »Seine Genialität, ja seine spezifische Modernität war es gerade, daß sein Vorhaben nur darauf ging, ein Mensch unter Menschen, ein normales Mitglied einer menschlichen Gesellschaft zu sein. Es war nicht seine Schuld, daß diese Gesellschaft keine menschliche mehr war, und daß der in sie verschlagene Mensch, wenn er guten Willens war, wie eine Ausnahme, wie ein ›Heiliger‹ – oder wie ein Irrsinniger wirken mußte.« Vgl. dazu Meyer-Ahlen, Stefan: Ethisches lernen. Eine theologisch-ethische Herausforderung im Kontext der pluralistischen Gesellschaft; Paderborn u. a. 2010, 112: »Nicht aus Zwang, sondern aus der freiwilligen Bereitschaft entsteht echte Wertorientierung. Religion muss deshalb diese Dimension der Freiheit offen halten und ermöglichen.« Meyer, Kirsten: Bildung; Berlin/Boston 2011, 24 in Bezug auf die Überlegungen von Frankfurt, Harry G.: »On Caring«; in: ders.: Necessity, Volition and Love, Cambridge 1999, 174.

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nicht nur die Urteile auszuloten und kritisch gegen alternative Urteile abzuheben, sondern auch immer wieder neu nach den starken Bindungen zu fragen, die es den Einzelnen erlauben, in einer bestimmten Hinsicht zu urteilen und dabei andere Perspektiven und Bewertungen außer Acht zu lassen bzw. sich davon abzusetzen.12

4.

Vom Auffinden befreiender und tragfähiger Urteile

Die selbstreflexive Aufgabe ethischer Urteilsbildung ist gerade im Zusammenhang des Einübens ins Urteilen grundlegend, weil nur so deutlich wird, »von welchen Grundüberzeugungen sich Menschen tatsächlich leiten lassen.«13 Befreiende und tragfähige Urteile im eigenen Leben zu finden wie für das gemeinsame Leben und Handeln auf solche befreiende und tragfähige Urteile zu vertrauen – damit wären die Perspektiven benannt, die sich im Kontext der literarischen Klärungen mit Kafka auftun. Sie bilden den Horizont der Bildungsund Erziehungsaufgabe, der in interdisziplinärer Hinsicht weiter nachgegangen werden soll: Bildungsprozesse sind darum so anzulegen, dass sich Orientierungen eröffnen, die auf ein humanes gemeinsames Leben ausgerichtet sind. Insofern wäre darum das gute Leben als der Rahmen zu verstehen, der es möglich macht, dass befreiende und tragfähige Urteile sich ausbilden können. Gerade deshalb aber ist Bildung »ein gewagter, offener, stets gefährdeter und korrekturbedürftiger Prozeß«14, damit auch das pädagogische bzw. unterrichtliche Handeln der Dynamik der Einübung ins Urteilen Raum gibt. Einem so verstandenen Bildungsbegriff haftet darum Politisches an, Politisches in dem Sinne, dass das befreite und tragfähige Einüben ins Urteilen sowohl dem Urteilenlernen des Einzelnen dient wie auch zu einer gemeinsam geteilten Kompetenz des Urteilens befähigt. In der Einübung wird nicht ein fest umrissenes Urteil und auch kein Kanon von Urteilen gelernt, sondern die Prozesse der Urteilsbildung selbst thematisiert und schließlich an konkreten Herausforderungen erprobt, welche Beurteilung sich als befreiendes bzw. tragfähiges Urteil bestimmen lässt. Moralisches Lernen, das darauf basiert, kann darum wiederum nur in kreativen Unterrichtsverfahren 12 Vgl. dazu Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main 1996. 13 Schweitzer, Friedrich: Wie entstehen Werte und Normen? Religionspädagogische Aspekte; in: Werte und Normen im beruflichen Alltag. Bedingungen für ihre Entstehung und Durchsetzung; hg. von Rebekka Klein und Björn Görder, Münster 2011, 13 – 23, 19. 14 Peukert, Helmut: Zur Neubestimmung des Bildungsbegriffs; in: Bildungsgangdidaktik. Denkanstöße für pädagogische Forschung und schulische Praxis, hg. von Meinert A. Meyer und Andrea Reichartz, Opladen 1998, 17 – 29, 29.

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eingeübt werden; nur so entsprechen sie dann auch der prozesshaften Gestalt einer Ausbildung von starken Wertungen. Dietrich Zilleßen hält dazu in überzeugender Weise die kritisch konstruktive Kraft solcher Prozesse fest, die sich nur verstehen lassen auf dem Hintergrund einer Tradition, zu der sich die Lernenden spielerisch und gleichzeitig kritisch ins Verhältnis zu setzen suchen: »Deshalb sind kreative Unterrichtsverfahren zu suchen, die das Argumentieren an das Leben und seine Struktur anbinden (z. B. im Maskenspiel, im Rollenspiel, in ›verrückten‹ Dialogen, in Diskussionen mit vertauschten Rollen, in Collagen, Bildgestaltungen, Malprozessen, Beziehungsspielen mit Pantomime, Stimme, Tönen, Musik etc.) und die alles Erleben und alle Erfahrungen mit Handeln, Spielen und Diskutieren ins Wahrnehmen, Beobachten, Denken und Argumentieren einbringen. Dadurch können Positionen gewonnen werden, durch die sich Schüler moralisch festlegen – und zwar ohne Rigidität, Angstverdrängung und Überanstrengung, ernsthaft im Spiel.«15

5.

Die Bildungs- und Erziehungsaufgabe konturieren: Einüben ins Urteilen

Mit der Frage nach dem Urteilen und dem Urteilen lernen wird versucht das differenziert zu erfassen, was bei Kafka in der Bestimmung des ›Menschen guten Willens‹ noch sehr unterbestimmt bezeichnet ist. Mit dem Urteilen kommen darum die notwendigen Aufgaben bzw. gerade auch die jetzt-dringlichen Urteile in den Blick, die nicht nur dem je einzelnen Individuum aufgegeben sind, sondern auch dem gemeinsamen guten Leben, das von verlässlichem Handeln und gemeinsam getragenen Orientierungen bestimmt sein muss. Damit stellen sich aber neue Fragen: Von woher kommen mir Urteile zu? Entspringen sie der Intuition? Oder sind sie Erfahrung des Handelns Gottes in seinem Geist an den Menschen (pneumatische Perspektive), ein Handeln, das Menschen in aller Passivität erfahren und daraus leben bzw. zu leben lernen? Oder hängt es wiederum am je eigenen subjektiven Wollen, dass das Leben ein gutes Leben wird? Sind dann die Urteile nur subjektiv und also unvertretbar? Damit eröffnet sich die theologische Aufgabe, der sich diese Veröffentlichung verpflichtet sieht, eben danach zu fragen: Was also formt mein Urteilen bzw. mein Urteil? Wie ist in Hinsicht der Intuition das Urteilen genauer zu verstehen? Wie verbinden sich die Reflexion von Intuition, Wissen, und Weisheit mit der Aufgabe der Analyse des Urteilens? Und schließlich: Wie sind Lernprozesse zu arrangieren, dass Kinder und Jugendliche zu Urteilskompetenz befähigt werden und ihnen Lernprozesse eröffnet werden, die ihnen eine Einübung ins Urteilen 15 Zilleßen, Dietrich: Wieviel Wert haben Werte? Ethisches Lernen im Religionsunterricht; in: JRPäd 9/1992, 51 – 71, 68 f.

Einleitung: Urteilen lernen

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lernen möglich machen? Was leisten dabei Kunstwerke, die die Kinder und Jugendlichen zu ästhetischer Kompetenz befähigen und so die reflexive Einübung ins Urteilen lernen unterstützen und zur Formung von Urteilen beitragen. Die folgenden Überlegungen sind bezogen auf die konkrete Lernpraxis, in der Hoffnung, dass sich dadurch den zukünftig Lehrenden die Bildungsaufgabe klarer und deutlicher zeigt als bisher. Die Reflexionen zielen darauf ab, eine differenzierte Ausarbeitung und also Vorbereitung von Lernprozessen zu ermöglichen und beabsichtigen, dass diese so begonnen werden, dass sie Schülerinnen und Schülern, Kindern und Jugendlichen die Möglichkeiten eröffnen, sich im Urteilen zu üben und schließlich zum Urteilen befähigt zu werden. Ein solches Urteilen lässt sich nicht einfach im Lernen herstellen, aber es lässt sich anvisieren, in den Blick nehmen und regt an, eine je eigene Ahnung von dem zu gewinnen, was ein Urteil bzw. je mein Urteil ausmachen könnte und wodurch es geformt ist.

6.

Vorstellung der Beiträge des Bandes

Der vorliegende Band vereint zwei wissenschaftliche Tagungen, die dem Urteilen lernen in interdisziplinärer Hinsicht nachgegangen sind und im Fokus einer auf das moralische Lernen konzentrierten Perspektive dem Urteilen lernen eine bildungstheoretische Kontur zu verleihen suchten. Entsprechend ist der Band durch zwei Perspektiven bestimmt. Einmal fragt er nach der ästhetischen Dimension des Urteilen lernen; zum anderen greift er die politische Dimension auf, die sich dann formiert, wenn nach moralischer Bildung gefragt wird bzw. nach dem Prozess moralischen Urteilens, das nie allein aus einer subjektiven Wahrnehmung gewonnen werden kann, sondern – trotz aller Nicht-Vertretbarkeit des Urteilens – von Entscheidungen bestimmt ist, die aus einer gemeinsam geteilten öffentlichen/politischen Praxis gewonnen sind.

Erster Teil: Ästhetische Dimension des Urteilen lernen In einem ersten Reflexionsgang wird die ästhetische Perspektive des Urteilens untersucht: Die Weite dieser Perspektive unter Berücksichtigung des Geschmacksurteils und der Intuition reflektiert Wolfgang Schoberth unter Aufnahme des erkenntnistheoretischen Interesses Immanuel Kants. In der Kritik der Urteilskraft hat er den Versuch unternommen, die Erfahrung von Sinnlichkeit und Rationalität der Vernunft in der Kritik der Urteilskraft aufeinander zu beziehen. Entfaltet hat Schoberth diese Zusammenhänge mit Bezug auf das

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Dictum »über Geschmack lässt sich streiten bzw. über Geschmack lässt sich nicht streiten«. Dieser Streit ist ein Streit um die Auseinandersetzung mit den Gründen im Feld des Moralischen. Es ist ein Streit bei dem es schließlich um das gemeinsame Zusammenleben geht. Verbunden mit dieser Auseinandersetzung ist dann auch die Frage: Wann entstehen zustimmungsfähige Urteile? Ist das Urteil bzw. das Urteilen aus der Erfahrung von Sozialität gewonnen, oder wie formt sich ein Urteil sonst? Bzw. ist die Frage nach dem guten Geschmack verbunden mit einem Herrschaftskonzept, das die Freiheit des Urteilens unterbindet? Wie also lässt sich Freiheit auf dem Feld des Moralischen beibehalten bzw. wie bewährt sich diese Freiheit im Streit der Moralen? Schoberth betont: Auch nach Kants Betonung der Freiheit des Urteilens und in Bestreitung jeder Gestalt von Herrschaft bleiben Fragen offen. Damit stellt sich mit Theodor W. Adorno die Frage nach dem ästhetischen Urteil noch einmal neu: Adorno fragt nach Vorlieben, nach dem Durchhören, den Ohren …Wie also bildet sich ein Urteil aus? Bleibt um der Freiheit willen nur noch übrig, zu urteilen, »wie einem der Schnabel gewachsen ist?« Formt sich das je spezifische Urteil aus dem eigenen Gewordensein, oder gibt es immer neu gute Gründe für das je eigene Urteil? Ist das dann der Ausdruck der Freiheit, der das Urteil bedingen muss? Dabei spielt auch der Umgang mit Konventionen eine Rolle wie aber auch die Möglichkeit, sich der Auseinandersetzung mit den Konventionen, dem Gelernten und den Prägungen durch die eigene Lebensgeschichte zu stellen. Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen werden die philosophischen wie theologischen Rahmenbedingungen deutlich, die für die Reflexion des Urteilens in ästhetischer Hinsicht wahrzunehmen unumgänglich sind. Einen evangelischen Blick auf das Urteilen lernen entfaltet Hans Günther Ulrich mit Konzentration auf die pneumatische Dimension des Urteilens. Mit der Philosophin Hannah Arendt begibt er sich auf die Suche nach der gemeinsamen Welt, in der Menschen zusammen leben und urteilen – einer Welt ohne Vorurteile, einer Welt, in der Menschen mit Einbildungskraft und der Sehnsucht nach der Erneuerung durch Gottes Geist zum Urteilen immer neu befähigt sind. Das Thema Urteilen lernen als Habitus-Erwerb in Auseinandersetzung mit einem katholischen Verständnis von Habitus verfolgt Martin Hailer im Zusammenhang der Suche nach Kontur und Gestalt einer evangelischen Tugendethik. Hailer bestimmt die Bedeutung von Tugenden aus einem ökumenischen Interesse heraus als Motivationslagen eines Menschen (Streben des Menschen). In kritisch ökumenischer Perspektive wird der wissenschaftliche Diskurs dargestellt, der das Ringen um eine neu wiederzugewinnende moralische Kategorie, eben die der Tugenden, vorstellt. Überlegungen zur Einübung in ästhetische Urteilsbildung mit Bezug auf konkrete Unterrichtsvorbereitung an der Schule tragen Juliane Lamprecht und Eva-Marie Ulrich in erziehungswissenschaftlicher Perspektive vor und nehmen

Einleitung: Urteilen lernen

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dazu auf den Geographieunterricht exemplarisch Bezug. Ingrid Schoberth geht in religionspädagogischer bzw. religionsdidaktischer Perspektive dem Urteilen lernen nach und stellt Lernformen an Kunstwerken in religiösen Bildungsprozessen vor. Es soll das Geschehen des Andringens des Kunstwerkes (George Steiner) aufmerksam wahrgenommen werden, das in der Begegnung von Betrachter und Kunstwerk über das rein Äußerliche hinausweist und ihn zur Stellungnahme herausfordert. So fungieren auch Kunstwerke im Unterricht, die eben erst mit dem Betrachter, den Schülerinnen und Schülern fertig werden (rezeptionsästhetische Perspektive). Die Einübung des Urteilens am Kunstwerk ist darum ein notwendiger Gegenstand religiöser wie ethischer Bildungsprozesse. Die konkreten Wahrnehmungen am Kunstwerk im Unterricht durch den Einzelnen wie aber auch die diskursive Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungen an Kunstwerken gemeinsam in der Klasse ermöglichen die Einübung in ästhetische Kompetenz; damit ist eine wesentliche Grundaufgabe von Bildungsprozessen erfüllt. Wie eng die ästhetische Wahrnehmung mit einer politischen Wahrnehmung von Leben und Welt vernetzt ist und zu gemeinsamer Reflexion führt, wird aufgezeigt. Silke Reiser-Deggelmann geht der Lektüre von Franz Kafkas Roman Das Urteil nach und zeigt eine literarische Variante der Einübung ins Urteilen mit Kafka, die nicht nur im Deutschunterricht, sondern auch im Religionsunterricht eine Möglichkeit des fächerübergreifenden Unterrichts eröffnet und dabei das Urteilen lernen von Schülerinnen und Schülern in den Blick nehmen lässt. In interdisziplinärer Perspektive wird ein die theologische und philosophische Reflexion bereichernder interdisziplinärer Perspektivenwechsel durch den Beitrag von Konstantina Papathanasiou möglich, der die Widerspiegelung der gesetzgeberischen Grundentscheidungen im Verständnishorizont des Täters aufzeigt, indem sie darstellt, wie die von Immanuel Kant gewonnene Vorstellung der Urteilskraft für das Strafrecht nutzbar gemacht werden kann. Das erweist sich darum als so wichtig, dass auf den Verständnishorizont des Täters abgestellt wird, weil dieser eben in seinem Urteilen nicht vertretbar ist und also als aufgeklärter Bürger verstanden werden muss.

Zweiter Teil: Politische und eschatologische Dimension des Urteilen lernen Die politische Dimension, die auch in theologischer Hinsicht die eschatologische Dimension einschließt, wird im zweiten Teil der Veröffentlichung dargestellt: Die Frage, wie sich moralisches Urteilen in der Polis vollzieht, greift Christiane Tietz auf. Da es kaum mehr öffentliche Orte für das moralische Ur-

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teilen bzw. den Diskurs um das gemeinsam geteilte Leben gebe, richten sich ihre Überlegungen auf die Durchdringung der Polis als einer politischen Lebensform, die in ihrer idealtypischen Gestalt auf ihre Geltung für heutige Diskurse um das gute Leben befragt wird. Ihre Darlegung stützt sich auf die Reflexion der geschichtlichen Entwicklung von der antiken Polis bis zur Globalisierung. Dabei legt Tietz den Fokus auf die soziologischen Veränderungen für das Urteilen. Aufgrund der daraus resultierenden Komplexität moralischen Urteilens darf die Idealgestalt der Polis heute als Herausforderung für ein Verstehen des Vorgangs des Urteilens verstanden werden. In dieser Perspektive geht es um folgende politische Aufgaben: Ausbildung naher Verantwortungsstrukturen, die die Komplexität erniedrigen; die Aufgabe der deutlichen und klar formulierten Begründung von gefällten Urteilen in der Pluralität der Moderne und damit ein Herstellen von Öffentlichkeit; die Eröffnung von Räumen für die Ausbildung des öffentlichen Urteilens (Schule, Universität etc.). Ob Kirche in diesem Kontext als Polis verstanden werden kann und also Bildungsstrukturen geschaffen werden können, in welchen gerne geurteilt wird bzw. die Einübung ins Urteilen als Erziehungsaufgabe verstanden wird, muss notwendig reflektiert und deren Realisierbarkeit versucht werden. Nadine Sauber : Im Streit um die Wirklichkeit. Perspektiven auf Dietrich Bonhoeffer. Sauber nimmt das Urteilen als Offenbarwerden der Wahrheit wahr, wie es bei Dietrich Bonhoeffer zum Tragen kommt. Bonhoeffer leitet den Verantwortungsanspruch des Menschen in der Welt für die Welt, der erst Urteile ermöglicht, anthropologisch von dessen Geschöpflichkeit ab. In Relationalität und Freiheit zu Gott dem Schöpfer geschaffen (Zuspruch), sind die Menschen durch die Begegnung mit dem lebendigen Wort Gottes herausgefordert, zu urteilen und zu handeln (Anspruch). Dies kann im Vertrauen auf Christus gewagt werden, da das Offenbarwerden der Wahrheit Gottes unabhängig davon ist, ob das menschliche Urteilen und Handeln gelingt oder misslingt. Immer unter Berücksichtigung dessen, dass es sich bei Bonhoeffer um ein Urteilen handelt, das immer im Werden begriffen ist (fieri) und eben nicht als ein ontologischer Status verstanden werden kann, betont Bonhoeffer die Aufgabe des Urteilens; dabei wird das Motiv des »Gehorsams« transparent, an dem sich die Grundausrichtung für das eigene Urteilen und Handeln orientieren kann. Gerhard Dannecker : Die Öffentlichkeit von Gesetzen: Wie entsteht ein Gesetz und wie erfährt der Bürger davon? Noch bis zum 19. Jahrhundert wurden Gesetze mehrfach öffentlich verlesen, damit der Bürger sich damit auskennt, danach jedoch ist der Bürger gezwungen selbst nachzulesen; die fehlende Kenntnis der Rechtslage entschuldigt nicht. Beispielsweise in Bezug auf die »Fahrlässigkeit« wurde die Gesetzgebungskenntnis sogar weiter auf die Rechtssprechungskenntnis des Bürgers ausgeweitet. Für die Öffentlichkeit in Verfahren (Medien) als Kontrolle der öffentlichen Gewalt müssen bestimmte Räume ge-

Einleitung: Urteilen lernen

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funden werden, damit Verdachtsmomente nicht zu unverhältnismäßigen Sanktionen führen. Zu fragen ist, wie bei einer zunehmenden Komplexität juristischer Sachverhalte das Gespür auch von Kindern und Jugendlichen für Gerechtigkeit und Politik aufrecht erhalten werden kann, ohne in ein Gefühl der Ohnmacht oder Verdrossenheit umzuschlagen (Shell-Studie). Urs Espeel: Prophetisches Urteilen: Über die prophetische Dimension des Urteilens referierte Urs Espeel. Im Diskurs mit zentralen Bibelstellen (5. Mose 13; 18, 1 Kor 14) stellte er die Notwendigkeit heraus, in politischem Kontext mit einer Stimme zu sprechen. Auf der biblischen Basis der Prophetie und der philosophischen Basis von Kant und Hegel wird die Alltagssprache und Umgangssprache voneinander unterschieden, wobei deutlich wird, dass der Umgangssprache im Unterschied zur Alltagssprache ein prophetisches Moment inne wohnt. Mit einer Stimme gesprochen ist, wenn dabei das Neue in der Welt zu sehen gegeben wird. Urteile im prophetischen Sinn wollen daher sachlich sein, die Welt treffen und Wirklichkeit zu sehen geben; sie wollen zeigen, ohne dabei objektiv oder aufklärerisch zu sein. Insbesondere im Bezug auf die liturgische Ausübung ergeben sich Möglichkeiten des Weiterdenkens. Josef Wohlmuth: Die Zeit ist kurz (1 Kor 7,29). Verantwortlich handeln in messianischer Zeit bei Giorgio Agamben: Mit dem Leben und Urteilen in messianischer Zeit bei Giorgio Agamben setzte sich Josef Wohlmuth auseinander. Der Philosoph Giorgio Agamben gilt als Interpret des Philosophen Walter Benjamin und deutet seine Überlegungen zur messianischen Zeit in Auseinandersetzung mit dem Römerbrief des Apostel Paulus. Die messianische Zeit ist somit die Zeit zwischen den Zeiten, die mit der Auferstehung Christi begann und zu ergreifen ist. In der Hoffnung der messianischen Zeit zu leben eröffnet sich eine Lebensform, die das Subjekt in Frage stellt; im messianischen Bezug wird der je Einzelne in die Verantwortung gerufen, um den Verlust des hoffnungsvoll Messianischen die Stirn zu bieten und um für das Verlorene einzutreten. Diese messianische Lebensform provoziert auch die Bildungsperspektiven in Hinsicht einer Befähigung zum Urteilen lernen: Welche Bildungswege müssen eröffnet werden, um für ein verantwortliches Urteilen und Handeln in der messianischen Jetztzeit ein Gespür zu eröffnen? Wie kann es gelingen, dass Schülerinnen und Schüler ein entsprechendes Zeitverständnis nahegebracht werden kann und die Dislozierung des selbstbewussten Subjekts neue Möglichkeiten der Nächstenschaft und des gemeinsam geteilten Lebens eröffnet? Um vertieft die Bildungsaufgabe des Urteilen lernen in den Blick zu bekommen nimmt Ingrid Schoberth die Moralische/Ethische Bildung genauer wahr, die auf Zustimmung aufruht und nach deren Gestalt gefragt werden soll: Worauf stützt sich die Ausbildung zu Urteilskompetenz von Kindern und Jugendlichen? Gibt es grundlegende ethische Axiome, die die Ausbildung von Urteilskompetenz bestimmen? Anhand einer empirischen Untersuchung im

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Religionsunterricht einer beruflichen Schule wird exemplarisch dargestellt, wie sich Zustimmungen zum gemeinsamen guten Leben formen und insofern Urteile bedingen, die freilich für den je einzelnen unvertretbar bleiben. Silke Reiser-Deggelmann: Irritationen des Menschseins dargestellt an Franz Kafkas Roman Der Prozess: Im Mittelpunkt des Romans steht Josef K., welcher verhaftet wird ohne die Anklage zu kennen. Der Roman wird durch die Suche K.s nach einem Urteil beherrscht, das er nicht finden kann, wobei die konventionellen Rechts- und Theologiebegriffe, wie beispielsweise Schuld, immer mehr an Schärfe verlieren. Rezeptionsästhetisch bietet das Werk »Der Prozess« zahlreiche Deutungen an und verwehrt sich dabei einer endgültigen. Festgehalten werden muss im Hinblick auf das Urteilen, dass für K. nicht eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit, innerhalb derer geurteilt wird, besteht, sondern es das Urteil ist, das eine neue Wirklichkeit schafft. Religionspädagogisch stehen das gemeinsame Hineingezogensein in die Suche nach einem Urteil und seinen Bedingungen sowie das gemeinsame Nachdenken über ein Ringen um Menschsein angesichts eines Urteils im Vordergrund.

Erster Teil: Ästhetische Dimension des Urteilen lernen

Wolfgang Schoberth

Geschmacksurteil und moralische Intuition

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De gustibus (non) est disputandum

Der hier unternommene Versuch, durch den Hinweis auf Geschmack und das ästhetische Urteil zum tieferen Verständnis der Struktur und Praxis des moralischen Urteilens beizutragen, kann sich dem Einwand ausgesetzt sehen, dass Ästhetik und Ethik gerade darum in einem wesentlichen Gegensatz stehen, weil dem Geschmack die intersubjektive Verbindlichkeit, ohne die Moralität nicht gedacht werden kann, abgehe. Der Bereich des Ästhetischen erscheint als die Domäne irreduzibler Subjektivität, deren unersetzliche Bedeutung eben darin besteht, dass in ihm das Subjekt seinen eigenen Vorlieben und Vorstellungen folgen kann, ohne von anderen darin beschränkt werden zu können. Genau deshalb erscheint das Ästhetische aber auch als der Bereich des Beliebigen, in dem es keine gültigen oder auch nur verallgemeinerungsfähigen Kriterien gibt. Beides gehört zusammen: Die neuzeitliche Hochschätzung der Ästhetik als Ausdrucks- und Schutzraum des Individuellen und als ausgegrenzte Zone des Willkürlichen, das keinen Anspruch auf überindividuelle Geltung haben könne und dürfe. Diese Ausgrenzung des Ästhetischen aus dem intersubjektiv Verhandelbaren findet ihren prägnanten und oft gebrauchten Ausdruck in der auch in der lateinischen Fassung verbreiteten Formel, dass man über Geschmack nicht streiten könne – de gustibus non est disputandum. Diese griffige Formel ist freilich keineswegs antiken Ursprungs; sie ist auch in ihrem üblichen Verständnis zumindest irreführend. Beide Momente sind für die Frage nach dem Zusammenhang von Moral und Geschmack instruktiv : Die Geschichte der Formel eröffnet einen neuen Blick auf das, was ›Geschmack‹ heißen kann; und die systematische Reflexion auf die Frage, ob man über Geschmack streiten könne, kann sich als sehr hilfreich für ein Verständnis des moralischen Urteils erweisen. Nach dem üblichen Verständnis besagt die Formel, dass die Geschmäcker allemal subjektiv seien und also ein Letztes und Unhintergehbares; darum müsse man sie akzeptieren, wie sie nun einmal sind. Dieses Verständnis hat

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durchaus einen pazifizierenden Sinn, ist aber gerade darin offenkundig normativ und gerade nicht, wie die grammatische Form des Satzes suggeriert, konstatierend. Er besagt dann, dass man über Geschmack nicht streiten soll. Würde man den Satz als Behauptung auffassen, so wäre er schlicht falsch, denn dass man über Geschmack streiten kann, ist offensichtlich. Kontroversen über Literatur und Musik, die Kunstkritik überhaupt, und auch die umfangreichen Diskussionen um die gute Küche wären gar nicht denkbar, wenn man über Geschmack nicht streiten könnte. Aber eben in diesen Debatten zeigt sich auch, dass sie unerfreulich und unversöhnlich verlaufen können. Hier hat das Sprichwort wohl auch seinen ursprünglichen Sitz im Leben; jedenfalls dürfte zu seiner Verbreitung Jean AnthÀlme Brillat-Savarins La Physiologie du Go˜t von 1826 stark beigetragen haben.1 Dieser kulinarische Zusammenhang ist dabei nicht nur historische Anekdote, sondern verweist auf einen anthropologischen und auch moralischen Sinn, der für die Frage nach der ethischen Urteilsbildung von einiger Bedeutung ist, weshalb darauf noch zurückzukommen ist. Zunächst aber geht es um die eigentümliche Spannung zwischen Subjektivem und Objektivem, die sich in dem Sprichwort zeigt und auch in dem zitierten Buchtitel andeutet. Brillat-Savarin spricht hier ausdrücklich von Physiologie, also gerade nicht von einem kontingenten Empfinden, sondern von natürlichen Gegebenheiten. In einer Physiologie des Geschmacks geht es schon dem Begriff nach nicht um subjektive Vorlieben, sondern um objektive Zusammenhänge. Es ist von einiger Signifikanz, dass heute unter dem Titel einer Physiologie des Geschmacks etwas ganz anderes erwarten würde als das, was Brillat-Savarins Ausführungen bieten, nämlich sicherlich eher eine Physiologie der Geschmacksnerven mit der Identifikation der beim Geschmackserlebnis aktivierten Hirnareale. Damit würden aber die Dimensionen abgeblendet, die auch bei Brillat-Savarin wesentliche Faktoren einer Physiologie des Geschmacks sind, nämlich die sozialen und kulturellen – und das heißt hier auch: die moralphilosophischen – Kontexte. Diese Verschiebung ist darin signifikant, dass sie die Aufspaltung bezeichnet zwischen den leiblichen Vorgängen und Empfindungen einerseits und dem Sozialen, Ästhetischen und dem Moralischen andererseits: 1 Brillat-Savarin zitiert es im zweiten Abschnitt der sechsten Betrachtung: »Ueber die Nahrungsmittel« allerdings als spanisches Sprichwort: »Sobre los gustos, no hai disputa«; BrillatSavarin, Jean AnthÀlme; Physiologie du go˜t ou m¦ditations de gastronomie transcendante. Ouvrage th¦orique, historique, et — l’ordre du jour. D¦di¦ aux gastronomes parisiens. Paris 1870. 84. Die deutsche Ausgabe von 1885 hat die lateinische Version in einer erläuternden Fussnote des Herausgebers und Übersetzers; zuvor findet sich die lateinische Sentenz bereits im deutschen Gegenstück zu Brillat-Savarin als isolierter Aphorismus; Vaerst, Friedrich Christian Eugen von: Gastrosophie oder Lehre von den Freuden der Tafel; [Neudruck der Erstausgabe Leipzig 1851] München 1975, 341.

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Mit der Objektivierung der körperlichen Faktoren und Funktionen wird der Geschmack zugleich zum bloß subjektiven und damit letztlich zum Beliebigen. Das Zitat erscheint bei Brillat-Savarin in einem Zusammenhang, der einerseits die Unentscheidbarkeit von Geschmacksfragen benennt, andererseits aber auch zur Geltung bringt, dass Geschmack sich auf Eigenschaften bezieht, die von der subjektiven Bewertung unabhängig sind: Dass nämlich nicht entscheidbar sei, ob Süßwasser- oder Seefische den Vorzug verdienten, liegt sicher auch daran, dass es sich dabei um individuelle Vorlieben handelt; zugleich aber sind dabei aber auch solche geschmacklichen Nuancen im Spiel, die zu fein sind für Begriffe und Messungen, gleichwohl aber Eigenschaften der Speise selbst sind. »Jeder wird nach seiner Weise afficirt: Diese flüchtigen Empfindungen lassen sich aber nicht durch bekannte Zeichen ausdrücken, und es gibt keinen Maßstab, nach welchem man bemessen könnte, ob ein Kabeljau, eine Scholle oder ein Steinbutt besser schmecken als eine Lachsforelle, ein Hecht oder eine sechs- bis siebenpfündige Schleie.«2

Der Geschmack bezieht sich demnach durchaus auf objektive Qualitäten, freilich solche, die nicht ohne weiteres gemessen werden können, also keine durch Instrumente objektivierbare Parameter aufweisen, sondern jeweils nur von einem Subjekt wahrgenommen werden können und müssen. Es geht mithin, so müsste geradezu formuliert werden, um subjektiv vermittelte objektive Qualitäten. Die Formel de gustibus non est disputandum entstammt ursprünglich der scholastischen Philosophie;3 dort erscheint sie freilich in erweiterter Gestalt, wodurch das zweite bei Brillat-Savarin benannte Moment, die eigentümliche Qualität von Geschmackseigenschaften als Fokus erkennbar wird: de gustibus et de coloribus non est disputandum. Durch den doppelten Verweis auf Geschmack und Farben werden nicht etwa die kulinarischen noch um modische Vorlieben ergänzt; vielmehr ist erkennbar, dass hier mit »Geschmack« nicht das subjektive Empfinden, sondern eine spezifische Eigenschaft bezeichnet ist: Farben werden nicht durch das betrachtende Subjekt erst hervorgebracht, sondern eignen dem Objekt selbst, auch wenn das Wort »Farbe« nicht ohne den Bezug auf das Sehen zu denken ist. Die scholastische Sentenz hat somit einen erkenntnistheoretischen Sinn und benennt eine Besonderheit von Qualitäten wie der Art der Farbe: Wie es bei den Farben unendliche Übergänge gibt, so hat auch der Geschmack unendlich viele Nuancen. Unsere Sprache hat aber keine Möglichkeit, diese Nuancen differen2 Brillat-Savarin, Jean Anthelme: Physiologie des Geschmacks oder transcendentalgastronomische Betrachtungen; mit einer Einleitung und Anmerkungen deutsch von Robert Habs; o. J. [1885], 21. 3 Karlheinz Stierle: Art. Geschmack; in: HWP 3, 445, allerdings ohne Quellenangabe.

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ziert genug abzubilden; was wir »blau«, »grün« oder »gelb« nennen, sind jeweils nur mehr oder minder willkürliche Stufen in einem Kontinuum, das von den Sinnen freilich wesentlich feiner aufzulösen ist als es der Sprache und dem Begriff möglich wäre. Darum ist hier kein sinnvoller Streit möglich: Die Kategorien des Denkens sind prinzipiell zu grob; selbst wenn man sie noch so sehr verfeinerte, würden sie der Unendlichkeit der Farbempfindungen nicht entsprechen können. Eben darum ist kein sinnvoller Diskurs um das blauere Blau möglich oder um ontologische Unterschiede zwischen Blaugrün, Grünblau und Türkis: De coloribus non est disputandum. Dagegen ließe sich aus der Perspektive neuzeitlicher Wissenschaft einwenden, dass sich Farben physikalisch bekanntlich als elektromagnetische Wellen von spezifischer Länge ausdrücken lassen, die gemessen werden kann. So lässt sich exakt angeben, ob die Wellenlänge der Strahlung eines bestimmten Himmelskörpers 480 nm beträgt, der Stern also blau strahlt, oder ob sie 500 nm beträgt, also grün erscheint. Daraus geht freilich nicht hervor, die Farbempfindung sei sekundär gegenüber der gemessenen Wellenlänge oder gar nur subjektive Illusion: Auch das Gewicht eines Gegenstandes wird erst im Wiegen manifest und über das Gewicht kann man sich täuschen, ohne dass behauptet werden könnte, das Gewicht sei keine Eigenschaft des Gegenstandes, sondern nur subjektive Empfindung. Zudem zeigt sich auch hier die genannte Differenz zwischen der Farbwahrnehmung und ihrer Benennung – wenn sich 480 nm und 500 nm als »grün« und »blau« differenzieren lassen, was ist dann 490 nm? Grün ist aber nicht Blau, und Farbempfindungen sind etwas anderes als ein Verhältnis von Längenmaßen. Was mit dem Wort »Farben« vielmehr zur Sprache gebracht wird, ist nicht zu lösen von der Eigentümlichkeit unserer Sinne und damit der durch sie erschlossenen Wirklichkeit: Diese Dimension der Wirklichkeitserfahrung ist irreduzibel. Die scholastische Sentenz ist noch in einer zweiten Hinsicht genau zu betrachten, insofern die Übersetzung, man könne über Geschmack nicht streiten, ihre eigentliche Zielrichtung verfehlt. Genauer müsste es ja heißen, dass über Geschmack und Farben nicht zu disputieren sei, dass also nach den Regeln einer zwingenden und bündigen Argumentation die Wahrheit einer Behauptung über Farben und Geschmäcker nicht zu beweisen oder zu widerlegen sei. Streiten oder regelgeleitet disputieren ist jedoch nicht dasselbe. Dabei ist auch keineswegs ausgemacht, dass eine Debatte über Geschmäcker und Farben, weil sie nicht logischer Argumentation unterliegen kann, irrational und unentscheidbar sein müsste, also unsinnigen Streit bedeute. Wäre die scholastische Ausgrenzung des Geschmacks und der Farbempfindung aus dem Bereich des vernünftig zu Diskutierenden das letzte Wort, dann würden zugleich essentielle Dimensionen des menschlichen Lebens und erst recht der Selbsterfahrung eliminiert bzw. in den Bereich des Willkürlichen verdrängt, wo sich die Macht dieser Di-

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mensionen unreflektiert entfalten könnte. Die damit implizierte Behauptung, dass unmittelbare Sinneseindrücke (Farben) und leibliche Gewissheiten (Geschmack) nicht wahrheitsfähig seien, hätte nicht nur weitreichende und äußerst problematische epistemologische Konsequenzen, indem sie die Leibgebundenheit des Erkennens negierte; sie verfehlt auch die elementare Bedeutung der Gewissheit für Erkennen und Handeln.4 Diese manifestiert sich darin, dass die Einsicht, über Geschmack und Farbe ließe sich nicht (mit den Mitteln argumentativ-zwingender Logik) disputieren, an der Gewissheit, die Farbe dieses Objekts sei so und nicht anders, dies schmecke so und nicht anders, gerade nichts ändert. Weil aber die Einsicht, dass über Geschmack und Farben im strengen Sinn nicht disputiert werden könne, die Gewissheit, dieser Gegenstand sei grün oder diese Speise schmecke aromatischer als jene nicht aufgehoben wird, handelt es sich hierbei offenkundig um eine Erfahrung von Wahrheit, die in dem Begriff und der Logik nicht aufgeht. Diese Gewissheit ist nun aber nicht lediglich subjektive Gewissheit in dem Sinn, dass sie sich durch ein höheres, objektives Erkennen überwinden ließe; es gibt keinen denkbaren Weg, um solche Gewissheit von ihrer Bindung an das wahrnehmende Subjekt zu reinigen oder auf eine Gestalt hin zu übersteigen, die dann doch rational durchsetzbar wäre. Ohne die je individuelle Wahrnehmung wären Farben oder Geschmack gar nicht zu erfassen. Bereits auf dieser Ebene der individuellen Gewissheit ist Geschmack freilich trotz oder gerade in seiner Bindung an die je besondere Wahrnehmung durchaus nicht privat und als solcher der intersubjektiven Wahrheitsfähigkeit entzogen. Bei näherer Reflexion wäre die lateinische Sentenz geradezu umzukehren: de gustibus est disputandum. Aus der Einsicht, dass sich Geschmack der zwingenden argumentativen Beweisführung entzieht, folgt eben nicht, dass man nicht sinnvoll darüber sprechen könnte oder keine Auseinandersetzung mit Gründen führen könnte. Ohne dass hier eine zwingende Entscheidbarkeit gegeben wäre, lassen sich Geschmäcker plausibilisieren, vertiefen und verändern. Auch dies wird am elementarsten kulinarischen Sinn des Wortes erkennbar. Denn dem Schmecken eignet die eigentümliche Doppelstruktur, dass es sich zum einen individuell so zwingend erweist, dass es auch durch den Willen nicht zu überwinden scheint: Auch wenn ich weiß, dass bestimmte Speisen oder Medikamente nützlich und gesund sind, kann ich nicht verhindern, dass sie mir nicht schmecken – bis hin zum Ekel. Geschmack erscheint also invariant und geradezu somatisch festgelegt. 4 Wittgensteins umfassende Überlegungen sind nach wie vor nur unzureichend rezipiert und erkenntnis- wie wissenschaftstheoretisch kaum zur Geltung gebracht worden; Wittgenstein, Ludwig (1984): Über Gewißheit; in: ders., Werkausgabe Band 8, 1. Auflage Frankfurt am Main, 113 – 257.

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Daneben steht zum anderen aber die Erfahrung, dass unbeschadet solcher somatischen Unhintergehbarkeit der Geschmack im Laufe des Lebens sich ändert und offenkundig auch kulturell bedingt ist, so dass der Geschmack pointiert als ein relatives Absolutes erscheinen kann. Dies manifestiert sich zum einen darin, dass die Speisen und ihre Zubereitung kulturellen Transformationen und auch Moden unterliegen, was zugleich damit verbunden ist, dass der Geschmack sich ändert. Die interkulturelle Bereicherung der Speisekarte bringt eben auch mit sich, dass manches als außerordentlich wohlschmeckend erfahrbar wird, was früheren Generationen sicher nicht geschmeckt hätte und was bei ihnen Abscheu hervorgerufen hätte. Aber auch der bewussten Beeinflussung ist der Geschmack nicht vollständig entzogen. Dass Geschmack der Intentionalität, wenn eben auch in charakteristischer Weise auf indirektem Wege zugänglich ist, erweist sich an der Möglichkeit, Geschmack zu schulen, bis hin zu dem paradoxen Phänomen, dass ich von dem, was mir nicht schmeckt, zugleich wissen kann, dass es schmeckt. Das zeigt folgende Überlegung: Wenn A feststellt, Y schmecke ihm nicht, B aber behauptet, dass Y sehr gut schmecke, dann muss damit nicht das Ende erreicht sein; vielmehr kann A wissen, dass B ein Feinschmecker ist, was A bewegt, sein eigenes Geschmacksurteil zu problematisieren, weil B in Geschmacksdingen erfahrener ist als A. Es ist eine raison d’Þtre von Kochbüchern und gastronomischen Reiseführern, dass sie ihre Leser einladen, ihren Geschmack zu entwickeln und zu verändern. Wenn also Geschmack verstanden werden kann als das Sensorium für subjektiv vermittelte objektive Qualitäten, so wird auch deutlich, dass diese Fähigkeit keine kontingente Naturanlage ist, die der eine hat und die dem anderen fehlt, sondern der Anleitung und der Bildung bedarf, zu der etwa auch BrillatSavarin einen Beitrag leisten will. Bereits im kulinarischen Kontext zeigt sich, dass das Geschmacksurteil auf Bildung angewiesen ist; dies ist für die moralischer Urteilsbildung von weitreichender Bedeutung. Die Analogie des Geschmacks erweist sich für ein Verständnis der moralischen Urteilsbildung aber auch bei den anderen bisher deutlich gewordenen Charakteristika als hilfreich: Die elementaren moralischen Überzeugungen, die das Handeln wie das Empfinden leiten, sind so unmittelbar mit der Identität eines Menschen verbunden, dass sie quasi instinktive Reaktionen hervorrufen und als solche nicht unmittelbar intentional zu steuern sind. Sie sind aber ebenso wie der Geschmack weder kulturell invariant noch biographisch festgelegt; vielmehr ist es die spezifische Aufgabe, die indirekten Wege zu erhellen, auf denen nicht nur appellativ eingeforderte, sondern individuell wirksame Veränderungen sich realisieren. Und auch hier gilt, dass über diese Orientierungen wie über den Geschmack nicht nur gestritten werden kann, sondern sogar gestritten werden muss. Auch darin ist der Geschmack paradigmatisch, weil eigentlich nur über Geschmack oder Analoges überhaupt sinnvoll gestritten werden kann; darin ist

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Streiten von der klassischen Disputationspraxis unterschieden. Kann die Disputationspraxis als Organon methodisch durchsetzbarer Wahrheit verstanden werden, so ist sie inzwischen durch die scientific community abgelöst worden, die im strengen Sinn nicht disputiert, aber den Anspruch der definitiven Einlösung oder auch Kritik von Wahrheitsansprüchen übernommen hat, dabei aber die Instrumente veränderte. Es wäre eine schlichte Selbsttäuschung, wenn man behaupten wollte, der Rekurs auf Autorität und Tradition hätte in der modernen Wissenschaft ausgedient. Im Gegenteil: Die Komplexität und der schiere Aufwand der Experimente und Forschungsreihen machen es unabdingbar, sich auf die Darlegungen der anerkannten Autoritäten zu verlassen; eben die enorme Akkumulation von Wissen erhöht die Angewiesenheit auf Tradition und Autoritäten. Wo aber Experimente und der common sense der scientific community entscheiden, ist ein Streit eigentlich gar nicht möglich oder allenfalls nur so lange, wie die Ergebnisse und die Einordnung der experimentell gewonnenen Daten unsicher ist. Streiten im eigentlichen Sinne ist nur da möglich wo keine Eindeutigkeit erzwungen werden kann und unterschiedliche Auffassungen gleichzeitig mit Gründen bestehen können. Eben das ist in besonderer Weise beim Geschmack, in der Ästhetik und in der Ethik der Fall. Hier ist der Respekt vor differierenden Ansichten unabdingbar, so dass auch die bündigste Argumentation nicht zur Zustimmung zwingen kann. Solche Fragen lassen sich nicht abschließend lösen; vielmehr muss immer auch ein Moment von subjektiver Überzeugung bedacht werden, weil es andere denkbare, akzeptable und überzeugende Positionen gibt. Darum kann gesagt werden, dass der Streit gerade in der Sphäre des Moralischen zu Hause ist, zu deren wesentlichen Charakteristika gehört, dass auch anderes vertreten und wahrgenommen werden kann. Dabei kommt alles darauf an, dass solches Streiten keine bloße Konfrontation subjektiver Vorlieben ist. Wie aber soll über Geschmack gestritten werden können? Im Vergleich zur Logik der Disputation wird deutlich, dass dabei kein Erzwingen oder Widerlegen, keine strenge Beweisführung möglich ist, wohl aber ein Angeben von Gründen und Bezügen. Wenn der Geschmack sich auf das bezieht, bei dem es immer möglich ist, ebenfalls mit Gründen anders zu optieren, ohne dass das beliebig wäre, dann ist er ein prägnantes Paradigma für das Politische, in dem es eben auch um die verschiedenen Perspektiven und Vorstellungen geht, über die sich nicht bündig entscheiden lässt, wohl aber diskutiert werden muss, und in dem es auch möglich ist, einander von einer anderen Position zu überzeugen.

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Die Urteilskraft und das Reich der Freiheit

Das Vorurteil, dass das Begehren und das Urteilen untergeordnete, weil nur private Tätigkeiten des Geistes seien, ist, wie Hannah Ahrendt gezeigt hat,5 eine fatale Fehlentwicklung in der politische Theorie wie auch der politischen Praxis: Die politischen Entscheidungen, erst recht über vermeintliche Sachfragen, sind allemal gesteuert von vorausliegenden Prägungen. Wie der Geschmack ist das politische Urteil, weil es in der Identität eines Menschen und den Prägungen seines Wollens begründet ist, einerseits eine unmittelbare und darin unhintergehbare individuelle Disposition, andererseits aber keineswegs naturwüchsig und invariant. Auch im eigentlichen politischen Handeln ist das Erzwingen unmöglich – politisches Handeln zielt auf Überzeugung, die die Freiheit des anderen respektiert und voraussetzt, während das Erzwingen der Kollaps des Politische wäre6 –, statt dessen geht es um eine Auseinandersetzung mit Gründen, die geführt werden muss, weil die Zusammenhänge, um die hier gestritten wird, gerade nicht auf das Private zu beschränken sind. Hier liegt auch die wesentliche Differenz zum kulinarischen Geschmack: Dieser ist in aller Regel für andere Menschen unschädlich (sieht man von der Produktion und Distribution der Nahrungsmittel ab, diese fallen aber selber wieder in den Bereich des Politischen); ob jemand seine Speisen stark gewürzt bevorzugt oder nicht ist insofern Privatsache, als andere Menschen nicht dadurch tangiert sind, dass mir dies oder jenes schmeckt. Wenn nun aber vom Geschmack in einem moralischen Sinn die Rede sein soll, dann geht es um das Zusammenleben. Im Vergleich zum privaten, wenngleich kulturell geformten Geschmack ist die Sphäre des Moralischen dadurch gekennzeichnet, dass man hier damit umgehen muss, dass viele unterschiedliche Positionen mit Gründen vertreten werden können. Eben darum ist hier Streit ja nötig; die Auseinandersetzung um das Anzustrebende ist ein wesentliches Kennzeichen der Moral. Das lässt sich auch mit Kants bekannter Formulierung so fassen: Der Streit ist in der Sphäre des Moralischen möglich und nötig, weil wir uns hier im Reich der Freiheit bewegen. Freiheit impliziert allemal, dass mit respektablen Gründen auch anders geurteilt werden kann; wo nur eine akzeptable Möglichkeit besteht, ist keine Freiheit: Tatsächliche oder behauptete Alternativlosigkeit ist darum der Kollaps der Ethik und auch der Politik. Die Beschäftigung mit Kants Philosophie ist hier gerade darum so instruktiv, weil seine eigentliche Moralphilosophie durch ihre Fixierung auf die konse5 Vgl. vor allem ihr Fragment gebliebenes Spätwerk: Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Band 1: Das Denken, Band 2: Das Wollen; München/Zürich 1979. 6 Arendts Unterscheidung von Macht als Medium des Politischen und Gewalt als Instrument im Wesen despotischer Herrschaft bringt das präzise zur Sprache; vgl. Arendt, Hannah: Macht und Gewalt; 7. Auflage München 1990.

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quente Vernunftbindung der Moralität diese Freiheit kaum zur Geltung kommen lässt: Das Vernünftige ist für Kant allemal das Allgemeine und damit das, was letztlich keinen Widerspruch zulassen kann. Auf der anderen Seite erkennt Kant, dass damit nicht nur wesentliche Momente des Menschseins abgeblendet würden; vielmehr ist gerade das, worauf sein Philosophieren abzielt, gefährdet. Darum muss er den Bereich dessen, was in seiner systematischen Philosophie keinen Ort hat, eigens thematisieren; eben dies geschieht in der Kritik der Urteilskraft, die wesentlich eine »Kritik des Geschmacks« ist.7 Ihre Themen sind nach Arendt von herausragender politischer Bedeutung: »das Besondere, sei es eine Tatsache der Natur oder ein Ereignis in der Geschichte; die Urteilskraft als das Vermögen des menschlichen Geistes, sich mit dem Besonderen zu befassen; die Geselligkeit der Menschen als Bedingung des Funktionierens dieses Vermögens, d. h. die Einsicht, daß die Menschen von ihren Mitmenschen abhängig sind, nicht nur weil sie einen Körper und physische Bedürfnisse haben, sondern gerade wegen ihrer geistigen Fähigkeiten …«8

Alle diese Themen finden in Kants Moralphilosophie keinen eigenen Platz, deren Begründung darum eigentümlich unbestimmt und zuletzt doktrinär bleibt. Die systematische Bruchstelle zwischen der Erfahrung des Besonderen und der Freiheit des Individuums einerseits, der Ausrichtung an der logischen Allgemeinheit, die ihm das Wahrheitskriterium schlechthin scheint, andererseits zu überbrücken. Fragen die beiden ersten Kritiken nach den obersten Prinzipien des Denkens und Handelns, so stehen sie nicht nur in der Gefahr, das je einzelne Phänomen zu verlieren oder es seiner Individualität zu berauben, indem es zum bloßen Exemplar des allgemeinen Begriffs gemacht wird; in dieser Ausrichtung am Allgemeinen geraten auch die konkreten Bedingungen der Entstehung, Tradierung und Geltung von Erkenntnis und Moral für die Individuen aus dem Blick. Für die Analyse der Urteilskraft sind es dann gerade Geschmack und ästhetisches Urteil, an dem paradigmatisch diese Aufgabe, nämlich die Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besondern und damit auch zwischen Sinnlichkeit und Begriff geleistet werden soll. Dabei ist Ästhetik zuerst aisthesis, als Wahrnehmung gefasst, die in der transzendentalen Wendung der ersten Kritik von ihrer Sinnlichkeit – also zugleich ihrer Bindung an das wahrnehmende Individuum – gereinigt und in die reine Anschauung überführt werden soll. Auch in der Kritik der Urteilskraft ist die ästhetische Wahrnehmung zu7 »Ästhetik« ist nach Kant ein Wort, das nur im Deutschen gebräuchlich ist und das bezeichnet, »was andre Kritik des Geschmacks heißen«; Kant, Immanuel : Kritik der reinen Vernunft; 2 Bde. hg, von Wilhelm Weischedel (Kant Werkausgabe 3), Frankfurt am Main 1976, 70 [= B 36 Anm.]. 8 Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie; herausgegeben und mit einem Essay von Ronald Beiner, München 1985, 26.

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nächst die sinnliche Wahrnehmung, und erst im zweiten Schritt dann auch die in eigener Art und Weise auf Kunst bezogene Wahrnehmung. Indem hier der ästhetischen Urteilskraft paradigmatische Bedeutung zukommt, greift Kant auf die englische Moralphilosophie zurück, die die Traditionen der Geschmackstheorie einerseits aufnimmt, andererseits auch verändern und korrigieren will. Schon in der englischen Moralphilosophie ist die Zusammengehörigkeit von ästhetischem und moralischem Urteil deutlich und festgehalten. Dabei wird betont, dass ästhetische und moralische Urteile nicht der ratio folgen, sondern als sentiment oder taste erscheinen – beide Begriffe sind unscharf und eher durch ihr Gegenüber zur ratio bestimmt als selbst definiert.9 Sentiment und taste sind auch nicht bedeutungsgleich, stehen freilich beide darin der begrifflichen Vernunft gegenüber, dass sie das zu erfassen versuchen, was nicht logisch demonstrierbar ist. Nicht erst im Bereich von Moral und Ästhetik ist die Vernunft auf ihr Anderes angewiesen, sondern schon in der für alle Erkenntnis unerlässliche Urteilskraft: Dass ein bestimmter Sachverhalt ein Anwendungsfall für ein allgemeines Gesetz ist, lässt sich wiederum nicht logisch erweisen. Vielmehr muss eingeübt werden, dass ein X ein Anwendungsfall von A ist, was sich selber nicht noch einmal hinreichend begründen lässt. Wiederum muss diese Subsumtion so beschaffen sein, dass sie nicht an ein kontingentes Individuum gebunden ist, sondern nachvollziehbar sein kann: Die Fähigkeit zur bestimmten sinnlichen oder geschmacklichen Unterscheidung muss als eine Art Naturanlage aller Menschen konzipiert werden, wobei nicht jeder diese Anlage zur Entfaltung bringt. Die Eigenart des Ästhetischen und des Moralischen, wie der Urteilskraft insgesamt, dass sie nämlich einerseits der begrifflichen Erkenntnis wesentlich entzogen sind, zugleich aber auch gleichsam als Substrat ihr vorausliegen, muss unter den Prämissen der rationalen Entscheidbarkeit aller Wahrheitsfragen als bedrohlich und der Geschmack als defizitär erscheinen. Weil der Geschmack prinzipiell nicht verallgemeinerbar ist – nur darum ist er freilich auch philosophisch von systematischer Bedeutung –, steht er zugleich im Verdacht, sich als privilegiertes und unkontrollierbares Sonderwissen zu etablieren. Weil sich aber die Dimensionen, die mit dem Begriff des Geschmacks benannt sind, nicht negieren lassen, wird versucht, dieses Nichtrationale wiederum mit der Vernunft zu vermitteln. Dies geschieht durch Öffnung und Relativierung des ästhetischen Urteils oder durch eine Einordnung ins System der allgemeinen Vernunft, indem das Moralische und die ästhetische Urteilkraft einer spezifischen Provinz der Vernunft zugeordnet, d. h. letzten Endes untergeordnet wird unter verallgemeinerungsfähige und rational begründbare Prinzipien. Der deutschen Philo9 Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode. Bd. 1: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik; 5., durchgesehene und erweiterte Auflage Tübingen 1986, 36.

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sophie stellt sich dieses Problem schon bei Alexander Gottlieb Baumgarten, erst recht bei Kant. Wenn Baumgarten als Begründer der Ästhetik als philosophischer Disziplin gelten kann, so gerade darum, weil er dieses Problem durch das Konzept einer spezifisch ästhetischen Vernunft lösen will. Schon bei Baumgarten findet sich in charakteristischer Weise die Hochschätzung der Sphäre des Ästhetischen zugleich mit ihrer Relativierung und Einordnung in Vernunftprinzipien. Für Baumgarten ist die Urteilskraft das Erkenntnisvermögen, das auf das sinnlich Einzelne, also das Individuelle geht.10 Fraglich ist dabei freilich, inwieweit das dann selbst wieder eine Erkenntnis genannt werden kann, und ob das Individuelle überhaupt Gegenstand der Erkenntnis sein kann. Baumgarten versucht das Dilemma zu umgehen, indem er die Aufgabe der ästhetischen Urteilskraft so bestimmt, dass sie Vollkommenheit oder Unvollkommenheit eines Dings zu beurteilen hat. Aber das ist nicht nur ästhetisch fragwürdig, sondern auch nur eine Verschiebung des Problems. Denn woran sollte wiederum die Vollkommenheit eines Gegenstandes erkannt werden, wenn nicht an vorgängig definierten Parametern, deren Gültigkeit selber erst wieder zu diskutieren wäre. Weil Baumgarten so das Grundproblem ästhetischer Urteilskraft, zwischen Allgemeinem und Besonderem vermitteln zu sollen, dabei selbst aber zwischen beiden zu stehen, nicht lösen, sondern nur verschieben kann, geht Kant einen anderen Weg. Er tut dies in der bekannten, vielfach variierten transzendentalen Wendung, indem er nämlich auch in der Ästhetik den Fokus vom Objekt und seinen Eigenschaften abzieht und auf das Subjekt des Urteilens verlagert. Den Ansatz dafür bietet eine Untersuchung der logischen Form des ästhetischen Urteils, das zwar grammatisch als Prädikation erscheint, aber keine Prädikation sein kann. Der Satz, x sei schön, ist zwar oberflächengrammatisch gleich aufgebaut wie die Aussage, x sei ausgedehnt oder schwer, aber bei näherer Betrachtung keine eigentliche Prädikation, weil nach Kant Schönheit keine Eigenschaft eines Objekts ist. Darum fällt für Kant das ästhetische Urteil im Gegensatz zu Baumgarten, der die Ästhetik als niederes Erkenntnisvermögen und die sinnliche Erkenntnis des Einzelnen als notwendige Vorstufe zur Erkenntnis des Allgemeinen fasste, nicht in den Bereich der Erkenntnis; es macht keine Aussagen über objektive Qualitäten der Dinge. Das »Geschmacksurteil ist kein Erkenntnisurteil (weder ein theoretisches noch ein praktisches), und daher auch nicht auf Begriffe gegründet, oder auch auf solche abgezweckt.«11 10 Vgl. Gadamer, a. a. O.: »Bei Baumgarten etwa steht fest: Was die Urteilskraft erkennt, ist das sinnlich-Individuale, das Einzelding, und was sie am Einzelding beurteilt, ist seine Vollkommenheit oder Unvollkommenheit.« 11 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft; hg. von Wilhelm Weischedel, (Kant Werkausgabe 10) 1. Auflage Frankfurt am Main 1974, 122 (= B 14); Hervorhebung im Original, die textkritischen Kursivierungen wurden aufgehoben.

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Das ästhetische Urteil ist demnach, aus logischer Sicht, paradox: Es ist ein Urteil ohne Begriff, erhebt aber doch einen allgemeinen, freilich subjektiven Wahrheitsanspruch: »ein Anspruch auf Gültigkeit für jedermann, ohne auf Objekte gestellte Allgemeinheit anhängen, d.i. es muß damit ein Anspruch auf subjektive Allgemeinheit verbunden sein.«12 Damit trägt Kant dem Rechnung, dass das Geschmacksurteil von einer Gefühlsäußerung unterschieden werden muss: Das Urteil »x ist schön« ist kategorial von der Gefühlsäußerung »Ich finde x schön« zu unterscheiden; während das Urteil auf Zustimmung ausgerichtet ist, bleibt die Gefühlsäußerung privat und unwidersprechlich. Wenn aber das ästhetische Urteil Geltung beanspruchen kann, dann heißt das auch, dass jeder, der sich in angemessener Weise zu x verhält, dem Urteil, x sei schön, zustimmen wird, wobei die dem ästhetischen Urteil angemessene Haltung von Kant bekanntlich als interesseloses Wohlgefallen bestimmt wird. Kant siedelt also die ästhetische Urteilskraft in einem Zwischenfeld zwischen objektiven Erkenntnisurteil und subjektivem Gefühlsausdruck an, dem zugleich die systematische Aufgabe zukommt, zwischen notwendiger Vernunfterkenntnis einerseits, Freiheit und Individualität andererseits zu vermitteln. Die Bestimmung, dem ästhetischen Urteil komme subjektive Allgemeinheit zu, ist demnach nicht einfach subjektiv, als würde der schöne Blick des Betrachters eine Sache erst schön machen. Vielmehr ist das ästhetische Urteil von einer willkürlichen Bewertung zu unterscheiden: Schönheit ist das Zusammentreffen einer quasi objektiven Eigenschaft, die vielleicht erst entdeckt werden muss, über die aber eben Einverständnis zu erzielen ist. Kants Bestimmung der ästhetischen Urteilskraft muss freilich postulieren, dass eine solche Einigung nicht nur möglich sein muss, sondern auch realisiert wird. Er kann das tun, weil er sich sicher sein konnte, dass seine Beispiele, an denen er das ästhetische Urteil erläutert, unter seinen zeitgenössischen Hörern und Lesern konsensfähig sind. An dieser Stelle wird das Argument in einer vielleicht unvermeidlichen Weise zirkulär : Um an Beispielen erläutern zu können, was Geschmack ist, muss der Konsens derer vorausgesetzt werden, die über guten Geschmack verfügen. Weil sie Geschmack haben, können sie das Schöne identifizieren, das wiederum in ihrem sozialen und kulturellen Kanon bereits als Schönes anerkannt ist. Dieser Kanon ist allerdings nicht unwandelbar und in der Natur des Menschen gegeben, sondern offenkundig konventionell. Der gute Geschmack ist damit auch ein Unterscheidungskriterium zwischen den Experten und den Banausen; er fungiert auch als aristokratische Standesidentifikation und ist als Indikator, wer dazugehört und wer nicht, auch ein Herrschaftskonzept.13 12 A.a.O. 125 (= AB 19). 13 Die Studien von Pierre Bourdieu wären hier eingehend zu diskutieren, was freilich im

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Ist Kants subjektive Allgemeinheit also nicht eher ein Klassenphänomen oder abhängig vom sozialen und kulturellen Milieu? Dies wäre allerdings gegen Kants Ästhetik kein triftiger Einwand: Sie ist bereits in ihrem Ansatz auf den guten Geschmack der ›guten Gesellschaft‹ ausgerichtet. Dies hat mit den Entstehungsbedingungen von Kants pragmatischer Philosophie zu tun, die sich wesentlich an den studentischen Nachwuchs des Adels adressierte, ist aber auch mit der Konzeption des Ästhetischen und des Schönen in Kants Kritik der Urteilskraft verbunden. Gernot Böhme hat gezeigt, dass dabei zwar von »Kunst« die Rede ist, die ästhetischen Beispiele sich aber kaum auf Kunstwerke beziehen, sondern vielmehr auf den Bereich dessen, der heute allenfalls als Kunsthandwerk bezeichnet werden würde.14 Kants Beispiele sind z. B. Vasen, Möbel, Mode, dann auch Naturschönes in der Gestalt kulturell organisierter Natur : Gärten. Dies ist kein Zufall. Dem populären Bild Kants als protestantisch-pietistischer Asket steht gegenüber, dass er als Philosoph des Rokoko sich durchaus souverän in der Gesellschaft zu bewegen wusste. Für ihn ist auch das Kunstgewerbe, sind Mode und Tischkultur keine bloße Äußerlichkeit, die der wahre Gelehrte hinter sich lässt, sondern für die praktische Moralphilosophie bedeutsam, weil sie auch das Inventar des gesellschaftlichen Umgangs und damit die Bedingung der Sozialität sind. Darum »hat der ideale Geschmack eine Tendenz zur äußeren Beförderung der Moralität«, und wenn auch den »Menschen für seine gesellschaftliche Lage gesittet zu machen« nicht schon bedeutet, ihn auch sittlich gut zu machen, so bereitet es doch »durch die Bestrebung, in dieser Lage anderen wohlzugefallen« darauf vor.15 Die Konventionalität von Kants Ästhetik steht also gerade nicht im Widerspruch zu seiner aufklärerischen Grundhaltung; vielmehr hat das Erlernen des guten Geschmacks etwas damit zu tun, dass man sich in die vorgegebene Ordnung, die generell als eine gute Ordnung vorausgesetzt wird, einzufügen versteht. Die Fähigkeit, sich sicher auf dem gesellschaftlichen Parkett zu bewegen, bedeutet dann auch sich einzufügen in friedliches Miteinander. Kants Durchführung seiner Bestimmung des Geschmacks als begriffsloses Urteil und subjektive Allgemeinheit gerät in Schwierigkeiten, wenn man die Voraussetzung nicht teilt, dass der Geschmack der ›guten Gesellschaft‹ verlässlich sei, wenn also

Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden kann; vgl. vor allem Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft; Frankfurt am Main 1982. 14 Böhme, Gernot: Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht; 1. Auflage Frankfurt am Main 1999. 15 Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht; in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Pädagogik 2. Register zur Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, (Kant Werkausgabe, 12) 8. Auflage Frankfurt am Main 1991, 395 – 690, 570 (= BA 192).

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die Übereinstimmung von Konvention und moralisch guter Geltung nicht vorausgesetzt werden kann.

2.

Ästhetischer Geschmack und informelle Musik

Die Frage nach dem Verhältnis von Geschmack und moralischer Urteilsbildung stellt sich noch einmal neu, wenn der ›gute Geschmack‹ als gesellschaftlich gewordene Konvention durchschaut ist und damit die Kongruenz der ästhetisch vorherrschenden Kategorien mit dem Allgemeingültigen als Ideologie erkennbar wird. Wenn Geschmacksbildung die Einführung in ein kontingentes, milieuspezifisches ästhetisches Ideal bedeutet und die Kriterien, an denen sich das ästhetische Urteil bemisst, allemal partikular sind, scheint Geschmack letztlich wieder zum subjektiv Beliebigen zu werden oder allenfalls Ausdruck eines gruppenspezifischen Kanons zu sein. In den musikalischen Schriften von Theodor W. Adorno findet sich ein Text, der auf diese Problematik noch einmal ein ganz anderes Licht werfen kann. Es handelt sich dabei um einen Vortrag, den Adorno 1961 bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik gehalten hat,16 also in einem Kreis von Musikern und Komponisten, die sich der musikalischen Avantgarde zugehörig fühlten. Dieser Text ist auch darum besonders eindrücklich, weil Adorno hier durchaus in Spannung zu seiner eigenen ästhetischen Theorie argumentiert und dies auch namhaft macht. Adorno reflektiert hier, also auf dem Höhepunkt serieller Musik, die seinerzeit dominierenden Kompositionsprinzipien. Dabei findet sich Adorno in der eigentümlichen Situation, dass er als exponierter Philosoph der Neuen Musik gleichwohl die neueste Entwicklung für problematisch ansieht: Sein Paradigma ist nach wie vor die Schönberg-Schule, der er auch in seinem musikalischen Schaffen zugehört. Neue Musik ist für Adorno also ein qualitativer, nicht vorrangig ein Zeitbegriff;17 damit aber durchbricht er seine auf »der geschichtlichen Tendenz der musikalischen Mittel«18 basierte Musikphilosophie. Wenn nämlich nicht mehr die neueste und in der Entwicklung der musikalischen Mittel avancierteste Musik nicht zugleich als die fortgeschrittenste gelten soll, entsteht sofort die Frage, woran dann sich der Wahrheitsgehalt der Werke beurteilen ließe. Indem Adorno damit das hegelianische Modell eines 16 Adorno, Theodor W.: Vers une musique informelle; in: ders., Musikalische Schriften I – III, (Gesammelte Werke 16) Darmstadt 1998, 493 – 540. 17 Vgl. auch schon seinen Aufsatz von 1954: Adorno, Theodor W.: Das Altern der Neuen Musik; in: ders., Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt (Gesammelte Schriften 14), Darmstadt 1998, 143 – 167. 18 Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik; (Gesammelte Schriften 12), Darmstadt 1998, 38.

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Fortschritts des objektiven Geistes in der Musik aufkündigt, stellt sich auch seiner ästhetischen Theorie die Problematik, dass sein individueller Geschmack zur Norm zu werden scheint. Adornos Musikanalysen geben zu dieser Anfrage durchaus Anlass, wie ein Beispiel zeigt, das Karl Markus Michel anführt. Wenn Adorno die nach gebräuchlicher Instrumentationslogik zu kritisierende Wiederholung einer Melodie in derselben Klangfarbe im Schlusssatz von Mahlers Neunten Symphonie zum in diesem Werk Richtigen erklärt,19 dann lässt sich rational nicht begründen, »warum nun das ›Nachgeben‹ (zweimal Solohorn oder zwei Prisen Oregano) gut und richtig sein soll, d. h. besser und richtiger als die ›normale‹ Lösung, …, man kann es nur post festum beteuern; banausisch gesagt: wenns geschmeckt hat.«20 Im Darmstädter Vortrag stellt sich Adorno dieser Problematik und bearbeitet sie so, dass er eben nicht der ästhetischen Theorie, sondern dem künstlerischen Empfinden den Vorzug gibt, ohne dieses zum Letzten und Unbefragbaren zu machen. Auch hier unternimmt er musikalische Analysen am Material und seiner Gestaltung, die regierenden Kategorien sind aber nicht die kompositorischer Rationalität, sondern ›Durchhören‹, ›Mitkomponieren‹, ›den Ohren vertrauen‹. Diese Formulierungen sind durchaus als musikalische Korrelate dessen anzusehen, was Geschmack und Intuition genannt wurde. Adorno ist sich immer dessen bewusst gewesen, dass die Kompositionsprinzipien der abendländischen Musik immer wieder durch die innere musikalische Logik eines Werkes problematisiert wurden, und dass gerade die bedeutendsten Werke die jeweils geltenden kompositorischen Regeln überschreiten und negieren. Was aber unterscheidet die geniale Überschreitung des Kanons von einem schlichten Fehler im musikalischen Satz? Die Problemlage verschärft sich in der Musik des 20. Jahrhunderts, die fortschreitend die Regeln des Komponierens als bloße Konvention erkennt und als solche hinter sich lassen will. Schon die Ausbildung der Zwölfton-Technik ist für Adorno eine ambivalente Entwicklung gegenüber der freien Atonalität im Werk Schönbergs, weil hier die Sehnsucht nach kompositorischen Regeln die ästhetische Freiheit beschränkt – ambivalent, weil die freie Atonalität auch kaum mehr über Maßstäbe verfügt, mit denen über das Gelingen oder Nichtgelingen eines Werkes entschieden werden könnte. Erst recht ist es die vollkommene Durchrationalisierung der Kompositionen in der Serialität, in der Adorno einen dialektischen Umschlag erkennt: Aus der fortschreitenden Negation konventioneller Kompositionsweisen und subjektiver Setzung entsteht selbst wieder ein musikali19 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie; (Gesammelte Schriften 7), Darmstadt 1998, 282. 20 Michel, Karl Markus: Versuch, die »Ästhetische Theorie« zu verstehen; in: Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos. Konstruktion der Moderne, hg. von Burkhardt Lindner und W. Martin Lüdke, Frankfurt/M. 1979, 41 – 107, 50.

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scher Zwang, dessen hörbares Resultat wiederum von vollkommen beliebigen Tonfolgen oft kaum zu unterscheiden ist. Dem gegenüber entwickelt Adorno in seinem Vortrag die Utopie einer musique informelle, »die alle ihr äußerlich, abstrakt, starr gegenüberstehenden Formen abgeworfen hat, die aber, vollkommen frei vom heterogen Auferlegten und ihr Fremden, doch objektiv zwingend im Phänomen, nicht in diesen auswendigen Gesetzmäßigkeiten sich konstituiert.«21

Werden die tradierten Kompositionsprinzipien als historisch und kulturell kontingente Konvention erkannt, müssen andere Organisationsprinzipien gefunden werden, damit Musik nicht beliebig wird und in ihrer ästhetischen Bedeutung kollabierte. Solche Prinzipien können aber wiederum nicht äußerlich gesetzte Regelwerke sein, die selbst nichts anderes als heterogene Konvention sein könnten. Das musikalische Problem ist paradigmatisch für die Moral: Wenn jede Ethik partikular ist, weil in der behaupteten Allgemeinheit eine kulturelle und soziale Hegemonie erkannt werden kann, bricht nicht nur der moralische Diskurs zusammen, sondern scheint auch im Handeln buchstäblich alles erlaubt. Dieses Problem stellt sich der Neuen Musik spätestens seit 1910, wie nämlich mit der Freiheit von der Verpflichtung auf kompositorische Regeln gelebt und umgegangen werden kann. Seine eigene Geschichtsphilosophie der Musik muss aus systematischer Konsequenz den Übergang zur Zwölf-Ton-Musik als ästhetische notwendig behaupten, die Adorno musikalisch aber problematisiert. Die Stärke seiner Überlegungen zur informellen Musik liegt auch darin, dass sie keine fertige Lösung anbieten. Die Hinweise aber, die hier gegeben werden, verdienen eine gründliche Reflexion und Weiterführung. Die Aufgabe, die es auch im Blick auf die Bildung zum moralischen Urteil weiterzudenken gelte, spricht sich aus in der bei Adorno formulierten Dialektik von subjektiver Identität und der Notwendigkeit ihrer kritischen Reflexion, von Unhintergehbarkeit des eigenen Geschmacks und Problematisierung seiner Gegebenheit. Zur Möglichkeit des Komponierens unter den gegebenen Bedingungen schreibt er : »Man fühlt sich animiert musikalisch zu reden wie einem der Schnabel gewachsen ist; zu reflektieren wäre nur über den Schnabel und seine Gewachsenheit.«22 Die ästhetische wie die ethische Bildungsaufgabe besteht darin, die eigene Partikularität nicht zu negieren, weil auf ihr die Möglichkeit der Urteilsbildung erst basiert. Urteilen heißt, die Dinge von einem bestimmten Ort aus wahrzu21 Adorno, Vers une musique informelle, 496. 22 Adorno, Vers une musique informelle, 534.

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nehmen. Zugleich gilt es sich dessen bewusst zu bleiben, dass andere an anderen Stellen stehen. Freilich ist Identität allemal nur in solcher Relativität zu haben. Musikmachen, Komponieren und Improvisieren wird im Hören gelernt, das verweist unabdingbar auf eine bestimmte musikalische Biographie mit bestimmten Erfahrungen. In der Begegnung mit verschiedenen Werken und Traditionen bildet sich die eigene musikalische Stimme, die in ihrer Relativität ihre genuine Verbindlichkeit gewinnt. Als solche ist die Partikularität gerade nicht beliebig, sondern durchaus begründungsfähig nicht zuletzt im Verweis auf die Erfahrungen, an der sie sich bildete. Zugleich ist so jenes Maß an individueller Freiheit vom Zwang des Verallgemeinerbaren respektiert, das zum Wesen von Ästhetik und Moral gehört. Die Gründe, die uns zu unseren Urteilen bewegen, lassen sich nicht einfach durchsetzen; aber gerade im Verzicht auf das Durchsetzen ist Freiheit und der Respekt vor dem Anderen eröffnet.

Hans Günther Ulrich

Sinn und Geschmack für Gottes Willen. Zum theologischen Verständnis des Urteilens

Das Thema, so gefasst, hat sich aus bisherigen Betrachtungen zur Frage »Was ist Urteilen?« ergeben, nachdem vor allem Hannah Arendts Vorlesung über »Das Urteilen« ins Spiel gekommen ist. In dieser Formulierung wird es sofort eine Reihe von weiteren Verbindungen anstoßen, von denen einige gleich zu Anfang angezeigt werden sollen. Wir können das Thema als Text lesen. Gehen wir seinen Leitworten hier nach und gewinnen so eine Disposition, eine Heuristik für das Weitere. Der Titel zeigt an, dass die allgemeine Frage »Was ist Urteilen?«, der wir hier nachgehen sollen, die weitere Frage impliziert oder provoziert, was die »Wirklichkeit« ist, zu der das Urteilen gehört.

1.

»Sinn und Geschmack für Gottes Willen – zur pneumatischen Dimension des Urteilens«

Dass hier Schleiermachers »Reden über die Religion« anklingen, wird uns erst dann beschäftigen können, wenn wir den Zugang zu dem markiert haben, was hier »Geschmack« und »Urteil« heißen und worauf das Urteilen zielt. Die Ausgangsdisposition ist bei unserer Befassung mit dem Urteilen die von Hannah Arendt in Gang gesetzte Diskussion gewesen, die daraus entstand, dass Hannah Arendt auf ihrer Suche nach dem, was die geistige Tätigkeit im »Leben des Geistes« ist, die das Politische ausmacht, auf Kants »Kritik der Urteilskraft« gestoßen ist, die – wenn diese auf die politische Praxis hin gelesen wird – überraschender Weise das Geschmacksurteil zum Angelpunkt hat.1 Das »Leben des Geistes« unterscheidet sich grundlegend von der »Phänomenologie des Geistes« (Hegel), denn das »Leben des Geistes« zielt auf die gegenwärtige geistige Praxis, auf die politische Praxis als eine geistige und nicht auf ein Geistgeschehen und seine Geschichte. 1 Zu Arendts Kant-Lektüre siehe: Meindl, Matthias: Geschmack und Urteilskraft bei Pierre Bourdieu und Hannah Arendt; Berlin, 2009.

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»Urteilen« kommt als eine geistige Tätigkeit in den Blick, der sich sofort auch auf die biblische Tradition und ihre Auslegung richten wird, wenn denn deutlich ist, wo und wie diese geistige Tätigkeit dort vorkommt und verankert ist. Wir werden sehen, wie zentral die Semantik des »Urteilens« und »Verstehens« in der biblischen Tradition ist, sowohl in der hebräischen wie in der griechischen Sprache. Es ist so zentral, dass es verwundern mag, dass dies in diesem Zusammenhang nicht wahrgenommen worden ist. Was »Urteilen« ist, wird im Folgenden von der gegenwärtigen philosophischen Diskussion her auf die Theologie hin diskutiert. Dies ist darin begründet, dass in der philosophischen Diskussion hierzu Konturen vorliegen, die gut als Folie für die theologische Bestimmung des Urteilens dienen können, während die theologische Diskussion so deutliche Konturen direkt nicht aufweist.2 Was Urteilen im theologischen Kontext heißt, ist schließlich nicht nur konzeptionell und beschreibend zu fassen, sondern an der Praxis selbst zu zeigen, das heißt an Beispielen, nicht zuletzt solchen, wie sie in den biblischen Texten aufzufinden sind. Dennoch ist das Folgende zunächst nur eine Hinführung zum theologischen Verständnis des Urteilens. Sie hat zu beschreiben, was diese geistige Tätigkeit im Kontext der Erkundung dessen, was Gottes Geschichte mit uns Menschen und »Gottes Wille« (Röm 12,2) ist. Urteilen – so wird zu zeigen sein – bewegt sich auf der Spur der Geschichte, die in der Leitung des Geistes in seiner Krisis als Rechenschaft von begründeter Hoffnung erscheint.

2.

Drängende Frage: Geschmack und Urteil – im Politischen

Was hat Hannah Arendts Beschreibung des Urteilens angestoßen? Wie kann in der politischen Praxis ausgerechnet das Geschmacksurteil leitend werden? Was ist die drängende Frage dabei? Was ist, so hat man auch gefragt, das »Anliegen«3 von Hannah Arendt? Wir werden unsere eigene drängende Frage noch bestimmen müssen. Sie wird auch das grundlegende Problem betreffen, was im Zusammenleben und in der ethischen Verständigung leitend sein kann, wenn diese Verständigung sich nicht auf eine abrufbare Moral oder andere gegebenen Verbindlichkeiten berufen kann. Wie kommt eben deshalb das Geschmacksurteil ins Spiel? Wie kann darin das politische Zusammenleben seinen festen Angelpunkt finden – das heißt die urteilende Verständigung in einer entsprechend qualifizierten Öffentlichkeit? Hier hat sich eine weitverzweigte Diskus2 Siehe zur Diskussion jetzt auch: Honecker, Martin: Evangelische Ethik als Ethik der Unterscheidung. Mit einer Gesamtbibliographie; Münster u. a. 2010; weiteres in: Ulrich, Hans G.: Explorative Ethik; in: Urteilen lernen. Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung; hg. von Ingrid Schoberth, Göttingen, 2012, 41 – 59. 3 Vgl. Spiegel, Irina: Die Urteilskraft bei Hannah Arendt, Berlin 2011, 222.

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sion entwickelt, zu der auch Habermas‹ Kritik an Hannah Arendt gehört, mit der Pointe, dass damit das entscheidende Element öffentlicher Verständigung, nämlich ihr rational-kognitiver (und darin begründeter normativer) Charakter, verfehlt wird.4 Dies, weil Habermas auf einer kognitiv-rationalen Verständigung in der – explizit – politischen Öffentlichkeit insistiert, sofern nur im kognitivrational Erfassten das Gemeinsame aufgefunden werden kann. Hannah Arendt zeigt freilich für das Problemfeld eine eigene Disposition, die auf einen weiteren Zusammenhang einer gemeinsamen Welt zielt, die gleichwohl für das politische Zusammenleben relevant ist. Dies wiederum ist relevant für ein theologisches Verständnis des Urteilens, sofern dieses auf eine Weltwirklichkeit gerichtet ist, die im urteilenden Verstehen zu erkunden ist. Hannah Arendt hat das »Urteilen« als zum »Leben des Geistes« gehörig beschrieben. Mit »Urteilen« ist nicht irgendein »Vermögen« gemeint, sondern eine grundlegende Aktivität, eine Tätigkeit, die zum Leben des Geistes gehört, wie »Wollen« und »Denken«. Urteilen ist ein Tun, eine Praxis, die zu uns Menschen gehört. So ist es auch sinnvoll zu fragen, was wir tun, wenn wir urteilen. Ronald Beiner hat die Aufgabe und Disposition bei Hannah Arendt so beschrieben (192): »das Urteil hat die Funktion, den Menschen in einer Welt zu verankern, die andernfalls ohne Sinn und existentielle Wirklichkeit wäre: Eine nicht-beurteilte Welt würde für uns keine menschliche Bedeutung haben.« Ist damit das Ziel bestimmt? Wir werden zusehen müssen. Es wird eine Frage bleiben müssen.

3.

Geistesgeschichtliche Suche

Was ist dieses Urteilen, das so unabdingbar zu uns Menschen gehört? Diese Frage stößt auch eine geistesgeschichtliche Suche (das »Leben des Geistes« als Erzählung5) an. Hier beginnt die Suche nach einer Genealogie, die sich in der Geistesgeschichte – von Aristoteles bis Hannah Arendt – abzeichnet. In diese Genealogie gehört entscheidend (wie Platons Sokrates) Immanuel Kant. Dieser Suche können wir hier nicht nachgehen, sondern nur einige Momente herausgreifen, die uns die Spur verstärken können, die mit der von Hannah Arendt angezeigten Fragestellung gegeben ist. Arendt greift auch auf die griechische 4 Siehe dazu: Beiner, Ronald: Hannah Arendt über das Urteilen; in: Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, München 1985, 115 – 197, hier 173 f. Beiner schließt sich Habermas’ Kritik an, verweist dann aber auf die ganz eigene Disposition von Hannah Arendt, der wir hier auch nachzugehen suchen. Sie sieht das Urteilen bei dem – rückwärtsgewandten – Zuschauer der Geschichte, vgl. 181 f. Dieser allein kann »Hoffnung anbieten«. 5 Spiegel, Irina: Die Urteilskraft bei Hannah Arendt.

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Semantik zurück. Urteilen ist griechisch »krinein«. Arendt sieht darin zwei Bedeutungen hervortreten: urteilen und entscheiden.6 Wichtig ist zugleich die Bedeutung »unterscheiden«. Immer wieder insistiert Hannah Arendt schließlich darauf, dass Unterscheidungen getroffen werden. Wir finden auch in der biblischen Sprache eine entsprechende Semantik. In der hebräischen Bibel ist es »Bin«, »merken«, »verstehen«, »unterscheiden« – wie wir es signifikant in Psalm 82 und Hiob 32 finden. In Psalm 82 werden diejenigen angeklagt, die nicht »urteilen« – und überdies falsch »richten«. Richten und Urteilen (Judgement und Discernment) sind hier beisammen. Gerechtigkeit ausüben heißt urteilen und umgekehrt urteilen zielt auf Gerechtigkeit – und dies heißt, es gilt, die Unterscheidungen zu treffen, die das je zu Unterscheidende bewahren und ihm so gerecht werden. Der Gerechte, so lesen wir bei Gershom Scholem, stellt alles an seinen Ort.7 Hannah Arendt erinnert an Salomos Bitte an Gott um ein »verstehendes Herz« (1 Kön 3,5 – 15). Dieser Bitte entspricht die mahnende Erinnerung an die Christen: »darum werdet nicht unverständig, sondern versteht, was der Wille des Herrn ist.« (Eph 5,17). »Erkundet, was dem Herrn wohlgefällig ist.« (Eph 5,10). Dies ist in Kurzfassung die Aufgabe einer explorativen, urteilenden Ethik.8 Sie steht auch – wie Hannah Arendt bemerkt – gegen einen »Überzeugungszwang«, wie er durch Plausibilisierung erzeugt wird, und gegen die »bedeutungslosen Tautologien des Selbstverständlichen«9, auch des moralisch Selbstverständlichen. Bei Hannah Arendt gibt es eine weiterreichende Problemstellung zur Unterscheidung von Moral und Recht. Das Urteilen gehört auf die Seite des Rechts und der Gerechtigkeit. Auch dieser Zusammenhang findet sich in den biblischen Texten.10 Das verstehende Unterscheiden ist verbunden mit der Einbildungskraft. So beschreibt Hannah Arendt das Urteilen in seiner Disposition: »Im Urteil gibt es zwei geistige Operationen. Da ist die Operation der Einbildung: Man beurteilt Gegenstände, die nicht langer gegenwärtig, sondern aus der unmittelbaren Sinneswahrnehmung entfernt sind und einen deshalb nicht länger direkt affizieren; und doch wird nun der Gegenstand, obwohl aus den äußeren Sinnen entfernt, zu einem Gegenstand für die inneren Sinne. Wenn man sich etwas repräsentiert, das abwesend ist, schließt man gewissermaßen jene Sinne, durch die einem Gegenstande in ihrer Gegenständlichkeit gegeben werden. Der Geschmackssinn ist ein Sinn, in dem man sich gewissermaßen selbst sinnlich wahrnimmt; er ist ein innerer Sinn. Also: Die Kritik 6 Zu den Bedeutungen siehe auch Beiner, Ronald: Hannah Arendt über das Urteilen, 115 – 197. 7 Scholem, Gershom: Drei Typen jüdischer Frömmigkeit; in: ders., Judaica 4 1. Auflage Frankfurt am Main, 1984, 262 – 286, hier 275. 8 Siehe dazu: Ulrich, Hans G.: Explorative Ethik. 9 Arendt, Hannah: Verstehen und Politik, in: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München, 1994,110 – 127, hier : 121. 10 Siehe u. Ez 36.

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der Urteilskraft erwächst aus der Kritik des Geschmacks. Diese Operation der Einbildung bereitet den Gegenstand für die ›Operation der Reflexion‹ zu. Und diese zweite Operation, nämlich die Operation der Reflexion, ist die eigentliche Tätigkeit des EtwasBeurteilens. Auf Grund dieser zweiteiligen Operation ergibt sich die wichtigste Bedingung für alle Urteile, die Bedingung der Unparteilichkeit, des ›uninteressierten Wohlgefallens‹. Indem man seine Augen schließt. Wird man zu einem unparteilichen, nicht direkt affizierten Zuschauer sichtbarer Dinge. Der blinde Dichter!«11

Es geht mit dem Urteilen (dem verstehenden Wahrnehmen etc.) um dasjenige geistige Tun, das den Menschen die »Welt« erschließt, die Welt-Wirklichkeit, in der er lebt – so erschließt, dass er darin nicht verloren geht, sondern darin ein zu Hause findet und mit anderen zusammenlebt. Inwiefern kann diese erschlossene Welt, dieses zu Hause dann auch »normativ« gültig sein? Ist das Kriterium des »Normativen« allein das rational Fassbare oder (zugleich) etwas Bestimmtes, das – rational erfasst – leitend ist. Und damit geht es um etwas Grundlegendes: es geht eben um die Welt, die Welt-Wirklichkeit die Menschen teilen. Entscheidend ist: Das Gemeinsame muss als gültige bestimmte »Welt« (nicht als Moral mit der ihr eigenen Gültigkeit etc.) präsent sein. Es geht nicht um irgendein »Gemeinsames«, nicht um etwas, auf das wir uns als einen gemeinsamen Treffpunkt (vielleicht im Sinne eines »overlapping consensus«12 über das, was uns unerlässlich scheint) einig finden können oder gar, das wir irgendwie als Gemeinsames setzen (im Ausnahmezustand), sondern es geht (auch in ihren Institutionen) um eine gültige gemeinsame Welt, in der wir leben und zusammenleben, eine Welt, mit der wir rechnen dürfen, die wir nicht verleugnen können und auf die wir verweisen können.13 Wir werden auch (mit Ludwig Wittgenstein) zu fragen haben, inwiefern eben diese »Welt«, die Welt unserer Sprache ist – oder ob wir begrenzter zu sagen haben: die Welt unserer artikulierten Urteile. Jedenfalls geht es um die Welt des Normalen, nicht der Ausnahme, es geht um die normale Welt, nach der (Hannah Arendts Beschreibung zufolge) Kafka gesucht hat. »Das menschlich Wahre kann niemals in der Ausnahme liegen, nicht einmal in der Ausnahme des Verfolgten, sondern nur in dem, was die Regel ist oder die Regel sein sollte.«14 Damit ist eine politische Ethik angezeigt, sofern diese fragt, in welcher Welt (und nicht nur bei welchen Normen oder Übereinkünften etc.) Menschen urteilend zusammenfinden, um zu handeln und zu koexistieren. Es kommt mit der 11 Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, München, 1985, 92. 12 Rawls, John: Art.: The idea of an overlapping consensus, in: Oxford Journal of Legal Studies, 7, 1987, 11 – 25. 13 Hannah Arendt über den Eichmann-Prozess: Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Neuausgabe; 5. Auflage München, 1986. 14 Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition, 8 Essays, 1. Auflage Frankfurt am Main, 1976, 71.

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Frage nach der gültigen gemeinsamen Welt in den Blick, was der »öffentliche Raum« ist. Es ergibt sich daraus ein bestimmtes Verständnis von Öffentlichkeit. Wir treffen hier auf die entscheidende Frage, was die Grenzen des öffentlichen Raumes sind, inwiefern sie mit den Grenzen einer gemeinsamen Welt übereinstimmen, vielleicht auch zusammenfallen. Diese Frage betrifft das Problem, inwiefern die politisch-öffentliche Verständigung selbst eingefügt ist in einen weiteren Kontext der Verständigung und des Verstehens – eben in den weiteren Kontext einer gültigen gemeinsamen »Welt«.15 Hannah Arendt sieht das politische Urteilen (und Entscheiden) eingefügt in das Verstehen der Welt. Nur in einer gemeinsamen Welt können Menschen zusammenfinden und politisch zusammenleben. Wird das Verstehen der Welt-Wirklichkeit (auch) mit einer »religiösen« Zugang oder Thematisierung der »Welt« verbunden sein? Von der christlichen »Religion« kann gesagt werden, sie thematisiere »Welt« als menschliche WeltWirklichkeit, als säkulare Welt. Wie sonst kann »Welt« (und mit ihr »Geschichte«) in den Blick gefasst werden? Theologisch aber ist der Blick auf die »Welt« dort verortet, wo Gott eine Geschichte mit dieser Welt eingeht, und dann auch eine neue Geschichte beginnt und mit ihr eine neue Schöpfung. So wird es schließlich darum gehen, diese Geschichte urteilend zu verstehen, die Welt und ihre Geschichte in der Perspektive dieser neuen Geschichte. Welcher Geschichte wird das Urteilen folgen können?16 Sofern Urteilen heißt, die Weltwirklichkeit – als gemeinsame – gültig zu erschließen, ist angezeigt, dass dies eine Tätigkeit für sich ist, sie hat ihre eigene Aufgabe. Sie ist nicht mit anderen Aufgaben und Tätigkeiten zu verwechseln, so nicht mit der Aufgabe, gemeinsam zu handeln und zu entscheiden, und auch nicht mit der Aufgabe zu denken.

4.

Handelnde und Zuschauer

Es kommt daher eine Unterscheidung in den Blick, die hier auszuloten ist: die Unterscheidung zwischen den Handelnden und denen, die nicht handeln, zwischen den Aktiven und den in bestimmten Sinn Passiven, oder zwischen den Handelnden und den Zuschauern. Die Weltwirklichkeit urteilend zu erschließen, das ist Sache der Zuschauer oder der jedenfalls nicht ins Handeln Verwickelten. Wir würden heute vor allem von einem »Berater«, etwa einem Politik15 An dieser Frage ist die Differenz zwischen Habermas und Hannah Arendt festgemacht. 16 Eine theologische Bearbeitung findet sich vor allem bei Hans Joachim Iwand. Siehe dazu: Thaidigsmann, Edgar : Das Urteil Gottes und der urteilende Mensch. Gerechtigkeit Gottes in Jesus Christus bei Hans Joachim Iwand; in: Thaidigsmann, Edgar : Einsichten und Ausblicke. Theologische Studien, Berlin 2011, 273 – 290.

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berater sprechen, wofür es auch – auch ihrem Selbstverständnis nach – signifikante Beispiele gibt.17 Es geht hier um den Zuschauer, der urteilt – also um den, der wirklich zu-sieht, was geschieht, um es zu verstehen und so mit der Welt verbunden zu sehen, wie neu auch immer, das erscheint, was geschieht. Auf diese Weise wird das ästhetische, das wahrnehmende Urteil hier verortet – entscheidend dort, wo etwas Neues geschieht, wo etwas Neues wahrzunehmen ist, das nicht schon zu der gemeinsamen Welt gehört und doch mit ihr verbunden sein muss, wenn es denn möglich sein soll, von der »Welt« zu reden und die »Welt« nicht auseinanderfallen zu lassen. Hannah Arendt greift genau hier auf Kants Kritik der Urteilskraft zurück. Entscheidend ist zunächst, was (durchaus im Sinne von Kant) die Unterscheidung zwischen den Handelnden und den Zuschauern bedeutet.

5.

Aufgabe der Zuschauer

In der Interpretation von Ronald Beiner ist es die Aufgabe der Zuschauer, den »Sinn der Welt« herauszufinden. Es ist die Aufgabe, eine sinnhafte Welt auszumachen. Das bleibt eine eigene Aufgabe. Wir werden dann sehen, inwiefern diese sinnhafte Welt – wie diese Disposition schon anzeigt – sinnenhaft ist, das heißt über die Sinne (den Geschmack) präsent, weil es um eine Welt geht, in der wir wirklich leben (ohne dass sie auf das schon eingeschränkt ist, was wir vielleicht Erfahrung nennen) und nicht um eine »imaginäre« Welt. Die damit gegebene Unterscheidung von Akteur und Zuschauer ist darin kritisiert worden, dass die urteilende Erschließung der Welt keine solche Gemeinsamkeit hervorbringt, wie sie für das gemeinsame Handeln nötig ist, das heißt eine im Diskurs gewonnene gemeinsame rational fassbare Erkenntnis, sondern dass sie eine andere Art der »Verständigung« oder des Gewärtigens einer gemeinsamen Welt impliziert, eben diejenige, die über das Urteilen, ja über den Geschmack, verläuft. Jürgen Habermas hat kritisiert, dass damit das Urteilen von der kognitiven Erfassung der Welt getrennt wird, während doch die kognitive Erfassung das gemeinsame Handeln tragen muss. Strittig ist damit also die Grundlegung und die Ausführung (im Sinne einer geistigen Tätigkeit) der darin implizierten politischen Ethik.18 Es liegt ausgehend von dieser Kant-Diskussion nahe, tatsächlich wahrnehmenden Geschmack und Urteil zusammenzubringen. Geschmack erscheint hier 17 Siehe als Beispiel Politikberater im Gespräch: Kissinger, Henry A.; Zakaria, Fareed; Ferguson, Niall; Li, David Daokui: Wird China das 21. Jahrhundert beherrschen? Eine Debatte, München 2012. 18 Marshall, David L.: Art.: Hannah The Origin and Character of Hannah Arendt’s Theory of Judgment, in: Political Theory, 38, 2010, H. 3, 367 – 393.

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nicht als dem Urteil unzugänglich oder umgekehrt. Wir werden sehen, dass es demgegenüber gerade im Geschmacksurteil, im wahrnehmungsvermittelten Urteil – so wie Hannah Arendt dies in den Blick rückt – gilt, eine gemeinsame »Welt« auszumachen, eben auf dem Weg des Urteilens und nicht auf einem anderen Weg einer wie auch immer zu fassenden Verständigung, unabhängig oder jenseits dessen, was wir im »Geschmack« als unsere Welt gewärtigen. Es wird des Weiteren zu fragen sein (wie schon angezeigt – zum »Anliegen« Arendts), worauf das Geschmacksurteil primär zielt, was sein telos ist und was sich im Urteil primär vollzieht. Ist es auf eine Welt gerichtet, »in der man zu Hause sein kann« oder primär auf eine Welt, in der politisches Zusammenleben möglich ist, und in der in diesem begrenzten Sinne ein bürgerliches Zuhause möglich ist, ein Zuhause, das in diesem begrenzten Sinn »normativ« ist. Wie verhält sich die Erkundung der Welt zur politischen Verständigung in einer dafür nötigen gemeinsamen, normativ gültigen Welt?19 Oder sind Welt und politische Welt hier nicht zu unterscheiden? Zu klären ist damit auch, wie »Welt« überhaupt thematisierbar wird – und inwiefern dies eine Disposition impliziert, die theologisch zu fassen ist.

6.

Sinn und Geschmack für eine Welt – nach Gottes Willen

Wie »Welt« thematisierbar wird, ist eine theologische Frage, wenn es denn einen Ort für eine solche Thematisierung geben muss – den Ort des Zuschauers und seinen »Sinn und Geschmack«. Hier mag Schleiermacher anklingen. Wir sind aber mit dem angezeigten Thema nicht direkt bei Schleiermacher, der die »Religion« als »Sinn und Geschmack für das Unendliche« gekennzeichnet hat. Schleiermachers »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« gehört zu einer »Religion«, die universal ist und daher auf eigene Weise zugänglich.20 Das Urteilen hingegen muss, wie Ronald 19 Zur Fragestellung in Bezug auf Hannah Arendt siehe: Benhabib, Seyla: Hannah Arendt – Die melancholische Denkerin der Moderne; Erweiterte Ausgabe Frankfurt am Main 2006, 301 – 309. Die Frage ist jedoch, ob die Gültigkeit der Welt, wie sie bei Hannah Arendt im Urteil gewonnen wird, eine eigene ist, die jedenfalls nicht eine moralische ist. 20 Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), Berlin 1970, 2. Rede: » …Religion atmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist, jenseits des Spiels seiner besondern Kräfte und seiner Personalität faßt sie den Menschen, und sieht ihn aus dem Gesichtspunkte, wo er das sein muß was er ist, er wolle oder wolle nicht. So behauptet sie ihr eigenes Gebiet und ihren eigenen Charakter nur dadurch, daß sie aus dem der Spekulation sowohl als aus dem der Praxis gänzlich herausgeht, und indem sie sich neben beide hinstellt, wird erst das gemeinschaftliche Feld vollkommen ausgefüllt, und die menschliche Natur von dieser Seite vollendet. Sie zeigt sich Euch als das notwendige und unentbehrliche Dritte zu jenen beiden, als ihr

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Beiner zu Hannah Arendts Kennzeichnung des Urteilens gesagt hat, durch die Geschichten der Menschen hindurch. Etwas anderes ist es, auf das »Unendliche« auszugreifen, das unendliche Ganze. Dies wäre das »welt«lose Ganze, denn die Weltwirklichkeit ist nicht unendlich. Hier treffen wir auf die Unterscheidung zwischen einer Theologie, die – in ihren Urteilen – auf die von Gott gewollte Weltwirklichkeit (uns Menschen eingeschlossen) zielt, oder auf »Gott«, auf eine »Gottes«-Erfahrung, die nicht »welthaft« und durch ihre Geschichte vermittelt ist, die damit auch nicht durch Gottes Geist (Christi Geist) vermittelt ist, sofern der Geist Gottes Menschen als Zeugen von Gottes Geschichte in der Weltwirklichkeit leitet. Schleiermacher mit Hannah Arendts Augen zu lesen, heißt diese Differenz zu sehen.21 Bei Arendt geht es um die »gemeinsame Weltwirklichkeit« und was als diese präsent wird, so dass wir uns in ihr orientieren und handeln können. Wir sind mit »Sinn und Geschmack für Gottes Willen« an diesem Ausgangspunkt, jedoch nur sofern damit nicht der Sinn und Geschmack für das Unendliche angezeigt ist, sondern für den »Willen« Gottes, der in bestimmter Weise auf Erden, in dieser Welt, geschieht und geschehen soll: »Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden« beten die Christen im »Vater-Unser«. Wir sind damit auf Gottes »oikonomia« ausgerichtet, auf all das, worin sich Gott uns Menschen zugewandt hat, um darin die gemeinsame Weltwirklichkeit in einer neuen Geschichte finden. Das heißt nicht, »das Ganze« (das Unendliche) aufzusuchen, »das Ganze« erscheinen zu lassen, es geht vielmehr um diese begrenzte, in Gottes Willen bestimmte Welt. Diese bestimmte Welt kommt als eine ganze, aber nicht als das Ganze und Unendliche in den Blick. Die Suche nach der gott-gewollten Weltwirklichkeit in ihrer Ganzheit ist etwas anderes als die Suche nach »dem Ganzen«, das für Gott stehen soll. Damit sind wir auch dabei, das »telos« des Urteilens zu bestimmen, das damit anvisiert ist.

natürliches Gegenstück, nicht geringer an Würde und Herrlichkeit, als [30] welches von ihnen Ihr wollt. Spekulation und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegener Übermut, es ist freche Feindschaft gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern und erwarten können. Geraubt nur hat der Mensch das Gefühl seiner Unendlichkeit und Gottähnlichkeit, und es kann ihm als unrechtes Gut nicht gedeihen, wenn er nicht auch seiner Beschränktheit sich bewußt wird, der Zufälligkeit seiner ganzen Form, des geräuschlosen Verschwindens seines ganzen Daseins im Unermeßlichen. Auch haben die Götter von je an diesen Frevel gestraft. Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.« 21 Auf diese Differenz lenkt auch Iwand den Blick: Iwand, Hans Joachim: Schleiermacher ; Vorträge und Aufsätze (Nachgelassene Werke), hg. von Dieter Schellong; Karl-Georg Steck: München 1966, 338 – 355, hier 350 f.

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Vom Neuwerden des Verstehens

Diesen Zusammenhang hat Paulus in höchster Verdichtung in Röm 12, 2 festgehalten: »Stellt euch nicht den Denkschemata dieser Weltzeit (aion, saeculum22) gleich, sondern lasst euch eure Lebensform verändern durch das Neuwerden eures Verstehens, damit ihr urteilend erproben könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute, das Wohlgefällige und das Vollkommene.« Es ist hier eine eschatologische Logik enthalten, derzufolge in dieser »Weltzeit« eine absolut neue Weltwirklichkeit beginnt, die dieser Weltzeit gegenübertritt. Darauf ist das Verstehen ausgerichtet, wenn es sich denn selbst radikal erneuern lässt und nicht in der alten Lebensform und ihren Denkschemata verharrt. Das »Neue« als zur Weltwirklichkeit gehörig zu fassen, heißt, diesem Aion gegenüber zu treten und so die Welt nach Gottes Willen verstehen. Das »Leben des Geistes« (Hannah Arendt) wird, wenn wir Paulus aufnehmen, nur so weitergehen, dass es sich erneuern lässt und so die Welt nach Gottes Willen erkunden kann. »Das Leben des Geistes« als die »Biographie« des Geistes gelesen (Irina Spiegel) schließt das Neu-Werden ein. Dennoch müssen wir fragen, wie weit Hannah Arendt in ihrer Erzählung vom Leben des Geistes kommt. Bei Paulus erscheint eine absolut neue Weltwirklichkeit, auf die sich das Urteilen richtet. Damit ist der Ort dieses Urteilens angezeigt: der Ort einer begründeten Hoffnung, die dem Alten und Neuen gegenübertritt. Dies ist der Ort des erneuerten Geistes und seines Urteilens. Für das Leben des Geistes heißt dies, neu anfangen, keiner Fortschrittsidee zu folgen, aber auch keiner Vorstellung von einer Welt, in der es nichts wirklich Neues gibt, sondern am Ende, die Welt bleibt, wie sie ist. Kann dies, so können wir mit Hannah Arendt fragen, die gültige Welt sein? Mit Hannah Arendt ist zu sagen: Jeder Mensch beginnt neu und so geht es im Verstehen um die Vielheit aller dieser neuen Menschen. Es geht um die Vielheit des Zugangs zur Welt in ihrem Zusammentreffen. Auf diese Pluralität23 kommt es an. Das meint keinen Pluralismus unendlich vieler Einzelner, die nicht oder nur irgendwie zusammenfinden, sondern die Vielheit derer, die eine gemeinsame Welt erkunden. Worin das je Neue eines jeden neuen Menschen gründet, bleibt offen. Es ist die unbestimmte Offenheit, mit der jeder Mensch in die Welt, wie auch immer diese beschaffen ist, hineingeboren wird. Es kommt darauf an, was durch diesen Menschen von dieser Welt präsent wird. Es ist eine – wenn man

22 Vulgata: »nolite conformari huic saeculo«. 23 Zur Klärung siehe: Kallscheuer, Otto: Nachwort zur Taschenbuchausgabe. Weder Habermas noch Heidegger, in: Benhabib, Seyla: Hannah Arendt – Die melancholische Denkerin der Moderne, Erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main 2006, 361 – 378.

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dies so nennen will – Eschatologie der absoluten Offenheit der Welt. So erscheint sie auch in Kafkas Welt, die absolut offen ist – für das Kommen des Messias. In der biblischen Logik ist der Neuanfang (einmalig, endgültig) für alle Menschen mit der Geschichte von Jesus Christus gesetzt. Jedem Menschen ist es gegeben, an diesem Neuanfang teilzuhaben, in diesen und in die mit ihm beginnende Geschichte einzutreten.24 So ist mit jedem Menschen und seinem Neuanfang der Blick auf das gerichtet, was diese Weltzeit nicht fortsetzt, sondern ihr in begründeter Hoffnung gegenübertritt. Dies wird biblisch nicht in der Rede von einer anderen, jenseitigen Welt festgehalten, sondern von einer kommenden Welt, wie sie jetzt und hier präsent wird. Und dem entspricht das Neuwerden des Verstehens. Wir sind mit dem neuen Verstehen (nous, Röm 12,2) bei dem, was auch als »Geist« anzusprechen ist (so andere Übersetzungen vom Röm 12), als der »neue« Geist oder der Geist der neuen Schöpfung. Der neue Geist ist mit Gottes Geist verbunden, der ihn mit seinem Wort leitet, und so erscheint Gottes Geist vermittelt, gebunden, aber auch unterschieden vom Menschengeist. Der Menschengeist bleibt in diesem Gegenüber auf die von Gott gewollte Weltwirklichkeit in ihrem Werden gerichtet. Der Menschengeist ist an die Welt gewiesen, soll sich nicht (spirituell, gnostisch) von ihr abwenden oder eine andere Welt aufmachen.25 Dazu bedarf es des Geistes Gottes, der ihn in alle Wahrheit, in die Welt hinein leitet. So ist das Gebet um das »Kommen« des Geistes zu verstehen. Dieser Advent steht der spirituellen (oder gnostischen) Weltflucht entgegen, auch jeder unbestimmten »Spiritualität«.

8.

Vita contemplativa? – in der Welt zu Hause, exploratives Urteil

Mit dem Neuwerden des Verstehens ist eine neue Lebensform (eine neue Lebensgestalt, morphe) verbunden. Diese ist nicht als die vita contemplativa und auch nicht die vita activa zu fassen, sondern sie ist dazwischen platziert.26 Es ist die Lebensform der urteilenden Erkundung der Weltwirklichkeit wie in Gottes Willen erscheint. 24 Siehe zu diesem Zusammenhang, auch im Blick auf Hannah Arendt: Ulrich-Eschemann, Karin: Vom Geborenwerden des Menschen. Theologische und philosophische Erkundungen; Münster 2000. 25 Siehe Wohlmuth, Josef: Gottes Heiliger Geist – ausgegossen in die Herzen der Menschen, in: Geist und Heiliger Geist. Philosophische und theologische Modelle von Paulus und Johannes bis Barth und Balthasar, hg. von Edith Düsing, Hans-Dieter Klein und Werner Neuer, Würzburg 2009, 153 – 172. 26 Vgl. Meindl, Matthias: Geschmack und Urteilskraft bei Pierre Bourdieu und Hannah, 66 – 68.

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So hat es entsprechende Versuche gegeben, diese neue Gestalt geistigen Lebens zu fassen – vor allem (bei Irina Spiegel) als »poetische Urteilskraft«. Diese steht zwischen dem auf das Handeln bezogenen Entscheiden und dem betrachtenden Wahrnehmen (vielleicht ist auch von einem kontemplativen Urteilen zu reden). So disponiert, zwischen der vita activa und contemplativa, ist es dieser Lebensform in der Erneuerung des Verstehens möglich, urteilend zu erproben, was die neue Weltwirklichkeit ist, die damit in Erscheinung tritt: das Gute, das Wohlgefällige und Vollkommene. Dies soll zur Erscheinung kommen27 – als die Weltwirklichkeit nach Gottes Willen, als die gemeinsame Welt. Dafür steht (wenn wir wieder Röm 12 folgen) der Wille Gottes im Übergang zu dem, was Gott gefällt, der die Welt nach seinem Willen im alten Äon präsent werden lässt. Eine Welt, die wir uns zurechtmachen würden, könnte als diese gemeinsame nicht gelten und vor allem: diese gemeinsame Welt impliziert – was Hannah Arendt direkt hier einbringt – eine Versöhnung, die uns mit der Welt versöhnt sein lässt. So ist zu fragen, ob Urteilen als »poetische« Urteilsform (Irina Spiegel) zu fassen ist oder nicht vielmehr als poetisch-explorative, die das zum Erscheinen bringt, was wirklich ist. Das ist die gemeinsame Welt – für das politische Zusammenleben. Das ist der öffentliche Raum, den das Urteil als eben diese Welt erschließt.

9.

Zum Telos und Ort des Urteilens

So sind wir bei der Frage, worauf Urteilen zielt. In Röm 12,1 ist von dem Gottesdienst die Rede, der Gott gefällt. Das Wohlgefällige wird in die Perspektive Gottes gerückt. Im hebräischen Text ist an signifikanten Stellen vom »Gefallen« Gottes die Rede, wo Luther »Wille« übersetzt (z. B. Psalm 40,9). Was Gott gefällt (was er will), die Welt in den Augen Gottes sehen – das ist hier die Weltperspektive.28 Es ist eine eschatologische Perspektive, die von dem her, was kommt und schon präsent wird, auf die Welt blickt. Diesen gottesdienstlichen Ort nimmt das Urteilen ein. So ist es nicht nur ein Perspektivenwechsel, sondern dieser andere Ort, der das Urteilen möglich macht – ein Ort in der Welt und der Welt gegenüber. Es geht im Urteil um die von Gott gewollte Welt, die durch die Denkschemata dieser Weltzeit verdeckt ist. Urteilen, das auf die von Gott gewollte Welt ausgerichtet ist, verbleibt nicht in den Prozessen dieser Weltzeit, um

27 Siehe Marshall, David L.: The Origin and Character of Hannah Arendt’s Theory of Judgment. 28 Entsprechend auch »Der Mensch im Blick Gottes«, siehe: Sauter, Gerhard: Das verborgene Leben. Eine theologische Anthropologie; Gütersloh 2011, 77 – 88.

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sie wie auch immer auszudifferenzieren, sondern thematisiert diese Welt in jedem einzelnen Urteil auf das hin, was Gottes Wille ist. Die für alle gültige Welt kann nicht anders aufgefunden werden als im gewärtigen der wirklichen Welt. Das setzt einen Ort voraus, der »Welt« so thematisieren lässt. Jürgen Habermas hat zu dieser Ortsbestimmung theologischer Wahrnehmung lapidar festgestellt: »Schon der Gottesgedanke, also die Idee des einen und verborgenen Schöpfer- und Erlösergottes, hatte gegenüber den anfänglichen Erzählungen des Mythos den Durchbruch zu einer ganz anderen Perspektive bedeutet. Damit hat nämlich der endliche Geist einen alles Innerweltliche transzendierenden Standpunkt gewonnen.«29 Entscheidend ist jedoch dabei, dass eben dieser »Gottesgedanke« die Hinwendung eben zu der Welt nach Gottes Willen bedingt, der Welt, die wir uns nicht zurechtmachen. Das betrifft das Leben des Geistes und seine Erneuerung, in der Erneuerung des Verstehens (Nous) (Röm 12,2). Es gibt für den Menschen keinen anderen Ort, von dem aus er eine solche Weltperspektive einnehmen könnte als den gottesdienstlichen der eigenen Erneuerung. Die »Welt« auf das Gute, das Wohlgefällige und Vollkommene hin zu erkunden, auf die neue Welt hin, das heißt nicht, auf einen (jenseitigen) Maßstab, Prinzip etc. hin oder von da her zu verstehen. Dies ist eine eigene Aufgabe im Leben des Geistes. »Ich will verstehen …«, hat Hannah Arendt von ihrer geistigen Aufgabe gesagt. Dieses Verstehen richtet sich auf die Menschenwelt, wie sie »ist« (alt und neu). Es gilt zu verstehen, was der Fall ist, nichts da herausfallen zu lassen, als unfasslich zu deklarieren oder gar zu verdrängen. Es ist die Aufgabe, die Welt in ihrer wirklichen »Gegebenheit« kenntlich werden zu lassen. Eben dies ist die Aufgabe des Urteilens. Von dieser Zielsetzung unterschieden, aber nicht getrennt, sondern sie voraussetzend ist die Gewinnung eines politisch-öffentlichen Konsenses – und in diesem Sinn einer bestimmten gemeinsamen, begrenzten politischen »Welt«. Die Frage ist dann, inwiefern diese »gemeinsame Welt« in einer spezifischen Begrenzung fassbar wird.

10.

Urteilen – in eschatologischer Logik

Im Urteilen – so wird Urteilen von Hannah Arendt gekennzeichnet – gilt es das Besondere, Partikulare, Faktische als ein solches zu fassen, jedoch nicht indem es aus einem Allgemeinen abgeleitet oder in ein solches transformiert oder eingeordnet wird (= bestimmende Urteilskraft), sondern indem es selbst als mitbestimmend dessen gesehen wird, was dann zur »gemeinsamen Welt« gehört 29 Habermas, Jürgen: Ein Gespräch über Gott und die Welt in: ders., Zeit der Übergänge 1. Auflage Frankfurt am Main 2001, 173 – 196, hier 173.

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(= die reflektierende Urteilskraft). Die gemeinsame »Welt« bildet sich so im Urteil, sie wird nicht als eine so oder so bestehende Welt aufgerufen. Urteilen vollzieht sich nicht im Deduzieren oder durch Einordnung, sondern im Unterscheiden und unterscheidenden Zuordnen. Das, was sich zeigt, muss durch Unterscheidung30 erfasst werden, nicht durch Einordnung in vorhandene Denkschemata. Dies ist der Vorgang des verstehenden Unterscheidens. Was dies heißt, lässt sich beispielhaft an Hannah Arendts eigener Praxis des Urteilens selbst sehen – so wie sie den Fall Eichmann durch Unterscheidungen erfasst, als ein Partikulares, das nicht durch Ableitung oder Vergleich zu fassen oder einzuordnen ist und doch zu dieser »Welt« gehört, wie sie wirklich ist. An vielen weiteren Texten ist dies bei Hannah Arendt zu studieren. Es geht immer neu darum, unterscheidend festzustellen was »ist« im Unterschied zu dem, was urteilslos als gegeben behauptet wird oder als unfassbar deklariert wird.31 Was »ist« muss sich in Unterscheidungen bewährend zeigen. So erscheint die »Welt«, die es daraufhin zu prüfen gilt, inwiefern sie einem Urteil entspricht. Was als »neu« erscheint in der Menschengeschichte, muss auf eine im Urteil gegebene Welt hin gesehen werden. Dies ist nicht trotz sondern zusammen mit Arendts Insistieren auf der Pluralität der Meinungen, die aufeinandertreffen müssen, festzuhalten. Die gemeinsame Welt kann nur erscheinen, wenn sie auf eine Wirklichkeit hin urteilend als gemeinsame festgestellt wird, nicht etwa an einem moralischen Maßstab gemessen, der Urteilen, das die Realität erschließt, nicht braucht. Eichmann wird von Hannah Arendt nicht allgemein moralisch bemessen, insofern sie darauf besteht, dass es persönliche Verantwortung gibt. Diese fordert sie ein als im Urteil vollzogene Verantwortung. Es gilt daher zu verstehen, in welcher Weise dieser Mensch auch in seiner Urteilslosigkeit zu dieser Weltwirklichkeit gehört. Dies lässt dann die furchtbare Normalität sehen, in der Menschen gefangen sind – wie eben in solcher Urteilslosigkeit. So werden Menschen in ihrer Wirklichkeit erfasst und ernst genommen. Ein unfasslich neues Verbrechen wird so als etwas kenntlich, das zu dieser Welt gehört und nicht zu verleugnen oder so zu interpretieren ist, dass es undeutlich wird und verschwindet.

30 Spiegel, Irina: Differenzierung und Analogie. 31 Siehe dazu Benhabib, Sheila: Hannah Arendt, 150 f.. Inwiefern freilich von einem »moralischen Urteil« bei Hannah Arendt zu reden ist, bleibt zu fragen.

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Keine Unterscheidungsregel – Urteilen geht durch die Geschichten hindurch

Die eingebrachten Unterscheidungen folgen keiner fixierbaren Unterscheidungsregel, keinem gegebenen Prinzip. Die Unterscheidungen sind neu zu gewinnen, von Fall zu Fall, von Geschichte zu Geschichte. Eben dies ist die Aufgabe des Urteilens, Geschichten urteilend zu verstehen – wie Salomo mit seinem verstehenden Herzen – und sie so wirklich ernst zu nehmen, sie nicht einordnend oder aussortierend zu verharmlosen. Ronald Beiner hat in seinem Kommentar zu Hannah Arendt gesagt, dass Hannah Arendts Urteilen und Unterscheiden durch die Geschichten hindurchmuss – so durch die Geschichte des Totalitarismus oder durch die Geschichte einer Figur wie Eichmann.32 Und immer ist es das trennscharfe Urteil, das uns zeigt, was von der Welt hier offenkundig wird – wie die Tatsache, dass das Böse »banal« ist oder die Konzentrationslager absolut sinnlos. Solches Urteilen verwehrt Interpretationen, die Tatsachen verwischen. Das sind die Urteile, zu denen Hannah Arendt kommt. Viele Beispiele solcher Urteilsbildung bei Hannah Arendt (alle ihre Texte bestehen aus solchen) können das zeigen.33 Das Urteilen geht durch Geschichten hindurch, es folgt so einer konstruktiv (poetisch)-explorativen Hermeneutik. Das Urteilen bewegt sich nicht auf einer vorgegebenen Trennlinie, die das eine vom anderen absetzt (z. B. »human-inhuman«), sondern auf einer Spur des Unterscheidens. Diese Spur entsteht durch das spurende Unterscheiden wie eine Spur im Schnee. So kann am von Hannah 32 Beiner, Ronald: Hannah Arendt über das Urteilen; in: Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, München, 1985, 115 – 197. Dies ist aber nicht das Verständnis von (vergangener) Geschichte als dem Ganzen (Schleiermacher). 33 Siehe z. B. auch Arendt, Hannah: Israel, Palästina und der Antisemitismus; Berlin 1991. »Der Grund also, warum wir diese neuen Verbrecher, die weder Kinder noch Sklaven, sondern erwachsene Menschen waren, dennoch für das, was sie taten, verantwortlich machen, liegt darin, daß es in politischen und moralischen Angelegenheiten so etwas wie Gehorsam nicht gibt. Die einzige Domäne, wo dieses Wort vielleicht Anwendung finden könnte, ist die Religion, der Raum, in welchem die Menschen sagen, daß sie dem Wort oder dem Befehl Gottes gehorchen, weil die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen zu recht so gesehen werden kann wie das Verhältnis zwischen einem Erwachsenen und einem Kind. Folglich sollten diejenigen, die mitmachten und Befehlen gehorchten nie gefragt werden: ›Warum hast Du gehorcht?‹, sondern: ›Warum hast Du Unterstützung geleistet?‹ Dieser Austausch von Wörtern ist für jene keine belanglose semantische Spielerei, die den merkwürdige und mächtigen Einfluss bloßer ›Worte‹ auf das Denken der Menschen kennen, die doch in erster Linie sprechende Wesen sind. Es wäre viel gewonnen, wenn wir das bösartige Wort ›Gehorsam‹ aus dem Vokabular unseres moralischen und politischen Denkens streichen könnten. Wenn wir diese Fragen durchdenken, könnten wir ein gewisses Maß an Selbstvertrauen und sogar Stolz zurückgewinnen – das, was frühere Zeiten die Würde oder die Ehre, vielleicht nicht der Menschheit, so doch des Menschen, genannt haben.« (Arendt, Hannah: Israel, Palästina und der Antisemitismus, 38).

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Arendt gesagt werden, dies zu bedenken kann die Würde des Menschen wieder kenntlich werden lassen. Was die Würde des Menschen ist, zeichnet sich mit dieser Spur ab. Wir könnten freilich einwenden, dass schließlich doch solche »Regeln«, denen das Urteilen folgt, aufzufinden sind – z. B. »wenn es denn der Liebe folgt«, »wenn es denn dem anderen dient …«. Diese »Regeln«, sofern sie gültig sind, gehören auf die Ebene einer gegebenen Realität, einer auch gegebenen gemeinsamen Welt, die es urteilend zu bewähren gilt, sie sind in der Praxis des Urteilens vorausgesetzt. Das Urteilen »ohne Geländer« (Hannah Arendt) ist nicht gänzlich bodenlos. Dazu gehört auch die begründete Hoffnung, in Bezug auf die es keinen Grund geben kann, sie aufzugeben. Oder die Liebe, die leiten soll, zielt auf die unabdingbare Zuwendung zur Welt und zum anderen. Mit ihr erledigt sich das weitere Unterscheiden nicht, sondern es wird damit angestoßen.

12.

Bleibende Unterscheidungen – Erschließung der Wirklichkeit

Im Urteilen finden sich auch Unterscheidungen, die schließlich als solche Geltung bewahren können, bewährte Urteile (in diesem Sinne Vor-Urteile34 oder »institutionalisierte Urteile«35). Freilich haben manche Unterscheidungen und die Maßstäbe, an denen sie ausgerichtet waren, versagt, so dass nun ohne sie neu geurteilt werden muss.36 Zu den nicht aufzugebenden Unterscheidungen gehört (bei Hannah Arendt) die immer zu bedenkende persönliche Verantwortung im Unterschied zu einer Delegation von Verantwortung, was ein Widerspruch gegenüber dem ist, was Verantwortung überhaupt heißen kann – etwa in Bezug auf Eichmann. Zugleich gibt es – so Hannah Arendt – im politischen Raum keinen »Gehorsam«. Gehorsam kann es nur in der Religion geben.37 Das reflektiert, was im Bekenntnis zu Gott (im 1. Gebot) festgehalten ist: Du sollst Gott gehorchen und sonst keinem. Wenn Du Menschen gehorchst (so können wir hinzufügen), dann nur sofern diese wiederum Gott gehorchen. Persönliche Verantwortung lässt sich durch nichts verrechnen, sie lässt sich nicht dadurch abschieben, dass man auf allgemeine Begründungen oder »Notwendigkeiten« verweist, auch wenn dies in ausweglose Situationen führt. So wird unterschieden, so wird ge34 Arendt, Hannah: Was ist Politik?, Fragmente aus dem Nachlaß, München, 1993, 17 – 27. 35 Siehe dazu: Lüdemann, Susanne: Vom Unterscheiden, Zur politischen Urteilskraft bei Hannah Arendt und Giorgio Agamben; in: Hannah Arendt und Giorgio Agamben. Parallelen, Perspektiven, Kontroversen, hg. von Eva Geulen, Kai Kauffmann und Georg Mein; München 2008, 27 – 40, hier 37. 36 Arendt, Hannah: Was ist Politik?, 21 f. 37 S.o. Anm. 35.

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urteilt. Es wird also auch keine Theorie der Verstrickung geben können, die das Urteil aufhebt. Das würde zu solchen Denkschemata gehören, die verdecken, was Sache ist. Verantwortung hat damit die Bedeutung, dass einer sich dem urteilend aussetzt, was »wirklichkeitsgemäß« ist. Dieses sich Einlassen auf die Wirklichkeit hat Dietrich Bonhoeffer mit dem Begriff der »Wirklichkeitsgemäßheit« erfasst und diese auf die Wirklichkeit bezogen, die von Gottes Geschichte her bestimmt ist, von der Geschichte, die in Jesus Christus erschienen ist. So bewegt sich Bonhoeffer in eben dieser eschatologischen Logik der Thematisierung von Wirklichkeit, die urteilend zu fassen ist: »Wirklichkeitsgemäß steht nicht der der Welt gegenüber, der in ihr ein an sich seiendes gutes oder böses oder aus gut und böse gemischtes Prinzip sieht und dementsprechend handelt, sondern der in begrenzter Verantwortung lebend und handelnd sich das Wesen der Welt jeweils neu aufschließen lässt.«38 So hat Hans Joachim Iwand die Theologie als »Theologie des Kreuzes« gekennzeichnet. Sie erkundet, was in der eschatologische Perspektive der christlichen Hoffnung wirklich ist.39 Diese Hoffnung besteht eben darin, dass sie die Wirklichkeit wahrnimmt, der die Verheißung und Treue Gottes gilt – auch wider alle menschliche Hoffnung.

13.

Urteilspraxis im Streit um die Wirklichkeit

Hannah Arendt unterscheidet das zwingend Moralische (»Du sollst nicht töten«) von dem, was im Urteil einzufordern ist. Das Urteil hat niemals Zwangscharakter.40 Die Bekämpfung der Armut ist nicht im Urteil zu erfassen, sondern ist zwingend geboten. Im Urteil ist zu erfassen, wie Armut akut wird und wie ihr entgegenzutreten ist. Gegen Armut moralisch einzutreten, kann nicht ohne Urteil bleiben.41 Urteilen muss durch die nötigen Unterscheidungen und die Kritik von Unterscheidungen hindurch, die das Handeln leiten. Entsprechendes gilt für andere Bereiche. Wenn wir beispielsweise über den Schutz von Embryonen diskutieren, sind wir schon inmitten von Unterscheidungen, die getroffen werden, um zu handeln. Wir haben dann schon »Em38 Bonhoeffer, Dietrich: Die Struktur verantwortlichen Lebens, 266 – 267. 39 Iwand, Hans Joachim: Theologia crucis, in: ders., Vorträge und Aufsätze (Nachgelassene Werke) München, 1966, 381 – 398, hier 390 f. Siehe zu Iwand besonders: Neddens, Christian Johannes: Politische Theologie und Theologie des Kreuzes. Werner Elert und Hans Joachim Iwand, Göttingen 2010. 40 Arendt, Hannah: Was ist Politik?, 22. 41 Siehe: Düttmann, Alexander Garc†a: Die Sichtbarmachung der Armut. Drei Thesen; in: Hannah Arendt und Giorgio Agamben. Parallelen, Perspektiven, Kontroversen; hg. von Eva Geulen, Kai Kauffmann und Georg Mein, München 2008, 119 – 129, 119.

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bryonen« (urteilend) als etwas Besonderes (beobachtend) – bestimmend – ausgemacht und reden offensichtlich von ihnen nicht als von »Menschen«, aber auch nicht als von »menschlichem Leben« etc. Das Nicht-Töten oder Töten von »Embryonen« ist daher nicht einfach moralisch zu fixieren, vielmehr ist mit dem urteilenden Reden von »Embryonen« unterstellt, was »Embryonen« sind, welche Welt wir und damit imaginieren, wie sie zur Welt und zu welcher Welt gehören, und was sie so für uns Menschen sind. Dies gilt es urteilend zu verstehen, nicht urteilslos als irgendwie gegeben zu behaupten. Es muss um diese »Welt« urteilend gestritten werden und es wird darum gestritten, inwiefern es wirklich eine gültig gemeinsame sein kann. Wenn wir auf etwas treffen wie »Embryonen« (das ist ein Beispiel für das zunächst unbestimmt Neue, das die Nötigung zum Urteilen ausmacht), müssen wir die Frage aufwerfen, wie wir dazu kommen, von »Embryonen« zu reden und darüber, was dies für eine gültig gemeinsame Weltwirklichkeit heißt. Es kommt darauf an, wie sie so zu dieser Weltwirklichkeit gehören können, dass diese nicht auseinanderfällt. So ist es auch mit dem Auftreten der Atom-Bombe, dem Atom-Müll oder – was Hannah Arendts Lebenswerk betrifft – mit dem Totalitarismus. Viele andere neue weltbestimmende Phänomene gibt es, die urteilend zu erfassen sind – wie gegenwärtig wieder neue Formen des »Kapitalismus«. Es gilt zu verstehen, wie damit – und dagegen – als in einer gemeinsamen Weltwirklichkeit zu leben ist.42 Dies kann nicht dadurch erreicht werden, dass Positionen bezogen und behauptet werden etc., sondern es muss in jeder Auffassung die »res« genannt werden, um die es als der »res publica« geht, auch wenn dies dann zeigt, dass kein gemeinsames Urteil gefunden wird. Wenn das Geschmacksurteil uns zusammenführen soll, wenn es eine gemeinsame Welt geben soll, dann muss aber dies schließlich gelingen. Die Frage ist: Welche Unterscheidungen werden was von unserer gemeinsamen Welt zeigen? Im Fall der »Embryonen« kann Urteilen zeigen, dass »Embryonen« nicht »gegeben«, sondern »gemacht« sind.43 Dieses Urteil pointiert seinerseits, dass in Bezug auf »Embryonen« die Unterscheidung zwischen dem »Gegebenen« und dem »Gemachten« signifikant ist.44 Was »Embryonen« sind, kann nicht im Ausnahmezustand des Setzens von Gesetzen etc. verbleiben, die Gemeinsamkeit erzwingen.45 Die gemeinsame Welt enthält damit Sachverhalte, 42 Embryonen: hier darf keine Unterscheidung ausgelassen oder unversucht gelassen werden, die erlaubt, ihre Besonderheit zu achten, ohne sie als »Menschen« nur behaupten zu müssen. Die Versuche, das mit Unterscheidungen wie »menschliches Leben« vs. »personales Leben« haben sich dabei als nicht tragfähig erwiesen, weil eben die sich damit nicht anfreunden konnten, für die sie personales Leben sind. 43 Siehe die Argumentation bei Spaemann, Robert: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen »etwas« und »jemand«; Stuttgart 1996. 44 Siehe Hofheinz, Marco: Gezeugt, nicht gemacht, In-vitro-Fertilisation in theologischer Perspektive; Zürich 2008. 45 Lüdemann, Susanne: Vom Unterscheiden.

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Tatsachen46, die nicht zu übergehen, sondern urteilend zu verstehen sind, wenn die Welt eine gemeinsame gültige Welt bleiben soll, in der wir uns gemeinsam aufhalten. Sie erscheint artikuliert in unseren Unterscheidungen, so die Unterscheidung zwischen »etwas« und »jemand«, in der festgehalten ist, was »Person« heißt.47 Das Urteilen kann, wie gesagt, darauf stoßen, dass es gültige Unterscheidungen gibt. Doch die Situation, in der Hannah Arendt das Leben des Geistes sieht, ist davon bestimmt, dass sich tragende etablierte Unterscheidungen nicht bewährt haben oder zerbrochen sind. Dann gilt es, auch ohne Kriterium oder Prinzip, zu urteilen – uns so einen Weg (neue Regeln) zu finden und die Welt, die wir teilen, kenntlich zu machen.

14.

Geschmacksurteil und Einbildungskraft – Pluralität und Gemeinsamkeit

In der Disposition der Urteilspraxis ist vorausgesetzt, dass das Urteil von jedem einzelnen getroffen wird. Es kommt auf die vielen Urteile von Einzelnen an, die – eben weil sie nicht einem Prinzip oder einer Moral etc. nur folgen – verschiedene Urteile fällen werden. Diese Vielheit von Urteilen ist nötig, um die gemeinsame Welt in ihrer Differenziertheit gültig erscheinen zu lassen.48 Die Pluralität kommt zustande, weil es »Geschmacksurteile« sind, Urteile, die mit der Wahrnehmung verbunden sind – und damit nicht nur aus verschiedenen Perspektiven erfolgen, sondern auf verschiedene weitere Urteile bei den Zuschauern treffen. Zugleich aber ist eben deshalb, dass es »Geschmacks«-Urteile sind, im Blick, was wir gemeinsam als Welt, durch unsere Wahrnehmung vermittelt, gewärtigen können. Die gemeinsame Welt wird im Geschmacksurteil durch die Sinne erfasst. Diese Bindung an die Wahrnehmung führt in die Vielheit, aber durchaus nicht in einen unabsehbaren Pluralismus von Einzelnen, die voneinander isoliert eine Weltsicht haben. Sofern diese Vielheit, subjektiv gebrochen, keine gemeinsame Welt abbildet, bedarf es jedoch der Einbildungskraft als Tätigkeit des Geistes, in der sich das Viele im Bild bündelt.49 Darin dann kann die Vielheit Übereinstimmung finden. Dies bleibt eine offene Stelle in der Theorie, sofern diese Übereinstimmung nicht durch rationale Argumente (allein) herbeizuführen ist. 46 Zur Tatsachenwahrheit in der Politik siehe: Arendt, Hannah: Wahrheit und Lüge in der Politik, Zwei Essays; München 1972. 47 Spaemann, Robert: Personen. 48 Marshall, David L.: The Origin and Character of Hannah Arendt’s Theory of Judgment. Siehe dazu auch: Kallscheuer, Otto: Nachwort. 49 Siehe dazu Beiner, Ronald: Hannah Arendt über das Urteilen, 124 f.

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Hannah Arendt verweist hier wiederum auf Kant, der die Einbildungskraft dem einzelnen Künstler und Genie zugewiesen hat, und dieser kommuniziert mit der Vielheit der Zuschauer : »Der Geist, nämlich das, was das Genie und nur es belebt und was ›keine Wissenschaft lehren und kein Fleiß erlernen kann‹, besteht darin, ›das Unnennbare in dem Gemütszustande‹ auszudrücken – in einem Gemütszustande, den bestimmte Vorstellungen in uns allen entstehen lassen. Wofür wir aber keine Worte haben und den wir deshalb ohne Hilfe des Genies einander nicht mitteilen könnten. Es ist die ureigenste Aufgabe des Genies, diesen Gemütszustand ›allgemein mitteilbar zu machen‹.50 Das Vermögen, das diese Mitteilbarkeit lenkt, ist der Geschmack, und Geschmack oder Urteil ist nicht das Vorrecht des Genies. Die conditio sine qua non für die Existenz schöner Gegenstände ist die Mitteilbarkeit; das Urteil des Zuschauers schafft den Raum, ohne den solche Gegenstände überhaupt nicht erscheinen könnten. Der öffentliche Bereich wird durch die Kritiker und Zuschauer konstituiert, nicht durch die Akteure oder die schöpferisch Tätigen. … während man von einem Genie, auf Grund seiner Originalität, in der Einzahl sprechen kann, kann man niemals, wie Pythagoras, in der gleichen Weise von dem Zuschauer sprechen. Zuschauer gibt es nur in der Mehrzahl. Der Zuschauer ist nicht mit dem Akt, aber immer mit den Mit-Zuschauern verbunden. Er teilt nicht das Vermögen des Genies, Originalität, mit dem Schaffenden oder das Vermögen der Neuerung mit dem Akteur ; aber das Vermögen, das ihnen allen gemeinsam ist, ist die Urteilskraft.«51

Wir treffen hier auf die Unterscheidung zwischen dem originalen, kreativen Anfang der Erfassung des Neuen in der Einbildungskraft und dem Verstehen. Für das Urteil wird vorausgesetzt, dass das Mitzuteilende erscheint, nicht anders als in der Gestalt der Mitteilung, aber doch in eigener Ursprünglichkeit. So liegt es nahe, hier daran zu denken, dass im Bereich der Religion vom »religiösen Genie« zu reden wäre, und dieses dann seine treuen Zeugen braucht. Wenn die biblische Sprache vom Geist Gottes spricht, dann dort, wo eben diese Einbildungskraft selbst der Leitung bedarf, ja das ist, was für Leitung empfänglich ist. Dies gilt insbesondere für die Propheten, diejenigen, die anzuzeigen und mitzuteilen wissen, was wirklich ist. So hat Walter Benjamin Kafkas Werk ein prophetisches genannt,52 und Hannah Arendt wiederum Benjamins Philosophie eine prophetische. So erscheint eine mehrseitige Kommunikation, die nicht in

50 Hannah Arendt zitiert: Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie; (Werke in zehn Bänden, hg. von Weischedel, Wilhelm, Bd. 8) Darmstadt 1968, 417 f. 51 Arendt, Hannah: Das Urteilen, 85. 52 Benjamin, Walter; Schweppenhäuser, Hermann: Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen; 1. Auflage Frankfurt am Main 1981, 41.

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einer Theorie kommunikativer kognitiver Wahrheitsfindung aufzuheben ist – und doch zielt diese Kommunikation auf eine gültige gemeinsame Welt.

15.

Geist – pneumatologische Implikation – Erneuerung und Leitung

Die Disposition des Urteilens ist, wie schon angezeigt, in all ihrer Differenziertheit verwurzelt in der biblischen Ethik. Es geht in dieser Ethik um die Welt, die Menschen miteinander teilen, es geht um das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene, wie es nach Gottes Willen und seiner Geschichte mit den Menschen in der Welt erscheint (Röm 12,2). Dies zu erkunden setzt die Erneuerung des verstehenden Sinnes voraus. So ist eine Differenz gesetzt zu einer neuen Wirklichkeit, die nur in einem neuen Verstehen zu gewärtigen ist. Die Erneuerung des Verstehens, um den Denkschemata dieses Äons nicht verhaftet zu bleiben und um die Welt nach Gottes Willen urteilend zu erproben gehört zu einer neuen Lebensform. »Ich gebe euch ein neues Herz, einen neuen Geist gebe ich euch in das Innre, das Herz von Stein schaffe ich aus eurem Fleisch weg, ich gebe euch ein Herz von Fleisch. Meinen Geist gebe ich euch in das Innre, ich mache, daß ihr geht in meinen Gesetzen und meine Rechtsgeheiße wahret, sie tut.«53 (Ez 36,26 – 27).

Nicht durch eine irgendwie einzunehmende Position, sondern durch die Erneuerung des Sinnes und seine Leitung durch Gottes Geist findet das Urteilen seine kritische Spur – in der bestimmten Auseinandersetzung um das, was die gültig gemeinsame Welt ist – wie sie in Gottes Gebot artikuliert ist. Das »Gebot Gottes« steht für die Weltwirklichkeit, es lässt die Wirklichkeit fassbar werden, wie sie nach Gottes Willen beschaffen ist. Diese Wirklichkeit gilt es zu verstehen – statt einem Gesetz zu folgen, das ihr nicht entspricht. Psalm 143 »Tu mir kund den Weg, den ich gehn soll, denn zu dir hebe ich meine Seele! … Lehre dein Gefallen mich tun, denn du bist mein Gott! Mich leite gütig dein Geist auf geebnetem Land! 53 Übersetzung: Buber, M., & Rosenzweig, F. (1976; 2009).

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Um deines Namens willen, Du, wirst du mich beleben, in deiner Wahrhaftigkeit holen wirst du meine Seele aus der Drangsal.54

So kommt der Geist ins Spiel, der Menschen leitet – der Geist Gottes. Dieser wirkt in eben der Wirklichkeit wie das Urteilen, auf der Ebene des Weges, der auf dieser Erde, in unserer Weltwirklichkeit verläuft. Ihn gilt es zu finden. Die Semantik dreht sich um »Leitung« (»Nacha«)55 und »Weg«, um Orientierung. Die Leitungsbedürftigkeit des Menschen erscheint mit der Nötigung zum Unterscheiden (nach dem Sündenfall, der die Namen hat verloren gehen lassen56). »Jedoch, der Geist ists im Menschlein, der Odem des Gewaltigen, der sie merken heißt, nicht eben die Vielzeitigen sind weise und eben die Alten merken das Recht!«57 (Hiob 32,8––9).

Wir betreten das Feld der biblischen Semantik, in der dieses Verstehen (Merken) ausgeführt ist. Hier werden Gottes Geist und Menschengeist unterschieden und in ihrem Zusammentreffen und Zusammenwirken gezeigt.58 Mit dem Unterscheiden bleibt die Frage akut, wovon sich dieses Unterscheiden leiten lässt, wenn es denn doch der Leitung bedarf, damit es sich nicht an Maßstäbe oder Prinzipien bindet – an Denkschemata dieses Äons – und den urteilenden Blick für die Weltwirklichkeit verliert. Der Ort dieses Urteilens ist die Krisis des Kommens59 dessen, der verheißen wird – es ist die messianische Krisis. Die Leitung des Geistes – ist die Verheißung an uns Menschen als Zeugen und damit die Befreiung davon, diejenigen sein zu müssen, die darauf ausgerichtet sind, die Welt mit ihrer eigenen geistigen Kraft zu beherrschen. »Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen.« (Joh 16, 12.13) 54 Übersetzung: Buber, M., & Rosenzweig, F. (1976; 2009). 55 Leiten – um Gottes Namens willen, Psalm 23, Psalm 31; 73; 78; 139,10; leiten – Weg 39x. Neuer Geist – Hes 18,31. 56 Siehe Lüdemann, Susanne: Vom Unterscheiden, Zur politischen Urteilskraft bei Hannah Arendt und Giorgio Agamben. 57 Übersetzung: Buber, M., & Rosenzweig, F. (1976; 2009). 58 Wohlmuth, Josef: Gottes Heiliger Geist. 59 Hier sind wir eher bei Lyotard, Jean-FranÅois; Derrida, Jacques: Immaterialität und Postmoderne. [Gespräche]; Berlin 1985.

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Es geht entscheidend um diese Semantik der Orientierung und der Leitung – um diese Ethik des Erkundens, das keinem fixierten Maßstab folgt, keinem Leitfaden und keinem Prinzip, aber auch keiner theoretisch fassbaren Disposition, die das Erkunden auf etwas anderes ausrichtet als eben auf die gemeinsam zu erschließende Welt. Dies beschreibt – positiv – die Leitungs-Bedürftigkeit und Leitungs-Bereitschaft des Menschen, die als die Bedürftigkeit der Leitung durch den Geist Gottes erscheint, der sein Gesetz mit sich bringt (Röm 8,2) und so von dem »Gesetz« befreit, in dem alles seinen Ort schon zu haben scheint und jeder ihm scheinbar urteilend alles zuordnen kann. Es geht um die Freiheit (vom Gesetz), sich leiten zu lassen. Hier ist von dem »Gerechten« zu reden, der alles an seinen rechten Ort stellt.60 Der Gerechte ist – wie Psalm 82 dies anzeigt – derjenige, der unterscheidet, urteilt und wahrnimmt. Der Gerechte urteilt – oder Gott selbst muss urteilen. Das ist die Alternative von Psalm 82. Geleitet werden durch den Geist Gottes macht ein geformtes Leben aus (Röm 12,2; vgl. Gal 5,18: »Regiert Euch aber der Geist, so seid ihr nicht unter dem Gesetz«). Es ist die Lebensform derer, die im Urteilen Gottes nicht einem »Gesetz«, sondern Gottes Geschichte folgen. Röm 861: hier ist von dem Geist die Rede, der lebendig macht, gegenüber dem Gesetz des Todes, in dem alles fixiert ist. Dies ist der Geist, der die Leitung in der Geschichte mit Gott hat. Es ist diese Geschichte, die die gemeinsame Weltwirklichkeit erschließt.62 Die Erkundung der Welt folgt einer Geschichte, keiner wie auch immer gegebenen Disposition menschlicher Vernunft oder menschlichen Verstehens. Dieses Verstehen wird in Gottes Geschichte neu. Röm 8 bringt die Geschichte Gottes als »Wirklichkeit« in den Focus. Ihr Verstehen folgt einer Spur, die die Differenz zwischen dem VorUrteil und dem Urteilen in der Krisis des Geistes aufnimmt. Diese hat ihre eigene Ästhetik. Die Herrlichkeit ist – so wie sie jetzt die kommende, auf die sich die Hoffnung richtet (Röm 5,2).

16.

Sensus communis – Cognitio

Noch einmal zu Hannah Arendt: Das Zusammenleben ist vermittelt durch das gemeinsame urteilende Erschließen der Welt, wie sie wirklich – nach Gottes Willen – ist. Es geht um das Zusammentreffen des Sensus (aisthesis) des Zuschauers (nicht im Sinne der vita contemplativa), der das Einzelne sieht und auf 60 Scholem, Gershom: Drei Typen jüdischer Frömmigkeit, 275. 61 Wohlmuth, Josef: Gottes Heiliger Geist, 159 – 166 zu Röm 8. 62 Das wäre, wenn denn, eine eigene »Ent-Ästhetisierung« (gegenüber der Natur) – anders als die von von Balthasar diagnostizierte, die sie in der Innerlichkeit sieht. Das »en hymin« ist ohnehin nicht so zu lesen, sondern als »unter euch«, bei Euch. Dem entspricht auch: »Wandel im Geist«.

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eine Welt hin zu erfassen sucht und der dies einem sensus communis entsprechend mit anderen zusammen unternimmt. Dies bleibt unterschieden von einer Erkenntnis, die darin gewonnen wird, dass über die »Vernunft« das Gemeinsame erfasst wird (nicht über den unabsehbaren Weg des Geschmacksurteils und seiner Kommunikation). Es geht um eine Ethik, in der Menschen im Gemeinsinn zusammenfinden, ohne einem common sense zu verfallen, also im Gemeinsinn kritisch urteilend bleiben. Das Leben des Geistes wird bei Hannah Arendt nicht auf die argumentierende Vernunft fixiert. Im Urteilen gehen die Zuschauer den vielen Wegen nach, die die gemeinsame Welt erschließen und die Welt durch Wahrnehmen und Urteilen erkunden lassen. Diese Erkundung, das urteilende Erkunden folgt keinem »Maßstab«, keiner »lex«, keiner »Notwendigkeit« und keinem »nomos«. Es ist frei von einem solchen Gesetz. Aber : die Erkundung erfasst im Urteil das Geformte, Gestalthafte, Welthafte, nicht Ungestaltige, Maßstablose. Hier treffen wir auf die grundlegende Unterscheidung zwischen dem »Schönen«, das Gestalt hat und dem »Erhabenen«, das ohne Gestalt und Maßstab ist. Kant hat diese Unterscheidung getroffen und Hannah Arendt folgt ihr. Damit bleibt das Ästhetische auf das Geformte, gestalthaft Auszumachende gerichtet und damit auf das, was mit dem »Geist« gegeben ist, der als »creator« formgebend erscheint. Jean-FranÅois Lyotard positioniert hier die Avantgarde, sozusagen die erkundende Kunst, die das Neue erfassen soll, das was sich »ereignet«.63 Innovatio ist – dort, wo keine Maßstäbe sind. Dort aber wird Form erkundend gesucht. Dies trifft mit Hannah Arendts Kennzeichnung der Einbildungskraft zusammen.64 Der Künstler ist paradigmatisch der Urteilende – bei Lyotard eher der das Urteil erwartende, nicht der, der Differenzen setzt. Das »Communis« findet sich in dem »extra nos« dessen, was die Weltwirklichkeit ist, die in dieser Erkundung erscheint. Damit sind wir in der biblischen Ethik. Was so als Weltwirklichkeit erscheint, ist die Welt, in der so Gottes Wille präsent wird, die Welt, die Gott mit sich versöhnt hat65. Diese Welt erscheint in diesem Ereignis der Versöhnung Gottes, dem die weitere Wahrnehmung folgt. Es geht um keine moralische Orientierung, die ohne Urteil auskommt. Die Welt nach Gottes Willen in dieser »Weltzeit« zu finden ist die – ästhetische, wahrnehmende und verstehende – Aufgabe des Urteilens. Sie folgt der mit Gottes Wirken gegebenen Geschichte. Sie folgt dieser und keiner anderen »Geschichte« und – ohnehin – ist das was »Geschichte« heißen könnte, kein Ganzes. Das Urteil kann nur Fragmente fassen.66 Den Zusammenhang von Urteil und Geschichte rückt Ronald Beiner in den 63 64 65 66

Lyotard, Jean-FranÅois; Derrida, Jacques: Immaterialität und Postmoderne. Spiegel, Irina: Die Urteilskraft bei Hannah Arendt, 85. Dies rückt vor allem Bonhoeffer in Blick: Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 318 – 321. Siehe dazu Benhabib, Sheila: Hannah Arendt, 153 – 159.

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Blick: »Der Begriff des Urteils ist letztendlich mit dem Begriff der Geschichte verknüpft. Wenn die Geschichte progressiv ist, ist das Urteil für immer aufgeschoben. Wenn es ein Ende der Geschichte gibt, ist die Tätigkeit des Urteilens ausgeschaltet. Wenn die Geschichte weder progressiv noch endlich ist, fällt das Urteil dem einzelnen Historiker zu, der den besonderen Ereignissen oder ›Geschichten‹ der Vergangenheit Sinn verleiht. Das Postscriptum (sc. von Hannah Arendts »Das Urteilen«) zeigt an, daß die Kant-Vorlesung die beabsichtigte Struktur von ›Das Urteilen‹ genau abbildet; denn es macht klar, daß mit einer Rückkehr zum Begriff der Geschichte das eigentliche Ziel von ›Das Urteilen‹ erreicht worden wäre. Und genau hier endet die Kant-Vorlesung!«67 Wird es wie – unvermeidlich – eine gemeinsame »Welt« so auch eine gemeinsame »Geschichte« geben können, müssen oder ist nicht eben hier die Differenz gegeben, die in kein sinngenerierendes Urteil einzuholen ist, die – im Gegenteil – dieser Welt und ihrer Geschichte gegenüberzutreten erlaubt, nicht freilich von außen oder oben, sondern von innen: »Stellt euch nicht dieser Weltzeit gleich …« (Röm 12,2)? Dies zeigt nicht ein Ende der Geschichte an, sondern den Anfang einer neuen.

17.

Urteilende Rechenschaft von der begründeten Hoffnung

Sofern Menschen ihren Ort in der geschichtsgebundenen Weltwirklichkeit finden, gibt es eine Antwort auf die entscheidende weitere Grundfrage, die den damit eröffneten Horizont der »Geschichte«, auslotet, in dem sich Weltorientierung bewegt: »wozu Menschen?«. Bei Kant ist es der Fortschritt, in dem sich der Sinn der Wirklichkeit im Ganzen erweist. Die Menschen füllen diesen Fortschritt aus, die Menschen insgesamt. Sie erfreuen sich an der Welt im Ganzen, in die sie selbst gehören. Sie finden so ihr Zuhause.68 Diese Disposition Kants beruht entscheidend auf einer »Eschatologie«, die auf den abgeschlossenen oder jedenfalls – im Fortschritt – abschließbaren »Sinn« für die Menschheit setzt. Im Urteilsvermögen partizipiert der »Einzelne« an diesem Ganzen. Es ist die Disposition – wie Beiner bemerkt -, die auch Nietzsches »Ewige Wiederkehr« bestimmt.69 Es ist die Eschatologie einer sinnhaften universalen Vollendung. Sie schließt ein, dass es kein Ende der Geschichte gibt und – nur – insofern einen immer neuen Anfang und eine entsprechende »Hoffnung«. 67 Beiner, Ronald: Hannah Arendt über das Urteilen, 167. 68 Beiner spricht von einer ontologischen Aufgabe, in der Sein und Geschichte, Sein und Zeit koinzidieren. Beiner, Ronald: Hannah Arendt über das Urteilen, 192. 69 Beiner, Ronald: Hannah Arendt über das Urteilen, 183.

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Die biblische Eschatologie spricht gegenüber einer solchen weltgeschichtlichen Bindung von einem bestimmten »Neu-Werden«, sie spricht vom Ankommen einer »neuen Schöpfung« (1 Kor 5,17), einer neuen Welt in der alten und ihrer »Geschichte« und der ihr entsprechenden »Geschichtlichkeit«. Die Fremdheit der Menschen in der »Welt« – wie immer sie entsteht – wird durch eine andere Distanz ersetzt. Stellt euch nicht dieser »Weltzeit« gleich (Röm 12,1) – fügt euch nicht in die Denkmuster dieser Weltzeit: das heißt, auch nicht einer Fremdheitslogik, die die Distanz der Christen gegenüber der Weltzeit als Weltflucht interpretiert. Dass Ihr fremd seid in dieser Welt70, heißt ja, dass ihr Euch in Distanz zu einer Weltzeit seht, für die Ihr »neu« das Urteilen und das Verstehen lernen dürft. Dazu bedarf es der Erneuerung des Geistes, des Sinnes. Werden dann das »Sollen« des Handelns und das Betrachten – wieder? – zusammenfallen? Oder heißt es, das Sollen überhaupt hinter sich zu lassen und einzustimmen in das Leben jenseits einer Moral und jenseits jeder wie auch immer gesetzten Differenz, der das Urteilen folgen könnte? Das ist das »Projekt« Nietzsches, theologisch gefasst, so wie Ronald Beiner es anzeigt. Alles hängt hier an der anderen Eschatologie. Wie wird diese in einer »Kritik« der Urteilskraft sichtbar? Dies ist die angemessene Frage, denn diese Eschatologie richtet den »Sinn« nicht auf eine andere, jenseitige Welt, sondern auf den Willen Gottes für diese Welt. Diesen wahrzunehmen bedarf es der Erneuerung des »Sinnes« und dies ist selbst Teil der neuen Geschichte, der das Urteil folgt. Die Erneuerung des Sinnes wird in der biblischen Logik beschrieben als die Begegnung mit dem anderen, dem Fremden – und der neuen Weltwirklichkeit, die er mit sich bringt: Königreich Gottes (Basileia). Dieses hat damit begonnen, dass Gott an seinem Sohn Wohlgefallen hat, mit dem diese Basileia kommt. Diese adventliche Eschatologie begründet die Differenz, in der das Urteilen seinen Ort findet. Das Urteilsvermögen findet seinen Ort und seine Aufgabe dort, wo das Neue und das Alte eschatologisch unterschieden werden und diese Unterscheidung der Weltzeit von »Vergangenheit und Zukunft« gegenübertritt. So ist es naheliegend, dass Ronald Beiner mit Walter Benjamins Engel der Geschichte und mit Franz Kafka endet, so wie auch Hannah Arendt auf Kafka verweist71. Kafkas Welt ist die Welt, die absolut, ohne Anhaltspunkt (das macht ihren Schrecken aus) in jeder Hinsicht offen ist für den adventus. So gibt es nichts, woran sich irgendeine Weltgläubigkeit hängen könnte. Kafkas Welt ist gänzlich unbestimmt offen für die ankommende Welt.72 Die mit dem Messias ankom70 Hauerwas, Stanley ; Willimon, William H.: Resident Aliens. Life in the Christian Colony, Nashville, Tennessee, 2004. 71 Siehe: Arendt, Hannah: Franz Kafka; in: diess.: Die verborgene Tradition. 8 Essays, 1. Auflage, Frankfurt am Main, 1976, 88 – 107. 72 Eine Kafka-Lektüre in dieser Richtung findet sich bei: Brod, Max: Das Unzerstörbare; Stuttgart 1968, bes. 151 – 154.

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mende Welt findet hier keinen Anhaltspunkt oder Widerpart. In dieser ankommenden Weltwirklichkeit findet sich dann der »Sinn«, das heißt Gegen-Sinn der vergangenen Welt.73 Löwith bemerkt: »Der ›Sinn‹ der Geschichte dieser Welt erfüllt sich gegen sie, indem das Heilsgeschehen die hoffnungslose Weltgeschichte nicht fortsetzt, sondern abbaut.«74 Die vergangene Welt wird in der neuen Weltwirklichkeit – in Christus – aufgehoben, ihrer Ankunft folgt die urteilende Hoffnung, nicht einem Weltgeist, der nie zu einem bestimmten Ende führt und an eine Menschheitsgeschichte gebunden bleibt. Der Unbestimmtheit dieser Welt ohne Weltgeist und ohne Geschichte korrespondiert, was Hannah Arendt zu Kafka festhält: »Ihm ging es um eine mögliche, von Menschen erbaute Welt, in der des Menschen Handlungen von nichts abhängen als von ihm selbst, seiner eigenen Spontaneität, und in der die menschliche Gesellschaft durch von Menschen vorgeschriebene Gesetze regiert wird, und nicht durch geheimnisvolle Mächte, gleich ob sie als höhere oder niedere Mächte interpretiert werden.«75 So ist diese Welt auch freigesetzt gegenüber solchen Mächten und Göttern, von denen der Psalm 82 spricht. Es ist der Psalm, zu dessen Voraussetzungen, wie Martin Buber bemerkt, Kafka in seinen Romanen den Kommentar für unsere Zeit verfasst hat.76 Auf diesem rückhaltlosen Hintergrund ist für die Praxis des Urteilens entscheidend, was die Praxis des Urteilens leitet, wenn sie nicht den Denkschemata dieses Aions verfallen soll. Es kann nicht die allgemeine Frage nach dem »Sinn« der Welt sein. Das Urteilen, das sich auf den Willen Gottes richtet, welcher »Welt« thematisieren lässt, folgt einer begründeten Hoffnung, einer adventlichen Hoffnung, einer Hoffnung, die mit der Geschichte Jesu Christi, mit Gottes Versöhnung der Welt in Jesus Christus, präsent geworden ist. Es ist ein Advent, der schon eingetreten ist. Das Urteil in der Leitung des Geistes ist das Urteil derer, die »Zeugen« sind von diesem Advent. Es ist das Urteil derer, denen gesagt ist: »Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die bei und in euch präsent ist.« (1Pe 3,15 – 16).

In diesem Spannungsfeld erscheint damit Urteilen auf das politische Handeln ausgerichtet, sofern dieses zur Erkundung der Wirklichkeit und ihrer neuen Geschichte gehört, die mit dieser Hoffnung begonnen hat. Was Gott für die Welt

73 Siehe Löwith, Karl: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie; Stuttgart 1953. 74 Ebd. 180. 75 Arendt, Hannah: Franz Kafka, 106. 76 Buber, Martin: Recht und Unrecht. Deutung einiger Psalmen; 2. Auflage Gerlingen 1994, 32.

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will, ist nicht betrachtend zu erfahren, sondern darin, dass Gottes Wille geschieht »wie im Himmel, so auf Erden« und dies auch in unserem menschlichen Handeln. Diesen Willen gilt es wahrnehmend und urteilend zu erkunden, in keiner wie auch immer gegebenen (religiösen) Gewissheit oder Überzeugung, sondern in der Erneuerung des Geistes.

Martin Hailer

Urteilen lernen durch Habitus-Erwerb? Vorüberlegungen zu einer evangelischen Tugendethik

Die folgenden Ausführungen sind von der Vermutung geleitet, dass die alltägliche Praxis des Urteilen-Lernens vor allem mit dem Erwerb und der Veränderung von Handlungsdispositionen zu tun hat. Explizite Konfliktentscheidungen sind lebensweltlich die Ausnahme. Vielmehr wird das alltägliche ethische Setting eines Menschen von einem Gefüge von Gewohnheiten, Geneigtheiten und Überzeugungen geprägt. Von nichts Anderem aber handelt die Tugendethik. Wer also wissen will, wie Urteilen lernen für diesen großen Bereich funktioniert, ist deshalb an die Tradition der Tugendethik verwiesen, um die relevanten Vorgänge in den Blick zu bekommen. Es handelt sich in der Tat um Vor-Überlegungen, denn der Fokus ist nicht auf Lernvorgänge in Sachen Tugend direkt gerichtet, sondern auf deren Vorfeld: Wie soll eine theologische und näherhin evangelische Sicht von Tugenden überhaupt aussehen? Es ist nötig, so prinzipiell zu beginnen, weil hier bereits theologische Entscheidungen von erheblicher Reichweite fallen und weil in der evangelischtheologischen Ethik ein tugendethisches Konzept nach wie vor skeptisch bis kritisch betrachtet wird.1 Deshalb haben diese Überlegungen auch den Charakter eines Pädoyers: Es ist sinnvoll und richtig, eine evangelische Tugendethik anzuzielen. Darüber hinaus stellt sie in Aussicht, die Vorgänge des alltäglichen Urteilen-Lernens besser in den Blick zu bekommen, als das mit der evangelisch angestammten Konzentration auf die Verantwortungsethik möglich ist.

1 Das gilt jedenfalls für die deutschsprachige Diskussion. In der englischsprachigen hat Gilbert Meilaender schon vor längerer Zeit die Problemlandschaft kartiert, vgl. Meilaender, Gilbert: The Theory and Practice of Virtue; Notre Dame/IN 1988; als fallbezogene Vorstudie dazu vgl. Meilaender, Gilbert: Friendship. A Study in Theological Ethics; Notre Dame/IN 1981. Nicht dem Begriff aber durchaus der Sache nach tugendethisch orientiert ist Gustafson, James M.:, Ethics from a Theocentric Perspective; 2 Bde., Chicago/IL 1981 und 1984. Deutlich andere Akzente durch eine strikt binnenperspektivische Orientierung setzen Hauerwas, Stanley/ Pinches› Charles: Christians Among the Virtues. Theological Conversations with Ancient and Modern Ethics, Notre Dame/IN 1997.

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1.

Martin Hailer

Tugend. Eine Arbeitsdefinition

Kurz und prägnant formuliert der Erfinder der westlichen Tugendethik: »Das gute Handeln ist selbst ein Ziel.«2 Aristoteles beschreibt mit diesen wenigen Worten eine Grundüberzeugung jeder Tugendethik und zugleich einen der dauerhaft guten Gründe für tugendethisches Denken. Was immer Tugenden noch sind, sie tragen ihren Grund in sich selbst. Sie bedürfen keiner externen Begründung, sie müssen nicht aus einer übergeordneten Norm hergeleitet werden. Wer tugendhaft handelt, tut es nicht, weil er oder sie einer Vorschrift entsprechen will, sondern weil es selbstevident gut so ist, eben in sich selbst ein Ziel. Und auch der Beobachter einer tugendhaften Handlung empfindet das als besonderen Charme: Man beobachtet nicht, wie jemand einer Norm gehorcht, man beobachtet den selbstvidenten Vollzug des guten Handelns um des guten Handelns willen. Dieser besondere Reiz gilt auch für die theologische Frage nach der Tugendethik. Denn eine geläufige Kritik an theologischer Ethik behauptet, Christen seien solche, die einen opaken Gesetzgeber denken, den sie für unerkennbar und dessen Wege sie für unerforschlich erklären. Ihre Ethik sei dann von der Art, dass sie von diesem opaken Gesetzgeber Normen entgegennehmen, an deren Begründung sie nicht beteiligt sind und denen sie gehorchen müssen. Diese Karikatur jeder theologischen Ethik ist leider eine häufig anzutreffende Meinung. Ließe sich also zeigen, dass diese Außenwahrnehmung falsch ist, wäre auch das ein Gewinn. Könnten wir zeigen, dass auch unter christlich-theologischen Auspizien gilt: »Das gute Handeln ist selbst ein Ziel«, dann wäre viel gewonnen. Eine falsche Außensicht wäre korrigiert und zugleich eine theologische Selbstauskunft über die Eigenart des Handlungsvollzugs eingeholt. Auf diese vorläufige Lokalisierung des Problems folgt die Arbeitsdefinition: Tugenden sind die Motivationslagen eines Menschen, der subjektiv erstrebenswert findet, was objektiv gut ist. Der Tugendhafte weiß, was gut ist, und er ist willentlich und affektiv geneigt, es auch in die Tat umzusetzen. Seine willkürlichen und unwillkürlichen Handlungsbereitschaften sind gut begründet.3 Hier kommen mehrere Momente zusammen, von denen drei genannt seien: 1. Es handelt es sich um einen Ethik-Typ, der den oder die Handende(n) in den Blick nimmt. Er ist ›agent-centered‹, nicht ›act-centered‹, wie es in der englischsprachigen Debatte heißt. Entsprechend umgeht er die Schwierigkeiten, die sich mit dem Begriff der Norm verbinden, also Fragen der Normbe2 Aristoteles: Ethica Nicomachea, hg. von I. Bywater ; Oxford 1894, Nachdruck 1959, 1140b7. 3 Bezug auf Schockenhoff, Eberhard: Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf; Freiburg u. a. 2007, 46.64 f; Stock, Konrad: Grundlegung der protestantischen Tugendlehre; Gütersloh 1995, 165.

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gründung generell, der Deduktion von Handlungszielen, ferner den ganzen Autonomie-Heteronomie-Diskurs, der Normenethiken stets prägt. 2. Damit verbindet sich aber genau nicht eine fröhliche Beliebigkeit. Vom ›objektiv Guten‹ ist in der Definition die Rede. Die Behauptung, das gäbe es, unterscheidet die Tugendethik etwa von einer reinen Genussethik auf der einen Seite und von Ethiken, die aus anderen Gründen von – wie auch immer gestuften und begründeten –Objektivitätsidealen Abstand genommen haben. Zudem klassifiziert sie sie zu denjenigen Ethiken, für die sich der Ausdruck moralischer Realismus eingebürgert hat: Im moralischen Realismus wird behauptet, dass das Gute und Richtige in der Wirklichkeit vorhanden ist. Werte und Güter haben Anhalt in der empirischen Wirklichkeit und es ist nicht so, dass sie unter strikter Abwendung von der Welt ausgehandelt werden müssten. Das ist einer der wichtigen und diskussionswürdigen Punkte in jeder Tugendethik. Welche eigenen Akzente eine theologische Tugendethik hier setzen sollte, wird uns noch beschäftigen. 3. Die kurze Definition führt die Aspekte Wissen, Willen und Gefühl zusammen. Es geht also um das, was man mit dem abgegriffenen Wort ›ganzheitlich‹ in den Blick nimmt. Beim Handeln eines Tugendhaften kommen Kenntnis, Entschlussfreudigkeit und positives Selbstbild zusammen. Die Literatur nennt an dieser Stelle wichtige Begriffe: Tugendhaftes Leben zeigen so heißt es, Charme, es gehe ums Glück des so Lebenden. So zu leben sei gelingendes Leben, ja es geht – um noch einmal den Vater der Tugendethik zu Wort kommen zu lassen – um eudaimonia, Glückseligkeit. Tugendethik ist also mit einem Gelingensversprechen im weitesten Sinn des Wortes verbunden. Wieder lässt sich denken, dass das für die theologische Ethik einladend ist: Gottes Zusage und Verheißung ist doch, dass das Leben gelingen möge und dass ein Leben in Geschwisterlichkeit und Nächstenliebe das Menschen beschiedene Glück in sich trage. Auch wer die schweren Seite der Nachfolge Christi nicht abblendet, wird sagen dürfen: Es ist Gottes Wille, dass das Leben gelingt. Fehler entstünden freilich dann, wenn man Gelingen mit gerade gängigen Kriterien des Erfolgs gleichsetzt.

2.

Evangelische Probleme mit der Tugendethik

Abblendung des Normbereichs, moralischer Realismus, ganzheitliche Sicht auf den Menschen: Das sind die wichtigsten Aspekte einer Tugendethik, samt ersten Vermutungen, worum es dabei theologisch gehen könnte. Ihrer konkreten Gestalt gilt jetzt die Aufmerksamkeit. Nach Lage der Dinge hat das die Form eines Kurzberichts, warum evangelische Ethik meinte und meint, auf den Tugendbegriff weitgehend verzichten zu sollen.

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Gleichwohl kann mit der positiven Wendung begonnen werden: Die Nachfolge Jesu Christi ist etwas, was den ganzen Menschen ergreift, die Einheit aus Verstand, Wille und Gefühl. Die Nachfolge Christi ist ferner von der Art, dass sie Möglichkeiten eröffnet, dass sie einen Lebensspielraum aufzeigt, das neue Leben des Menschen, der zu Christus gehört und von dem man biblisch-theologisch ja immerhin sagen darf, er sei wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung. Mit dem Erkunden des von Gott her zukommenden Lebensspielraums ist zu beginnen, nicht mit Gesetz und Norm. Zumal wenn man es unter lutherischen Auspizien sieht, ist diese Ferne vom Gesetz doch richtig und wichtig, ja verheißungsvoll. Dafür genügt ein Blick in Luthers reformatorische Programmschrift. In der »Freiheit eines Christenmenschen« heißt es, dass diejenigen, die mit Christus Gemeinschaft haben, gar nicht anders können, als gut und gemeinschaftlich mit ihren Mitmenschen umzugehen: Ein guter Baum trägt gute Früchte.4 Die Absätze, denen das Wort vom guten Baum und seinen Früchten entnommen ist, stellen im Grunde eine reformatorische Tugendethik dar. Luther selbst hat sie vor allem im Rahmen der Überlegungen weiterentwickelt, was der ›Beruf‹ eines Christenmenschen ist, also gefragt, was es heißt, dass jemand sich an einen bestimmten lebensweltlichen Ort gestellt sieht, an dem er zur Ehre Gottes und zum Wohl seiner nächsten wirkt.5 Vor allem aus den kontroverstheologischen Gründen, von denen gleich die Rede ist, haben diese Erwägungen in der evangelischen Tradition allerdings kaum Nachwirkung erzielt. Um sie zu kennen ist eine vergröberte Skizze der moraltheologischen Entwicklung nötig. Die eben genannten Argumente leuchteten auch der frühen christlichen Theologie in der Antike ein: Nachfolge Christi ist eine Lebensform, die den ganzen Menschen ergreift und ihm Spielräume eröffnet, ihn anspricht und ihn zum neuen Menschen macht, der diese Spielräume gern erkunden und in ihnen leben wird. In einem recht komplexen Prozess der Theologiegeschichte kamen nun zwei Momente zusammen: Zum einen kam es zu einer Formalisierung der Tugenden. Die antiken vier Kardinaltugenden – Besonnenheit, Weisheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit – boten sich dafür an, zu ihnen gesellten sich als die drei theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung. Als das Unterscheidende der theologischen Tugenden galt, dass sie von Gott gewirkt werden und nicht dem natürlichen Menschen als Disposition zur Verfügung stehen.6 Mit

4 WA 7, 32. 5 Vgl. Pawlas, Andreas: Die lutherische Berufs- und Wirtschaftsethik. Eine Einführung; Neukirchen-Vluyn 2000, bes. 49 ff.81 ff. 6 Die mittelalterliche Entwicklung ging Auseinandersetzungen darum aus, ob Tugenden philosophisch als habitus zum moralischen Handeln verstanden werden können oder ob sie nur im Rahmen der Gnadenlehre wahrhaft in den Blick kommen. Für die erste Option steht Petrus Abaelardus, für die zweite Petrus Lombardus. Bei Wilhelm von Auxerre findet sich dann

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dieser Stufung in natürliche und theologische Tugenden war gesichert, dass der Glaube wohl gleichsam im Menschen stattfindet, aber nicht aus ihm ist – ganz zweifellos eine über die theologische Lager hinweg geteilte Richtigkeit. Zugleich war damit die Möglichkeit und bald die Notwendigkeit gegeben, Glaube als eine Tugend zu verstehen. Und das ist das zweite wichtige Momentum. Die drei theologischen Tugenden und der Glaube also mit ihnen gelten als durch die Gnade Gottes dem Menschen eingestiftet. Sie können vom Menschen nie und nimmer selbst erworben werden – so ist z. B. der Begründungsapparat bei Thomas von Aquin, der das bündig ausschließt, überaus beeindruckend.7 Für semipelagianische Pendelausschläge darf man ihn nicht verantwortlich machen, schon eher einige Denker der nominalistischen Spätscholastik.8 Von einer Selbstrechtfertigung oder davon, dass Glaube auf menschliche Initiative zurückgeht, kann also im Blick auf Thomas und auf die Großen der katholischen Tradition nicht gesprochen werden, wohl aber stiftet Gott nach ihrer Überzeugung zur Mitwirkung im Glauben an.9 Der reformatorische Einspruch bezieht sich auf folgendes: Der Gedanke, Glaube sei eine Tugend, setzt folgerichtig mit, es gebe einen Wachstumsprozess im Glauben. Dagegen richtet sich Luthers Klostererfahrung und entsprechend sein theologischer Einspruch: Von uns aus gesehen sind und bleiben wir je Sünder. In Gottes Erbarmen und Urteil sind wir gerecht, dort völlig, aber eben nur dort. Deswegen ist der Gedanke von einer Weiterbildung und gar Perfektion des Glaubens falsch.10 Außerdem führt er dazu, sich des eigenen ›Glaubenszu-

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erstmals die genannte Differenzierung in natürliche und übernatürliche Tugenden, vgl. Porter, Jean: Art. Tugend; TRE 34, 184 – 197, hier 186 f. Thomas von Aquin, Summa Theologica I – II, 110 – 112, bes. 110,3 zum Tugendcharakter der Gnade und 112,1 zur Frage danach, wer sie verursacht. Das geläufige Urteil, Wilhelm von Ockham, Gregor von Rimini und andere seien Semipelagianer ist freilich selbst im Streit entstanden, wofür v. a. Thomas Bradwardines († 1349, im selben Jahr wie Wilhelm) Verdikt, er habe sich gegen ›moderne Pelagianer‹ zur Wehr zu setzen, ursächlich ist, vgl. Bradwardine, Thomas: De causa Dei contra Pelagium et de virtute causarum ad suos mertonenses; Druck von 1618, Nachdruck Frankfurt am Main 1964 (online: http://archive.org/details/decausadeicontra00braduoft), praefatio. Einführende Bemerkungen bei Schmidt, Martin Anton: Die Zeit der Scholastik; in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte Band 1, hg. von Carl Andresen u. a., Nachdruck Göttingen 1989, 567 – 754, hier 722 – 727. Das verhandelt Thomas u. a. in der quaestio I – II, 114 zur Frage des Verdienstes. So jedenfalls die evangelische Generalüberzeugung. Freilich steht auch sie zur Überprüfung an, insbesondere auf die Frage hin, was Luther denn dazu dachte. Die sog. Finnische Lutherforschung hat bemerkenswerte Argumente dafür vorgelegt, dass er den Gedanken des Fortschritts in der Gnadenwirkung durchaus kannte, vgl. Mannermaa, Tuomo: Der im Glauben gegenwärtige Christus. Rechtfertigung und Vergottung. Zum ökumenischen Dialog; Hannover 1989; Hailer, Martin: Rechtfertigung als Vergottung? Eine Auseinandersetzung mit der finnischen Luther-Deutung und ihrer systematisch-theologischen Adaption; Lutherjahrbuch 77/2010, 239 – 267.

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stands‹ rühmen zu wollen und das läuft direkt ins Messer der Kritik des Apostels Paulus. Und noch ein anderes, wohl das etscheidende Kritikmoment: Glaube als Tugend impliziert, dass der Glaube eine Größe innerhalb unserer Erfahrung sei, der Introspektion des Individuums als ein Moment seiner Selbsthabe zugänglich. Das freilich ist ein mehr als heikler Gedanke: Es ist schon wahr, dass der Glaubende Erfahrungen macht. Es ist und bleibt aber wahr, dass die Gerechtigkeit des Sünders in Gottes Erbarmen und souveränem Handeln ruht und nicht in einem bei sich antreffbaren Zustand.11 Im Glauben ist das Personzentrum des Glaubenden außerhalb seiner selbst und deshalb kann der Glaube keine Tugend sein, die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, ganz genauso wenig. Das sind die wichtigsten Gründe, die zur evangelischen Ablehnung der Tugendethik führten. Sie sah die gesamte Tugendfrage gleichsam soteriologisch fehlaufgeladen. Die Zurückweisung geschah freilich um den Preis, die alltagsethisch hilfreiche Erklärungskraft der Tugendethik gleich mit abzuweisen. Und damit von den wenigen theologiegeschichtlichen Bemerkungen zurück zum theologischen Gespräch der Gegenwart, gleichsam mit der Hypothek: Wer evangelisch an eine Tugendethik herangehen will, wird diese grundsätzliche reformatorische Mahnung nicht vergessen und zugleich wohl bedauern, was durch diese Mahnung verloren ging. Im Gespräch mit einem gegenwärtigen katholischen Ethiker ist nun zu zeigen, dass es beim Bedauern nicht bleiben muss, sondern dass sich eine konstruktive Aufgabe gegenwärtiger evangelischer Ethik einstellt.

3.

Skizze des Argumentationsgangs bei Eberhard Schockenhoff

Mit seiner ›Grundlegung der Ethik‹ hat Eberhard Schockenhoff im Rahmen reichen Schaffens sein Hauptwerk vorgelegt. Aus der Mitte der katholischen Tradition kommend präsentiert er eine Grundlegung der Moraltheologie, die sozialethische Konkretion nicht ausspart, die aber in anderen Publikationen und in Wortmeldungen an verantwortlicher Stelle – etwa als stellvertretender Vor11 Das ist das Sachmoment der Exzentrizität des Glaubenden in Christus. Aus der Fülle der deutschsprachigen Literatur dazu sei nur verweisen auf Gestrich, Christof: Christentum und Stellvertretung. Religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie; Tübingen 2001, im englischsprachigen Bereich hat David Kelsey die gemeinte Sachlichkeit kürzlich in einer umfassenden Studie ausgeschritten, vgl. Kelsey, David: Eccentric Existence. ATheological Anthropology ; 2 Vol.s, Louisville/KT 2009. Für Konkretionen an Hand lebensweltlicher Thematiken vgl. Hailer, Martin: Freundschaft und Stellvertretung, in: Freundschaft. Zur Aktualität eines traditionsreichen Begriffs, hg. von Marco Hofheinz u. a., Zürich 2012; ders., Liebe – theologische Anatomie eines ›unordentlichen Gefühls‹, in: Liebe. Zu Geschichte und Erscheinungsformen einer rätselhaften Emotion; hg. von Christoph Jamme und Andreas Jürgens, Paderborn/München 2013.

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sitzender des Deutschen Ethikrats – ausführlicher behandelt werden.12 Die Konzentration auf die Grundlegung bringt bereits auf den ersten Blick eine strukturelle Eigentümlichkeit hervor: Es handelt sich um eine Tugendethik, aber nicht um eine reine. Das Werk besteht aus Tugendlehre zum einen und Normtheorie zum anderen. Keine von beiden ist nach Schockenhoffs Urteil geeignet, den ganzen Bereich des ethisch Relevanten anzudecken: Eine reine Normenethik verkennt die Eigenart des alltäglichen menschlichen Nahbereichs und reduziert überdies die Rolle der Tugend auf die Geneigtheit zur Norm, wie bei Kant.13 Eine reine Tugendethik wiederum würde in den Bereichen auskunftsarm, in denen ohne explizite normgestützte Auseinandersetzungen kein Bestimmtheitsgewinn zu erzielen ist, etwa in den Konfliktbereichen der Sozialethik, zum Beispiel der Frage nach Legitimität von Gewalt, in der Sexualethik oder der Ethik des Lebensendes. Für Fragen wie diese diskutiert Schockenhoff die einschlägigen Typen normenethischer Begründungsstrategien, also teleologische, deontologische und hermeneutische Vorgehensweisen. Das ist bereits ein erster wichtiger Hinweis: Das Proprium christlicher Ethik ist für Schockenhoff nur in der Tugendethik darstellbar, obwohl es in ihr nicht aufgeht. Christlich zu handeln ist zunächst alltäglicher Lebensvollzug im Rahmen von Glaube, Liebe und Hoffnung. Führte man die theologische Ethik als Normenethik ein, so verschöbe sich dies Proprium in Richtung einiger weniger Konflikte, verlöre aber den Bereich des ganz alltäglichen Handelns dabei aus dem Blick. Das ist der Grund für die »systematische Vorrangstellung« der Tugendethik.14 Die Vorrangstellung aber macht die Reflexion auf das Phänomen moralischen Sollens nicht gegenstandslos Eine reine Tugendethik bliebe auskunftslos, wenn es um zugespitzte Handlungsalternativen geht. Wie steht es um die Begründungsansprüche, die Schockenhoff in seinem Werk erhebt? Der Eigenstand theologischer Ethik und ihr Allgemeinheitsanspruch liegen in einer Weise ineinander, die die Basisüberzeugung von Schockenhoffs wichtigstem theologischen Bezugautor Thomas von Aquin deutlich zu Tage treten lässt: Der Autonomie der Vernunft und ihres Weltumgangs kann vertraut werden, weil auch sie letztlich ein Geschöpf Gottes ist und ihre Geltungsansprüche von theologischen Geltungsansprüchen nicht aufgehoben, sondern überbaut und zum Ziel gebracht werden. Das Verhältnis muss nicht spannungsfrei gedacht werden, aber doch so, dass Vernunftautonomie und 12 So etwa Schockenhoff, Eberhard: Theologie der Freiheit; Freiburg 2007; ders., Ethik des Lebens. Grundlagen und neue Herausforderungen; Freiburg 2009. 13 »Also ist die allgemeine Pflichtenlehre in dem Teil, der nicht die äußere Freiheit, sondern die innere unter Gesetz bringt, eine Tugendlehre.« Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten; in: Werke 4, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, 303 – 634, 508, Herv. im Orig. gesperrt. 14 Schockenhoff, Eberhard: Grundlegung, 25, vgl. 305.

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Wahrheit des Evangeliums nicht in Widerspruch stehen.15 Damit ist zunächst gesagt, dass es ein Proprium christlicher Ethik gibt und dass dieses sich aus keiner anderen Quelle als der Bibel und ihrer Überlieferung darstellen lässt:16 Die Existenz aus Glaube, Liebe und Hoffnung kann nur leben und nachvollziehen, wer sein Leben davon ausgerichtet sein lässt.17 Vergleichbares gilt auch für den Bereich von Gebot und Gesetz, weil es einen theologischen Eigensinn des Gebots gibt, der außertheologisch nicht darstellbar ist.18 Daraus wird aber nun genau nicht eine Ethik nur für Christenmenschen. In der Einleitung heißt es in aller Klarheit: »Das unverzichtbare Wahrheitsmoment eines autonomen Begründungsansatzes, auf dem auch die theologische Ethik bestehen muss, liegt in der vernünftigen, von religiösen oder weltanschaulichen Prämissen unabhängigen Geltung moralischer Urteile. Die Einsicht in den Anspruch moralischer Prinzipien und Normen setzt weder den Glauben noch die Annahme der Offenbarung voraus; (…) Theologische Ethik versteht sich als eine kognitive Moraltheorie, die moralischen Urteilen einen wahrheitsfähigen, rationaler Zustimmung zugänglichen und intersubjektiv verbindlichen Status zuschreibt.«19 Das ist laut Schockenhoff Kennzeichen katholischer Ethik seit je. Bei der Frage nach der Umsetzung dieses Anspruchs konzentriere ich mich auf die Tugendlehre. Schockenhoff präsentiert hier das, was man ein Überbietungs- und Erweiterungsmodell nennen könnte. Es wird gezeigt, dass alle Menschen darauf angelegt sind, nach Gutem zu streben. Das klingt wie eine Auslegung des ersten Satzes aus der Nikomachischen Ethik des Aristoteles: »Jede Herstellung, jede Lehre, jede Handlung und jede Vornahme streben offenbar nach einem gewissen Guten.«20 Strebevermögen ist natürlich, mehr noch: es definiert Menschsein geradezu. Es gehört zur Natur des Menschen, Strebensziele zu haben.21 Hiermit ist zugleich der Ansatzpunkt des moralischen Realismus gezeigt, auf den noch einzugehen sein wird. Der Übergang von einer allgemeinen Tugendlehre – deren materiale Ausarbeitung hier völlig unerwähnt bleiben muss – zur theologischen funktioniert so: Menschen sind auf Ziele ausgerichtet. Es ist deswegen rational, diese Zielausrichtung in Richtung auf ein 15 Mit dieser Behauptung – ausgeführt im eben genannten Band zur Freiheit – partizipiert Schockenhoff an einer in der katholischen Fundamentaltheologie breit geführten Diskussion, die die Versöhnung katholischer Theologie mit dem Freiheitspathos der Neuzeit voranbringen will. Mit je unterschiedlichen Akzenten wird sie u. a. von Klaus Müller und Hansjürgen Verweyen vorangetrieben, jüngst erschien dazu Pröpper, Thomas: Theologische Anthropologie; 2 Bde., Freiburg u. a. 2011. 16 Schockenhoff, Eberhard: Grundlegung, 36 u. ö. 17 Schockenhoff, Eberhard: Grundlegung, 133 ff. 18 Schockenhoff, Eberhard: Grundlegung, 499 ff. 19 Schockenhoff, Eberhard: Grundlegung, 23, vgl. 503.533. 20 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1094a1. 21 Schockenhoff, Eberhard: Grundlegung, 53.333.

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letztes Ziel hin zu ergänzen. Das ist unter geltenden Weltumständen nicht anders als in der »kontrafaktische[n] Antizipation der neuen Schöpfung Gottes« möglich, also nur unter Bezug auf die Offenbarung.22 Freilich hebt dieses Ziel keine autonom gewonnene Einsicht der praktischen Vernunft auf und ist deswegen keine Ethik eigener und getrennter Machart. Dies Denkmodell ist ersichtlich ein ethischer Kommentar zum soteriologischen Grundsatz des Thomas von Aquin: »cum enim gratia non tollat naturam, sed perficiat, oportet quod naturalis ratio subserviat fidei.«23 Letztlich wird hier gedacht, dass die menschliche Vernunft auf schöpferische Weise an der göttlichen teilhat.24 Das Verhältnis gilt beidseitig: Der Glaube ruht auf der autonomen Moral auf und erweist sich somit als vernünftiges Gottvertrauen, die autonome Moral ruht in sich selbst und weist zugleich über sich hinaus auf das Evangelium, das von ihr aus gesehen in der Tat nicht notwendig, sondern »mehr als notwendig für sie ist«:25 Christliches Handeln ist freie Antwort auf die Offenbarung. Schon diese Bestimmungen verlocken den evangelischen Ethiker zu einer Antwort. Diese soll sogleich erfolgen, zuvor sei noch auf einen Aspekt verwiesen, der schon angesprochen wurde: Diese Tugendethik ist eine, die die Position des moralischen Realismus reklamiert. Der moralische Realismus behauptet: Es gibt »etwas das uns sagt, wie wir handeln sollen und uns zugleich zum Handeln bewegt«.26 Es gibt Handlungsweisen, deren Gutsein oder Schlechtsein aus ihnen selbst hervorgeht und auf die man nicht erst sekundäre Wertungen übertragen muss. Umgekehrt gesagt: Moralische Werte sind nicht nur als subjektive Einstellungen, als intersubjektiv vereinbarte Strebensziele oder als deduktionsfähige Prinzipien vorhanden. Ihnen kommt eine eigenständige Realität zu – wobei man über den genauen ontologischen Status erquicklich streiten kann, was jetzt aber unterbleiben soll. Lediglich ein Beispiel: Die Verwerflichkeit des Lügens ist nicht nur eine subjektive Meinung. Sie ist eine moralische Tatsache, unabhängig davon, ob sie von den gerade Beteiligten anerkannt wird.27 Wer die Verwerflichkeit des Lügens entdeckt, entdeckt also Wirklichkeit. Und damit ist Schockenhoff am Punkt: Das Ethische ist der Anspruch der Wirklichkeit an uns.28

22 23 24 25 26 27

Schockenhoff, Eberhard: Grundlegung, 351. Thomas von Aquin, Summa I,1,8 resp 2. Schockenhoff, Eberhard: Grundlegung, 537 – 540. Schockenhoff, Eberhard: Grundlegung, 547. Schockenhoff, Eberhard: Grundlegung, 323. Schockenhoff, Eberhard: Grundlegung, 327. Vgl. zum Thema den Band: Dürfen wir lügen?; hg. von Rochus Leonhardt und Matthias Rösel, Neukirchen-Vluyn 2002, der christlichtheologische, jüdische und religionswissenschaftliche Beiträge versammelt und in dem Schockenhoff mit einem Beitrag vertreten ist: Das Recht der Wahrheit. Begründung und Reichweite der Wahrheitspflicht aus der Sicht der katholischen Moraltheologie, 211 – 227. 28 Schockenhoff, Eberhard: Grundlegung, 115. Das Phänomen hat auch aus evangelischer

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Eine ethische Theorie sucht Theorie der Zustimmung zur Wirklichkeit zu sein. Zustimmung zur Wirklichkeit, die allen vor Augen liegt und darüberhinaus Zustimmung zur Wirklichkeit, die die Offenbarung enthüllt, ohne die Wirklichkeit im eben genannten Sinne dabei aufzuheben.

4.

Konturen eines evangelischen Tugendkonzepts

Im Gespräch mit dieser beeindruckenden katholischen Ethik sollen Konturen einer evangelischen Tugendethik herausgearbeitet werden. Evangelisch-katholische Unterschiede werden dabei deutlich. Sie dürften aber durchaus anders liegen als die kontroverstheologische Meinung unserer Tage sie sieht: Denn einmal gibt es entgegen der Meinung, Tugendethik sei typisch katholisch und die evangelische Ethik solle auf dergleichen Verzicht tun,29 sehr wohl gute Gründe für sie. Und dann ist es unsachlich, eine Grunddifferenz zwischen einer prinzipienorientierten und lehramtsgebundenen Moraltheologie einerseits und einen binnenpluralistischen und modernitätsoffenen Ethik andererseits zu konstruieren, wie das ebenfalls gängig ist. Anlass zu unterschiedlichen Akzenten gibt es gleichwohl. Sie sollen in vier Aspekten gebündelt werden.

4.1

Habitus als Netzwerk

Es ist sinnvoll, ja nötig, für die Belange der Ethik auf das Konzept von Tugend zurückzugreifen. Es stimmt, dass Menschenwesen strebende Wesen sind. Es stimmt, selbst wenn man weiters nicht geneigt ist, das an Hand der aristotelischen Ontologie zu explizieren. Es stimmt vor allem deshalb, weil es den Nahbereich des alltäglichen Handelns in den Blick nimmt. Der weit überwiegende Teil des menschlichen Handelns ist weder pure animalischer Reflex noch explizit vorgenommene Abwägung im Konfliktfall. Er findet in dem Bereich statt, der von Erziehung und Gewohnheit geprägt ist oder durch eher kurzwellige Überlegungen strukturiert wurde. Das Handeln in diesem Bereich ist nicht deterPerspektive Aufmerksamkeit erfahren, vgl. Moralischer Realismus. Theologische Beiträge zu einer philosophischen Debatte; hg. von Johannes Fischer u. a., Stuttgart u. a. 2004. 29 Für einen nicht kleinen Meinungssektor mag hier stehen Honecker, Martin: Schwierigkeiten mit dem Begriff der Tugend. Die Zweideutigkeit der Tugend; in: Tugendethik, hg. von K.P. Rippe und P. Schaber, Stuttgart 1998, 166 – 184. Schockenhoff selbst hat sich ebenfalls zur ökumenischen Lage in der Ethik geäußert: Neue Standortbestimmungen in der Ökumene? Die Suche nach konfessionellen Differenzmerkmalen in der Ethik, in: Theologische Ethik der Gegenwart; hg. von F. Nüssel, Tübingen 2009, 249 – 269. Aus evangelischer Sicht vgl. im selben Band Körtner, Ulrich: In der Lehre getrennt, im Handeln geeint? Chancen und Grenzen ökumenischer Sozialethik, 271 – 294.

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miniert, wie es das Wegzucken der Hand von der heißen Herdplatte ist. Es ist aber, mit Johannes Fischer zu sprechen, gerichtetes Handeln, also solches, das schon einen Drall, eine Richtung hat, in dem Plausibilitäten bereits die Alternativen strukturieren und vorgeben.30 Eine reine Normen- und Prinzipienethik übersieht diesen Bereich oder macht ihn zum bloßen Anwendungsfall der Norm, was nicht richtig ist. Es ist aber doch einfach wahr, dass in diesem Bereich alltäglichen Handelns die Existenz der Christinnen und Christen manifest wird. Hier zeigt sich eben, was Leben aus der Vergebung, Leben in der Hoffnung, Leben in Geschwisterlichkeit ist. Und wenn man die Erkundung und die Einübung in ein solches Leben im weitesten Sinne als Tugendethik beschreiben kann, dann sind wir hier am Punkt. Zum Leben des Christenmenschen gehört es, dass die unwillkürlichen Handlungsbereitschaften sich an dem orientieren und durch das verändert werden, was den Christen zum Christen macht. Woher kommen, wie entstehen diese unwillkürlichen Handlungsbereitschaften? Unsere Welt ist je und je erschlossene Welt und das heißt: je und je schon perspektivisch erschlossen. Die Einübung ins Leben eines Christenmenschen bringt die Veränderung dieser perspektivischen Erschlossenheiten mit sich. Weil und sofern es sich dabei um »Erprobung in Lebensvorgängen« handelt,31 ist es richtig, von christlichen Tugenden des menschlichen Nahbereichs zu sprechen. Die Vokabel ›Erprobung‹ ist hierbei wichtig. Denn die evangelische Ethik hat Anlass, den Vorläufigkeitscharakter von Tugenden zu betonen. Menschen handeln im christlichen Sinne tugendhaft, wenn ihre willkürlichen und unwillkürlichen Handlungsbereitschaften vom Anruf des Evangeliums geprägt und gesteuert werden. Dazu ist es unumgänglich, dass sie sich immer wieder als solche vorfinden, die dem Ruf des Evangeliums ausgesetzt sind und die von ihm ergriffen werden. Es besteht aller Anlass, Gott zu vertrauen, dass seine Gegenwart dauerhaft und verlässlich ist, aber diese Dauerhaftigkeit und Verlässlichkeit liegt eben bei Gott und nicht in einem geänderten internen Ensemble des Menschen. Es ist deshalb richtig, von einer Perseveranz des christlichen Lebens zu sprechen, und es lässt sich, das nebenbei, zeigen, dass es diesen Gedanken bei Luther sehr wohl gibt – hierzu ist unter anderem die finnische Lutherdeutung zu befragen.32 Die so bestimmte Perseveranz christlichen Lebens kann habitus genannt werden. Habitus in diesem Sinne ist ein Netzwerkbegriff. Das heißt vor allem, dass die tradierte Unterscheidung zwischen natürlichen und übernatürlichen habitus zu kritsieren ist: Die habitus eines Menschen kommen besser in den Blick, wenn 30 Vgl. Fischer, Johannes: Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung; Stuttgart u. a. 2002, 156 u. ö. 31 Ulrich, Hans G.: Wie Geschöpfe leben. Konturen theologischer Ethik; Münster 2005, 450. 32 Stock, Konrad: Grundlegung 140. Zu finnischen Lutherdeutung s. o. Anm. 10.

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man sie nicht von ihrer möglichen Verursachung her in natürliche und übernatürliche unterteilt. Die einer solchen Unterscheidung zu Grunde liegende Konzentration auf die Wirkursache ist im Rahmen der Aristoteles-Rezeption vielleicht erklärbar, sie verstellt aber doch den Blick darauf, dass habitus nicht nur verursacht werden, sondern – mindestens ebenso wichtig – sozial lokalisiert sind. Sie haben den Charakter von Netzwerken: Gottesrelation, Selbstrelation, Fremdrelation sind die wesentlichen Punkte, an denen die Fäden des Netzes festgemacht sind.33 Menschen erwerben mit der Erfahrung in Glauben und Leben habitus. Das ist kein übernatürliches Vermögen der Gotteserkenntnis, sondern menschliche Disponiertheit, die unter dem Urteil Gottes steht.34 Dem eine gewisse Kontinuität zuzusprechen, ist völlig gefahrlos und es ist nicht einzusehen, warum evangelische Ethik stets nur aktualistische Ethik sein sollte. Gleichwohl wissen wir, dass es Brüche im Leben gibt, in denen die Entdeckung gemacht wird: das Herz hing woanders, nicht an Gott, dem Vater Jesu Christi. Deswegen ist die Verlässlichkeit des christlichen Lebens eine, die immer wieder von Gott erbeten werden muss. Die Perseveranz christlicher Tugend wird im habitus erfahren, ruht aber letztlich in Gottes Treue. Ob dieser evangelische Akzent geeignet ist, eine evangelischkatholische Unterscheidungslehre einzuführen,35 müsste eigens diskutiert werden. Recht vermutlich liegen die Unterschiede weniger in einer vorsichtigen evangelischen Behauptung, es gebe Deo volente so etwas wie Perseveranz im Glauben, als in der hier lancierten Behauptung, bei den habitus sei weniger die Frage nach ihrer Ursache entscheidend als die, dass sie den geschilderten Netzwerkcharakter haben. Der Netzwerkcharakter der habitus dürfte zugleich auf eine spezifische Eigenart der theologischen Tugendethik aufmerksam machen. Wenn es stimmt, dass habitus nicht gleichsam ›in‹ einem Menschen sind, sondern er sich mit und an Hand seiner habitus im Netzwerk der Ich-, Fremd- und Gottesrelationen 33 So die u. a. an Pierre Bourdieu gewonnene Feststellung bei Schäfer, Heinrich: Glaube/Vertrauen. Aus evangelischer Sicht; in: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe Bd. 2, hg. von P. Eicher, München 2005, 27 – 39. Schäfer entwickelt diesen Ansatz weiter in Richtung eines qualitativ-quantitativen Forschungsansatzes für Identitätspraktiken in Sachen Religion, vgl. Schäfer, Heinrich Wilhelm: Habitus Analysis. Identities and Strategies, Fields and Social Space According to Pierre Bourdieu – Models for Research on Religion and Culture; Wiesbaden 2012. Der Ansatz hat starke Nähen zum von Charles Taylor vorgetragenen Identitätskonzept: »Wissen, wer ich bin, ist eine Unterart des Wissens, wo ich mich befinde. Definiert wird meine Identität durch die Bindungen und Identifikationen, die den Rahmen oder Horizont abgeben, innerhalb dessen ich von Fall zu Fall zu bestimmen versuchen kann, was gut oder wertvoll ist (…).« Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitliche Identität, Frankfurt am Main 1996, 55. 34 Schäfer, Heinrich: Glaube, 37. 35 So Stock, Konrad: Grundlegung 142.

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befindet, dann sind die habitus nie nur seine eigenen. Sie wiederspiegeln eine gemeinsam geteilte Welt und sie machen im Fall der Gottesrelation besonders deutlich, dass das Personzentrum eines Glaubenden nicht bei ihm selbst, sondern in Gott geborgen liegt. So gesehen sind habitus genuin soziale und genuin theologische Größen. Das verbietet, sie als durch Introspektion allein zugänglich auszuweisen. Auf die Gemeinschaftlichkeit der Erschließung der Lebenswelt als gemeinsame Praxis hat in jüngerer Zeit besonders Hans G. Ulrich aufmerksam gemacht. In seiner Konzeption geht es vor allem darum, die Wirklichkeit als vom Evangelium her in spezifischer Weise erschlossen zu sehen, was in gemeinsamer explorativer Praxis geschieht und, gelingt es denn, nichts Anderes als ein Ereignis der Gegenwart des Heiligen Geistes darstellt.36 Von beidem – dem Ereignischarakter und der pneumatologischen Bestimmung des Vorgangs her, hegt er Reserven gegenüber dem Rückgriff auf die tugendethische Tradition.37 Wenn nun freilich, wie hier vorgeschlagen, die habitus als sozial und theonom verankert begriffen werden, könnte diese Reserve zumindest relativiert werden: Ulrich besteht völlig zu Recht darauf, dass die explorative Praxis des Christseins je neu und grundständig gemeinschaftlich angegangen werden muss und dass sie im Gelingensfall ein Werk des Heiligen Geistes ist. Was aber spricht dagegen, habitus als sozial und theonom verankerte relative Verstetigungen solcher Explorationsvorgänge zu sehen?

4.2

Spezifizierung des ethischen Realismus

Aufzugreifen ist Eberhard Schockenhoffs Entdeckung, dass eine Tugendethik zur Position des moralischen Realismus passt. Das Ethische ist in der Tat der Anspruch der Wirklichkeit an uns. So weit der Konsens. Die differenzierte Auslegung des Konsenses beginnt an folgendem Punkt: Schockenhoff denkt mit Thomas von Aquin ein Kontinuum aus Naturordnung und Gnadenordnung. Gottes Güte hat sich allen Geschöpfen mitgeteilt und entsprechend heißt ethisch zu handeln, dieser Wirklichkeit der Dinge zu entsprechen. In der Spitzenformulierung: Es geht um die »Zustimmung zur Wirklichkeit und (…) ihrem Anspruch an die menschliche Person«.38 Das ist richtig. Allerdings muss theologisch doch gesehen werden, dass umstritten ist, was unter ›Wirklichkeit‹ zu verstehen ist. Aus dem Blickwinkel der Christologie ist doch wohl zu sagen: 36 Ulrich, Hans G.: Geschöpfe, 171 ff.310ff u. ö. 37 So z. B. Ulrich, Hans G.: Geschöpfe, 252 f, wo die Berufung zum Handeln für den Nächsten einem Tugendkonzept tendenziell kontrastiert wird. 38 Schockenhoff, Eberhard: Grundlegung, 131.

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Gottes Handeln hat umstritten gemacht, was wir unter Wirklichkeit verstehen und welcher Wirklichkeit wir uns als handlungsleitend anvertrauen sollen. In seinem Werk und im Weg Jesu Christi hat die neue Wirklichkeit inmitten der alten Wirklichkeit bereits begonnen. Die beiden liegen oft genug im Streit miteinander. Gottes neue Wirklichkeit ist keimhaft da, unscheinbar genug und so, dass Paulus davon spricht, sie erscheine vor den Augen der gewöhnlichen Wirklichkeitsseher als Torheit. Was Wirklichkeit sei, ist also von Gottes Handeln her umstritten. Das hat niemand so prägnant und auch so provozierend auf den Begriff gebracht wie Dietrich Bonhoeffer. In seinen Ethik-Manuskripten geht es um diese Sachlichkeit: Wer die Wirklichkeit der Welt oder die Wirklichkeit des eigenen Ich als Ausgangspunkt der Ethik setzt, hat schon einen fatalen Fehler begangen. Er rechnet nicht damit, dass Gottes Wirklichkeit die Wirklichkeit unserer Welt durchkreuzt und verändert. Er rechnet nicht damit, dass in Christus die neue Wirklichkeit begonnen hat, die die bisherige kritisiert, unterwandert und ablöst. Die Wirklichkeit vor unseren Augen ist das Vorletzte, gewiesen aber sind wir an das Letzte. In Bonhoeffers eigenen Worten: »Anders spricht die christliche Ethik von der Wirklichkeit, die der Ursprung des Guten ist. Sie meint dabei die Wirklichkeit Gottes als letzte Wirklichkeit außer und in allem Bestehenden, sie meint damit auch die Wirklichkeit der bestehenden Welt, die allein durch die Wirklichkeit Gottes Wirklichkeit hat. (…) In Jesus Christus ist die Wirklichkeit Gottes in die Wirklichkeit dieser Welt eingegangen. Der Ort, an dem die Frage nach der Wirklichkeit Gottes wie die nach der Wirklichkeit der Welt zugleich Beantwortung erfährt, hat einen Namen: Jesus Christus.«39 (39) Gut zu handeln heißt, daran teilzubekommen. Es ist der Anspruch dieser Wirklichkeit, der die christlichen Tugenden formt. Damit ist zur Tugendethik Schockenhoffs ein Betonungsunterschied formuliert: Sie sieht Natur und Gnade in einem tendenziell spannungsarmen Verhaltnis der Vervollkommnung und Überbietung. Die hier skizzierte Tugendethik nimmt die Vorläufigkeit der Wirklichkeit stärker in den Blick und begreift das Christusereignis als grundstürzend und je neu. Es ist eigens zu überlegen, ob dieser Akzentunterschied tatsächlich konfessionell trennend ist oder ob er nicht vielmehr quer zu den Konfessionen liegt. Jedenfalls markiert er einen Unterschied im theologischen Ausgangspunkt: Mit der thomanischen Tradition fundiert Schockenhoff seine Überlegungen schöpfungstheologisch, während die hier vorgetragene Überlegung von der Christologie als steuernder Sinnmitte der Theologie ihre Regeln zu gewinnen trachtet.40 39 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik; hg. von Ilse Tödt u. a., Dietrich Bonhoeffer Werke 6, Gütersloh 1998, 38. 40 In seiner Einführung in die Theologie des Thomas schreibt Otto H. Pesch, dass die Summa Theologica so vernehmlich vom Leitgedanken der Schöpfung her entworfen ist, dass er dem

Urteilen lernen durch Habitus-Erwerb?

4.3

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Ein Gelingensversprechen?

Spätestens durch Aristoteles wurde Tugend mit einem Gelingensversprechen kombiniert, wobei sowohl die Art und Weise des Konnexes als auch der Inhalt des Gelingensversprechens notorisch strittig ist. Aristoteles selbst fasst als eudaimonia vornehmlich die volle Entfaltung der in der Seele angelegten Potenziale und charakterisierte das als Ziel, das um seiner selbst willen erstrebt wird.41 Die christliche Rezeptionsgeschichte dieses Gedankens ist auch eine Streitgeschichte darüber, was sub specie evangelii unter eudamonia verstanden werden darf. Auf evangelischer Seite war das nicht selten eine Verdächtigungsgeschichte, die seit der evangelischen Kant-Rezeption auch den Gestus des Totelverdachts haben konnte.42 Besteht dafür schon generell kein Anlass, so gilt im Rahmen einer evangelischen Tugendethik natürlich erst recht, dass der Konnex zwischen Tugend und Gelingensversprechen zu beschreiben ist. Wer sich im habitus-Netz vorfindet, das etwas mit Gottes Gegenwart und Wirksamkeit zu tun hat, dem muss dies doch in einer näher zu bestimmenden Weise positiv zukommen. Es spricht einiges dafür, sich dafür dem Phänomen der Freude zu nähern. Karl Barth hat das in bemerkenswerter Weise getan. Im Rahmen seiner Ethik der Schöpfungslehre bestimmt er Freude als eine der Formen der Ehrfurcht vor dem Leben. Definitionsartig heißt es: »Gehen wir davon aus, daß Leben Bewegung in der Zeit ist. (…) Freude ist eine von den Formen, in denen diese Bewegung für einen Moment oder für einige Momente zum Stillstehen kommt (…) Sein Leben als Bewegung in der Zeit hat ihn an einen Punkt geführt, auf dem es ihm fürs erste keine Mühe mehr macht, auf dem es sich selbst vielmehr als Geschenk darstellt und darbietet, und zwar als das Geschenk dessen, was er selbst sich als Leben (wenn auch nicht als dessen Totalität, so doch unter einem bestimmten Gesichtspunkt) gedacht oder doch erahnt und erträumt, was er sich vom Leben versprochen hatte.«43 u. a. von Josef Pieper vorgeschlagenen Ehrentitel »Thomas a Creatore« zustimmen würde, vgl. Pesch, Otto H.: Thomas von Aquin. Grenze und Größe mittelalterlicher Theologie, 2. Auflage Mainz 1989, 399 f. Es ließe sich durchaus denken, dass ›Dietrich a Christo‹ für Bonhoeffer nicht unangemessen ist. Die bekannte Tatsache, dass es auch evangelische Ansätze gibt, die ihr Material stärker vom ersten als vom zweiten Glaubensartikel her entwerfen, sollte jeder raschen kontroverstheologischen Meinung, man habe es hier mit einer konfessionellen Grunddifferenz zu tun, einen Riegel vorschieben. Diese Differenz liegt in der Tat quer zu den Kirchentümern und ihren Theologien. 41 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1096b30 – 1097b20. 42 Einige Beobachtungen dazu bei Leonhardt, Rochus: Glück als Vollendung des Menschseins. Die Beatitudo-Lehre des Thomas von Aquin im Horizont des Eudämonismus-Problems; Berlin/New York 1998, 18ff; 43 Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik III/4; Zürich 441969 (1951), 426 – 439, hier 428 f, Sperrungen im Original hier kursiv. Hinweis bei Hauerwas, Stanley : Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik; Neukirchen-Vluyn 1995, 216. Eine womöglich nicht allzu

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Dieser Basisbestimmung lässt Barth einige Konkretionen folgen, die hier stichwortartig benannt werden: (1) Freude ist anfänglich, sie ist wesentlich Vorfreude. Sie hat es mit Erfüllung zu tun, geht aber nicht in ihr auf. (2) Die Erwartung, »daß das Leben sich selbst als Gottes Gnadengeschenk offenbare«,44 darf, ja soll geäußert werden – sich davor zu verschließen, ist theologisch völlig abwegig. (3) Freude ist wesentlich Empfangen, nicht aber dingliches Nehmen. (4) Zur Freude gehört auch das Leben »im Schatten des Kreuzes«.45 Christliche Lebenskunst besteht allerdings nicht darin, die Grenze der Freude im Leid hinzunehmen, vielmehr ist Leid der Erprobungscharakter der Freude und darauf aus, das Leben in seiner ganzen Fülle aus Gottes Hand anzunehmen. (5) Freude ist »vorläufige Erfüllung«,46 darauf aus, die Sehnsucht nach Gottes umfassendem Heil offen zu halten.47 Es ist nun durchaus möglich, diese Bestimmungen auf die netzwerkartigen

44 45 46 47

ferne Motivverwandtschaft ist die Idee von Aurelius Augustinus, die vor Gott geltende Freude sei mit Zeitlosigkeit verbunden. Deutlich ist das besonders in Augustins Bericht von der Vision mit seiner Mutter, vgl. Confessiones IX, 24, ein Kurzbericht bei Hailer, Martin: Glauben und Wissen. Arbeitsbuch Theologie und Philosophie; Göttingen 2006, 68 – 70. Barth, Karl: KD III/4, 431. Barth, Karl: KD III/4, 437. Barth, Karl: KD III/4, 438. In manchen phänomenologischen Elementen besteht Ähnlichkeit zu dem Ansatz, theologisch vom Glück zu sprechen, den Jörg Lauster vorlegte. Er unternimmt gegen theologischen Immunisierungen eine »theologische Rehabilitation des Eudämonismus« (Lauster, Jörg: Gott und das Glück. Das Schicksal des guten Lebens im Christentum; Gütersloh 2004, 130). Diese Rehabilitation ist aber so angelegt, dass Glückserfahrung nicht als Implikation oder Folge des Lebens ins bestimmten habitus erscheint, sondern in apologetischer Manier als Aufweis eines Transzendenzbezugs: Das Glück eines Augenblicks ist »Erschließungsform von Transzendenz« (173, vgl. 144), weil Menschen in ihm über sich hinausgehoben werden. Der Gottesbezug tritt dann im Rahmen einer Deutungsleistung ein, indem der Transzendenzbezug unter Rekurs auf Jesus als Bezug zu Gott gedeutet wird. (167) Es ist gewiss richtig, gegen schlecht informierte Kontroverstheologien eine theologische Ehrenrettung des Eudämonismus zu versuchen und dem Versprechen, Leben im Glauben sei gelingendes Leben, Gehör zu verschaffen. Freilich treten hier nicht geringe Probleme auf. Sie beginnen bei der Interpretation von Religion als Deutungsleistung des Subjekts, die sich mit dem Vorhalt, das Subjekt und seine Fähigkeiten zur Generalinstanz zu machen, auseinandersetzen muss. Direkt auf das Thema Glück bezogen, zeigt sich die Schwierigkeit einer hohen Unbestimmtheit: Lauster behauptet, dass es Glück immer letztlich mit Gott zu tun hat, (12) und dass im Gegensatz dazu Sünde die glücksfeindliche Lebenswirklichkeit meine. (189) Ungedacht bleibt, dass es subjektive Glücksempfindungen geben kann, die man dennoch niemandem wünscht, etwa im Drogenrausch. Hier ist die Zuteilung ›Gott und Glück‹ sowie ›Sünde und Unglück‹ gewiss zu einfach. Solche Schwierigkeiten lösen sich, wenn das Thema aus der apologetischen Zwangsjacke befreit wird, die Gottperspektive anplausibilisieren zu sollen. Glück/Freude (hier einmal vorbehaltlich weiterer Differenzierung in etwa gleichgesetzt) sind Momente im Leben von Menschen, die sich in der Gegenwart Gottes wissen. Das befreit den Blick auch auf problematische Glücksempfindungen und loziert das Thema mit viel breiteren Entfaltungsmöglichkeiten in der Ethik des Lebens, statt es apologetisch zu funktionalisieren.

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relativen Stetigkeiten zu übertragen, als die Tugenden hier vorgestellt werden. Die aristotelische Bestimmung ist um den perfektionistischen Zug, den sie durchaus hat, gekürzt, und um ein eschatologisches Momentum angereichert. Barths Bestimmungen sind allerdings durch einen sozialen Aspekt zu ergänzen: Wenn habitus Relationengefüge sind, dann ist sein auf ein Individuum konzentrierter Blick nicht ganz zutreffend. Erleben von Freude geschieht je individuell, es ist aber in der Gemeinschaft derer, die die habitus teilen, lokalisiert.48

4.4

Begründungs- und Erklärungsanspruch

Für Eberhard Schockenhoff ist, wie zitiert, der Allgemeingültigkeitsanspruch der Ethik eine wichtige Prämisse. Er sieht ihn einlösbar im Rahmen der Kontinuitätsvorstellung von Natur und Gnade: Wer ins Ethos der Gnade eintaucht wird merken, dass das Ethos der Natur nicht ungültig wird, sondern vielmehr ins Recht gesetzt und zu seinem Ziel geführt. Wenn, wie es hier geschieht, die Umstrittenheit der Wirklichkeit betont wird und die Tatsache, dass die Wirklichkeit Christi die der Welt kritisiert und zur bloß vorläufigen macht, dann ist freilich diese Rede von allgemeingültiger Ethik entzogen. Die These heißt: Christliche Tugenden beginnen da, wo der weltverändernden und die Welt kritisierenden Wirklichkeit Christi vertraut wird. Wer hier zustimmt, muss die Rückfrage in Kauf nehmen, ob er eine Tugendethik nur für Christenmenschen entwirft und ob das nicht einem Rückzug ins fideistische Geviert gleichkommt. Dieser Vorhalt ist richtig und falsch zugleich. Zunächst einmal ist schlicht zu konzedieren, dass, wer mit der Christuswirklichkeit anfängt, mit einem Grund beginnt, für den allgemeine Einsehbarkeit nicht gefordert werden kann. Er beginnt partikular, er beginnt bei der Wirklichkeit, die anders als im Bekenntnis zu Gottes Handeln nicht zu haben ist. Das kann und darf gelebt werden, theologie-extern begründen kann man es nicht. Freilich, und hier bereits beginnt der Gegenzug, wird daraus kein Gruppen- und Sonderethos. Der Grund dafür liegt in der Ablehnung von etwas, was Eberhard Schockenhoff auch ablehnt. Er hat ja keine reine Tugendethik vorgelegt, sondern sie für die Streitfälle mit einer Normen- und Prinzipienethik ergänzt. Analoges gilt ganz gleichermaßen für die hier beworbene Tugendethik anderen Zuschnitts: Den Beginn macht die Erkundung des alltäglichen Lebensspielraums aus der Wirklichkeit Christi. Das aber wird ergänzt durch normenethische Überlegungen zu expliziten Streit- und Konfliktfällen. Dieser Bereich ist es, in dem Nähen und Fernen zu anders begründeten Ethiken gesucht werden. Die Frage nach der Allgemeingültigkeit kehrt sich also geradewegs um: 48 Darauf macht Hauerwas, Stanley : Selig sind, 213 – 217 aufmerksam.

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Schockenhoff beginnt bei der als für alle verbindlich zu erweisenden Moral und überbaut sie mit Sätzen, die nur Bekenntnischarakter haben können. Der Gegenvorschlag heißt, bei der nur im Bekenntnis verständlichen Erkundung des alltäglichen Nahbereichs zu beginnen und dann zu sehen, wo Nähen und Fernen zu anders begründeten Ethiken zu finden sind. Der zweite Schritt ist unumgänglich und verhindert, dass aus der christlichen Ethik eine Gruppenethik wird.49 (Risiko bei Hauerwas, vgl. Schoberth 258 – 264) Schockenhoffs Ansatz kann man sich wie eine Pyramide vorstellen. Deren unterste Stufen sind allen zugänglich und als verständlich erweisbar. Je höher man kommt, desto mehr nimmt die Beweisbarkeit ab, aber es handelt sich um organische Übergänge ohne Sprung oder Bruch. Die hier beworbene Alternative besteht in dem das Bild, das der amerikanische Ethiker John Rawls »überlappender Konsens« genannt hat.50 Es ist zu konzedieren, dass die tugendethischen Erkundungen je unterschiedlich beginnen und dass es keine allgemeingültige Begründung der Ethik gibt. An materialethischen Einzelfragen zeigt sich dann das Maß der Nähen und Fernen der unterschiedlich begründeten Ethiken. Erst hier, aber hier in pointierter Weise ist die christliche Ethik aufgerufen, zu zeigen, wie und warum ihre Positionen auch für andere nachvollziehbar und plausibel sind. Das drückt zugleich ihren um Zustimmung werbenden und letztlich missionarischen Charakter aus: Wo solches Zeugnis Deo volente gelingt, führt es Außenstehenden die Stimmigkeit des christlichen Lebensentwurfs vor. Tugenden sind die Motivationslagen eines Menschen, der subjektiv erstrebenswert findet, was objektiv gut ist. Der Tugendhafte weiß, was gut ist, und er ist willentlich und affektiv geneigt, es auch in die Tat umzusetzen. Seine willkürlichen und unwillkürlichen Handlungsbereit-schaften sind gut begründet. Für Zwecke einer evangelischen Tugendethik ergeben sich für diese oben mitgeteilte Arbeitsdefinition folgende Schwerpunkte: Die erste Eigenheit betrifft das Wissen um das, was ›objektiv gut‹ sei. Ist der an Dietrich Bonhoeffers Ethik konkretisierte Ansatz bei der Christuswirklichkeit überzeugend, dann ist bei ›objektiv‹ mitgesetzt, dass es sich um eine Objektivität im Streit handelt. Die Partikularität des christlichen Zeugnisses in der Auseinandersetzung darum, was wirklich genannt zu werden verdient, ist unüberspringbar, was die Theo49 Das ist das manifeste Risiko in der Ethik von Stanley Hauerwas (vgl. oben Anm. 1). Als jemand, der Hauerwas in manchen Grundlegungselementen der Ethik durchaus nahe steht hat das benannt und Gegenvorschläge ausgearbeitet Schoberth, Wolfgang: Prolegomena zu einer ›narrativen Ethik‹. Zum Zusammenhang von Anthropologie und Ethik, in: Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik; hg. von M. Hofheinz u. a., Zürich 2009, 249 – 273, hier 258 – 264. 50 Rawls, John: Politischer Liberalismus; Frankfurt am Main 2003, 14.256 ff. Der Ausdruck »overlapping consensus« im englischen Original wird in der Übersetzung irreführend als »übergreifender Konsens« wiedergegeben.

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logie gleichwohl nicht davon abhält, ihre Wirklichkeitsunterstellungen freimütig vorzutragen. Das hat, zweitens, unmittelbar Auswirkungen auf den letzten Satz der Arbeitsdefinition: Begründung ist Begründung im jeweils geltenden Referenzrahmen, hier in der identitären Erzählung des Christentums, die mit anderen teils überlappt, teils keine Deckung hat. Der Kern eines tugendethischen Ansatzes dürfte sich im mittleren Satz der Arbeitsdefinition zeigen, in der Wissen, Willen und Affekt als im Idealfall zusammenstimmend behauptet werden: Für Zwecke einer evangelischen Tugendethik ist das mit einem habitusKonzept anzuzielen, das aus der hergebrachten Unterscheidung von natürlichen und übernatürlichen habitus ausbricht und habitus also nicht kausal, sondern vor allem netzwerkartig versteht: Sie zeigen sich im Geflecht von Selbst-, Fremdund Gottesrelation, wogegen die Frage, was wovon hervorgerufen wurde, unbeantwortbar und letztlich auch uninteressant ist. Fasst man es so an, dann gibt es evangelisch keinen Grund, es mit einer Tugendethik nicht zu versuchen.

Juliane Lamprecht und Eva-Marie Ulrich

Urteilsbildung und Einbildungskraft. Zum Fremden im Geographieunterricht

1.

Urteilsbildung im Geographieunterricht? – Akteur und Zuschauer zwischen Erfahrung und Einbildungskraft

Urteile als Urteile über etwas, im Geographieunterricht ist es meist das Urteilen über andere Länder und Kulturen1/Menschen bzw. einen diesen betreffenden Sachverhalt, das einerseits en passant geschieht und anderseits gegenwärtig von Seiten der Geographiedidaktik als zu explizierender Prozess eingefordert wird (vgl. Meyer et al. 2010; DGfG 2010). Dabei ist es zumeist ein Urteilen über etwas, das unbekannt ist, ja fremd ist oder die Fremde2, die sich nicht allein aus einer räumlichen, sondern genauso aus einer emotionalen, gedanklichen oder mentalen (vgl. u. a. Zitscher/Huxoll 2008), man könnte die Liste wohl additiv fortsetzen, Ferne speisen kann. In der Didaktik allgemein und ebenso in der Geographiedidaktik wird jedoch davon ausgegangen, dass nur über etwas geurteilt werden kann und soll, das bekannt ist oder aber der Erfahrung3 entspringt (vgl. u. a. Fuchs 2005). Gewählte Beispiele im Unterricht sollen daher dem Leben der Schüler nah sein, um Urteilskompetenz zu fördern (vgl. Applis 2013). Für die didaktische Perspektive sind in diesem Zusammenhang die Begrifflichkeiten Akteur und Lebenswelt wichtig. So ist zentral, dass ein Gegenstand/Sachverhalt/ Land didaktisch so aufbereitet wird, dass er die Lebenswelt der Schüler(innen) berührt und diese als (in-)direkt involvierte Akteure (vgl. Fuchs 2005) erreicht. Schüler(innen) müssen sich als Akteure verstehen können und nicht als passive Zuschauer an einem Geschehen, wenn sie über etwas urteilen sollen. Doch ist diese Idee, die Erfahrung und Akteur-Sein als Bedingung für Urteilen im Un1 Der Begriff »Kultur« wird, so komplex er ist und gleichsam so umstritten, wird an dieser Stelle zunächst im Sinne der didaktischen Forderung verwendet. 2 Auch für den Begriff der »Fremde« gilt, dass er hier vorerst nicht in seiner geisteswissenschaftlichen Rezeptionsgeschichte gedacht wird, sondern als alltäglicher Begriff, der ausdrückt, dass uns etwas fremd, nicht bekannt ist. 3 Böhn et al. (2007, S. 90) sprechen davon als »Problem, dass der im Unterricht behandelte Raum fast nie konkret erfahrbar ist«.

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terricht versteht, durchaus einmal in Frage zu stellen, das didaktisch Wünschund Machbare einmal auf das philosophisch Denkbare hin zu hinterfragen (vgl. Dietrich 2007).

Zur Frage der Erfahrung als Bedingung für Urteilen Im Hinblick auf die didaktische Bedingung der Erfahrung zeigt sich zunächst bei Kant bezüglich seiner Unterscheidung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft, dass es nicht unbedingt die Erfahrung sein muss. Während die bestimmende Urteilskraft ein Subsumieren des Besonderen unter ein allgemein Bekanntes (Gesetz, Prinzip) meint, bedeutet reflektierende Urteilskraft, dass nur das Besondere gegeben ist, wozu erst das Allgemeine zu finden ist, was aber eines Prinzips bedarf, »welches sich nicht aus der Erfahrung entlehnen kann« (Kant 1790/2013, S. 180). Was aber tritt an die Stelle der Erfahrung? Es ist die Einbildungskraft, Imagination4. Mit Hilfe der Einbildungskraft kann man sich ein Bild von etwas machen, jedoch nicht in der Wahrnehmung, sondern in der Vorstellung (vgl. Loidolt 2008). Wichtig ist, dass es sich um ein »freies Spiel« (Kant 1790/2013, S. 242) der Erkenntniskräfte (vgl. Loidolt 2008) handelt, es geht um die Freiheit, zu sehen, was auch immer gesehen wird. Zentral ist die dadurch gewonnene Distanzierung zum Gegenstand. Erst diese Distanz, so Arendt (vgl. nach Loidolt 2008), ermöglicht überhaupt eine »Operation der Reflexion« (ebd., S. 3), die wiederum – als Verschränkung von Erfahrung und Möglichkeit – eine angemessene Beurteilung gestattet. Nun ist die Einbildungskraft und so das reflektierende Urteilen nicht mit einem induktiven Vorgehen zu verwechseln, was, (geographie-)didaktisch betrachtet, naheliegen mag. Schließlich könnte man hier annehmen, dass hinter der Unterscheidung Kants, die allgemein gegensätzlichen bzw. komplementären Verfahrensprinzipien der Wissenschaft, nämlich Deduktion und Induktion, zu entdecken sind, die gleichermaßen als Verfahren im Geographieunterricht praktiziert werden (vgl. Rinschede 2003). Jedoch zeigt sich, dass auch dem Induktiven zumeist – und dies gilt für den Unterricht – bereits ein Allgemeines gegeben ist (vgl. Grünewald 1996), etwa, wenn das Induktive auf bestimmten Erklärungsgesetzen beruht, wie beispielsweise auf dem Prinzip der Kausalität (vgl. ebd.). Damit ist aber ein freies Spiel nicht mehr möglich, dem jedoch auch im Unterricht einmal Raum gegeben werden könnte.

4 Diese Begriffe werden synonym verwandt (vgl. Begründung Fußnote 11).

Urteilsbildung und Einbildungskraft

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Zur Frage des Akteur-Seins als Bedingung für Urteilen Mit der Distanzbedingung hängt Arendts Unterscheidung von Akteur und Zuschauer mit Bezug auf Kant zusammen. Hier zeigt sich ebenso ein zur Didaktik umgekehrtes Verständnis. Um die Aussage eines umgekehrten Verständnisses treffen zu können, muss allerdings gelten, dass die Begriffe aus didaktischer und philosophischer Sicht zumindest ähnlich verstanden werden. Dies ist der Fall, wenn von dem Aspekt des Handelns bzw. des Handelnden ausgegangen wird. Denn als Lernziel gilt dem Geographieunterricht insbesondere (dies scheint ein relatives Alleinstellungsmerkmal im Vergleich zu anderen Fächern) »die Handlungskompetenz des Schülers als Akteur im Raum. Sie wird unter anderem durch Bilder erworben« (Böhn et al. 2007, S. 100). Bei Arendt läuft die Unterscheidung zwischen Zuschauer und Akteur auch über den Begriff des Handelns/ Handelnden (vgl. nach Ulrich in diesem Band). Die Schlussfolgerungen in Bezug auf Urteilen-Können sind jedoch verschieden. In der Geographiedidaktik zeigt sich als zentral, dass Schüler(innen) sich zumindest als Akteur fühlen müssen, um über ein Thema urteilen zu können. Wenn nun aber im Geographieunterricht ein Thema wie »ein Bericht aus einer ›anderen Welt‹ wirkt und sich keine Brücke zum Alltag und zum Verhalten/ Erleben« (Fuchs 2005, S. 138) der Schüler(innen) findet, etwas »weit weg« (ebd.) stattfindet, wird dem/der Schüler(in) zugeschrieben, sich als bloßer »Zuschauer« (ebd.) zu fühlen, was ihm ein Urteilen nicht mehr ermöglicht oder zumindest stark erschwert: »Notwendig wird es also, solche Themenaspekte herauszufiltern, die eine Brücke bauen zu dem, was in der Regel ›globalisierter Alltag‹ oder ›globalisierte Lebenswelten‹ genannt wird. Betroffenheit durch das Thema und seine gesellschaftliche Bedeutung wird eher erreicht, wenn sich auch der Schüler mit seiner Rolle als Akteur und Beteiligter identifizieren kann. Von hier aus kommt dann die Rückfrage nach den Kräften, den Spielregeln und den ›Spielern‹ des Globalisierungsprozesses« (ebd., S. 135), dem Urteilen5. Arendt kommt zu einem gegensätzlichen Punkt als Fuchs – hier in Zusammenhang mit dem Thema Globalisierung im Geographieunterricht. Die WeltWirklichkeit urteilend zu erschließen, das ist bei ihr Sache der Zuschauer, eben der nicht ins Handeln Verwickelten (vgl. Ulrich in diesem Band). Das urteilende Erschließen der Welt, die nicht nur räumlich gedachte Aufgabe im Geographieunterricht, scheint hier erst aus der Rolle des Zuschauers möglich. Was aber folgt aus dieser philosophischen Denkbarkeit für die didaktische Perspektive? Zunächst muss gefragt werden, ob nicht in den meisten Fällen die Schüler(innen) sowieso nur Zuschauer sein können, das Akteur-Sein ein für die 5 Die Urteilskompetenz wird in der Geographiedidaktik gefordert, jedoch eingeteilt in Beurteilen (fachlich) und Bewerten (ethisch) (vgl. Coen/Hoffmann 2010; DGfG 2010).

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Didaktik zwar wünschenswerter, aber selten wirklicher Zustand ist. Dies gilt, so die hier geäußerte Annahme, tatsächlich für zahlreiche Themen, die zwar lebensnah gewendet werden können, etwa durch den im Geographieunterricht üblichen inhaltlichen oder räumlichen Transfer, die jedoch den Schüler(innen) keine Handlungsmöglichkeiten zukommen lassen. Und dies ist nicht nur bei physisch-geographischen Themen, wie Fuchs (2005) die Plattentektonik als Beispiel nennt, der Fall. Denn zu fragen ist, kann der/die Schüler(in) eine Akteur-Rolle bei einem Thema wie dem Kartell der OPEC-Staaten einnehmen, kann er/sie also nach der im Sinne der oben genannten philosophischen und geographischen Unterscheidungspraxis handeln bzw. ist er/sie ins Handeln verwickelt? Hier wäre erst zu klären, inwieweit der Akteursbegriff zu fassen ist, ob etwa im Falle der OPEC-Staaten das eigene Konsumieren von Erdöl in Form des Verwendens einer Plastiktüte eine Form des Ins-Handeln-Verwickelte ist. Eine didaktische Annäherung an eine Begrenzung des Akteursbegriffs wäre hier über die Frage des Gefühls möglich, die Frage also, ob nicht das Gefühl (als Akteur oder Zuschauer) dafür entscheidend ist, den Terminus in der Didaktik zu definieren. Hier zeigt sich schließlich, dass das Gefühl, ein Zuschauer zu sein und nicht handeln zu können, bei den Schüler(innen) zu überwiegen scheint (vgl. Bertelsmann-Stiftung 2007)6. Diese mögliche Unterscheidung zwischen Akteur und Zuschauer in Bezug auf die Betroffenheit der Schüler(innen) passt damit aber zu dem von Arendt erwähnten Bild des blinden Dichters (bei Kant eher der Richter7), »dessen Augen geschlossen sind, um nicht direkt affiziert zu sein« (Loidolt 2008, S. 5). Zentral ist der Begriff des Affiziert-Seins. Nicht direkt affiziert zu sein und sich so ein Bild von etwas zu machen, so Loidolt (vgl. ebd.), darin liegt der entscheidende Punkt, der in Hinblick auf die Schüler(innen) vorliegt – didaktisch als Problem, philosophisch als Chance bzw. Bedingung des Urteilens wahrgenommen. Wenn nun zwar dies in Hinblick auf ästhetisches Urteilen gedacht ist, so wird dies doch als politisches Urteilen verstanden8. Schließlich gilt: der »Zuschauer ist politisch. Ihm kommt die Rolle des Urteilenden zu« (ebd., S. 6), und dies kann ebenso für den Unterricht gelten. Zur Frage der Erfahrung und der Akteursrolle kommt noch ein weiterer 6 Es wird dabei oft negativ gewertet – als ein bei den Schüler(innen) zu vermeidendes Gefühl. Nach Heinrich (2005, S. 258 f.) etwa resignieren die Schüler(innen) aufgrund eines Nichthandeln-Könnens. 7 Bei Kant ist es das Bild des Richters (vgl. Loidolt 2008), das, betrachtet man die Interpretation der Augenbinde der Justitia ab dem 16. Jahrhundert als Symbol der Unparteilichkeit, damit vergleichbar ist. 8 Auf den Zusammenhang soll hier nicht genauer eingegangen werden. Im Übrigen ist beides für die Schule zentral, jedoch oft nach dem Fachkanon (Kunst/Deutsch – Politik, Geschichte, Geographie) aufgeteilt und nicht als zusammengehörig gesehen.

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philosophischer Anstoß in Hinblick auf Urteilen hinzu, der für den Unterricht – hier den Geographieunterricht – als Chance wahrzunehmen ist.

Urteilen als gemeinsamer Prozess In Bezug auf Urteilskompetenz im Geographieunterricht wird oft moniert, dass das Urteilen auf der Ebene eines subjektiven Meinungsaustausches stehen bleibt, der über eine Pro- und Contra-Diskussion nicht hinausgeht (vgl. Meyer et al. 2010; Vankan et al. 2007). Schüler(innen) ruhen sich so, und dies mag vielleicht auch für Lehrende gelten, gerne auf der Behauptung aus, dass eben jeder seine subjektive Meinung habe und haben dürfe und dass eine weitere intersubjektiv, diskursive Anstrengung von vornherein nicht sinnvoll sei. Im reflektierten Urteilen aber ist dies »überwunden, da wir die Meinungen der Anderen mitbeachten. Ich kann als Mensch nicht außerhalb der menschlichen Gemeinschaft urteilen, ja, ich bin sogar auf sie angewiesen, ihr meine Urteile zu kommunizieren, sie öffentlich werden zu lassen, damit sie überhaupt an Wert gewinnen. Ein idiosynkratisches Urteil, das nicht mitteilbar ist, erreicht nicht einmal den Erscheinungsraum der gemeinsamen Welt bzw. verschwindet sehr schnell wieder aus ihm« (Loidolt 2008, S. 5). Dabei ist nicht der Konsens aller wichtig, vielmehr geht es um einen kommunizierten Blick auf die Welt (vgl. ebd.). Schließlich gilt, dass »[d]ie aus Einbildungskraft und Reflexion gewonnene erweiterte Denkungsart, verbunden mit der Mitteilbarkeit unserer Urteile, […] uns also in gewissem Maße von unseren privaten Bedingtheiten (befreit) und […] uns dem Raum der Intersubjektivität anheim [gibt, J.L./M.U.-R], der mehr ist als ein Austausch über idiosynkratische Vorlieben (ich mag Blau, du magst Gelb)« (ebd., S. 6). Wenn man nun die Forderung nach Urteilsfähigkeit im Geographieunterricht aufgrund dieser Überlegungen schärft, kann vor diesem Hintergrund die reflektierende Urteilskraft als Chance gesehen werden, eine Chance die der Einbildungskraft Raum gibt und bei der die Rolle des Zuschauers nicht stört, sondern, im Gegenteil, unabdingbar ist.

1.

Über die Einbildungskraft und das Fremde

Wulf/Hüppauf (2006, S. 30) verdeutlichen die damit verbundenen Möglichkeiten in einem historisch-anthropologischen Zusammenhang folgendermaßen: »Imaginationen leben im Moment der Vorstellung, haben keinen Referenten, an dem sie gemessen und verbessert werden könnten, und ihre Geltung ist offensichtlich

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jenseits von Zweifel und ohne eine Beziehung zur Wahr-falsch-Opposition. Für sie gilt, was Freud von Traumbildern feststellt: Sie kennen keine Ja-nein-Alternative, sondern diese einzigen sicheren Bilder leben in einem Feld der Sowohl-als-auch-Beziehungen.« (Herv.i.O.)

So verstanden wohnt Imaginationen das Potential inne, jenseits binärer Logiken komplexe Relationierungen hervorzubringen – eine wesentliche Forderung auch in der Geographiedidaktik (vgl. Ulrich-Riedhammer 2013). Insbesondere in dieser Hinsicht gewinnt die Einbildungskraft besondere Bedeutung für Erkenntnisprozesse zu Fragen des Fremden. Schon begrifflich weist sie auf die Kraft der dabei beteiligten (inneren) Bilder hin und lenkt somit die Aufmerksamkeit auf die Genese, Tradierung und Transformation von (Fremd-) Bildern. Die Einbildungskraft betont also »die konstitutive Leistung des Subjekts für das Entstehen mentaler Bilder und die Übertragung von materialen in mentale Bilder, die wiederum auf materiale Bilder zurückwirken« (ebd., S. 25). Auf dieses kreative, potentiell (Un-)Ordnung stiftende Potential der Einbildungskraft für die Entstehung von Bildern des uns Fremden und der Fremde möchten wir in der folgenden Studie zum Urteilen im Geographieunterricht genauer eingehen. So betont etwa Jörg Zirfas zur Bedeutung eines flexibilisierenden Umgangs mit Bildern in Bildungsprozessen, dass Bildung »die (bildliche) Ausgestaltung eines spezifischen Verhältnisses – zu sich selbst, der Welt und zu anderen« (Zirfas 1999, S. 159) beinhalte. Was uns bei dieser Verhältnisbestimmung antreibt bzw. motiviert, sind Kant zufolge Wünsche, deren Erfüllung jedoch als eine nicht zu erfüllende Begierde profiliert ist. Entscheidend für die Frage von Urteilsprozessen und emotionalen Motiven ist dabei Kants Hinweis auf (fiktive) Vergleichshorizonte, die den Beteiligten durch Relationierung der eigenen Bedeutungszuschreibung mit alternativen Deutungsmöglichkeiten einen Zugang zu eigenen und fremden Gefühlen eröffnen. »Überhaupt ist es nicht die Stärke eines gewissen Gefühls, welche den Zustand des Affekts ausmacht, sondern der Mangel der Überlegung, dieses Gefühl mit der Summe aller Gefühle (der Lust oder Unlust) in seinem Zustande zu vergleichen.« (Kant 1798/1983, S. 196) Während Kant Relationierungsprozesse hier primär auf selbstreferentieller Ebene ansiedelt, wie sich in dem darauffolgenden Beispiel anschaulich nachvollziehen lässt, zeigt sich in der empirischen Studie zum Urteilen im Geographieunterricht, dass es insbesondere fremdattribuierte Gefühlszustände sind, die den Beteiligten Zugänge zum eigenen – als relativem – Empfinden eröffnen und somit der unzugänglichen existentiellen Selbstverständlichkeit zu entreißen vermögen: »Nun überlässt er sich aber ganz allein diesem einen Gefühl des Schmerzes (ohne jene Berechnung in Gedanken schnell zu machen); kein Wunder also, dass ihm dabei zumute wird, als ob er seine ganze Glückseligkeit verloren hätte« (ebd.; Herv. J.L./M.U.-R).

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Die Untersuchung von Prozessen des Urteilens wird dementsprechend auf die Analyse der Dynamik und Kraft von (inneren) Bildern des Fremden konzentriert. In den Fokus rückt somit die »produktive Einbildungskraft«, die Kant von der reproduktiven unterscheidet, welche lediglich »empirischen Gesetzen« (Kant 1787/1966, S. 147 ff.), d. h. gewohnten Wahrnehmungsschemata entspricht. Uns interessiert daher, wie die produktive Einbildungskraft Sinn- bzw. Bedeutungszuschreibungen des Fremden generiert, durch die das Erleben der sozialen Praxis aufgeladen wird. Die kulturelle Bedingtheit dieser Genese, Transformation und Tradierung von Bildern des Fremden soll unter Rückgriff auf die Theorie des kulturellen Imaginären bestimmt werden: »Die Unbestimmtheit, Unersättlichkeit und Unerschöpflichkeit des Imaginären wird zum Ausgangspunkt eines Prozesses des ständigen Neuentwurfs. […] Denn der Zuschuss des Imaginären macht aus Wirklichkeit Möglichkeit, um aus imaginierter Möglichkeit neue Wirklichkeit entstehen zu lassen. In diesem Sinne bezieht sich die Analyse des kulturellen Imaginären auf seinen Aspekt menschlicher Existenz, der gerade aufgrund seiner so oft kritisierten ›irrealen‹ Dimension realitätsbildend ist und sich immer wieder als Antrieb für Redefinitionen von Wirklichkeit erweist, die im folgenden weitreichende institutionelle und soziale Konsequenzen haben.« (Fluck 1997, S. 21) Nicht nur die Bilder über das uns Fremde und die Fremde, sondern ihre Produktion, d. h. die Frage, wie die damit verbundenen Imaginationsprozesse9 im Unterricht angestoßen bzw. aufgegriffen werden können, soll uns daher im Folgenden beschäftigen.

2.

Über einen möglichen Zusammenhang von produktiver Einbildungskraft und Bilddidaktik in Bezug auf das Fremde

Das eingangs zu 2. genannte Zitat von Wulf/Hüppauf (2006) ist für eine didaktische Perspektive zunächst schwierig, da es Offenheit und Unsicherheit anspricht, mit der Unterricht – und so in Folge der Gewöhnung10 an diesen – Schüler(innen) (vgl. Applis 2013) und vor allem auch Lehrer(innen) (vgl. unveröffentlichte Pilotstudie Lamprecht/Ulrich-Riedhammer 2012) oft nur schwer umgehen können. Dies gilt vor allem, da eine Beziehung zur Wahr-Falsch-Opposition, Ja-Nein-Alternative ausgeklammert wird. Letztere aber scheint ein wesentliches Merkmal expliziter Urteilsprozesse im Geographieunterricht, die jedoch, so die gegenwärtige Kritik an dieser Praxis (vgl. Meyer et al. 2010; 9 Der Begriff der Imagination wird in unserem Beitrag synonym zu Kants produktiver Einbildungskraft verwendet, da er eine größere Anschlussfähigkeit an internationale Diskurse bietet. Zur ideengeschichtlichen Herleitung des Begriffs vgl. Wulf/Hüppauf (2006). 10 Die Frage ist, ob es eine Gewöhnung an diesen ist, oder doch die Schüler(innen) oder Lehrer (innen) (vgl. später im Text) diese Sicherheit einfordern.

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Vankan et al. 2007), einer komplexen urteilenden Erschließung der Welt im Geographieunterricht nicht mehr angemessen ist. Auch hier wird deutlich, dass dem vorgeschlagenen Weg eines reflektierenden Urteilens – bei der an die Stelle der Erfahrung die produktive Einbildungskraft tritt bzw. die Zuschauerrolle entscheidend wird – seitens der Lehrenden größere Bedeutung beigemessen kann oder werden sollte. Betrachtet man in Hinblick auf die Frage, wie dies aber ermöglicht werden kann, Theorien zum Geographieunterricht und überlegt, wo und wie Lehrende das reflektierende Urteilen im Geographieunterricht anbahnen können, so ist zunächst das Ziel des Geographieunterrichts oder besser dessen Aufgabe in den Blick zu nehmen. Dieses liegt darin, den Schüler(innen) »ein umfassendes ›Bild der Welt‹ zu vermitteln« (Böhn et al. 2007, S. 90). Diese Welt ist aber in vielen Teilen ein Unbekanntes, eben Fremdes. Interessant ist hierbei die Formulierung »Bild der Welt« (ebd.), hinter der man den Weg über die Einbildungskraft zumindest vermuten könnte, wenn denn mehrere Bilder bestehen bleiben dürfen. Dies scheint zunächst der Fall zu sein, wenn man die gegenwärtigen Arbeiten zu Wahrnehmungsgeographie (vgl. Schweizer/Horn 2006; Weixlbaumer 2001; Zitscher/Huxoll 2008) und in dem Zuge dessen die Etablierung von mental maps als wichtigen Bestandteil im Unterricht betrachtet (vgl. u. a. Grosscurth 2012). Das Ziel des Geographieunterrichts kann aber noch genauer beschrieben werden. Ziel ist »die Handlungskompetenz des Schülers als Akteur im Raum. Sie wird unter anderem durch Bilder erworben. Weil aber Bilder, seien sie real als Photo, kategorial abstrahiert als Karte, begrifflich oder mental, die Vorstellung über die Realität prägen, kommt gerade heute der Bilddidaktik eine hohe Bedeutung zu« (Böhn et al. 2007, S. 100). Bilder nehmen demnach eine zentrale Rolle im Geographieunterricht ein, wobei noch zu klären wäre, wie damit Einbildungskraft in Verbindung stehen kann. Es geschieht also im Unterricht ein Vermittlungsprozess des Fremden über Bilder, Bilder sind Vermittler der Wirklichkeit11, wobei der Bildbegriff hier weitgefasst wird. Es werden nicht nur visuelle, sondern auch sprachliche und mentale darunter subsumiert (vgl. Böhn et al. 2007). In geographiedidaktischen Diskursen gilt nun aber das Visuelle und Sprachliche als unterrichtlicher Input (= als Repräsentation12 des Fremden, des sich der eigenen Erfahrung zunächst entziehenden), während das Mentale als »Endpunkt des Lernprozesses« (Böhn 2007, S. 92) gesehen wird, gewissermaßen als Objekt, das in Hinblick auf ein Optimales durch den Lehrenden verändert werden soll. Das Optimale ist dabei

11 Die Wirklichkeit wird an dieser Stelle aus didaktischer Sicht als unkritisch gesehen. 12 Vgl. Definition des Begriffs in Fußnote 22.

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die Annäherung des mentalen Bildes an die Realität13. Dabei wird natürlich nicht übersehen, dass dieser Veränderungsprozess unweigerlich auf die unauflösbare Schwierigkeit – Böhn et al. (2007) bezeichnen diese abermals als Problem – trifft, dass das Ziel des Unterrichts, die Erkenntnis der Realität des Raumes, aufgrund der Wahrnehmungsdifferenzen nicht erreicht werden kann. Doch kann dieses Problem, dass in der sich der/dem Lehrenden entziehenden Verbindung von mentalen Bildern, ja hier kann von Imaginationen (vgl. Fußnote 11) gesprochen werden, und im Unterricht vorgelegten Bildern der Realität, medial vermittelt in Form von Fotos, Karten, sprachlichen Beschreibungen14, besteht, erneut mit Blick auf reflektierende Urteilskraft und produktive Einbildungskraft positiv gewendet werden. Bilder, seien sie als unterrichtlicher Input visuell oder sprachlich, wecken dann lediglich Einbildungskraft. Sie zielen gerade nicht auf etwas ab, etwa eben im Sinne der Induktion, sondern initiieren reflektierende Urteilskraft, ermöglichen also eine ganz neue Beschreibung dessen, was vorliegt. Ein Beispiel mag die folgende Idee illustrieren. Es wird etwa das Bild eines indischen Verkehrsknotenpunktes als Einstieg in eine Unterrichtsstunde zu Indien, z. B. zum Thema Infrastruktur Indiens, aufgelegt. Das Einstiegsbild hat dabei immer die Funktion, zum Thema des Unterrichts hinzuführen. Nach der Idee des Einwirkens auf die mentalen Bilder, von denen oft angenommen wird, sie entsprächen noch nicht der Wirklichkeit oder sind zumindest zu wenig differenziert (vgl. Böhn et al. 2007), ist also ein bestimmtes Bild vom Lehrenden zu wählen und in Hinblick auf das Thema der Stunde zu betrachten. Die Schüler(innen) sollen also etwa sagen: Das Bild zeigt das Chaos des Verkehrs, fehlende Infrastruktur, zu viele Menschen. Es bleibt aber kein Raum zu sagen15, das Bild zeigt eine Ordnung von mehreren Menschen in dichter Drängung. An Ordnung darf hier nicht gedacht werden. Das Bild der Welt steht also schon fest, ist nicht, wie zunächst vermutet offen, denn das Ziel, das Mentale an die eine Realität anzupassen, bleibt bestehen. Doch genau in dieser dem entgegenstehenden offenen Möglichkeit der Beschreibung liegt die auf produktiver Einbildungskraft beruhende reflektierende Urteilsfähigkeit, die nicht auf einer vorher bereits festgelegten Einordnung beruht. Diese Möglichkeit kann Unterricht nicht immer geben, vermutlich am wenigsten in der Einstiegsphase, 13 Diese wird an dieser Stelle in der Didaktik ebenfalls nicht in Frage gestellt (vgl. aber Böhn et al. 2007, S. 90 f). 14 Hier gilt aber, dass sprachliche Beschreibungen, etwa in Form von Reiseberichten, naturgemäß wiederum mentale Bilder darstellen. Die Frage des Zusammenhangs von Bild und Wort bzw. ihres Stellenwertes in der Didaktik ist dabei eine eigene Frage (vgl. aber UlrichEschemann 2013) 15 Dies kritisieren Stenger (2002) und Ulrich-Eschemann (2013), indem sie auf die starke Funktionalität der Illustration eines Themas, das aber feststeht, zu sprechen kommen, auf ein reines Benutzen von Bildern für einen feststehenden Inhalt/Zweck, der aber eine wirkliche Interaktion von Bild und Betrachterin (vgl. Ulrich-Eschemann 2013) nicht zulässt.

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sie sollte aber doch in Hinblick auf ein Kompetenzziel des Geographieunterrichts, die Urteilskompetenz, einmal angegangen werden. Schließlich kann die sich als Problem oder als Chance zeigende undurchdringbare Wechselbeziehung zwischen äußeren Bildern und innerer Imagination, die vergleichbar ist mit der unauflösbaren Verflechtung von implizitem und explizitem Urteilen (vgl. Schoberth 2012a, b), auf diese Weise im Unterricht genutzt werden, und dies vor dem Hintergrund dessen, was Wulf (1999, S. 8) anmerkt: »In anthropologischer Hinsicht haben Bilder viele Funktionen. Eine besteht darin, Menschen in ihrer Zeit und Kultur zu beheimaten. Bilder, die wir mit anderen Menschen teilen, schützen uns gegen Leere und Sinnlosigkeit. Als kollektive Bilder sichern sie den Referenzrahmen gemeinsamer Erfahrungen und schaffen ›Sinn‹.«

3.

Forschungsdesign

Imaginationen Die ausgeführte Gegenstandstheorie wurde im Rahmen einer empirischen Studie zur Förderung von komplexen Modi des (u. a. ethischen16) Urteilens am Beispiel einer geographiedidaktischen Unterrichtseinheit zum Thema Globalisierung – Globale Textilproduktion im Kontext ethischer Fragen untersucht.17 Das explizite Sprechen über Bilder und das hinter diesem Sprechen explizierte und so detektierte Urteilen über/mit Bilder/n über eine Sache war dabei ein wesentlicher Bestandteil der Unterrichtseinheit und diente als äußerer Rahmen für das Nachgehen der Forschungsfrage, wie sich Imaginationen im Hinblick auf ihr Potential für Prozesse der Urteilsbildung aus Sicht der Lehrenden empirisch zeigen. Dabei wurde beispielsweise den Lehrenden kein Einstiegsbild zum Thema »Globalisierung« vorgegeben, sondern diese sollten sich ein Bild suchen, das ihrem Bild vom Thema entspricht und dies den Schüler(innen) als solches, also als ihr eigenes Bild zum Thema, vorstellen. Die Schüler(innen) konnten wiederum ihre eigenen Bilder suchen, usw. Auch die Beschreibung der Bilder war frei, zielte also nicht auf etwas vorab Bestimmtes ab. 16 Der Fokus lag auf dem ethischen Urteilen in einer allgemein geographischen Urteilspraxis. 17 Diese Forschungsfragen sind im Zusammenhang mit einem bei der DFG beantragten Projekt mit dem Titel »Glokalisierte Lebenswelten: Rekonstruktion von Modi des ethischen Urteilens im Geographieunterricht (ReMU)« des Lehrstuhl für Didaktik der Geographie, FAU Erlangen-Nürnberg und dem Arbeitsbereich Qualitative Bildungsforschung, FU Berlin entstanden. Das Schulfach Geographie erscheint zur Untersuchung ethischer Urteilsfähigkeit gerade deshalb erkenntnisreich, weil hier en passant urteilen gelernt wird, indem das Eigene und das Fremde etwa durch Ländervergleiche relationiert wird und dabei implizit (ethische) Urteile gefällt werden.

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Zur Untersuchung dieser Unterrichtseinheit wurde ein methodentrianguliertes Forschungsdesign realisiert: Eine Fragebogenerhebung diente zur Klärung der Frage, welche Rolle Generation, Geschlecht und Milieu für die (imaginative) Bearbeitung des Themas Globalisierung und den hierbei erzeugten (impliziten) (ethischen) Urteilen spielen. Die vor und nach dem Treatment durchgeführten Gruppendiskussionen eröffneten einen Zugang zur Entstehung und zum Wandel von Imaginationen des Fremden der befragten Schüler(innen) und Lehrer(innen) sowie zu den damit verbundenen Wertorientierungen. Die Videographien von der Unterrichtssituation ermöglichten die Analyse von Interaktionssystemen zwischen Lehrer(innen) und Schüler(innen) als einem sensiblen Bereich der Selbstpositionierung, so haben sich Gestik, Mimik und Performativität als relevante Mitspieler einer lebendigen Urteilspraxis erwiesen:18 »Jeder Lehrende hat das Bestreben, dass seine Schüler in bestimmter Weise Urteilen lernen, und das können sie wohl nur lernen, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben wird, in die Urteilspraxis der Lehrenden hineinzuwachsen. Das freilich erfordert, dass die Lehrenden ihre eigene Praxis immer wieder kritisch reflektieren und ihre Fehlbarkeit auch offen legen; zum Urteilen lernen gehört das Eingeständnis der Grenzen unseres Urteilens.« (Schoberth 2012b, S. 302)

Dieser Artikel konzentriert sich im Anschluss an diese Forderung auf die Darstellung der empirischen Ergebnisse von Gruppendiskussionen mit Lehrer(innen) zum (eigenen) Urteilen.

Gruppendiskussionen als Erhebungsmethode Durch die Erhebung und Auswertung von Gruppendiskussionen mit der Dokumentarischen Methode wird zu einer tieferen Wissensebene durchgedrungen und die impliziten, d. h. handlungsleitenden, Wissensbestände sowie die damit verbundenen Imaginationen der Lehrer(innen) analysiert (vgl. Bohnsack 2007). Hierzu ist die Unterscheidung zwischen expliziten Bewertungen und impliziten 18 So ließen sich auf der Basis einer bereits durchgeführten Pilotierung bereits drei sinngenetische Typen, d. h. fallübergreifende Orientierungen, der ethischen Urteilsfähigkeit von Schüler(innen) im Hinblick auf die Entstehung und Förderung im Rahmen des ProbeTreatments unterscheiden: Typ 1 hat gelernt, auf einer Meinungsebene sein Verhalten ethisch zu beurteilen. Typ 2 hat gelernt, das eigene Verhalten in seinem Alltag (über den Unterricht hinaus) in Relation zu gelernten ethischen Argumentationen zu setzen. Typ 3 kann flexibel ethisch argumentieren und legt seinen Handlungen vorab und im Nachhinein, d. h. in einem zirkulären Muster, ethische Überlegungen bzw. Abwägungen zugrunde.

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Werthaltungen zentral (vgl. Bohnsack 2006; 2010; Lamprecht 2010), da sie Hinweise dazu liefert, ob die Lehrer(innen) auf einer Meinungsebene (Bewertungen) urteilen, oder handlungsleitende Orientierungen (Werthaltungen) als Urteilsgrundlage heranziehen. Um die unterschiedlichen Modi des Urteilens in ihrer Eigenlogik zu erheben, werden die Gruppendiskussionen offen, d. h. die Selbstläufigkeit der Diskurse fördernd, gestaltet und inhaltlich nur am Ende durch exmanente Nachfragen (vor-)strukturiert (vgl. Bergmüller 2008; Bohnsack 2010; Loos/Schäffer 2010; Nohl 2006). Auf diese Weise lassen sich zwei Dimensionen erheben, die für die Analyse von Orientierungen und Imaginationen der Lehrer(innen) relevant sind (vgl. Bohnsack 2007; Lamprecht 2007): – Die theoretischen Vorstellungen der Lehrer(innen) über (ethisches) Urteilen – anschlussfähig an Kants reproduktive Einbildungskraft: Was berichten, wünschen und erwarten sie vom Geographieunterricht im Hinblick auf die Förderung ihrer Urteilsfähigkeit? ! Common-Sense-Theorien über die Urteilspraxis im Geographieunterricht – Die praxisbezogene-kreative Ebene des ethischen Urteilens – anschlussfähig an Kants produktive Einbildungskraft: Welche Unterrichtserfahrungen beschreiben sie auf der Grundlage welcher imaginativen Vergleichshorizonte? Von welchen Beispielen erlebter Urteilspraxis erzählen sie? Auf welchem alltagsbezogenen und imaginativen Lehrer(innen)-Wissen basieren ihre Erzählungen? ! Praxisbezogene und imaginative Erzählungen der Urteilspraxis im Geographieunterricht Dieser zweifache Zugang erweist sich zur Untersuchung von komplexen Modi des Urteilens als zentral, um nicht auf der bereits angesprochenen oberflächlichen Ebene des Meinens bzw. der Lehrer(innen)-Theorien über die Urteilspraxis und somit auf der Ebene reproduktiver Einbildungskraft zu verbleiben bzw. sie mit der tiefer gelagerten Ebene des erfahrungsbasierten Urteilens sowie damit verbundenen Imaginationen im Unterricht zu verwechseln (vgl. Bonnet 2009). Dies ist gegenstandsbezogen deshalb relevant, da gerade von Seiten der Geographiedidaktik im unterrichtlichen Prozess moniert wird, dass im Geographieunterricht oft auf der Meinungsebene verblieben wird (vgl. Meyer et al. 2010; Vankan et al. 2007) und diese dann mit einer »reflektierten Urteilsfällung« (Meyer et al. 2010, S. 7) verwechselt wird. Ein Urteil erscheint oft zu schnell gefällt und läuft damit Gefahr, ein reines Vor-Urteil im Vollsinn des Begriffs zu sein und als solches noch dazu unentdeckt zu bleiben. Außerdem wird in Bezug auf die Frage, wie ethisches Urteilen gelernt werden kann, festgestellt, dass ethisches Urteilen an der Grenze zwischen implizit ethischer Ori-

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entierung und explizit ethischer Argumentation verläuft (vgl. Schoberth 2012b). Zugleich wird eingefordert, implizite Regeln im Urteilsprozess explizit zu machen (vgl. Schoberth 2012a). Die qualitativ-rekonstruktiven Erhebungs- und Auswertungsverfahren ermöglichen als Methoden der empirischen Unterrichtsforschung, das Sichtbar-Machen eben dieser impliziten Ebene der Urteilspraxis (vgl. Bonnet 2009, S. 224 f.; Dale 2000; Schriewer 2000). Sich auf einer expliziten Ebene moralisch zu positionieren, bedeutet noch nicht, dass die Lehrer(innen) damit ihre eigene implizite Werthaltung artikulieren. Diese zeigt sich vielmehr in der Art und Weise wie sie etwas (metaphorisch und/oder interaktiv dicht) zum Ausdruck bringen, anhand welcher konkreten Alltagsbeispiele ihre Werthaltung für sie handlungsleitend wird bzw. Relevanz gewinnt und welche Imaginationen sich für sie damit verbinden. Daher wird entsprechend der dokumentarischen Auswertungsverfahren (vgl. Bohnsack 2007) in der »formulierenden Interpretation« der Gruppendiskussionen zunächst ermittelt, welche Themen die Lehrer(innen) in der Auseinandersetzung mit den Unterrichtsinhalten beschäftigt (Thematischer Verlauf, Transkriptionen, Formulierende Interpretationen). Daraufhin werden die den Erzählungen zugrunde liegenden impliziten Orientierungen rekonstruiert, d. h. implizite Werthaltungen der Lehrer(innen) zu den im Unterricht erörterten Themen analysiert (Reflektierende Interpretation, Komparative Analyse, sinngenetische Typenbildung). Auf diese Weise lässt sich zeigen, welche Orientierungen und Imaginationen die Lehrer(innen) bei der (unterrichtlichen) Bearbeitung des Themas Globalisierung anleiten bzw. beschäftigen.

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4.

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Ergebnisse der empirischen Studie

Die folgende Transkriptionspassage stammt aus einer Gruppendiskussion, die mit Geographielehrer(innen) vor der Durchführung des Treatments geführt wurde.19 Immer wieder kommen die Lehrer(innen) implizit auf unterkomplexe Repräsentationen20 des Fremden im Geographieunterricht zu sprechen. Hier machen sie sie an dem Unterrichtsziel eines Ergebnisses fest und monieren die für sie damit verbundene Simplifizierung von ethischen Urteilen.21

19 Im Rahmen dieses Artikels beschränken wir uns auf die Darstellung von Transkripten und Reflektierenden Interpretationen. 20 Iris Därmann weist in ihrer ideengeschichtlichen Herleitung der Übersetzung des Begriffs Repräsentation daraufhin, dass er »mithin selbst als repräsentativ für die sogenannte ›Krise der Repräsentation‹ angesehen werden kann« (Därmann 2005, S. 32). Entsprechend dieser problembewussten Perspektive auf den Versuch etwas Fremdes abzubilden bzw. dem Verweis auf die Diskurse zur selbstkritischen Abbildung von Fremdem (vgl. Geertz 1973; James/ Marcus 1986) wird auch in diesem Beitrag nicht davon ausgegangen, dass etwas (Fremdes) präsentiert werden kann, sondern dass jede Präsentation seitens des Präsentierenden und des Präsentierten (un-)bestimmte Konnotationen mitführt, unterschiedliches repräsentiert, d. h. für Diverses stehen kann. 21 Angaben zu den Transkriptionsregeln befinden sich am Ende des Artikels.

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Zunächst beschreiben die Lehrer(innen) ihre Erfahrung, wie die Länge von Filmen sie dazu verleitet, am Ende eigene Wertungen vorzugeben, anstatt Raum für die Artikulation von Imaginationen des Fremden und Eigenen seitens der Schüler(innen) zu geben (vgl. Z. 14 – 24). Hier zeigt sich implizit die positive Werthaltung einer diskursiven Urteilspraxis gegenüber, die auch in ihren Ausführungen zum Tragen kommt, in denen sie die Gefahr beschreiben, wie fixe Bilder, insbesondere zum Thema Globalisierung, als pauschalisierende Lösungen zu polarisierenden Urteilen führen. Die Suche nach offeneren Bildern, d. h. nach komplexeren Bildproduktionen, etwa nach vieldeutigeren Imaginationen des Fremden als »Großes«22 wird deutlich (vgl. Z. 28). So entwerfen sie den positiven Werthorizont einer offeneren bildbasierten Urteilspraxis, in deren Rahmen auch die Verantwortungsfragen – hier ex negativo als eindeutig zu 22 Bei Zitationen ohne Literaturangaben handelt es sich um Zitate aus den Transkripten.

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adressierende Schuldfragen thematisiert – komplexer zu bearbeiten wären. Neben dem Zeitmangel beschreiben sie die derzeitigen Medien, bspw. einen Hefteintrag, als Hindernis für ein imaginatives Einüben in komplexe Urteilspraxen, die »des so in des Große bringen«, d. h. globale Zusammenhänge in ihrer Undurchschaubarkeit, repräsentieren. Besonders beschäftigen sie dabei das Potential von offenen Imaginationsprozessen und die Gefahr von polarisierenden (Fremd-)Bildern:

In dieser Passage beschreiben die Lehrer(innen) das Spannungsverhältnis zwischen ihrem Anspruch, eine unzureichende Simplifizierung von Zusammenhängen auf der Basis von (Fremd-)Bildern überwinden zu wollen und der Erfahrung, dass Schüler(innen) insbesondere bei Verantwortungs- und Schuldfragen nach eindeutigen Anhaltspunkten suchen. Implizit zeichnet sich also die

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Suche nach geeigneten Imaginationsprozessen zur Erweiterung binärer Bild- als Urteilslogiken ab. In diesem Zusammenhang erleben sie auch die eigene, persönliche Urteilspraxis (vgl. Z. 6 des folgenden Transkripts) als oftmals überkomplex und schwer durchschaubar. Indem sie sie in einen impliziten Bezug zu unterrichtlichen Lehr-Lernprozessen setzen, formulieren sie die Notwendigkeit einer authentischen Lehrerhaltung zur Bearbeitung globaler Fragestellungen:

Hier zeigt sich, wie die Lehrer(innen) als Ziel des ethischen Urteilens eine Perspektivübernahme und Einsicht in die Konsequenz ethischer Urteile auf die eigene Handlungspraxis bzw. Lebensentscheidungen entwerfen. Globalisierung verbindet sich für sie mit widersprüchlichen Theorien und implizit mit der Imagination, dass es ihnen finanziell potentiell schlechter gehen könnte. Weitergehend beschreiben sie ihre Aufgabe ethisches Urteilen zu lehren als eng verknüpft mit der eigenen alltäglichen und oftmals undurchschaubaren Urteilspraxis, wie auch der folgende Transkriptausschnitt verdeutlicht.

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In dieser Passage wird nachvollziehbar, wie die Aufgabe (ethisches) Urteilen zu lehren von den pädagogischen Akteuren mit ihrem Urteilen in der alltäglichen Lebenspraxis relationiert und somit implizit erneut als authentisches Urteilen gefasst wird. Dabei kommt für sie die eigene Unsicherheit zum Tragen, gerechte bzw. richtige Urteile fällen zu können und die Gefahr, der imaginierten Komplexität dieses Vorhabens nicht gerecht zu werden. Das Eigene und das Fremde (hier durch den Verweis auf China, Brasilien und Indonesien repräsentiert) werden relationiert, wobei es zu Widersprüchen bzw. Unklarheiten kommt. Sie imaginieren Zusammenhänge des eigenen Handelns mit der fremden Welt, wenngleich alltagspraktische Erfahrungen ihren Zusammenhang an zahlreichen Beispielen widerlegen. Dennoch wird daran festgehalten, das Eigene und das Fremde in einen fassbaren, d. h. für sie wirkungsbezogenen Zusammenhang zu bringen. Die Lehrer(innen) stellen dabei Verantwortungsfragen implizit einseitig, d. h. selbstreferentiell und bearbeiten das eigene Handeln somit primär im

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Hinblick auf Konsequenzen für die fremde Welt. Diese fremde Welt wiederum wird nicht genauer beschrieben, sondern erscheint für sie nicht greifbar bzw. sich (passiv) einer Geber-Nehmer-Logik zu widersetzen. Die damit verbundene Erfahrung scheint die Repräsentationen des Fremden und Eigenen in ihrer ungeklärten Wechselwirkung für die Lehrer(innen) gleichermaßen bedrohlich wie interessant zu machen.

Zusammenfassung von zentralen Ergebnisse der Gruppendiskussionen nach der Durchführung des Treatments Auch in der Gruppendiskussion nach der Durchführung des Treatments beschäftigen sich die Geographie-Lehrer(innen) interaktiv dicht mit der Frage, wie sich die Zusammenhänge des eigenen Handelns mit fremden Welten verantwortungsbezogen verknüpfen lassen. Erneut wird implizit die Imagination mitgetragen, wie durch das eigene Handeln fremden Welten gerechter begegnet werden könnte. Es handelt sich hierbei offenbar um eine dominante Kausallogik, der im Folgenden genauer nachgegangen werden soll, da sie Globalisierungsfragen für die Lehrer(innen) zu Entwicklungsfragen machen. Diese Verschränkung scheint jedoch auch heikel zu sein und wird von ihnen daher zugleich auf expliziter Ebene infrage gestellt; während sie implizit die Repräsentationen, d. h. die unterrichtlichen Darstellungen (vgl. Fußnote 22) und zugleich die damit verbundenen Imaginationen des Fremden, durchgängig prägt.

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In dieser Passage suchen die Lehrer(innen) nach geeigneten Medien (Atlanten oder Filme), die das Fremde (Karten zum Entwicklungsstand unterschiedlicher Länder, Filme zu Medikamententests) derart repräsentieren, dass es sich mit ihrer Imagination des verantwortungsbewussten und wirkungsorientierten Eigenen verbinden lässt. Filme erscheinen ihnen hierzu deshalb geeignet, weil sie die Schüler(innen) emotional erreichen und dabei eine komplexe, d. h. vieldeutige Urteilslogik (vgl. Z. 24, 25), vermitteln können, wie auch der folgende Transkriptabschnitt zeigt.

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Als besonders erkenntnisreich beschreiben die Lehrer(innen) Medien, bei denen keine konkrete Anschuldigung des Eigenen und oder Fremden repräsentiert ist und somit die Imagination eines offenen bzw. unbestimmten Verhältnisses zwischen Eigenem und Fremden Geltung gewinnt. Implizit wird deutlich, dass sich zwischen dem Eigenen und dem Fremden für sie keine direkten Relationierungen herstellen lassen und es daher auch im Unterricht entsprechender Repräsentationen bedarf. Allerdings bleibt diese Erfahrung für die Lehrer (innen) ein emotional bewegendes Thema, das erneut widersprüchlich verhandelt wird, wenn sie in der folgenden Passage wiederum doch das eigene Verhalten in ein kausales Verhältnis zu Entwicklungen anderorts entwerfen.

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Es bleibt für sie unklar, wie Globalisierungsfragen mit Entwicklungs- oder gar Unterrichtsentwicklungsfragen zusammenhängen. Die Widersprüchlichkeit nun doch kausale Verhältnisse zwischen dem eigenen Handeln, hier am Beispiel des Konsums, zur Identifikation von Verantwortungsfragen herzustellen, wird durch eine Verschiebung der damit verbundenen und für sie nicht zu klärenden, gegenstandsbezogenen Frage des Verhältnisses vom Eigenen zum Fremden fortan als eine methodische Problematik in der Gruppendiskussion bearbeitet. Die somit als Dethematisierung bzw. potentielle Tabuisierung erscheinende Verschiebung der Diskussion über das unbestimmte bzw. nicht zu bestimmende Verhältnis sowie damit verbundenen Imagination des Eigenen und des Fremden deutet auf ein Dilemma der Lehrer(innen) hin, (selbst) keine klaren Relationierungen herstellen zu können und diese dennoch, d. h. zugleich, unterrichten zu müssen. Sie befinden sich auf der Suche nach komplexen medialen Repräsentationen des Eigenen und Fremden, die dieses Dilemma als solches in seiner Widersprüchlichkeit darstellbar macht. Dabei kommt es für sie jedoch zu einer weiteren Verunsicherung bzw. Erweiterung des gewohnten bzw. üblichen Unterrichtssettings:

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Die Lehrer(innen) beschreiben in der folgenden Transkriptpassage die Erfahrung, dass der Einsatz von Bildern potentiell in einem Widerspruch zu der ursprünglichen Unterrichtspraxis »etwas festzuhalten« geraten. Wechselt man von dem Medium Schrift zum Medium Bild beim Einüben einer Urteilspraxis, bedarf es zu deren Reflexion aus ihrer Sicht auch bildgebende Verfahren (hier etwa die Photographie).

Implizit zeigt sich die Urteilspraxis, das eigene Vorgehen kritisch in den Blick zu nehmen. Auch bei dem Thema Diskussion beschreiben die Lehrer(innen) die Schwierigkeit, beim ethischen Lernen nicht etwas »festhalten« zu können, d. h. keine abfragbaren Werturteile als Gegenstand des Unterrichts zu haben. Sie sind auf der Suche nach einer methodischen Lösung für dieses Problem, wie sich im Folgenden zeigt.

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Es wird deutlich, wie sich die Lehrer(innen) auf eine neue, ungewohnte Unterrichtspraxis einlassen, in der weniger das Fixieren eines Ergebnisses, eines23 Bildes, des Tafelbildes als ein abfragbares Werturteil etwa, relevant wird, sondern stattdessen der Fokus auf die diskursiven Ereignisse gerichtet ist, nämlich das Urteilen als »Bälle, die sie sich zugeworfen haben«. Die Tafel als geeignetes Medium nutzen sie hierbei »aus der Not« heraus und bewerten sie somit als eher unpassend bzw. ungeeignet. So kommt es zu dem Verweis auf den Bedarf neuer Medien, um die Prozessualität der Urteilspraxis abbilden zu können und somit die Imaginationsprozesse anders in den Blick zu bekommen. Bei der Nutzung von bildgebenden Verfahren der Schüler(innen) entfalten diese offenbar ein Potential, das die Lehrer(innen) positiv überrascht:

In dieser Passage beschreibt der Lehrer seine emotionale Erfahrung, wie die Schüler(innen) Bilder und Werte zu relationieren wissen. Diese Fähigkeit hängt für ihn mit der Reife, Werte »herauszufinden« zusammen, wodurch sich eine Orientierung an überprüfbarem Wissen dokumentiert. Das Prozessuale der Urteilspraxis bringen die Lehrer(innen) keineswegs mit einer Willkürlichkeit in Verbindung, sondern mit der Herausforderung, prozessuales als überprüfbares Wissen im Rahmen ethischer Urteilsprozesse zu unterrichten. Während die gewohnte Unterrichtspraxis des Festhaltens von Ergebnissen durch das Treatment erweitert wird, ermöglicht es neue Wege, die imaginativ-kreative Praxis des Urteilens seitens der Schüler(innen)24 zu fördern. Diese scheinen die Lehrer 23 Alle Namen sind zum Zweck der Anonymisierung geändert (vgl. Transkriptionsregeln). 24 Auch für das Schüler(innen)-Lehrer(innen)verhältnis hat sich das öffnende Potential der Relationierung von Bildern und Wertfragen als ergiebig erwiesen: Bw: L Mhm. (.) ich fands komisch, mich rauszuhalten übrigens immer. Und war sehr überrascht?dass die Schüler @ kein einziges Mal@ gefragt haben? wie sehen sie das eigentlich, (.)also, (.) man drückt denen sonst immer scheinbar, die eigene Meinung afs Augeobwohl sies gar nicht wissen wollen.(( schmunzelnd)) Cm: L @(.)@ Bw: L @ ja auch zu meinem Bild jetzt der des Einstiegsbild@ da hat mich keiner gefragt @warum hab ich des jetzt ausgewählt?@

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(innen) so zu begeistern bzw. neugierig zu machen, dass sie sie auch in anderen Jahrgangsstufen zu erproben beginnen:

Cm:

L 8Warum haben sies ausgesucht,8

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Im weiteren Verlauf der Gruppendiskussion elaborieren die Lehrer(innen) ausführlich, wie sie den Zusammenhang von Bildern und Werten in verschiedenen Jahrgangsstufen weiterverfolgen. Hier scheint sich ein neuer Weg aufzutun, der das imaginative Einüben einer Urteilspraxis jenseits von der üblichen Vorgehensweise des Fixierens, nämlich als überprüfbares Prozessieren seitens der Schüler(innen) ermöglicht.25 Er ist anschlussfähig an den Anspruch, ethisches Urteilen wie folgt zu gestalten: »Respekt vor Differenz der Vorstellungen von dem, was das Richtige sei [angewiesen, J.L/M.U.-R.]; die Einbindung der Handlungsorientierungen und Bewertungen in unterschiedliche aber jeweils konstitutive Traditionen [wie soziale Milieus, Generationen, Geschlechterordnungen, J.L./M.U.-R.] ist unhintergehbar, aber eben auch nicht das Ende des ethischen Diskurses. Ethisches Lernen führt zur kritischen Befragung der eigenen Überzeugungen ebenso wie zu ihrer Bewusstwerdung und damit ihrer Präzisierung und Vertiefung. Diese doppelte Bewegung wird in der Begegnung verschiedener Urteile wie in der Debatte um deren Begründung erfahrbar, also in dem Raum, in dem die Haltungen und Orientierungen, die unthematisch das alltägliche Handeln bestimmen, diskursiv werden.« (Schoberth 2012b, S. 297) 25 Immer wieder kommen die Lehrer(innen) auf diese Differenz zu sprechen, sie scheint eine der wesentlichen Erfahrungen bei der Umsetzung des Treatments für sie auszumachen.

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Es wird deutlich, dass Fragen der Globalisierung von den Lehrer(innen) mit Wertfragen und persönlichen Entscheidungen verbunden sind. Nicht nur die methodischen Zugänge sind für sie dabei oftmals ungeklärt, sodass sie diese Fragen verdrängen bzw. sich von ihnen zunehmend überfordert fühlen. Zugleich thematisieren die Lehrer(innen) im Verlauf der Gruppendiskussion immer wieder das Potential von Bildern, Verwirrung bzw. Bildungsprozesse seitens der Schüler(innen) zu initiieren, wenn sie nicht zu schnell auf Schuldfragen bzw. binäre (Verantwortungs-)Logiken reduziert werden. Dies lässt sich als impliziter Hinweis auf Bildungs- als Imaginationsprozesse zur Bearbeitung von komplexen Repräsentationen des Eigenen und des Fremden verstehen. In kulturanthropologischer Perspektive ist die starke Verunsicherung der Lehrer (innen) bei der (imaginativen) Auseinandersetzung mit dem Fremden derart zu

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deuten, dass es sich dabei stets um die Beschäftigung mit dem Eigenen handelt, das somit gleichermaßen zur Disposition steht.

Zur Praxis des Urteilens in Zeiten der Globalisierung Wie in der Empirischen Rekonstruktion nachvollziehbar, kommt es, nun kulturanthropologisch gedeutet, »zu einer Figuration, in der sich Fremdes und Eigenes mischen, zu einer Figuration des Dazwischen« (Wulf 2006, S. 51). Vor dem Hintergrund dieser (imaginativen) Wechselwirkung zwischen dem Eigenen und dem Fremden wird deutlich, welche Brisanz die Frage nach angemessenen, d. h. komplexen unterrichtlichen Repräsentationen des Fremden und des Eigenen für die Lehrer(innen) im Rahmen (ethischen) Urteilens in Zeiten der Globalisierung gewinnt. Wie in der Empirischen Rekonstruktion gezeigt, fungieren Imaginationen in sich und bei ihrer Verknüpfung mit Alltagserfahrungen uneindeutig, widersprüchlich und sind teilweise paradox strukturiert. Sprachlich kommt dies in einer Metaphorik zum Ausdruck, die Gehalt und Realisierung unbestimmt, d. h. als Symbole der Reflexion (vgl. Kant 1790/1998), miteinander verknüpft. Metaphern markieren und formulieren somit eine logisch nicht hinreichend bestimmte begriffliche Verbindung, die das fungieren der Imaginationen auf semantischer Ebene offenhält. So zeigt sich etwa, welche Art des »Großen« die Geographielehrer(innen) als unterrichtliche Repräsentation des nicht zu fassenden Fremden in Abgrenzung zu einem Afrika- oder Afghanistanbild imaginieren. Auf der Suche nach einer Verhältnisbestimmung des Eigenen und Fremden steht »das Große« für die Lehrer(innen) für die damit verbundene Leerstelle: Die Relationierungen bleiben uneindeutig und werden daher als bedrohlich und zugleich interessant empfunden. Dem großen Fremden steht dann das kleine Eigene gegenüber, dessen Actio (vgl. Wulf et al. 2009) keine direkte Auswirkung auf das Fremde zeigt. Rekonstruktive Sozialforschungen über Prozesse des Urteilens schließen somit an Metaphernforschungen an, die Metaphern im Rahmen abduktiver Forschungslogiken in den Blick nehmen. »Von heuristischem Wert sind sie nicht wegen ihres hypothetischen Gehalts, sondern aufgrund der Funktionen, die an ihnen darstellbar sind und ablesbar bleiben – in diesem Fall also aus der poetischen Funktion, neue Bedeutungen hervorzubringen.« (Haverkamp 1983, S. 4; Herv. J.L./M.U.-R.) Sie vermögen die Dynamik des Neuen und Möglichen, die der Verwendung von Metaphern eigen und für praxisbezogene kreative Urteile notwendig ist, nicht abzuschließen, sondern als öffnende Akte zu begreifen: »Weit entfernt davon, die Wirklichkeit einfach zu repräsentieren, liefern Zeichenordnungen ›kohärente Deformationen‹ des Wahrnehmbaren.« (Rustemeyer 2009, S. 10) Metaphoriken lösen, bspw.

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die angedeuteten Ambivalenzen und Widersprüche der Imaginationen zum Eigenen und Fremden, nicht auf. Ihre Rekonstruktionen zielen nicht darauf ab, Einigkeit über Bedeutungszuschreibungen herzustellen. Stattdessen haben sich Spannungsverhältnisse, Widersprüche und Unklarheiten als geeignete Ansatzpunkte herausgestellt, komplexe Urteilslogiken der Beforschten zu analysieren. Dieses Ergebnis lässt sich mit der von Dirk Rustemeyer konzipierten kulturellen Diagrammatik forschungsmethodisch diskutieren: »Diese Nichtkohärenz ist nicht sinnlos oder fehlerhaft, keine Lücke und kein Desiderat, sondern sinngenerativ. Weil sie routinierte Anschlussbildungen von Formunterscheidungen blockiert, aber auch zur Stiftung neuer Unterscheidungen motiviert und zugleich ein präreflexives Korrespondieren unterschiedlicher semiotischer Formen grundiert, bleibt sie ein entscheidender Faktor für die Dynamik von Kulturen.« (ebd., S. 13)

Metaphorische Sprachgehalte eröffnen im Gegensatz zu Common-SenseTheorien einen Vorstellungsraum für Neues, Ungewohntes und Unkontrolliertes. So wurde deutlich, wie sich komplexe Imaginationen des Eigenen und des Fremden durch widersprüchliche Relationierungen ergeben. Die Möglichkeit, jenseits von Common-Sense-Theorien Imaginationen zu erzeugen, die somit auf einem kreativen Prozess basieren, lässt sich durch eine Eigenschaft der Einbildungskraft genauer betrachten, die Kant wie folgt beschreibt: »Wir spielen oft und gern mit der Einbildungskraft; aber die Einbildungskraft (als Phantasie) spielt ebenso oft und bisweilen sehr ungelegen mit uns (Kant 1798/1964, S. 476; Herv.i.O.). Die Vieldeutigkeit der Imaginationen ginge dementsprechend mit einem Konzept ihrer Unverfügbarkeit einher, das verdeutlicht, warum sie sich nicht funktionalisieren, sondern lediglich re-präsentieren lassen.

7.

Re-präsentationen und das freie Spiel der Imagination als Potential für Prozesse des Urteilens im Geographieunterricht

In den Empirischen Rekonstruktionen kann demonstriert werden, wie die Imaginationen fallspezifische Bedeutungszuschreibungen bzw. Urteilslogiken zeigen, ohne sie festzulegen oder zusammenzufassen. Stattdessen eröffnen sie durch ihre widersprüchliche Struktur die Möglichkeit polysemischer Verknüpfungen, die sich in brüchigen Beschreibungen des Urteilens im Unterricht und in metaphorisch dichten Passagen zeigen. Sie dienen den Beteiligten offenbar als Artikulationsmöglichkeiten der Vieldeutigkeit von damit verbundenen Imaginationen. Der Weg des praxisbezogenen-kreativ reflektierenden Urteilens im Geogra-

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Juliane Lamprecht und Eva-Marie Ulrich

phieunterricht, jenseits der Common-Sense-Ebene des Meinens, ist auf das freie Spiel der Imagination, d. h. auf die produktive Einbildungskraft angewiesen. Schüler(innen) sollten sich daher ein eigenes Bild vom Fremden machen dürfen und dies mit Hilfe der Einbildungskraft, die den Schüler(innen) ein Re-präsentieren als Distanzieren vom Gegenstand ermöglicht (vgl. Loidolt 2008), bearbeiten lernen. Hierzu ließe sich das Fremde und Eigene im Klassenraum auch von den Lehrkräften mittels diversifizierender Medien re-präsentieren.

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Transkriptionsregeln Bohnsack, R. (2007): Rekonstruktive Sozialforschung. 6. Aufl. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich.

Richtlinien der Transkription Beginn einer Überlappung bzw. direkter Anschluss beim Sprecherwechsel c Ende einer Überlappung (.) Pause bis zu einer Sekunde (2) Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert nein betont nein laut (in Relation zur üblichen Lautstärke des Sprechers/der Sprecherin) 8nee8 sehr leise (in Relation zur üblichen Lautstärke des Sprechers/der Sprecherin) . stark sinkende Intonation ; schwach sinkende Intonation ? stark steigende Intonation , schwach steigende Intonation vielleiAbbruch eines Wortes oh=nee Wortverschleifung nei::n Dehnung, die Häufigkeit vom : entspricht der Länge der Dehnung (doch) Unsicherheit bei der Transkription, schwer verständliche Äußerungen () Unverständliche Äußerungen, die Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer der unverständlichen Äußerung ((stöhnt)) Kommentare bzw. Anmerkungen zu parasprachlichen, nicht-verbalen oder gesprächsexternen Ereignissen; die Länge der Klammer entspricht im Falle der Kommentierung parasprachlicher Äußerungen (z. B. Stöhnen) etwa der Dauer der Äußerung. b

In vereinfachten Versionen des Transkriptionssystems kann auch Lachen auf diese Weise symbolisiert werden. In komplexeren Versionen wird Lachen wie folgt symbolisiert: @nein@ lachend gesprochen @(.)@ kurzes Auflachen @(3)@ 3 Sek. Lachen

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Juliane Lamprecht und Eva-Marie Ulrich

Für biografische Interviews zusätzlich //mhm// Hörersignal des Interviewers, wenn das »mhm« nicht überlappend ist Groß- und Kleinschreibung Hauptwörter werden groß geschrieben, und bei Neuansetzen eines Sprechers/ einer Sprecherin am Beginn eines ›Häkchens‹ wird das erste Wort mit Großbuchstaben begonnen. Nach Satzzeichen wird klein weitergeschrieben, um deutlich zu machen, dass Satzzeichen die Intonation anzeigen und nicht grammatikalisch gesetzt werden. Maskierung Allen Personen einer Gruppendiskussion wird ein Buchstabe zugewiesen. Diesem wird je nach Geschlecht »w« (für weiblich) oder »m« (für männlich) hinzugefügt. Alle Ortsangaben (Straße, Plätze, Bezirke) werden maskiert. Namen, die in der Gruppendiskussion bzw. den Feedbackgesprächen genannt werden, werden durch erdachte Namen ersetzt. Dabei versuchen wir bspw., einen Ortsnamen für das Tandem zu nehmen, der dem regionalen Sprachgebrauch ähnelt.

Ingrid Schoberth

Urteilen lernen am Kunstwerk. Zur ästhetischen Dimension des Einübens von Urteilskompetenz in religiösen/ethischen Bildungsprozessen

1.

Vorbemerkung

Die Begegnung mit Kunst und Kunstwerken ist heute nicht mehr aus den Bildungs- und Erziehungsprozessen wegzudenken. Der Aufbruch zur Kunst ist einer der wesentlichen Impulse, der die Erziehung bis heute nachhaltig beeinflusst hat. Mit dem Jugendstil, dem Expressionismus und dem Bauhaus-Stils war der Ausgangspunkt geschaffen, so der Pädagoge Andreas Flitner, und »für den geistigen und künstlerischen Hintergrund« gesorgt, »der Kunst eine ganz neue, zentrale Rolle in der Erziehung und Bildung zuzuweisen.«1 Dabei darf die eher heftig ausgefallene Kritik von Theodor W. Adorno am pädagogischen Missbrauch von Kunst nicht überhört werden, der die Kunsterziehungsbewegung »als barbarischen Verrat an der Kunst«2 bezeichnet hat; ihr wird entsprochen dadurch, dass diese Kritik eine stete Herausforderung für den bleibt, der mit und an Kunstwerken arbeitet. Die Kritik von Adorno ernst zu nehmen bedeutet, dem Anspruch der Kunst und der Kunstwerke durch anspruchsvolle ästhetische Lernwege zu begegnen. Die pädagogische Aufgabe muss also berücksichtigt werden und eine Auseinandersetzung mit Kunst und Kunstwerken ermöglicht werden, die gerade nicht von einem pädagogischen Verwertungsinteresse3 geleitet ist, sondern Interesse hat an der Anbahnung ästhetischer Erfahrung, die mehr und anderes umfasst als das Verwerten von Kunst. Nur so kann das Kunstwerk auch einen Beitrag zu Bildung und Erziehung leisten. In den Überlegungen von Walter Benjamin in seiner Schrift »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«4 ist die Entwicklung festgehalten, die es 1 Flitner, Andreas: Reform der Erziehung. Impulse des 20. Jahrhunderts. Mit einem Beitrag von Doris Knab; Weinheim, Basel 2001, 57. 2 Flitner, Andreas: Reform der Erziehung, 74. 3 Burrichter, Rita: Theologische Kunstvermittlung – fundamentaldidaktische Überlegungen; in: JRP 13/1997, 163 – 186. 4 Benjamin, Walter : Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit; in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur

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Ingrid Schoberth

durch die Reproduktion der Kunst und also der Kunstwerke möglich macht, für ein viel breiteres Publikum als bisher zugänglich zu sein; gerade darum ist die Möglichkeit ästhetischen Lernens gegeben, weil Kunst nicht mehr »erhoben ist auf die Podeste der sakralen oder profanen Liturgien«, sondern das »Kunstwerk hat den Weg in die Öffentlichkeit auf neue Weise gefunden und sich damit verwandelt.«5 Zudem ist also Kunst und mit ihr das je besondere Original gar nicht darauf angelegt, mit Begriffen wie etwa sakrosankt belegt zu werden: »Sonst schlösse sich … zumindest die Überlegung an, ob es für Künstler nicht auch wichtig sein, daß ihre Arbeiten in reproduzierter Form gut zur Geltung kommen. Immerhin findet die Urteilsbildung des Kunstpublikums seit dem 15. Jahrhundert vielfach auf der Basis von Reproduktionen statt.«6 Auf dem Hintergrund dieser zentralen Reflexion von Adorno und Benjamin wäre freilich zu beachten, dass es eine intensive Bemühung um die Kontur der Lernwege geben muss, die die Kunstwerke nicht für eigene Konstruktionen und Ideen von Wirklichkeit vereinnahmt; das wäre ein schlechter Dilettantismus, weil damit die Form ästhetischer Wahrnehmung einfach übergangen würde. Und ebenso gilt es, den öffentlichen Zugang zu Kunst und Kunstwerken zu nützen, weil es um die Wahrnehmung einer Kunst geht, die in rezeptionsästhetischer Perspektive sich dem Betrachter gleichsam zuzuwenden sucht und gerade darin Anspruch auf die Darstellung von Wirklichkeit erhebt. Kunst dient also nicht mehr allein den Kunstexperten, sondern sie dient der Öffentlichkeit und also auch einem Lernen und Lehren, das die ästhetische Dimension für Bildungsprozesse in Anspruch nimmt.7 Kunstsoziologie; Frankfurt am Main 2003, 7 – 44. Vgl. dazu auch: Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik; 4. Auflage Frankfurt am Main 1984, 125: »Aus dem Zerfall der Aura (des Kunstwerkes, I. Sch.) ist indes für die freigesetzte Massenkunst und kollektive Kunstrezeption wohl ein geschärfter ›Sinn für das Gleichartige in der Welt‹ erwachsen, aber schwerlich schon eine neue sinnliche und zugleich kommunikative Erfahrung gewonnen worden, die sich nicht ständig gegen die Zwänge der Anpassung an die Konsumwelt hätte behaupten müssen.« Nicht ganz so kritisch wie Hans Robert Jauß, vielmehr produktiv und in eigener Weise originell, greift Wolfgang Ullrich auf die Reproduktion zu: »Sie vollendet eine sonst nur unvollkommene Illusion; sie strahlt eine Erotik des Professionellen aus; sie überspielt Schwächen; sie veredelt und verlebendigt das Original. Sie wirkt raffiniert.« (Ullrich, Wolfgang: Raffinierte Kunst. Übung vor Reproduktionen; Berlin 2009, 9) 5 Flitner, Andreas: Reform der Erziehung, 71. 6 Ullrich, Wolfgang: Raffinierte Kunst, 9. 7 In diesem Zusammenhang muss auf die je neue, notwendige Bemühung um das Verhältnis von Religionspädagogik und Ästhetik hingewiesen werden. Zu Recht hält Peter Biehl vor allem die Bedeutung der Ästhetik für das Selbstverständnis der Religionspädagogik fest: »die Religionspädagogik als Ästhetik – bewahrt die Religionspädagogik vor einem instrumentellen Verständnis religiöser Lernprozesse. Das Verständnis der Religionspädagogik als Ästhetik verhindert, daß die christliche Religion auf Ethik reduziert wird, um sie in der Gesellschaft als nützlich erscheinen zu lassen.« (Biehl, Peter : Religionspädagogik und Ästhetik; in: JRP 5/ 1988, 3 – 44, 21).

Urteilen lernen am Kunstwerk

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Was hat es also damit auf sich, dass es um ein Lernen geht, das auf ästhetische Weise sich vollzieht und sich von anderen Lernwegen unterscheidet? Damit ist die Aufgabe formuliert, das Proprium ästhetischen Lernens aufzusuchen, das Kunst und also Kunstwerke in ihrer je besonderen die Wirklichkeit erschließenden Kraft wahrzunehmen ermöglicht und für Bildungsprozesse bedeutsam macht.8 In einem zweiten Schritt wird dann die Frage aufgenommen, inwiefern ästhetische Lernwege für die Urteilsbildung Bedeutung haben. Im abschließenden Teil sollen exemplarisch an konkreten Kunstwerken Lernwege reflektiert werden, die der Einübung ins Urteilen dienen: Exemplarisch wird an einigen Kunstwerken die wirklichkeitserhellende wie auch kathartische Kraft ästhetischer Arbeit an Kunstwerken untersucht und dargestellt.

2.

Das Andringen des Kunstwerks

Kunstwerke sind auch in religiösen Bildungsprozessen als besondere Objekte zu verstehen, die sich von bloßen Illustrationen oder aber ›katechetischer Gebrauchskunst‹ unterscheiden; es sind »ästhetische Objekte …, die durch Polyvalenz bzw. -interpretabilität, durch Offenheit und Unabgeschlossenheit einen spezifisch bildnerischen Mehrwert zum Ausdruck bringen, der sprachlich nicht einzuholen ist.«9 Dementsprechend versteht sich die Arbeit an und mit den Kunstwerken als eine »ästhetisch orientierte Betrachtungsweise«, die zum Ziel hat, »das bildspezifische Vermögen zur Geltung zu bringen, indem aufgewiesen wird, daß den eben genannten Bilddaten eine die bloße Abbildlichkeit übersteigende sinnstiftende Dimension zukommt.«10 Das über sich Hinausweisende der Kunstwerke »schöpft aus dem Unbekannten, um in die Nähe einer anderen

8 Claudia Gärtner betont darum auch ein Kriterium, das bei der Auswahl der Kunstwerke für Bildungsprozesse berücksichtigt werden muss, »dass ästhetisches Lernen auf Objekte angewiesen ist, die es ›wert‹ sind, betrachtet zu werden. Dies sind … vor allem Kunstwerke, die sich als besonders dicht, gedrängt und kompakt erweisen. Diese erlangen durch eine ganz individuelle, exakte Gestaltung einen polysemen visuellen Mehrwert, der nicht durch Sprache zu ersetzen ist. … Eine klare Abgrenzung von Kunst und Nicht-Kunst ist daher schwierig, die Grenzen zwischen Kunst und kirchlichen Gebrauchsobjekten, zwischen Kunst und Kitsch, Kunst und Populärkultur usw. sind fließend.« (Gärtner, Claudia: Ästhetisches Lernen. Eine Religionsdidaktik zur Christologie in der gymnasialen Oberstufe; Freiburg/ Basel/Wien 2011, 170 f.). Vgl. dazu besonders weiterführend den Sammelband: Szenen des Heiligen. Vortragsreihe in der Hamburger Kunsthalle; hg. von Cai Werntgen, Berlin 2011. 9 Gärtner, Claudia: Ästhetisches Lernen, 52; dies.: ›Who’s afraid of Red, Yellow and Blue III‹ (B. Newman). Ungegenständliche Kunst im Religionsunterricht; in: rhs 43/2000, 45 – 52. 10 Burrichter, Rita: Theologische Kunstvermittlung – fundamentaldidaktische Überlegungen; in: JRP 13/1997, 163 – 186, 169.

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Ingrid Schoberth

Wahrheit als der äußerlich sichtbaren Wahrheit zu gelangen«11 und generiert dementsprechend nicht bloß eine Bildsemantik, die darauf gerichtet ist, das aufzusuchen, »was das Bild aussagt und worauf es verweist«, sondern es generiert »Fragen einer sakramententheologischen ›Bildenergetik‹ , also was es ist und was es bewirkt.«12 Diese Wirkmächtigkeit, die den Kunstwerken eigen ist und die das Besondere des Umgangs mit Kunstwerken ausmacht, soll in ästhetischen Lernprozessen zur Entfaltung kommen.13 Ob die Kunstwerke dabei als »Orte unsichtbarer Religion«14 bezeichnet werden können, ist als ein Versuch zu verstehen, das zu erfassen, was in der Wahrnehmung neben vielfältigen anderen Wahrnehmungen am Kunstwerk auch auf dem Feld religiöser Wahrnehmung geschieht: Religion, die in sich selbst immer auch das Moment des Unverfügbaren trägt, kommt also auch in und mit den Kunstwerken zur Erscheinung, ohne sie freilich je umfassend abbilden zu können; denn das ist immer auch nur bedingt möglich und ist genau im Blick zu behalten, um nicht die Wahrnehmung am Kunstwerk für die eigene Sache und das eigene Interesse zu instrumentalisieren und also zu missbrauchen. Insofern greift Claudia Gärtner mit dieser Bestimmung der Kunstwerke m. E. zu Recht einen wesentlichen Aspekt der Wahrnehmung der Kunstwerke auf, geht dabei aber nicht weit genug: Denn das Kunstwerk verweist auf eine sehnsuchtsvoll erhoffte Wirklichkeit, die freilich immer nur in Spuren wahrnehmbar werden kann und auf noch Ausstehendes hindeutet, das wiederum auch nicht in die Verfügung genommen werden kann. Inmitten solcher Wahrnehmungen werden dann auch religiös zu identifizierende Wahrnehmungen möglich, die sich variantenreich – gleichermaßen sichtbar wie unsichtbar – mitteilen, inmitten und verbunden mit einer Vielzahl anderer Wahrnehmungen, die sich mit dem Kunstwerk dem Betrachter eröffnen. Insofern drängen15 11 Knott, Marie Luise: Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt. Mit Zeichnungen von Nanne Meyer ; Berlin 2011, 76. 12 Burrichter, Rita: Theologische Kunstvermittlung, 171. 13 Vgl. dazu Zimmer, Jörg: Schönheit: Der Wertcharakter des Schönen in der Kunst; in: WerteErziehung und Schule. Ein Handbuch für Unterrichtende; hg. von Reinhold Mokrosch und Arnim Regenbogen; Göttingen 2009, 102—108: Zimmer reflektiert die werttheoretischen Zusammenhänge, die sich mit der Frage nach der Bedeutsamkeit der ästhetischen Erfahrung für die Wertebildung ergeben: Dabei hält er vor allem auch die pädagogische Dimension und Funktion ästhetischer Erfahrung fest, die mit der unterrichtlichen Arbeit an Kunstwerken sich immer neu eröffnet. 14 Vgl. Gärtner, Claudia: Kunstwerke im Religionsunterricht – ›Orte‹ unsichtbarer Religion; in: engagement 1/2000, 30 – 37. 15 Vgl. zum grundlegenden Begriff Andringen die Ausführungen von Steiner, George: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München 1990, 183 u. ö.; ders.: Grammatik der Schöpfung; München und Wien 2001; vgl. dazu auch meine grundlegenden religionspädagogischen Überlegungen in: Schoberth, Ingrid: Diskursive Religionspädagogik; Göttingen 2009, 176 – 198.

Urteilen lernen am Kunstwerk

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Kunstwerke auch auf das Religiöse hin. Die Weite und Vielfalt der Wahrnehmungen, zu denen das Kunstwerk drängt, macht das Besondere der ästhetischen Wahrnehmung bzw. Erfahrung aus. Gerade darum verweisen Kunstwerke freilich immer auch auf die Ebene von Religion und können so auch als Orte unsichtbarer Religion verstanden werden. Um die Kunstwerke nicht zu instrumentalisieren, darf die Wahrnehmung am Kunstwerk aber nicht auf Religion hin enggeführt werden; es würde aber auch das Kunstwerk instrumentalisiert, würde man solche Entdeckungen unterbinden, die als religiöse Wahrnehmungen qualifiziert werden. Was sich im Kunstwerk Raum schafft und den Betrachter zu erfassen vermag, kann als »Kraft des Ästhetischen« verstanden werden, »die als lebendig erfahren werden kann« und in eine Weite der Wahrnehmung führt, die eben den religiösen Momente der Wahrnehmung Raum zu geben ebenso in der Lage ist, wie einer Vielzahl anders qualifizierter Entdeckungen am Kunstwerk.16 Freilich führt die je bestimmte Erfahrung am Kunstwerk in einen erprobenden, spielerischen und improvisatorischen Umgang mit dem Leben»17, der also nicht unmittelbar orientiert und Perspektiven zuspielt, sondern eher eine »Orientierungslosigkeit« provoziert, die aber gerade Kunst an sich ausmacht und nur so auch die Wahrnehmung des Guten am Leben, des Weiterführenden und des über die Tatsachen des Lebens Hinausgehenden ermöglicht. Darin fasst Karin Wendt dann schließlich auch die Aufgabe der Kunst zusammen: »Die Achtung vor der Unabgeschlossenheit unseres Verstehens als Erfahrung gegenwärtig zu halten und immer wieder einzufordern, das ist die Aufgabe der Kunst.«18 Das facettenreiche Wahrnehmen, das das Kunstwerk hervorbringt und bedingt, macht es darum auch Bildungsprozessen und schließlich auch religiösen Bildungsprozessen nicht leicht, mit den Wahrnehmungen an Kunstwerken im pädagogischen Kontext umzugehen; damit stellt sich eine didaktische Herausforderung, die sich den Bildungsprozessen im Umgang mit Kunst insgesamt stellt: eine Vielfalt von Wahrnehmungen muss also bewältigt werden. Das kann dadurch geschehen, dass eben die Weite der Wahrnehmung an und mit den Kunstwerken genau wahrgenommen und eben nicht reduziert wird auf eine bestimmte Wahrnehmungsperspektive. Sonst würde sich das Besondere der ästhetischen Arbeit verlieren, das in dieser Vielfaltliegt und die ästhetische Arbeit gerade diese Vielfalt besonders würdigt. Zugleich haben aber die Lerngruppe wie der Lehrende die Möglichkeit, aus dieser Vielfalt heraus einzelne Aspekte besonders zu betonen und andere Aspekte auszusparen. Der Lern16 Wendt, Karin: Überschreitungen? Überlegungen zur Deutung von Möglichkeiten und Grenzen in der Begegnung mit Kunst; in: Szenen des Heiligen, 161 – 190, 187. 17 Wendt, Karin, Überschreitungen?, 189. 18 Wendt, Karin: Überschreitungen?, 190.

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gruppe oder aber auch den Lehrenden kommt dabei eine wesentliche Aufgabe zu, sich darüber zu verständigen, woran weiter gearbeitet werden soll und welche Aspekte in den Hintergrund treten können bzw. zu einer anderen Zeit und in anderen Zusammenhängen wieder aufgegriffen werden.19 Auch daran zeigt sich das dynamische Moment des Kunstwerkes und seiner Rezeption, dass es zu einer Vielzahl von Wahrnehmungen drängt aber gleichwohl auch einen Zeitgewinn evoziert, der darin besteht, dass auch nicht alle Aspekte berücksichtigt werden müssen und Zeit bleibt für das je Anstehende und Bedrängende, das sich aus dem Diskurs der Lerngruppe ergibt. Mit dieser Auswahl wird auch eine Verlangsamung der Lernwege möglich, die auf diese Weise nicht überfordert werden, alle Wahrnehmungen berücksichtigen zu müssen. Das Kriterium, woran in religiösen Bildungsprozessen gearbeitet werden soll und welche Aspekte zunächst in den Hintergrund treten, entwickelt die Lerngruppe bzw. der Lehrende selbst; dabei werden freilich immer auch solche Wahrnehmungen thematisiert, die nicht unmittelbar als religiös qualifiziert werden können; freilich können dabei solche Aspekte besonders zum Tragen kommen, die unmittelbar an eine Thematisierung christlicher Religion heranführen. In rezeptionsästhetischer Perspektive wird dabei noch ein weiteres Moment zu berücksichtigen sein: Denn mit der Betonung, dass das Bild erst im Betrachter fertig wird, gewinnt das Kunstwerk für den Betrachter seine spezifische Bedeutung; das ist dann alles andere als Instrumentalisierung von Kunst: Vielmehr bestimmt sich die Wahrnehmung am Kunstwerk auch von daher, dass die je spezifische aus der Wahrnehmung des Betrachters des Kunstwerkes resultierende Perspektiven für das eigene Leben, Urteilen und Handeln in der Betrachtung entstehen und sich formen können. Hier verschränken sich aktive und passive Aspekte der Wahrnehmung: passiv, das heißt, dass das Kunstwerk dem Betrachter etwas zuspielt, das neu oder fremd oder aber vertraut ist; aktiv, das heißt der Betrachter wird unmittelbar in dieses Spiel, das das Kunstwerke eröffnet, hineingezogen; er wird im Andringen des Kunstwerkes zur Auseinandersetzung herausgefordert, die das Kunstwerk ihm zumutet – wie vertraut oder aber auch fremd die Perspektiven auf das Leben, Urteilen und Handeln auch sein mögen, die sich ihm mit dem Kunstwerk zuspielen.20 19 Unterrichtspraktisch ist der Lehrende darum auch aufgefordert, Wahrnehmungen von Schülern, die im Augenblick nicht so sehr bedrängen, auch wirklich in Erinnerung zu behalten. Eine Notiz kann hier sehr hilfreich sein. Das wäre ein Weg, die Wahrnehmungen insgesamt würdigen zu können und keiner der Schülerinnen oder Schüler hätte dann das Gefühl, seine Wahrnehmung sei weniger wichtig als andere und würde vergessen. 20 Vgl. dazu Zimmer, Jörg: Schönheit: Der Wertcharakter des Schönen in der Kunst; in: WerteErziehung und Schule. Ein Handbuch für Unterrichtende; hg. von Reinhold Mokrosch und Arnim Regenbogen, Göttingen 2009, 102 – 108. Jörg Zimmer führt dazu differenziert aus,

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3.

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Ästhetische Wege am und mit dem Kunstwerk sind darum geeignet, die Anbahnung ästhetischer Erfahrung zu ermöglichen und also zur Einübung ins Urteilen beizutragen.21 Was ist aber das Besondere an der ästhetischen Arbeit, dass sie dazu geeignet ist, Kinder und Jugendliche in der Ausbildung der Fähigkeit zum Urteilen zu unterstützen? Zunächst gehe ich ganz lapidar davon aus, dass das wirklich der Fall ist, weil die Impulse, die die Kunst für die Wahrnehmung von Wirklichkeit, Leben und Handeln immer wieder und immer neu setzt, zweifelsohne mit dem Urteilen zu tun haben und auf das je eigene Urteilen Einfluss gewinnt. Dass Kunstwerke dazu in die Lage versetzen, wird bestätigt durch die Erfahrung an der Schule und in religiösen Bildungsprozessen. Zudem bildet sich das auch in den Religionsbüchern ab, die zunehmend Kunstwerke aufnehmen und zur Arbeit mit ihnen ermutigen. Zudem ist es das Selbstverständnis von Kunst in der Moderne und Postmoderne, das dieses Moment – wenn auch oft eher undeutlich – bestimmt und mithin sich mit den Kunstwerken der Anspruch verbindet, »sich mit den vielfältigen Phänomenen und Ideen gegenwärtiger Wirklichkeit auseinanderzusetzen, also Deutungen und Kommentare gesellschaftlicher Pluralität zu bieten.«22 Eine dynamische Realität, die Bildenergetik, die den Betrachter der Kunstwerke ergreift und herausfordert, steht dafür ein, dass Wahrnehmungen möglich werden, die dann auch Bedeutung gewinnen für das je eigene Urteilen; man könnte auch sage, dass die ästhetische Erfahrung, die Wahrnehmung am Kunstwerk, das Urteilen bedingt und formt, ohne dass dabei freilich ein Urteil schon im Kunstwerke abgebildet wäre: Das Urteil ist nicht unmittelbar das Ergebnis einer abbildenden Wahrnehmung am Kunstwerk selbst. Vielmehr geht es um eine bildende Wahrnehmung bzw. um bildende Wahrnehmungen, die mit dem Kunstwerk evoziert werden. Die Energetik, die im Kunstwerk steckt, führt dazu, dass am Kunstwerk etwas aufgeht, etwas zur Erfahrung kommt, etwas dicht und vielleicht verstrickt sich zeigt und zu neuen auch ungeahnten Eindrücken drängt, die bisher unerkannt waren.23 warum das Kunstwerk einen besonderen Beitrag zur ästhetischen Erziehung leistet. »Das Kunstwerk bleibt auch jenseits des Schönen das Medium anschaulich-sinnlicher Reflexion menschlicher Wirklichkeit.« (A.a.O., 107). 21 Freilich ist die Eröffnung von ästhetischer Erfahrung ein Moment im Gesamt des Urteilen lernen, das didaktisch sehr perspektivenreich angelegt werden kann; vgl. dazu Fröhlich, Michael: Philosophieren mit Kindern. Ein Konzept; Münster u. a. 2004. Fröhlich hebt das Philosophieren mit Kindern hervor, »als eine in sich strukturierte Tätigkeit des Urteilens«. (a. a. O., 109). 22 Burrichter, Rita: Theologische Kunstvermittlung, 167. 23 Vgl. Zimmer, Jörg: Schönheit, 107: »Wenn eingangs bemerkt wurde, dass ›Werthaftigkeit‹

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Die Begegnung bzw. das Andringen eines Kunstwerkes bleibt also nicht spurlos bzw. folgenlos für den Betrachter : Das Andringen übt insofern ein, sich der genauen Wahrnehmung auszusetzen und an ihr und mit ihr Interpretationen zu versuchen, die auch nicht folgenlos bleiben für das je eigene Urteilen. Schließlich führt die ästhetische Erfahrung am Kunstwerk dazu, dass der Betrachter in einen Prozess der existentiellen Auseinandersetzung in der Begegnung mit dem Kunstwerk hineingezogen wird, indem »das Erscheinende in seiner existentiellen Bedeutsamkeit wahrgenommen wird.«24 Freilich geht die Wahrnehmung nicht in der subjektiven existentiellen Wahrnehmung allein auf. Sie lässt auch eine Wahrnehmung zu, die, wie das auch von Hans Robert Jauß beschrieben worden ist, zu intersubjektiver Verständigung und Auseinandersetzung führt.25 Daraus resultiert die Gestalt der ästhetischen Arbeit, die auf eine aktiv-kritische Auseinandersetzung hindrängt und also von besonderer Bedeutung ist; sie verweist auf einen Vorgang des Urteilen lernen, das in der Wahrnehmung am Kunstwerk geschult und geübt wird. Sie ist darum auch so wesentlich, weil sie nicht nur auf eine subjektive Wahrnehmung am Kunstwerk abhebt und so die Wahrnehmung nur beim Betrachter selbst bleibt, sondern dazu veranlasst, dass die Wahrnehmung zu einer intersubjektiven Auseinandersetzung, zur Kommunikation und also in den Diskurs führt.26 Die Wahrimmer eine bestimmte Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit ausdrückt, so wird dieser Umstand im Kunstwerk – und prinzipiell in jedem Kunstwerk – eine gegenständliche Gegebenheit für die Anschauung. Diese Verfassung des Kunstwerks, einerseits formal ein gegenständliches Reflexionsverhältnis und damit die objektiv gewordene Wertbeziehung, andererseits inhaltlich modellhafte Reflexion menschlicher Werthaltungen zu sein, macht seine spezifische Wertform aus. Und aus dieser Seinsweise des Kunstwerks heraus wird verständlich, warum die Aneignung von Kunst per se wertbildend und also für die Werterziehung relevant ist.« Dabei bleibt aber zu beachten, dass das Kunstwerk für wahr nicht einfach Werte ausdrückt, sondern gleichsam als ein Diskurspartner in der Reflexion bzw. der Wahrnehmung am Kunstwerk dient, und so auf die Spur setzt, Wirklichkeit bzw. Bewertungen von Wirklichkeit entdecken zu lernen. 24 Gärtner, Claudia: Ästhetisches Lernen, 171. 25 Robert Jauß reflektiert in diesem Zusammenhang die kommunikative Leistung der ästhetischen Erfahrung vor allem mit den Begriffen Aisthesis, Poiesis und Katharsis. Der Katharsis kommt für das Urteilen eine besondere Bedeutung zu: »Während nun aber Aristoteles vornehmlich die Verfassung des Zuschauers einer Tragödie und die Befreiung seines Gemüts als deren Ziel vor Augen hat, ist Gorgias an der ›Zurüstung‹ … des Hörers einer Rede und der Umsetzung seiner leidenschaftlichen Anspannung in eine neue Überzeugung interessiert, die unwiderstehlich ›seine Seele formt, wie sie will‹. Die hier einsetzende Tradition der Rhetorik bringt die kommunikative Funktion der kathartischen Wirkung zur Geltung: der ästhetische Genuß der durch Rede oder Dichtung erregten eigenen Affekte ist die Verlockung, sich im Umschlag vom mitreißenden Pathos zur ethischen Einstellung … überzeugen zu lassen.« (Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik; 4. Aufl. Frankfurt am Main 1984, 75; vgl. auch 88 u. ö.). 26 Vgl. dazu auch die instruktive Arbeit von Jörg Conrad: Moralerziehung in der Pluralität. Grundzüge einer Moralpädagogik aus evangelischer Perspektive; Freiburg, Basel, Wien

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nehmung des Betrachters bleibt so nicht allein mit sich selbst, sondern öffnet sich damit der Kritik von außen; sie ermöglicht gerade so auch Korrekturen bzw. auch Neuausrichtungen, die in der je eigenen Wahrnehmung nicht oder aber auch noch nicht in den Blick gekommen sind. Darum ist auch die Anbahnung ästhetischer Erfahrung und die Form gemeinsamer Wahrnehmung am Kunstwerk durch eine Lerngruppe für die Urteilsbildung von besonderer Bedeutung, die auch im schulischen Kontext besonders zu nützen wäre: Damit tritt das gemeinsame Lernen in der Vordergrund, das gerade auch am Kunstwerk zu eindrücklichen Wahrnehmungen und gemeinsamen ästhetischen Erfahrungen führt. Die gemeinsame Wahrnehmung befreit freilich nicht vom je eigenen Urteil, das immer unvertretbar ist.

4.

Einübung des Urteilens am Kunstwerk

Wie geht es nun ganz konkret in Lernprozessen zu, die auf die Anbahnung ästhetischer Erfahrung zugehen? Wie gelingt es, dass solche Lernprozesse den Schülerinnen und Schülern eine Bildung ermöglichen, die Einfluss gewinnen kann bzw. gewinnen darf auf ihr Urteilen und Handeln?27 Bevor an einigen Kunstwerken exemplarisch gezeigt werden soll, wie die ästhetische Erfahrung zur Erfahrung werden kann, die auch das je eigene Urteilen formt, sind einige didaktische Bemerkungen zu machen, die die ästhetische Arbeit ausmachen und die Lernprozesse konturieren: 2008, 46 u. ö. Conrad nützt die Einsichten des Kommunitarismus, um die enge Subjektorientierung der Moralerziehung aufzubrechen und die Sozialisationsaufgabe der Schule wie auch des religiösen Lernens in der Reflexion der Überlegungen von Amitai Etzioni, Charles Taylor und Michael Walzer herauszuarbeiten (vgl. bes. 169 ff.). Dabei betont er mit Charles Taylor den engen Verweisungszusammenhang von Identität und Moral, der sich dann als tragfähig erweist, wenn es um die Urteilsbildung geht, denn es »können moralische Urteile nicht von dem getrennt werden, was einem Menschen wichtig ist.« (a. a. O., 173). 27 Diesen Anspruch, dass Bildung Bedeutung gewinnt nicht nur für die Schulzeit, sondern darüber hinaus, reflektiert Jürgen Oelkers, der nicht nur für das ethische Lernen, sondern für alle Erziehungs- und Bildungsbemühungen überhaupt dieses Moment festhält: »Während Erziehung in aller Regel als zeitlich begrenzt gedacht wird, erscheinen ihre Produkte als zeitlich unbegrenzt. Kompetenzen werden einmal erworben und dann auf Dauer gestellt, Strukturen bleiben unbefristet erhalten, Mündigkeit gar kann nicht wieder vergessen werden, wenn sie einmal erreicht worden ist.« (Oelkers, Jürgen: Hat jeder Mensch nur eine Erziehung? Überlegungen zur pädagogischen Anthropologie; in: Pädagogik und Pluralismus; Deutsche und niederländische Erfahrungen im Umgang mit Pluralität in Erziehung und Erziehungswissenschaft; hg. von Frieda Heyting und Heinz-Elmar Tenorth, Weinheim 1994, 207 – 224, 217; freilich ist in gleicher Weise auf ein ›Verlernen‹ abzuheben, dass dann notwendig werden muss, wenn erworbene Kompetenzen, angeeignete Strukturen u. a. ihre Tragfähigkeit und Bedeutung für das je eigenen Leben verlieren und Neuorientierungen notwendig werden.

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a. Die Auswahl des Kunstwerkes kann nie beliebig sein und ist auch nie beliebig. Vielmehr gewinnt die Erfahrung mit Kunst durch die Lehrenden eine wesentliche Rolle; hier zeigt sich eine Spannung: manche Kunstwerke greifen die Lehrenden intuitiv auf, andere Kunstwerke verwerfen sie, weil sie ihnen fremd sind und fremd bleiben. In der Unterrichtsvorbereitung muss darum sorgfältig geprüft werden, mit welchem Kunstwerk gearbeitet werden soll: Was ist bei der Auswahl der Kunstwerke also bestimmend? Die Erinnerung der Lehrenden an gehaltvolle Kunstwerke und die Erfahrung damit? Oder aber gerade ein Kunstwerk, das dem Lehrenden selbst fremd ist und von dem er sich dennoch herausfordern lässt? b. Die Wahrnehmung am Kunstwerk darf nicht auf ein Thema hin reduziert werden; gerade die Vielfalt der Wahrnehmungen macht das Besondere der ästhetischen Arbeit aus. Jede Wahrnehmung erfährt im Unterrichtsprozess eine Würdigung, auch wenn zwischen dringlichen und weniger dringlichen Wahrnehmungen dann auch unterschieden werden kann und auch muss, um den Unterricht nicht zu überfordern; gleichwohl wäre im gesamten Prozess des Unterrichts darauf zu achten, dass auch das eine Würdigung erfährt, was im Moment sich als weniger dringliche Wahrnehmung zeigt. c. Freilich gibt es auch die Ebene der Reflexion, die in Lernprozessen auf den Vorgang des Urteilens selbst gerichtete ist. Hier dient das Kunstwerk dazu, sich über das Urteilen bewusst zu werden, die Schwierigkeiten, die sich dabei stellen, auszuloten, die Notwendigkeit des je neuen Urteilens vor Augen zu stellen wie auch die Nicht-Vertretbarkeit des Urteilens selbst zu veranschaulichen: Ich selbst bin immer auch im Urteilen begriffen; ich kann mich dem Urteilen letztlich auch nicht entziehen.28 d. Die Wahrnehmungen am Kunstwerk verweisen immer auch auf ein Netz von Zusammenhängen und Perspektiven, die sich mit dem Kunstwerk selbst mitteilen, die berücksichtigt werden müssen – die oft auch aus einer sehr intuitiven Wahrnehmung heraus mit dem Kunstwerk verbunden sein können. Auf diese Momente sind die Lernwege abzustimmen, da sie für die Wahrnehmungen der Kunstwerke in religiösen/ethischen Bildungsprozessen eine entscheidende Rolle spielen. So kann es ein Aspekt der Lebensgeschichte des Künstlers sein, oder aber ein biblischer Text, der sich in einem je spezifischen und bedeutsamen Zusammenhang zu einem Kunstwerk verhält u. a. Freilich ist auch hier darauf zu achten, dass die Wahrnehmungen am Kunstwerk in einer großen Offenheit möglich werden, auch wenn die Auswahl der Kunstwerke den Wahrnehmungen immer auch schon eine bestimmte Richtung vorgibt und intuitive Bezüge, die durch das Kunstwerk gegeben sind, eben immer auch eine Rolle spielen. Didaktisch können diese 28 Vgl. dazu die Ausführungen in 5.1.

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Zusammenhänge und Vernetzungen für die ästhetische Arbeit in Bildungsprozessen sehr fruchtbar gemacht werden; es ist die polyvalente Gestalt der Kunstwerke, die in der Wahrnehmung wirksam wird. e. Kunstwerke bilden dementsprechend nicht einfach ein Urteil ab, sondern bringen den Betrachter in Bewegung und lassen ihn an der dem Kunstwerk innewohnenden Dynamik teilnehmen: Diese innere Dynamik bzw. Energetik des Kunstwerkes, die den Betrachter in der Betrachtung erfasst, bildet den Anlass (occasion)29, nach Orientierungen, Perspektiven, Aspekten und Momenten zu suchen, die sich im Kunstwerk mitteilen, ohne aber ein Urteil vorwegnehmen zu können. f. Die Eindrücke, die ein Kunstwerk in der Wahrnehmung hinterlässt, veranlassen, nach deren Geltung für das je eigene Urteilen zu fragen. Was sich in der Wahrnehmung herauskristallisiert und einen Eindruck/bzw. Eindrücke hinterlässt, wird assoziativ erfasst;30 das je eigene Urteil bleibt darauf bezogen.31 Im Rekurs darauf, im Aufgreifen derjenigen Momente, die die Wahrnehmung hervorgebracht hat und zugleich im Ausscheiden von Aspekten, die sich als nicht relevant erwiesen haben, führt das Kunstwerk mittelbar an das Urteil heran ohne es freilich unmittelbar abbilden zu können. g. Die Wahrnehmungen am Kunstwerk führen nicht zu dem einen Urteil hin; aber es gibt die Eindrücke, das Weiterführende, Irritierende, Fremde, Vertraute, Hoffnungsvolle, das, wovon der Betrachter sich zu Recht abzusetzen sucht, etc. die in der Wahrnehmung aufscheinen und insofern auch das Urteilen des Betrachters formen. Kunstwerke sind also nicht unmittelbar moralisch bzw. erheben nicht unmittelbar einen moralischen Anspruch; sonst wären sie Illustrationen aber eben keine Kunstwerke. Die ästhetische Erfahrung hebt darauf ab, eine Vielzahl von Wahrnehmungen hervorzubringen, innerhalb dessen Momente artikuliert werden bzw. zur Ahnung werden, die für das je eigene Urteilen Bedeutung gewinnen. Es entsteht gleichsam ein Feld von Beobachtungen und Eindrücken. Hier wird das artikuliert und zur Sprache gebracht, was aus der Wahrnehmung gewonnen ist; das ist nicht nur das, was aus der je eigene Wahrnehmung entstanden ist, sondern auch das, 29 Vgl. Wharton, James A.: The occasion of the Word of God. An unguarded essay on the character of the Old Testament as the memory of God’s story with Israel; Austin, Texas, September 1968: In theologischer Perspektive lassen sich die occasions als die Momente im Leben wahrnehmen, die Menschen mit dem Wort Gottes konfrontieren: Der Ausdruck occasion for the word of God benennt die Einsicht, »daß Gottes Wort je und je neu in die Wirklichkeit der Gegenwart einbricht.« (Schoberth, Ingrid: Erinnerung als Praxis des Glaubens; München 1992, 72). 30 Vgl. Knott, Marie Luise: Verlernen, 76. 31 Verbunden damit ist freilich immer auch die Ebene der Reflexion, die nach der Bedeutsamkeit der ästhetischen Wahrnehmung für das je eigene Leben, Urteilen und Handeln zu fragen herausfordert.

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was sich in der gemeinsamen, intersubjektive Wahrnehmung in einer Lerngruppe eröffnet hat. Diese Wahrnehmungen gewinnen Einfluss auf die Formung und Gestaltung eines je eigenen Urteiles. Das in der subjektiven bzw. intersubjektiv ausgerichteten Wahrnehmung Gewonnene fungiert also als Bezugsrahmen, auf den sich der Lernende beziehen lernt und das für sein Urteilen Relevante auswählt und aufnimmt bzw. auch sich dadurch herausfordern lässt und sich davon möglicherweise auch abzugrenzen sucht.32 h. Wahrnehmungen am Kunstwerk bleiben immer vielgestaltig;33 in der Wahrnehmung werden immer Atmosphären spürbar. Wahrnehmungen führen darum nicht nur zu Vertrautem hin, sondern auch in die Erfahrung von Differenz, in die Wahrnehmung des Fremden, des Anderen und des Nicht-Vertrauten.34 i. Den Wahrnehmungen am Kunstwerk haftet immer etwas Artifizielles an: Die ästhetischen Lernprozesse sind geeignet, ethisches Lernen anzubahnen, freilich werden sie erst dann wirklich bedeutsam »in Lebensereignissen und -krisen, die Jahrzehnte später auftreten, wenn ethische Entscheidungen als biographisch verantwortete zu treffen sind.«35

5.

Urteilen lernen – Lernwege exemplarisch entfaltet mit verschiedenen Kunstwerken in unterschiedlichen Lern-, bzw. Altersgruppen

Exemplarisch an einigen ausgewählten Kunstwerken soll nun gezeigt werden, wie die Anbahnung ästhetischer Erfahrung in religiösen Bildungsprozessen möglich ist. Dafür sind unterschiedliche Lernsettings ausgewählt, um auch die Breite der Möglichkeiten ästhetischen Arbeitens zu zeigen. An den ausgewählten Beispielen soll der Wahrnehmung am Bild nachgegangen werden, indem auch auf Lehrerfahrungen in unterschiedlichen Lerngruppen Bezug genommen wird. 32 Das wäre das von Hans Robert Jauß bezeichnete kathartische Moment der ästhetischen Erfahrung, das hier zur Erfahrung kommt. Vgl. dazu die Ausführungen in 5.2 bis 5.4. 33 Vgl. dazu Gärtner, Claudia: Ästhetisches Lernen, 171. 34 Dafür stehen insgesamt die didaktischen Reflexionen von Dietrich Zilleßen, der diesen Aspekt in seiner religionspädagogischen Arbeit immer besonders berücksichtigt 35 Blasberg-Kuhnke, Martina: Die Entwicklung des moralischen Urteils im Lebenslauf; in: Werte-Erziehung und Schule. Ein Handbuch für Unterrichtende, hg. von Reinhold Mokrosch und Arnim Regenbogen, Göttingen 2009, 146 – 153, 152. Welche Lern-Dimensionen das ethische Lernen eröffnet, fasst Blasberg-Kuhnke zusammen: »Zur Komplexität ethischen Lernens gehört: Unterscheidungen anstellen, Urteile bilden, Pläne erwägen, Vorschläge realisieren, Sanktionen beschließen und durchführen, moralische Gefühle ausdrücken, in Rollenspielen in die ›Haut anderer schlüpfen‹, Verantwortung erkennen und übernehmen.« (a. a. O., 152)

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Anschließend soll vorläufig und sehr versuchsweise aufgezeigt werden, welchen Beitrag das Kunstwerk zur Urteilsbildung leistet und wie sich das Einüben ins Urteilen mit Kunstwerken vollzieht. Das kann und muss immer probeweise geschehen, und kann die unterrichtliche Arbeit in einer Lerngruppe freilich nicht ersetzen: Insofern vollzieht sich das Lernen am Kunstwerk immer in einem artifiziellen Raum. Wie dann die Kunstwerke und also die Erfahrung am Kunstwerk schließlich das Urteilen weiterhin formt und darauf Einfluss nimmt, kann nicht vorweg bestimmt werden. Diese Öffnung auf Zukunft hin haftet der Arbeit am Kunstwerk immer an. Sie ist gerade darum möglich, weil es sich eben um Kunstwerke handelt, die den Anspruch haben, einen spezifischen Beitrag zur Wahrnehmung von Wirklichkeit zu leisten – wie vorläufig, in Spuren und eher diffus als deutlich diese Wahrnehmungen auch seien; diese Wahrnehmung richtet sich auch auf die Zukunft, die das noch Ausstehende einbezieht ohne seiner freilich habhaft zu werden.36

5.1

Direkte Thematisierung des Urteilens

Eine unmittelbare Thematisierung ist möglich, indem etwa am Bild von Paul Klee37 das Thema direkt zur Disposition gestellt wird: »Worauf geht dein/der Blick …?« Unter diesem Aspekt kann angeleitet durch das Bild, das Thema Urteilen selbst thematisiert werden. Das Bild mit Gesichtern mit unterschiedlicher Blickrichtung dient freilich zunächst als Illustration. Zugleich eröffnen die einzelnen Blickrichtungen der Gesichter das, was es mit dem Urteilen selbst auf sich hat. Das Bild regt an, dem nachzuspüren und nachzudenken; vielleicht auch eigene Bilder mitzubringen und Blickrichtungen als Haltungen und Orientierungen zu thematisieren. Schwierigkeiten und Notwendigkeiten unvertretbaren eigenen Urteilens und eigener Orientierung können so thematisiert werden. Insofern wird das Bild für das Thema in Gebrauch genommen und soll dazu dienen, ein Thema anzustoßen, das sich eben nicht von selbst versteht, weil es 36 Für die Arbeit an den folgenden Kunstwerken muss berücksichtigt werden, dass die hier vorgelegte Auswahl nicht beliebig ist; vielmehr haben sich die Kunstwerke bereits in Lernprozessen bewährt und bisweilen auch Eingang in Religionsbücher gefunden. 37 Vgl. das Bild von Paul Klee, 1936: Das Auge. Pastell und Kleisterfarbe auf Jute; 45/46x64,5/ 66,5 cm; Credit Line: Privatbesitz Schweiz; Copyright VG Bild-Kunst, Bonn. Abgebildet in: Spurenlesen. Religionsbuch 5/6, hg. von Gerhard Büttner u. a.; 1. Aufl. Stuttgart 1996, 147. Leider kann dieses Bild nicht abgedruckt werden, da ich nach langem Suchen keine Bilddateien erwerben konnte. Ich darf die Leser bitten, im Religionsbuch selbst nachzusehen oder aber auch durch eigene Bilder und Photographien im Unterricht etwa das Bild zu ersetzen, um anhand der genauen Wahrnehmung der Richtung der Blicke die je eigene Richtung des Urteils zu bearbeiten und um zu thematisieren, was das für eine Bedeutung für das Urteilenlernen gewinnen kann.

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ein Thema ist, das überhaupt erst einmal als Thema – das Urteilen bzw. »der Mensch als einer, der immer urteilt« – wahrgenommen werden muss. Dass das Urteilen Menschsein ausmacht, kann in diesem Zusammenhang bearbeitet werden; zugleich wäre immer auch deutlich zu machen, dass Urteilen immer unvertretbar bleibt und insofern eine eigene Herausforderung darstellt, die eben auch nicht immer leicht zu bewerkstelligen ist, sondern auch Probleme bereitet und das umso mehr, je diffuser und komplexer die Zusammenhänge sich darstellen, auf die sich das je eigene Urteil bezieht bzw. beziehen muss. Das macht dann auch für die Lernenden die Notwendigkeit der Einübung ins Urteilen deutlich. Sicherlich haben Schülerinnen und Schüler mit dem Urteilen auch schon Erfahrungen gemacht, die sie in dieser direkten Thematisierung einbringen können und an denen entlang auch die Schwierigkeit und Notwendigkeit des Urteilens miteinander besprochen werden können.

5.2

Indirekte Thematisierung des Urteilens

5.2.1 Sich selbst wahrnehmen am Kunstwerk: Urteilen lernen am Bild »Das schönste Bild der Welt« von Antoni Tapies38 – für alle Jahrgangsstufen religiös/ethischer Bildung – Kunstwerk und Lebensgeschichte »Antoni Tapies (geb. 1923 in Barcelona), der Malerdieses Bildes schrieb 1967 in einer Jugendzeitschrift: Wenn ihr ein Bild betrachtet, denkt nie daran, was die Malerei ›sein soll‹ oder was viele möchten, dass sie sei. Die Malerei kann alles sein. Sie kann ein Sonnenfleck sein mitten in einem Windstoß. Sie kann eine Gewitterwolke sein. Sie kann der Schritt eines Menschen auf dem Weg ins Leben sein. Ich möchte euch einladen, aufmerksam hinzuschauen, ich möchte euch einladen zu denken.«39

Dieser kurze Text ist im Schulbuch für Evangelische Religion der Auftakt für die ästhetische Wahrnehmung eines Bildes, das Antoni Tapies mit Beteiligung seines Sohnes gemalt hat:40 Seine Spuren sind darauf eingedrückt und für den Sohn von Tapies, Miguel, ist es das schönste Bild der Welt. Es sind seine Spuren, nicht die eines Anderen; sie führen ins Nachdenken; das Kunstwerk leitet schließlich zu einem langen Gespräch mit dem Vater, dem Künstler, an. Folgende Formulierungen finden sich dazu im Schulbuch: 38 Bild von Antoni Tapies: Fondation Antoni Tapi¦s, Barcelona/VG Bild-Kunst, Bonn 2000. Abgebildet in: Schulbuch für Evangelische Religion: Gerechtigkeit lernen (neu) (Jahrgang 7./ 8.); hg. von Helmut Ruppel und Ingrid Schmidt, Leipzig 1996, 22. 39 Text aus dem Schulbuch für Evangelische Religion: Gerechtigkeit lernen, 22. 40 Leider war es mir nicht möglich eine digitale Bildversion für die Veröffentlichung des Bildes zu bekommen. Ich hoffe das Bild ist soweit beschrieben, dass es dem Leser und der Leserin bei der Lektüre durch Imagination in Umrissen erkennbar wird. Es ist freilich auch im angegebenen Schulbuch zu finden.

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»Das Bild vom ›Weg‹ deutet das Leben wie kaum ein anderes. Wir brechen auf, eine Sache nimmt ihren Lauf, wir schlagen eine Richtung ein, haben Weggefährten, Wegweiser, Umwege und Irrwege, wenn’s glückt, ›geht’s gut‹, wenn’s unvernünftig wird, sind wir verwegen …«41.

Es ist ein einfaches, sehr elementares und auch reduziertes Bild, mit dem die ästhetische Erfahrung eröffnet werden kann. Begleitet durch den Text des Schulbuches etwa, der zum Nachdenken über das Bild des Weges einlädt, das durch die Fußspuren im Bild generiert wird. In einem Seminar haben wir das probiert: Manch einer denkt über die roten Tropfen nach, im oberen Teil des Bildes; andere erinnern sich an ein Gedicht, das vor allem in evangelikalen Kreisen weitergegeben wird: Es heißt Spuren im Sand und wird als Bild für den barmherzigen Gott aufgenommen; denn es sind nicht die Spuren eines Menschen, sondern die Spuren Gottes, die sich im Sand abdrücken; Spuren, die davon erzählen, dass Gott den Menschen, der selbst keine Kraft mehr zum Laufen hatte, getragen hat. Ein Gedicht einer Erfahrung. In der Erinnerung denke ich an Schüler des Religionsunterrichts zurück, die mit dem Fußabdruck an ihre Kindergartenzeit erinnert wurden; dort war es üblich, für die Eltern ein Geschenk zu machen: der eigene Abdruck des Fußes oder aber der rechten Hand in Gips wurde als Geschenk für die Eltern zu Weihnachten gebastelt. Ganz mein Abdruck; ganz ich selbst; damit verbinden sich die Würde und der Stolz in Bezug auf mich selbst aber auch der Dank an die Eltern im Abdruck der Hand oder des Fußes. Im Schulbuch selbst geht es mit dem Bild des Weges weiter, das eher assoziativ aufgegriffen wird. Die Geschichte von Tapies und seinem Sohn wird zum Ausgangspunkt des Nachdenkens über die eigene Lebensgeschichte wie die Lebenswege anderer. Selbst der Apostel Paulus und die Erfahrung seiner Missionsreisen werden aufgenommen: »Ich selbst aber, Paulus, … bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen, … in Gefahr in Städten, in Wüsten, auf dem Meer. (2. Kor. 10,1; 11,26)«42 In diesem Wahrnehmungsgeflecht finden sich viele verschiedene Aspekte, die zum Nachdenken und weiterem Reflektieren anregen. Es ist ein Bezugsrahmen aus vielfältigen Wahrnehmungen am Kunstwerk entstanden, mit dem weiter gearbeitet werden kann. Zum Abschluss soll nun auch gefragt werden, wie denn die Einübung der Urteilsbildung mit der Arbeit am Bild von Tapies gelingt? Dazu lassen sich freilich nur vorläufige Vermutungen formulieren, da gerade das, was die ästhetische Erfahrung bewirkt, nicht einfach festgestellt und auf einen Nenner gebracht werden kann: Ist es der Stolz der eigenen Spur, der eigenen Lebensgeschichte, der besonderen Wertschätzung durch den Vater, der dieses Bild mit 41 A.a.O., 23. 42 A.a.O., 24.

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dem eigenen Schuhabdruck gemalt hat? Ist es vielleicht eine besondere Kraft, die spürbar wird in der Bemühung um den eigenen Weg ins Leben, die sich im Kunstwerk/Bild mitteilt? Einübung ins Urteilen hat also folglich mit dem zu tun, wie ich mich selbst verstehen gelernt habe und selbst verstehe. Was mein Personsein ausmacht, wie ich es wahrnehme und auch im Umgang mit anderen erfahre, hat Folgen für mein eigenes Urteilen. Es stärkt das Vertrauen zu mir selbst, das ich brauche, um Urteile zu wagen aber auch um schließlich zu urteilen. Der artifizielle Raum, in dem die ästhetische Erfahrung möglich wird, spielt insofern etwas zu, was das Selbstvertrauen des Betrachters stärkt und zum Urteilen ermutigt – im artifiziellen Raum der Lernprozesse wie dann aber auch in konkreten Situationen des Urteilens.

5.2.2. Gemeinwohl, Demokratie und politisches Lernen: Zur politischen Dimension des Urteilen lernen am Kunstwerk »Das schwarze Quadrat« von Kasimir Malewitsch für religiös/ethische Bildungsprozesse in der Oberstufe – Kunstwerk und (politische) Öffentlichkeit

Ästhetische Erfahrung ist nicht allein eine Erfahrung des Einzelnen, sondern sie umfasst auch die Dimension intersubjektiver Erfahrung. Das wird unmittelbar deutlich mit dem Kunstwerk Das schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch43, einem Kunstwerk der radikalen Verweigerung, noch etwas abbilden zu wollen, weil sich die politischen Verhältnisse der Zeit so zugespitzt haben, dass wahrhaft nichts mehr abgebildet werden kann und schließlich nur noch von »Transzendenz in der Entweltlichung«44 gesprochen werden kann; in dieser Verweigerung zeigt sich Malewitsch nicht nur als Künstler, sondern als ein politischer Mensch, dem es um die humane Gesellschaft und um gemeinsames Leben zu tun ist, das vollkommen zu entschwinden droht bzw. schon vielfach entschwunden ist und er sich verweigert, das Vorfindliche abzubilden. Eine letzte Hoffnung findet sich in Spuren im schwarzen Quadrat: Im schwarzen Quadrat wird Wirklichkeit ikonenhaft gezeigt, als Suche nach Befreiung aus den Verstrickungen des Lebens, die eben nicht freimachen und aus der Freiheit leben lassen, sondern Leben verhindern. Später entstehen wieder Bilder, oft sind es Skizzen, auch eine Kreuzigungsszenen ist dabei und erste 43 Bild von Kasimir Malewitsch von 1914/1915, Öl auf Leinwand, 80x80 cm, Tretjakow Galerie Moskau. Vgl. dazu auch Schoberth, Ingrid: ›Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind‹. Auf den Spuren ästhetischer Erfahrung im Religionsunterricht; in: Religion und Phantasie. Von der Imaginationskraft des Glaubens; hg. von Werner H. Ritter, Göttingen 2000, 115 – 150, 121. 44 Schwebel, Horst: Kunst und Religion zwischen Moderne und Postmoderne. Die Situation – Ein neu erwachtes Kunstinteresse; in: JRP 13/1997, 47 – 70, 67.

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Abb. 1: Malewitsch »Das schwarze Quadrat«.

Versuche, wieder Bilder einer hoffnungsvollen und humanen Wirklichkeit zu erfassen. Diese politische Lebensgeschichte, die in der Verweigerung zum Bild im Kunstwerk seinen Ausdruck findet, ist Anlass zur Wahrnehmung, um ästhetische Erfahrung anzubahnen: Im Bild spiegelt sich ein politischer Mensch, nicht nur ein Künstler, der gleichwohl den Diskurs anstößt: Sein Kunstwerk führt insofern in die Öffentlichkeit, in die Wahrnehmung der eigenen mich umgebenden politischen Welt, die vor und mit dem Bild in Frage gestellt wird. Insofern führt die ästhetische Wahrnehmung, die dieses Kunstwerk evoziert, in Herausforderungen wie etwa der direkten Bearbeitung eines öffentlichen Konflikts oder aber auch zur Auseinandersetzung um das Gemeinwohl an einem konkreten Problem. Das Kunstwerk von Malewitsch habe ich gerade deshalb aufgegriffen, da es besonders eindrücklich und sehr radikal die politische Dimension der Urteilsbildung in den Blick rückt; es steht exemplarisch für die Bemühung um die humane Ausgestaltung gemeinsamen Lebens wie sie immer auch durch Kunstwerke provoziert wird, gleichwohl freilich nicht immer in dieser Unmittelbarkeit, wie sie sich im Bild vom Malewitsch mitteilt. Der Künstler als politischer Mensch dient hier als Leitthema, das wiederum nicht unmittelbar die Urteilsbildung im Blick hat, aber doch auf Wahrnehmungen drängt, die sich am Bild und verbunden mit der politischen Lebensgeschichte von Malewitsch ergeben. Es geht also um thematisch geführte Wahrnehmungen am Kunstwerk, um der politischen Gestalt der Lebensgeschichte willen, die gleichwohl eine eigene Ausgestaltung und Formung im je eigenen Leben erfahren muss. Insofern wird das Kunstwerk nicht instrumentalisiert, sondern eröffnet als Kunstwerk die Herausforderung nach der politischen Formung des je eigenen Lebens zu fragen und zu suchen. Die im Kunstwerk angelegte Provokation, sich als ein politischer Mensch verstehen zu lernen, dient schließlich der Urteilsbildung, die immer auch von je meinen politischen Orientierungen und Perspektiven bestimmt ist.

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5.2.3 Utopien ausschreiten und Hoffnung erspüren: Frieden und Gerechtigkeit auf die Spur kommen – Urteilen lernen am Bild Frieden, einem Auszug des Bildes »Krieg und Frieden« von Pablo Picasso in religiös/ethischen Bildungsprozessen der 3. und 4. Klasse und in der Erwachsenenarbeit im Seminar – Kunstwerk und Bibel/Heilige Schrift mit ihren stories Für die Bearbeitung dieses Themas wird der Zusammenhang von Ästhetik und Biblischer Didaktik aufgegriffen. Zunächst spielt also für die Bearbeitung des Themas der Bibeltext aus Johannes 8, 1 – 11 eine Rolle, der den Rahmen absteckt, innerhalb dessen am Kunstwerk gearbeitet werden soll. Insgesamt wird es um eine Antwort auf die Frage gehen, die der Künstler Pablo Picasso mit seinem Bild Frieden stellt. Wie kann man Frieden malen? Er hat es so versucht:

Abb. 2: Picasso Auszug: »Krieg und Frieden«.

Wie kann man Frieden malen? Dieser Frage soll ästhetisch und biblisch didaktisch nachgegangen werden; beide Zugänge verweisen aufeinander und stellen je für sich eine spezifische Aufgabe. Beide Zugänge zum Thema geben dem Lernweg seine Kontur, der jetzt genauer in Schritten entfaltet werden soll. Zunächst die biblische Geschichte: Jesus aber ging zum Ölberg. 2 Und frühmorgens kam er wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. 3 Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu ihm, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte 4 und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5 Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6 Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und malte (schrieb) mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 8 Und er bückte sich wieder und malte (schrieb) auf die Erde. 9 Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. 10 Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? 11

Urteilen lernen am Kunstwerk

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Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

1.

Schritt: Input durch den Lehrenden

Input durch den Lehrenden: Wie kann man Frieden malen? Zunächst gibt es da eine Geschichte von Jesus aus Nazareth. Er ist es, der mit seinen Fingern in den Sand malt und das in einer Situation, die alles andere als friedlich ist: Ich will euch die Geschichte aus der Bibel nacherzählen: 2.

Schritt: Nacherzählen der Geschichte Die Heilige Schrift erzählt von Jesus aus Nazareth. In einer Geschichte hören wir von Jesus wie er sich in einem Streit verhalten hat. Eine Frau hat Unrecht getan und soll dafür wie es damals üblich war, gesteinigt werden. Da reden viele Leute durcheinander. Die Schriftgelehrten und Pharisäer, die damals die Aufgabe hatten, Recht zu sprechen und Urteile zu fällen, wenn es eine Klage gab auch. Und viele andere sind dabei. Und da ist Jesus. Er sitzt dabei und malt mit seinem Finger auf der Erde. Und da ist die Frau, der das Unrecht angelastet wird. Keine einfache Situation; denn das Leben der Frau steht auf dem Spiel. – Aber zunächst sitzt Jesus dabei, malt mit seinen Händen auf die Erde. Was er da wohl malt? Vielleicht so, wie wir es manchmal schon gemacht haben, um ein wenig nachzudenken; ein Bild im Sand, ein paar Kritzeleien auf der Erde.– Zunächst sagt Jesus zu allem, was um ihn herum geschieht nichts. Und die, die die Frau verurteilen sollen, fragen ihn. Und er sagt erst mal nichts zu alle dem. Er sagt erst mal nichts. – Irgendwie ist dieser Jesus aber wohl doch wichtig. Und so fragen ihn die Richter, sie fragen und warten auf Antwort. Bis er aufhört zu malen und nur sagt: Macht ihr denn immer auch alles richtig? Was hat diese Frau getan, dass ihr das Leben genommen werden soll? Wer unter euch hat in seinem Leben immer das Richtige getan? Der soll den ersten Stein auf sie werfen.– Und – was passiert jetzt? Alle gehen, einer nach dem anderen. Sie gehen einfach weg. Sie gehen weg, weil sie selbst wissen, dass sie immer wieder auch friedlos leben, dass sie Fehler machen und wohl oft nur von den anderen verlangen, alles richtig zu machen – bloß von sich selbst nicht.– Und Jesus? Nachdem er das gesagt hatte, setzt er sich wieder und malt mit seinen Fingern auf die Erde. Jesus, der malt: Was für ein Bild könnte es sein, das Jesus da malt?

3.

Schritt: Die Geschichte weiterspinnen

Bei diesem Lernschritt sind nun die Imaginationen der Lernenden gefragt, die dem, was Jesus malt, nachspüren und es in Sprache fassen. Sie bleiben in der Distanz zu dem, was sie vielleicht selbst malen würden. Jesus malt vielleicht eine Sonne, die mit ihren Strahlen die Erde warm macht: Ein Bild des Friedens. Oder er malt einen Mann und eine Frau, die sich umarmen und sich wieder vertragen?

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Ingrid Schoberth

Malt er vielleicht die Frau, die in die Luft springt, weil keiner mehr für die Steinigung da ist? Oder welche Bilder sonst könnte Jesus malen? 4.

Schritt: Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern

Denkt noch ein wenig über die Geschichte nach: Auch die Frau geht ja dann irgendwann weg und versucht in Frieden zu leben. Sie probiert aus, ob es anders geht als bisher. 5.

Schritt: Input durch den Lehrenden

Ich will euch noch von einem Maler erzählen, der wie Jesus den Frieden malt: Es ist der spanische Maler Pablo Picasso; ein berühmter Künstler, der uns helfen kann, Bilder zu malen, die vom Frieden erzählen: Denn dann verstehen wir genauer, wie Frieden Realität werden kann. 6.

Schritt: Bild von Pablo Picasso Krieg und Frieden, 1952 und die Herausforderung durch die Frage – Wie kann man Frieden malen?

Im Herumwandern mit den Augen auf dem Bild nehmen die Lernenden Möglichkeiten der Darstellung des Friedens wahr. – Sie werden dann herausgefordert, nach eigenen Bildern des Friedens zu fragen, angeleitet durch das eher utopische, paradiesische Bild von Picasso. 7.

Schritt: Wie würde ich Frieden malen?

Diese Frage wurde auch in einem Seminar zur Friedensethik aufgenommen, die sich aus der Bildarbeit ergeben hat und dazu drängt, nicht nur dem Künstler Raum zu geben, wie er es versucht, Frieden zu malen, sondern auch selbst eigene Friedensbilder zu entwerfen. Auf diese Dimension der Wahrnehmung am Kunstwerk haben sich Teilnehmer eines Seminars ohne Probleme eingelassen; diese Lerngruppe war sehr bereit, dieser Frage »Wie würde ich Frieden malen?« nachzugehen. Ein Statement ist mir noch in Erinnerung: der ungefähre Wortlaut war : »Ich male eine Deutschlandfahne auf hellblauem Grund. Das ist meine Vision vom Frieden.« Die Fahne würde er malen: Sie stellt ja selbst wiederum eine Abstraktion dar ; aber diese greift er auf, um seine Hoffnung auf Frieden bzw. seine Haltung zum Frieden auszudrücken. Man kann vermuten, dass die Deutschlandfahne für einen Verfassungspatriotismus steht, den er damit zum Ausdruck bringt. Die Fahne ist für ihn Orientierung für eine Möglichkeit, Frieden zu denken, eine Möglichkeit, Frieden zu entwerfen. Lässt sich Frieden

Urteilen lernen am Kunstwerk

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nur in dieser Abstraktheit – mit einer Fahne – darstellen – oder gibt es konkretere Bilder davon?45 Auf ästhetische Weise wurde im Seminar versucht, nach den Möglichkeiten des Friedens zu fragen; im Versuch, eigene Bilder des Friedens zu malen, leistet die ästhetische Arbeit das, was eine bloße Reflexion über die Möglichkeiten zum Frieden nicht zu leisten in der Lage ist: Im Malen eines eigenen Bildes entstehen Hoffnungen und Visionen von einer Wirklichkeit des Friedens; im imaginären Malen konnte auch das erfasst werden, was sonst in der Reflexion und dem rationalen Kalkül keine Bedeutung gewinnen kann. Das Kunstwerk von Pablo Picasso führt mittelbar in die Urteilsbildung; das Bild führt in der Wahrnehmung zur je eigenen Frage, mit der ich mich auseinandersetze: Wie würde ich Frieden malen? Im Spiel mit dem Kunstwerk entwickelt sich eine Idee vom Frieden, der freilich immer auch etwas Utopisches anhaften muss. Das Probieren der Friedensbilder zeigt die Dimension auf, die für die Urteilsbildung wesentlich ist: Das Probieren und Erproben von Perspektiven, die mir die ästhetische Arbeit zugespielt hat, auch wenn sie möglicherweise wieder verworfen werden, sich als unrealistisch herausgestellt haben oder aber auch sich als tragfähige Perspektiven erweisen, die ich für mein Urteilen gelten lasse.

6.

Zusammenfassung: Urteilen einüben mit Kunstwerken

Mit der Arbeit an den Kunstwerken, den exemplarischen Versuchen, zu zeigen, wie ästhetische Lernwege angelegt werden können und einen besonderen Beitrag zur Urteilsbildung leisten, ist hoffentlich und zumindest in Ansätzen deutlich geworden, was das Proprium ästhetischer Lernwege ausmacht: Sie sind eine eigene Form der rationalen Durchdringung von Wirklichkeit, die sich von ihrem Gegenstand her ergibt und nur mit ihm und an ihm – dem Kunstwerk – zu Wahrnehmungen der Wirklichkeit drängt – freilich immer nur in Spuren, oft vorläufig aber auch manchmal umfassend und die Wirklichkeit verwandelnd. Insofern haben die Kunstwerke ein Potential, das in der ästhetischen Arbeit zugänglich wird und dazu beiträgt, Wirklichkeit neu zu erschließen. Das je über sich Hinausweisende der Kunstwerke ist es, das in der Wahrnehmung im ästhetischen Prozess die Lernenden auf neue Fährten führt und neue Perspektiven und Orientierungen eröffnet, die das je gegenwärtige Leben in Bewegung bringen und neu auszurichten in der Lage sind. Diese wirklichkeitserschließende Kraft der Kunst, ihre eigene Rationalität, findet ihren Ausdruck in äs45 Vgl. Sternberger, Dolf: Verfassungspatriotismus 1. Auflage Frankfurt am Main 1990.

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Ingrid Schoberth

thetischen Lernwegen und ist nicht anders zu haben als in der ausdauernden Übung der Wahrnehmung an den Kunstwerken selbst. Die in der ästhetischen Erfahrung eröffnete Wahrnehmung der Wirklichkeit muss sich freilich immer wieder neu dem Diskurs stellen, der dann auch in Lernprozessen zu führen ist; dann geht es auch gerade um eine Vernetzung der Wahrnehmungen am Kunstwerk mit dem ganz profanen Leben, seinen Herausforderungen und Fragen, seinen Schönheiten, seinen Verletzlichkeiten und seinen Leiden. Der Kontext religiöser Bildung gibt für diese Auseinandersetzung einen eigenen Rahmen vor, der gleichsam als Raum des Diskurses verstanden sowohl die Möglichkeit der Distanz zu den Wahrnehmungen am Kunstwerk eröffnet wie auch die Zustimmung dazu ermöglicht; beides sind unterrichtliche Wege, die religiöse Bildung ausmachen:46 die kritische Zustimmung zu den Perspektiven, die christliche Religion im Diskurs an und mit dem Kunstwerk eröffnet wie zugleich auch das Einnehmen einer Distanz für den, der mit und an dem Kunstwerk Zustimmung verweigert.

46 Was Hans Günther Ulrich für die christliche Lebensform als grundlegend beschrieben hat, gilt auch in besonderer Weise für das hier anvisierte ethische Lernen in religiösen Bildungsprozessen; auch ihnen ist es darum zu tun, die der christlichen Lebensform zugehörige »Praxis des Wahrnehmens, Urteilens, Argumentierens in ihrer Reichweite und Ausrichtung auszuloten und zu reflektieren.« (Ulrich, Hans Günther : Rationalität und christliche Lebenspraxis – Ein Bericht; in: Ethik, Vernunft und Rationalität – Ethics/Reason and Rationality : Beiträge zur 33. Jahrestagung der Societas Ethica in Luzern, Schweiz 1996; hg. von Alberto Bondolfi, Stefan Grotefeld und Rudi Neuberth, Münster 1997, 187 – 221, 216).

Silke Reiser-Deggelmann

100 Jahre Das Urteil: Eine Begegnung in der Schwebe mit Franz Kafka

Ich beginne meine Reflexion über das Urteil mit zwei bedeutsamen Zitaten des Autors: »(…) Einer muß wachen, heißt es. Einer muß dasein.«1 und »Alles ist in den besten Anfängen (…)«, so geschrieben auf dem Krankenbett am 2. 6. 1924, einem Tag vor Kafkas Tod.2 »Das Urteil«3 : untertitelt mit »Für F. Eine Geschichte«. Demzufolge eine Geschichte für Felice B. alias Felice Bauer. Geschrieben in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912 in der elterlichen Wohnung in der Niklasstraße 36 in Prag zwischen 22 Uhr abends und 6 Uhr am Morgen. Im sechsten Tagebuchheft umfasst die Erzählung 24 Manuskriptseiten. Nach der mit Schreiben verbrachten Nacht geht Kafka nicht zum Dienst und entschuldigt sich in der Arbeiterunfallversicherungsanstalt wegen eines Ohnmachtsanfalls. Gleich am Morgen liest Kafka die Geschichte seinen beiden Schwestern Valli und Ottla vor, mit Tränen in den Augen, wie er betont.4 Gut zwei Monate später wird die Erzählung von Kafka öffentlich im Hotel Europa am Wenzelsplatz auf einem Prager Autorenabend vorgetragen. Veröffentlicht wird der Text im Jahr 1913 im Jahrbuch »Arkadia«, einem Jahrbuch für Dichtkunst seines Freundes Max Brod. Der Inhalt der Erzählung lässt sich in vier Abschnitte gliedern: Die erzählte Zeit entspricht in etwa der Erzählzeit. Signifikant ist die Technik der erlebten Rede.

1 Kafka, Franz: Nachts; in: Die Erzählungen. Originalfassung, hg. von Roger Hermes, Frankfurt am Main 2008, 357. 2 Kafka, Franz: Brief vom 2. 6. 1924; in: Briefe an die Eltern aus den Jahren 1922 – 1924, hg. von Josef Cerm‚k und Martin Svatos, Prag 1990,147. 3 Kafka, Franz: Die Verwandlung, Das Urteil und andere Erzählungen. Text, Kommentar und Materialien, München 2008, 13 – 28. 4 Kafka, Franz: Tagebücher, Band 2: 1912 – 1914, Frankfurt am Main 2008, 101.

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Erster Abschnitt: Georgs Gedankenwelt Georg Bendemann, Sohn eines Kaufmannes, steht in Briefkontakt mit seinem Freund, der vor einiger Zeit nach St. Petersburg ausgewandert ist. Dieser ist beruflich und privat nicht so erfolgreich wie Georg. Auf Drängen seiner Braut Frieda Brandenfeld teilt ihm Georg endlich brieflich seine bevorstehende Hochzeit mit.

Zweiter Abschnitt: Im Zimmer des Vaters: Georg beschließt, dem Vater, der mit ihm wohnt und arbeitet, von dem Brief zu erzählen und begibt sich direkt mit dem Brief in der Hand in dessen Zimmer. Äußere Anzeichen verweisen auf das Alter und die Greisenhaftigkeit des Vaters, zum Beispiel der Schlafrock und seine Sehschwäche, das dunkle unaufgeräumte Zimmer, die Appetitlosigkeit des Alten und seine unsaubere Wäsche. Georg trägt den Vater ins Bett und deckt ihn sorgfältig zu. Entgegen der Erwartung des Lesers entwickelt der Vater eine aggressive Haltung Georg gegenüber, und es kommt zu einem heftigen Streit, bei dem der Alte die Bettdecke zurückwirft und aufrecht im Bett steht. »Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug für dich, zuviel für dich.«5

Dritter Abschnitt: Das Urteil des Vaters Der Inhalt des Streites zwischen dem Vater und dem Sohn betrifft vor allem die Machtverteilung im Geschäft und die Verlobte Georgs. Der Vater macht abwertende und anzügliche Bemerkungen. Es kommt zu der vehementen Verkündigung des Urteils durch den Vater: »Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!«6

5 Kafka, Franz: Die Verwandlung, Das Urteil und andere Erzählungen, 23. 6 Ebd. 27.

100 Jahre Das Urteil: Eine Begegnung in der Schwebe mit Franz Kafka

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Vierter Abschnitt: Die Vollstreckung des Urteils Georg nimmt das Urteil sofort an, indem er überstürzt zum Fluss läuft und sich – mit der Bemerkung: »Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt« fallen lässt.7 Es finden sich thematische Schwerpunkte, die sofort ins Auge fallen: Der Machtgewinn des Vaters von der Hinfälligkeit zur Omnipotenz, der gegen Ende der Geschichte offen ausgetragene Vater-Sohn-Konflikt, den man auch als Generationenkonflikt bezeichnen könnte bzw. der gehorsame Sohn, der sich opfert.

Summa summarum der erste Eindruck der Erzählung Zunächst ganz einfach und mit etwas biographischer Erfahrung in Bezug auf Franz Kafkas Existenz und Bürde als ewiger Sohn eines starken Vaters leicht zu deuten. Natürlich fällt dem Kafkaleser bzw. der Kafkaleserin sofort der Brief an den Vater aus dem Jahr 1919 ein: die Situation des kleinen Franz auf der Pawlatsche (eine Art Vorleger) in der Nacht, der Vater als Riese, der Macht über den kleinen Jungen ausübt. Der Inhalt der Novelle »Die Verwandlung« thematisiert die beiden Wurfattentate des Vaters. Beide Texte sind in den Folgemonaten des »Urteils«, nämlich im Oktober und im November 1912 entstanden. Um im Facebook-Jargon bzw. in der Voting-Sprache von Facebook zu sprechen: Daumen rauf: Gefällt mir. Daumen runter : Gefällt mir nicht: Das bedeutet, dass dem Vater die Existenz des Sohnes nicht gefällt, also will er ihn vernichten, symbolisch oder real! Die Geschichte ist gedeutet. Dass diese erste Deutung einer Täuschung entspricht, wird sehr schnell erfahrbar, wenn wir bei Kafka selbst im entsprechenden Tagebuch nach Indizien oder Hinweisen suchen. Doch beginnen wir bei der Vorgeschichte der Widmung des »Urteils«. Die Geschichte ist Felice Bauer zugeeignet. Ihre Initialen finden sich wieder in den Namen Frieda Brandenfeld im »Urteil« und als Fräulein Bürstner im »Prozess«. Interessant ist auch die Gestalt der Frieda im »Schloss«. Felice Bauer, die Kafka zum Zeitpunkt der Erzählung erst ein einziges Mal gesehen und der er zwei Tage vor der Niederschrift des »Urteils« einen ersten Brief nach Berlin geschickt hatte, diese Felice Bauer war die zweimalige Verlobte Kafkas, sozusagen über Jahre sein Lebensmensch. Ihr schrieb er über 500 Briefe. Die Jahre vom 20. September 1912 bis zum 16. Oktober 1917 stehen für die Zeit der inneren Krise Kafkas in Bezug auf Ehe und Konventionen, Familiengründung, soziale Absicherung und Energiebilanz in 7 Ebd. 28.

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Bezug auf das Schreiben oder/und die Paarbeziehung. Hinzu kommen die immer gravierender werdenden gesundheitlichen Probleme Kafkas. Seiner Schwester Ottla, seine intime Vertraute und »Brücke« zur Welt, teilt er am Vortag der ersten Entlobung von Felice folgende Sätze mit:« Ich schreibe anders als ich rede, ich rede anders als ich denke, ich denke anders als ich denken soll und so geht es weiter bis ins tiefste Dunkel.« (Brief an Ottla vom 10. Juli 1914). Diese Sätze müssen notwendig in Verbindung gebracht werden mit der Aussage Kafkas über das Schreiben an sich. »Nur im Schreiben also ist die wahre Wahrheit, die es nirgendwo sonst geben kann. Denn diese Wahrheit ist so geartet, daß, wer einmal mit ihr gelebt hat, wahnsinnig werden muß, wenn je sie sich ihm wieder entzieht; und das Leben selbst, die Welt, in welcher etwa Ehen geschlossen werden, ist dieser Entzug.«8

Wer also ist dieser Franz Kafka? 1883 als Sohn einer jüdischen Familie in Prag geboren, einziger überlebender Junge von ehemals drei Stammhaltern, drei Schwestern, alle in Auschwitz vergast, ein Prager Jude, ein Gymnasiast, der im Königreich Böhmen die deutsche Sprache liebt und das Altstädter deutsche Gymnasium im Kinsky-Palais besucht, ein Mann mit einem riesengroßen Vaterkomplex, ein leidenschaftlicher Schwimmer und Tennisspieler, ein passionierter Kinogänger, einer, für den das Studium der Chemie nichts war, einer, der gerne Germanistik studiert hätte, einer, der ohne große Lust ab 1902 das Studium der Rechtswissenschaft in Prag betreibt und 1906 den Doktortitel erwirbt, einer, der bei der Arbeiterunfallversicherungsanstalt arbeitet, auch ein Bordellbesucher, einer für den das Schreiben eine Form des Gebetes ist, ein Unentschlossener, ein Schriftsteller, der sein Werk vernichtet sehen will, aber eigentlich auch wieder nicht, einer, der diesen Auftrag seinem besten Freund Max Brod erteilt, der ihn für den größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts hält und deshalb nie an eine konsequente Vernichtung des Werkes von Kafka dachte, einer, der furchtbar gerne lachte, einer, der sich nie für die Frauen und gegen das Schreiben entscheiden kann, ein Tuberkulosekranker, der 1924 stirbt, einer, der einen Tag zuvor noch »alles (…) in den besten Anfängen« gefunden hatte (Brief vom 2. 6. 1924), einer, der die wirklich große Liebe durch und zu Dora Diamant erst am Ende des Lebens erfährt und nach seinem frühen Tod von Max Brod zum Propheten stilisiert

8 Heller, Erich: Einleitung zu Kafkas ›Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit‹ (1967); in: Franz Kafka, hg. von Heinz Politzer, Darmstadt 1973, 448 – 449.

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wird, und doch mit den Worten von Thomas Mann einer der großen »religiösen Humoristen«9. All das sind Facetten von Franz Kafka. Wir kehren zurück zum »Urteil« und stellen fest, dass wir noch die berühmte Tagebuchstelle Kafkas zur Textauslegung heranziehen müssen. Es findet sich, wie oben bereits erwähnt, eine Eintragung ins Tagebuch am Tag nach der Niederschrift: »Diese Geschichte »das Urteil« habe ich in der Nacht vom 22 zum 23 von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben. Die vom Sitzen steif gewordenen Beine konnte ich kaum unter dem Schreibtisch hervorziehn. Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte wie ich in einem Gewässer vorwärtskam. Mehrmals in der Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken. Wie alles gewagt werden kann, wie für alle, für die fremdesten Einfälle ein großes Feuer bereitet ist, in dem sie vergehn und auferstehn.(…) Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele. Vormittag im Bett. Die immer klaren Augen.«10

Was will uns dieser autobiographische Text mitteilen in Bezug auf das »Urteil« und seine Deutungsmöglichkeiten? Zunächst ist ein kurzer Exkurs zum Problem der Kafka-Deutung im allgemeinen nötig. Es gilt das hermeneutische Prinzip des französischen Autors Maurice Blanchot: »Was sich entzieht, ohne verborgen zu sein.«11 Die Faszination der Kafka-Texte hängt damit zusammen, dass »die meisten Texte zugänglich und verschlossen zugleich sind.«12 Sie sind zugänglich, »weil sie in einer klaren Sprache und mit einem einfachen Wortschatz verfasst sind, weil Figurenpersonal und Handlungsstruktur übersichtlich sind und die Geschichte auf einen definierten Protagonisten bezogen ist, (…). Die Verschlossenheit der Texte steht in direktem Bezug zu dieser Offenheit: Zwar sind die Texte gewissermaßen an jeder einzelnen Stelle zugänglich, aber man weiß nicht, »was das Ganze soll«. Sie scheinen zur Deutung aufzufordern, sich ihr aber andererseits zu verweigern (…).«13 Es gibt in der Kafkaforschung im Wesentlichen sechs verschiedene Ansätze der hermeneutischen Textinterpretation: 9 10 11 12

Politzer, Heinz: Einleitung; in: Franz Kafka, hg. von Heinz Politzer, Darmstadt 1973, 19. Kafka, Franz: Tagebücher 1912 – 1914, 101. Blanchot, Maurice: Warten Vergessen, Frankfurt am Main 1964, 63. Niehaus, Michael: Vorwort; in: Franz Kafka: Erzählungen Der Kaufmann, Das Urteil, Der Heizer, Vor dem Gesetz u. a., Oldenbourg Interpretationen hg. von Klaus-Michael Bogdal und Clemens Kammler, Bd.18, München 2010, 12. 13 Niehaus, Michael: Vorwort, in: Franz Kafka: Erzählungen u. a., 12.

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Die religiöse Deutung, die auch die jüdische Seite mit einbezieht. Die philosophische Deutung im Sinne des Existenzialismus. Die psychoanalytische Deutung im Hinblick auf Freuds Analysemodell. Die soziologische Deutung. Die biographische Deutung (Vaterkomplex; Frauenproblem). Die werkimmanente Deutung: Das Suchen und Finden im Text und im Subtext.14 Am Wichtigsten scheint mir aber demgegenüber das ganz genaue Lesen der Kafkatexte, das geradezu Abschreiten oder Durchschreiten des kafkaesken Raumes zu sein. Kafkas Schreiben ist ein Experiment des Suchens. »Gerade weil es eine Suchbewegung ist, kann das Werk Kafkas als eine Schule des Interpretierens genommen werden: (…) Die Beschäftigung mit Kafka kann uns lehren, dass Interpretieren eine Tätigkeit ist und sich nicht vornehmen darf, den Text einer umfassenden Interpretation zu unterziehen, sondern ihn aus einer bestimmten Perspektive in den Blick zu nehmen.«15 Meiner Meinung nach immer wieder neu in den Blick zu nehmen und die Perspektiven zu verändern. Es bleibt die Frage nach der Deutung des »Urteils«. Aus der Fülle der Deutungsmöglichkeiten möchte ich hier exemplarisch auf die folgenden verweisen: Es geht nicht um genaue Interpretation des Textes, sondern genau darum, was die Niederschrift des Textes für Kafka bedeutete. Indem er diesen Text schrieb, zeigt Kafka, dass er das Urteil des Vaters – anders als Georg Bendemann – nicht annehmen will. Letztlich ist »der ganze Text des Urteils als Argument Kafkas im Kampf gegen die Vaterautorität lesbar.«16 Peter von Matt beschreibt in seinem Aufsatz zum »Urteil« mit dem Titel »Eine Nacht verändert die Weltliteratur« aus dem Jahr 2006 die Schreibtätigkeit Kafkas als eine Art »Ekstase«17. »Die Erzählung setzt nicht ein Erlebnis literarisch um. Sondern im Schreiben dieser Geschichte erfährt sich der Autor als durchbrechend zur einzig richtigen Arbeit, (…)«.18 Kafka schreibt rückblickend auf den Schreibprozess des »Urteils« den Satz: »Mehrmals in dieser Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken.«19 Geradezu metaphorisch-erlösend ist meines Erachtens dieser Satz zu verstehen und erinnert an den heiligen Christopherus, der mit seiner schweren Last die Furt durchquert und erlöst wird. Die Erlösung

14 Schläbitz, Norbert: »Habent fata libelli«- Texte haben ihr Schicksal; in: Franz Kafka: Der Prozess und ausgewählte Parabeln, hg. von Johannes Diekhans. Erarbeitet und mit Materialien versehen von Norbert Schläbitz, Paderborn 2001, 274 – 285. 15 Niehaus, Michael: Vorwort, 8. 16 Niehaus, Michael: Das Urteil, 35. 17 Von Matt, Peter : Eine Nacht verändert die Weltliteratur ; in: Franz Kafka Neue Wege der Forschung, hg. von Claudia Liebrand, Darmstadt 2006, 102. 18 Von Matt, Peter : Eine Nacht verändert die Weltliteratur, 108. 19 Kafka, Franz: Tagebücher 1912 – 1914,101.

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erfolgt bei Kafka in der »Autonomie im Akt des Schreibens«.20 Kafka durchschreibt eine Phase, die einer »Initiations-Symbolik« gleicht.21

Zum Abschluss stellt sich noch einmal die Frage, was Kafka bei seinen Lesern erreichen möchte. Er möchte den Leser bzw. die Leserin zum Wiederlesen bewegen, zum genauen Wiederlesen, zum perspektivischen Lesen und anteiligen Lesen, ganz im Sinne von Hannah Arendts Erkenntnis: »Zum ersten Mal in der Geschichte der Literatur verlangt ein Künstler von seinem Leser das Wirken der gleichen Aktivität, die ihn und sein Werk trägt. (…) Es ist die Anstrengung einer realen Einbildungskraft, die Kafka überall vom Leser verlangt. Deshalb kann der passive Leser, wie er von der Tradition des Romans erzogen und gebildet wurde, und dessen einzige Aktivität in der Identifikation mit einer der Romanfiguren besteht, mit Kafka so wenig anfangen. Das gleiche gilt für den neugierigen Leser, der aus Enttäuschung über sein eigenes Leben Umschau hält nach einer Ersatzwelt, in der Dinge geschehen, die in seinem Leben durchaus nicht vorkommen wollen, oder der aus echter Wissensbegierde nach Belehrung ausschaut. (…) Nur der Leser, der, aus welchen Gründen und in welcher Unbestimmtheit auch immer, selbst auf der Suche nach Wahrheit ist, wird mit Kafka und seinen Modellen etwas anzufangen wissen. (…)«22 Hiermit möchte ich meine Betrachtungen zu Kafkas »Urteil« abschließen mit einem meiner Lieblingssätze aus der Parabel »Eine kaiserliche Botschaft«: Vorweg einzufügen wäre die Frage nach der Botschaft. Auf welche Botschaft warten wir Menschen? Die Parabel schließt mit dem kontemplativen Satz: »Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt.«23

20 21 22 23

De Matt, Peter : Eine Nacht verändert die Weltliteratur, 111. De Matt, Peter : Eine Nacht verändert die Weltliteratur, 109. Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition Essays, Frankfurt am Main 1976, 110. Kafka, Franz: Die Erzählungen, Frankfurt am Main 2008, 306.

Konstantina Papathanasiou

De gustibus et erroribus. Transzendentale Ästhetik und strafrechtliche Irrtumslehre

Einleitung »Urteilen lernen – Urteilen und der gute Geschmack«: Ein Tagungsthema, das förmlich den Geist der Interdisziplinarität atmet. Dass gerade literarische, künstlerische, theologische und pädagogische Perspektiven zu Fragen des Geschmacks diskutiert wurden, scheint naheliegend und offensichtlich. Weniger offensichtlich hingegen ist der Konnex der Rechtswissenschaft, einer normativen Disziplin: Auch aus einem rechtlichen Blickwinkel hängt das Urteilen eng mit dem Geschmack zusammen, wie es gerade bei (den Grenzen) der Meinungsfreiheit der Fall ist. Die Zusammenhänge sind allerdings auch im neuralgischen Bereich der Strafrechtsdogmatik virulent und bieten insbesondere den Irrtums- bzw. Vorsatzfragen eine neue Betrachtungsweise an: Hier wird dem Täter eine verwerfliche Handlung (Tun oder Unterlassen) zugerechnet, bei deren Begehung dieser Täter grundsätzlich ein Urteil für das Unrecht trifft. Dass eine Handlung als verwerflich zu sehen ist, geht aber darauf zurück, dass der Gesetzgeber diesbezüglich bereits eine Wertentscheidung getroffen hat. Gerade bei der Frage, wie sich das Urteil des Täters für die Begehung seiner Handlung und die gesetzgeberische Wertentscheidung miteinander verbinden könn(t)en, lässt sich die transzendentale Ästhetik fruchtbar lesen und somit wird hier der Versuch unternommen, Kantische Gedanken in die strafrechtliche Irrtumslehre einzuführen. Insofern ist im Folgenden de gustibus et erroribus die Rede.1

1 Abgewandelte Form des berühmten lateinischen Spruchs »de gustibus et coloribus non est disputandum«.

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1.

Konstantina Papathanasiou

Verständnisgrundlage: Strafrechtsdogmatik, Straftat und Straftatbestand

Es sei mit einigen erläuternden, notwendigen Vorbemerkungen begonnen: Die Strafrechtsdogmatik2 stellt jene Disziplin dar, »die sich mit der Auslegung, Systematisierung und Fortbildung der gesetzlichen Anordnungen und wissenschaftlichen Lehrmeinungen im Bereich des Strafrechts befasst«.3 Hauptgebiet der Strafrechtsdogmatik ist die Lehre von der Straftat, auch allgemeine Verbrechenslehre genannt, »weil sie unter Abstraktion von den einzelnen Tatbeständen des Besonderen Teils die allgemeinen Voraussetzungen der strafbaren Handlung umfasst«.4 Als Straftat wird im Einzelnen eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung verstanden; diesen allgemeinen Merkmalen der Straftat widmet sich der zweite Abschnitt des Allgemeinen Teils des deutschen Strafgesetzbuchs (StGB)5, wobei unter dem 1. Titel (»Grundlagen der Strafbarkeit«, §§ 13 – 216) einige Grundvoraussetzungen der Strafbarkeit behandelt werden. Insbesondere das erste Attribut »tatbestandsmäßig« wird jener Handlung (Tun oder Unterlassen) beigefügt, die »mit den vom Gesetz umschriebenen Merkmalen eines bestimmten Deliktstypus übereinstimmt«.7 Somit handelt es sich bei dem strafrechtlichen Tatbestand um den »Inbegriff der Merkmale, die ergeben, um welches Verbrechen es sich typisch handelt«.8 Nach dieser ursprünglichen (von Beling9 Anfang des 20. Jahrhunderts her2 Als Dogma ist gemeinhin ein zeitloser, die Struktur der Wirklichkeit abbildender Lehrsatz zu verstehen. Der Begriff stammt aus dem griechischen Wort d|cla (Meinung, Lehrsatz, Beschluss). Zu der geschichtlichen Entwicklung und dem je nach Wissenschaftsbereich unterschiedlichen Gebrauch des Worts »Dogma« und seiner Komposita bzw. Derivate (Dogmatik, dogmatisch, Dogmengeschichte u. a.) siehe Filser Hubert, Dogma, Dogmen, Dogmatik: Eine Untersuchung zur Begründung und zur Entstehungsgeschichte einer theologischen Disziplin von der Reformation bis zur Spätaufklärung, 2001, S. 13 ff., 46 ff. 3 Roxin Claus, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl., 2006, § 7, Rn. 1. 4 Roxin Claus, Strafrecht, AT I, § 7, Rn. 1. 5 Als Ausfertigungsdatum des Strafgesetzbuchs gilt der 15. 05. 1871, der Text in seiner aktuellsten Fassung stammt allerdings aus der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322) und zuletzt ist er durch Artikel 5 des Gesetzes vom 21. Januar 2013 (BGBl. I S. 95) geändert worden. Zur geschichtlichen Entwicklung siehe MüKo-Joecks, Einleitung, Rn. 77 ff. 6 Paragraphen ohne Gesetzesangabe sind solche des deutschen StGB. 7 So die ganz absolut herrschende Meinung – aus der Lehrbuchliteratur siehe nur Roxin Claus, Strafrecht, AT I, § 7, Rn. 4; aus der Kommentarliteratur siehe 28Sch/Schr-Lenckner/Eisele, Vor §§ 13, Rn. 12, die ferner erklären: »[D]ie Rechtswidrigkeit bezeichnet das den Widerspruch zu den generellen Sollens-Anforderungen des Rechts ausdrückende negative Werturteil über die Tat, während die Schuld den Sachverhalt meint, auf Grund dessen dem Täter aus seiner Tat ein Vorwurf gemacht werden kann« (Hervorhebung im Original). 8 Beling Ernst, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 3. 9 Zum Leben von Ernst Ludwig Beling (19. 6. 1866 – 18. 5. 1932) siehe statt anderen Kern Eduard,

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ausgearbeiteten) Definition sollte der Straftatbestand von seiner Beschaffenheit her »ganz objektiv und von allen subjektiven Momenten derart frei« sein.10 Die juristische Praxis hat jedoch als Lehrmeisterin gezeigt, dass der Straftatbestand nicht ausschließlich durch die Objektivität und die Wertfreiheit charakterisiert werden kann. Vielmehr hat sich die Anerkennung jeweils des subjektiven Tatbestands (d. h. von innerseelischen Momenten, worunter man Vorsatz und Fahrlässigkeit versteht) und der normativen Tatbestandsmerkmale als unverzichtbar erwiesen.11 In Betracht bezüglich des Ersteren kommt § 15 (vorsätzliches und fahrlässiges Handeln)12 und bezüglich der Letzteren § 16 I (Irrtum über Tatumstände)13, wobei eine einzige Lektüre beider genannten Vorschriften für die Feststellung ausreicht, dass diese inhaltlich in einer sich gegenseitig ergänzenden Weise verbunden sind: Das Strafgesetzbuch enthält keine Begriffsbestimmung von Vorsatz (bzw. Fahrlässigkeit), während § 16 I sich mit der Kehrseite des Vorsatzes befasst, nämlich mit dem Tatbestandsirrtum14. Dass die Unkenntnis

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Ernst Beling. Ein Nachruf, in: Der Gerichtssaal 1933, Bd. 103, S. 37 ff.; Plate Hartwig, Ernst von Beling 1866 – 1932: Strafrechtslehrer in Tübingen von 1902 – 1913, in: Lebensbilder zur Geschichte der Tübinger Juristenfakultät, 1977, S. 121 ff. Der König von Württemberg hat dem berühmten Strafrechtsdogmatiker im Jahr 1912 das Ehrenkreuz des Ordens verliehen, der Letztere hat aber auf das Adelsprädikat »von« verzichtet und selber es nie verwendet (vgl. dazu Plate Hartwig, Ernst Beling als Strafrechtsdogmatiker : Seine Lehren zur Begriffs- und Systembildung, 1966, S. 13, Fn. 1). Beling Ernst, Die Lehre vom Verbrechen, S. 178. Vgl. dazu Roxin Claus, Strafrecht, AT I, § 10, Rn. 7 ff.; Plate Hartwig, Ernst Beling als Strafrechtsdogmatiker, S. 48 ff., 122 ff. Aus der österreichischen Lehre siehe statt vieler Nowakowski Friedrich, Perspektiven zur Strafrechtsdogmatik: ausgewählte Abhandlungen, 1981, S. 113 ff. m. w. N. Vgl. Roxin Claus, Strafrecht, AT I, § 10, Rz. 8 ff. »Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht.« Vgl. allerdings § 7 österr. StGB; der österreichische Strafgesetzgeber hat im Gegensatz zum deutschen ganz präzis und akribisch sowohl das vorsätzliche (§ 5 österr. StGB) als auch das fahrlässige (§ 6 österr. StGB) Handeln definiert. Dazu siehe näher Triffterer Otto, Österreichisches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., 1994, S. 157 ff. »(1) Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt. (2) Wer bei Begehung der Tat irrig Umstände annimmt, welche den Tatbestand eines milderen Gesetzes verwirklichen würden, kann wegen vorsätzlicher Begehung nur nach dem milderen Gesetz bestraft werden.« Der Tatbestandsirrtum ist von dem im § 17 geregelten Verbotsirrtum zu differenzieren: »(1) Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. (2) Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.« Der österreichische Strafgesetzgeber war diesbezüglich wieder präziser und akribischer, indem er selbständig sowohl die »irrtümliche Annahme eines rechtfertigenden Sachverhaltes« (§ 8 österr. StGB) als auch den »Rechtsirrtum« (§ 9 österr. StGB) geregelt hat. Dazu siehe repräsentativ Fuchs Helmut, Österreichisches Strafrecht, AT I, Kap. 23, Rn. 19 ff.

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der zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden Umstände gemäß § 16 I den Vorsatz ausschließt, bedeutet zugleich umgekehrt, dass vorsätzlich handelt, wer die Summe der Voraussetzungen kennt, die das Unrecht der Tat typischerweise kennzeichnen.15 Beide Zusatzerfordernisse des Straftatbestandes (d. h. der subjektive Tatbestand und die normativen Tatbestandsmerkmale) stellen dementsprechend ein Rätsel für die Strafrechtsdogmatik dar, nicht aber als solche sondern vielmehr erst in ihrer unabdingbaren Interaktion: d. h. Vorsatz in Bezug auf [bzw. Irrtum über] normative Tatbestandsmerkmale).16

3.

Vorsatzinhalt und Klassifizierungen der Tatbestandsmerkmale

1. Das zweite Zusatzerfordernis, d. h. die Erschütterung der Lehre von der Wertfreiheit des Straftatbestandes durch die Entdeckung der normativen Tatbestandsmerkmale, bedeutet im Einzelnen, dass der Straftatbestand kein rein deskriptiver ist, sondern dass vielmehr normative Bestimmungen an ihn anknüpfen und dass in ihm doch eine rechtliche Bedeutung erkennbar ist.17 Wie Welzel plastisch bemerkt, umschreibt das Gesetz in den Tatumständen »ein bestimmtes menschliches Verhalten im sozialen Raum: die Tötung eines Menschen, die Zueignung einer fremden beweglichen Sache, die Herstellung einer unechten Urkunde, die Vornahme einer unzüchtigen Handlung usf. Das Sein, in dem sich dieses Verhalten abspielt, ist nicht die sinnfreie Realität der Naturwissenschaft, sondern die von Sinnbezügen durchzogene, bedeutungshaltige Wirklichkeit des sozialen Lebens. Von den Bestandsstücken dieser Wirklichkeit ist ein Teil sinnlicher Wahrnehmung zugänglich, ein anderer Teil nur geistig verstehbar. So sind ›Mensch‹, ›Sache‹, ›beweglich‹, ›Töten‹ sinnlich wahrnehmbar. Man nennt solche Tatumstände, ›deskriptiv‹. 15 Lackner/Kühl, § 16, Rn. 4; SK-Rudolphi, § 16, Rn. 6 ff.; 28Sch/Schr-Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 7, 16. Genau umgekehrt ist die Sachlage in der österreichischen Strafrechtswissenschaft: Da kommt insbesondere der Begriff »Tatbildirrtum« vor, der im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt ist, sondern als Fehlen des Vorsatzes indirekt aus der Vorsatzdefinition des § 5 österr. StGB folgt. Dazu siehe nur Fuchs Helmut, Österreichisches Strafrecht, AT I, 7. Aufl., 2008, Kap. 14, Rn. 42 ff.; Triffterer Otto, Österreichisches Strafrecht, AT, S. 423 ff. 16 Maurach/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Teilband I, 8. Aufl., 1992, § 37, Rn. 48, redet diesbezüglich von dem »derzeit am wenigsten gelöste[n] Problem der gesamten Irrtumslehre«, während Steininger Einhard, Der Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, in: JurBl 1987, S. 205, hervorhebt, dass »Fehlannahmen über normative Tatbestandsmerkmale zu den schwierigsten und noch am wenigsten geklärten Problemen der strafrechtlichen Irrtumslehre gehören«. Siehe ferner Schmidt-Leichner Erich, Unrechtsbewusstsein und Irrtum in ihrer Bedeutung für den Vorsatz im Strafrecht, 1935, S. 1. 17 So lassen sich die durch Beling Ernst, Lehre vom Verbrechen, S. 112, 147 ff., 210, abgelehnten Charakteristika des Straftatbestandes in antithetischer Form fassen.

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Aber was ›fremd‹, ›unecht‹, ›Urkunde‹, ›unzüchtig‹ ist, ist nur zum Teil sinnlich wahrnehmbar, zum größeren Teil dagegen allein geistig verstehbar (sogenannte normative Tatumstände).«18

Die normativen Tatbestandsmerkmale, die von Max-Ernst Mayer19 eingebürgert wurden, beinhalten somit (nach heutigem Verständnis20) eine zusätzliche Bewertung und können »überhaupt nur unter logischer Voraussetzung einer Norm vorgestellt und gedacht werden«.21 Nachdem aber die normativen Tatbestandsmerkmale in den Straftatbestand eingeführt wurden, ergab sich umgehend die naheliegende Frage ihrer Abgrenzung von den deskriptiven Tatbestandsmerkmalen, die wiederum u. a. für die Lehre vom Vorsatz wichtig ist22 – so tritt auch das erste Zusatzerfordernis in den Vordergrund, dass nämlich für den Straftatbestand auch innerseelische Momente entscheidend sind (subjektiver Tatbestand: Vorsatz und Fahrlässigkeit; im vorliegenden Kontext wird allerdings nur auf den Vorsatz fokussiert). Umgangssprachlich ist der Vorsatz »[d]asjenige, was man sich vorsetzt, der auf Überlegung gegründete Entschluß, etwas zu thun oder zu unterlassen«.23 18 Welzel Hans, Das deutsche Strafrecht: Eine systematische Darstellung, 11. Aufl., 1969, S. 75 f. 19 Mayer Max-Ernst, Der Allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, Lehrbuch, 1915, S. 182 ff. 20 Mayer Max-Ernst, Strafrecht AT, S. 182 ff. Nach der ursprünglichen Definition waren normative Tatbestandsmerkmale nicht nur jene, die der sinnlichen Wahrnehmung entzogen sind und »lediglich wertbestimmende Bedeutung haben«, sondern ihnen wurde auch die Kraft zugeschrieben, die Rechtswidrigkeit nicht bloß zu indizieren, sondern auch zu begründen. Die normativen Tatbestandsmerkmale sind »einer mit der einen Spitze im gesetzlichen Tatbestand, mit der anderen in der Rechtswidrigkeit verankerten Klammer vergleichbar« (S. 182). 21 Engisch Karl, Die normativen Tatbestandsmerkmale, in: Festschrift für Edmund Mezger zum 70. Geburtstag, 1954, S. 127 ff., 147. Siehe ferner Roxin Claus, Strafrecht, AT I, § 10, Rn. 58 und LK-Vogel, § 16, Rn. 25. 22 So Roxin Claus, Strafrecht, AT I, § 10, Rn. 57. Es ist nicht möglich, präzise zwischen deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmalen zu unterscheiden; deswegen wurden bisher alle denkbaren Varianten im Schrifttum vertreten – im Einzelnen: (a) alle Merkmale seien mehr oder weniger deskriptiv oder normativ (so Baumann Jürgen, Implizierte Rechtswidrigkeit bei Tatbestandsfassungen, in: JZ 1960, S. 8 ff., 9; Kohlmann Günter, Der Begriff des Staatsgeheimnisses [§ 93 StGB und § 99 Abs. 1 StGB a. F.] und das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften [Art. 103 Abs. 2 GG], 1969, S. 236, 256; Stratenwerth Günter/Kuhlen Lothar, Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 5. Aufl., 2004, § 8, Rn. 69), (b) es gebe nur deskriptive Merkmale (so Kunert Karl Heinz, Die normativen Merkmale der strafrechtlichen Tatbestände, 1958, S. 84 ff., 93), (c) es gebe nur normative Merkmale (so Goldschmidt James, Normativer Schuldbegriff, in: Festgabe für Reinhard von Frank zum 70. Geburtstag, Bd. I, 1930, S. 428 ff., 448; Wolf Erik, in: Festgabe für das Reichsgericht, Bd. V, 1929, S. 55 f.), (d) es sei auf diese Trennung überhaupt zu verzichten (so Dopslaff Ulrich, Plädoyer für einen Verzicht auf die Unterscheidung in deskriptive und normative Tatbestandsmerkmale, in: GA 1987, S. 1 ff.). 23 So die noch heute aktuelle, bereits vor über 200 Jahren formulierte Definition nach Campe Joachim Heinrich, Wörterbuch der deutschen Sprache, fünfter und sechster Theil: u bis z, 1811, S. 497.

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Strafrechtlich ist Vorsatz im Wesentlichen der »Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner Tatumstände«24 oder, einer durch die überwiegende Meinung annehmbaren Kurzformel zufolge, »Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung«.25 Der Vorsatz verfügt insofern über eine intellektuelle wie auch eine voluntative Seite, wobei die Irrtumslehre vor allem den ersteren Aspekt der subjektiven Zurechnung betrifft.26

Ein Exkurs sine quo non Eine der anspruchsvollsten Fragen der Strafrechtsdogmatik lautet: Wozu gehört das Unrechtsbewusstsein des Täters? Grundsätzlich kommen zwei Antworten in Betracht: zum Vorsatz oder zur Schuld. Dementsprechend bestand für mehrere Jahrzehnten Streit innerhalb der Strafrechtsdogmatik, ob der sog. Vorsatz- oder der Schuldtheorie zu folgen ist, wobei bezüglich beider Theorien sowohl strenge als auch gemäßigte Variationen vertreten werden.27 Herkömmlicherweise sprechen die Vorsatztheorien von einem »bösen Vorsatz« (dolus malus), da der Vorsatz als Schuldelement gesehen wird, das das tatbezogene Unrechtsbewusstsein des Täters beinhaltet. Zum Vorsatz gehört mit anderen Worten auf der Wissensseite neben der Kenntnis der Tatumstände auch »als Kernstück und Grundlage« das Bewusstsein, Unrecht zu tun.28 Nach vorsatztheoretischem Verständnis sind somit Tatbestands- und Verbotsirrtum nicht voneinander zu trennen, da beide zum gleichen Ergebnis führen. 24 Siehe repräsentativ die Entscheidung BGHSt 19, 295 (298). 25 So fast die gesamte Lehrbuch-, Kommentar und Aufsatzliteratur (trotz der parallelen Anerkennung der Unvollständigkeit bzw. Ungenauigkeit der Formel): siehe u. a. Baumann Jürgen/Weber Ulrich/Mitsch Wolfgang, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Lehrbuch, 11. Aufl., 2003, S. 471, Rn. 6 ff.; Bung Jochen, Wissen und Wollen im Strafrecht: Zur Theorie und Dogmatik des subjektiven Tatbestands, 2009, S. 154 ff.; Fischer, § 15, Rn. 4; Geppert Klaus, Zur Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit, insbesondere bei Tötungsdelikten, in: Jura 2001, S. 55 ff.; Jescheck Hans-Heinrich/Weigend Thomas, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 29 II 2; MK-Joecks, § 16, Rn. 10; Köhler Michael, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1997, S. 149; Krey Volker, Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band 1, 2. Aufl., 2004, Rn. 336; Lackner/Kühl, § 15, Rn. 3; NK-Puppe, § 15, Rn. 14; Roxin Claus, Strafrecht, AT I, § 12, Rn. 4; SK-Rudolphi, § 15, Rn. 1; Spendel Günter, Zum Begriff des Vorsatzes, in: Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag, 1987, S. 167 ff., S. 187 ff.; 28 Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 9; Stratenwerth Günter/Kuhlen Lothar, Strafrecht, AT I, § 8, Rn. 61 ff.; LK-Vogel, Vor § 15, Rn. 56 ff.; Welzel Hans, Strafrecht, S. 64 in fine. 26 Schmidhäuser Eberhard, Strafrecht, 2. Aufl., 1984, 8/26 ff., 10/26 ff.; 28Schönke/Schröder/ Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 9 ff. m.w.V. 27 Näher hierzu Papathanasiou Konstantina, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, Zweites Kapitel, B. 28 Siehe nur 10Schönke-Schröder, § 59 V.

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Die Schuldtheorien hingegen erkennen den dolus malus nicht an und spalten ihn in den Tatvorsatz, auf den sie den Vorsatzbegriff beschränken (demzufolge auch die oben erwähnte Kurzformel von »Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung«29), und das Unrechtsbewusstsein als außerhalb des Vorsatzes stehendes Schuldelement.30 Ziel der Schuldtheorien ist es, den im Verbotsirrtum handelnden Täter auch dann bestrafen zu können, wenn die fahrlässige Begehung des von ihm verwirklichten Unrechts vom Gesetzgeber nicht explizit unter Strafe gestellt worden ist.31 Nach den entscheidenden Urteilen des Bundesgerichtshofs vom 18. 3. 195232 und des Bundesverfassungsgerichts vom 17. 12. 197533 ist herrschend – und zumindest für die Rechtsprechung unbestreitbar – die Schuldtheorie, die Anwendung schlechthin derer §§ 16 und 17 darstellen34, wobei zwischen den unterschiedlichen Folgen eines Tatbestands- und eines Verbotsirrtums differenziert wird (siehe oben Fn. 15). Alles, was bisher erläutert wurde und noch ausgeführt werden wird, steht ebenfalls auf dem Boden dieser Theorie. Was macht nun aber genauer den Vorsatzinhalt aus, worauf bezieht er sich? Mit dieser Frage fängt die Erörterung des oben erwähnten Rätsels an, denn, wie vorangekündigt, ist die Abgrenzung der normativen von den deskriptiven Tatbestandsmerkmalen gerade für die Bestimmung des Vorsatzinhalts wichtig. Im Einzelnen: Nach der herrschenden Meinung wird der Vorsatz bezüglich deskriptiver Tatbestandsmerkmale durch das bloße Erkennen der Tatsachen begründet35, 29 Welzel Hans, Strafrecht, S. 64 in fine. 30 Baumann Jürgen / Weber Ulrich / Mitsch Wolfgang, Strafrecht AT, S. 509; Tischler Werner Georg, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale: Dogmengeschichte eines Abgrenzungsproblems, 1984, S. 108. Diese Theorie wird ebenfalls vom österreichischen Gesetzgeber in § 9 Abs. 1 österr. StGB normiert. 31 Busch Richard, Moderne Wandlungen der Verbrechenslehre, S. 29 ff.; Drost Heinrich, in: NJW 1949, S. 741; Hardwig Werner, Pflichtirrtum, Vorsatz und Fahrlässigkeit, in: ZStW 78 (1966), S. 1 ff., S. 5 ff.; Hartung Fritz, Irrtum über »negative Tatumstände«, in: NJW 1951, S. 209 ff., S. 210; Sax Walter, Streifzüge durch den Entwurf des Allgemeinen Teils eines Strafgesetzbuches nach den Beschlüssen der Großen Strafrechtskommission, in: ZStW 69 (1957), S. 412 ff., 429. 32 BGHSt 2, 194 (206 ff.). 33 BVerfGE 41, 121. 34 Über die letzten Jahrzehnte hindurch ist eine zunehmende Tendenz zu vorsatztheoretischen Gedanken festzustellen, und zwar bezüglich der Randzonen des Strafrechts, d. h. innerhalb des sog. Nebenstrafrechts (siehe ergänzend weiter Fn. 119 und 120). Von Schmidhäuser Eberhard, Unrechtsbewußtsein und Schuldgrundsatz, in: NJW 1975, S. 1807 ff., 1811, und Langer Winrich, Vorsatztheorie und strafgesetzliche Irrtumsregelung: Zur Kompetenzabgrenzung von Strafgesetzgebung, Verfassungsgerichtsbarkeit und Strafrechtswissenschaft, in: GA 1976, S. 193 ff., wurde in den 80er Jahren sogar die Meinung vertreten, der Schuldtheorie sei bereits de lege lata nicht ohne Weiteres zu folgen. 35 Herberger Maximilian, Die deskriptiven und die normativen Tatbestandsmerkmale im

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während bei den normativen Tatbestandsmerkmalen zu dieser reinen Tatsachenkenntnis eine Bedeutungskenntnis hinzukommt36, und zwar im Sinne einer Parallelwertung in der Laiensphäre.37 Da aber die rein rechtlich-normativen Tatbestandsmerkmale (wie z. B. »Urkunde«, »Behörde«) eher juristisch als laienhaft zu begreifen sind38 (so insbesondere im Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts der Fall), erweist sich das Kriterium der Parallelwertung in der Laiensphäre als ungenügend. 2. In vollem Umfang entfaltet sich allerdings das Rätsel tatsächlich erst, wenn zusätzlich zwischen normativen Tatbestandsmerkmalen und Blankettmerkmalen unterschieden wird. Als Blankettstrafgesetz wird ein Strafgesetz verstanden, das ein verbotenes Verhalten nicht vollständig beschreibt, sondern vom Inhalt anderer Normen abhängig macht.39 Dabei handelt es sich um »Deliktstypen, deren Tatbestände unvollkommen sind«40, weil hinsichtlich der Strafbarkeitsvoraussetzungen – ganz oder teilweise, ausdrücklich oder sinngemäß, statisch oder dynamisch – auf andere gesetzliche oder untergesetzliche Normen und ggf. auch auf Verwaltungsakte verwiesen wird.41 Paradebeispiel hierzu stellt der Straftatbestand der Steuerhinterziehung42 dar

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Strafrecht, in: Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 124 ff.; Jescheck Hans-Heinirch / Weigend Thomas, Strafrecht AT, § 26 IV 1, § 29 II 3; Roxin Claus, Strafrecht, AT I, § 10, Rn. 58; § 12, Rn. 89; SK-Rudolphi, § 16, Rn. 21; Schroth Ulrich, Vorsatz und Irrtum, 1998, S. 17 ff. Siehe bereits BGHSt 3, 248 (255). So Mezger Edmund, Strafrecht: Ein Lehrbuch, 3. Aufl., 1949, S. 328. Welzel Hans, Der Parteiverrat und die Irrtumsprobleme, in: JZ 1954, S. 276 ff., 279, hat den Begriff der »Parallelbeurteilung im Täterbewusstsein« eingeführt. Vgl. auch Baumann Jürgen / Weber Ulrich / Mitsch Wolfgang, Strafrecht AT, S. 498; Fischer, § 16, Rn. 14; Jakobs Günther, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., 1993, 8/49; Jescheck Hans-Heinirch / Weigend Thomas, Strafrecht AT, § 29 II 3a; MK-Joecks, § 16, Rn. 41 f.; Kaufmann Arthur, Die Parallelwertung in der Laiensphäre: Ein sprachphilosophischer Beitrag zur allgemeinen Verbrechenslehre, 1982, S. 20; Otto, Der vorsatzausschließende Irrtum in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in: Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer, 1990, S. 583 ff., 587; Roxin Claus, Strafrecht, AT I, § 12, Rn. 101; SK-Rudolphi, § 16, Rn. 23; Triffterer Otto, Österreichisches Strafrecht, AT, S. 424; LK-Vogel, § 16, Rn. 25 ff. Roxin Claus, Über Tatbestands- und Verbotsirrtum, in: Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, 2008, S. 375 ff., 378 ff. Binding Karl, Die Normen und ihre Übertretungen: Eine Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die Arten des Delikts, Bd. I, 2. Aufl., 1890, S. 161 ff. Weiz Gerhart, Die Arten des Irrtums: Ein Beitrag zur allgemeinen Strafrechtslehre, 1931, S. 29. Roxin Claus, Strafrecht, AT I, § 5, Rn. 40, § 12, Rn. 110; Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 2 GG, Rn. 199; Tiedemann Klaus, Wirtschaftsstrafrecht: Einführung und Allgemeiner Teil mit wichtigen Rechtstexten, 2. Aufl., 2007, Rn. 99 ff.; LK-Vogel, § 16, Rn. 36. Zu den Problemen der strafrechtlichen Blankettgesetzgebung im Allgemeinen siehe statt vieler Schünemann Bernd, Die Regeln der Technik im Strafrecht, in: Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag, 1987, S. 367 ff. Gemäß § 370 AO wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer

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und zu den heute äußerst umstrittenen Fragen gehört gerade die Qualifikation des Steueranspruchs bzw. der steuerlich erheblichen Tatsachen als normatives Tatbestandsmerkmal43 oder als Blankett44. Wie kompliziert die einschlägige Sachlage aussieht, zeigen folgende zwei Sätze: »Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei normativen Tatbestandsmerkmalen und Blanketttatbeständen (sowie aus umgekehrtem Blickwinkel: die Abgrenzung zwischen untauglichem Versuch und Wahndelikt) ist durch eine in ihren Details mittlerweile nicht mehr übersehbare Meinungsvielfalt geprägt. Die verschiedenen Ansichten unterscheiden sich oft nur im Detail bzw. bei einzelnen Tatbeständen, für welche in bestimmten Konstellationen ein bestimmtes Ergebnis als unangemessen betrachtet und deshalb eine weitere ›Untermodifikation‹ einer bestehenden Theorie postuliert wird.«45

Genau wie bei der Abgrenzung der normativen von den deskriptiven Tatbestandsmerkmalen entfaltet sich verständlicherweise auch die praktische Be»1. den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oderunvollständige Angaben macht, 2. die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt oder 3. pflichtwidrig die Verwendung von Steuerzeichen oder Steuerstemplern unterlässt und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt«. Zu der österreichischen Regelung der sog. »Abgabenhinterziehung« (§ 33 BAO) und dem österreichischen Steuerstrafrecht im Allgemeinen siehe nur Leitner Roman, Österreichisches Finanzstrafrecht, 3. Aufl., 2008; Seiler/Seiler, Finanzstrafgesetz, 3. Aufl., 2011. Rechtsvergleichender Überblick über die Rechtslage in anderen Ländern in Dannecker Gerhard/Jansen Oswald, Steuerstrafrecht in Europa und den Vereinigten Staaten, 2007; Leitner Roman, Steuerstrafrecht international, 2007; Frommelt Heinz / Holenstein Daniel / Leitner Roman / Spatscheck Rainer, Steuerfahndung im Dreiländereck, 2009. 43 So u. a. Bachmann Jochen, Vorsatz und Rechtsirrtum im Allgemeinen Strafrecht und im Steuerstrafrecht, 1993, S. 172 f.; Backes Peter, Zur Problematik der Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum im Steuerstrafrecht, 1981, S. 158; LK-Dannecker, § 1, Rn. 149; Enderle Bettina, Blankettstrafgesetze: Verfassungs- und strafrechtliche Probleme von Wirtschaftsstraftatbestände, 2000, S. 243 f.; von der Heide Maria Isabella, Tatbestands- und Vorsatzprobleme bei der Steuerhinterziehung nach § 370 AO: zugleich ein Beitrag zur Abgrenzung der Blankettstrafgesetze von Strafgesetzen mit normativen Tatbestandsmerkmalen, 1986, S. 199 ff.; Tiedemann Klaus, Wirtschaftsstrafrecht, Besonderer Teil mit wichtigen Gesetzes- und Verordnungstexten, 2. Aufl., 2008, § 4, Rn. 113; Walter Tonio, Ist Steuerstrafrecht Blankettstrafrecht?, in: Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, 2008, S. 969 ff., 977 ff. Vgl. auch Puppe Ingeborg, Vorsatz und Rechtsirrtum, in: Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum siebzigsten Geburtstag, 2008, S. 275 ff., 293 f. 44 So die h. M. – siehe u. a. BVerfGE 37, 201 (208); BGH NStZ 1982, 206; BGHSt 20, 177 [180]; Reiß Wolfram, Zur Abgrenzung von untauglichem Versuch und Wahndelikt am Beispiel der Steuerhinterziehung, in: wistra 1986, S. 193 ff., 199; MüKo-Schmitz/Wulf, § 370 AO, Rn. 323; Warda Heinz-Günter, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, 1955, S. 13 f. Vgl. ferner die aktuelle Entscheidung BVerfGE NJW 2011, 3778. 45 Kudlich Hans, Anmerkung zu OLG Köln, Beschluß vom 4. 3. 2004 – 2Ws 702/03, StraFo 2004, 282, in: JuS 2004, S. 1015 ff., 1016 m.w.N.

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deutung der Unterscheidung der normativen Tatbestandsmerkmale von den Blankettstrafgesetzen in subjektivem Tatbestand bzw. in der Irrtumslehre.46 Hier wird bezüglich der Blankettstrafgesetze nicht nach der Kenntnis des sozialen Bedeutungsgehalts gefragt: Nach der herrschenden Meinung im Schrifttum und der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Täter lediglich die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale der außerstrafrechtlichen Norm kennen und wollen.47 Das Thema erreicht den Gipfel auf verfassungsrechtlicher Ebene: Bei den Blankettstrafgesetzen müssen nach h. M. sowohl das Strafgesetz als auch die Ausfüllungsnorm Art. 103 Abs. 2 GG genügen; der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz gilt dagegen nicht für Normen, die zur Konkretisierung rechtsnormativer Tatbestandsmerkmale erforderlich sind.48 Die Abgrenzung der normativen Tatbestandsmerkmale von den Blankettstrafgesetzen erweist sich jedoch als willkürlich, denn es wird außer Acht gelassen, dass die Verweisung auf außerstrafrechtliche Normen als ein normatives Element doch Teil des Tatbestandes und damit auch Bezugspunkt des Vorsatzes ist.49 Wie bei den rechtsnormativen Tatbestandsmerkmalen muss der Täter auch bei den Blankettstrafgesetzen die Ausfüllung der Verweisung mit vollzogen haben – anders gesagt: Der Täter muss die Normen oder zumindest die Wertungsergebnisse kennen.50 Der willkürliche Charakter der erwähnten Differenzierung lässt sich ferner sowohl durch die Tatsache bestätigen, dass das, was eine Blankett ist, manchmal nur eine Zufälligkeit ist51, als auch dadurch, dass »das Attribut des Normativen nicht etwa einigen Tatbestandsmerkmalen kraft Gesetzes verliehen worden [ist], sondern die Dogmatik die Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Elementen entwickelt«52 hat. 3. Die Palette vervollständigen die durch Roxin eingeführten sog. gesamt-

46 Näher dazu Papathanasiou Konstantina, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, Erstes Kapitel, B. I. und D. 47 Backes Peter, Tatbestands- und Verbotsirrtum im Steuerstrafrecht, S. 112 – 113; StaubDannecker, HGB, Vor §§ 331 ff., Rn. 96; Jescheck Hans-Heinirch/Weigend Thomas, Strafrecht, AT, § 29 V 3; Maiwald Manfred, Unrechtskenntnis, S. 16; NK-Puppe, § 16, Rn. 60 – 67; LK-Vogel, § 16, Rn. 36 ff.; Warda Werner Georg, Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, S. 36 ff. 48 Vgl. LK-Dannecker, § 1, Rn. 149, 217; Enderle Bettina, Blankettstrafgesetze, S. 131 ff., 173, 228 ff. m. w. N.; BVerfG NVwZ 2009, 239 (240). 49 Tiedemann Klaus, Zum Stand der Irrtumslehre, insbesondere im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht, in: Festschrift für Friedrich Geerds zum 70. Geburtstag, 1995, S. 95 ff., 108. 50 Dannecker Gerhard, Anmerkung zu OLG Karlsruhe, Beschluß vom 18. 10. 1999 – »Renchtäler Rahmkäse«, Zur Bedeutung unübersichtlicher Verweisungsketten im Lebensmittelstrafrecht und zur Einordnung von Irrtümern über außerstrafrechtliche Ausfüllungsnormen, in: ZLR 2000, S. 58 ff., 64; Tiedemann Klaus, in: Festschrift für Geerds, 1995, S. 108. 51 So Tiedemann Klaus, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 100. 52 So treffend Schlüchter Ellen, Der Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, 1983, S. 21.

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tatbewertenden Merkmale53, bei denen es sich um jene Merkmale handelt, die zugleich von beschreibender und unrechtsbestimmender Beschaffenheit sind und die den Täter unmittelbar seine Rechtspflicht erkennen lassen.54 Das Wesen der gesamttatbewertenden Merkmale liegt nach der Formulierung Roxins darin, dass die Kenntnis eines solchen Merkmals im Regelfall notwendig mit der Verbotskenntnis zusammenfalle55, und der Irrtum darüber sei deswegen bald Tatbestands-, bald Verbotsirrtum.56 4. Noch konfuser und komplexer sieht die Suche nach dem Vorsatzgegenstand durch den vielfältigen und manchmal sogar uneinheitlichen Begriffsgebrauch aus: So redet beispielsweise Schlüchter von einer »teleologisch-reduzierten Sachverhaltssicht«57, Bezug nehmend auf die Ausführungen des Sprachtheoretikers Searle58 unterscheidet Darnstädt zwischen natürlichen und institutionellen Tatsachen59, während Puppe zwischen Irrtümern über natürliche Tatsachen, über institutionelle Tatsachen, über Bewertungen von Tatsachen, über den Inhalt blankettausfüllender Normen und über die Subsumierbarkeit der Tatsachen differenziert.60 5. Nicht zu übersehen ist ferner die zunehmende Tendenz innerhalb des Schrifttums, die reichsgerichtliche Rechtsprechung zum Irrtum wiederzubeleben61: Das Reichsgericht wollte im Allgemeinen zwischen Irrtum über Tatsachen (Tatirrtum, error facti) und Irrtum über Rechtsbegriffe (Rechtsirrtum, error iuris) unterscheiden62, wobei sich der Letztere weiter in den außerstrafrechtli53 Vgl. Herdegen Gerhard, Der Verbotsirrtum in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: 25 Jahre Bundesgerichtshof, 1975, S. 195 ff.; Jescheck Hans-Heinirch / Weigend Thomas, Strafrecht AT, § 25 II 2, § 41 II 1a; Krümpelmann Justus, Stufen der Schuld beim Verbotsirrtum: Zugleich eine Stellungnahme zur Behandlung des Irrtums über Rechtfertigungsgründe im Entwurf 1962 und im Alternativ-Entwurf, in: GA 1968, S. 129 ff.; Puppe Ingeborg, Tatirrtum, Rechtsirrtum und Subsumtionsirrtum, in: GA 1990, S. 145 ff., 177; Schaffstein Friedrich, Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum, in: Göttinger Festschrift für das Oberlandesgericht Celle zum 250jährigem Bestehen des Oberlandesgerichts Celle, 1961, S. 175 ff.; LK-Vogel, § 16, Rn. 50. 54 Roxin Claus, Offene Tatbestände, S. 81. 55 Roxin Claus, Offene Tatbestände, S. 86. 56 Roxin Claus, Offene Tatbestände, S. 132 ff. 57 Schlüchter Ellen, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 100 ff. 58 Searle John R., Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, übersetz von R. und R. Wiggershaus, 1. Aufl. (Nachdr.), 2010, S. 78 ff.; vgl. Puppe Ingeborg, in: GA 1990, Fn. 19. 59 Darnstädt Thomas, Der Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, in: JuS 1978, S. 441 ff., 443; zustimmend zu der Theorie der institutionellen Tatsachen u. a. Neumann Ulfrid, Regel und Sachverhalt in der strafrechtlichen Irrtumsdogmatik, in: Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag, 2011, S. 171 ff., 181 ff. 60 Puppe Ingeborg, Strafrecht, AT im Spiegel der Rechtsprechung, 2. Aufl., 2011, § 8, Rn. 48. 61 Zur kritischen Darstellung dieser Tendenz siehe Papathanasiou Konstantina, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, Erstes Kapitel, B. IX. 62 Binding Karl, Die Normen und ihre Übertretungen, Bd. III, 1918, S. 130, spricht bei seiner Kritik über eine »ganze künstlich geöffnete Kluft zwischen Rechts- und Tatsachen-Irrtum«,

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chen und strafrechtlichen Irrtum aufspaltete. Dementsprechend betrachtete das Reichsgericht als Tatumstände auch diejenigen Rechte, Rechtsverhältnisse und sonstigen rechtlichen Beziehungen, die auf außerstrafrechtlichem Gebiet liegen; der außerstrafrechtliche Rechtsirrtum wurde insofern gleich behandelt wie der Tatirrtum und wirkte vorsatzausschließend.63 Als gänzlich bedeutungslos wurde das Bewusstsein der Strafbarkeit bezeichnet.64 Eine theoretische Auffassung ist nicht schon dann als »reichsgerichtfreundlich« zu diagnostizieren, »wenn man die auf die rechtliche Wertung der Gesamttat bezogenen Irrtümer der Sphäre des Verbotsirrtums vorbehält, sondern erst dann, wenn man jede falsche rechtliche Bewertung aus dem Bereich des Tatbestandsirrtums herauszieht«.65 Im Ergebnis führt jede reichsgerichtfreundliche Auffassung zu einer Verlagerung des Irrtums vom Tatbestands- zum Verbotsirrtum.66 Zwischenergebnis: Aus dem Ausgeführten lässt sich feststellen, dass im Ergebnis, je nachdem, wie man ein Tatbestandsmerkmal klassifiziert, eine andere Irrtumsregel eingreift und jeweils andere Vorsatzerfordernisse angewandt werden.67 Dies stellt aber offenkundig einen Unsicherheitsfaktor für den Handelnden dar – ein Umstand, der nicht mehr bewahrt werden sollte, zumal das Strafrecht vor allem den Menschen vor jeder Willkür schützen muss. Der Täter, aber gleichermaßen auch der ihn später beurteilenden Richter, sollen, beide, die anzuwendenden Vorsatzerfordernisse von vornherein wissen. So gesehen gilt es, normativ geprägte Merkmale im Allgemeinen zu thematisieren: Denn jedes

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die »endgültig zu schliessen« ist. Zur Rechtsprechung des Reichsgerichts siehe statt vieler die Ausführungen von Kaufmann Arthur, Das Unrechtsbewußtsein in der Schuldlehre des Strafrechts: Zugleich ein Leitfaden durch die moderne Schuldlehre, 1949, S. 46 ff.; vgl. dazu auch Hobe Konrad, Der Vorsatz bei den normativen Tatbestandsmerkmalen, 1962, S. 55 ff.; Köhler August, Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1917, S. 298 ff.; Schmidt-Leichner Erich, Unrechtsbewusstsein, S. 52 ff. Siehe statt vieler RGSt 42, 26; 72, 305 (309). Binding Karl, Normen, Bd. III, S. 341. So Roxin, Offene Tatbestände, S. 149 f. Hier ist zwar nicht der geeignete Ort, diese Tendenz gründlich zu kritisieren, gleichwohl soll zumindest hervorgehoben werden, dass die reichsgerichtliche Irrtumslehre die Struktur der normativen Tatbestandsmerkmale verkennt, »deren Wesen sich in der Regel nicht in einem Tatsachengehalt, sondern erst in deren Bedeutungsinhalt erschließt« (so Wex Peter, Die Grenzen normativer Tatbestandsmerkmale im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz »Nullum crimen sine lege«, 1969, S. 41, der ergänzend anmerkt: »Die Unterscheidung krankt vor allem an der Einseitigkeit der naturalistischen Seinsbetrachtung, die sich begrifflich nicht durchführen lässt und bei den unbestreitbar vorhandenen gesetzlichen Wertungsmerkmalen versagen muss.« [S. 41, Fn. 2]). Überdies ist jede Verlagerung des Irrtums vom Tatbestands- zum Verbotsirrtum abzulehnen, denn »mit einer Rückbestimmung des Tatbestandes und des Vorsatzes auf empirisch-faktische Merkmale wird der Begriff normbezogenen Handelns und der subjektiven Zurechnung völlig verfehlt« (so Köhler Michael, Strafrecht AT, S. 159 f.). Vgl. Schroth Ulrich, Vorsatz und Irrtum, S. 23 f.

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Tatbestandsmerkmal der Straftatbestände (welcher Beschaffenheit der Letzteren auch immer – darunter sind nämlich gleichermaßen zu verstehen: Strafvorschriften, Ordnungswidrigkeiten, Verweisungsketten mit unionsrechtlichen Bezügen, Verweisungen des Strafgesetzgebers auf Rechtsordnungen) ist per se ein normativ geprägtes Merkmal. Infolgedessen lässt sich der Irrtum bei allen Strafvorschriften einheitlich und konsequent behandeln, ohne dass die Anwendung der Irrtumsregelungen von irgendwelchen zufallsbedingten Klassifizierungen der Tatbestandsmerkmale abhängig ist.68

4.

Neubetrachtung der Irrtumslehre aus der Perspektive der Verfassung

Wie bereits erwähnt, erweist sich das Kriterium der Parallelwertung in der Laiensphäre als ungenügend, weil es für die Vorsatz- bzw. Irrtumslehre weder eine einheitliche noch eine konsequente Anwendung gewährleistet. Konkreter : Sein ursprünglicher Kern ist zwar richtig, das Kriterium selbst krankt aber als solche an verschiedenen Stellen, und deswegen empfiehlt es sich, sich taktvoll davon zu verabschieden.69 Da das Strafrecht ohnehin ein Teilgebiet des öffentlichen Rechts ist und überdies »als Seismograph der Verfassung«70 gilt, muss das Strafrecht wie auch die Strafrechtsdogmatik den Anforderungen der Verfassung genügen. Das gilt a maiore ad minus auch für die Vorsatz- bzw. Irrtumslehre: Es stellt sich nicht – wie üblicherweise – die Frage, unter welchen Voraussetzungen normative Tatbestandsmerkmale im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz zulässig sind; stattdessen muss die Frage gestellt werden, ob das herkömmliche Verständnis von der sozialen Bedeutung der Norm, auf die sich bisher die Parallelwertung in der Laiensphäre bezieht, aus einer verfassungsrechtlichen Perspektive ausreichend bestimmt ist und somit den Anforderungen der Verfassung genügt. 68 Hierzu siehe Papathanasiou Konstantina, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, Erstes Kapitel, D. 69 Ablehnend auch u. a. Puppe Ingeborg, in: GA 1990, S. 176; Schulz Joachim, Parallelwertung in der Laiensphäre und Vorsatzbegriff: Skizze zur Dogmengeschichte eines dogmatischen Kuriosums, in: Festschrift für Günter Bemmann zum 70. Geburtstag, 1997, S. 246 ff.; Safferling Christoph J. M., Vorsatz und Schuld: Subjektive Täterelemente im deutschen und englischen Strafrecht, 2008, S. 138 f.; Herzberg Rolf Dietrich, Vorsatzausschließende Rechtsirrtümer, in: JuS 2008, S. 385 ff. 70 Landau Herbert, Ausgewählte neuere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Strafrecht und Strafverfahrensrecht, in: Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, 2006, S. 201 ff., 216. Zum Verhältnis von Verfassungs- und Strafrecht siehe Appel Ivo, Verfassung und Strafe: Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen staatlichen Strafens, 1998, S. 303 ff.

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Um die Schwächen des Kriteriums der Parallelwertung in der Laiensphäre auszugleichen, tritt insofern an dessen Stelle die verfassungsbezogene Formel der »Widerspiegelung der gesetzgeberischen Grundentscheidung im Verständnishorizont des Täters« (kurz: WGVT-Formel).71 Allem voran nimmt sich diese Formel der aus den vorhergehenden Ausführungen schlüssig gewonnenen Erkenntnis an, dass es eines einzigen Begriffs bedarf, und zwar jenes der »normativ geprägten Merkmale«. Des Weiteren gilt innerhalb dieser Formel insbesondere Dreierlei: 1. In Betracht kommt nun der Verständnishorizont des Täters: D. h. es wird nicht mehr (wie die Parallelwertung in der Laiensphäre es verlangt) an den Laien angeknüpft, i. S. des Nicht-Juristen, sondern an den konkreten Normadressaten, i. S. des in seinem eigenen Verkehrskreis handelnden und nach dessen Maßstäben zu beurteilenden Bürgers. Somit steht der Bürger als der konkrete Normadressat im Mittelpunkt der Irrtumslehre. Durch den Begriff Verständnishorizont des Täters sind insofern individuelle Fähigkeiten schon auf der Ebene des subjektiven Tatbestands mit zu berücksichtigen. Auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge werden Erkundigungspflichten statuiert, wenn sich Strafvorschriften an spezielle Normadressaten wenden, »die aufgrund ihres Fachwissens im Stande sind, den Regelungsinhalt spezieller Begriffe zu verstehen und ihnen konkrete Verhaltensanweisungen zu entnehmen«72, während an den normalen Bürger geringere Anforderungen an die Vorhersehbarkeit gestellt werden.73 Der Wortsinn der Strafnorm ist jedenfalls als Grenze der Auslegung in seinem Textzusammenhang und aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen.74 Hierbei 71 Siehe Papathanasiou Konstantina, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, passim (insb. Drittes Kapitel). Das Rahmenkonzept dieser Formel wurde erstmals von der Autorin in einem Beitrag (»Die Widerspiegelung der gesetzgeberischen Grundentscheidung im Verständnishorizont des Täters: Vorschlag eines verfassungsbezogenen Kriteriums als Alternative zur Parallelwertung in der Laiensphäre«) für die zweite Roxin-Festschrift, 2011, Bd. I, S. 467 ff., beschrieben. 72 Siehe nur BVerfGE 14, 245 (252); 48, 48 (57); 60, 253 (268); 75, 329 (342 f.); 78, 374 (382 f.); BVerfG NJW 1998, 2589 (2590); 2000, 3417; BeckRS 2010, 51332; Kunig Philip, Zur »hinreichenden Bestimmtheit« von Norm und Einzelakt, in: Jura 1990, S. 495 ff.; v. Münch/ Kunig-Kunig, Art. 103 GG, Rn. 29; Dreier/Schulze-Fielitz, Art. 103 Abs. 2 GG, Rn. 40; Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 2 GG, Rn. 189. 73 BVerfGE 48, 48 (57); BVerfG NJW 1992, 2624; BVerfG BeckRS 2010, 51332; Maunz/DürigSchmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 2 GG, Rn. 189; MüKo-Schmitz, § 1 Rn. 49. 74 BVerfGE 64, 389 (393 f.); 71, 108 (116); 73, 206 (236); 85, 69 (73); 87, 209 (224); 95, 96 (131); 105, 135 (157); Sachs-Degenhart, Art. 103 GG, Rn. 69; 28Schönke/Schröder-Eser/Hecker, § 1, Rn. 20; Lackner Karl, Zu den Grenzen richterlicher Befugnis, mangelhafte Strafgesetze zu berichtigen, in: Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600–Jahr-Feier der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, 1986, S. 39 ff., 54 ff.; Mangoldt/Klein/Starck-Nolte, Art. 103, Rn. 158; Jarass/Pieroth-Pieroth, Art. 103 GG, Rn. 47; Schmidt-Bleibtreu/Schmahl, Art. 103 GG, Rn. 33; Dreier/Schulze-Fielitz, Art. 103 Abs. 2 GG, Rn. 46 f. Durch dieses »Analogie-

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können anerkannte Wörterbücher herangezogen werden.75 Die Tatbestandsauslegung darf sich obendrein nicht gänzlich vom allgemeinen/alltagssprachlichen Sprachgebrauch lösen, so dass sie für den Normadressaten vorhersehbar bleiben kann.76 Der alltagssprachliche Wortsinn ist allerdings weder mit dem umgangssprachlichen noch mit der »natürlichen Wortbedeutung« identisch77; er deutet vielmehr auf den Sprachgebrauch hin, der das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen in der staatlichen Gemeinschaft beherrscht.78 Bezüglich der Fachsprache ist nun deshalb differenzierend anzunehmen, dass sie zwar im Allgemeinen nicht zur Alltagssprache gehört, dies aber im Besonderen, wie dargelegt, in jenen Fällen nicht gelten kann, in denen eine Vorschrift sich an spezielle Normadressaten wendet. Denn in diesen Fällen stellt bereits die jeweilige Fachsprache den »alltagssprachlichen Wortsinn« dar und hierbei ist als »gesellschaftliches Zusammenleben« der jeweilige besondere Lebens- bzw. Berufskreis des Bürgers zu verstehen.79 2. In Betracht kommt darüber hinaus die gesetzgeberische Grundentscheidung: D. h. es wird an die Tatsache angeknüpft, dass der Gesetzgeber mit seinen Vorschriften zugleich den Vorsatzgegenstand definiert und eine Wertentscheidung über das Unrecht trifft. Dabei soll insbesondere den Vorgaben der verfassungsrechtlichen Judikatur zum Bestimmtheitsgrundsatz80 und zum Schuldprinzip81 Rechnung getragen werden.

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verbot« wird das Bestimmtheitsgebot gesichert; so etwa BVerfGE 71, 108 (114); 82, 236 (269); 92, 1 (12). BVerfGE 73, 206 (243); Mangoldt/Klein/Starck-Nolte, Art. 103, Rn. 159. BVerfGE 73, 206 (242 ff.); 92, 1 (13); Sachs-Degenhart, Art 103 GG, Rn. 70; v. Münch/KunigKunig, Art. 103 GG, Rn. 28; Dreier/Schulze-Fielitz, Art. 103, Rn. 46; vgl. auch Küper Wilfried, Verfassungswidrige und verfassungskonforme Auslegung des § 142 StGB, in: NStZ 2008, S. 597 ff., 599 f. Vgl. ergänzend Neumann Ulfrid, Juristische Fachsprache und Umgangssprache, in: Rechtskultur als Sprachkultur: Zur forensischen Funktion der Sprachanalyse, 1992, S. 110 ff., der herausstellt, dass eine umfassende Ersetzung fachsprachlicher Begriffe durch Begriffe der Umgangssprache unter Wahrung der Funktion des Rechtssystems nicht möglich ist, denn »zahlreiche Begriffe der Rechtssprache sind durch ihre Funktionen innerhalb des Regelsystems der Rechtsordnung definiert und auch nur auf diese Weise definierbar« (S. 118). Vgl. LK-Dannecker, § 1, Rn. 303 f. m. w. N. sowie Küper Wilfried, in: NStZ 2008, S. 597 ff. Siehe näher Papathanasiou Konstantina, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, Zweites Kapitel, C. IV. in fine: Das Wort »Gesellschaft« ist elastisch zu verstehen und begrenzt sich auf und erschöpft sich jeweils entsprechend dem Lebens- bzw. Berufskreis des Bürgers. Siehe näher Papathanasiou Konstantina, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, Drittes Kapitel, B. I.; hier wird insb. neben der »gesetzgeberischen Grundentscheidung« (Drittes Kapitel, B. I. 4. [und C. I.]) allem voran die »lex certa et parlamentaria« erörtert und anschließend werden der »Rechtsstaat« wie auch die »Rechtssicherheit« erläutert. Zum Schuldprinzip als verfassungsrechtlichen wie auch strafrechtlichen Begriff und zu seiner Absicherung einerseits gegen die Systemtheorie und andererseits gegen die Befunde

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(a) Gemeint wird mit dem Bestimmtheitsgrundsatz die in Art. 103 Abs. 2 GG – sowie in dem gleichlautenden § 182 – verankerte und zu den sog. SchrankenSchranken83 zählende Prämisse nullum crimen, nulla poena sine lege certa und parlamentaria. Eine lex ist certa, wenn der Bürger vorhersehen kann, was verboten ist84, während die lex parlamentaria besagt, dass sich sicherstellen lässt, dass die Entscheidung über die Strafbarkeit der Legislative vorbehalten bleibt und nicht an die Exekutive bzw. Jurisdiktion delegiert wird.85 Im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG hat nämlich dieser Gesetzesvorbehalt eine Doppelfunktion: einerseits (subjektiv-rechtlich) eine freiheitsgewährleistende, andererseits (objektiv-rechtlich) eine kompetenzwahrende Funktion.86 (b) Das Schuldprinzip bedeutet, dass mit der Strafe dem Täter ein rechtswidriges sozialethisches Fehlverhalten zum Vorwurf gemacht wird; eine solche strafrechtliche Reaktion wäre ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar.87 Als Grundlage des Prinzips nullum crimen sine culpa wird insbesondere die Fähigkeit des Menschen angenommen, sich frei und richtig zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden.88 Das Schuldprinzip bedeutet ferner, dass der Täter nicht unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung gemacht werden darf.89 Dem Bundesverfassungsgericht zufolge muss jedenfalls nach dem Schuldprinzip die

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des neurobiologischen Determinismus siehe Papathanasiou Konstantina, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, Drittes Kapitel, B. II. Der nullum-crimen-Grundsatz wird in Österreich im § 1 österr. StGB normiert und auch aus Art. 18 Abs. 1 B-VG abgeleitet (siehe Triffterer Otto, Österreichisches Strafrecht, AT, S. 19). Vgl. Dreier/Schulze-Fielitz, Art. 103 Abs. 2 GG, Rn. 15. Siehe nur BVerfGE 78, 374 (382); 87, 399 (411); 95, 96 (131). BVerfGE 14, 174 (185); 31, 357 (362 f.); 71 108 (114); 85, 386 (403); 95, 267 (307); 105, 135 (160); 120, 378 (408); von Arnauld Andreas, Rechtssicherheit, S. 244; Sachs-Degenhart, Art. 103 GG, Rn. 63 ff.; Schmidt-Bleibtreu/Hofmann, Art. 20 GG, Rn. 70 f.; Jarass/PierothJarass, Art. 20 GG, Rn. 44 f., 57; Sachs-Sachs, Art. 20 GG, Rn. 86 ff.; Schmidt-Bleibtreu/ Schmahl, Art. 103 GG, Rn. 26; Dreier/Schulze-Fielitz, Art. 103 Abs. 2 GG, Rn. 28, 38, 119 ff.; Mangoldt/Klein/Starck-Sommermann, Art. 20, Rn. 273. Ständige Rechtsprechung; siehe nur BVerfGE 47, 109 (120); 73, 206 (234 f.); 87, 209 (224); 92, 1 (12); 104, 92 (101); 105, 135 (153); 120, 224 (272); 126, 170 (195). Vgl. auch Appel Ivo, Verfassung und Strafe, S. 117 f.; Sachs-Degenhart, Art. 103 GG, Rn. 63 ff.; 28Schönke/ Schröder-Eser/Hecker, § 1, Rn. 16; v. Münch/Kunig-Kunig, Art. 103 GG, Rn. 21; Jarass/Pieroth-Pieroth, Art. 103 GG, Rn. 49; Schmidt-Bleibtreu/Schmahl, Art. 103 GG, Rn. 26; Maunz/ Dürig/Schmidt-Aßmann, Art. 103, Rn. 178 ff.; Dreier/Schulze-Fielitz, Art. 103 Abs. 2 GG, Rn. 28, 38. BVerfGE 6, 389 (439); 20, 323 (331); 95, 96 (140). Aus der Rechtsprechung siehe nur das Urteil zum Lissabon-Vertrag BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, Absatz-Nr. 364; vgl. Appel Ivo, Verfassung und Strafe, S. 109 ff.; Wessels Johannes/ Beulke Werner, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 42. Aufl., 2012, Rn. 396. BVerfGE 28, 386 (391); 45, 187 (228); 50, 205 (215).

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Strafe durch eine hinreichend gesetzlich bestimmte Strafandrohung für den Normadressaten vorhersehbar sein.90 3. Die gesetzgeberische Grundentscheidung über materiell wertwidrige Verhaltensweisen ist ein allen Straftatbeständen immanentes Merkmal und muss Gegensatz des Vorsatzes sein. »Gegensatz des Vorsatzes« bedeutet im Einzelnen, dass die gesetzgeberische Grundentscheidung sich im Verständnishorizont des Täters widerspiegeln soll. Obwohl niemand bezüglich der Parallelwertung in der Laiensphäre niemals auf die Idee gekommen ist bzw. hätte kommen können, sich mit der Bedeutung der »Parallelität« zu beschäftigen, wird im Folgenden dem, was unter dem Terminus Widerspiegelung zu verstehen ist, einer eingehenden Erläuterung unterzogen.91

5.

Schlüsselwort: Widerspiegelung

Nun folgt die anfangs angekündigte Amalgamierung von gustibus et erroribus, der Kern der vorliegenden Abhandlung.

5.1

Widerspiegelung und transzendentale Ästhetik: der fruchtbare Gedanke

Wenn von einer Widerspiegelung die Rede ist, assoziiert unser Verständnis zu Recht diesen Begriff umgehend mit einem passiven Prozess: Das im Spiegel sich spiegelnde Seiende, das Bespiegelte, bleibt tatsächlich passiv – im Rahmen der WGVT-Formel bleibt dementsprechend der konkrete Täter ebenfalls passiv bezüglich der gesetzgeberischen Grundentscheidung (oder zumindest sieht das so aus). Was das genauer besagt und in welcher Beziehung die gesetzgeberische Grundentscheidung zum Verständnishorizont des Täters steht, beantwortet am treffendsten die Kantische »Kritik der reinen Vernunft« und insbesondere das Kapitel zur transzendentalen Ästhetik – jedenfalls ohne jegliche Letztbegründungsansprüche. Ein zweiter Exkurs sine quo non Das Wort Ästhetik kommt aus dem griechischen Wort aisthesis (a_shgsir) und bedeutet Wahrnehmung, Empfindung. Wie Kant selbst anmerkt, »die Deutschen 90 BVerfGE 105, 135 (153); 109, 133 (170). 91 Für die folgenden Ausführungen siehe Papathanasiou Konstantina, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, Drittes Kapitel, C.

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sind die einzigen, welche sich jetzt des Worts Ä s t h e t i k bedienen, um dadurch das zu bezeichnen, was andre Kritik des Geschmacks heißen«92 ; die deutsche Sprache versteht nämlich das Wort ästhetisch eher künstlerisch. Mit der Ästhetik haben sich schon berühmte Philosophen der Antike (wie Aristoteles93) befasst, in der Moderne wurde sie aber zu einer eigenen philosophischen Disziplin unter diesem Titel erstmals von Alexander Gottlieb Baumgarten erhoben94 ; für Baumgarten strebte Ästhetik ein Wissen vom Sinnenhaften an und wurde als »episteme aisthetike« bezeichnet.95 Was nun die erkenntnistheoretische Terminologie Kants anbelangt, kann hier Ästhetik als Perzeption verstanden werden. Die Begriffe Ästhetik und Geschmackslehre werden dagegen erst in der »Kritik der Urteilskraft« synonym verwendet96, wo Kant das Urteil, bei dem einem Gegenstand das Attribut schön zugeordnet wird, als Geschmacksurteil bezeichnet. Geschmack ist nämlich das Vermögen zur Beurteilung des Schönen und Kant arbeit in dieser »Kritik« die Frage heraus, was es heißt, zu sagen, etwas ist schön. Es lässt sich somit klarstellen, dass die transzendentale Ästhetik der »Kritik der reinen Vernunft« eine philosophische Lehre von der Kunst oder vom Schönen weder enthält noch begründen will.97 Kant verwendet vielmehr das Adjektiv »ästhetisch«, um nur darauf hinzudeuten, dass das, was damit gekennzeichnet wird, nicht dem Gebiet des Geschmacks, sondern der Welt der Sinnlichkeit zuzuordnen ist.98 Diesem Verständnis wird im vorliegenden Zusammenhang auch gefolgt. Im Kapitel zur transzendentalen Ästhetik, »die den Zugang eröffnet und den Grund legt zum gesamten Monumentalbau der Kantischen Kritik«,99 erklärt Kant, dass Erkenntnis in einer Synthesis besteht, die nach den logischen Funktionen des Verstandes erfolgt und das betrifft, was in Raum oder Zeit gegeben ist. Eine solche Erkenntnis stellt nämlich eine objektive Repräsentation der Welt dar, welche Besonderheiten aufweist, die nur im Rekurs auf unseren Verstand und unsere Anschauung bestimmt werden können.100 Im Einzelnen arbeitet Kant den Begriff der Anschauung gründlich heraus: 92 Kant Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, A 21, B 35/36. 93 Vgl. dazu nur Büttner Stefan, Antike Ästhetik: Eine Einführung in die Prinzipien des Schönen, 2006, S. 61 ff. 94 Vgl. Müller Klaus, Glauben – Fragen – Denken, Bd. II, 2008, S. 554. 95 Vgl. Welsch Wolfang, Ästhetisches Denken, 4. Aufl., 1995, S. 9. 96 Wieland Wolfang, Die Lust im Erkennen: Kants emotionales Apriori und die Rehabilitierung des Gefühls, in: Kant in der Gegenwart, 2007, S. 291 ff., 299, 302; Wohlfahrt Günter, Transzendentale Ästhetik und ästhetische Reflexion: Bemerkungen zum Verhältnis von vorkritischer und kritischer Ästhetik Kants, in: ZfphF 36 (1982), S. 64 ff., S. 68. 97 Wieland Wolfang, in: Kant in der Gegenwart, 2007, S. 299. 98 Wieland Wolfang, in: Kant in der Gegenwart, 2007, S. 300. 99 So Balmer Hans Peter, Philosophische Ästhetik: Eine Einladung, 2009, S. 29. 100 So Carl Wolfang, Das Subjektive als Bedingung des Objektiven, in: Kant in der Gegenwart, 2007, S. 113 ff., 124.

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»Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die A n s c h a u u n g . Diese findet aber nur statt, so fern und der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum, uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere. Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt S i n n l i c h ke i t . Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen B e g r i f f e . Alles denken aber muß sich, es sei geradezu (directe), oder im Umschweife (indirecte), vermittelst gewisser Merkmale101, zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann. Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden, ist E m p f i n d u n g . Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt e m p i r i s c h . Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt E r s c h e i n u n g . In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung korrespondiert, die Materie derselben, dasjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann102, nenne ich die Form der Erscheinung.«103

Und einige Seiten weiter führt Kant ergänzend aus: »Unsre Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. […] Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, so fern es auf irgend eine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen; so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses, der Verstand.«104

Unsere begrifflich geprägte Erfahrung beruht nach Kant auf einer Beziehung zu einer an sich existierenden Wirklichkeit, wobei der Weltbezug als Bezug auf eine tatsächlich unabhängig von uns existierende Realität durch die sog. Rezeptivität sichergestellt wird.105 Wie hierzu erklärend angemerkt wird, ist der Verstand als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt »kein leerer Spiegel. So 101 Zusatz von B (Hervorhebung und Fußnote im Original). 102 A: »Erscheinung, in gewissen Verhältnissen geordnet, angeschaut wird.« (Hervorhebung und Fußnote im Original). 103 Kant Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, A 19/20, B 33/34 (Hervorhebungen im Original). 104 Kant Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, A 50/51, B 74/75 (Hervorhebungen im Original). 105 So Haag Johannes, Erfahrung und Gegenstand. Das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand, 2007, S. 33.

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lässt sich daraus ein aller Anwendung vorausliegendes Inventar erheben, die ›synthetische Apperzeption‹, ein Zusammenhang von subjektiven Komponenten, dank derer überhaupt erst Gegenstände gegeben sind«.106 Alle Dinge sind somit »synthetische Produkte, zusammengesetzt aus solchem, was das Subjekt sinnlich angeht und solchem, was das Ich auf die Ersteindrücke spontan einbringt: an Anschauungsformen zunächst, sodann an Verstandeskategorien und schließlich an Vernunftideen«.107 Entscheidend für diese Annahme Kants ist die Pa s s iv i t ä t des repräsentierenden Subjekts hinsichtlich des Gegenstands seiner empirischen Repräsentationen.108 Diesbezüglich wird erläutert, dass wir darauf angewiesen sind, »dass uns in der Wahrnehmung etwas gegeben wird. Hinsichtlich dieses Gegebenen, der ›Materie‹ unserer Erfahrungen, die ihren konkreten Inhalt bestimmt, haben wir keine Wahlmöglichkeit, sind wir in keiner Hinsicht aktiv. Also müssen wir etwas annehmen, was für uns – nicht aber für ein produktiv intellektuell anschauendes Wesen – nur dadurch gekennzeichnet ist, dass es diese Vorstellungen mit diesem Inhalt in uns hervorruft.«109 Die Sinnlichkeit ist demzufolge rezeptiv, passiv und in keiner Weise spontan110 und wir erleben uns »in der Wahrnehmung als wesentlich passiv hinsichtlich der faktischen Gehalte unserer Wahrnehmungsvorstellungen«.111 Mit Hilfe des Verstandes verbinden wir erst, »was unsere Sinnlichkeit uns unverbunden liefert – nämlich durch Rezeptivität, aber noch nicht in eine Vorstellung geordnete Sinneseindrücke«.112 Die Anschauungen sind dagegen »nicht bloße Empfänglichkeit, sondern Produkt einer Verbindung, einer Synthesis, des Mannigfaltigen der Sinneseindrücke in einer Vorstellung – setzten also Spontaneität des Subjekts voraus«.113 Die Sinneseindrücke können wiederum als unbewusste Zustände des Bewusstseins »die Rolle einer Schnittstelle zwischen der von uns unabhängigen und uns epistemisch nicht (oder wenigstens nicht unmittelbar) zugänglichen Welt übernehmen. Sie sind die Wirkungen einer von unseren Begriffen unabhängigen Welt in unserem Bewusstsein; aber sie sind als notwendig unbewusste Zustände nicht durch die verändernde Wirkung des Bewusstseins begrifflich korrumpiert. Diese wesentlich unbewussten, nicht-begrifflichen Zustände veranlassen uns, in bestimmter Weise, begrifflich zu reagieren. Diese Reaktionen haben passive und aktive Aspekte: passive, weil sie unwillkürliche Balmer Hans Peter, Philosophische Ästhetik, S. 30 (Hervorhebung im Original). Balmer Hans Peter, Philosophische Ästhetik, S. 30. Haag Johannes, Erfahrung und Gegenstand, S. 93. Haag Johannes, Erfahrung und Gegenstand, S. 93/94 (Hervorhebungen im Original). So Haag Johannes, Erfahrung und Gegenstand, S. 154 f., 179. Haag Johannes, Erfahrung und Gegenstand, S. 402, 416, 425. Haag Johannes, Erfahrung und Gegenstand, S. 154, im Anschluss an Kant Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, A 100. 113 Haag Johannes, Erfahrung und Gegenstand, S. 152, 178 ff.

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Reaktionen auf die Sinneseindrücke sind; aktive, weil diese Reaktionen durch ihre Einbettung in unseren begrifflichen Zugang zur Welt das sinnlich Gegebene begrifflich verändern«.114

5.2

Widerspiegelung und strafrechtliche Irrtumslehre: die fruchttragende Umsetzung

Wird das Ausgeführte in die WGVT-Formel umgesetzt, so lässt sich der Begriff der Widerspiegelung entsprechend beleuchten: Das Bespiegelte ist hier die »gesetzgeberische Grundentscheidung«. Der Bürger steht seinerseits der gesetzgeberischen Grundentscheidung passiv gegenüber, denn sie existiert unabhängig von ihm und sie wird ihm aufgrund seiner Kultur und seines Berufsbzw. Lebenskreises gegeben. Ob er diese Wertentscheidung als solche zu erkennen vermag, hat mit seinem Verständnishorizont (mit dem »Verstand« nach der Terminologie Kants) zu tun. Beides ist aber gleichermaßen notwendig, denn »Ve r s t a n d und S i n n l i c h ke i t können bei uns nu r i n Ver b i n du n g Gegenstände bestimmen«.115 Genauso wie bei der Empfindung Kants muss der Bürger von der gesetzgeberischen Grundentscheidung »affiziert« werden, um sie sich vorstellen zu können; das setzt aber voraus, dass die gesetzgeberische Grundentscheidung erkennbar (im dargelegten verfassungsrechtlichen Sinne) ist. Bei der erörterten – teilweise nur scheinbaren – Passivität lässt sich somit der konkrete Täter als »das repräsentierende Subjekt« und die gesetzgeberische Grundentscheidung als »der Gegenstand seiner empirischen Repräsentationen« betrachten, die durch seine Kultur und seinen Berufs- bzw. Lebenskreis geprägt sind. Denn das Wissen des Vorsatztäters ist von seinen individuellen Fähigkeiten in dem Sinne abhängig, dass sie ihn jeweils »aktivieren« bzw. in die Lage versetzen können, Kenntnis vom jeweiligen normativ geprägten Merkmal zu erlangen. Im Übrigen kommt in dem Begriff Widerspiegelung die herrschende Meinung mutatis mutandis zum Ausdruck: Es lässt sich das äußern, was bereits innerhalb der Lehre der Parallelwertung in der Laiensphäre angenommen wird, dass nämlich für den Vorsatz bezüglich normativ geprägter Merkmale die Tatsachenkenntnis keineswegs ausreicht. Denn, wie gezeigt, ist der ursprüngliche Kern der Parallelwertung in der Laiensphäre durchaus korrekt und auf ihn kann nicht verzichtet werden. 114 Haag Johannes, Erfahrung und Gegenstand, S. 380 (Hervorhebungen im Original). 115 Kant Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, A 258/259, B 314/315 (Hervorhebungen im Original).

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Über die Tatsachenkenntnis hinaus muss sich dementsprechend die gesetzgeberische Grundentscheidung über materiell wertwidrige Verhaltensweisen im Verständnishorizont des Täters im soeben dargelegten Sinn widerspiegeln. Dabei wird der herrschenden Meinung zufolge aktuelle Kenntnis der Merkmale des objektiven Tatbestandes gefordert, während potentielle Kenntnis nicht ausreichen soll.116 Für die aktuelle Kenntnis ist jedoch nicht nötig, dass der Täter über die Merkmale des objektiven Tatbestandes »bewusste Reflexionen anstellt«.117 Ferner wird gemäß der sog. Schuldtheorie zumindest potentielles Unrechtsbewusstsein vorausgesetzt, d. h. die nach Fähigkeiten und Kenntnissen des Täters ungenutzte Möglichkeit zur Unrechtseinsicht vorzudringen.118 Dabei ist das sogenannte Mitbewusstsein ausreichend, und zwar in der Form des »wahrnehmungsbedingten«119 bzw. »sachgedanklichen«120 Mitbewusstseins. Ergänzung zum ersten Exkurs: Die einzige Schwäche der Schuldtheorien, die im Wesentlichen im Scheitern der Parallelwertung als plausiblem Kriterium liegt, bezieht sich darauf, dass der Vorsatz manchmal das Bewusstsein vieler normativer Tatbestandsmerkmale in sich schließen zu können scheint. Diese Inkonsequenz hat zur Vertretung der Auffassung geführt, dass ein Täter wegen eines Verstoßes gegen eine Vorschrift des Kernstrafrechts nach der Schuldtheorie, gegen eine Vorschrift des Nebenstrafrechts nach der Vorsatztheorie zu beurteilen sei.121 Abgesehen davon, dass kein besonderer strafrechtsdogmatischer Grund besteht, zwischen Neben- und Kernstrafrecht abzugrenzen, kommt doch hier eine Schuldtheorie in Betracht, und zwar in einer einheitlich und in sich konsequent verstandenen Fassung. Eine Kombination beider Theorien wäre dahingehend eine Hydra – denn nach der scheinbaren Lösung eines Problems ergeben sich umgehend neue Probleme – und deswegen ist sie als Auffassung trotz ihrer strahlenden Plausibilität abzulehnen.122

116 Vgl. Krey Volker, Strafrecht, AT I, Rn. 368; Kühl Kristian, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl., 2000, § 5, Rn. 98; Roxin Claus, Strafrecht, AT I, § 12, Rn. 111. 117 Roxin Claus, Strafrecht, AT I, § 12, Rn. 122. 118 Lackner/Kühl, § 15 Rn. 50. Vgl. Fuchs, Österreichisches Strafrecht, AT I, Kap. 23, Rn. 17. 119 Roxin Claus, Strafrecht, AT I, § 12,Rn. 123. 120 Schmidhäuser Eberhard, Über Aktualität und Potentialität des Unrechtsbewusstseins, in: Festschrift für Hellmuth Mayer zum 70. Geburtstag, 1966, S. 317 ff. 121 So beispielsweise Dannecker Gerhard, in: ZLR 2000, S. 63 ff. in Anlehnung an Tiedemann Klaus, in: Festschrift für Geerds, 1995, S. 95 ff., 109. 122 Siehe näher Papathanasiou Konstantina, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, Zweites Kapitel, insb. C.

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6.

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Kunstgemäßer Epilog

Der Täter muss keine exakte Kenntnis der gesetzgeberischen Grundentscheidung bei normativ geprägten Merkmalen haben. Vonnöten ist nur eine ungefähre Entsprechung mit ihr. Damit lässt sich das Schlüsselwort Widerspiegelung (und somit die WGVT-Formel überhaupt) letztlich auch kunstgemäß veranschaulichen – ähnlich wie das Gesicht der Venus auf Vel‚zquez’ BarockGemälde für den Betrachter der Szenerie nur im Spiegel gesehen werden kann: nicht alle Details sind präzise zu sehen, trotzdem sind die Grundzüge erkennbar.

Abb. 3: Velazquez »Venus mit dem Spiegel«.

Aus praktischer Sicht bedeutet dies Dreierlei123 : (1) Wenn der Täter die gesetzgeberische Grundentscheidung wahrnehmen konnte, aber trotz Tatsachenkenntnis und Widerspiegelung den Normverstoß begangen hat, ist dies nur für die Unvermeidbarkeit seines Irrtums relevant. (2) Wird eine Vorschrift hinsichtlich ihrer hinreichenden Bestimmtheit in Frage gestellt, lässt sich somit die gesetzgeberische Grundentscheidung nicht erkennen, dann darf dies nicht zu Lasten des Handelnden gehen, sondern muss je nach Fallkonstellation zur Annahme eines Tatbestands- bzw. Verbotsirrtums führen, wobei der Vorzug dem Tatbestandsirrtum zu geben ist. (3) Fehlt überhaupt die gesetzgeberische Grundentscheidung, sei es mangels legis parlamentariae oder wegen anderweitiger Verfassungswidrigkeit, dann ist jegliche Widerspiegelung per definitionem ausgeschlossen, der Handelnde verwirklicht in solchen Fällen sogar kein Unrecht. 123 Siehe Papathanasiou Konstantina, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, Zusammenfassung.

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De gustibus et erroribus

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Warda Heinz-Günter, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, Berlin 1955 Weiz Gerhart, Die Arten des Irrtums: Ein Beitrag zur allgemeinen Strafrechtslehre, Breslau 1931 Welsch Wolfgang, Ästhetisches Denken, 4. Aufl., Stuttgart 1995 Welzel Hans, Anmerkung zu BGHSt 3, 248, in: JZ 1953, S. 119 – 121 – Der Parteiverrat und die Irrtumsprobleme, in: JZ 1954, S. 276 – 280 – Das deutsche Strafrecht: Eine systematische Darstellung, 11. Aufl., Berlin 1969 Wessels Johannes/Beulke Werner, Strafrecht, Allgemeiner Teil: Die Straftat und ihr Aufbau, 42. Aufl., Heidelberg, München, Landsberg, Frechen, Hamburg 2012 Wex Peter, Die Grenzen normativer Tatbestandsmerkmale im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz »Nullum crimen sine lege«, Berlin 1969 Wieland Wolfgang, Die Lust im Erkennen: Kants emotionales Apriori und die Rehabilitierung des Gefühls, in: Kant in der Gegenwart, hg. von Jürgen Stolzenberg, Berlin 2007, S. 291 – 316 Wohlfahrt Günter, Transzendentale Ästhetik und ästhetische Reflexion: Bemerkungen zum Verhältnis von vorkritischer und kritischer Ästhetik Kants, in: ZfphF 36 (1982), S. 64 – 76 Wolf Erik, Der Sachbegriff im Strafrecht, in: Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1. Oktober 1929), hg. von Otto Schreiber, Bd. V: Strafrecht und Strafprozeß, Berlin, Leipzig 1929, S. 44 – 71

(b)

Kommentare

Fischer Thomas, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, hg. von. Otto Georg Schwarz, Eduard Dreher, Herbert Tröndle, 59. Aufl. des von Otto Schwarz begr., in der 23. bis 37. Aufl. von Eduard Dreher und in der 38. bis 49. Aufl. von Herbert Tröndle bearb. Werks, München 2012 [zitiert: Fischer] Großkommentar zum Handelsgesetzbuch, begr. von Hermann Staub, hg. von Claus-Wilhelm Canaris, Mathias Habersack und Carsten Schäfer, 4. Aufl. 2002 [zitiert: StaubBearbeiter] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Kommentar, hg. von Hans D. Jarass und Bodo Pieroth, 11. Aufl., München 2011 [zitiert: Jarass/Pieroth-Bearbeiter] Grundgesetz (GG) Kommentar, Band III: Art. 83 – 146, hg. von Dreier Horst, 2. Aufl., Tübingen 2008 [zitiert: Dreier-Bearbeiter] Grundgesetz – Kommentar, hg. von Ingo von Münch, Philip Kunig, Band 3: Art. 70 – 146, 4./5. Aufl., 2003 [zitiert: v. Münch/Kunig-Bearbeiter] Grundgesetz: Beck’scher Online-Kommentar, hg. von Volker Epping, Christian Hillgruber, Stand: 1. 1. 2013, Ed. 17, München 2013 [zitiert: Epping/Hillgruber-Bearbeiter] Grundgesetz: Kommentar, hg. von Theodor Maunz, Günter Dürig, 67. Erg.-Lfg., München 2013 [zitiert: Maunz/Dürig-Bearbeiter] Grundgesetz: Kommentar, hg. von Michael Sachs, bearb. von Ulrich Battis und Peter M. Huber, 6. Aufl., München 2011 [zitiert: Sachs-Bearbeiter]

184

Konstantina Papathanasiou

Grundgesetz: Kommentar, hg. von Bruno Schmidt-Bleibtreu, 12. Aufl., 2011 [zitiert: Schmidt-Bleibtreu/Bearbeiter] Kommentar zum Grundgesetz, Band 2: Art. 20 – 82; Band 3: Art. 83 – 146, begr. von Hermann von Mangoldt, fortgef. von Friedrich Klein, hg. von Christian Starck, 6. Aufl., München 2010, [zitiert: Mangoldt/Klein/Starck-Bearbeiter] Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band I: §§ 1 – 51 StGB, hg. von Bernd von Heintschel-Heinegg, München 2003; Bd. 1: §§ 1 – 37 StGB, hg. von Bernd von Heintschel-Heinegg, 2. Aufl., München 2011; Band 6/1, Nebenstrafrecht II: Strafvorschriften aus MarkenG, UrhG, UWG, AO, SchwarzArbG, AÜG, BetrVG, AktG, AWG, BauFordSiG, BörsG, DepotG, GenG, GewO, GmbHG, HGB, InsO, KWG, WpHG, TKG, TMG, hg. von Joecks Wolfgang, München 2010 [zitiert: MüKo-Bearbeiter] Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. I: §§ 1 – 145d, hg. von Urs Kindhäuser, Ulfrid Neumann, Hans-Ullrich Paeffgen, 3. Aufl., Berlin 2010 [zitiert: NK-Bearbeiter] Seiler Stefan/Seiler Thomas (hg.), Finanzstrafgesetz, 3. Aufl., Wien 2011 [zitiert: Seiler/ Seiler] Strafgesetzbuch – Leipziger Kommentar, Großkommentar, hg. von Heinrich Wilhelm Laufhütte, Ruth Rissing- van Saan und Klaus Tiedemann, Band I: §§ 1 – 79, 12. Aufl., Berlin 2007 [zitiert: LK-Bearbeiter] Strafgesetzbuch: Kommentar, begr. von Eduard Dreher und Hermann Maassen, fortgef. von Karl Lackner, seit der 21. Aufl. neben ihm von Kristian Kühl, seit der 25. Aufl. von diesem allein, 27. Aufl., München 2011 [zitiert: Lackner/Kühl] Strafgesetzbuch: Kommentar, begr. von Adolf Schönke (1. – 6. Aufl.), fortgef. von Horst Schröder (7. – 17. Aufl.), 10. Aufl., München [u.a.] 1961; 28. neu bearb. Aufl. von Albin Eser, München 2010 [zitiert: Sch/Schr-Bearbeiter] Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Loseblatt-Kommentar, hg. von HansJoachim Rudolphi, Eckhard Horn, Erich Samson, Hans-Ludwig Günther, München Unterschleißheim, Erg.-Lfg. 2011 [zitiert: SK-Bearbeiter]

Zweiter Teil: Politische und eschatologische Dimension des Urteilen lernen

Christiane Tietz

Moralisches Urteilen in der Polis

Dieser Beitrag thematisiert den Ort moralischen Urteilens und fragt genauer : Wie vollzieht sich moralisches Urteilen, wenn es sich am Ort der Polis vollzieht, d. h. in einem ganz spezifischen Gemeinwesen? Vorausgesetzt bei dieser Fragestellung ist, dass moralisches Urteilen »sich ja nicht in einem gesellschaftlich neutralen oder gar gesellschafts-freien Raum [entfaltet], sondern in ›typischen‹ und spezifischen sozialen Umwelten«1. Die im Folgenden vorgeschlagene These lautet, dass sich diese Umwelt auf das Urteilen auswirkt2. Es liegt nahe, die These durch eine Kontrastierung mit anderen Gemeinwesen zu bekräftigen. Deshalb wird in Teil 1 des Aufsatzes zunächst a) die antike Polis beschrieben, dann b) die geschichtlichen Veränderungen von der Polis zum Staat skizziert und schließlich c) die Modifikationen durch die neuen globalen Strukturen nachgezeichnet. Der Fokus liegt dabei jeweils auf für das moralische Urteilen relevanten Aspekten. Der erste Teil schließt d) mit der Beobachtung der Rückkehr der Polis-Dimension in aktuelle ethische Debatten. In Teil 2 wird diese Beobachtung vertieft, indem die Polis als Herausforderung gegenwärtigen moralischen Urteilens im Hinblick auf a) nahe Verantwortungsstrukturen, b) Pluralität der Überzeugungen und c) Sichtbarkeit und Öffentlichkeit in der Polis entfaltet wird.

1 Hartmann, Hans A.: Was ist sozial an der Moral? Moralität, Moral und Ethik – sozialwissenschaftlich betrachtet; in: Moralisches Urteilen und soziale Umwelt. Theoretische, methodologische und empirische Untersuchungen, hg. von Lind, Georg / Hartmann, Hans A. / Wakenhut, Roland, Weinheim/Basel 1983, 7 – 24, 15, mit Bezug auf die individuelle Entwicklung des moralischen Urteilens im Anschluss an Lawrence Kohlberg. Hartmann unterscheidet: »Unter typischen Umwelten werden solche verstanden, die für Teilmengen von Individuen gelten (kulturelle, nationale, politische, schichtspezifische, konfessionelle, berufliche, landsmannschaftliche, regionale, sprachliche, familiär-strukturelle u. a.), mit spezifischen Umwelten sind solche gemeint, in denen konkrete Individuen leben (Familie, Freundeskreis, Schulklasse, Kirchengemeinde, Verein, Arbeitsplatz u. a.).« (Ebd.). 2 Anders Hartmann, Hans A.: Was ist sozial an der Moral?, 16.

188

Christiane Tietz

1.

Die Polis als Ort moralischen Urteilens

1.1

Antike Einsichten

Die griechische Polis, als ein »a large nucleated settlement« einschließlich Hinterland und »an institutionalised political community«3, ist einer der Ausgangspunkte der klassischen griechischen Philosophie. Die »überschaubare Polis [ist] für die Griechen der Inbegriff ihrer spezifischen Siedlungsweisen und politischen Organisationsformen«4. Warum und wie sich gutes Leben in der Polis vollzieht, hat damals die vernünftigen Geister bewegt. Erörterungen über das Gemeinwesen der Polis begegnen schon in der Dichtkunst und Geschichtsschreibung des 6. und 5. vorchristlichen Jahrhunderts5. Daraus lassen sich folgende, freilich stilisierte Charakteristika der Polis erheben6 : Zunächst ist die Polis durch kollektive Verantwortlichkeit gekenn3 Hansen, Mogens Herman: Polis. An Introduction to the Ancient Greek City-State, Oxford 2006, 56. Hansen hält die Übersetzung »city-state« für eine »extremely precise translation of polis« (aaO., 58). Zur Begriffsbestimmung gehören also sowohl siedlungsgeographische wie politisch-rechtliche Aspekte (vgl. Funke, Peter : Polis und Asty. Einige Überlegungen zur Stadt im antiken Griechenland; in: Die Urbanisierung Europas von der Antike bis in die Moderne (Kieler Werkstücke, Reihe E: Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hg. von Foquet. Gerhard, Bd. 7, hg. von Fouquet, Gerhard / Zeilinger, Gabriel, Frankfurt am Main u. a. 2009, 63 – 79, 67). 4 Welwei, Karl-Wilhelm: Die griechische Polis. Entstehung, politische Organisationsform, historische Bedeutung; in: ders., Polis und Arch¦. Kleine Schriften zu Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen in der griechischen Welt; (Historia. Zeitschrift für Alte Geschichte, Einzelschriften, hg. von Chambers, Mortimer u. a., Heft 146), hg. von Meier, Mischa, Stuttgart 2000, 87 – 107, 87. Vgl. insgesamt zur griechischen Polis Welwei, Karl-Wilhelm: Die griechische Polis. Verfassung und Gesellschaft in archaischer und klassischer Zeit, 2., durchges. u. erw. Aufl., Stuttgart 1998. 5 Vgl. Nippel, Wilfried: Art. Polis; in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, hg. von Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried, Darmstadt 1989, 1031 – 1034, 1032. 6 Vgl. zum Folgenden Nippel, Wilfried: Art. Polis, 1032. Ich beschränke mich bei der Darstellung der Kennzeichen der Polis im Großen und Ganzen auf die im Historischen Wörterbuch der Philosophie genannten Aspekte aus philosophischer Perspektive. Diese Beschränkung ist ohne Zweifel reduktionistisch, versucht aber dem Sachverhalt Rechnung zu tragen, dass der Polis-Begriff in der Forschung so umstritten ist, dass auch eine differenziertere Erörterung, soll nicht eine eigene historische Studie vorgelegt werden, aussichtslos ist. Es gibt »kaum ein Thema, über das im griechischen Sektor der Althistorie im 20. Jh. soviel geschrieben worden ist wie über die Polis. Es gibt aber wohl auch kaum eines, über das die Meinungen so kontrovers gewesen sind. Es dürfte schwerfallen, auch nur zwei Gelehrte unseres Jahrhunderts zu benennen, deren Ansichten darüber, was die Polis sei, wenigstens in den Grundsätzen übereinstimmen.« (Gawantka, Wilfried: Die sogenannte Polis. Entstehung, Geschichte und Kritik der modernen althistorischen Grundbegriffe: der griechische Staat, die griechische Staatsidee, die Polis, Stuttgart 1985, 9). Für den Zweck dieses Artikels ist diese Beschränkung insofern statthaft, als es nicht um eine Rekonstruktion der antiken Situation geht, sondern darum, von bestimmten Aspekten der antiken Polis sich Anregungen für die heutige, unzweifelhaft andere Gemengelage geben zu lassen. Anregend für heute kann freilich

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zeichnet; nicht ein einzelner entscheidet, sondern ein Kollektiv. Dieses bestimmt Recht und Gesetz, die in der Polis gelten. Jedes Mitglied dieses Kollektivs ist für das gemeinsame Leben innerhalb der Polis verantwortlich. Gleichzeitig wird nach außen gemeinsam gehandelt, z. B. im Kriegsfall. Eine spezifische Gottheit verbürgt Schutz und Bestand der Polis, weshalb der gemeinsame religiöse Kultus für sie zentral ist. Wichtig für den Vollzug der kollektiven Verantwortung sind öffentliche Orte, an denen politische Entscheidungen diskutiert und gefällt werden. »Der öffentliche Platz, die Agora, wurde hier der zentrale Ort des Politischen.«7 Insgesamt kann man festhalten: Die Polis lebt von der »Selbstregierung der Bürger«; die Bürgerschaft ist das »Handlungssubjekt«8. Gefährdet9 wird die Polis durch innere st²sir (Entzweiung). Der st²sir kann dadurch entgegengewirkt werden, dass tatsächlich jeder einzelne Bürger Verantwortung für die Polis übernimmt. Außerdem sind Freundschaft und blomo¸a (Eintracht) für den Bestand der Polis unerlässlich. Demokrit weiß: »Nur von Eintracht aus lassen sich die großen Werke wie auch die Kriege für die … [poke?r] ausführen, anders nicht.«10 Diese blomo¸a ist nicht ein diffuses Wohlgefühl, sondern konkretes soziales Handeln den anderen Gliedern der Polis gegenüber. Noch einmal Demokrit: »Wenn die Vermögenden es über sich gewinnen den Besitzlosen vorzustrecken und beizuspringen und wohl zu tun, so liegt hierin bereits das Erbarmen und das Nichtalleinsein und die Verbrüderung und die gegenseitige Hilfeleistung und die Einträchtigkeit der Bürger und anderes Gutes, soviel wie niemand aufzählen könnte.«11 Warum Menschen in der Polis zusammenleben, in einer Struktur größer als der natürliche Familienverband, hat die Alten immer wieder beschäftigt. Im bei Platon berichteten Mythos des Protagoras12 wird die Entstehung der Polis mit dem Schutz vor wilden Tieren begründet. Diese sind stärker als die Menschen. Um sich vor ihnen zu retten, rotten sich die Menschen in Städten zusammen. Doch allein das Sich-Zusammenrotten bildet noch kein gelingendes Gemeinwesen. Die ersten in Städten lebenden Menschen, so Protagoras, »beleidigten … einander, weil sie … die politische Kunst [pokitijµ t´wmg] nicht hatten, so daß sie

7 8 9 10 11 12

nicht die Unterscheidung zwischen Freien und Sklaven und die Beschränkung der politischen Teilhabe auf Männer sein. Welwei, Karl-Wilhelm: Die griechische Polis. Entstehung, 91. Nippel, Wilfried: Art. Polis, 1032. Vgl. zum Folgenden Nippel, Wilfried: Art. Polis, 1032. Demokrit: Fr. 68 B 250; in: Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch von Herman Diels, hg. von Walther Kranz, Bd. 2, 10. Auflage, Berlin 1960, 195. Demokrit: Fr. 68 B 255, ebd., 196 f. Vgl. Platon: Protagoras 320 c ff., zitiert nach Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, Bd. 1, hg. von Eigler, Gunther, 2. Auflage, Darmstadt 1990.

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wiederum sich zerstreuend auch bald wieder aufgerieben wurden.«13 Um in der Polis gelingend miteinander zu leben, benötigt man pokitijµ t´wmg. Erst als Zeus in das Geschehen eingreift, glückt das Leben in der Polis. Zeus nämlich schenkt durch Hermes allen Menschen die politischen Tugenden aQd_r (Respekt vor den anderen) und d¸jg (Gerechtigkeit).14 Respekt und Gerechtigkeit werden die »Ordnungen und Bande« zwischen den Menschen und »der Zuneigung Vermittler«.15 Erst so entstehen dauerhafte Städte. Protagoras beobachtet: Während den einzelnen Bürgern verschiedene künstlerische Gaben durchaus unterschiedlich zugeteilt worden sind (der eine kann schöne Kleider weben, der andere nicht, aber dafür tragbare Schuhe anfertigen), teilt Zeus allen Bürgern in gleicher Weise die genannten politischen Tugenden zu.16 Jeder Bürger kann, vermittels dieser Tugenden geeignet, zum guten Zusammenleben in der Polis beitragen. Damit sind die zentralen Aspekte und Gründe der antiken Polis beschrieben. Sie werden bei Platon und Aristoteles noch durch weitere ergänzt. Platon sieht die Entstehung der Stadt darin wurzeln, dass »jeder einzelne von uns sich selbst nicht genügt, sondern gar vieles bedarf«.17 Deshalb zieht der Mensch mit anderen zusammen, die anderes können als er. »Die Polis entsteht, weil kein einzelner autark zu existieren vermag. Ein jeder ist vieler anderer bedürftig.«18 Der platonische Sokrates sinnierte, »die notdürftigste Stadt [müsse] aus vier oder fünf Männern« bestehen, um die grundlegenden Bedürfnisse der »Herbeischaffung der Nahrung des Bestehens und Lebens wegen« zu befriedigen: »Ackersmann …, … Baumeister, … Weber, … Schuhmacher … oder sonst eine[r] von denen, die für den Leib arbeiten«19. Dabei bleibt es freilich nicht. Denn der Ackermann und der Baumeister brauchen bestimmte Werkzeuge für ihre Tätigkeit. Und Tagelöhner braucht man und Krieger und Wächter … Aristoteles begründet die Polis bekanntermaßen damit, dass der Mensch ein v¼sei f`om pokitijºm ist, das mit anderen zusammenleben will.20 Denn nur in der Polis, im Zusammenleben mit anderen Freien und Gleichen,21 lässt sich der allein dem Menschen eigene Sinn für gut und schlecht, für gerecht und ungerecht 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Platon: Protagoras 322 b, Übersetzung modifiziert. Vgl. Platon: Protagoras 322 c. Platon: Protagoras 322 c. Vgl. Platon: Protagoras 322 d. Platon: Politeia 369 b; zitiert nach Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, Bd. 4, hg. von Eigler, Gunther, Darmstadt 1971. Bubner, Rüdiger: Polis und Staat. Grundlinien der Politischen Philosophie , Frankfurt am Main 2002, 57. Platon, Politeia 369 d. Vgl. Aristoteles: Politeia 1278 b 19; zitiert nach: Aristotelis Opera, hg. von Bekker, Immanuel im Auftrage der Königlich Preußischen Akademie, Bd. 2, (1831) Nachdruck Darmstadt 1960. Vgl. Aristoteles, Politeia 1279 a 21. 1328 a 35 f, zitiert nach: ebd.

Moralisches Urteilen in der Polis

191

realisieren, weil es hier eine feste Ordnung von Recht und Gerechtigkeit gibt.22 Aristoteles folgert deshalb, dass die Polis um »des Überlebens willen … entstanden [ist], … aber um des vollkommenen Lebens willen [besteht]«23. Während der einzelne auf den anderen Menschen angewiesen ist und es deshalb die Polis gibt, ist in philosophischer Perspektive die Polis selbst als »Handlungsgemeinschaft« autark.24 Deshalb lehnt Aristoteles eine Vergrößerung politischer Bündnisse über die Polis hinaus ab. Eine derartige Ausdehnung »ins Unbestimmte« kann nur schaden, weil sie der natürlichen Bezugnahme aufeinander nicht mehr entspricht.25 »Keine Polis wächst ins Unendliche, etwa ins Kontinentale oder Globale.«26

1.2

Neuzeitliche Verschiebungen I: Von der Polis zum Staat

Die Überschrift dieses Abschnittes mag stutzig machen. Gibt es hier überhaupt eine Verschiebung? Verträte man eine »transhistorische« Staatsvorstellung, bei der »Staat« jede politische »Ordnungskonzeption … unabhängig von Raum und Zeit« umgreift, dann könnte man auch die antike Polis oder die mittelalterlichen Verhältnisse als »Staat« bezeichnen.27 Für die Pointe dieses Beitrages, der die Polis als eine auch heute wieder moralisch relevante Kategorie entfalten will, bietet sich dieses transhistorische Staatsverständnis nicht an. Stattdessen ist eine »historische Staatsvorstellung« weiterführend, die den Staat als politische Form erst der Frühen Neuzeit versteht, die »sich insbesondere im 18./19. Jh. als eine besonders effektive, im Innern Frieden sichernde, nach außen expansionsfähige Form der politischen Organisation von Sozialverbänden erwiesen hat«28. Dieser Staat zeichnet sich u. a. durch »Entwicklung von Ämtern als fest umrissene Aufgabengebiete, intensivierte Besteuerung, Territorialität der Ordnung, Zentralverwaltung«29 aus. Im Unterschied zur mittelalterlichen Ständeordnung unter Papst und Kaiser entstehen nun territorial souveräne Einheiten, die ega22 Vgl. Hügli, Anton: Art. Mensch II. Antike und Bibel 1. Klassische indische und griechischrömische Philosophie; in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, hg. von Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried, Darmstadt 1980, 1061 – 1069, 1067 mit Bezug auf Aristoteles, Politeia 1253 a 10 ff. 23 Aristoteles: Politeia 1252 b 29 f; zitiert nach: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 9/I, übers. von Schütrumpf, Eckart, Darmstadt 1991. 24 Vgl. Bubner, Rüdiger : Polis und Staat, 57. 25 Vgl. Bubner, Rüdiger : Polis und Staat, 80. 26 Bubner, Rüdiger: Polis und Staat, 81. 27 Münkler, Herfried: Art. Staat I: 16.–18. Jh.; in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, hg. von Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried, Darmstadt 1998, 1 – 30, 1. 28 Münkler, Herfried: Art. Staat, 1. 29 Münkler, Herfried: Art. Staat, 1.

192

Christiane Tietz

litär nebeneinander existieren.30 Verschiedene Nationalstaaten treten in ein gleichberechtigtes Verhältnis zueinander. Die Entwicklung moderner Staatlichkeit ist komplex und an dieser Stelle nicht detailliert nachzuzeichnen.31 Für unseren Zusammenhang entscheidend ist die größere territoriale Struktur, die damit relevant wird. Nicht mehr die nahen Verantwortungsstrukturen allein bestimmen das moralisch Gute, sondern auch Fürsorge für Volk, Nation und Land. Spätestens seit der Aufklärung werden Menschenrechte und Gewaltenteilung die Leitkategorien für den modernen Staat.32 Zu den damit verbundenen politischen Errungenschaften gehört auch die beginnende weltanschauliche Neutralität des Staates. Dessen politische Legitimität und Einheit wird nicht mehr vorrangig religiös begründet, sondern pragmatisch hergeleitet. Religionsfreiheit wird nach und nach allen gewährt. Emile Durkheim hat beschrieben, welche Verschiebung sich damit für das moralische Urteilen ergibt. Er vertritt die Leitthese, dass »Veränderungen in der Struktur der Gesellschaften … Umgestaltung der Sitten nötig« machen; »[d]ie Moral bildet sich also, verändert sich oder bleibt, was sie war, aus empirischen Gründen.«33 Traditionale Gesellschaften, wie sie auch in der antiken Polis vorlagen, waren »durch geringe Bevölkerungszahl, generationsübergreifende Lebensverhältnisse, geringe soziale Differenzierung und Entwicklungsdynamik« gekennzeichnet. Hier funktionierte die Sozialkontrolle gut. Durch einen »Sozialisationszirkel« aus »soziale[n] Mechanismen«, psychischer »Angleichung … und Verinnerlichung«34 bildete sich in den traditionalen Gesellschaften »mechanische Solidarität« aus.35 Auf unser Thema zugespitzt kann man sagen: Die Ausbildung moralischer Urteile ist von dieser mechanischen Solidarität geprägt. Sie entwickelt sich von Generation zu Generation kaum weiter ; vielmehr wird sie stabil und verlässlich weitervererbt. In industriellen Gesellschaften hingegen gibt es »zunehmende Bevölkerungsdichte, territoriale Ausdehnung, … Kommunikationsmöglichkeiten und Differenzierung von Lebensverhältnissen und Verhaltensspielräumen bei abnehmender sozialer Kontrolle«; deshalb ist dort »die relative Einheitlichkeit der traditionalen Gesellschaft und mit ihr das Ethos der mechanischen Solidarität« zerfallen.36 Die Integration der verschiedenen An30 Vgl. Münkler, Herfried: Art. Staat, 4. 31 Vgl. dazu Pinzani, Alessandro: An den Wurzeln moderner Demokratie. Bürger und Staat in der Neuzeit, Berlin 2009; Poggi, Gianfranco: The state. Its nature, development and prospects, Cambridge 1990. 32 Vgl. Höffe, Otfried: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, 13. 33 Durkheim, Emile: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (1930); Frankfurt am Main 1992, 77. 34 Hartmann, Hans A.: Was ist sozial an der Moral?, 9 f. 35 Vgl. Durkheim, Emil: Über soziale Arbeitsteilung, 182. 36 Hartmann, Otfried: Was ist sozial an der Moral?, 9.

Moralisches Urteilen in der Polis

193

forderungen und Erwartungen kann nur vom Einzelnen übernommen werden.37 So entsteht eine »organische Solidarität«, bei der sich Menschen aufeinander beziehen, die sich aufgrund der Arbeitsteilung stärker voneinander unterscheiden.38 Sie entwickelt sich durch die Verbindung dreier Prinzipien: »Disziplin (Regelbeachtung ohne unmittelbare Sanktionsdrohung), … Gruppenbindung (Bereitschaft zu solidarischem und altruistischem Handeln in Gruppen) und … Autonomie (kritische Reflexion und Universalisierung gesellschaftlicher Regeln)«39. Auch wenn man dieser Analyse nicht folgt, sie für zu dichotom und undifferenziert hält,40 oder wenn man sich eher an A-priori-Konzeptionen des moralischen Urteilens wie die Kantische anschließen mag, so scheint doch offensichtlich, dass die soziologischen Veränderungen der Neuzeit zumindest für die individuelle Ausprägung des moralischen Urteilens relevant sind.

1.3

Neuzeitliche Verschiebungen II: Vom Nationalstaat zur Globalisierung

Spätestens seit der Katastrophe des 2. Weltkrieges hat sich die Notwendigkeit transnationaler Strukturen aufgedrängt. Kontinentale und globale politische Bündnisse sind hernach grundlegend für die politische Wirklichkeit geworden. Die Vereinten Nationen und – etwas später – die gemeinschaftlichen europäischen Institutionen wollen dem Frieden und den Menschenrechten dienen, die allein aus nationalstaatlicher Perspektive nicht sichergestellt werden können. In Art. 1 der Charta der Vereinten Nationen heißt es, der Zweck der UN sei es, in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Gerechtigkeit und des Völkerrechts internationalen Frieden und Sicherheit zu bewahren, auf der Grundlage des Prinzips gleicher Rechte und der Selbstbestimmung der Völker freundschaftliche Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln sowie internationale Kooperationen für die Lösung internationaler ökonomischer, sozialer, kultureller und humanitärer Probleme zu pflegen.41 Jenseits dieser neuen supranationalen politischen Organisationen sind in den vergangenen Jahrzehnten rasant gänzlich neue Kommunikations- und Informationsstrukturen entstanden. Menschen sind heute in vorher nie gekanntem Ausmaße weltweit mobil. »Globalisierung« als »Zunahme und Verdichtung der 37 38 39 40 41

Vgl. Hartmann, Otfried: Was ist sozial an der Moral?, 9. Vgl. Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, 182 f. Hartmann: Was ist sozial an der Moral?, 10. So Hartmann: Was ist sozial an der Moral?, 11. Vgl. Charta der Vereinten Nationen. Statut des Internationalen Gerichtshofes, eingel. u. hg. von Krüger, Hartmut, Stuttgart 1995, 12.

194

Christiane Tietz

weltweiten sozialen Beziehungen«42 hat das politische und soziale Setting der vergangenen Jahre geprägt. Große Unternehmen agieren längst international, auch NGOs haben internationale Gestalt.43 Was Demokratie bedeutet, muss vor diesem Hintergrund neu bedacht werden. Eine Einschränkung politischer Entscheidungen auf – wie groß auch immer zu denkende – »regional begrenzte Gemeinwesen« wie Polis und Nationalstaat funktioniert nicht mehr.44 Viele der früher rein einzelstaatlichen Aufgaben wie wirtschaftliche Sicherheit oder Fürsorge für die Umwelt können heute von Staaten alleine gar nicht mehr bewältigt werden; de facto ist es zu einer Entmachtung der Einzelstaaten gekommen.45 Gleichzeitig haben die neuen internationalen Strukturen auch Probleme mit sich gebracht. Die supranationalen Organisationen leiden nach wie vor unter einem Demokratiedefizit; in eins damit werden Anfragen an die Legitimität ihrer Entscheidungen gestellt. Die Verdichtung der sozialen Beziehungen macht jeden Staat für das Wohlergehen auch der anderen Staaten mitverantwortlich und jeden einzelnen – z. B. als Konsumenten – für das Wohlergehen von Menschen auf der anderen Seite des Globus. In dieser Ausweitung der Verantwortungsstruktur liegt gleichzeitig die Gefahr der Aushöhlung des Begriffs der Verantwortung. Wer für alles verantwortlich ist, ist es für nichts mehr ; wer mit jedem in der gleichen Weise moralisch verbunden ist, ist es mit keinem.46 Auch hier liegt ein Einfluss der veränderten Strukturen auf moralisches Urteilen auf der Hand. Zunächst ist zu begrüßen, dass der Blick sich in der Globalisierung weitet und Menschen in der Regel davon wissen, dass ihre Entscheidungen Auswirkungen nicht nur vor Ort, sondern oft auch in weit größeren Kontexten haben. Wer heute eine billige Jeans kauft, weiß zumeist, dass er damit auch die moralisch zweifelhafte Konsequenz bejaht, ausbeuterische Arbeitsbedingungen und Umweltverschmutzung in fernen Herstellungsländern zu unterstützen. Neue Parameter für moralisches Urteilen kommen damit in den Blick. Gleichzeitig liegt in den größeren Kontexten aber eben auch die Gefahr der Verunklarung und Veruneindeutigung. Weil die Entscheidungszusammenhänge so weitreichend und komplex geworden sind, gibt es keine »richtige Entscheidung« mehr. Natürlich kann man sich an universalen Normen orientieren. Aber 42 43 44 45 46

Höffe, Otfried: Demokratie, 13. Vgl. Höffe, Otfried: Demokratie, 14. Höffe, Otfried: Demokratie, 14. Vgl. Höffe, Otfried: Demokratie, 13. Zur Kritik daran vgl. Bernasconi, Robert: Vor wem und wofür? Zurechenbare Verantwortlichkeit und die Erfindung der ministeriellen, hyperbolischen und unendlichen Verantwortung; in: Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Begriffs, hg. von Ludger Heidbrink, Frankfurt am Main 2006, 221 – 246, 240.

Moralisches Urteilen in der Polis

195

im konkreten Anwendungsfall – ist man nicht strikter Kantianer – müssen facettenreiche Konstellationen in nah und fern mitbedacht werden. Eine derartige Komplexität hatte moralisches Urteilen zu früheren Zeiten nicht.

1.4

Rückkehr (zumindest auch) zur Polis?

Vor diesem Hintergrund bahnt sich eine Rückbesinnung auf kleinere Strukturen an. Selbst wenn man hinter die globalen Vernetzungen nicht mehr zurückgehen kann, die besonderen moralischen Strukturen der Nahbeziehungen im direkten Umfeld, in der Polis, gewinnen neue Relevanz. Der Leitspruch »think global, act local« mag als Beleg dafür gelten. Dahinter steht die Einsicht, dass Globales und Lokales weit komplexer zusammenhängen als vormals angenommen. Gleichzeitig wird darin wohl auch die aristotelische Beobachtung reflektiert, dass eine Ausdehnung »ins Unbestimmte« der natürlichen Bezugnahme von Menschen aufeinander nicht entspricht. Dieser neuen Rückkehr (zumindest auch) zur Polis will der zweite Teil dieses Beitrages nachdenken.

2.

Die Polis als Herausforderung für gegenwärtiges moralisches Urteilen

Die vergangenen Jahrzehnte waren geprägt von der Einübung globalen Urteilens. Man musste lernen, dass ethische Entscheidungen nicht nur die einzelne Nation, sondern immer auch die Gemeinschaft der Menschen, nicht nur lokale Strukturen, sondern immer auch globale Zusammenhänge betreffen. Die Frage, ob ein Land seine Energie mit Atomkraft erzeugt oder nicht, betrifft eben nicht nur dieses Land selbst. Die modernen Staaten sind eben gerade nicht autark wie die ideale Polis, sondern mannigfach miteinander verwoben. Gleichzeitig stellt sich gegenwärtig aber ein Bewusstsein davon ein, dass Menschen trotz aller Globalisierung zunächst an einem bestimmten Ort, in einer konkreten Polis leben. Natürlich, wir verreisen in fremde Länder und sind auch beruflich viel unterwegs. Doch in der Polis findet unser Alltag statt. Trotz aller globalen Kontakte bleibt die Einsicht in die Angewiesenheit auf andere vor Ort (»jeder einzelne von uns [genügt sich selbst nicht]…, sondern [bedarf] gar vieles«). Trotz der heute weitaus größeren Mobilität der Menschen gegenüber denen in der antiken Polis sind die besonderen Angewiesenheiten auf andere im konkreten Leben vor Ort nicht zu überspringen. Keiner, selbst jemand, der

196

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ständig im globalen Netz unterwegs ist, lebt ohne Kontakte am Ort – und wenn es nur der Pizza-Service ist, der ab und zu an seiner Tür klingelt. Damit stellt sich die Frage: Wodurch zeichnet sich die moderne Polis aus – und worin besteht ihr spezifischer Einfluss auf moralisches Urteilen? Diese Frage zielt nicht auf das Wie des guten Lebens in der Polis, sondern auf die Praxis des moralischen Urteilens in der Polis.47 Was für ein Praxisraum für das Urteilen ist durch das Leben in der modernen Polis gegeben? Wie verändert sich der Vollzug des moralischen Urteilens, wenn neben der staatlichen und globalen Perspektive die der Polis wieder mehr in den Blick kommt? Dabei ist klar : Es kann nicht darum gehen, die nationalstaatlichen oder globalen Perspektiven wieder aufzugeben. Aber die lokale, polis-gebundene darf über diesen nicht vernachlässigt werden. Ich werde drei Aspekte erörtern, die sich der Betrachtung der antike Polis zu Beginn dieses Beitrages verdanken, aber auch die moderne Polis in den Blick nehmen.

2.1

Nahe Verantwortungsstrukturen

Moralisches Urteilen, das sich auf die Polis bezieht, betrifft zunächst immer auch uns selbst. Das moralische Urteil für die Polis betrifft nicht nur »die«, sondern auch mich, und zwar in zweierlei Hinsicht: erstens in der Verantwortung, die ich für dessen Realisierung habe, und zweitens in dem Ergebnis, das sich aus der Realisierung des Urteils ergibt. Zum ersten: In der Polis bin ich selbst in die Umsetzung des Urteils eingebunden. Durch die besondere Nähe in der Polis, bei der man »das Wohl einem selbst Nahestehender schwerer gewichtet als das entfernterer Personen«, verändert sich – so formuliert Tilmann Habermas in ähnlichem Kontext – der »Verpflichtungsgrad moralischer Urteile für das eigene Handeln«48. In der Polis habe ich – in gewissem Grade – deshalb selbst Verantwortung für die Realisierung meines Urteils. Dass dies Auswirkungen auf das Urteilen selbst hat, liegt auf der Hand. Wegen des erhöhten Verpflichtungsgrades für das eigene Handeln gehört zum moralischen Urteilen in der Polis auch die Ausbildung politischer Tugenden 47 Vgl. zur grundsätzlichen Fragestellung der Tagungsreihe Schoberth, Ingrid: »In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.« Urteilen lernen als Herausforderung ethischer Bildung; in: dies. (Hg.), Urteilen lernen – Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung, Göttingen 2012, 9 – 18, 9. 48 Habermas, Tilmann: Verantwortung und Zumutbarkeit im Verhältnis moralischen Urteilens und Handelns; in: Moralisches Urteil und Handeln, hg. von Detlef Garz, Fritz Oser und Wolfgang Althof,; Frankfurt am Main 1999, 264 – 292, 281.

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197

hinzu. Die antike Debatte über die Polis hielt ja dafür, dass das Leben in der Polis nur möglich ist, weil alle Bürger politische Tugenden ausbilden können. Nur durch Freundschaft und Eintracht, die sich konkret für die Schwachen der Stadt einsetzt, und nur durch Achtung vor anderen und die Orientierung an Gerechtigkeit funktioniert die Polis. Dies gilt auch in heutigen Polis-Strukturen: Weil die Ergebnisse des moralischen Urteilens mich selbst als Handelnden betreffen, muss mein Handeln so vorgeprägt sein, müssen solche politischen Tugenden ausgebildet sein, dass das eigene Handeln erfolgreich auch an diesen moralischen Urteilen orientiert werden kann. Diese Tugenden erlernt man nur durch Gewöhnung. Für das moralische Urteilen in der Polis ist mithin eine tugendfördernde moralische Erziehung notwendig. Zum zweiten: In der Polis bin ich durch das Ergebnis meines eigenen moralischen Urteilens mitbetroffen. Es betrifft nicht einfach »Ferne«, deren Leben nach den Standards meines Urteilens zu regeln ist. Wenn ich dies oder das für meine Polis für richtig halte und mich entsprechend dafür einsetze, dann werde ich von den Resultaten selbst in meinem Leben beeinflusst werden. Entsprechend wird das moralische Urteilen sich in der Regel anders vollziehen, als wenn das Urteil sich nur auf etwas bezieht, was keinen direkten Einfluss auf mein Leben hat. Über diese beiden reflexiv zu bearbeitenden Aspekte der Realisierungspflicht und der eigenen Betroffenheit hinaus hat die Polis auch Auswirkungen auf die atmosphärische Dimension des moralischen Urteilens. Ein moralisches Urteil in der Polis wird – stärker als ein global sich verstehendes – in einer intensiven »moralischen Atmosphäre« gefällt: Es ist bestimmt durch das in diesem Kontext »herrschende Gemeinschaftsgefühl« und eine »Solidarität zwischen den Mitgliedern«49. Die moralische Atmosphäre bezeichnet zum einen »die allgemeine Erwartung an das Ausmaß, in dem Interaktionen nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten ausgerichtet werden … Zum anderen bestimmt sie das Ausmaß praktischer Solidarität und gegenseitiger Unterstützung, also den Grad gegenseitigen Wohlwollens«50. Weil es bei moralischen Urteilen in der Polis nicht um irgendwelche Menschen geht, deren Rechten man in seinem moralischen Urteil gerecht werden will, sondern um »das Wohlergehen bestimmter anderer« sowie um »den Erhalt von Beziehungen«51, ist die moralische Atmosphäre hier verdichteter. Das bedeutet auch: Während man sich bei globalen Fragen eher an allgemeinen deontologischen Kriterien für das eigene ethische Urteil ausrichten

49 Begriff von Lawrence Kohlberg, beschrieben bei Tilmann Habermas: Verantwortung, 281. 50 Habermas, Tilmann: Verantwortung, 281. 51 Habermas, Tilman: Verantwortung, 281.

198

Christiane Tietz

wird,52 spielen bei lokalen Fragen verantwortungsethische Erwägungen wie auch der Aspekt der Reziprozität eine Rolle.53 Und schließlich weiß sich der in der Polis moralisch Urteilende nicht allein. In der Polis wird kollektiv Verantwortung übernommen; alle beteiligen sich (idealiter) an der Frage, wie man in dieser Polis leben will. Das wiederum entlastet beim eigenen moralischen Urteilen.

2.2

Pluralität der Überzeugungen

Für die antike Polis war der zusammen ausgeübte religiöse Kult und der Schutz durch eine gemeinsame Polis-Gottheit zentraler Haftpunkt. Auf solches kann man in der Moderne nicht mehr hoffen. Die Politik der Moderne gewährt Religionsfreiheit und verzichtet damit darauf, eine einheitliche religiöse Struktur herzustellen. Entsprechend ist die moderne Polis durch eine Vielfalt von Überzeugungen gekennzeichnet. In unseren Großstädten leben 15 – 28 % Menschen mit Migrationshintergrund.54 Der Anteil an Einwohnern, die einer der beiden großen christlichen Konfessionen angehören, nimmt stetig ab.55 Während z. B. in Frankfurt 2003 noch 48 % evangelisch oder katholisch waren, waren es 2011 nur noch 42 %.56 Dieser Rückgang hat nicht nur mit Zuzug aus anderen Weltbereichen zu tun, sondern auch mit Kirchenaustritten und demographischem Wandel.57 Es gilt: In den Städten bilden die Kirchenmitglieder nicht mehr die Mehrheit. Auch auf den Vollzug moralischen Urteilens hat diese Pluralität Auswirkungen. Während man früher in dörflichen Strukturen noch durch die alten »Sozialisationszirkel« geprägt war, ist es in der modernen Polis nicht mehr selbstverständlicher Weise die christliche Religion, die den Rahmen für das eigene moralische Urteilen bereitstellt. Diese religiöse Vielfalt bedeutet nicht den Verzicht auf christliche Einflüsse auf moralisches Urteilen, bedeutet nicht, dass sich die christliche Religion aus den Prozessen moralischen Urteilens heraushalten muss. Aber sie kann, wie Ingrid Schoberth formuliert, sich nur in einer »Spannung von Offenheit und Bestimmtheit« bspw. im schulischen Kontext einbringen: »den Kindern und Jugendlichen [soll] christliche Religion mit 52 Vgl. Habermas, Tilmann: Verantwortung, 285. 53 Vgl. Habermas, Tilmann: Verantwortung, 284. 54 Vgl. http://www.welt.de/print-wams/article98946/Staedte-mit-dem-hoechsten-Auslaenderanteil.html (Zugriff am 24. Juli 2013). 55 Vgl. http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit/Staedte_Religionszugehoerigkeit_2003_2011.pdf (Zugriff am 24. Juli 2013). 56 Ebd. 57 Vgl. ebd.

Moralisches Urteilen in der Polis

199

ihren Orientierungen und starken Bewertungen gezeigt [werden] … (Bestimmtheit), ohne damit freilich einzufordern, dass Kinder und Jugendliche diese Perspektiven und Orientierungen teilen müssen (Offenheit)«58. Diese Notwendigkeit der Offenheit ist nicht unbedingt eine nur neue Entwicklung. Und sie ist der christlichen Religion auch keineswegs völlig fremd. Die christliche Religion ist ja, gerade in ihren ethischen Überzeugungen, keineswegs monolithisch. In den meisten Fällen vertragen sich durchaus unterschiedliche ethische Einschätzungen mit dem christlichen Glauben. Das klingt nach einer gern dem Protestantismus zugeschriebenen Beliebigkeit. Aber zwischen der Behauptung, es gebe nur eine richtige christliche Position, und der These, für Protestanten sei letztlich alles mit ihrem Glauben vereinbar, liegt ein recht umfangreicher Zwischenraum. Dieser wird gestaltet durch die Orientierung an der Nächstenliebe. Ein an ihr geschultes moralisches Urteilen wird die Pluralität in der Polis gut ertragen und ihr gleichzeitig gestaltend begegnen können. Welche Rolle spielt in diesem Pluralitätszusammenhang moralischen Urteilens die interreligiöse Begegnung? Pluralität ist ja kein abstraktes Phänomen, sondern etwas, was Menschen in ihrem städtischen Alltag erleben. Dass Anhänger anderer Religionen auf anderen Wegen und anhand anderer Kriterien moralisch urteilen, wer dies erlebt – z. B. in einem Gespräch mit einer jungen Muslimin, die auf die Frage, warum sie denn so und nicht anders handele, antwortet, dies sei eben von Gott so geboten –, der sieht sich in seinem eigenen Weg moralischen Urteilens herausgefordert. Im ersten Moment mag er diese Direktheit noch verurteilen, im zweiten wird er sich fragen, warum für ihn selbst bei seinem moralisch Urteilen z. B. die Frage nach Gottes Geboten so gut wie keine Rolle spielt. Wie auch immer man diese Frage beantwortet, in jedem Fall stellt die in der gegenwärtigen Polis begegnende Pluralität moralischer Überzeugungen Anfragen an die Genese der eigenen moralischen Urteile. Gleichzeitig fordert die Pluralität der Überzeugungen zum Transparentmachen der eigenen Gründe heraus. In einem homogenen christlichen Ort ist es nicht nötig zu begründen, warum es besser ist, bspw. am Sonntag nicht zu arbeiten. Die plurale Gesellschaft der modernen Polis hingegen fordert Gründe für dieses Tun. Diese Forderung hilft das eigene moralische Urteil nicht nur aus Gewohnheit, sondern aus Überzeugung heraus zu fällen.59 Müssen diese Gründe für alle anderen Glieder der Polis zustimmungsfähig sein?60 Diese Frage ist in der politischen Philosophie der letzten Jahrzehnte, seit 58 Schoberth, Ingrid: In zweifelhaften Fällen, 31. 59 Vgl. dazu Schoberth, Wolfgang: Urteilen und Lebenswelt. Eine systematische Perspektive auf das ethische Lernen; in: Urteilen lernen. Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung, hg. von Schoberth, Ingrid, Göttingen 2012, 291 – 302, 298. 60 Vgl. dazu Tietz, Christiane: … mit anderen Worten … Zur Übersetzbarkeit religiöser Überzeugungen in politischen Diskursen; in: Evangelische Theologie 72/2012, 86 – 100.

200

Christiane Tietz

John Rawls‹ Gerechtigkeitstheorie, immer wieder diskutiert worden. Im Grundsatz sind drei Antworten möglich. Zum einen kann man – im Anschluss an den Liberalismus – für die eigene Urteilsbegründung allein nach Gründen suchen, die für alle Menschen der Polis prinzipiell zustimmungsfähig sind. Dieses Suchen stimmt aber nicht damit überein, dass viele Menschen zunächst aus einem spezifischen, moralisch partikular geprägten Kontext kommen und von ihm her ihr Urteilen vollziehen. Zum zweiten kann man die eigenen partikularen Gründe auch den anderen mitteilen, weil man die eigene Position eben so gewonnen hat. Ob der andere durch sie überzeugt wird, ist demgegenüber nachrangig. Damit wird aber übergangen, dass man in der Regel von der Richtigkeit der eigenen Position auch für andere Menschen überzeugt ist. Zum dritten kann man versuchen – und das scheint mir der beste Weg zu sein –, solche zunächst aus partikularer, also z. B. spezifisch religiöser Überzeugung heraus gewonnenen Gründe auch anderen zunächst systemimmanent zu erklären. In einem zweiten Schritt sind sie dann zu transformieren in Überzeugungen, die für alle Menschen zustimmungsfähig sind. Insgesamt tritt man so »zweisprachig« auf. Der damit ermöglichte Austausch über durchaus unterschiedlich erreichte moralische Urteile hilft, das eigene Urteil auf seine Tragfähigkeit hin zu überprüfen.

2.3

Sichtbarkeit und Öffentlichkeit in der Polis

Moralische Urteile, die überstaatliche Fragen betreffen oder gar globale, lassen sich in ihren komplexen Folgen nur schwierig bewerten. In kleineren politischen Zusammenhängen wie der Polis scheint dies anders zu sein. Dort sind die Ergebnisse schneller sichtbar. Während man trefflich über die Gründe für die Klimaerwärmung streiten kann, kann man an einem autofreien Sonntag sehen und spüren, wie verstärkter Autoverkehr in der Innenstadt die Lebensqualität in der Polis verringert und es deshalb moralisch angemessener wäre, mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt zu fahren. Noch einen letzten Aspekt will ich bedenken: In der Polis der Antike herrschte ein Primat der Öffentlichkeit.61 Aristoteles hielt den Menschen nicht zunächst für ein familiäres Wesen.62 Noch vor der Familie steht seine Ausrichtung auf das Leben in der polis. Der Mensch ist ein f_om pokitijºm, kein f_om oQje?om. Entsprechend gab es eine Vielzahl von öffentlichen Bauten in der griechischen Polis, 61 Vgl. Elisabeth Lichtenberger : Die Stadt. Von der Polis zur Metropolis; Darmstadt 2002, 115 ff. 14 f. 62 Vgl. ebd., 116 mit Bezug auf Aristoteles’ Politeia.

Moralisches Urteilen in der Polis

201

die allen Bürgern zugänglich waren.63 Hier wurde diskutiert und gestritten, hier wurde abgestimmt und gewählt. Diese Strukturen sind nicht auf heute zu übertragen. Es gibt in der modernen Polis so gut wie keine derartigen öffentlichen Orte, an denen sich moralische Urteile ausbilden. Mancher mag vermuten, dass das Internet der öffentliche Raum ist, in dem sich heute moralisches Urteilen ausbildet. Allerdings birgt das Internet mit seiner Anonymität und seiner Ferne-Struktur eine große Gefahr : Es können, anders als in nahen Polis-Strukturen, moralische Positionen vorgegeben werden, die man selbst einzuhalten in diesen oder in analogen Fällen in keiner Weise gewillt ist. Während in einer Polis-Struktur sich das Verhältnis von eigenem Urteil und eigenem Handeln in gewissem Maße überprüfen lässt, ist dies im Internet so gut wie gar nicht möglich. Ohne Probleme kann ein Mensch an andere Menschen Maßstäbe anlegen, die er für sich selbst bewusst oder unbewusst ablehnt. Die vermeintliche Öffentlichkeit des Internets hat keinerlei Wahrhaftigkeitsfunktion. Der moralisch urteilende Mensch bleibt letztlich, selbst in Foren mit Klarnamen, als Handlungssubjekt so gut wie unerkannt. Gibt es, mit dieser Frage möchte ich schließen, in der modernen Polis Orte, an denen diese Unerkennbarkeit und damit Nichtverantworten moralischen Urteilens durchbrochen wird? Gibt es in der modernen Polis eine Struktur, die dem entgegenwirkt? Mir scheint, Schulen und Hochschulen könnten solche Orte sein, freilich nur dann, wenn sie sich nicht völlig den neuen Medien hingeben, sondern hier wirklich Menschen noch Menschen begegnen.

63 Vgl. ebd.

Nadine Sauber

Urteilen als Vollzug des Offenbarwerdens der Wahrheit. Dietrich Bonhoeffer und das Wagnis des Urteilens

»Als Petrus auf das schwankende Meer gerufen wird, da muß er aufstehen und den Schritt wagen. Es war in all dem nur eins gefordert, sich auf das Wort Jesu Christi zu verlassen, dieses Wort für einen tragfähigeren Boden zu halten als alle Sicherheiten der Welt.«1

Es gehört zu den wesentlichen Einsichten Dietrich Bonhoeffers, dass Glaube und Gehorsam das Wagnis des Handelns – und ich möchte heute hinzufügen: des Urteilens – einschließen. Zwar finden wir in Bonhoeffers Schriften selten explizite Aussagen zum Urteilen selbst, dieses aber steht aufgrund der beständigen Aufforderung zum Handeln im Zentrum seines Theologisierens. Er kann nämlich »wirklichkeitsgemäßes Handeln«2 nicht ohne ein vorhergehendes Urteil einfordern. Wenn er sich in seiner Ethik gegen eine christliche Ethik, die das »Wissen um Gut und Böse«,3 also über zeit- und situationslose Normen und Prinzipien, zum Ziel hat, ausspricht, erweist sich hier die grundsätzliche Weichenstellung einer Kritik allen menschlichen ethischen Urteilens und Handelns aus dem vermeintlich eigenen Wissen um tob und ra.4 Wenn er aber zugleich doch von einer christlichen Ethik sprechen kann und will, geschieht das allein aus seiner Einsicht heraus, dass eben dieses Wissen um Gut und Böse bereits der 1 Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge; 3. durchges., aktual. Auflage, München 2002, 69. Cf. Mt 14, 29. 2 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik; 2., überarb. Auflage, München 1998, 223 u. ö. 3 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 301. In seinem Vortrag als Vikar in der deutschen Auslandsgemeinde Grundfragen einer christlichen Ethik aus dem Februar 1929 sah Bonhoeffer den Christen in der paradoxen Situation, immer wieder zwischen zwei einander widersprechenden Ordnungen Gottes wählen zu müssen: der Geschichtsordnung und der Liebesordnung. So müsse ein Soldat seinen Feind nach der Geschichtsordnung töten und nach der Liebesordnung als Nächsten anerkennen. Gegen eine allgemeingültige, zeit- und situationslose Normen, Prinzipien und Gebote aufstellende Ethik forderte er eine konkrete, gegenwartsbezogene christliche Ethik, die sich gerade nicht hinter überzeitlichen Prinzipien verstecken, sondern in die Stürme der Geschichte hineinziehen lassen will, um der Erde treu zu bleiben. Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Barcelona, Berlin, Amerika 1928 – 1931; 1. Auflage, München 1991, 323 – 345 sowie ders.: Ethik, 367 f. u. ö. und das Nachwort 414 f. 4 Cf. die hebräischen Begriffe für Gut und Böse in Gen 2,17: 5*9ü und FL(.

204

Nadine Sauber

Abfall vom Ursprung sind. Christliche Ethik kann dementsprechend nur als »Kritik aller Ethik allein als Ethik zu gelten«5 beanspruchen, womit eine sich an Prinzipien und Handlungsmaximen orientierende Ethik nicht zu Bonhoeffers Rede von einem wirklichkeitsgemäßen Handeln in der Welt gehört. Im Gegenteil, im Mittelpunkt seines Nachdenkens über Gott und den Menschen steht zu jeder Zeit Gottes lebendiges, sich hier und jetzt konkretisierendes Wort.6 Die Forderung, sich jeweils von diesem Gebot Gottes in Anspruch nehmen zu lassen, erweist sich als handlungsleitend für jedes ethische Urteilen darin, dass es gerade nicht nach allgemeinen, überzeitlichen Regeln fragt, sondern allein danach, was Gottes lebendiges Wort hier und heute bedeutet. Folgen wir, um unsere Beobachtung vom Wagnis des Urteilens näher einzusehen, dem Bild, das Bonhoeffer von Petrus zeichnet, wenn dieser von Jesus aufgerufen ist, ihm auf dem schwankenden Meer nachzufolgen: Bonhoeffer führt uns hier die unmögliche Möglichkeit vor, dass Jesus von Petrus etwas sich der Vernunft, etwas den Naturgesetzen und der Intuition Widersprechendes fordert, wenn er ihn anhält, über das Wasser zu gehen. Dazu hat Petrus an dieser Stelle nur zwei mögliche Handlungsoptionen, entweder er vertraut auf sich selbst und seine Vernunft und bleibt sicher im Boot zurück oder er kommt dem Ruf Jesu auf ’s Wasser nach. Petrus nun gehorcht, er wendet sich ab von seinem eigenen Wissen, wagt in vollem Vertrauen auf Jesus den Schritt ins Ungewisse und folgt seinem Herren nach. Es ist also einzig das Wort des lebendigen Gottes in der konkreten Situation, das ihm zu einem handlungsleitenden Urteil befähigt. Im unerschütterlichen Blick auf seinen Herrn nimmt er dieses Wagnis auf sich und setzt seinen Fuß von den festen Planken des Bootes auf die unstetigen Wellen des Wassers – und geht. Wenn Bonhoeffer die Begriffe Gebotserfüllung7 und Weltgestaltung8 an seine Auslegung des Verantwortungsgedankens bindet, stellt sich offensichtlich die Frage, ob seine Ethik zum einen zu anspruchsvoll und bildungsbürgerlich und zum anderen darin zu idealistisch ist, weil sie vom Menschen etwas Unerreichbares zu fordern scheint: nämlich Stellvertretung, d. h. Nachfolge Christi sowie intellektuelle Erfassung der unüberschaubaren Realität. Liest man Bonhoeffers Auslegung des Verantwortungsbegriffes in dieser Weise, ergeben sich daraus freilich zum einen ein unerfüllbarer Anspruch und zum anderen eine folgenschwere Handlungsunfähigkeit, die eben diese Impraktikabilität des ethischen Anspruchs widerspiegeln. Dass darin dann auch die Forderung des Urteilens und ganz besonders des urteilen Lernens als eine nicht realisierbare 5 6 7 8

Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 301. Cf. Schmitz, Florian: »Nachfolge«. Zur Theologie Dietrich Bonhoeffers; Göttingen 2013, 37. Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 383 f. Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 89 u. ö.

Urteilen als Vollzug des Offenbarwerdens der Wahrheit

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erscheint, liegt nahe. Dass aber im Gegenteil der bonhoeffersche Verantwortungsbegriff dieses an sich nicht aufgrund etwaiger Unmöglichkeit in seinem Keim ersticken lässt, sondern vielmehr gerade das urteilen Lernen zu allererst ermöglicht und viel mehr noch zum tragenden Verständnis des wirklichkeitsgemäßen Handelns macht, soll nachfolgend aufgezeigt werden. Es ergeben sich damit für uns folgende Fragestellungen, die es näher auszuleuchten gilt: Wenn die Rede von der Verantwortung des Menschen in der Welt für die Welt bei einem handlungs- und entscheidungsfähigen Menschen einsetzt, müssen wir aufspüren, was Bonhoeffer unter dem Geschöpf Gottes begreift. Dazu ist es freilich geboten, die Rede vom neuen Adam, mit Bonhoeffer gesprochen, dem »Sein in Christus«,9 für unsere Fragestellung fruchtbar zu machen. Da jedes Urteilen einen Begriff von Freiheit voraussetzt, schließt sich eine Ausdifferenzierung desselben an, um so dem darin angelegten Begriff der Verantwortung, bzw. des verantwortlichen Handelns näher zu kommen. Zuletzt ist es uns dann zur Aufgabe gegeben, Bonhoeffers Rede vom wirklichkeitsgemäßen Handeln in einen Bezug zum Wagnis des Urteilens zu setzen. Wenn wir nämlich über das Fällen von Urteilen nachdenken, stellt sich uns neben der Frage des Gelingens zugleich immer die Frage des Misslingens. Wenn Bonhoeffer nun also fordert, das Wagnis des Handelns einzugehen, wie ist dann mit einem Fehlurteil umzugehen? Nur dann, wenn man der Möglichkeit des Scheiterns einen Platz einräumt, erscheint auch ein Nachdenken über das urteilen Lernen mit Bonhoeffer sinnvoll und angebracht. Im Folgenden möchte ich nun genau diesen Dreischritt nachdenken, indem wir mit der Auslegung der Geschöpflichkeit beginnen, uns darin fragen, was Bonhoeffer unter dem alles- und nichtssagenden Begriff der Freiheit und daran angeschlossen der Verantwortung meint, um dann zuletzt dem Wagnis des Urteilens näher zu kommen.

1.

Zuspruch

In seiner im Wintersemester 1932/33 gehaltenen Vorlesung Schöpfung und Fall an der Freien Universität Berlin finden wir Bonhoeffers Grundlegungen zu seinen Begriffen des Geschöpfes bzw. der Geschöpflichkeit des Menschen, die auch in seinem ca. zehn Jahre später verfassten Manuskript der Ethik eine tragende Rolle spielen. Hier wie dort beschreibt er den Menschen als Ebenbild Gottes zum einen darin, dass sich diese Ebenbildlichkeit in einem Gegenüberund Füreinandersein von Gott und Mensch sowie von Mensch und Mensch, von 9 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Akt und Sein: Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie; 3. Auflage, München 2008, passim.

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Mann und Frau ausdifferenziert, in welchem er ein Einswerden beider erkennt.10 »Sie sind nun nicht mehr ohne einander, sind doch eines und doch zwei.«,11 heißt es in seiner Vorlesung. Eine grundlegende Bestimmung des Menschseins, d. h. der Geschöpflichkeit finden wir damit in der Anlage des Menschen zur Relationalität. Der Mensch ist Mensch, weil er in Beziehung steht, in Beziehung zu seinem Nächsten, der aus seiner Rippe genommen ist, der sein Fleisch ist,12 sowie in Beziehung zu seinem Schöpfer, der in seiner unendlichen Barmherzigkeit Adam einen Beistand schafft.13 In Beziehung steht er in dieser Lesart zudem auch zur Erde, ist er doch »aus Staub vom Ackerboden«14 gebildet.15 Damit kreist die gesamte Darstellung des Geschöpf- wie Personbegriffs um diesen Gedanken der Relationalität: Bonhoeffer lässt diesen nicht in einem unklaren Raum des Kollektivs enden, sondern kann im Gegenteil durch die Betonung der konkreten Person eine Verbindung von Individualität und Korporation denken.16 In der Ausdifferenzierung erklärt diese analogia relationalis das Geschöpf als Gerichtetsein auf ein Gegenüber ; der Mensch ist nicht in einem Sein an sich geschaffen, denn gerade als individuelles, konkretes Sein ist er nur von Gott her und in Bezug auf Gott, sowie vom Anderen zum Nächsten hin gedacht.17 Zum anderen erkennt Bonhoeffer in dieser Bestimmung der Gottebenbildlichkeit eine zweite Seite der Medaille, die den Menschen als Freien bestimmt. Die Ähnlichkeit des Geschöpfes zu seinem Schöpfer zeigt sich demnach auch darin, »daß [es] frei ist. Freilich [es] ist frei allein eben durch die Schöpfung Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall; 3. Auflage, München 2007, 90 f. Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 90. Cf. Gen 2,21 ff. Cf. dazu auch Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 302. Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 69. Die Betonung der Schaffung des Adam aus Erde und Staub verweisen nach Bonhoeffer auf zweierlei: Zum einen wird hier die die Väterlichkeit und Nähe Gottes betont, der seinen Menschen mit seinen eigenen Händen schafft, zum anderen wird die Leiblichkeit als Teil des kreatürlichen Daseins erkannt. Bonhoeffer kann sogar so weit gehen zu sagen: »Der Mensch, der sich seines Leibes entledigt, entledigt sich seiner Existenz vor Gott, dem Schöpfer.« (Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 71 f.) 16 Dieser Personbegriff kehrt so gut wie unverändert in jedem Text der frühen Theologie Bonhoeffers wider. Besonders hervorzuheben ist dabei, dass diese Interpretation von Person sowohl korporativ, im Sinne der Leib Christi-Auslegung, als auch individuell, in Bezug auf das konkrete Individuum, ausdifferenziert ist. Das hebt ihn nach Green und Zimmermann von anderen Philosophen und Theologen (cf. Martin, Buber, Emmanuel Levinas, Friedrich Gogarten, Emil Brunner u. a.), die eine Ich-Du-Beziehung in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen, klar ab. Cf. Green, Clifford J.: Freiheit zur Menschlichkeit. Dietrich Bonhoeffers Theologie der Sozialität; Gütersloh 2004, 40; Zimmermann, Jens: Theologische Hermeneutik. Eine trinitarisch-christologischer Entwurf; Freiburg i. Breisgau 2008, 491. 17 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Berlin 1932 – 1933; München 1997, 184. Siehe dazu auch ders.: Gesammelte Schriften V. Seminare – Vorlesungen – Predigten; München 1972, 344.

10 11 12 13 14 15

Urteilen als Vollzug des Offenbarwerdens der Wahrheit

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Gottes, durch das Wort Gottes, [es] ist frei für den Lobpreis des Schöpfers.«18 In der bedingten Freiheit des Menschen erweist sich das Abbild der unbedingten Freiheit Gottes darin, dass das Geschöpf in seiner Freiheit nicht losgelöst von der Schöpfung geschaffen ist, sondern zu allererst in Beziehung zu seinem Schöpfer und darin auch zu seinem Mitgeschöpf steht. Analogia relationalis als Beziehungsähnlichkeit erfährt in Bonhoeffers Lesart der Schöpfungsberichte demnach eine zweite, unübersehbare Komponente: Beziehungsähnlichkeit erschöpft sich gerade nicht darin, das Geschöpf in eine Beziehung zu seinem Schöpfer, seinem Mitgeschöpf und der Schöpfung zu sehen, seine Bedeutung entfaltet sich erst in dem darin gegründeten Begriff des »Freiseins für«.19 Wir können uns diese kontraintuitive Rede von der Freiheit als Beziehungsfreiheit mit dem platonischen Bild der Marionette verdeutlichen: Ihre starren Züge zerren in entgegengesetzte Richtungen, jedes Teil arbeitet gegen das andere; sie unterliegt diesen Einwirkungen nur dann nicht, wenn sie an einem einzigen ihrer Züge, einem goldenen Faden, festhält und ihm folgt.20 Der goldene Faden, die unbedingte Freiheit Gottes, setzt also die bedingte Freiheit des Menschen, die sich darin erst als Freiheit erweist, dass der Mensch auf den anderen hin frei ist. Erst darin erschließt sich uns die abstrakte Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen ganz: »Geschaffene Freiheit ist Freiheit […] [d]arin, daß das Geschaffene bezogen ist auf das andere Geschaffene, der Mensch ist frei für den Menschen. Und er schuf sie einen Mann und ein Weib. Der Mensch ist nicht allein, er ist in Zweiheit und in diesem Angewiesensein auf den anderen besteht seine Geschöpflichkeit.«21

18 Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 58. 19 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 56 – 63. 20 Cf. Platon: Die Gesetze. Übersetzt von Dr. Franz Susemihl, in: Platons Werke, 4. Gruppe: Die Platonische Kosmik, 9.–15. Bändchen, hg. von Franz Susemihl, Stuttgart 1862 f., 644 f. Cf. dazu auch die Ausführungen der Herausgeber von Schöpfung und Fall, Ilse Tödt und Martin Rüter in: Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 152. Bonhoeffer kann diese Beziehung von Schöpfer und Geschöpf auch in der unanschaulichen Rede von der Grenze in der Mitte verdeutlichen, wenn einzig dem Menschen in seiner Urständlichkeit in der Mitte die Grenze ein Leben in der gottgegebenen Freiheit ermöglicht. Ist aber die Grenze überschritten, wie Bonhoeffer den Fall bildlich darstellen, kennt der Mensch keine Mitte außer sich selbst, weshalb er beständig an die Grenze (d. h. den anderen) anrennt. Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 75 – 87 u. ö.; cf. dazu auch Bonhoeffers Rede von der »Schranke« in ders: Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche; 2. durchges. u. aktual. Auflage, München 2005, 19 – 32 u. ö. Bonhoeffer denkt über den Grenzbegriff ausgreifend in seiner Antrittsvorlesung Die Frage nach dem Menschen in der gegenwärtigen Philosophie und Theologie von 1930 nach, in: Bonhoeffer, Dietrich: Barcelona, Berlin, Amerika, 357 – 378. Für weitere Informationen siehe z. B. auch Busch Nielsen, Kirsten: Die gebrochene Macht der Sünde. Der Beitrag Dietrich Bonhoeffers zur Hamartiologie; Leipzig 2010, 32 – 85. 21 Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 60. Dazu formuliert er in seiner Ethik: »Es ist die

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Nadine Sauber

Nach Bonhoeffer sind wir somit angehalten, die Geschöpflichkeit als Beziehung zu verstehen, die den Menschen erst in wirkliche Freiheit stellt, und zwar in eine Freiheit, die einen Anspruch vom anderen her beinhaltet. Mit dem Freisein für den anderen geht daraus folgend auch immer ein »Angesprochenwerden durch einen anderen«22 einher, das den Menschen in die Position versetzt, dieser Ansprache nachzukommen, d. h. zu antworten. Diese analogia relationalis buchstabiert sich demnach nicht allein in einer Beziehung zu, in einem Freisein für aus, sondern ist einen Schritt weiter zu denken als eine responsive, als eine Antwort fordernde Gottebenbildlichkeit. Weil der Mensch in die Gemeinschaft als Gemeinschaftswesen gestellt ist, hängt mit diesem Zuspruch zugleich immer auch ein Anspruch zusammen.23 Umso deutlicher wird dieses Angesprochensein des Menschen erstaunlicherweise im Sündenfall, wenn der Mensch diese geschöpfliche Freiheit (konsequenterweise für Bonhoeffer die Geschöpflichkeit als solche) verliert: In dem Griff nach der Frucht reißt sich der Mensch aus diesem Beziehungsgeflecht, er flieht und versteckt sich vor seinem Schöpfer. Seine einstige Freiheit aus Gott hat der Mensch verloren, damit auch seine lebensspendende Mitte,24 er muss nun alleine ohne seinen Schöpfer und sein Mitgeschöpf leben. Er ist also, so können wir sagen, ein Gefangener seiner selbst25 – und darin unfrei. Bedeutete die urständliche ›Freiheit für‹ auch eine ›Freiheit von‹ der Welt und ihren Zwängen, verfängt sich Adam nun genau hier : In der Befreiung von seinem Schöpfer verfällt er den Zwängen der Welt, d. h. zuerst und zuletzt seinen eigenen Sehnsüchten und Begehrlichkeiten. Hat sich Adam nun um die Bindung an seinen Schöpfer gebracht, die doch eine Unabhängigkeit von der Welt beinhaltete, verliert er dementsprechend auch sich selbst an die Welt. Im Bild der Marionette

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24 25

Bindung des Lebens an Mensch und Gott, die es in Freiheit des eigenen Lebens stellt.« Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 256. Tietz-Steiding, Christiane: Bonhoeffers Kritik der verkrümmten Vernunft. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung; Tübingen 1999, 116. Deutlich wird diese sprachtheologische Betrachtung gerade da, wo Bonhoeffer das Wort Gottes zum einen in seiner Schöpfungsmittlerschaft betont, zum anderen da, wo er es als das einzige Kontinuum Gottes mit seiner Schöpfung hervorhebt. Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 38 – 41. Es ist dementsprechend das Wort als dasjenige zu denken, das den Menschen in die Beziehung zu seinem Schöpfer und seinen Mitgeschöpfen stellt, das den Menschen zur Freiheit befähigt, aber auch als dasjenige, das in seinem Zuspruch einen Anspruch an den Menschen stellt. Adam hat sein Leben »in der Einheit des ungebrochenen Gehorsams gegen den Schöpfer […] [,] er hat es gerade darin […], daß er von der Mitte des Lebens her auf die Mitte des Lebens hin, aber nicht selbst in der Mitte lebt.« Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 79. Bonhoeffer benennt den Versuch des Menschen, »selbst für Gott sein zu wollen, über eine neue Weise des ›Für-Gott-seins‹ zu verfügen« als »sicut-deus-sein des Menschen«. Nun ist der Mensch selbst wie Gott, er ist dann aber losgerissen von seinem Schöpfer. Er ist sich selbst Grenze und Mitte zugleich, er dreht sich nur um sich selbst. Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 108 u. ö.

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gesprochen: Die einzelnen Glieder haben keinen vereinenden Faden in der Mitte mehr, sondern zerren in entgegengesetzte Richtungen. Mit dem Fall ist der Mensch tatsächlich ein homo incurvatus in se,26 ein in sich selbst verkrümmter Mensch, der alle Beziehungen abgebrochen hat, der allein für sich selbst frei und darin doch unfrei ist, weil er beständig um sich selbst kreist und sich doch in seinem gegeneinanderstehenden Begehren zerreißt.27 Das lebensspendende Wort Gottes verkehrt sich für Adam zur Anklage, es wird ihm zum Gesetz, das ihm seine Verletzung der urständlichen Beziehung, d. h. seine Sünde aufzeigt. Wo Gott seinen Menschen auf der Flucht aufhält, ihn zur Rede stellt, ihm die Unmöglichkeit eines Seins außerhalb der lebensspendenden Mitte aufzeigt, wird das gnädige »Adam wo bist du?« (Gen 3,9) zum Vorwurf. Freilich ist dann Adams Antwort nicht Wahrheit, sondern Lüge, eine Lüge, welche die zuwendende Hand des Schöpfers ausschlägt und sich allein auf sich selbst verlässt.28 Er leugnet seine Schuld, er schiebt sie auf Eva und damit auf deren, seinen Schöpfer selbst. Du hast sie mir an die Seite gestellt, es ist dein Geschöpf, du trägst die Verantwortung. Und Adam bleibt im Fliehen: »Adam hat sich nicht gestellt, hat nicht bekannt, er hat sich auf sein Gewissen, auf sein Wissen um Gut und Böse berufen und von diesem Wissen aus Schöpfer angeklagt. Er hat die Gnade des Schöpfers nicht erkannt, die sich gerade darin erweist, seinen daß er ihn anruft, daß er ihn nicht fliehen läßt, sondern er sieht diese Gnade nur als Haß, als Zorn, und an diesem Zorn entzündet sich sein eigener Haß, seine Empörung, sein Wille ihm zu entgehen. Adam bleibt im Fallen. Der Fall beschleunigt sich ins Unermeßliche.«29

Aber auch dann: Der Schöpfer überlässt sein Geschöpf nicht sich selbst. Was Adam als Fluch Gottes über die Schöpfung wahrnimmt, ist mit Bonhoeffer zugleich sein erhaltendes Handeln, seine Verheißung auf Christus hin. In seinem anklagenden Wort wendet sich der Schöpfer nicht von seinem Geschöpf, im Gegenteil wird seine Anklage zur Zusage: Er bejaht und erhält dieses als solches, indem er ihm Felle macht und es bedeckt, auf ein neues Sein hin, nämlich auf ein Sein im Wort, in Jesus Christus.30 Gehen wir zurück zu unserem Beispiel aus Mt 14, um diesem zuwendenden Handeln Gottes näher zu kommen. Vergegenwärtigen wir uns dafür die Situation, in der Jesus Petrus auffordert, das Wagnis einzugehen und allein seinem Wort zu folgen. 26 Cf. z. B. Luther, Martin: Römervorlesung 1515/16; in: Weimarer Ausgabe. Schriften, Band 56, , Weimar 1883 ff., 3 – 356, hier: 356, 5 f. 27 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 103 – 113. 28 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 119 – 122. 29 Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 121 f. 30 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 129 f.

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»[…] [D]as Boot war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen. Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem See. Und als ihn die Jünger sahen auf dem See gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir zu dir zu kommen auf dem Wasser.« (Mt 14,24 – 28)

Das Matthäusevangelium erzählt davon, dass das Boot mit den Jüngern durch die Wellen in arge Bedrängnis geraten war und Jesus ihnen zu Hilfe kommt. Doch sind diese zunächst erschrocken, sie erkennen die Gestalt ihres Herren nicht, sondern halten ihn für ein Gespenst. Die Erscheinung Jesu als solche reißt sie nicht aus ihrer Furcht,31 im Gegenteil sie treibt sie noch weiter hinein. Jetzt erschrecken die Jünger nicht allein über das schwankende Boot, vielmehr erstarren sie zudem vor einem, ihnen unbekannten Wesen.32 Jesus gibt sich nun dreifach in seinem Wort zu erkennen: »Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht.« (Mt 14,27) In der Selbstoffenbarung, die von dem Trostwort umschlossen ist, man möchte fast sagen, die als solche Trost und Zusage an seine Jünger ist,33 erweist sich nun Gottes gnädiges Handeln an seinem Menschen. Petrus erkennt seinen Herrn und bittet, ihm auf das Wasser folgen zu dürfen. »Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser.« (Mt 14, 28) Petrus steigt nicht auf eigenes Geheiß aus dem Boot. In der Artikulation seines Zweifels (»Herr, bist du es«) und zugleich seines Vertrauens (»befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser«) zeigt sich Petrus in seinem ganzen Menschsein, als alter und neuer Adam zugleich. Zweifel und Glaube stehen nebeneinander vereint.

2.

Anspruch

Kommen wir zurück zur Auslegung der Genesis, ergibt sich darin Folgendes: Haben wir den Anspruch Gottes als Wort an den Menschen bestimmt, erweist 31 Cf. Luck, Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus; Zürich 1993, 175. 32 Erinnern wir uns an Bonhoeffers Beschreibung der Flucht Adams, erweisen sich hier deutliche Parallelen. Auch das erste Menschenpaar erkennt seinen lebensspendenden Schöpfer nicht, es versteckt sich vor dessen Angesicht hinter den Bäumen. Die Anwesenheit Gottes lässt Adam und Eva noch weiter fliehen. Sie lässt sie nicht nur voreinander sich verhüllen, sie treibt sie auch in das Versteck. Auch hier macht Gott erst in seinem Wort, das Adam und Eva auf der Flucht aufhält, deutlich, dass seine Zusage besteht. 33 Cf. Luz, Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus. Zweiter Teilband Mt 8 – 17; NeukirchenVluyn 1990, 408. Luz weist daraufhin, dass die Selbstvorstellung Jesu eine vielschichtige Komponente besitzt, verweist sie doch in ihrer Struktur und ihrem Inhalt an die Selbstvorstellung Jahwes z. B. in Gen 15,1. Luz kommt deshalb zu dem Urteil: »Der Text ist also mehrdimensional: Die Jünger werden durch das ›ich bin es‹ vordergründig an den Menschen Jesus verwiesen, den sie kennen. Und gerade darin erfahren sie etwas vom biblischen Gott.«

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sich darin auch der Inhalt dieser Anrede. Für Bonhoeffer indiziert im Sinne der Schöpfungsmittlerschaft dieses erhaltende Handeln Gottes Jesus Christus, auf den hin allein die gefallene Schöpfung gewahrt ist und von dem sie einzig ihren Sinn erhält.34 In ihm ist das Wort die personhafte Anrede Gottes, die den Menschen richtet und versöhnt.35 Als Gefallener ist der Mensch auf und durch dieses Wort, durch diese Wirklichkeit hin erhalten auf diese Wirklichkeit, auf Jesus Christus hin. Dieser allein ruft den Menschen aus seiner selbstverflochtenen Einsamkeit heraus in das neue Leben, in eine neue Wirklichkeit in Christus selbst. Das Wort in der Gestalt des lebendigen Gottes ist die Anrede an den gefallenen Menschen, ist der Ruf in die Flucht hinein. Indem Gott seinen Menschen angreift, ihn der Übertretung des Gebotes anklagt, hält er ihn auf in seiner Flucht, holt er ihn heraus aus seiner Einsamkeit, aus seinem Sein in der Lüge. Im Gericht über den von Gott Losgerissenen, Bonhoeffer nennt ihn den »sicut-deus-Mensch[en]«,36 fordert er »die Umkehr seines ganzen Wesens, stellt er ihn gerade in der äußersten Realisierung seines Guten als Gottlosen, als Sünder hin« und beansprucht »die Überwindung des Wissens um Gut und Böse«.37 Aus der Einheit kommend ist dieses Richten dann auch die Überwindung der gefallenen Entzweiung, es ist die Versöhnung des Geschöpfes mit seinem Schöpfer, seinem Mitgeschöpf und der Schöpfung. Das Wort, das den gefallenen Adam als Gesetz zum Tode verurteilt, wird zum lebendig machenden Evangelium, weil es den neuen Adam in Christus schafft, ihn aus der Lüge in die Wahrheit stellt.38 In seinem Sein in Christus ist der alte Mensch aus sich herausgerissen und einzig auf Christus hingewandt, er ist in seinem neuen, geschöpflichen Sein39 in der Gemeinschaft mit Gott, dem Nächsten und der Schöpfung das Offenbarwerden der Wahrheit Christi, weil die Wahrheit in dieser Begegnung geschieht.40

34 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 129 f. 35 »Auf[grund] dieser Voraussetzung bestimmt sich der Inhalt. […] Es handelt sich [in Christus] um eine personhafte Anrede Gottes, in der er den Menschen zur Verantwortung zieht. Das ist der Sinn des Satzes, Christus ist das Gebot und die Vergebung.« Bonhoeffer, Dietrich: Berlin, 299. 36 Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 104 u. ö. 37 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 316. 38 Cf. Green, Clifford: Freiheit zur Mitmenschlichkeit, 221. Cf. dazu die Rede von Gesetz und Evangelium bei Gerhard Ebeling, z. B. in seinem Aufsatz: Hermeneutik zwischen der Macht des Gotteswortes und seiner Entmachtung in der Moderne; in: ders.: Wort und Glaube IV. Theologie in den Gegensätzen des Lebens, Tübingen 1995, 209 – 225. 39 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Akt und Sein, 149: »Nur in Christus weiß sich der Mensch als Geschöpf Gottes, in Adam war er selbst Schöpfer und Geschöpf zugleich.« 40 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Berlin, 298: »In seinem Anredecharakter liegt es, daß es die Gemeinschaft nur darin sucht, daß es den anderen in die Wahrheit stellt. Wahrheit ist hier etwas, das zwischen zweien geschieht und was nicht ewig in sich ruht. Christus als Wort

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Für Petrus heißt dieses: Das Wort des lebendigen Gottes ist die Grundlage, auf der er handeln kann. Es ist nicht sein eigenes Urteil, das ihn aus dem Boot steigen lässt, es ist im Gegenteil das Wort Jesu »Ich bin’s«, das ihn ermächtigt zu handeln. »Petrus weiß, er darf nicht eigenmächtig aus dem Schiff steigen, der erste Schritt wäre schon sein Untergang […]. […] Christus muß gerufen haben, allein auf sein Wort hin, kann der Schritt getan werden. Dieser Ruf ist seine Gnade, die aus dem Tod in das neue Leben des Gehorsams ruft. Jetzt aber, da Christus gerufen hat, muß Petrus aus dem Schiff heraus, um zu Christus zu kommen. So ist in der Tat der erste Schritt des Gehorsams schon selbst ein Tun des Glaubens an das Wort Christi.«41

Im Imperativ als Indikativ erweist sich im Befehl zuallererst Handlungsbefähigung.42 Wider jede Eigenmächtigkeit, wider jedes Vertrauen an das eigene Wissen um Gut und Böse erwartet Petrus das vorausgehende Wort und gehorcht. »Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu.« (Mt 14, 29) Der Autor des Matthäusevangeliums führt uns mit Petrus so vor Augen, dass allein aus der Zusage Gottes, d. h. in der konkreten Anrede Jesu Christi, das Leben des Menschen nur eine Antwort auf dieses »in Jesus Christus an uns gerichtete Wort Gottes«, sein kann, nämlich die, die sich »mit dem ganzen Leben, wie es sich jeweils handelnd realisiert,«43 gibt. Für Petrus heißt das, den Fuß auf das Wasser zu setzen, für uns heißt das: »Das Leben, das uns in Jesus Christus als Ja und Nein zu unserem Leben begegnet, will durch ein Leben, das dieses Ja und Nein aufnimmt und eint, beantwortet werden.« Unser Sein in Christus44 ist damit als ein solches gekennzeichnet, ein »Leben als Antwort auf

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Gottes im Sinne der Anrede bedeutet nicht Christus als zeitlose Wahrheit, sondern in den konkreten Augenblick hineinbrechende Wahrheit als die Anrede Gottes an uns.« Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge, 55. Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 123 – 127: Der Fluch Gottes wird als Erhaltung des menschlichen Lebens auf Christus hin zur Verheißung. Cf. Bernd Wannenwetsch weist auf die lutherische Unterscheidung zwischen ›fieri‹ und ›feci‹ hin, mit der Bonhoeffer ein ›Wirklichwerden‹ von einem ›Wirklichmachen‹ unterscheidet. (Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 34.) »›Wirklichwerden‹ geht von der praesentia Christi aus, die Bonhoeffer als ›letzte Wirklichkeit‹ begreift, deren eigene Wirksamkeit nicht menschlicherseits kompensiert, eingeholt oder ratifiziert werden kann noch muss.« Wannenwetsch, Bernd: Gestaltwerdung und Wegbereitung. Zur Aktualität von Bonhoeffers »Ethik«, in: VuF 46/2001, 56 – 64, hier: 57. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 253. Um dieses Sein in Christus deutlich von einer Reflexion über das Wort Christi (cf. die fromme Frage in der Genesis) zu unterscheiden, legt Bonhoeffer mit der Rede von der Hineingestaltung in das Bild Christi (cf. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 62 – 90.) eine ethische Erkenntnistheorie an seine Theologie an, mit der sich Erkenntnis mit dem hebräischen F7= (erkennen) nicht anders als Anpassung des gesamten Menschen, d. h. des Intellekts wie des Willens und der konkreten Lebensweise, beschreiben lässt. Es geht mit Bonhoeffer in diesem

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das Leben Jesu Christi (als Ja und Nein über unser Leben)« zu sein. Und dieses nennt Bonhoeffer : »›Verantwortung‹. In diesem Begriff […] ist die zusammengefaßte Ganzheit und Einheit der Antwort auf die uns in Jesus Christus gegebene Wirklichkeit gemeint im Unterschied zu Teilantworten, die wir zum Beispiel aus der Erwägung der Nützlichkeit oder aus bestimmten Prinzipien heraus geben könnten.«45 Zuspruch und Anspruch an den Menschen sind somit nicht zu scheiden. Jesus fordert von Petrus, von sich selbst weg-, auf seinen Herren hinzublicken. Allein in diesem Blickwechsel, mit Bonhoeffer gesprochen, dem Wirklichkeitswechsel, erweist sich das Menschsein46 als Offenbarwerden von Wahrheit als relationalem Geschehen.47 Einzig in diesem Anspruch, der in der Anrede Gottes in Christus an den gefallenen Menschen ergeht, wird der Mensch in die Wirklichkeit Christi versetzt, d. h. vor die Entscheidung gestellt, »der von dem anderen an mich herangetragenen Forderung nachzukommen oder mich ihr zu verweigern. Ganz gleich, wie ich mich entscheide, immer antworte ich damit auf den Anspruch des anderen und stehe so in der Verantwortung.«48 Wenn wir mit Bonhoeffer demnach von Verantwortung, von der »Struktur des verantwortlichen Lebens« sprechen, verbinden sich hier die obengenannten geschöpflichen Grundbestimmungen: zum einen die Bindung des Lebens an Gott und Mitmensch, zum anderen die Freiheit des eigenen Lebens aus der göttlichen Freiheit für den Menschen heraus. »Es ist die Bindung des Lebens an Mensch und Gott, die es in die Freiheit des eigenen Lebens stellt. Ohne diese Bindung und ohne diese Freiheit gibt es keine Verantwortung. Nur das in der Bindung selbstlos gewordene Leben steht in der Freiheit eigensten Lebens und Handelns. Die Bindung trägt die Gestalt der Stellvertretung und der

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Sein in Christus damit nicht um ein Reflektieren und Erforschen des Willens Gottes, sondern im Gegenteil wird der Wille Gottes im Vollzug erkannt, indem der Mensch denselben tut. Dieses Wissen Gottes (im Gegensatz zum Wissen um Gott) meint dann zuletzt, mit Gott zu leben, nicht aber eine Gottesbeziehung zu haben. Cf. Wannenwetsch, Bernd: Gestaltwerdung und Wegbereitung, 58. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 253 f. Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Berlin, 342: »Menschwerdung heißt zunächst nur Offenbarung des Schöpfers im Geschöpf.« Cf. Zizioulas, John D.: Being As Communion. Studies in Personhood and the Church, London 1985, 106; außerdem: Schmitz, Florian: Nachfolge, 225 f.: »Nicht der Mensch selbst gestaltet, sondern er wird gestaltet. Wie in der Rechtfertigung, so bleibt der Mensch auch in der Heiligung letztlich vollkommen passiv, selbst wenn er freilich auch aktiv ist; er ist aber nicht Subjekt seiner Gestaltung. Anders ausgedrückt: Nach Christi Vorbild in der Nachfolge zu leben heißt, tatsächlich allein auf den zu schauen, der mir vorangeht und dem ich nachfolge. In der Nachfolge schaue ich nicht auf mich selbst, auf mein eigenes Bild. Ich mache mir nicht mein eigenes Bild, sondern blicke allein auf das Bild Jesu, der vorangeht und dessen Bild so zu meinem eigenen wird.« Tietz-Steiding, Christiane: Bonhoeffers Kritik der verkrümmten Vernunft, 116.

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Wirklichkeitsgemäßheit, die Freiheit erweist sich in der Selbstzurechnung des Lebens und Handelns und im Wagnis der konkreten Entscheidung.«49

Im Zuspruch und Anspruch ist der Mensch in die konkrete Situation gestellt, ist er am goldenen Faden des Wortes Gottes aus sich selbst befreit für sich selbst. In der geschöpflichen Struktur des Menschen als Wesen in Beziehung ist der Mensch in die Gemeinschaft gestellt, d. h. genauer in die Verantwortung für seinen Nächsten, indem er in seiner gottgegebenen, bedingten Freiheit dem Anspruch Gottes in der konkreten Situation Folge leisten kann, sich also dem Wagnis des Urteilens und Handelns stellen kann und muss.50

3.

Freispruch

Knüpft Bonhoeffer damit an die Geschöpflichkeit direkt die Verantwortung, nimmt er Glaube und Gehorsam51 so eng zusammen, dass beide kaum voneinander zu scheiden sind. In seiner Nachfolge formuliert er das zu dem theologischen Spitzensatz aus: »Nur der Glaubende ist gehorsam, nur der Gehorsame 49 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 256. 50 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 384: »Gottes Gebot als das in Jesus Christus geoffenbarte ist immer ein konkretes Reden zu jemandem, niemals ein abstraktes Reden über etwas oder jemanden. Es ist immer Anrede, Beanspruchung und das in so umfassender und zugleich bestimmender Weise, daß es ihr gegenüber nicht mehr die Freiheit der Auslegung und der Anwendung, sondern nur noch die Freiheit des Gehorsams oder des Ungehorsams gibt.« 51 Mit dem Begriff des ›Gehorsam‹, genauer des ›einfältigen Gehorsams‹ hat Dietrich Bonhoeffer in seiner Nachfolge seinen Leser vor eine hermeneutische Herausforderung gestellt, ist diese Rede doch nicht nur zu seiner Zeit, sondern auch heute noch fremd und vor allem provozierend. Im Zusammenhang mit der Rede von der teuren Gnade macht Bonhoeffer darauf aufmerksam, dass sich der herrschende Kulturprotestantismus zugleich zu einem Rechtfertigungsprotestantismus entwickelt hat. »Man kann die Tat Luthers nicht verhängnisvoller mißverstehen«, heißt es dazu in seiner Nachfolge, »als mit der Meinung, Luther habe mit der Entdeckung des Evangeliums der reinen Gnade einen Dispens für den Gehorsam gegen das Gebot Jesu in der Welt proklamiert; die reformatorische Entdeckung sei die Heiligsprechung, die Rechtfertigung der Welt durch die vergebende Gnade gewesen.« (Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge, 35. Cf. dazu auch Schmitz, Florian: Art: Gehorsam und Wagnis, in: Mitteilungen der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft Sektion Bundesrepublik Deutschland Nr. 96, Oktober 2001, 32 – 50, hier : 37 f.) In der Verbindung mit seiner Ausdifferenzierung von der Gestaltwerdung des Menschen zum Bild Christi auf Erden ist die Rede vom einfältigen Gehorsam dann auch deutlich an seine vorhergehende Vorlesung Schöpfung und Fall und seine nachfolgenden Manuskripte zur Ethik gebunden. Einfältiger Gehorsam ist somit nur aus der Rede der menschlichen Existenz als Verbindung von Passivität und Aktivität zu verstehen; mit Gal 2,20 heißt das genauer : »Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.« Als Gestaltwerdung (pass.!) Christi ist der Mensch in den neuen Gehorsam gegenüber das Wort Gottes gestellt, denn dieser Gehorsam ist dieses neue Leben in und mit Gott.

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glaubt.«52 Glaube und Gehorsam beziehen sich demnach reziprok aufeinander, die Einheit beider darf freilich keine Negierung ihrer Verschiedenheit bedeuten, gleichzeitig müssen und können aber beide in voller Entfaltung nur wechselseitig gedacht und erkannt werden, da »Glaube nur im Gehorsam existiert, niemals ohne Gehorsam ist [und] Glaube nur in der Tat des Gehorsams Glaube ist.«53 Nach Bonhoeffer muss Petrus dem Befehl Jesu Folge leisten, er muss aus dem Boot steigen, sich allein auf seinen Herrn verlassen. »Es muß Gehorsam geleistet werden gegen [den] konkreten Befehl […].«54 Petrus muss das Wagnis eingehen, denn allein in seinem Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes kann er sein Menschsein verwirklichen – und das heißt für Bonhoeffer, glauben Lernen: »Petrus muß aus dem Schiff heraustreten auf das schwankende Wasser, um seine Ohnmacht und die Allmacht seines Herren zu erfahren. Wäre er nicht herausgetreten, so hätte er nicht glauben gelernt. Die völlig unmögliche, ethisch schlechthin unverantwortliche Lage auf dem schwankenden Meer muß herausgestellt werden, damit geglaubt werden kann.«55

Glaube ist demnach für Bonhoeffer nicht etwas Statisches, das der Mensch ›hat‹ oder eben ›nicht hat‹. Im Gegenteil, Glaube ist Vollzug des Seins in Christus. Dasein und Wiesein sind darin nicht zu scheiden: »Geschöpf-Sein ist eben nur ›im Glauben‹ […]; es ist kein seiendes ›es gibt‹, sondern in der Bewegtheit des Seins im Glauben.«56 Genauer heißt das: »Inhaltlich ist es der Glaube daran, dass der Rufende Christus ist. Seiner äußeren, existentiellen Erscheinung nach lässt sich dieser Glaube als Gehorsamstat verstehen […].«57 Petrus hört den Befehl Christi, er verlässt sich auf dieses Wort, er verlässt damit im wahrsten Sinne des Wortes den sicheren Boden des Schiffes und geht das Wagnis ein, indem er den Schritt hinein in die Ungewissheit des Wassers tut; hinein in die Gemeinschaft Jesu Christi wagt er den »Schritt in die unendliche Unsicherheit«.58 Wir können damit zunächst festhalten: Das Wagnis ist fester Bestandteil des Glaubensgehorsams. Der Mensch setzt sich selbst aufs Spiel im Vertrauen darauf, dass es Christus ist, der ihn in der konkreten Situation in die Entscheidung

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Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge, 52. Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge, 52. Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge, 53. Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge, 51. Bonhoeffer schreibt hier von einem »müssen«, das er auf den geforderten Glaubensgehorsam bezieht. Petrus muss doppelt aus dem Boot steigen, zum einen, weil es ihm der Befehl seines Herren gebietet, zum anderen, weil er einzig darin seine eigene menschliche Ohnmacht und die Macht des Herrn erkennen kann. Dieses Müssen ist demnach ein in allem auf den Glauben Petri gerichtetes Müssen. 56 Bonhoeffer, Dietrich: Akt und Sein, 150. 57 Schmitz, Florian: Art: Gehorsam und Wagnis, 41. 58 Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge, 51.

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ruft.59 Der in die Gott gegebene Freiheit gestellte Mensch steht mit der Zusage Gottes unter dem Anspruch Gottes, das Wagnis des Glaubens einzugehen. Damit wird deutlich: Glaube als Gehorsam beinhaltet das Wagnis des Urteilens und Handelns doppelt, nämlich einmal darin, das Wort als Gottes Wort zu hören und dann darin, dieses als geglaubtes Wort gehorsam zu tun. Die in der Geschöpflichkeit bedingte Freiheit, die in der Menschwerdung Jesu für die gesamte Menschheit wiederhergestellt ist,60 ist Zu- und Anspruch Gottes an den Menschen, diese Freiheit in seinem wirklichkeitsgemäßen Handeln, d. h. im Gehorsam des Glaubens, umzusetzen. In die Wirklichkeit Christi hineingestellt ist es Gottes Forderung an sein Geschöpf, aus diesem seinem Bezugsrahmen heraus sich in die konkrete Verantwortung für seinen Mitmenschen zu begeben. Allein darin besteht und entsteht echtes Menschsein, allein darin findet sich »die echte ethische Situation, die sich von der Abstraktion, in der der Mensch sonst das Ethische zu bewältigen sucht, allerdings wesentlich unterscheidet. Das Subjekt des Handelns ist nicht mehr der isolierte Einzelne, sondern der für andere Menschen Verantwortliche; die Norm des Handelns ist nicht ein allgemeingültiges Prinzip, sondern der konkrete Nächste, wie er mir von Gott gegeben ist; die Entscheidung fällt nicht mehr zwischen dem klar erkannten Guten und dem klar erkannten Bösen, sondern sie wird im Glauben gewagt angesichts der Verhüllung des Guten und Bösen in der konkreten geschichtlichen Situation. In konkreter Verantwortung handeln heißt in Freiheit handeln, ohne Rückendeckung durch Menschen oder Prinzipien selbst entscheiden, handeln und für die Folgen des Handelns einstehen. Verantwortung setzt letzte Freiheit der Beurteilung einer gegebenen Situation, des Entschlusses der Tat voraus.«61

»Ethik als Gestaltung ist also das Wagnis, […] konkrete Urteile und Entscheidungen«62 zu fällen, ohne sich an allgemeinen Prinzipien und Handlungsmaximen festhalten zu können. Erst im Über-Bord-Werfen des eigenen Wissens um Gut und Böse und im vertrauensvollen Blick auf das gegebene konkrete Gebot ist es als solches wirklichkeitsgemäßes Urteilen in der Welt, die sich als solche nicht überzeitlich, sondern konkret im hic et nunc als Handlungsfeld des Menschen ausweist. So zeigt sich mit dem Gehorsam gegen Gott und in der bedingten Freiheit des Menschen die Notwendigkeit der eigenen Entscheidung, »was in der gegebenen Situation der konkrete, materiale Wille Gottes ist, welche das Tun zu einem verantwortlichen macht und darin alle Fähigkeiten des Menschen in höchstem Maße beansprucht.«63 Dass dabei freilich die Entscheidungsfindung 59 Cf. Schmitz, Florian: Art: Gehorsam und Wagnis, 40 ff. 60 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge, 300: »In Jesus Christus ist Gottes Ebenbild in der Gestalt unseres verlorenen menschlichen Lebens unter uns getreten, in der Gleichgestalt des Fleisches in der Sünde. […] In ihm hat Gott sein Ebenbild auf Erden neu geschaffen.« 61 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 220. 62 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 89. 63 Barth, Friederike: Die Wirklichkeit des Guten. Dietrich Bonhoeffers »Ethik« und ihr philosophischer Hintergrund; Tübingen 2001, 292. Im Original hervorgehoben.

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an die Bedingungen menschlicher Existenz und deren Begrenztheit,64 d. h. mit der Unüberschaubarkeit der Lage und der Unvorhersehbarkeit zukünftiger Ereignisse gebunden ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie dann aber auch aus dem geschützten Bereich menschlicher, absoluter Maßstäbe von Pflicht und Tugend65 heraus- und hineingenommen ist in das Wagnis des Glaubens, d. h. in den Bereich, den Bonhoeffer das Vorletzte nennt.66 Der tätige christliche Vollzug ist demnach zum einen dieses Wagnis des Urteilens, zum anderen die konkrete zeitliche Existenz, in deren Tun das Vorletzte Anteil am Letzten hat, welches das qualitativ und inhaltlich letzte Wort Gottes über das Vorletzte ist.67 Bonhoeffer sagt: »Wir leben im Vorletzten und glauben das Letzte […]. Die Konsequenzen sind sehr weitreichend […] vor allem für die Ethik.«68 Denn damit ist all unser menschliches Urteilen und Entscheiden in den Bereich des Vor-Letzten gegeben, das einzig durch das letzte Wort Gottes seine Qualität als »Wegbereitung«69 erhält. Allein darin, dass das »Vorletzte […] um des Letzten willen gewahrt bleiben«70 muss, das Vorletzte also seine Legitimation vom Letzten her erhält und auf das Letzte hin erhalten ist, ist die verantwortliche Tat zum einen in dieser eschatologischen Gnade Gottes, »in der allein und gänzlich befreienden Bindung an Gott und den Nächsten« gegründet und geschieht zum anderen »dabei ganz im Bereich der Relativitäten, ganz in dem Zwielicht, das die geschichtliche Situation über Gut und Böse bereitet, [sie] geschieht mitten in den unzähligen Perspektiven, in denen jedes Gegebene erscheint.«71 Die freie, verantwortliche Tat steht damit als gehorsames Wagnis, d. h. als Gottes Führung im menschlichen Entscheiden, im Bereich des Vorletzten,72 wo in letzter Konsequenz dann auch 64 Freilich sieht Bonhoeffer nicht jedes menschliche Urteil als ein exzeptionelles, aus dem Alltag herausgenommenes, an. Mit der Rede vom Sein in Christus sind m. E. aber alltägliches und exzeptionelles Urteilen verbunden, weil jedes alltägliche Urteilen auch ein exzeptionelles sein oder werden kann. Zugleich aber sind beide immer der Relativität der menschlichen Beurteilung unterworfen, wenn auch eine solche für das alltägliche Urteilen zum Teil offensichtlich erscheinen mag. 65 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 268: »Während alles ideologische Handeln seine Rechtfertigung immer schon in seinem Prinzip bei sich selbst hat, verzichtet verantwortliches Handeln auf das Wissen um seine letzte Gerechtigkeit.« 66 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 137 – 162. 67 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 140 f. 68 Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, 1. Auflage, München 1998, 226 f. 69 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 153. 70 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 152. 71 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 284. 72 »Damit erschließt sich uns ein tiefes Geheimnis der Geschichte überhaupt. Gerade der in der Freiheit eigenster Verantwortung Handelnde sieht sein Handeln einmünden in Gottes Führung. Freie Tat erkennt sich zuletzt als Gottes Tat, Entscheidung als Führung, Wagnis als göttliche Notwendigkeit. In der freien Preisgabe des Wissens um das eigene Gute geschieht

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die Verantwortung für die Folgen der Tat übernommen werden muss. Das Wagnis des Urteilens und Handelns schließt damit zugleich das Wagnis des Fehlgehens ein und damit die Übernahme der Schuld. Darin ist zugleich das Geschöpf aber frei gesprochen davon, diese Tat vor sich selbst zu richten. Im Vorletzten »verzichtet verantwortliches Handeln auf das Wissen um seine letzte Gerechtigkeit«,73 vielmehr erwartet es sein Gericht vom Letzten her. Es liegt im Zuspruch Gottes, dass dieser Anspruch der gegebenen Freiheit einen Freispruch enthält: »Wirklichkeitsgemäßes Handeln steht in der Begrenzung durch unsere Geschöpflichkeit. […] Wir stehen handelnd vorwärts wie nach rückwärts in bestimmten Grenzen, die nicht übersprungen werden können. Unsere Verantwortung ist nicht eine unendliche, sondern eine begrenzte. […] Die Tat, die unter verantwortlicher Abwägung aller persönlichen und sachlichen Umstände im Blick auf die Menschwerdung Gottes und auf die Menschwerdung Gottes geschieht, wird im Augenblick ihres Vollzuges allein Gott ausgeliefert.«74

Wir können demzufolge hinzufügen: Das Wagnis des Urteilens beinhaltet, sich in diesem Handeln ganz auf Gottes vergebendes und befreiendes, d. h. gnädiges Wort zu verlassen und zuletzt dieses Tun auch zu verantworten.75 Nirgendwo formuliert Bonhoeffer diesen Sachverhalt deutlicher als in seinem Bericht Nach zehn Jahren, wo es heißt: »Sie [die freie Verantwortung, N. S.] beruht auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht.«76 Der Mensch wird in die Verantwortung für sein Handeln gerufen, er wird sich für sein Handeln vor Gott rechtfertigen und als Sünder bekennen müssen und das kann er getrost tun, kann er doch auf die lebendig machende Gnade des Schöpfers hoffen. Wir erinnern uns: Denn dort, wo ihm das Wort zum tötenden Gesetz wird, wird es ihm zugleich zum lebendig machenden Evangelium. Zugleich aber ist in dieser Aufforderung zur Handlung auch noch eine darüberhinausgehende, überraschende und vor allem provozierende Botschaft gegebenen. Bonhoeffer betont gerade in dem Anspruch an den Menschen, in die Nachfolge Christi zu treten, d. h. verantwortungsvoll zu entscheiden und zu handeln, dass wir Teil des sich verwirklichenden Reiches Gottes auf Erden und damit Teil des Offenbarwerdens der Wahrheit Gottes sind. Kleiner geht es hier

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das Gute Gottes. Erst in dieser letzten Perspektive kann vom Guten im geschichtlichen Handeln gesprochen werden.« Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 285. Cf. dazu auch Barth, Friederike: Die Wirklichkeit des Guten, 292 f. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 268. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 267 f. Cf. Schmitz, Florian: Art: Gehorsam und Wagnis, 43. Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung, 24.

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nicht. In der verantwortlichen Tat erfüllt sich die Christuswirklichkeit mit dem Geschöpf auf Erden. Um aber das tiefer einzusehen, wenden wir uns nun noch ein letztes Mal Petrus zu: Wir haben gesehen, er geht das Wagnis des Glaubens ein, er geht zu Jesus auf dem Wasser. Das Matthäusevangelium erzählt weiter : »Als er [Petrus, N. S.] aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, hilf mir! Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und sie traten in das Boot und der Wind legte sich. Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn.« (Mt 14, 30 – 33) Was ist passiert? Petrus ist sich seiner Lage plötzlich bewusst; die wogenden Wellen, das unsichere Wasser, der bedrohliche Sturm werden ihm zur Beurteilung der Situation aus seinem eigenen Wissen heraus zum Bedrängnis. Das tragende Vertrauen in das Wort seines Herren wird schwächer, dagegen das Vertrauen in sich selbst stärker. Er sinkt. Doch damit ist es nicht zu Ende. Wurde Petrus in dieser Perikope in seinem vollen Menschsein als Vertrauender und zugleich Zweifelnder vorgestellt, erweist sich diese Doppelgestalt des lutherischen simul iustus et peccator auch in diesem Moment: Der zweifelnde Petrus bittet erneut um Jesu Hilfe, indem er diesen als seinen Herrn bekennt und ihm die Macht, ihn zu erretten, zugesteht: Herr, hilf mir! Und so finden wir auch hier, parallel zum Sündenfall,77 erneut das anklagende Wort Jesu, dass sich in seinem Vollzug als helfende Hand herausstellt: »Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?« Er stellt ihn erneut auf sicheren Grund, er hält ihn auf im Sinken und bringt ihn zurück zu den Jüngern in das Boot, wo nun kein Zweifel mehr über seine Identität besteht. Es ist also wieder Jesu Wort, das Klarheit in die Situation bringt: Petri Kleinglaube, sein Zweifel, genauer seine Zwiespältigkeit78 bedingt den Umschwung von der Sicherheit in die Unsicherheit, von Freiheit zu Unfreiheit. Der Autor des Matthäusevangeliums betont hier offensichtlich, dass die rettende Gegenwart Gottes nicht vor den Stürmen bewahrt, im Gegenteil erfährt man sie gerade in solchen Stürmen; wagt der Mensch sich im Gehorsam aus seinen menschlichen Sicherheiten heraus, wird die lebensspendende Macht Gottes zu allererst offensichtlich. Mit Ulrich Luz können wir deshalb feststellen: »Die Hilfe Gottes besteht nicht darin, daß der Glaube leuchtend und unangefochten die Stürme des Lebens negiert. Glaube ist einmal mehr ›Kleinglaube‹, d. h. jene Mischung von Mut und Angst, von Hören auf den Herren und Schauen auf den Wind, von Vertrauen und Zweifel, die nach Matthäus ein grundlegendes Merkmal christlicher Existenz bleibt.«79

77 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 123 – 130: Bonhoeffer weist auf das Changieren des Fluches und der Verheißung Gottes über seine Menschen hin, wenn dieser sie als gefallene auf Christus hin erhält. 78 Cf. Luck, Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus, 177. 79 Luz, Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus II, 410.

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Petrus muss also seine eigene Ohnmacht und die Macht seines Herren erfahren, allein darin lernt er glauben. Auch wenn er offensichtlich über seine eigene zwiespältige, mit Bonhoeffer können wir sagen: nach dem Fall entzweite Natur80 stolpert, sein Urteil und Handeln offensichtlich fehlgehen, die Macht des Herren wird dennoch offenbar. Es scheint, als weise der Autor gerade darauf hin: Mit dem Zweifel Petri steht die Tatsache im Mittelpunkt dieser Perikope, dass auch und gerade dann, wenn der menschliche Glaube nicht stark genug ist, die Gnade Gottes umso deutlicher zutage tritt. Nun erkennen auch die Jünger, dass es sich hier nicht nur um ihren Herrn Jesus handelt, sondern dass dieser Jesus auch der Sohn Gottes ist. Es liegt demnach nicht am Urteil des Menschen, ob die Wahrheit Gottes sich erweisen kann. Vielmehr wird diese Wahrheit auch dann offenbar, wenn das Wagnis des Glaubens scheitert. Damit ist uns dreierlei gesagt: Zunächst, Petrus ist zum Handeln, d. h. für uns, zum Urteilen aufgefordert. Um glauben zu lernen, muss das Wagnis des Gehorsams eingegangen werden, steht der Mensch doch in der Verantwortung für die Welt in der Wirklichkeit Christi. Solches Sein in Christus beinhaltet das »Wagnis der Tat«,81 ein Hoffen und Vertrauen auf Christus, das im und aus dem Wort das Wagnis des Geschöpfseins eingehen lernt.82 Zudem ist freilich in jedem Urteil, in jeder Tat, wenn sie menschliche, verantwortliche Tat ist, immer auch eine Begrenzung inbegriffen. Jedes Urteil, so vorausschauend und umsichtig es auch getroffen wird, beinhaltet die Möglichkeit des Scheiterns, gerade weil es menschliches Urteil ist. Petrus blickt vertrauensvoll auf seinen Herren, er geht den Schritt in die Unsicherheit und scheitert an seinem Zweifel. Das aber ist nicht das Ende der Geschichte. Denn zuletzt wird deutlich, es geht weniger darum, dass Petri Tat missglückt, vielmehr wird auch daran die Wahrheit Gottes offenbar,83 nämlich dass dieser Mensch Jesus der Christus ist. Jesus rettet Petrus. Und so gilt zuletzt auch für uns: Urteilen Lernen beinhaltet das Wagnis, es beinhaltet immer auch das Scheitern. Ob und dass das Reich Gottes in der Welt offenbar wird, ist aber nicht am Menschen; im Gegenteil wird die Wahrheit Gottes auch da offenbar, wo menschliches Urteilen missglückt. Es ist nicht an die Verantwortung und das wirklichkeitsgemäße Handeln des Menschen gebunden. In seiner Ethik formuliert Bonhoeffer dies folgendermaßen: »Wieweit ein menschliches Handeln dem göttlichen Ziel der Geschichte dient und also das Gute in der Geschichte realisiert, darüber gibt es für den Menschen keine letzte 80 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Schöpfung und Fall, 115. 81 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 247. Im Original nicht hervorgehoben. 82 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 65: Ziel ist das »Wagnis der freien, auf eigenste[n] Verantwortung hin geschehenden Tat, die allein das Böse im Zentrum zu treffen und zu überwinden vermag.« 83 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Akt und Sein, 83: »Wahre Wirklichkeit [ist die,] durch [die] Wahrheit des Wortes Gottes gedeutete Wirklichkeit.« Bonhoeffer, Dietrich: Akt und Sein, 83.

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Gewißheit. Es bleibt dem verborgenen Rat Gottes vorbehalten. Während für den Ideologen die Übereinstimmung einer Tat mit der Idee den eindeutigen Maßstab über Gut und Böse abgibt, muß sich der verantwortlich ›wirklichkeitsgemäß‹ Handelnde, der seine Tat Gott ausliefert, mit dem Glauben an die vergebende und heilende Gnade Gottes trösten. Er kann sein Recht nicht beweisen, weil ihm die lebendige Wirklichkeit keinen eindeutigen Maßstab in die Hand gibt. […] Gott geht durch das Gute und Böse der Menschen hindurch seinen eigenen Weg.«84

Damit liegen in jedem wirklichen Urteilen Anspruch und Freispruch ineinander. Petrus soll gehorchen, er ist aber zugleich davon freigesprochen, dass sein Tun gelingendes Tun sein muss. Nicht daran liegt die Offenbarung der Wahrheit, sondern in der freien Tat des freien Schöpfers an seiner Schöpfung. Das meint aber zugleich nicht, dass es für das Offenbarwerden der Wirklichkeit Gottes einerlei wäre, ob der Mensch sich diesem Anspruch stellt oder nicht. Das Matthäusevangelium führt uns diesen Umstand deutlich vor Augen: Hätte Petrus sich unter den Jüngern im Boot versteckt, hätte er nicht dem Wort Jesu Folge geleistet, hätten weder er noch die Jünger diesen als Sohn Gottes erkannt. Auch im Verfehlen der Wahrheit wird demnach diese offenbar, nämlich gerade als verfehlte. Im Nicht-Urteilen, im Nicht-Handeln dagegen tritt weder die verfehlte Wahrheit, noch die sich verwirklichende Wahrheit zutage. Nur weil Petrus den Schritt wagt, wird die Wahrheit offenbar, ob nun als verwirklichte oder verfehlte, das liegt nicht in seiner Hand, sondern ist allein der richtenden und versöhnenden Macht Gottes übergeben. Petrus ist in die Verantwortung gerufen; über sein Handeln zu richten, obliegt nicht seinem eigenen Wissen um Gut und Böse, es ist vielmehr ganz dem Richter selbst ausgeliefert. In Petri Sinken wird eben dann genau dieses deutlich: Der Mensch, der auch in seinem Zweifel sein Leben ganz in die Hände Gottes legt, wird auf die richtende, die zugleich versöhnende Gnade ist, hoffen dürfen. In seinem Sein in Christus ist das volle Menschsein als solches bejaht, auch der Zweifel ist Teil dieses Seins als simul iustus et peccator und dementsprechend im Zuspruch Gottes aufgenommen und für alle Zeit überwunden. Es ergeben sich damit für unsere Frage nach dem urteilen Lernen folgende abschließende Beobachtungen: In der Anerkenntnis des Menschen als Geschöpf Gottes ist uns der Bezugsrahmen eines jeden Urteilens zuteil geworden. In seiner Geschöpflichkeit ist der Mensch als Freier verantwortlich in die Gemeinschaft mit seinem Schöpfer und seinen Mitgeschöpfen gestellt. Ein wirklichkeitsgemäßes, d. h. ein auf Gottes Anspruch antwortendes Leben ist dementsprechend beauftragt, aus der menschlichen Freiheit und Gebundenheit heraus zu handeln. Im lebendigen Wort in Christus wird uns diese Gotteswirklichkeit je und je neu zuteil, sodass uns in jedem Urteil und in jeder Entscheidung das leitende Kri84 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 226.

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terium mitgegeben ist: Als Geschöpf urteilen, meint dann ein Urteilen, das ein im Wort gebundenes Urteilen ist. Das heißt im Gegenzug auch, dass sich jedes Urteilen an dieser Christuswirklichkeit messen lassen muss. Dann ist es eben aber gerade nicht eine wie auch immer geartete christliche Ethik, die Urteil und Vollzug an vorgegebenen Maximen zu beurteilen hätte, im Gegenteil ist die Beurteilung in die Hände des Richters gegeben. Nicht das erfahrbare Gelingen oder Misslingen eines Urteils steht damit im Vordergrund, sondern das Eingehen des Wagnisses als Wagnis des Glaubens. Vielmehr noch ist die Frage nach dem Gelingen und Misslingen in den Bereich des Vorletzten zu übergeben, der sich allein aus dem Letzten, aus dem endgültigen Wort Gottes bedingt. Wenn wir aber mit Bonhoeffer dann vom verantwortlichen Urteilen und Handeln als Verwirklichung des Reiches Gottes sprechen, erhält auch die Rede vom Erfolg und Scheitern eine neue Konnotation. Es steht dann nicht mehr die menschliche Situationsbewertung als Richtschnur im Zentrum, sondern im Gegenteil die göttliche, die im Gehorsam des eigenverantwortlichen Tuns das Gelingen, d. h. die Verwirklichung des Guten erkennt. Bonhoeffers Verantwortungsbegriff ist demnach nicht ein idealistisch-unerfüllbarer, sondern ganz im Gegenteil ein an dem Geschöpf als gefallenem und neugeborenem orientierter. Es ist damit der Mensch aufgerufen und befreit, sich seiner eigenen, Gott gegebenen Möglichkeiten zu bedienen, sich aber zugleich derer Begrenzungen bewusst zu sein. Dass das gerade den Mut zum Handeln eröffnet, wird dann offensichtlich, wenn es weniger darum geht, dass mit meinem erfolgreichen Handeln das Gute in der Welt verwirklicht wird, sondern mehr darum, dass das Gute bereits dadurch verwirklicht wird, dass ich beherzt handle. Auch hier steht freilich meine eigene Einschätzung der Lage im Vordergrund, aber eben nicht an erster Stelle, denn das Gute ist nicht abhängig vom Erfolg oder Misserfolg meines Handelns, sondern das Gute erweist sich bereits in meinem Urteilen und Entscheiden, denn, so kann Bonhoeffer sagen: »Christliches Leben heißt Menschsein inkraft der Menschwerdung, heißt gerichtet und begnadigt sein inkraft des Kreuzes, heißt ein neues Leben leben in der Kraft der Auferstehung. Eines nicht ohne das andere. […] Es gibt also kein Vorletztes an sich, […] sondern zum Vorletzten wird etwas erst durch das Letzte, das heißt in dem Augenblick, in dem es bereits außer Kraft gesetzt worden ist.«85

Im Bereich des Vorletzten sind wir also in die Verantwortung für die eigene Tat gesetzt, vom Letzten her können wir zugleich jedoch hoffen, dass diese Tat in der Anrede Christi schon gerichtet ist. Gelingen und Misslingen sind damit aus dem Vorletzten und Letzten zwei unterschiedlich zu bewertende Kategorien: Im Vorletzten können wir nicht aus einem Wissen um Gut und Böse richten, vom 85 Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 151.

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Letzten her misst sich zugleich aber am Gelingen oder Misslingen des Urteils nicht das Offenbarwerden der Wahrheit Gottes. Es liegt damit nicht am Erfolg unseres Urteilens, ob die Wahrheit offenbar wird. Vielmehr realisiert sich da, wo vom Letzten her Urteilen gelingt, d. h. wo das Wagnis des Urteilens mutig ergriffen wird, das wahre Menschsein als ein verantwortliches, in der Gemeinschaft stehendes. Und damit können wir zuletzt sagen: Als Geschöpfe Gottes sind wir aufgerufen urteilen zu lernen und dieses können wir getrost in vollem Vertrauen auf Christus tun, denn gerade darin, dass sich in diesem Wagnis das Menschseins als Geschöpfsein realisiert,86 sind wir Teil des Offenbarwerdens der Wahrheit Gottes.

86 Cf. Bonhoeffer, Dietrich: Sanctorum Communio, 29: »Es ist christliche Erkenntnis, daß im Augenblick des Bewegtseins, des Stehens in der Verantwortung, des leidenschaftlichen ethischen Kampfes, der Heimsuchung des Menschen durch den ihn überwältigenden Anspruch die Person als bewußte erzeugt wird.«

Gerhard Dannecker

Die Öffentlichkeit von Gesetzen

1.

Die Öffentlichkeit und ihre Stellung im deutschen Rechtssystem

Die Gesetzgebung1 ist als demokratischer Rechtssetzungsdiskurs verfasst,2 an dem die Bundesregierung, die Bundestagsabgeordneten und der Bundesrat beteiligt sind. Deren Beiträge sind auf den Bundestag als institutionelles Zentrum des Gesetzgebungsverfahrens bezogen, eine Institution, die durch die Wahl unmittelbar von den Bürgern demokratisch legitimiert ist. Die Bürger selbst sind am Gesetzgebungsverfahren nicht aktiv beteiligt; sie haben jedoch, wenn eine Gesetzesinitiative in den Bundestag eingebracht worden ist, das Recht, an der parlamentarischen Beratung und Beschlussfassung des Bundestags teilzunehmen. Denn nach Art. 42 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verhandelt der Bundestag öffentlich.3 Für die der Gewaltenteilung unterliegenden staatlichen Organe ergibt sich aus der Idee der Öffentlichkeit als Wesenselement der Demokratie, dass die Gesetzgebung öffentlich beraten muss, soweit nicht besondere Umstände, insbesondere spezielle Geheimhaltungsinteressen, eine nichtöffentliche Behandlung des Gesetzesvorhabens erfordern. Sodann tritt die Öffentlichkeit bei der Gesetzgebung erneut in den Blick: Nach Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG werden die nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesgesetz-

1 Gegenstand der Ausführungen sind Bundesgesetze; für Landesgesetze gelten die Ausführungen entsprechend. 2 Vgl. Gusy, ZRP 1985, 291 ff.; Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 45 Rn. 49; Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1998, S. 255, 292 ff., 404 ff.; Rubel, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 2002, Vor Art. 76 ff. GG Rn. 9. 3 Zur Parlamentsöffentlichkeit BVerfGE 70, 324, 355; 84, 304, 329; Kißler, in Scherider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, S. 993 ff.

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blatt verkündet.4 Diese Vorschrift ist integraler Bestandteil des Gesetzgebungsverfahrens.5 Ohne Bekanntmachung, was geltendes Recht ist, wären die Normadressaten der Gesetze nicht in der Lage, die von ihnen zu beachtenden Rechtspflichten zu befolgen. In diesem Zusammenhang betrifft die Veröffentlichung den Grundrechtsschutz der Bürger, die vorhersehen können müssen, welches Verhalten von ihnen verlangt wird. Außerdem ist die Veröffentlichung Voraussetzung für die Durchsetzung der Gesetze. Sodann spielt das Öffentlichkeitsprinzip im Zusammenhang mit Gerichtsverhandlungen eine zentrale Rolle. Gerichtsverhandlung sind grundsätzlich öffentlich, d. h. auch unbeteiligten Personen zugänglich.6 Die Verfahrensöffentlichkeit stellt das Gegenstück zur Geheimjurisprudenz dar. Es ging traditionell um den Kampf gegen die Justiz hinter verschlossenen Türen sowie um die Kontrolle und Unabhängigkeit der Richter. Hierbei handelt es sich um ein Grundprinzip des Rechtsstaates, das auch in Artikel 6 Abs. 1 der europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) als Voraussetzung eines fairen Verfahrens garantiert wird. Aktuell hat das Öffentlichkeitsprinzip zum einen im Zusammenhang mit der Vergabe von Sitzplätzen für Medienvertreter im NSU-Strafverfahren Bedeutung erlangt,7 in der es um den Zugang ausländischer Medienberichterstatter zu einer strafrechtlichen Hauptverhandlung unter Wahrung der Chancengleichheit ging. Zum anderen ist das Strafverfahren gegen Jörg Kachelmann wegen des Verdachts der Vergewaltigung zu nennen. Hier stellte sich die Frage, ob alle Einzelheiten, die in öffentlicher Verhandlung im Gerichtssaal verlesen oder verkündet worden sind, auch in der Presse abgehandelt werden durften.8 Hier ging es um die Frage, in welchem Umfang auch über private, das Persönlichkeitsrecht berührende Umstände berichtet werden darf, die in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung erörtert worden sind. Schließlich wird Transparenz des Staates auch im Hinblick auf die Verwaltung relevant. Die Forderung nach einer transparenten Verwaltung gibt es zwar seit jeher ;9 im Unionsrecht hat sie bereits grundrechtlichen Charakter erlangt,10 al-

4 Rechtsverordnungen werden von der Stelle, die sie erlässt, ausgefertigt und vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung im Bundesgesetzblatte verkündet. 5 BVerfGE 7, 330, 337 = NJW 1958, 988; BVerfGE 42, 263, 283 = NJW 1976, 1783. 6 Zur demokratischen Legitimation der Gerichtsbarkeit und zur Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Verhandlungen als Legitimationsgesichtspunkte Voßkuhle/Sydow, JZ 2002, 673, 680. 7 Dazu BVerfGE NJW 2013, 1293. 8 OLG Köln, Urteile vom 14. 02. 2012, Az. 15 U 123/11, 15 U 125/11, 15 U 126/11; zur Lauterkeit bei der journalistischen Recherche Tillmanns, ZRP 2011, 203 ff.; siehe auch Trüg, NJW 2011, 1040 ff. und Molle, ZUM 2010, 331 ff. 9 Scherzberg, Die Öffentlichkeit der Verwaltung, 2000; Wegener, Der geheime Staat, 2006.

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lerdings nicht ohne Grenzen.11 In neuerer Zeit kommt dem Recht auf Informationszugangsfreiheit, das der Gesetzgeber in einer Reihe von Gesetzen konkretisiert, zentrale Bedeutung zu, durch das Vorgänge, für die ein Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen besteht, transparent gemacht werden. Dieser Paradigmenwechsel geschah vor dem Hintergrund, dass sich die gesellschaftlichen Bedingungen und Charakteristika der modernen Verwaltung gewandelt haben und eine »relative Eigenständigkeit der Verwaltung«12 entstanden ist. Als Stichworte werden in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Gesellschaft zur Risiko- und Informationsgesellschaft, der Wandel der Staatsaufgaben, gelockerte Rechtsmaßstäbe bei Verwaltungsentscheidungen, veränderte Bedingungen der Umsetzung von Verwaltungsentscheidungen und die partielle Ablösung der überkommenen Hierarchie genannt.13 Verfassungsrechtliche Grundlagen der Öffentlichkeit der Verwaltung und der individuellen Zugangsansprüche sind die Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG sowie das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 und 3 GG.

2.

Das Recht der Öffentlichkeit auf Teilnahme am Gesetzgebungsprozess

»Gute Obrigkeit scheut nicht das Licht«, so führt Hans Hugo Klein in die Kommentierung zur Öffentlichkeit des Gesetzgebungsverfahrens ein, und er fährt fort: »Öffentlichkeit galt schon im Mittelalter als Ausweis von Tugend, Rechtschaffenheit, Rechtmäßigkeit.14 Publicus (urspr. populicus) verweist auf populus. Doch ganz entgegen diesem semantischen und in der klassischen römischen res publica auch realen Bezug hatte sich im Zeitalter des Absolutismus »das Öffentliche« zurückgezogen in die fürstlichen Kabinette. Der Monarch und seine »Geheimen« Räte bestimmten über das gemeine Wohl. Die arcana imperii, die eigentlichen Triebkräfte des Staates,15 blieben dem Volk, d.i. der Öffentlichkeit, verborgen. Im Blick auf die fatalen Ergebnisse der Arkanpolitik, des »Despotismus der Geheimregierung«,16 wurde schon zu Beginn der Revolution 10 Folz, in: Stelmach/Schmidt, Information als Gegenstand des Rechts, 2006, S. 79 ff. mit weit. Nachw. 11 Näher dazu Gusy, DVBl. 2013, 941 ff.; Rossi, Informationszugangsfreiheit und Verfassungsrecht, 2004, passim. 12 Zur Eigenständigkeit der Verwaltung siehe Hoffmann-Riem, in: ders./Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 10. 13 Albers ZJS 6/2009, 614, 616. 14 Noch bei Rotteck heißt es: »Nur im Lichte entfalten sich Tugend, Recht und Glück« (v. Aretin/v. Rotteck, Staatsrecht der constitutionellen Monarchie, 2. Aufl. 1838, 3. Bd., 258). 15 C. Schmitt, Die Diktatur, 3. Aufl. 1964, 14 f. 16 Welcker, Artikel »Öffentlichkeit« in: K. v. Rotteck/K. Welcker (Hrsg.), Das Staatslexikon.

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in Frankreich »die Forderung nach Sichtbarmachung des Politischen«17 erhoerhoben: die Generalstände setzten die Öffentlichkeit ihrer Verhandlungen durch. Öffentlichkeit wurde zu einem zentralen Punkt des liberalen Verfassungsprogramms.«18 Dies spiegelt sich in der Verpflichtung des Bundestages wider, der Gesetzesentwürfe öffentlich beraten muss.

2.1

Zur Pflicht des Bundestages zur öffentlichen Beratung des Gesetzesentwurfs

Das Gesetzgebungsverfahren besteht aus vier Phasen: der Gesetzesinitiative einschließlich des föderalen Stellungnahmeverfahrens, der parlamentarischen Beratung und Beschlussfassung, der föderalen Mitwirkung und dem Erlass des Gesetzes. Nach der parlamentarischen Einbringung des Gesetzesentwurfs ist der Bundestag verpflichtet, den Gesetzesentwurf in öffentlicher Sitzung zu beraten. Nach Art. 42 Abs. 1 GG verhandelt der Bundestag öffentlich. Auf Antrag eines Zehntels seiner Mitglieder oder auf Antrag der Bundesregierung kann mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Über den Antrag wird in nichtöffentlicher Sitzung entschieden. Nach Art. 42 Abs. 3 GG bleiben wahrheitsgetreue Berichte über die öffentlichen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse von jeder Verantwortlichkeit frei. 2.1.1 Sitzungsöffentlichkeit Das Öffentlichkeitsprinzip, auch Transparenzprinzip genannt, ist eine notwendige Funktionsvoraussetzung einer repräsentativen Demokratie. Es gewährleistet als wesentliches Element des demokratischen Parlamentarismus19 die Kontrollrechte des Volkes als Souverän sowohl im Hinblick auf die Abgeordneten selbst als auch zumindest indirekt im Hinblick auf die von diesen kontrollierte Regierung. Nur die freie und offene Rückkopplung zwischen den Abgeordneten und dem Volk schafft durch den Zwang zur Rechtfertigung Ver-

Enzyklopädie der sämtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, 3. Aufl. (hrsg. von K. Welcker), 10. Bd., 1864, S. 743. 17 Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 47; siehe auch Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969, S. 50 ff. 18 Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, 2. Bd.: Monarchie und Volkssouveränität, 2. Aufl. 1949. S. 135; Steiger, Zur Funktion der Öffentlichkeit parlamentarischer Verhandlungen heute, Studium Generale 23 (1970), S. 710, 728. 19 BVerfGE 70, 324, 355 = NJW 1986, 907, 908; 84, 304, 329 = NJW 1991, 2474, 2477; NVwZ 2010, 634, 636.

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antwortlichkeit.20 Das Bundesverfassungsgericht sieht als Ort der öffentlichen Verhandlung allein das Plenum, die Vollversammlung der Abgeordneten,21 nicht hingegen die Ausschüsse oder die sonstigen Gremien des Bundestags. Dies bedeutet, dass trotz des Öffentlichkeitspostulats der Demokratie die entscheidenden politischen Beratungen, insbesondere die Sitzungen des Koalitionsausschusses sowie die Fraktionssitzungen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Dadurch wird verhindert, dass die Medien durch ihre Berichterstattung zu großen Einfluss auf die politischen Beratungen nehmen können. Die Öffentlichkeit erlangt deshalb vor allem durch Indiskretionen punktuelle Einblicke in das Verhandlungsgeschehen. Es entsteht jedoch keine öffentliche Sphäre des Diskurses. Die Öffentlichkeit ist also darauf beschränkt, von ihrem Recht auf ungehinderten und gleichen Zugang für jedermann bei den Beratungen im Plenum (Sitzungsöffentlichkeit) Gebrauch zu machen.22 Dies bedeutet, dass Zuschauerplätze vorgehalten werden müssen, die im Rahmen der vorhandenen Kapazitäten nach gleichen und nachvollziehbaren Kriterien verteilt werden müssen. Ein spezieller Fall der Sitzungsöffentlichkeit ist die Berichterstattungsöffentlichkeit, die die amtliche und nicht amtliche Berichterstattung über die Verhandlungen des Bundestags gewährleistet und damit die Zugangsmöglichkeit für Medienvertreter umfasst.23 Angesichts der besonderen Bedeutung der Medien für die parlamentarische Demokratie und die durch diese vermittelte breite Öffentlichkeit ist der Bundestag verpflichtet, im Rahmen des tatsächlich Möglichen den Vertretern der Massenmedien Zugang zu den Plenarsitzungen zu gewähren.24 Jedoch darf dadurch die allgemeine Zugangsmöglichkeit für jedermann nicht über Gebühr eingeschränkt werden. Daher darf nur ein Teil der Zuhörerplätze für die Presse reserviert werden.25 Das Öffentlichkeitsprinzip erstreckt sich angesichts des Zwecks der Verhandlungsöffentlichkeit und ihrer zentralen Bedeutung für die repräsentative Demokratie auf den gesamten Prozess der Entscheidungsfindung im Plenum,26 20 BVerfGE 112, 118, 134 = NJW 2005, 203, 204; NVwZ 2010, 634, 636; Morlok/Hientzsch JuS 2011, 1, 2. 21 BVerfGE 1, 144, 152 = NJW 1952,537; Sachs/Magiera, Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 2011 , Art. 42 Rn. 2; Schmidt-Bleibtreu/Hoffmann /Hopfauf/Kretschmer Grundgesetz. Kommentar, 12. Aufl. 2011, Art. 42 Rn. 5; a. A. Dreier/Morlok, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II: Art. 20–82 GG, 2. Aufl. 2006, Art. 42 Rn. 24. 22 Morlok/Hientzsch JuS 2011, 1, 2. 23 Von Mangold/Klein/Starck/Achterberg/Schulte, Das Bonner Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Bd. 2: Art. 42 Rn. 7 ff. 24 Dreier/Morlok, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 42 Rn 27; Binder DVBl 1985, 1112, 1115. 25 Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 12. Aufl. 2012 , Art. 42 Rn. 1; Schmidt-Bleibtreu/Hoffmann /Hopfauf/Kretschmer, GG, Art. 42 Rn 6; Sachs/Magiera, GG, Art. 42 Rn. 3. 26 BVerfGE 10,4, 12 = NJW 1959, 1723; 89, 291, 303 = NJW 1994, 927, 928.

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vom Beginn der Sitzung bis zu deren Ende, also sowohl die Beratung als auch die Beschlussfassung.27 Umstritten ist allerdings, ob die Öffentlichkeit der Beschlussfassung Abstimmungen und Wahlen mit verdeckten Stimmzetteln entgegensteht. Überwiegend wird dem Öffentlichkeitsgebot nur die Vorgabe entnommen, dass das parlamentarische Geschehen öffentlich zugänglich sein muss, nicht aber, dass der Inhalt der Abstimmungen und Wahlen wahrgenommen werden kann. Entsprechend sieht § 49 GOBT »geheime« Wahlen mittels verdeckter Stimmzettel vor. Für Wahlen ist dies allgemein anerkannt. Hingegen werden geheime Abstimmungen über Sachfragen teilweise als mit dem Transparenzgebot unvereinbar angesehen, das garantiere, dass der Souverän seine Repräsentanten nicht nur an ihren Äußerungen, sondern auch und gerade an ihrem Abstimmungsverhalten messen können müsse. Ansonsten wären die Abgeordneten »verantwortungsfrei«, letztlich ohne öffentliche Kontrolle.28 Trotz der zentralen Bedeutung des Öffentlichkeitsprinzips in der Demokratie führt eine Verletzung dieses Prinzips nicht zur Nichtigkeit eines Parlamentsbeschlusses. Es handelt sich letztlich um einen Verfahrensfehler, der nicht auf die Wirksamkeit des Beschlusses durchschlägt.29

2.1.2 Ausschluss der Öffentlichkeit Die Öffentlichkeit kann nach Art. 42 Abs. 1 Satz 2 GG mit einer Zweidrittelmehrheit des Bundestags ausgeschlossen werden, wenn ein entsprechender Antrag mindestens eines Zehntels der Mitglieder des Bundestags (Art. 121 GG) oder der Bundesregierung vorliegt. Über diesen Antrag wird in nicht-öffentlicher Sitzung verhandelt und entschieden (Art. 42 Abs. 1 Satz 3 GG). Für die Annahme des Antrags ist eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich. In materieller Hinsicht werden keine besonderen Anforderungen an den Ausschluss der Öffentlichkeit gestellt. Es unterliegt der Einschätzungsprärogative des Bundestags, ob er den Ausschluss der Öffentlich für notwendig hält. Angesichts der Bedeutung des Öffentlichkeitsprinzips für die repräsentative Demokratie wird man jedoch sowohl für den teil- und zeitweisen Ausschluss30 als auch für den vollständigen Ausschluss der Öffentlichkeit 27 BVerfGE 89, 291, 303 = NJW 1994, 927, 928. 28 Linck ZParl 23 (1992), 674, 700; Linck DVBl 2005, 793, 795; a. A. von Mangold/Klein/Starck/ Achterberg/Schulte, Das Bonner Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Bd. 2: Art. 42 GG Rn. 3; Sachs/ Magiera GG Art. 42 Rn. 4; Schmidt-Bleibtreu/Hoffmann/Hopfauf/Kretschmer GG, Art. 42 Rn. 15. 29 Von Mangold/Klein/Starck/Achterberg/Schulte, Das Bonner Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Bd. 2: Art. 42 Rn. 6; a. A. Jarass/Pieroth, Kommentar zum Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 42 Rn. 2; Kornmeier DÖV 2010, 676, 680. 30 Dazu Jarass/Pieroth, Kommentar zum Grundgesetz, 2. Aufl. 2012, Art. 42 Rn 2.

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trotz des extensiven Entscheidungsspielraums des Bundestags Grenzen durch das allgemeine Willkürverbot setzen. 2.1.3 Verantwortungsfreiheit für Berichte Art. 42 Abs. 3 GG ergänzt die Parlamentsöffentlichkeit um die Verantwortungsfreiheit für wahrheitsgetreue Berichte über die öffentlichen Sitzungen des Bundestags und seiner Ausschüsse. Zweck der Verantwortungsfreiheit ist es, die freie Kommunikation des Parlaments mit dem Volk als Souverän und die öffentliche Kommunikation über die parlamentarischen Verhandlungen zu sichern.31 Damit weist die Verantwortungsfreiheit einerseits einen unmittelbaren Bezug zum Parlament auf und privilegiert dieses.32 Andererseits hat die Verantwortungsfreiheit grundrechtsähnlichen Charakter, indem sie die öffentliche Meinungsbildung fördert und damit das Grundrecht der Meinungsfreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch die Massenmedien aus Art. 5 Abs. 1 GG verstärkt. Es entsteht eine strafrechtliche »Berichterstattungsindemnität«33 für jedermann,34 de facto jedoch insbesondere für die Medienvertreter.35 Verantwortungsfreiheit bedeutet, dass ein wahrheitsgetreuer Bericht über eine öffentliche Sitzung des Bundestags oder eines seiner Ausschüsse keine negativen rechtlichen Sanktionen nach sich ziehen darf, weder strafrechtlicher noch zivilrechtlicher, presserechtlicher oder dienstrechtlicher Art.36 Die Verantwortungsfreiheit erstreckt sich über den Verfasser des Berichts hinaus auch auf das veröffentlichende Medienorgan und dessen Verantwortliche.37 Dies spiegelt sich in der Regelung des § 37 StGB wider, der in Verbindung mit § 36 StGB die Verantwortungsfreiheit des Art. 42 Abs. 3 GG über den Bundestag hinaus auf die Bundesversammlung und die Länderparlamente erstreckt.

31 BGH NJW 1980, 780, 781; Dreier/Morlok GG, Art. 42 Rn 40. 32 Von Mangold/Klein/Starck/Achterberg/Schulte, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 2: Art. 42 Rn 55. 33 So Fischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 60. Aufl. 2013, § 37 Rn. 1. 34 Von Mangold/Klein/Starck/Achterberg/Schulte, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 2: Art. 42; von Mangold/Klein/Starck/Achterberg/Schulte, Das Bonner 6. Aufl. 2010, Bd. 2: Art. 42 Rn. 54. 35 S-B/H/H/Kretschmer GG, Art. 42 Rn 19. 36 Von Mangold/Klein/Starck/Achterberg/Schulte, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 2: Art. 42 Rn. 53 mit weit. Nachw. 37 Fischer Kommentar zum StGB, 60. Aufl. 2013, § 37 Rn. 1 mwN.

6. Aufl. 2010, 6. Aufl. 2010, Grundgesetz, 6. Aufl. 2010,

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2.1.4 Funktionen der Sitzungsöffentlichkeit und ihre Grenzen Die Funktionen der Parlamentsöffentlichkeit werden in der Repräsentation, Partizipation, Kommunikation, Integration, Information, Legitimation und Kontrolle gesehen.38 Dennoch wurden bereits im 19. Jahrhundert Bedenken gegenüber der öffentlichen Meinung ins Feld geführt39 und zu Recht Funktionsdefizite geltend gemacht, weil die öffentliche Meinung zum einen von Seiten des Staates manipulationsgefährdet sei40 und zum anderen von Seiten der sozialen Kräfte und Interessen, deren Teilhabe am politischen Diskurs (vor allem) das Grundrecht der Meinungsfreiheit gewährleiste. Hinzu komme, dass die Massenmedien als Träger der öffentlichen Meinung nicht neutral über die unterschiedlichen Meinungen berichten, sondern eigene wirtschaftliche und politische Interessen verfolgen und insbesondere im Rahmen der Sensationsberichterstattung die politisch gebotene Sachaufklärung nicht selten vermissen lassen. Trotz dieser Bedenken ist die Sitzungsöffentlichkeit der Parlamente allen demokratischen Verfassungen gemeinsamer Rechtsgrundsatz, der im demokratischen Verfassungsstaat unverzichtbar ist. Hans Hugo Klein41 fasst diesbezüglich seine Kommentierung des Art. 42 GG resümierend zusammen: »Nichtöffentlichkeit des politischen Prozesses und persönliche und politische Freiheit sind nicht miteinander vereinbar. ›Das Öffentliche soll öffentlich sein‹ und: die Öffentlichkeit ,erst macht den Staat zu einem Gemeinwesen des ganzen Volks‹, indem sie es zur Teilhabe an der Ausübung der Staatsgewalt befähigt. Dies gilt für alle drei Zweige der Staatsgewalt, insbesondere jedoch für die Gesetzgebung.«

2.2

Verkündung von Gesetzen und Rechtsverordnungen im Bundesgesetzblatt

Nach Artikel 82 Abs. 1 Satz 1 GG werden die nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 1 Gesetz über die Errichtung des Bundesamtes für Justiz, § 60 GGO). Rechtsverordnungen des Bundes werden nach Art. 82 Abs. 1 Satz 2 GG von der 38 Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 565 mit Nachw.; siehe auch Steiger, Studium Generale 23 (1970), 710 ff. 39 Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 446 f. 40 Zur Funktionsweise der Massenkommunikationsmittel siehe Zippelius Allgemeine Staatslehre. Politikwissenschaft, 16. Aufl. 2010, § 28 IV ; Oberreuter, Republikanische Demokratie, 2012, 266 ff. 41 In: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz/Herdegen/Klein, Grundgesetz-Kommentar, Bd. IV, Stand 2013, Art. 42 Rn. 15.

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233

erlassenden Stelle, in der Regel der Bundesregierung oder einem Bundesministerium, ausgefertigt und grundsätzlich ebenfalls im Bundesgesetzblatt verkündet. 2.2.1 Verkündung des Gesetzes als rechtsstaatliches Formerfordernis Die Verkündung des Gesetzes ist rechtsstaatlich geboten,42 denn ohne Bekanntmachung dessen, was geltendes Recht ist, wären die Adressaten nicht in der Lage, die von ihnen zu beachtenden Rechtspflichten zu befolgen. Der Bürger soll sich zuverlässig informieren können; eine tatsächliche Kenntnisnahme durch den einzelnen Bürger ist jedoch nicht erforderlich. Seine Kenntnis wird vielmehr fingiert, weil er die Möglichkeit zur Kenntnisnahme hatte. Vom Bürger wird erwartet, dass er die Rechtslage einschätzen kann. Irrt er sich, so entlastet ihn das nur, wenn der Irrtum unvermeidbar war, und an die Unvermeidbarkeit werden sehr hohe Anforderungen gestellt. Im Falle von Verweisungen innerhalb der Gesetze muss für den Bürger klar erkennbar sein, auf welche Regelungen verwiesen wird, und die in Bezug genommenen Regelungen müssen in allgemein zugänglichen Quellen erreichbar sein.43 Die Verkündung ist nicht nur ein rechtsstaatliches Formerfordernis, sondern zwingende Voraussetzung für die Geltung des Gesetzes. Hierbei gilt das Vollständigkeitsprinzip: Gesetze müssen in ihrem gesamten Wortlaut und Umfang im Bundesgesetzblatt veröffentlicht werden. Da Haushaltsgesetze keine an den Bürger gerichteten Verhaltensnormen enthalten, kann bei ihnen ausnahmsweise von der Verkündung der Einzelpläne abgesehen werden.44 2.2.2 Veröffentlichung der Gesetzesmaterialien und ihre Bedeutung für die historische Auslegung, insbesondere im Strafrecht Auch die Gesetzesmaterialien sind zu veröffentlichen um festzuhalten, welche Überlegungen den Gesetzgeber beim Erlass des Gesetzes geleitet haben. Dies dient der Bindung der Gerichte an den Willen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Diese Materialien sind im Rahmen der historischen Auslegung der Gesetze durch die Rechtsprechung heranzuziehen, um die die gesetzgeberische Zweckvorstellung zu erschließen. Der historischen Auslegung kommt insbesondere im Strafrecht zentrale Bedeutung zu, weil hier der Gesetzgeber durch die Straftatbestände die Freiheit der Bürger einschränkt. Deshalb ist seinem Willen besonders Rechnung zu tragen. 42 BVerfGE 44, 350 = NJW 1977, 2255. 43 Vgl. BVerfGE 22, 346 f. 44 Vgl. BVerfGE 20, 93.

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Bei der Erforschung des historischen Willens des Gesetzgebers ist nicht auf die Vorstellungen der an der Gesetzgebung beteiligten Personen (sog. subjektivhistorische Methode),45 sondern auf den vom Gesetzgeber verfolgten Zweck (sog. objektiv-historische Methode)46 abzustellen. So kann eruiert werden, was mit dem auszulegenden Gesetz angesichts der gegenwärtigen Lebensverhältnisse, rechtspolitischen Fragestellung und gesellschaftlichen Interessen vernünftigerweise bezweckt worden ist. Hierbei geht es nicht um den Willen der mitwirkenden Parteien oder die Auffassung eines Referenten.47 Da Gesetze in einer parlamentarischen Demokratie typischer Weise auf einem Kompromiss widerstreitender Regelungsinteressen beruhen, darf auch nicht nur auf den Willen derjenigen abgestellt werden, die das Gesetz zustande gebracht haben. Es geht vielmehr um die konkrete Fassung des Gesetzes, das die Lösung eines spezifischen Entscheidungsproblems darstellt.48 Hierbei ist die gesamte Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen, einschließlich der damals geltenden Wert- und Sozialvorstellungen und der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse sowie der Interessenlagen, von denen der Gesetzgeber ausgegangen ist. Erkenntnisquelle für die gesetzgeberischen Zweckvorstellungen sind die Gesetzesmaterialien (Bundestags- und Bundesratsdrucksachen, stenographische Berichte des Bundestags und des Bundesrats).

3.

Der Grundsatz der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen

Die Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung gehört zu den wesentlichen Anforderungen an ein rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtetes Gerichtsverfahren;49 die Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung und der Urteils45 Bejahend Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 1964, S. 191 ff.; ders., in: Festschrift für Engisch, 1969, S. 274 ff.; Krahl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG), 1968, S. 40 ff.; Schroth Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 37 ff.; kritisch dazu Bringewat Grundbegriffe des Strafrechts, 2. Aufl. 2008, Rn. 277 f; Stratenwerth, in: Festschrift für German, 1969, S. 257, 258. 46 Eingehend dazu Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, S. 37 ff m. w. N.; vgl. dazu auch Rüthers, JZ 2006, 53, 58 47 Vgl. Hassemer/Kargl, Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2013, § 1 Rn. 117; Schmitz Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2011, § 1 Rn. 73; Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 328 ff; Loos in: Festschrift für Wassermann, 1985, S. 123 ff; Schroth Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, S. 78 f; Wank Dies Auslegung von Gesetzen, 3. Aufl. 2005, S. 93 f. 48 Näher dazu Loos in: Festschrift für Wassermann, 1985, S. 123; Schroth in Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.) Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004, S. 270, 282. 49 BVerfG NJW 2012, 1863; BGHSt 9, 280, 281 f.; 21, 72.

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235

verkündung wird auch in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiert. Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung ist kein Verfassungssatz, sondern eine Prozessmaxime für bestimmte Verfahrensarten,50 die in § 169 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) geregelt ist. Unter Öffentlichkeit ist zu verstehen, dass jedermann, ohne Ansehen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe der Bevölkerung und ohne Ansehung bestimmter persönlicher Eigenschaften an der Gerichtsverhandlungen als Zuhörer teilnehmen kann.51 Zur Öffentlichkeit zählen auch die Vertreter der Presse.

3.1

Die mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz verfolgten Zwecke

Der Öffentlichkeitsgrundsatz erklärt sich historisch als Forderung der Aufklärung und des Liberalismus sowie als Reaktion gegen die Geheim- und Kabinettsjustiz des Absolutismus und nicht aus dem Wesen des Gerichtsverfahrens. Mit diesem Grundsatz wurden und werden zwei Ziele verfolgt: Zum einen dient die öffentliche Kontrolle der Wahrheits- und Rechtsfindung;52 die Verfahrensbeteiligten, insbesondere der Angeklagte im Strafprozess, werden durch den Öffentlichkeitsgrundsatz vor willkürlichen Urteilen geschützt. Zum anderen wird durch die Einräumung der Möglichkeit, an Verhandlungen als Zuhörer teilzunehmen, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Justiz gestärkt;53 auf diese Weise werden gerichtliche Entscheidungen demokratisch legitimiert. Der Öffentlichkeitsgrundsatz hat im Lauf der Zeit einen Bedeutungswandel durch die Entwicklung anderer rechtlicher Sicherungen sowie durch die höhere Bewertung des Schutzes der Persönlichkeit und die Entwicklung der Presse- und Rundfunkberichterstattung erfahren. Freiheit der Gerichtsberichterstattung durch Presse und Rundfunk sind im Grundgesetz sowie im Presse- und Rundfunkrecht geregelt.54 Aus dem Recht von Presse und Rundfunk zur Anwesenheit folgt die Befugnis zur Berichterstattung über den Ablauf der Verhandlung. Daher dient die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung heute vorrangig dem Informationsinteresse des Publikums sowie spezial- und generalpräventiven Zwecken.

50 51 52 53 54

BVerfGE 15, 303,307. BGHSt 28, 341, 342 ff. RGSt 70, 109, 112; BGHSt 27, 13, 15; BGH NStZ 1988, 467. Vgl. Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz, 3. Aufl. 2001, § 169 Rn. 3. Vgl BVerfGE 50, 234.

236 3.2

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Öffentlichkeit der Hauptverhandlung und ihre Grenzen

Öffentlich ist nur die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht, in Strafsachen die Hauptverhandlung, nicht hingegen die Verhandlung über die Untersuchungshaft, über Ablehnungsanträge und hierauf ergehende Beschlüsse.55 Zur öffentlichen Hauptverhandlung gehören auch Beweisaufnahmen des Gerichts in voller Besetzung außerhalb der Gerichts. Garantiert ist die Publikumsöffentlichkeit, d. h. die mögliche Anwesenheit von am Verfahren nicht beteiligten Personen. Dadurch wird nicht ausgeschlossen, dass der Zugang in Fällen, in denen das Interesse der Öffentlichkeit die Kapazität der Räume voraussichtlich übersteigt, durch vorherige Anmeldung geregelt wird.

3.2.1 Zulässigkeit der Vergabe von Sitzplätzen an Medienvertreter Im Strafverfahren gegen Beate Z. u.a. bezüglich der so genannten NSU-Terrorzelle hat der Generalbundesanwalt Anklage zum OLG München erhoben. Gegenstand der Anklage waren insbesondere auch Straftaten zum Nachteil türkischer Staatsangehöriger und türkischstämmiger Bürger. Das Medieninteresse an diesem Strafverfahren war national wie international sehr groß. Deshalb vergab das OLG München 50 reservierte Sitzplätze für die Medienvertreter in der Hauptverhandlung. Unter den mit Sitzplatzreservierung akkreditierten Medien befand sich keines von neun türkischen Medien, die sich beworben hatten. Hiergegen legten die Verlegerin einer in türkischer Sprache erscheinenden Zeitung und ihr stellvertretender Chefredakteur Verfassungsbeschwerde ein und rügten insbesondere eine Verletzung in ihren Grundrechten der Pressefreiheit und des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 5 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 und 3 GG). Das Bundesverfassungsgericht56 kommt zu dem Ergebnis, dass die Entscheidung über die Zugänglichkeit zu Gerichtsverhandlungen, die Reservierung einer bestimmten Anzahl von Plätzen für Medienberichterstatter und auch die Verteilung knapper Sitzplätze grundsätzlich der Prozessleitung des Vorsitzenden Richters in dem jeweiligen Gerichtsverfahren obliege. Dieser habe hierbei einen weiten Entscheidungsspielraum, der vom BVerfG nur eingeschränkt überprüfbar sei. Die Entscheidung müsse jedoch jedenfalls in Berücksichtigung des grundsätzlichen Anspruchs der Presse auf Zugang für eine freie Berichterstattung sachlich ausgestaltet sein und dem Recht der Medienvertreter auf gleiche Teilhabe an den Berichterstattungsmöglichkeiten Rechnung tragen. Das 55 BGHSt 29, 258. 56 BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 12. 4. 2013 – 1 BvR 990/13, NJW 2013, 1293 ff. mit Anm. Zuck.

Die Öffentlichkeit von Gesetzen

237

grundsätzlich zulässige Prioritätsprinzip bedürfe einer Ausgestaltung, die die Chancengleichheit realitätsnah gewährleiste. Nicht geklärt, aber auch nicht ausgeschlossen sei, ob in bestimmten Situationen – etwa wenn ausländische Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten betroffen sind – eine Differenzierung im Sinne einer Quotenregelung zwischen verschiedenen Medienvertretern verfassungsrechtlich zulässig oder geboten sei. Das Bundesverfassungsgericht erließ eine einstweilige Anordnung zur Abwendung von Nachteilen, die bei der möglichen Verletzung einer Chance auf gleichberechtigte Teilhabe drohten. Dem Vorsitzenden Richter wurde aufgegeben, nach einem von ihm festzulegenden Verfahren eine angemessene Zahl von Sitzplätzen an Vertreter von ausländischen Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten zu vergeben. Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist in der Öffentlichkeit auf große Zustimmung gestoßen. Sie wirft jedoch grundsätzliche Fragen auf. So merkt Zuck57 in seiner Entscheidungsbesprechung kritisch an, jeder Medienvertreter habe nur die Chance auf einen allgemeinen Zugang zur Information. Warum zur Wahrung der Pressefreiheit ausländischen Medienvertretern besondere Zugangsrechte eingeräumt werden müsse, erschließe sich aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht ohne Weiteres. Das Sachkriterium »Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten« bleibe äußerst allgemein und könne auf besondere Gruppen inländischer Medienvertreter gleichermaßen übertragen werden. Deshalb bestehe hier weiterer Erklärungsbedarf. Außerdem werde nicht geklärt, in welchem Verhältnis die Medienöffentlichkeit zur allgemeinen Öffentlichkeit stehe und weshalb ein Vorranginteresse der Medien gegeben sein solle, obwohl es sich bei der Medienöffentlichkeit um eine mediatisierte Öffentlichkeit handele und ihre Bevorzugung nicht zur zeitgenössischen Tendenz passe, unmittelbare Demokratie zu stärken.

3.2.2 Ausschluss der Öffentlichkeit Für eine Reihe von Verfahrensarten schreiben die Verfahrensordnungen generell die »Entscheidung in nichtöffentlicher Sitzung« vor, so in Familiensachen (§ 170 GVG); in Unterbringungssachen kann die Öffentlichkeit für die Hauptverhandlung oder für einen Teil derselben ausgeschlossen werden (§ 171a GVG). Über den Ausschluss der Öffentlichkeit durch das Gericht zum Schutze höherwertiger Interessen enthalten die §§ 171b ff. GVG nähere Vorgaben. Schließlich ist die Hauptverhandlung vor den Jugendgerichten grundsätzlich nicht öffentlich 57 Zuck NJW 2013, 1295 f.

238

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(§ 48 Abs. 1 JGG). Hierin spiegelt sich wider, dass der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung keine zentrale Rolle im Rechtsstaat beigemessen wird. Außerdem können einzelne Personen, deren Erscheinung oder Betragen unangemessen ist, ausgeschlossen werden. Schließlich kann der Angeklagte nach § 171b GVG den Ausschluss der Allgemeinheit von der Gerichtsöffentlichkeit zum Schutz des persönlichen Lebensbereichs beantragen.

3.2.3 Verbot von Rundfunk- und Filmaufnahmen im Gerichtssaal (§ 169 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz) Ton- und Fernseh- sowie Rundfunkaufnahmen oder Ton- und Filmaufnahmen während einer Gerichtsverhandlung zum Zweck der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts sind nach § 169 Satz 2 GVG verboten. Dieses Verbot, das sich auf die gesamte Verhandlung einschließlich von Ortsterminen und der Verkündung der Entscheidung erstreckt,58 nicht jedoch vor und nach der Verhandlung und nicht in den Verhandlungspausen gilt,59 steht im Einklang mit der Verfassung.60 Berichte über den Inhalt einer Hauptverhandlung in Rundfunk, Fernsehen und Presse unterliegen nicht dem Verbot des § 169 Satz 2 GVG.

3.3

Zulässige Berichterstattung im Sinne einer mittelbaren Gerichtsöffentlichkeit

Aus dem Grundsatz der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen folgt nicht das Recht der Presse, über sämtliche in öffentlicher Verhandlung erörterten Inhalte berichten zu dürfen. Die in § 169 Satz 1 GVG geregelte Gerichtsöffentlichkeit ist nur als sog. »Saalöffentlichkeit«, als Öffentlichkeit im Raum der Gerichtsverhandlung, vorgesehen. Diese Vorschrift beantwortet nicht die Frage, inwieweit die Medien über die Inhalte der Verhandlung berichten dürfen. Vielmehr ist, so das Bundesverfassungsgericht,61 »Medienöffentlichkeit ein Aliud gegenüber Saalöffentlichkeit«. Von der Gerichtsöffentlichkeit als Saalöffentlichkeit begünstigt sind zwar auch Vertreter der Medien, die zusehen und zuhören dürfen und die berechtigt 58 BGHSt 22, 83. 59 BGHSt 23, 123, 125. 60 BVerfG StV 2001, 661; abweichende Meinung der Richter Kühling, Hohmann-Dennhardt und Hoffmann-Riem WRP 2001, 243, 252 ff.; zur Diskussion Sorth, Rundfunkberichterstattung aus Gerichtsverfahren, 1999. 61 BVerfG NJW 2001,1633, 1636– Gerichtsfernsehen, n-tv.

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239

sind, aufgenommene Informationen mit Hilfe der Presse zu verbreiten. Ein Berichterstattungsrecht über sämtliche Inhalte einer öffentlichen Gerichtsverhandlung ist jedoch nicht erlaubt. Vielmehr gebietet die bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung geltende Unschuldsvermutung eine zurückhaltende, zumindest aber eine ausgewogene Berichterstattung durch die Medien; außerdem ist eine mögliche Prangerwirkung durch eine identifizierende Medienberichterstattung zu vermeiden.62 Das Bundesverfassungsgericht hat diesbezüglich in seiner Entscheidung vom 10. 6. 2009 als in die Gesamtabwägung einzubeziehende Aspekte genannt:63 »So müssen wahre Tatsachenbehauptungen in der Regel hingenommen werden, unwahre dagegen nicht. Jedoch können auch wahre Berichte das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen dann verletzen, wenn die Darstellung einen Persönlichkeitsschaden anzurichten droht, der außer Verhältnis zu dem Interesse an der Verbreitung der Wahrheit steht. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Aussagen, obschon sie wahr sind, geeignet sind, eine erhebliche Breitenwirkung zu entfalten und eine besondere Stigmatisierung des Betroffenen nach sich zu ziehen, so dass sie zum Anknüpfungspunkt für eine soziale Ausgrenzung und Isolierung zu werden drohen. Auf der anderen Seite sprechen erhebliche Erwägungen für eine auch die Person des Täters einbeziehende vollständige Information der Öffentlichkeit über vorgefallene Straftaten und die zu ihrer Entstehung führenden Vorgänge. Straftaten gehören zum Zeitgeschehen, dessen Vermittlung Aufgabe der Presse ist. Die Verletzung der Rechtsordnung und die Beeinträchtigung individueller Rechtsgüter, die Sympathie mit den Opfern, die Furcht vor Wiederholungen solcher Straftaten und das Bestreben, dem vorzubeugen, begründen ein anzuerkennendes Interesse an näherer Information über Tat und Täter. Dieses wird umso stärker sein, je mehr sich die Tat in Begehungsweise und Schwere von der gewöhnlichen Kriminalität abhebt. Bei schweren Gewaltverbrechen ist daher ein über bloße Neugier und Sensationslust hinausgehendes Informationsinteresse an näherer Information über die Tat und ihren Hergang, über die Person des Täters und seine Motive sowie über die Strafverfolgung anzuerkennen.«

Wenn es sich um eine Person handelt, die bereits vor der Verhaftung prominent war, muss sich diese Person eine entsprechende Berichterstattung gefallen lassen, so das OLG Köln zur Online-Berichterstattung über Strafverfahren gegen J. Kachelmann als allgemein bekannte Person.64 Gleichwohl genieße auch eine solche Person Schutz in ihrer Privatsphäre, insbesondere im Kernbereich ihrer Intim- bzw. Sexualsphäre. Ein schützenswertes, über die Befriedigung einer

62 BVerfG NJW 2009, 350 ff. – Berichterstattung über einen Strafprozess – »Holzklotz-Fall«. 63 BVerfG NJW 2009, 3357, 3358 zur Berichterstattung über die Vergewaltigung durch einen ehemaligen Bundesliga-Fußballspieler. Dazu Jahn, NJW 2009, 3344 ff.; siehe auch Lenski, NVwZ 2005, 50 ff.; Heldrich, NJW 2004, 2634 ff.; allgemein zu den Persönlichkeitsrechten in der Presse Söder, ZUM 2008, 89 ff. und Seelmann-Eggebert, NJW 2008, 2551 ff. 64 OLG Köln MMR 2012, 770, 771.

240

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allgemeinen Neugier oder Sensationslust hinausgehendes Interesse an der Aufdeckung dieses absolut geschützten Bereichs wurde zu Recht verneint.

4.

Öffentlichkeit der Verwaltung als Paradigmenwechsel

Akten und sonstige Dokumente der Verwaltung waren nach dem überkommenen Verwaltungsrecht und der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte nicht allgemein zugänglich.65 Sie unterlagen dem Amtsgeheimnis, das nur punktuell durch Auskunfts- und Akteneinsichtsansprüche eingeschränkt wurde. Gewisse Modifikationen finden sich im Planungsrecht in Form der Verfahrensöffentlichkeit. Erst unter dem Einfluss der Europäischen Union, die die Richtlinie über den freien Zugang zu Umweltinformationen66 und mit der Gewährleistung des freien Zugangs zu den Dokumenten des Parlaments, des Rates und der Kommission67 entstanden in Deutschland Informationsfreiheitsgesetze, im Bund seit dem 1. 1. 2006 durch das Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (IFG).68 In diesen Gesetzen wird das Prinzip der Geheimhaltung oder des Amtsgeheimnisses durch das Prinzip der Öffentlichkeit der Verwaltung ersetzt. Jede Person hat das Recht, amtliche Dokumente einzusehen, der Auskünfte darüber zu erhalten, auch wenn sie nicht in eigenen Rechten verletzt ist und kein 65 Näher zum traditionellen Geheimhaltungsprinzip Wegener, Der geheime Staat, 2006, S. 3 ff.; Kugelmann, Die informatorische Rechtsstellung des Bürgers, 2001, S. 243 ff.; zur Akteneinsicht im Verwaltungsverfahren Trantas, Akteneinsicht und Geheimhaltung im Verwaltungsrecht, 1998, S. 440 ff. 66 RL 90/313/EWG des Rates vom 7. 6. 1990 über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt, ABlEG Nr. L 158/56; vgl. jetzt auch die jüngere Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. 1. 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates, ABlEG Nr. L 41/26. Zur Umsetzung der Richtlinie in Deutschland s. EuGH, Urt. v. 17. 6. 1998 – C-321/96, Slg. 1998, I-3809; EuGH, Urt. v. 9. 9. 1999 – C-217/97, Slg. 1999, I-5087; siehe auch Strohmeyer, Das europäische Umweltinformationszugangsrecht als Vorbild eines nationalen Rechts der Aktenöffentlichkeit, 2003. 67 Art. 255 EG, konkretisiert durch die Verordnung 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. 5. 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, ABlEG Nr. L 145/43 (Transparenzverordnung), sowie durch die Geschäftsordnungen der jeweiligen Organe; näher dazu Heitsch, Die Verordnung über den Zugang zu Dokumenten der Gemeinschaftsorgane im Lichte des Transparenzprinzips, 2003. 68 Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz – IFG), v. 5. 9. 2005, BGBl. I 2005, S. 2722; dazu Kugelmann, NJW 2005, 3609 ff.; Kloepfer/von Lewinski, DVBl 2005, 1277 ff.; Schoch, DÖV 2006, 1 (7 ff.); Schmitz/Jastrow, NVwZ 2005, 984 ff.; Mensching, VR 2006, 1 ff.; Bräutigam, DVBl. 2006, 950 ff.; zum Gesetz zur Verbesserung der gesundheitsbezogenen Verbraucherinformation (VIG) Albers/Ortler, GewArch 2009, 225 ff.

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berechtigtes Interesse nachweisen kann. Die Verweigerung des Zugangs zu den Dokumenten muss die Behörde rechtfertigen.

4.1

Verfassungsrechtliche Grundlagen der Öffentlichkeit der Verwaltung

Verfassungsrechtliche Grundlagen der Öffentlichkeit der Verwaltung und der individuellen Zugangsansprüche sind die Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG sowie das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 3 GG).

4.1.1 Demokratieprinzip Nach der klassischen Interpretation des Demokratieprinzips – »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus« (Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG) – müssen staatliche Entscheidungen auf das Volk zurückführbar sein.69 Für die Verwaltung wurde dies aus der deren Bindung an das parlamentarische Gesetz, die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament, dem Grundsatz der Hierarchie mit Weisungsabhängigkeit und besonderen Regelungen für die Rekrutierung und Tätigkeit des Personals hergeleitet. Hierbei kam der Öffentlichkeit lediglich eine punktuelle und begrenzte Rolle zu.70 Nach modernem Verständnis des Demokratieprinzips werden die Formen der Rückkoppelung an das Volk breiter und vielfältiger angelegt. Heute wird die Beobachtbarkeit und Kontrollierbarkeit der Verwaltung durch die Öffentlichkeit als notwendiger Baustein angesehen, um die vom Demokratieprinzip geforderte Rückkoppelung an das Volk zu leisten.71 Zugleich wird hervorgehoben, dass demokratische Legitimation keine nur »formale« Anforderung ist, sondern auf die Gewährleistung des Gemeinwohlbezugs staatlichen Handelns zielt.72 Hinzu kommt der Gedanke, dass das Volk als Kollektiv erst durch Öffentlichkeit entsteht und deshalb nicht nur Wahlen, sondern auch Gewährleistungen, Instrumente und Verfahren öffentlicher Kommunikation Bestandteile der Demokratie sind.73 Transparenz wird so zur Bedingung der demokratischen Legitimation der modernen Verwaltung. 69 Vgl. BVerfGE 83, 60 (71 f.); Böckenförde, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 11, 14 ff.; Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 329, 337 ff. 70 Zu den traditionellen Perspektiven Jestaedt, AöR 126 (2001), 204, 216 ff. 71 Scherzberg, Die Öffentlichkeit der Verwaltung, 2000, S. 291 ff.; Wegener, Der geheime Staat, 2006, S. 391 ff. 72 Scherzberg in Fluck/Theuer (Hrsg.), Informationsfreiheitsrecht, Kommentar, 2009, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Informationszugangs, Rn. 10. 73 Scherzberg, Die Öffentlichkeit der Verwaltung, 2000, S. 294.

242

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4.1.2 Rechtsstaatlichkeit der Verwaltung Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden. Nach klassischer Interpretation sichern die Gesetzesbindung und die parlamentarischen und gerichtlichen Kontrollen das rechtsstaatliche Handeln der Verwaltung. Da sich die Verwaltung und ihre gesellschaftliche Umwelt verändert haben, wird teilweise unter Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip gefordert, dass die abnehmende Bindungskraft der Gesetze und die geringere Effektivität der Kontrollmechanismen verstärkte reflexive Selbstkontrollen der Verwaltung und diese Selbstkontrollen fördernde sowie ergänzende Kontrollen durch die Öffentlichkeit erfordern.74

4.2

Informationsfreiheitsgesetze des Bundes

Der Gesetzgeber hat – in vielen Teilen angestoßen durch die europäische Entwicklung – die Initiative zur Konkretisierung und Erweiterung der Informationsfreiheit übernommen und entsprechende Gesetze erlassen, insbesondere das Umweltinformationsgesetz,75 das den Zugang zu umweltrelevanten Daten öffnet, damit der Bürger seine natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und zu verteidigen in die Lage versetzt wird,76 das Informationsfreiheitsgesetz,77 das dem Ziel der Transparenz der Verwaltung dient, und das Verbraucherinformationsgesetz,78 das der Verbraucherinformation in gesundheitsrelevanten Bereichen wie dem Lebensmittel- und Gebrauchsgüterrecht dient. Allerdings können unbegrenzte Informationen die Persönlichkeit und Selbstbestimmung auf das Schwerste gefährden. Informationsfreiheit und Privatheit stehen daher in einer offenen Gesellschaft in einem Ergänzungsverhältnis. Im Verbraucherinformationsrecht ist der Konflikt zwischen Datenschutz und Informationsfreiheit geradezu angelegt, soweit es um Informationen zur Herkunft, Zusammensetzung, Verarbeitung etc. von Lebensmitteln geht und Hersteller oder Inverkehrbringer betroffen sind. Das gilt nicht nur im Zusammenhang mit der Aufdeckung von Lebensmittelskandalen, sondern auch bei der Information über amtliche Untersuchungsergebnisse der Lebensmittelüberwa74 Scherzberg, ThürVBl 2003, 195, 198. 75 Umweltinformationsgesetz vom 22. 12. 2004, BGBl. I, S. 3704. 76 Zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen im Umweltinformationsrecht Schoch, in: Aktuelle Rechtsfragen und Probleme des freien Informationszugangs, insbesondere im Umweltschutzrecht, Umwelt und Technikrecht (UTR), Bd. 108 (2011), 81, 102 ff. 77 Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz) vom 5.9. 2005, BGBl. I, S. 2722. 78 Gesetz zur Verbesserung der gesundheitsbezogenen Verbraucherinformation (Verbraucherinformationsgesetz) vom 5. 11. 2007, BGBl. I, S. 2558.

Die Öffentlichkeit von Gesetzen

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chung. Besonders problematisch ist das sogenannte Smiley-System des Berliner Bezirks Pankow, wonach ohne gesetzliche Ermächtigungsgrundlage Ergebnisse der Lebensmittelkontrollen veröffentlicht werden, damit sich der Verbraucher hierüber informieren und gegebenenfalls das Restaurant meiden kann.79 Auch das vom Bund finanziell unterstützte Internetportal »lebensmittelklarheit.de« ist in die öffentliche Kritik geraten und wird für nicht mit der Grundrechtecharta der EU vereinbar erklärt.80 Besonders problematisch ist die staatliche Informationstätigkeit im Bereich des Lebensmittelrechts, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Öffentlichkeit bei der Durchsetzung von Gesetz und Recht eingesetzt wird, um aufgrund behördlicher Informationen Verbraucherreaktionen auszulösen, die zu wirtschaftlichen Einbußen und Imageschäden für den »an den Pranger Gestellten« nach sich ziehen.81 Der Gesetzgeber hat als Reaktion auf den Dioxinskandal im Jahr 2011 zum 1. 9. 2012 mit § 40 Abs. 1a Nr. 2 LFGB eine Vorschrift eingeführt, die die Lebensmittelbehörden zur Information der Öffentlichkeit verpflichtet, wenn der durch Tatsachen hinreichend begründete Verdacht besteht, dass Grenzwerte, Höchstgehalte oder Höchstmengen überschritten werden. In diesen Fällen dient die Öffentlichkeit nicht der Verfahrenskontrolle und Vertrauensbildung, sondern präventiven Transparenzzwecken, die zu den historischen Zwecken des Individualschutzes und der Vertrauensbildung hinzukommen. Hier besteht die Vermutung, dass der Gesetzgeber eine Verdachtssanktion unter dem Deckmantel wertneutraler Markttransparenz beabsichtigt hat, die den Verbraucher durch sofortige staatliche Information zu dem »kurzen Prozess« – ohne jegliche rechtsstaatliche Garantien – veranlasst. Da diese repressiven Zwecke in der gesetzlichen Regelung aber keinen hinreichenden Niederschlag gefunden haben, muss auf der Grundlage der Gesetzesbegründung davon ausgegangen werden, dass die Information der Öffentlichkeit ausschließlich Transparenz- und keine Sanktionszwecke verfolgt. Dann darf aber die Information der Öffentlichkeit auch nicht mit sanktionsrechtlichen Denkmustern legitimiert werden. § 40 Abs. 1a Nr. 2 LFGB wäre nur dann eine verhältnismäßige Maßnahme, wenn schon das schlichte öffentliche Informationsinteresse sofortige, verdachtsbasierte Information erforderlich machte, und dies ist zu verneinen, weil keine Notwendigkeit besteht, bereits den bloßen Verdacht eines Rechtsverstoßes zu veröffentlichen. Die verfassungsrechtlichen Einwände ge79 Dazu Tsambikakis/Wallau, StraFo 2010, 177 ff.; Wallau, ZLR 2010, 382 ff.; Holzner, NVwZ 2010, 489 ff.; Schink, DVBl 2011, 253 ff.; Holzner, DVBl 2012, 17 ff.; ferner Becker/Blackstein, NJW 2011, 490 ff.; Ossenbühl, NVwZ 2011, 1357 ff.; Böhm, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Die Vermessung des virtuellen Raums, 2012, S. 119 ff. 80 Dazu Proelß, in: Festschrift für Schmidt-Jortzig, 2011, S. 693 ff. 81 So etwa Hassemer, in: Festschrift für Achenbach, 2011, S. 107 ff.; Kinzig/Baur/Burkhardt, JZ 2011, 131 ff.; F. Reimer, JöR 58 (2010), 275 ff.

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Gerhard Dannecker

genüber § 40 Abs. 1a LFGB richten sich auch nicht gegen die Öffentlichkeitsinformation über lebensmittelrechtliche Verstöße als solche, sondern vornehmlich gegen »den kurzen Prozess«, der den behördlichen Verdacht einer Ordnungswidrigkeit ohne Ermessensausübung genügen lässt, um ein Unternehmen »an den Pranger« zu stellen. Deshalb wird sich – so C. Dannecker82 – »die erstaunliche Renaissance, die der Pranger im Verwaltungsrecht erlebt hat, wohl fortsetzen. Zu verabschieden ist aber der Pranger auf Verdacht, der als poena extraordinaria der Vergangenheit angehören sollte«.

5.

Fazit

Die öffentliche Kontrolle sowohl der Legislative als auch der Judikative war und ist ein wichtiges Instrument zur Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens und wird es auch in der Zukunft bleiben.83 Zu Recht wird der Grundsatz der Öffentlichkeit über die Gesetzgebung und Rechtsprechung hinaus heute auch auf die Verwaltung erstreckt, um den neueren Entwicklungen der Gesellschaft, dem Wandel der Staatsaufgaben, den gelockerten Rechtsmaßstäben bei Verwaltungsentscheidungen und den veränderten Bedingungen der Umsetzung von Verwaltungsentscheidungen Rechnung zu tragen. Hiermit gehen aber auch neue Gefahren einher, die eine Begrenzung der Öffentlichkeit im Interesse des Grundrechtsschutzes des Bürgers erfordern. Insbesondere darf das Verhalten der Allgemeinheit vom Gesetzgeber nicht eingesetzt werden, um dem Bürger Sanktionen »in einem kurzen Prozess«, ohne rechtsstaatliche Garantien, aufzuerlegen. Verfassungsrechtliche Grundlagen auch der Öffentlichkeit der Verwaltung und der individuellen Zugangsansprüche sind und bleiben die Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG sowie das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip. Insbesondere das Demokratieprinzip erfordert angesichts der geänderten Bedingungen in der Informationsgesellschaft eine Rückkoppelung an das Volk in breiterer und vielfältigerer Weise, als dies traditionell erforderlich war. Die Entwicklung ist auf diesem Gebiet keineswegs am Ende angekommen. Denn die neuen Kommunikationswege, die das Internet bereit hält, und die veränderten Kommunikationsgewohnheiten84 sowie die Möglichkeiten, sich über die »many-to-many«-Kommunikation verstärkt in den politischen Diskurs aktiv einzubringen,85 gemeinsame politische Aktivitäten zu or82 C. Dannecker, JZ 2013, 924, 933. 83 V. Coelln, Zur Medienöffentlichkeit der Dritten Gewalt, 2005, S. 196 f.; Zimmermann, in: Münchener Kommentar, ZPO, 3. Aufl. 2008, § 169 GVG Rn. 1.1; vgl. auch Schilken Gerichtsverfassungsrecht, 4. Aufl. 2007, § 12 Rn. 155. 84 Hoffmann-Riem, AöR 137 (2012), 510; ferner Cancik, WDStRL 72 (2013), 268, 319 ff. 85 Oberreuter, Übermacht der Medien, 1982, S. 101.

Die Öffentlichkeit von Gesetzen

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ganisieren und Meinungsmacht zu schaffen, lässt die Repräsentativität der Partizipation des Volkes in einem neuen, teilweise auch fragwürdigen Licht erscheinen.86 Solche neuen Elemente direkter Demokratie eröffnen neben Perspektiven auch Gefahren,87 die den öffentlichen Diskurs über das Öffentlichkeitsprinzip unverzichtbar machen.

86 Kleinert, APuZ 62 (2012), Nr. 38 – 39, 18, 21. 87 Dazu Möstl, WDStRL 72 (2013), 355, 381 f.

Urs Espeel

Das prophetische Moment des Urteilens »Alle Geistigkeit des Menschen – wäre prophetisch.« »Die Prophetie ist (…) nicht der Notbehelf für eine verunglückte Offenbarung. Sie gehört zur Herrlichkeit des Unendlichen.« (Emmanuel Levinas)*

I Urteilen ist eine besondere geistige Tätigkeit. Nach Hannah Arendt ist sie die einzige, die sich öffentlich vollzieht, also in der Gemeinschaft ausgeübt wird. Während das Denken sich aus der Öffentlichkeit zurückzieht und das Wollen zu ihr hindrängt, verweilt das Urteilen in ihr.1 Damit erweist sich das Urteilen als Synthese im Sinne Georg W.F. Hegels, das heißt: Es ist nicht irgendeine Mitte zwischen Denken und Wollen, eine Mischung aus beiden, sondern übersteigt sowohl das Denken als auch das Wollen in dem Merkmal, das beiden fehlt.2 Dabei verwendet Hegel den Begriff der Synthese selbst nicht. Denn das Andere * Levinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, aus dem Französischen von: Wiemer, Thomas, Freiburg/München, 2. Aufflage 1998, S. 326 und 333. (erstes Zitat: eigene Übersetzung) 1 Im abschließenden Abschnitt zum zweiten Teil »Das Wollen« ihres Buches »Vom Leben des Geistes«, hält Arendt im Hinblick auf die Denker und die Wollenden von Gewerbe provokativ fest, dass diese einfach nicht schafften in der Welt mit anderen zu verweilen: »Überlassen wir sie also sich selbst und halten wir uns an die Menschen der Praxis, die aus der Art ihrer Betätigung heraus an der Freiheit festhalten mussten, da sie ja die ›Welt verändern‹ und nicht interpretieren oder erkennen.« (Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes; hg. von Mary McCarthy, aus dem Amerikanischen von Herrmann Vetter, 4. Auflage München/Zürich 2008, 425.) Nach dieser programmatischen Schlussfolgerung hätte nun der dritte Teil des Buches ausgeführt werden können, der leider nicht vollendet werden konnte. 2 Slavoj Zˇizˇek macht dies deutlich, indem er die Dialektik Hegels nicht als einen evolutionären Fortschritt deutet und damit die Beschreibungen Hegels nicht mit dem, was sich in ihnen zeigt verwechselt. »What holds together the two extremes is therefore not the mutual filling out of their respective lacks but the very lack they have in common: the opposites of a signifying dyad ›are one‹ against the background of some common lack that they return to each other.« (Zˇizˇek, Slavoj: Tarrying with the Negative; Durham 1993, 123.) Und so kann er in messianischer Sprache die Versöhnung im Urteil der »Synthese« auch wie folgt beschreiben: »The impasse of this ‹immediate exchange‹ between thesis and antithesis is resolved by the advent of synthesis.« (ebd.)

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Urs Espeel

von These und Antithese ist selbst nicht wieder eine These, sondern ein Urteil; eine Aussage in der Welt und nicht über die Welt. Daraus folgt: Über den Begriff des Urteilens, verhalten sich Denken und Wollen wie These (= Die geistige Tätigkeit des Denkens mache den Menschen aus.) und Antithese (= Die geistige Tätigkeit des Wollens mache den Menschen aus.), denen beiden die Öffentlichkeit fehlt. Darin haben sie eine gemeinsame Basis, die sie aneinanderbindet. Schematisch kann dies wie folgt dargestellt werden: Urteilen

Denken

Wollen

Urteilen ist also weder auf Denken noch auf Wollen zurückführbar. Das heißt nicht: Urteilen schließt Denken und Wollen aus. Es kann nur nicht aus diesen beiden geistigen Tätigkeiten abgeleitet werden. Es heißt: Wenn von Urteilen die Rede ist, dann kann davon ausgegangen werden, das gedacht und gewollt wird. Das Urteilen hebt also das Denken und Wollen im Sinne Hegels auf, negiert, um zu bestimmen und nicht um zu vernichten.3 Ganz dieser Logik folgend bildet es damit nicht eine Alternative zu Denken und Wollen, die auf gleicher Ebene zu den beiden anderen geistigen Tätigkeiten zu liegen käme, sondern: Urteilen ist etwas anderes als Denken und Wollen. Auf ihre Weise erzählt Arendt damit in ihrem Buch »Das Leben des Geistes« eine Genealogie des Geistes, eine Entwicklung über die Begründung oder Beschreibung geistiger Tätigkeiten vom Denken über das Wollen hin zum Urteilen. Geistige Tätigkeiten sind dabei immer freie Tätigkeiten. Das heißt: Sie sind weder einem äußeren Zwang oder inneren Drang unterworfen. Wie Immanuel Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« dies für das Denken herausarbeitet, so formuliert Friedrich Nietzsche dies für das Wollen im Kontext der Überwindung des Nihilismus’.4 Daraus folgt: Urteile sind weder zwingend noch dringlich, 3 Giorgio Agamben leitet den Gedanken der Aufhebung bei Hegel aus den messianischen Texten Paulus’, und hier aus dem griechischen Verb katargein, her. Er geht dabei davon aus, dass die Aufhebung damit Uniwirksammachen bedeutet, ohne die Tatsache einer Wirksamkeit, die es gegeben haben mag, zu negieren. Im Kontext Hegels ist dann ein Urteil auf ein Dies und Jetzt bezogen. (Vgl. dazu: Agamben, Giorgio: Die Zeit, die bleibt; Frankfurt am Main 2006, S. 109 – 114.) Genauer wird aber die Logik des Weder-Noch von ihm selbst einige Seiten zuvor über den Schnitt des Appelles beschrieben. Nach diesem reichen herkömmliche Unterscheidungen für die freie Geistigkeit nicht zu, so dass sie selbst geteilt werden. Was über diese doppelte Negation sichtbar wird, ist dann ein Drittes: »nicht Nicht-A« (ebd., S. 63.) 4 Die Überwindung des Nihilismus veranschaulicht Nietzsche dabei über das Gedankenexperiment der ewigen Wiederkehr. Über das Gedankenexperiment, sich die Frage zu stellen, ob man alles wieder so machen würde bis zu diesem Zeitpunkt bis in alle Ewigkeit wiederholt, wird das Subjekt zur Anerkennung dessen gezwungen und überwindet sich darin, indem gerade nicht nach Zustimmung und Ablehnung gefragt wird. In diesem von außen betrach-

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Das prophetische Moment des Urteilens

sondern notwendig. Notwendigkeit verhält sich dabei negativ zu äußerem Zwang und innerem Drang in gleicher Weise wie das Urteilen zu Denken zu Wollen. Das heißt: Im Begriff des Notwendigen wird etwas formuliert, das dem Zwang und dem Drang fehlt, ohne dass daraus gefolgert werden müsste, dass sie fehlen müssten.5 Notwendigkeit ist eben nur kein Mischungsverhältnis aus Zwang und Drang. Konsequenter Weise kann auch dies schematisch dargestellt werden: Notwendigkeit

Zwang

Drang

Das Moment, das beiden, sowohl dem Zwang als auch dem Drang, im Hinblick auf die Notwendigkeit fehlt und dadurch beide aneinanderbindet, ist die Freiheit, unterschieden von Willkür oder Beliebigkeit. Von Freiheit ist nur dann qualifiziert, und nicht irgendwie, die Rede, wenn mit ihr ebenso qualifiziert von Notwendigkeit die Rede ist. Diese zeichnet sich dadurch aus, eben nicht ableitbar oder konzeptionalisierbar zu sein. Sie ruht weder auf der Sicherheit und den Konsequenzen von Beschreibungen als Deutungen (= securitas) noch auf puren Setzungen als Behauptungen (= positio/assertio?). Das heißt: Es geht nicht um Überzeugungen, weder um Zustimmung noch um Ablehnung, sondern um Anerkennung dessen, was Sache (= res) ist, worin Menschen in Gewissheit (= certitudo) versammelt sind.6 Urteile treffen die Sache oder es sind keine Urteile. Sie sind notwendig öffentlich und beziehen sich auf den zwischenmenschlichen teten Zwang liegt die Notwendigkeit der Anerkennung. (Vgl. dazu: Löwith, Karl: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen; 4. Auflage Hamburg1986, S. 60 ff.) 5 Die gemeinsam geteilte Wirklichkeit ist damit durchaus dem Begriff des Mythos der Poetik von Aristoteles vergleichbar. So müssen die Handlungen, die sich aus diesem ergeben, nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit verstehbar sein. (Aristoteles, Poetik, 1454a) Insofern der Zuschauer durch die Handlung zum Urteilen aufgefordert wird, werden diese beiden Momente im Zuschauer verbunden. Über das Drama wird er auf das Notwendige in der dargestellten Situation hingewiesen, die er mit dem Publikum teilt. Es handelt sich dann nicht um die Notwendigkeit einer Kontingenz, sondern um eine Kontingenz der Notwendigkeit der jeweiligen Situation. (Siehe zu dieser Unterscheidung: Gabriel, Markus/Zˇizˇek, Slavoj: Mythology, Madness and Laughter ; New York 2009.) 6 Ludwig Wittgensteins Untersuchungen zum guten Leben aus sprachphilosophischer Sicht tragen aus diesem Grund die Überschrift »Über Gewissheit«. (Wittgenstein, Ludwig: Über Gewissheit; Werksausgabe Bd. 8, Frankfurt am Main 1984.) Der gesamten Sprachphilosophie liegt schon allein aus diesem Grund letztlich eine Urteilstheorie zu Grunde, die schon in ihrer Durchführung an Sprache zeigt, worin Urteile sich entfalten. Wie es bei Wittgenstein nicht um Sicherheit oder Absicherungslogiken, sondern um die konkrete Grammatik des guten Lebens in der Sprache geht, findet sich ein ganz ähnlicher Unterschied auch bei Nietzsche: Der Wille zur Macht ist nicht gleichzusetzen mit einem Willen zur Herrschaft; potentia ist zu unterscheiden von potestas.

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Urs Espeel

Bereich, der über die einfache Gegenüberstellung von Objektivität und Subjektivität nicht beschrieben werden kann, so dass man folgendes Bild erhält: Sachlichkeit

Objektivität

Subjektivität

Diese Konzeptionalisierung ist dabei alles andere als abstrakt. Über die Negation, die inhaltliche Beschreibungen als hinreichende Deutungen für Welt negiert, wird lediglich deutlich, dass das Konkrete in seiner Notwendigkeit und der darin begründeten Sachlichkeit des Urteilens bedarf und gerade nicht durch Interpretationen und ihre Verhandlung oder Aushandlung in irgendeiner Mitte besteht.7 Reine Diskursivität ist noch nicht Urteilen. Denn solange es noch um den Kampf der Interpretationen geht, steht das Urteil noch aus. Wer behauptet, dass es im Öffentlichen nur um diesen geht, der sagt gleichzeitig auch, dass er nicht urteilen, sondern sich durchsetzen will. Im Kampf um die Welt ist selbst keine Welt, wie real die Wunden auch sind. Er ist die reine Lüge, wie Krieg im Niederländischen dann auch konsequenter Weise »Oorlog« (= mittelhochdeutsch »Urliuge« für : »Urlüge«) heißt. Wird dem bis hierher Gesagten gefolgt, dann fällt auf, dass die Begriffe des Urteilens, der Notwendigkeit und der Sachlichkeit vor allem über die Negation gewonnen wurden, deren gemeinsames Moment sich in dem versammelt, was Öffentlichkeit und Gemeinschaft und darin Welt genannt werden kann. Urteilen ist damit die geistige Tätigkeit, die ihr notwendiges Merkmal in diesen hat und das heißt, die in ihrem Vollzug Welt erfahrbar werden lässt. Nur im Urteilen gibt es eine gemeinsam geteilte Welt.8 Fehlt es, gibt es auch keine Welt, in der Menschen zusammen Welt gestalten können. Dann gibt es auch keine Notwendigkeit und darin Freiheit mehr, sondern nur noch Zwänge und Dränge. An Stelle des 7 Der Begriff Hegels ist damit darin ein Urteil, wie er seinen Ort im Ich hat und nicht in einer Struktur, der das Ich ganz zu folgen hat. Der absolute Begriff, wie er sich in einer langen Beschreibung über die Erfassung eines Narrativs bis hin zum Ich ankündigt, ist im Moment seiner Realisierung selbst keine Aussage über die Welt, sondern pure Geltung. »Die schon namhaft gemachte Reflexion ist dies, über das konkrete Unmittelbare hinauszugehen und dasselbe zu bestimmen und zu trennen. Aber sie muss ebensosehr über diese ihre trennenden Bestimmungen hinausgehen und sie zunächst beziehen. Dieses Beziehen der Reflexion gehört an sich der Vernunft an; die Erhebung über jene Bestimmungen, die zur Einsicht der Widerstreits derselben gelangt, ist der große negative Schritt zum wahrhaften Begriffe der Vernunft.« (Hegel, Georg. W.F.: Wissenschaft der Logik I; Werke 5, 9. Auflage Frankfurt am Main 2012, S. 39.) 8 Die provokative Überschrift des Buches von Markus Gabriel »Warum es die Welt nicht gibt« bestätigt den Inhalt der dargelegten Kritik einer aus der Epistemologie abgeleiteten Welt. (Gabriel, Markus: Warum es die Welt nicht gibt; Berlin 2013.) Dass aus epistemologischer Sicht nur von Sinnwelten gesprochen werden kann, bestätigt gerade, dass es Welt ohne die geistige Tätigkeit des Urteilens nicht gibt.

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Das prophetische Moment des Urteilens

Urteilens treten dann Überzeugungen und Interpretationen, die als Behauptungen zwar eine bessere Welt versprechen, als solche aber, indem sie Weltbeschreibung und Welt nicht mehr unterscheiden, nicht sachlich, sondern lediglich begründet sind und damit das, was sie versprechen, gerade nicht halten können. Eine reine Rationalisierung mag funktionieren und effektiv sein, eine reine Setzung faszinieren, beide sind jedoch abstrakt und brutal.9 Intellektualität ist gefordert und damit Verstehen im Unterschied zu reiner Erklärung im Sinne von Nachvollziehbarkeit oder Unterwürfigkeit. Man erhält dann: Intellektualität

Rationalität

Irrationalität

Es ist dieses Moment der Intellektualität und damit der Urteilskraft, die sich in der biblischen Tradition paradigmatisch wiederfinden lässt und dies genau im Kontext eines Phänomens, das geradezu als Inbegriff des Unaufgeklärten gelten kann: die Prophetie. Fasziniert von der charismatischen Kraft der Propheten erfahren sie in der Exegese um die Wende des vorvergangenen Jahrhunderts in der christlichen Exegese Bewunderung wie Skepsis. Bewunderung, weil sie geltenden Konzepten ihrer Zeit widersprechen; Skepsis, weil mit der Prophetie auch der Gedanke verbunden ist, etwas auszusagen, das nicht der eigenen Erkenntnis entspringt, sondern im Namen Gottes gesprochen wird. Der Prophet erscheint so als leere Hülle, als reines Medium und damit als Gegenteil von Intellektualität und Urteilskraft. Das Problem der damaligen, christlichen Exegese liegt dabei darin, Prophetie und Urteilskraft nicht zusammenzudenken und damit den biblischen Texten eine Geistlichkeit zu unterstellen, der sie selbst im Namen einer Geistigkeit entgegentritt. Denn das entscheidende Merkmal dem Prophetie ist ganz ähnlich der Metapher : Sie wird spontan verstanden.10 Wenn 9 Besonders deutlich und eindringlich unterscheidet Mladen Dolar zwei Formen des stimmlosen Sprechens. Zum einen das hysterische Schreien und zum anderen das völlige Zurücktreten des Sprechenden hinter irgendeinen als objektiv wahrgenommen Text. Dieser Unterschied wird dann an den beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts veranschaulicht. Das hysterische Schreien ist das Kennzeichen des Faschismus und die zur Schau getragene Neutralität des Kommunismus’. (Siehe dazu: Dolar, Mladen, A Voice and nothing more; Massachusetts 2006, S. 114 – 118.) Pointiert in einem Satz: »If the main objective of the fascist ruler was to produce an Event here and now, if fascism put all its resources into the mechanism of fascination and spectacle, if the voice was the ideal medium of producing such Events in establishing a direct link between the ruler and the masses then the main concern of Stalinist Party congresses was that nothing would happen, that everything would run according to the preestablished scenario. … [T]he Stalinist ruler ist but an agent.« (ebd., 117 f.) 10 Sicherlich, die strukturelle Beschreibung einer Metapher ist höchst interessant. Doch ihr eigentliches Merkmal hat sie darin, dass sie nicht hergestellt werden kann. Metaphern werden auf Seiten des Dichters gefunden und, ebenso unvorhersehbar, auf Seiten des Zuhörers verstanden. (Siehe dazu: Aristoteles, Poetik, 1459a.) In gleicher Weise stellt sich auch

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Urs Espeel

sie nicht verstanden wird, dann handelt es sich nicht um Prophetie. Daraus folgt nicht, dass man ihr auch zustimmen möchte. Verstehen und Zustimmen sind zwei zu unterscheidende Tätigkeiten; jene ist geistig, diese geistlich. Priester im Sinne Nietzsches urteilen gerade nicht!

II Einer geistlichen Überhöhung der Prophetie widerspricht die jüdische Tradition seit dem Mittelalter mit Maimonides. Er verbindet in seiner Definition von Prophetie die Rede im Namen Gottes ausdrücklich mit der Intellektualität des Propheten.11 Die Größe eines Propheten besteht dabei darin, dass seine Aussagen verstanden werden können und darin, eine gemeinsame Welt der Menschen untereinander erfahrbar werden zu lassen. Die Konsequenz daraus ist, dass Mose als der größte Prophet überhaupt gilt, weil seine Prophetie aus reinen Urteilen besteht, die seiner Fähigkeit zu urteilen entspringen, eine Sache zu verstehen, und nicht in bildhafter Sprache Zuflucht nehmen muss.12 Hohe Prophetie zeichnet sich demnach dadurch aus, dass sie urteilt, bis in die Sprache hinein sachlich ist und nicht lediglich in wilden oder poetisch zu bewundernden Worten die Zukunft ausmalt. Prophetie trifft die Gegenwart und was in ihr Sache ist.13 Wenn gesagt werden müsste, dass eine Prophetie sich lediglich in der Zukunft abspielte ohne Bezug zur Gegenwart, dann ist es absurde Träumerei. die prophetische Rede ein. Leo Baeck beschreibt dies in seinen Worten wie folgt: »Bezeichnend ist für die Propheten Israels vor allem der intuitive, praktische Charakter ihrer Erkenntnisse. (…) Sie wollen nicht ergründen, welches die ersten Bedingungen allen Seins, die letzten Prinzipien alles Geschehens sind; jede Spekulation liegt ihnen unsagbar fern. Sie haben überhaupt keine vorgenommenen Aufgaben des Denkens, keine vorgesetzten Ziele des Nachdenkens, ein Gewissensdruck heißt sie sprechen; die unwiderstehliche Wahrheit überwindet sie.« (Baeck, Leo: Das Wesen des Judentums, 3. Auflage Wiesbaden 1985, 26.) Kurz: Sie urteilen. 11 »Prophecy is, in truth and reality, an emanation sent forth by the Divine Being through the medium of the Active (!) Intellect, in the first instance to man’s rational faculty, and then to his imaginative faculty ; it is the highest degree and greatest perfection man can attain; it consists in the most perfect developement of the imaginative faculty.« (Maimonides, Moses: The Guide for the Perplexed; New York 1956, 225.) 12 »We have mentioned it several times that Moses did not, like other prophets, speak in similes« (ebd., 227.) 13 Hier tut sich ein markanter Unterschied zwischen den beiden Denkern Franz Rosenzweig und Agamben auf. Während jener die Offenbarung ganz im Sinne einer Prophetie wie folgt beschreibt: »Die Offenbarung ist gegenwärtig, ja ist das Gegenwärtigsein selber.« (Rosenzweig, Franz: Der Stern der Erlösung; Der Mensch und sein Werk 2, 4. Auflage Den Haag 1976, 207.), reserviert Agamben den Bezug auf die Gegenwart interessanter Weise über seine messianische Deutung der Paulusbriefe nur für das Apostelamt. Der Unterscheid zum Propheten liegt für den Apostel darin, dass dieser »seinen Auftrag als Bevollmächtigter zu einem bestimmten Zweck mit Hellsicht ausführen und die Worte der Verkündigung alleine

Das prophetische Moment des Urteilens

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Auch die reine Negation dessen, was sich in der Gegenwart abspielt, ist noch nicht hohe Prophetie. Denn in ihr muss deutlich werden, worin Menschen gut miteinander leben. Eine reine Negation fordert vielmehr zum noch ausstehenden Urteilen in der Gemeinschaft auf.14 Die Folge davon ist, dass Prophetie nicht Gehorsam gegenüber Autoritäten in einem unmittelbaren Sinne anvisiert. So meint Prophetie in der Thora denn auch immer beides: Sie setzt die geistige Tätigkeit des Propheten genauso voraus, wie die geistige Tätigkeit der Zuhörer. In dieser Weise wird die so genannte Schriftprophetie im Tanach zu einem paradigmatischen Lehrbuch der Urteilskraft. Die Prophetie in dieser Weise von der Thora her zu verstehen und nicht als Gegenmodell zu ihr, wie dies leicht in christlicher Tradition geschehen kann, zeigt worin Urteilskraft besteht. Paulus kommt in diesem Kontext, also der Urteilskraft, ebenfalls auf das prophetische Reden zu sprechen. Auch bei ihm ist Prophetie eine intellektuelle Fähigkeit. Er arbeitet dabei ein Moment in seiner Auseinandersetzung heraus, das in der Thora zwar vorausgesetzt aber nicht in gleicher Weise thematisch wird: die Stimme.15 Im 1. Korintherbrief Kapitel 14 unterscheidet er zwischen finden« muss. »Immer wenn die Propheten die Ankunft des Messias verkündigen, betrifft die Verkündigung eine zukünftige, noch nicht gegenwärtige Zeit. Darin besteht der Unterschied zwischen einem Propheten und einem Apostel.« (Agamben, Giorgio: Die Zeit, die bleibt, 73 und 74 f.) 14 Arendt entfaltet diesen Gedanken im Anschluss an eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Platons Gorgias. Das moralische Subjekt in seiner Unersetzbarkeit nimmt dabei seinen Ausgangspunkt in der Tatsache, dass es sagt: »Ich kann das nicht tun!«, ohne sich zu rechtfertigen über eine religiöse Tradition oder strategische Überlegungen. »The disadvantage of this complete adequacy of the alleged self-evidence or moral truth is that it must remain entirely negative. It has nothing whatsoever to do with action, it says no more than ›I’d rather suffer than do‹. Politically speaking – that is, from the viewpoint of community or the world we live in – it is responsible; its standard is the self and not the world, neither its improvement nor change.« (Arendt, Hannah: Some Questions on Moral Philosophie, in: dies., Responsibility and Judgment, hg. von Jerome Kohn, New York 2003, 79.) Das heißt: In diesem Moment wird nicht geurteilt, sondern eine Bewegung schlicht aufgehalten, »Halt« gerufen. 15 Natürlich ist auch in der Thora von der Stimme die Rede. So auch im ausgelegten Abschnitt 5. Mose Kap 13, 5. Im rabbinischen Judentum kann in diesem Zusammenhang auf eine Veränderung hingewiesen werden. Während davon ausgegangen wird, dass die Prophetie mit der Zerstörung des Ersten Tempels aufgehört hat, tritt an seine Stille die reine Stimme (= »Tochter der Stimme«, @9K N5). Dass es sich dabei um eine Echo oder Rest der Prophetie handelt, kann mit Agamben durchaus angenommen werden. (Agamben, Giorgio: Die Zeit, die bleibt, 74). Dass es sich aber auch um die reine Stimme handeln kann, noch bevor damit irgendein Inhalt vermittelt wird, der sich die versammelte Gemeinschaft der Gelehrten durchaus nicht unterwerfen muss, gibt ohne Bezug auf die biblische Tradition z. B. Zˇizˇek im Kontext von »Passwörtern« zu bedenken: »In other words, it is precisely the password qua empty speech which reduces the subject to the punctuality of the »subject of the enunciation«: in it, he is present qua a pure symbolic point freed of all enunciated content. For that reason, full speech is never to be conceived of as a simple and immediate filling-out of the void which characterizes the empty speech (as in the usual opposition of

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Urs Espeel

der Zungenrede und dem prophetischen Reden in einer höchst aufschlussreichen Weise. Wiewohl dieses jener vorgezogen wird, folgt daraus ausdrücklich nicht, dass die Zungenrede mit der prophetischen Rede überhaupt nichts zu tun habe. Vielmehr ist die Glossolalie ein stimmliches bis sprachliches Phänomen, das als solches die Frage, mit welcher Stimme geurteilt wird, oder : was es bedeutet, eine Stimme in der Öffentlichkeit zu haben, näher zu entfalten in der Lage ist. Zungenrede hat ihr Ziel nach Paulus nicht in sich selbst, sondern ist erstrebenswert vor allem darin, dass mit der ihr unterstellten Stimme prophetisch geredet werden kann.16 Was dies für das Urteilen bedeutet ist, dann Gegenstand des zweiten biblisch-theologischen Abschnitts, der unter dem Thema der geistigen Tätigkeiten steht, die der Apostel gegen geistliche Tendenzen mit allen Mitteln seiner Intellektualität verteidigt. Schematisch werden die Stellen aus der Thora und des 1. Korintherbriefes wiefolgt in Anspruch genommen: In jenem Fall geht es vor allem darum, sich der Sachlichkeit einer prophetischen Aussage über den Gedanken der Objektivität zu nähern (= Verstehen) und in diesem Fall über, wie nicht anders zu erwarten, dem der Subjektivität (= Stimme). Beide Male geht es dabei um Merkmale, die sicherstellen, dass es um die Gegenwart geht und nicht um irgendwelche Konzepte von Gegenwart oder ihre direkte Negation: in Schwärmerei durch Rückzug in die Vergangenheit oder Frevelhaftigkeit durch Flucht in die Zukunft.17 Dabei ist das Ziel nicht, eine Subjekt-Objekt-Spaltung zu überwinden. Vielmehr wird sich zeigen, inwiefern berechtigte Ansprüche nach Objektivität und Subjektivität Teil der Sachlichkeit aber nicht hinreichend sind. Sie sind notwendige Merkmale. Das Verstehen und die Stimme sind hingegen Momente der Sachlichkeit, die sich nicht mit der Objektivität einer Erklärung oder Subjektivität ›authentic‹ and nonauthentic speech). Quite the contrary, one must say that it is only empty speech by way of its emptiness (of its distance toward the enunciated content which is posited in it as totally indifferent) which creates the space for ›full speech‹, for speech in which the subject can articulate his or her position of enunciation.« (Zˇizˇek, Slavoj: Tarrying with the Negative, S. 94.) 16 1. Kor. 14, 5: »Ich wollte wohl, dass ihr alle in Zungen redet, allem voran aber, damit ihr prophetisch reden könntet.« (Eigene Übersetzung) Oder : 1. Kor 14, 18 f.: »Ich danke Gott, dass ich mehr in Zungen rede als ihr alle. Aber in der Gemeinschaft der Herausgerufenen will ich lieber fünf Wort mit meinem Verstand reden, damit auch andere darin belehrt werden, als tausend Worte in Zunge.« (Eigene Übersetzung) 17 Diesen Punkt arbeitet Rosenzweig im Kontext einer ganz bestimmten Weise des Sprechens heraus: das Gebet. (Rosenzweig, Franz: Der Stern der Erlösung, 295 – 302.) Das Gebet zeichnet sich dabei dadurch aus, dass es keine Weltbeschreibungen als Deutungen über die Welt in die Welt setzt, sondern Aussagen in der Welt trifft. Es will nicht Recht haben, sondern ist liturgisches Sprechen. Liturgie ist dabei nicht eine Unterwerfung unter eine höhere Macht, sondern gerade die Weise zu Sprechen, die nicht über das Paar Nachvollziehbarkeit und Unnachvollziehbarkeit beschrieben werden kann. Es geht nicht um ein Sowohl-als-Auch, um Rücksichtnahme oder ähnliche Verhandlungsmethoden, sondern um das Stehen in einer nicht gedeuteten Gegenwart.

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eines Empfindens begnügen. Die Notwendigkeit, die nur im zwischenmenschlichen Leben erfahrbar wird, liegt die Freiheit der geistigen Tätigkeit zugrunde. Sie entscheidet auch darüber, in welcher Sprache gesprochen wird. Doch um diese geht es erst nach der biblischen Erörterung in einem eigenen Abschnitt am Schluss dieses Aufsatzes. 1. Die Bibel ist weniger ein Geschichts- oder Geschichtenbuch, denn ein paradigmatisches Buch von Urteilen. Nur insofern dieses gilt, kann sie auch Gegenstand historischer Spekulationen sein. Die Aufforderung zu urteilen, der Grammatik des Urteilens zu folgen, wird denn auch gerade in dem Moment explizit, in dem es um Aussagen geht, die nicht so ohne Weiteres aus Konzepten oder menschlichen Hoheitsansprüchen abgeleitet werden können. Das ist das Wesen der Prophetie: eine Weise zu sprechen, die gemeinsam geteilte Welt erfahrbar werden lässt und im Urteilen, die Hörenden oder Lesenden in das Urteilen miteinbezieht. Prophetie fordert zum Urteilen auf, nicht zum Gehorsam gegenüber irgendeiner Aussage. Sie gibt zu bedenken. Sie denkt nicht selbst. Der Grund liegt darin, dass der Prophet etwas zu verstehen gibt, das nicht aus der alltäglichen Wahrnehmung der Gegenwart abgeleitet werden kann, so zu sagen vom Himmel fällt oder von sonstwo her. Die alltägliche Wahrnehmung wird dadurch nicht etwa lediglich irritiert, sondern verweist auf die Sache, um die es geht und die durch alltägliche Konzepte überschrieben wurde.18 Jede Prophetie wirkt daher zunächst einmal wie Träumerei, so dass in der Stelle aus der Thora, die nun besprochen werden soll, Prophetie und Träumerei nebeneinander stehen. Im 5. Buch Mose 13, 2 – 5 heißt es: Wenn in deiner Mitte ein Prophet oder Träumer öffentlich auftritt und ein Zeichen oder Wunder ankündigt und das Zeichen und das Wunder eintritt und er zu dir sagt: »Lasst uns anderen Göttern hinterherlaufen, die du nicht kennst und ihnen dienen«, so höre nicht auf diesen Propheten oder diesen Träumer, denn der Herr dein Gott prüft euch, um zu wissen, ob ihr den Herrn eueren Gott liebt mit euerem ganzen Herzen und mit euerem ganzem Leben. Darin folgt ihr dem Herrn eueren Gott, fürchtet ihn, bewahrt seine Gebote, hört auf seine Stimme, dient und hängt an ihm.19 18 Aus diesem Grund irritiert die Prophetie etablierte Systeme auch nicht einfach. Denn eine einfache Irritation hat nur zur Folge, dass diese durch weitere Differenzierung behoben wird. Von Prophetie kann nur dann positiv geredet werden, wenn sie sich einer Inklusion sperrt. Das heißt über Prophetie werden auch nicht irgendwie Erkenntnisse erweitert. Sie gibt das zu sehen, was gilt, auch im heftigsten Widerspruch zu etablierten Systemen, sodass sie durchaus sich dem Vorwurf des Dogmatismus konfrontiert sehen kann. Dies aber nur dann, wenn in dem, was sie zu sehen gibt, jede Möglichkeit zu verstehen, ausgeschlossen ist und Gehorsam gefordert wird. 19 Um die Übersetzung in ihrer Eigenwilligkeit besser zu verstehen, soll die revidierte Lutherbibel (1984) ihr zur Seite gestellt werden: »Wenn ein Prophet oder Träumer unter euch aufsteht und dir ein Zeichen oder Wunder ankündigt und das Zeichen oder Wunder trifft ein, von dem er dir gesagt hat, und er spricht: Laß uns andern Göttern folgen, die ihr nicht kennt, und ihnen dienen, so sollst du nicht gehorchen den Worten eines solchen Propheten oder

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Zentral für diesen Abschnitt sind zunächst zwei Gesichtspunkte: Wahre Prophetie hat ihr Merkmal nicht darin, dass irgend etwas Angekündigtes eintritt. Wenn mit seinem Eintreten ein Gottesbegriff verbunden wird, der auf Unkenntnis und Nicht-Verstehbarkeit und damit auch schlichte Unterwerfung beruht, dann handelt es sich um falsche Prophetie. Darin liegt die Versuchung, ob man sich blenden lässt von dem, was man nicht versteht und dadurch die eigene Freiheit verliert. Dass es um die Fähigkeit zu verstehen geht, worin die Bedeutung des Zeichens und Wunders besteht, zeigt das Zitat aus dem 5. Mose 6, 4 an, das an dieser Stelle verändert aufgenommen wird. Im »Höre Israel« ist der Einzelne aufgerufen, den Herrn seinen Gott zu lieben mit ganzem Herzen, ganzem Leben und all seinen Möglichkeiten.20 In Kap. 13, 4 fällt auf, dass nur die ersten beiden Momente genannt werden. Das Herz ist in der biblischen Tradition dabei Sitz der intellektuellen Fähigkeit und das, was in der deutschen Übersetzung mit Seele übersetzt wird, meint vor allem das gelebte Leben. Einen Gottesbegriff zu leben, den man nicht intellektuell denken kann, zerstört beides: Herz und Seele. Ein lebendiger Gottesbegriff kann hier nicht mehr ›einfallen‹.21

Wunder und Zeichen können eine Aussage in der Welt, die ein Prophet trifft, nicht stützen. Das Moment, das gegeben sein muss, ist, dass das darin ausgesagte Urteil verstanden werden kann oder dass in diesem Urteil eine Gemeinschaft als Gemeinschaft in der Gegenwart sich in Freiheit diesseits von Zustimmung und Ablehnung wiedererkennt. Wunder und Zeichen im Kontext der Prophetie sind nur dann annehmbar sofern sich in ihnen die gemeinsame Sache, um die es geht, in ihnen sichtbar wird, worum es gerade geht. Prophetie blendet nicht, sondern gibt zu sehen. Das ist denn auch das Hauptmerkmal der zweiten Stelle aus dem 5. Buch Mose, die den gesamten Abschnitt zur Prophetie abschließt.22 Dort heißt es in Kap 18, 21 – 22: Träumers; denn der HERR, euer Gott, versucht euch, um zu erfahren, ob ihr ihn von ganzem Herzen und von ganzer Seele liebhabt. Dem HERRN, eurem Gott, sollt ihr folgen und ihn fürchten und seine Gebote halten und seiner Stimme gehorchen und ihm dienen und ihm anhangen.« 20 Ebenfalls die revidierte Lutherbibel (1984) zur Stelle: Und du sollst den HERRN, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. 21 Nach Emmanuel Levinas geht es genau darum, ein Denken wiederzufinden, das Gott nicht konstruiert, sondern in welchem das Wort Gott sich wieder darbietet. »Doch einen nicht durch das Sein infizierten Gott zu vernehmen, ist eine ebenso wichtige und ebenso ungesicherte menschliche Möglichkeit wie die, das Sein dem Vergessen zu entreißen, in das es in der Metaphysik und in der Onto-Theologie gefallen sein soll.« (Levinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 19.) Ähnlich wie das Wort »Liebe« gehört es zu den meist missbrauchten der Sprache, gerade weil mit Aristoteles nicht unterschieden wird zwischen Dingen, die man beweisen kann und dann auch muss, und Dingen, die nicht bewiesen werden können und dann auch nicht dürfen. 22 Die Themen, die zwischen den beiden zitierten Stellen zur Prophetie angesprochen werden, beziehen sich denn auch alle insgesamt auf die Gemeinschaft, die in ihr möglich wird und in der sie das Gute erfährt. Direkt nach dem Abschnitt aus Kap. 13 werden dann noch zahlreiche andere Autoritäten angesprochen, die die Freiheit des Urteilens bedrohen können. Desweiteren werden noch andere Strukturen öffentlichen Lebens genannt, wie z. B.: der

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Und wenn du in deinem Herzen sagst: »Wie erkennen wir das Wort, das nicht des Herren Wort ist, das der Prophet spricht im Namen des Herrn?« Dieses Wort, das nicht das Wort des Herrn ist, ist nicht und trifft nicht ein. In Eigendünkel ist dieses Wort des Propheten, weiche nicht zurück.23Anders als in Kap. 13 ist hier nicht von Zeichen und Wundern die Rede, sondern vom Wort und damit von der Art und Weise, wie geredet wird. Der Unterschied zwischen Sagen und Reden liegt denn auch darin, ob miteinander geredet oder ins Blaue hinein etwas gesagt wird.24 So macht es einen großen Unterschied, ob im Tanach etwas gesagt oder geredet wird. Der Unterschied wird im Kontext der Prophetie treffend formuliert. Prophetie unterscheidet sich von Behauptungen darin, dass sie nicht von irgendwoher abgeleitet oder strategisch eingebunden sind. Solche Worte sind nicht und können aus diesem Grund prinzipiell die Sache nicht treffen. Wohingegen ein Wort, das im Namen des Herrn gesprochen wird, lebendiges Wort ist und darin treffend. Wenn nun gesagt werden müsste, jemand spräche zum Beispiel nur aus Eigeninteresse oder in der Durchsetzung des Interesses eines Anderen, kann es sich nicht um Prophetie handeln. In ihm kann notwendig nicht das zur Sprache kommen, worin Gemeinschaft sich wiedererkennt. In diesen Worten gibt es keine gemeinsam geteilte Gegenwart. Die Thora legt in diesem Kontext großen Wert darauf, vor solchen Worten nicht zurückzuschrecken, mithin, ihnen zu widersprechen.25 Denn für das lebendige Wort treten neben den Propheten auch gerade die ein, die ein solches Wort hören. Beide Stellen aus der Thora legen damit großen Wert auf das Verstehen. Prophetische Rede kann geprüft werden. Der Unterschied zwischen beiden Genuss, d. h. in der Art und Weise wie Lebensmittel hergestellt werden, die Einteilung der Zeit und der Festfreude bis hin zum Gottesdienst und denjenigen, die ihn in Freiheit leiten. 23 Revidierte Lutherbibel (1984) zur Stelle: Wenn du aber in deinem Herzen sagen würdest: Wie kann ich merken, welches Wort der Herr nicht geredet hat? – wenn der Prophet redet in dem Namen des Herrn und es wird nichts daraus und es tritt nicht ein, dann ist das ein Wort, das der Herr nicht geredet hat. Der Prophet hat’s aus Vermessenheit geredet; darum scheue dich nicht vor ihm. 24 Im Hebräischen kann hier zwischen den beiden Wurzeln LSB4 (Qal) und LS57 (Pi’el) unterschieden werden. Das Reine-Aussagen-Treffen wird dabei besonders in der Erzählung von Kain und Abel zum Verhängnis. Denn Kain geht auf das Feld nicht, um mit Abel zu sprechen, die Sache zu erörtern (= LS57), sondern um sich selbst zu behaupten oder zu setzen (= LSB4). Die Folge ist Mord. 25 Rashi (= Rabbi Shimon ben Jizchaqi), der die Thora in ihrer einfachen Bedeutung zu erklären sucht, merkt zu dieser Stelle an, dass das »Nicht-Zurückschrecken vor dem falschen Propheten« seine Verurteilung impliziert und das heißt die Todesstrafe. Überall, wo die Thora die Todesstrafe verhängt, wird das zwischenmenschliche Leben an seinen Fundamenten bedroht. Die Forderung der Todesstrafe muss nicht gleichgesetzt werden mit seiner Durchführung, sondern zeigt an, in welchem Maße falsche Prophetie das gesamte Leben zerstört. Mit Zahlen spielen, sie völlig beliebig zu benutzen oder als gesichertes Wissen zu nehmen, ist ein Phänomen solcher falschen Prophetie unserer Zeit. Es zerstört den Raum, worin Menschen sich wiedererkennen können.

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Stellen liegt darin, dass ein Zeichen und Wunder als äußere Beglaubigung von Ansprüchen missbraucht werden kann, für das, was zu sagen ist oder wäre. Durch ein Wunder oder Zeichen kann dies jedoch nicht geschehen.26 Das gesprochene Wort hingegen muss sich in sich selbst stützen. Darauf legt die zweite Stelle ihr Gewicht. Dabei ist in beiden Stellen besonders eine Sache interessant, auf die noch nicht explizit hingewiesen wurde: Die Prophetie zu prüfen, sich urteilend auf sie zu beziehen, richtet sich immer an den Einzelnen. Die Pflicht zur Freiheit, die kein Zwang ist sondern notwendige Voraussetzung für geistige Tätigkeit, kann nicht delegiert werden. Das machen all die Formulierungen klar, die den Leser im Singular ansprechen. Der Verlust oder die Wahrung der eigenen Freiheit liegt damit beim Einzelnen. Beide Male ist die Situation gegeben, wie mit prophetischer Rede umzugehen sei. Es geht nicht um die Möglichkeit, selbst prophetisch zu reden oder gar prophetisch reden zu wollen. Es geht lediglich darum, den Anspruch prophetischer Rede auf ihre Sachlichkeit zu prüfen und wann gesagt werden muss, es handelt sich auf keinen Fall um eine Prophetie im biblischen Sinn. 2. Das Phänomen der Stimme ist schon im 5. Mose 13, 5 kurz angesprochen. In dem Moment, wo der Einzelne falscher Prophetie widerspricht, hört er die »Stimme des Herrn« und folgt nicht irgendwelchen Stimmen, die laut um die Vorherrschaft ringen. Sie wird dann vernehmbar, wenn das Verstehen einer Situation ihr notwendiges und hinreichendes Merkmal ist, weil sie erst dann gehört wird, wenn verstanden wird, und ist damit auf Öffentlichkeit bezogen bleibt. Sie ist gerade nicht irgendeine innere Stimme, die nur dem Einzelnen gilt, sondern wird in einer gemeinsamen Tätigkeit des Urteilens vernehmbar, die in Notwendigkeit und nicht aus äußeren Zwängen und inneren Drängen urteilt. Um private Überzeugungen geht es genauso wenig, wie um abgesicherte Theorie. Notwendig ist damit immer das gemeinsame Gute, sofern das Gute nicht verwechselt wird mit dem, was man so für gut halten möchte oder für gut zu halten sich gezwungen sieht. Darin ist Prophetie nicht ohne das Politische. Eine Prophetie, die nicht das gemeinsame Gute aussagt, ist ein Herrschaftsinstrument und als solches Zeichen von Machtlosigkeit.27 26 Genau die gleiche Struktur findet sich auch im Kontext der Evangelien immer dann wieder, wenn Jesus nach einer Wunderheilung dem Geheilten und den Umstehenden gebietet, es nicht herauszuposaunen. In einem Wunder oder Zeichen liegt nicht schon für sich irgendeine Aussage über die Welt. Es ist diese Vermischung, die dazu führt, das Wunder entweder als notwendig für den Glauben aussagen zu müssen oder für eben diesen ausschließen zu müssen. Ein solcher Glaube will nicht urteilen und kann darin schon nicht mehr Glaube im biblischen Sinne sein. 27 Am Phänomen der Stimme lässt sich demnach der Unterschied zwischen »Herrschaft« und »Macht« nachvollziehen. Herrschaft zeichnet sich gerade dadurch aus, nicht das gemeinsame Gut in der Gemeinschaft aufzufinden, sondern etwas als Gut für wen auch immer zu setzen und Macht gerade durch die Fähigkeit zu urteilen. Letztlich geht diese Unterscheidung

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Um das Phänomen der Stimme geht es im Besonderen bei Paulus im 1. Korintherbrief. Im Unterschied zu den beiden Stellen aus der Thora geht es nun um die Möglichkeit, selbst prophetisch zu reden und damit explizit um die Frage, mit welcher Stimme jemand in diesem Kontext spricht. Ist er selbst es, der spricht, oder spricht jemand anderes? Die Antwort, die Paulus überraschenderweise gibt, lautet: Nur derjenige spricht mit einer eigenen Stimme, der nicht rein aus sich selbst heraus spricht. Stimme ist in diesem Kontext natürlich nicht das physikalische Hervorbringen von Lauten, ob jemand hoch oder tief spricht. Mit Stimme ist in diesem Kontext eine Weise zu sprechen gemeint, die der prophetischen Rede systematisch eigen ist und Paulus anhand der Unterscheidung zwischen Zungenrede und prophetischer Rede herausarbeitet. Diese Unterscheidung steht dabei ganz im Dienste geistiger Tätigkeit,28 zu deren Erlangung die Korinther angehalten werden und deren Merkmal es ist, doch bitte endlich erwachsen zu werden.29 Kap. 14 folgt dem berühmten Kap. 13 desselben Briefes, in welchem sich das so genannte »Hohelied der Liebe« findet. Die Basis jeder geistigen Tätigkeit ist demnach die Liebe, die allem voran über Negationen vor Augen geführt wird.30

auf Aristoteles zurück, wenn er zwischen guten und schlechten Regierungsformen unterscheidet. Denn die guten Regierungsformen zeichnen sich alle dadurch aus, dass sie die Wirklichkeit treffen, mithin geurteilt wird. In den Worten Arendts: »Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner ; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält.« (Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, aus dem Englischen von Gisela Uellenberg, 18. Auflage München/Zürich 2008, 45.) Natürlich kann auch ein Einzelner in diesem Sinne mächtig sein. Darauf legt z. B. Nietzsche wert. 28 Es geht Paulus demnach um die geistigen Tätigkeiten und nicht um irgendwelche geistlichen Fähigkeiten, die jede für sich um die Vorherrschaft kämpfen, welche denn die höchste sei. Geistige Tätigkeiten sind dabei nie stimmlos, wie er schon in Kap. 12, 1 – 4 deutlich macht: »Gerade in den geistigen Tätigkeiten, Brüder, will ich nicht, dass ihr ohne Kenntnis seid. Wisst, als ihr noch mit stimmlosen Götzen ward, wie ihr mit Gewalt zu ihnen hingezogen wurdet. Deshalb lass ich euch wissen, dass niemand im Geist Gottes sprechend sagt: »Jesus ist verflucht«, und niemand sagen kann: »Der Herr Jesus«, es sei denn im Heiligen Geist. Es gibt verschiedene geistliche Gaben, aber nur einen Geist.« (Eigene Übersetzung) Die Geistigkeit ist damit keine säkularisierte Geistlichkeit, sondern von guter Begabung als geistliche Tätigkeit kann nur dann qualifiziert gesprochen werden, sofern Geistigkeit die Basis ist. 29 Siehe dazu 1 Kor 13, 11: »Als wir noch Kinder waren, redeten wir wie Kinder, waren verständig wie Kinder, waren vernünftig wie Kinder, als ich aber zum Mann wurde, hob ich auf das Kindliche.« (Eigene Übersetzung) Oder : 1 Kor 14, 20: »Brüder, werdet doch nicht zu Kindern in den Dingen des Verstehens«. (Eigene Übersetzung) 30 Zitat aus 1 Kor 13, 4 – 7. Nachdem die Liebe über zwei positive Merkmale bestimmt wurde, heißt es nach der revid. Lutherbibel (1984): »die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft

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Diesen ist dabei gemein, dass sie die Welt, so wie sie ist, anerkennen und nicht mit einer gewünschten Interpretation von Welt überschreiben. Mit Nietzsche kann man formulieren: Liebe als Agape unterscheidet sich von Liebe als Eros darin, dass sie auch noch das will, was man nicht wollen kann.31 Die Konsequenz daraus ist, dass es die Liebe ist, die selbst das Schreckliche nicht verleugnen muss. Nur sie ist in der Lage, das Schreckliche auch schrecklich zu nennen, gerade aus dem Grund, dass sie es nicht zu vermeiden oder zu vernichten sucht. Anerkennen heißt dann selbstverständlich nicht Zustimmen. Anerkennen heißt in diesem Kontext, Wahrnehmen, dass Menschen sich im Schrecklichen nicht wiederfinden können. Auf diese Weise erträgt die Liebe nicht alles, wie viele deutsche Übersetzungen nahlegen.32 Sondern: Die Liebe ist allem unterlegt, sofern es eine gemeinsam geteilte Welt gibt. Indem die Liebe das, was ist, bezeugt (= attestatio), erkennt sich eine Gemeinschaft in dem, was in ihr gilt wieder (= recognitio), so dass der hegelsche Begriff der Anerkennung sich in beidem entfaltet.33 Damit wird das Erhabene im Sinne Kants deutlich, das gerade darin besteht, einen Widerstand zu überwinden, der lediglich auf (Eigen-)Interessen beruht. Ist das richtig, dann kann, wenn prophetische Rede Urteilen meint, nicht kalt oder neutral sein, es sei denn man könnte einen Begriff von Liebe haben, der eine solche Bestimmung zuließe. Sofern das Urteilen aber zu den geistigen Tätigalles, sie duldet alles.« Was also ist sie? Der Raum, der durch diese Negationen frei wird, ohne das Negierte selbst zu verleugnen. 31 Klar in dieser Formulierung ist, dass es sich bei einem solchen Wollen nicht um ein EtwasWollen handeln kann. Mit dem Wollen dessen, was man nicht wollen kann, verbindet Nietzsche das amor fati. Dieses hebt die Opposition, dass der Mensch wesentlich Wille sei oder dem Schicksal unterworfen, auf. Beiden Teilen fehlt dabei die Liebe zu dem, was ist. Doch ist es genau diese allein, die eine erlösende Kraft hat. (Siehe dazu zum Beispiel: Löwith, Karl: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr, 83 ff.) Agamben kommt in diesem Zusammenhang auf den Nullpunkt der Stimme zu sprechen. Denn ein Wille, der auch noch will, was man nicht wollen kann, ist Bejahung der Gegenwart, ohne von Deutungen her abgeleitet werden zu können. Allerdings bedeutet diese Aufhebung, der immer auch Aufschub ist, gerade nicht, wie bei u. U. Nietzsche, einen Moment des Mittags als höchste Offenbarung. (Agamben, Giorgio: Die Zeit, die bleibt, 115 – 118.) 32 1 Kor 13, 7 nach der revid. Lutherbibel: »sie (= die Liebe) erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.«, verführt zu einer masochistischen Lesart. Die positiven Formulierungen im Kontext der vorausgehenden Negationen können aber so gelesen werden, dass es die Liebe ist, die gerade nichts verleugnen muss. Gerade weil sie das nicht tut, kann sie Widerstand leisten, ohne vernichten zu müssen. 33 Auf eine Veränderung der Semantik bei Paul Ricoeur sei in diesem Zusammenhang hingewiesen. Während er in seinem Buch »Ich als ein anderer« allem voran im Französischen von »attestation« spricht, geht er in »Wege der Anerkennung« über zu »reconnaissance«. Dies wird im Deutschen mit »Anerkennung« wiedergegeben. Ricoeur kommt selbst auf diesen Unterschied zu sprechen. (Siehe dazu das Schlusswort: Ricoeur, Paul: Wege der Anerkennung, aus dem Französischen von Ulrike Bokelmann und Barbara Heber-Schärer, Frankfurt am Main 2006, 310.)

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keiten gezählt werden kann, von denen Paulus in seinem Brief an die Korinther schreibt, gibt es kein Urteil ohne Liebe. Ein Urteil ohne Liebe wäre ein Vorurteil, das aufgrund mangelnder Liebe die Gegenwart und was in ihr zur Sprache kommen will, nicht zulassen kann. Die Folge davon ist, dass Paulus die Korinther dazu anhält, dieser Grammatik der Liebe zu folgen und darin zu geistigen Menschen zu werden, um zur prophetischen Rede befähigt zu werden. Er unterscheidet sich dabei ausdrücklich von der Zungenrede, die als ekstatisches Phänomen zwar ihre eigene Schönheit hat, doch im entscheidenden Gesichtspunkt zu kurz greift. In Kap 14, 2 – 5 heißt es: Denn derjenige, der in Zungen redet, redet nicht wie Menschen untereinander reden, sondern in Gott. Niemand versteht, im Geiste spricht er Geheimnisvolles. Derjenige aber, der prophetisch redet, spricht wie Menschen untereinander reden und darin lässt er Gemeinschaft erfahrbar werden in Trost und Ermutigung. Derjenige, der in Zungen redet, erfährt sich selbst, derjenige aber, der prophetisch redet, macht die Gemeinschaft der Berufenen erfahrbar. Ich wil,l dass alle Menschen in Zungen reden, allem voran aber, damit ihr prophetisch redet. Höher steht der prophetisch Redende als der in Zungen Redende, es sei denn es findet sich ein Übersetzer, damit die Gemeinschaft der Berufenen darin Gemeinschaft erfahre.34

Wie in der Thorah auch, zeichnet sich die Prophetie gerade darin aus, Gemeinschaft erfahrbar werden zu lassen, dass sie verstanden werden kann. In der Prophetie vollzieht sie sich, so dass das griechische Verb, das im Deutschen mit Erbauung wiedergegeben werden kann, hier anders wiedergeben wird. Der entscheidende Unterschied zur Zungenrede liegt nun darin, dass sie einer Übersetzung bedarf, wohingegen die prophetische Rede in Trost und Ermutigung dieser nicht bedarf. Weil sie die Sache trifft, spricht wie Menschen miteinander sprechen, kann sie verstanden werden auch von den Menschen, die noch nicht zur Gemeinschaft Kirche gehören. Aus diesem Grund steht sie höher als die Zungenrede. Diese mag für Außenstehende verrückt wirken. Daraus kann jedoch nicht die Konsequenz gezogen werden, dass sie auch verrückt ist. Vielmehr gibt es einen Zusammenhang zwischen beiden Weisen des Redens, die sich in einer möglichen kontinuierlichen Verbindung von der Zungenrede hin zur prophetischen Rede zeigt.35 Demnach hat jene durchaus ihren Wert. Ihr Ziel ist 34 Eigene Übersetzung – Lutherbibel (1984): »2 Denn wer in Zungen redet, der redet nicht für Menschen, sondern für Gott; denn niemand versteht ihn, vielmehr redet er im Geist von Geheimnissen. 3 Wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung. 4 Wer in Zungen redet, der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der erbaut die Gemeinde. 5 Ich wollte, daß ihr alle in Zungen reden könntet; aber noch viel mehr, daß ihr prophetisch reden könntet. Denn wer prophetisch redet, ist größer als der, der in Zungen redet; es sei denn, er legt es auch aus, damit die Gemeinde dadurch erbaut werde.« 35 1 Kor 14, 5: »Ich will, dass ihr alle in Zungen redet, allem voran aber um prophetisch zu

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aber das prophetische Reden, so dass sie die höchste Form der geistigen Tätigkeit zur Geltung gebracht wird. Dass beide Weisen zu Reden auf diese Weise miteinander verbunden werden können, also gesagt werden kann, dass es einen Weg von der Zungenrede hin zur prophetischen Rede geben kann, lässt den Schluss zu, dass überall, wo prophetisch geredet wird, ein Merkmal der Zungenrede mitgegeben ist. Das heißt nicht: Jeder, der prophetisch redet, müsse erst einmal zeigen, er könne auch in Zungen reden. Es heißt: Jeder, der prophetisch redet, trägt in seiner Rede ein Merkmal, dass auch für die Zungenrede kennzeichnend ist. Dass sie übersetzt werden kann, obwohl sie unmittelbar niemand versteht, verweist auf das reine Sprechen, auf die Idee einer Sprache ohne Beschreibung als Deutung.36 Für eine herkömmliche Sprachphilosophie ist das schon nahe dem Unsinn oder gar Wahnsinn. Wie dem auch sei: Mit der Zungenrede als ekstatischem Phänomen tritt das Phänomen der Stimme im Unterschied zum Klang in das Zentrum der Aufmerksamkeit.37 Sie erscheint als eine Voraussetzung für die Öffentlichkeit, die durch das prophetische Reden vollzogen wird. Fehlt sie, dann wird zwar geredet. Jedoch wird weder geurteilt noch in einem solchen Gerede Gemeinschaft irgendwie erfahrbar. Prophetisches Reden teilt mit der Zungenrede also die Stimme, mit der beide sprechen, wie unterschiedlich sie auch sonst sein mögen. Die Stimme verweist auf die Subjektivität des Sprechenden, sodass über die Zungenrede diese beschrieben werden kann. Als ekstatisches Phänomen besitzt das Ich nicht sich selbst. Dies kann zu der nicht zwangsläufigen Schlussfolgerung führen, dass es heteronom übermannt werde. Darin erscheint der so Redende als unfrei und Inbegriff eines reinen Mediums fremder Mächte, seien dies nun das Über-Ich in Form der Hysterie oder ein schlichtes Medium höherer Mächte. Irgendwelche höheren Mächte, die man nicht kennt und die von irgendwoher irgendetwas sagen, sind nicht die Sache der Bibel. Solche Mächte sind die »anderen Götter«, die man nicht kennt. Ihnen kann nicht gefolgt werden und soll aus diesem Grund reden.« Dies setzt meiner Meinung nach eine einseitige Verbindung voraus. Es führt ein Weg von A nach B, woraus nicht gefolgert werden muss, dass A die Voraussetzung für B ist. 36 Der Kontext des gesamte Kapitels 14 des Korintherbriefes ist der Gottesdienst und mit ihm eine bestimmte Weise, öffentlich in Sprache beieinander zu sein. Die Entfaltung der Gedanken befindet sich damit im Rahmen der Liturgie, einer Weise des Sprechens also, die nicht auf Theorie aus ist, der Theorie aber zu ihrer Kritik bedarf, immer dann, wenn versucht wird, liturgisches Sprechen herzustellen. Paradoxer Weise verwandelt sich Liturgie dann in ihr Gegenteil. Sie ist nicht mehr geistige Freiheit, sondern gelenkte Priesterlichkeit. 37 Glossolalie ist dann ein stimmlich-sprachliches Phänomen, das keine Deutungen von Welt in die Welt setzt und damit dem Moment des Mittags Nietzsches vergleichbar. In Zungen redet derjenige, der »Ja« sagt zu dem, was ist, ohne Zustimmung und Ablehnung auf der Grundlage der Liebe. Ist das nicht auch das zeitliche Kennzeichen des messianischen »als ob nicht« nach Agamben? Stimme wäre die messianische Zeit und, insofern jede Rede Zeit braucht, über diese qualifiziert. Siehe dazu den Aufsatz von Josef Wohlmuth in diesem Band.

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auch nicht gefolgt werden. Die ekstatische Rede kann auch anders gelesen werden: Sie ist eine Befreiung noch vom eigenen Ich, von dem, was der Einzelne für richtig hält. In der Zungenrede stellt sich das Ich in die Welt, ohne wenn und aber, ohne Zustimmung oder Ablehnung, ohne die Frage nach Gelingen oder Misslingen, ein reines Ausgesetzt-Sein in den Worten L¦vinas oder Anerkennen in der hier vorgeschlagen Hegellektüre. Darin entfaltet sich Stimme als sprachliches Phänomen ohne Deutung.

III Während die Thora die Freiheit gegenüber herangetragen Objektivitätsansprüchen thematisiert, wird für das Phänomen der Zungenrede die Freiheit gegenüber der eigenen Authentizität sichtbar. Die Folge dieser doppelten Negation entspricht ganz der in der Einleitung entsprechenden Struktur eines Weder-Noch, das ein mit Finger zeigendes Entweder-Oder negiert. Es handelt sich im Kontext der Prophetie in der Bibel um die Zurückweisung von Absicherungskonzepten in der freien und öffentlichen Rede. In lutherischer Semantik: Die Prophetie weist jeden Rechtfertigungsdruck zurück, spricht in der Welt und nicht über die Welt. Sie will nicht Recht haben, sondern: Sofern es sich wirklich um Prophetie handelt, spricht die Prophetie in Urteilen das aus, was gilt. Prophetisches Sätze sind immer wahre Sätze oder es handelt sich nicht um Prophetie.38 Wahr meint in diesem Kontext nicht eine richtige Aussage innerhalb es geltenden Konzeptes, sondern eine geltende Aussage, in welcher sich eine Gemeinschaft als Gemeinschaft wiedererkennt, ohne dabei Rekurs auf ein Interpretationsmodell im Sinne einer Mythologie nehmen zu können. Die reine Ableitung aus einer Großerzählung ist ohne Stimme, es mag noch so geschrieen oder das Pathos der Rede noch so (weinerlich) beschworen werden. Als stimmlos wird eine solche Rede pathetisch und das heißt letztlich: lächerlich. 38 Der Allgemeinheitsanspruch eines Urteils ist damit nicht inhaltlich bestimmt, sondern zunächst einmal rein formal. Er findet sich nicht im Inhalt einer Aussage als Deutung, sondern in der reinen Tatsache einer Aussage selbst. Sofern sie sich als Advent der Synthese im Sinne Hegels verstehen lässt und damit nicht vollständig aufgeklärt oder abgeleitet werden kann, trifft sie die Wirklichkeit und nähert sich ihr nicht an. Daraus folgt: Wenn davon ausgegangen wird, dass es sich wirklich um Urteilen handelt, dann kann es von diesem Verständnis her auch verallgemeinert werden. Dies nicht in der Form einer weiteren Deduktion oder Anpassung, sondern von seinem geistigen Anspruch her. Ein gutes Beispiel bietet Hannah Arendt. Dass Eichmann ein Hanswurst sei, weil er nicht denken kann, er banal und nicht dämonisch ist, dieses Urteil wird auch nicht durch Protokolle widerlegt, die im Exil aufgenommen wurden und in denen er wettert und voller Hass und Dummheit spricht. Ein Hanswurst hängt sein Fähnchen halt in den Wind, reagiert auf die Umwelt. Aus den Protokollen abzuleiten, Arendt habe sich geirrt, ist nicht zwingend.

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Ob geurteilt wird, hat dann zwei Ausschlusskriterien: Müsste gesagt werden, dass es sich bei einer Aussage um eine reine aus Beschreibungen als Deutungen gefolgerte Deduktion handelt, wird nicht geurteilt, zum einen. Zum anderen: Müsste ausgeschlossen werden, dass der Urteilende mit einer Stimme spricht, wird nicht geurteilt. Die Folge ist eine typische Asymmetrie im Kontext der Subjektivität: Wenn das Urteil sein Ziel nicht erreicht, dann übernimmt der Urteilende die Verantwortung dafür.39 Erreicht es sein Ziel, dann spricht nicht rein er selbst. Mit einer Stimme sprechen hat genau in dieser Asymmetrie ihre Struktur.40 Das Neue, von dem Arendt in diesem Kontext spricht, auf das sich jedes Urteilen bezieht, muss dabei nicht mit dem noch nicht Gekannten gleichgesetzt werden.41 Urteile können ganz alltäglich sein. Sie haben ihren Ort, von dem aus sie beschrieben werden können, nicht in Ausnahmesituationen oder vor Gericht, sondern finden sich in alltäglichen Situationen wieder. Ihre Mitte haben sie im Alltäglichen, zum Beispiel in einem Gruß. Sofern es eine Liturgie des Alltags gibt, können sie in ihr gefunden werden. Sicherlich, Liturgie kann dahingehend reduziert werden, dass es sich, wie bei einem Gruß, lediglich um Floskeln handelt, darin durchaus nichts Neues erfahrbar wird.42 Anstelle von Liturgie, 39 Die Asymmetrie aus der ethischen Situation des von Angesicht zu Angesicht ist nach Levinas immer auf den Dritten und damit die Öffentlichkeit hin gedacht. »Wenn die Nähe mir allein den Anderen und niemanden sonst zur Aufgabe machte, ›hätte es kein Problem gegeben‹ – nicht einmal im allgemeinsten Sinne des Wortes. Die Frage wäre nicht entstanden, auch das Bewußtsein nicht und ebensowenig das Selbstbewußtsein. Die Verantwortung für den Anderen ist eine Unmittelbarkeit, die der Frage vorausgeht: eben Nähe. Sie wird gestört und sie wird zum Problem mit dem Eintritt des Dritten.« (Levinas, Emmanuel: Jenseits des Seins, 342.) Das Problem besteht dabei genau darin, dass die Nicht-Delegierbarkeit der Verantwortung für den Anderen aus der ethischen Situation durch die komplexere Situation von Mehreren nicht einfach aufhört. 40 Das wohl berühmteste Beispiel einer solchen Stimme ist Sokrates. Dass auch bei ihm diese Asymmetrie gilt, hält Dolar fest: This voice, it »is not a prescriptive voice, not a voice telling Socrates what to do; he has to decide that for himself. It merely dissuades him from certain actions, preventing him from doing wrong, but not advising him how to do good. The voice has a negative, apotreptic function«. (Dolar, Mladen: A Voice, S. 84.) 41 Marco S. Saavedra: »Das reflektierende Urteil ist dagegen das Produkt der geistigen Operation unserer Urteilskraft, durch die wir mit dem Neuen und bisher Nicht-Gesehenen, ohne einen Maßstab zur Verfügung zu haben, konfrontiert werden und es beurteilen müssen. Wir stehen vor dem Beispiellosen, nur ausgerüstet mit dem freien und autonomen Vermögen des Geistes.« (Saavedra, Marco S.: Die deliberative Rationalität des Politischen, Würzburg 2002, 124.) Er zitiert in diesem Kontext ein Stelle Arendts, an der deutlich wird, dass es nicht um die Erweiterung von Erkenntnissen, sondern um das Bewahren des Neuen geht: »Dieses Urteilen, das maßlos ist, kann sich auf nichts berufen als die Evidenz des Geurteilten selbst, und es hat keine Voraussetzung als die menschliche Fähigkeit der Urteilskraft, die mit der Fähigkeit zu unterscheiden sehr viel mehr zu tun hat als mit der Fähigkeit zu ordnen und zu subsumieren.« (Arendt, Hannah: Wahrheit und Lüge in der Politik, München 1987, 20.) 42 Dies ist durchaus nicht notwendig. In Floskeln kann ein Urteil vernehmbar werden. Selbst wenn der Grüßende mehr aus Gewohnheit grüßt, stellt er sich dennoch in ein Urteil, dass er

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böte sich vielmehr an, von Ritualen zu sprechen, die man vollzieht, gelernt und beigebracht bekommen hat. Doch ist genau dies die Beschreibung davon, wie Urteilen gelernt wird.43 Die negative Beschreibung alltäglicher Situationen verdecken ein wichtiges Merkmal des Urteilens, das noch nicht genannt wurde. Denn im alltäglichen Umgang von Menschen miteinander, wird eine Größe deutlich, die bisher noch nicht explizit genannt wurde, und in der sich alle Merkmale, die bisher genannt wurden, vereinigen: die Umgangssprache. Sie ist die Basis jeder geistigen Tätigkeit. Von ihr geht sie aus und zu ihr hin geht sie auch. Urteile sind umgangssprachlich. Mit Überlegungen zu dieser Festellung enden die vorliegenden Ausführungen. Gemeinhin wird Umgangssprache und Fachsprache unterschieden. Die hochkomplexe Begrifflichkeit der Expertendiskurse führen dabei nicht selten zu der Kautele: »Das mag in der Theorie zwar richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«. Diese Gegenüberstellung von Theorie und Praxis zeigt dabei an, dass ein Urteil, in dem eine Gemeinschaft sich wiedererkennen kann, nicht wahrgenommen wurde oder vielleicht sogar noch aussteht. Der Vorwurf der Unverständlichkeit oder Abstraktheit der Theorie trifft aber nicht nur diese. Sie trifft auch eine Weise zu sprechen, die mit einfachsten Worten spricht, dennoch nichts zu verstehen gibt. Es werden Worte gemacht, die nichts sagen, obwohl alle Worte keine Fachworte sind, die Sätze kurz sind und das erfüllen, was sonst noch so von den Theoretikern empfohlen oder gefordert wird, die angeblich nicht in ihrem Elfenbeinturm wohnen. Wenn alle Elemente einer einfachen Sprache erfüllt sind, niemand auf die Idee käme, hier eine Fachsprache zu vermuten, dann kann es sich dennoch nicht um Umgangssprache handeln. Es empfiehlt sich daher, eine weitere Unterscheidung zwischen Umgangssprache und Alltagssprache einzuführen. Unter Alltagssprache wird das Kommunizieren verstanden, in welchem das Urteilen selbst und damit die Sache, um die es geht, gar nicht zur Sprache kommt oder nicht zur Sprache kommen soll. Es wird nicht klar, worin die Gemeinschaft sich wiederkennt. Es mag strategisch geredet werden, um nicht auseinanderzubrechen, aber de facto bewegt man sich in der reinen symbolischen Ordnung44, oder mit Wittgenstein gesprochen: Weil die Worte nicht umgangsübernimmt. Dies wird besonders deutlich, wenn der Gruß unterbleibt oder der Floskel noch nicht einmal unterstellt werden kann, dass sie sich in ein solches Urteil stellt. 43 Nach Wittgenstein werden Urteile durch Urteile beigebracht. Gerade weil sie nicht ableitbar sind, können sie nicht gelehrt werden, sondern nur gelernt. Urteile sind damit immer paradigmatisch. 44 Die symbolische Ordnung imitiert nach Zˇizˇek dabei das Urteilen. Weil sie aber nicht urteilt, sondern verwaltet, ordnet und subsumiert, funktioniert zwar irgendein Leben. An dessen Unterseite bilden sich aber obszöne Widrigkeiten. So hat jede Herrschaftsform und jede pure Verwaltung eine obszöne Unterseite, gerade weil sie sich nicht öffentlich vollzieht sondern sich selbst inszeniert. Dies führt dann zum Beispiel dazu, dass eine Beachtung von Vor-

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sprachlich gebraucht werden, haben sie keine Bedeutung. Es werden Regeln befolgt, den Regeln einer konkreten Gegenwart wird aber nicht gefolgt. Damit ähnelt die Alltagssprache einer Theoriesprache, die zwar unter bestimmten Rahmenbedingungen Richtiges zu erkennen gibt, jedoch als reine Erkenntnis noch kein Urteil impliziert.45 Weil nun auch der Alltagssprache das Urteilen fehlt, kann sie sich nicht auf den Begriff der Praxis berufen. Denn diese hat ihr hinreichendes Merkmal nicht in einem schlichten Funktionieren oder der Aussage, so rede man halt. Die alltäglichste Gewohnheit kann damit durchaus eine eingeübte und abstrakte Praktik sein, eine normativ überformte Deutung von Gegenwart, in der sich entweder noch nie oder nicht mehr eine Gemeinschaft frei und intellektuell wiederkennen kann bzw. konnte. Zumindest die Idee der Umgangssprache negiert nun die Abstraktheit einer einfachen Gegenüberstellung zwischen Theorie und Praxis (= eigentlich: Praktik). Ihnen beiden fehlt das Urteilen. Sie mögen systeminterne Zwänge oder individuelle Dränge kennen. Ihnen fehlt aber jede Notwendigkeit und damit Sachlichkeit. Sie reagieren und differenzieren sich aus, ohne aber etwas zu sehen zu geben. Damit hebt die Idee einer Umgangssprache sowohl ein vermitteltes wie unmittelbares Sprechen auf. Sie ist eben weder rein unmittelbar noch rein vermittelt – prophetisch? Das heißt: Eine einfache Gegenüberstellung, die dann noch eine Option entweder für das eine oder andere miteinschließt, reicht nicht hin. Wie in der Einleitung auch, erhält man dann folgendes systematische Bild: Umgangssprache

Fachsprache

Alltagssprache

Wie bei all diesen systematischen Veranschaulichungen dieses Aufsatzes ist die linke Seite dabei selbst ein Urteil. Das heißt: Wenn davon ausgegangen werden müsste, dass es sich um einen rein internen Diskurs handelt (, der durchaus seine Berechtigung hat), sei dieser nun hoch abstrakt oder trete er mit dem Anspruch des Alltäglichen auf, dann kann es sich nicht um Umgangssprache handeln. Daraus folgt: Umgangssprache kann nicht methodisch abgesichert werden. Zur Annahme, dass umgangssprachlich gesprochen werde, ist man dann berechtigt, wenn die Abstraktheit eines inneren oder äußeren leeren Diskurses nicht unschriften gerade Ungerechtigkeit produziert. (Zˇizˇek, Slavoj: Vom geistigen Tierreich; in: Lettre International 100/2013, 63 – 70.) 45 Dass dem so ist, kann an den zahlreichen Bindestrichethiken abgelesen werden sowie dem leeren Gerede von Interdisziplinarität. In beiden wird klar, dass es den öffentlichen Raum im Erkenntnisraum nicht gibt, er sogar sekundär werden kann gegenüber den Ansprüchen privater Interessen. Die Bindestrichethiken zeigen die Not der Frage »Wie urteilen?«. Gute Theorie und gute Interdisziplinarität bewegt sich urteilend im öffentlichen Raum oder macht deutlich, dass noch auf der Erkenntnisebene verharrend ein Urteilen aussteht.

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terstellt werden muss und der Begriff im Sinne Hegels erreicht wurde.46 Dass man aber wirklich umgangssprachlich spricht, hängt letztlich davon ab, ob Gemeinschaft im Sprechen erfahrbar wird. Umgangssprachlich wird also nur dann gesprochen, wenn geurteilt wird oder das Sprechen sich in einem solchen aufhält, also vorausgesetzt werden kann, dass man in einer Sache zusammen ist.47 Die Folge davon ist: Anhand einer reinen Beschreibung von Sprache kann nicht entschieden werden, ob umgangssprachlich gesprochen wird oder nicht. Das Vermeiden von geschachtelten Sätzen oder Fremdworten, kann durchaus Zeichen höchster Abstraktheit sein, die gerade verhindert, dass geurteilt werden kann, in dem Maße wie sie vorgibt, ganz konkret zu sein. Auch kann nicht von der Verwendung von Fremdworten und geschachtelten Sätzen darauf geschlossen werden, es werde nicht umgangssprachlich gesprochen und damit Urteilen unmöglich gemacht. So kann eine Formel durchaus umgangssprachlich sein, wie ein »deutsch« geredeter Satz ein reines Vorurteil. Die Stimme, die dabei vorausgesetzt wird, ist verbunden mit derjenigen Subjektivität, die nicht aus sich selbst heraus redet, so dass umgangssprachlich reden, nicht Recht-habenWollen bedeuten kann. Wenn es um Recht-haben-Wollen geht, dann wird auf jeden Fall nicht umgangssprachlich gesprochen. Denn es wird nicht geurteilt, sondern verurteilt. Die Idee der Prophetie, einer Weise zu sprechen, die sich nicht auf sich selbst beruft, wenn sie wahr ist, und die Verantwortung übernimmt, wenn, aus welchem Grund auch immer, dadurch Gemeinschaft nicht 46 Selbstverständlich ist es fraglich ob der Begriff jemals erreicht werden kann. Hegel gibt das als eine Teleologie vor, vor deren Hintergrund die Bewegung des Geistes entfaltet wird. Wird aber angenommen, dass der logische Schluss im Kontext der Aufhebung Hegels sich unterscheidet von einem einfachen Syllogismus, kann davon ausgegangen werden, dass im Schluss ein messianischer Moment aufblitzt, sodass dieser sich mit dem Urteilsbegriff Arendts kreuzt. Sofern der Schluss ein unableitbares Moment hat, kommt der Geist zu sich selbst, selbst wenn er in der Bewegung als Bestimmtheit sein Gegenüber nicht nur hat sondern auch findet. »Der logische ›Satz‹ ist die Form des Urteils. Die hegelsche Logik des Urteils fällt vollständig zusammen mit der Annullierung dieser Form (…), weil das Urteil sich nun aufhebt (…) zum Schluss.« (Nancy, Jean-Luc: Hegel, aus dem Französischen von Thomas Laugstein, und Jörn Etzold, Zürich 2011, 91 f.) In Kontext dieses Aufsatzes ist der Schluss das wahre Urteil, von dem andere Urteilsformen abgeleitet sind. 47 Im gesamten Aufsatz wird auf emphatische Weise auf das gute Leben, worin Menschen beisammen sind, Bezug genommen, besser : es wurde in Anspruch genommen, ohne dass genauer erläutert worden wäre, noch erläutert hätte werden können, worum es sich dabei denn genau handelt. Die Folge davon ist, dass von außen betrachtet, dieser emphatische Gebrauch wie ein Illusion oder Träumerei wirkt, in sich selbst aber leer ist. Es ist nicht möglich, mit dem Finger auf das gute Leben zu zeigen. Es mag der Beschreibungen zugänglich sein, fällt aber nicht mit diesen zusammen. Das Illusionäre ist aber eine Voraussetzung für Erkenntnis und ihre Kritik, wie schon Kant hervorhebt. Sie entspringt einer Reflexionsdifferenz, die ein Gedankending von einem wirklichen Ding unterscheidet und so die Rede von einem Gegenstand und nicht etwa Objekt möglich macht. (Siehe dazu in aller Ausführlichkeit: Zupancˇicˇ, Alenka: Das Reale einer Illusion; Frankfurt am Main 2001.)

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erfahrbar wird, veranschaulicht genau diesen Zusammenhang. Urteilen hat damit seinen Raum nicht ausschließlich im Meinen, auf gleicher Ebene unterschieden von Wissen oder Glauben. Es steht quer zur richterlichen Kritik der Vernunft in theoretischer und praktischer Weise. Urteilen steckt nicht die Rahmenbedingungen in beiden Hinsichten ab, sondern vollzieht sich in ihnen, geht mit Konzepten um und redet nicht aus ihnen heraus. Auf diese Weise kann es Neues und Neuanfänge geben.48 Urteilen ist reine Gegenwart und so es keine Deutung impliziert, wahr.

48 Dass es darum geht mit Konzepten zu urteilen und nicht allein von ihnen her zu folgern, setzt dabei eine Praxis des Verzeihens und Versprechens voraus. Siehe dazu den Aufsatz von Hans G. Ulrich in diesem Band.

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»Die Zeit ist kurz« (1 Kor 7,29). Verantwortlich leben und handeln in messianischer Zeit bei Giorgio Agamben

Im Folgenden befasse ich mich mit Giorgio Agambens Die Zeit die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief.1 Der Abhandlung ist ein Wort aus Jes 21,11 vorangestellt, das lautet: »Wächter, wie lange noch dauert die Nacht?« (7) Agamben verbindet mit seiner Pauluslektüre eine prophetische Zeitanfrage, die sich im Abstand von etwa 2000 Jahren gerade heute neu stellt. Programmatisch nehmen sich dabei bereits Agambens erste Sätze aus, wenn er schreibt: »Das vordringlichste Ziel dieses Seminars [sc. aus dem das Buch hervorgegangen ist] besteht darin, die Bedeutung der Paulinischen Briefe als grundlegenden messianischen Text der westlichen Kultur wiederherzustellen.« Damit wird angedeutet, dass der Philosoph nicht im strengen Sinn beim Römerbrief verbleibt, aber alle Texte des Apostels Paulus messianisch lesen wird, und zwar weniger als Texte der Kirche, sondern als solche »der westlichen Kultur«. Demnach scheint an der kirchlichen Lesart des paulinischen Messianismus im Laufe der Jahrhunderte etwas entstellt worden zu sein, was der Widerherstellung bedarf. Wir haben also im Folgenden mit einem kulturellen Diskurs zu rechnen, der – über gängige jüdisch-christliche Differenzen hinaus – auf Grundlegendes abzielt. Bei der Lektüre ist Folgendes zu beachten: Die in sechs Tage eingeteilte Schrift trägt für den ersten Tag die Überschrift Paulos doulos Christoffl Je¯soffl (11), mit der der Römerbrief beginnt.2 Paulus, Sklave (des) Messias Jesus. Christûs, so bemerkt Agamben, ist kein Eigenname, sondern bedeutet nach atl. Sprachgebrauch ›Maschiach/Gesalbter‹.3 Agamben übersetzt das griechische Wort

1 Frankfurt am Main 2006, ital. 2000. Die Zahlen in runden Klammern beziehen sich im folgenden Text, wenn nicht anders angegeben, auf dieses Werk. 2 Vgl. die zitierten griechischen Texte, von denen Agamben ausgeht, mit seiner Übersetzung, 165 – 223. 3 Agamben bemerkt mit gewissem Recht schon zu Beginn seiner Auslegung, die Nichtübersetzung des griechischen Ausdrucks Christûs (= Maschiach/Gesalbter), habe dazu geführt, »dass der Ausdruck ›Messias‹ aus dem Paulinischen Text verschwunden ist« (27). Insofern müsse Christologie bei Paulus als Messianologie verstanden werden.

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Christûs konsequent zurück ins Hebräische und spricht jeweils von ›Jesus Messias‹.

1.

Giorgio Agamben als Interpret Walter Benjamins

Agamben ist davon überzeugt, dass die Briefe des Apostels Paulus und Walter Benjamins Thesen Zum Begriff der Geschichte4 sowie sein Theologisch-politisches Fragment5 eine einzigartige Konstellation ergeben. Beide Textsorten seien in eine je krisenhafte Zeit hineingeschrieben. Angesichts heutiger Krisenerscheinungen sei für die paulinischen Texte das »Jetzt ihrer Lesbarkeit« gekommen. Benjamin zufolge tragen Texte der Vergangenheit nicht nur einen Index ihrer Entstehungszeit mit sich, sondern sie warten auch auf die Stunde ihrer Lesbarkeit in einem bestimmten Jetzt, das mit ihrer Entstehung konstellierbar ist. Entsprechend heißt es im Theologisch-politischen Fragment u. a.: »[…] Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks. Die Beziehung dieser Ordnung auf das Messianische ist eines der wesentlichen Lehrstücke der Geschichtsphilosophie. Und zwar ist von ihr aus eine mystische Geschichtsauffassung bedingt, deren Problem in einem Bilde sich darlegen läßt. Wenn eine Pfeilrichtung das Ziel, in welchem die Dynamis des Profanen wirkt, bezeichnet, eine andere die Richtung der messianischen Intensität, so strebt freilich das Glückssuchen der freien Menschheit von jener messianischen Richtung fort, aber wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt gerichtetem Wege zu befördern vermag, so auch die profane Ordnung des Profanen das Kommen des messianischen Reiches. Das Profane also ist zwar keine Kategorie des Reichs, aber eine Kategorie, und zwar der zutreffendsten eine, seines leisesten Nahens. Denn im Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm der Untergang zu finden bestimmt.« (Fragment, 203 f.)

In diesem vergleichsweise frühen, bereits aus den 1920er Jahren stammenden Text bespricht Benjamin vor allem den profanem Geschichtsverlauf im Verhältnis zum messianischen, mit dem das Glücksverlangen der Menschheit verbunden ist. Zur Veranschaulichung verwendet Benjamin das Bild des Flaschenzugs. Profanes und Messianisches scheinen einander zu widersprechen, doch wie beim Flaschenzug, können entgegengesetzt wirkende Kräfte eine 4 Vgl. Benjamin, Walter : Über den Begriff der Geschichte; in: Gesammelte Schriften. Bd. I/2 Frankfurt am Main 1974 [= wa 2 (1980)], 691 – 704. Inzwischen liegt eine kritische Ausgabe der Thesen von G¦rard Raulet vor: Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte; hg. von G¦rard Raulet, Kritische Gesamtausgabe Bd. 19. Berlin 2010. Beide Ausgaben werden im Folgenden zitiert unter GS und KG. 5 Vgl. Benjamin, Walter : Theologisch-politisches Fragment; in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. II/1, 203 – 204.

»Die Zeit ist kurz« (1 Kor 7,29)

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schwere Last in eine bestimmte Richtung bewegen. Benjamin leitet das Fragment mit dem Satz ein: »Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft.« (Fragment, 203) Der jüdische Religionsphilosoph Jacob Taubes betont deshalb, dass es bei Benjamin den Messias gibt und er nicht auf das Messianische oder Politische ausweicht. Natürlich handle es sich dabei nicht um den christlichen Messias, »aber es heißt der Messias«.6 Im Fragment vertritt Benjamin ferner einen überaus betonten Begriff des Glücks, wenn er schreibt: »[…] Der geistlichen restitutio in integrum, welche in die Unsterblichkeit einführt, entspricht eine weltliche, die in die Ewigkeit eines Unterganges führt und der Rhythmus dieses ewig vergehenden, in seiner Totalität vergehenden, in seiner räumlichen, aber auch zeitlichen Totalität vergehenden Weltlichen, der Rhythmus der messianischen Natur, ist Glück. Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis.« (Fragment, 204)

Glück wird bei Benjamin, wie Jacob Taubes interpretiert, mit Untergang oder Vergängnis gleichgesetzt. Dies sei das genaue Gegenteil von Goethes Faust oder von Nietzsches »Alle Lust will Ewigkeit«. (Taubes, 100) Untergang und Vergängnis sind Begriffe, die auch für Agamben wichtig werden. Angesichts solcher Begrifflichkeit legte es sich schon für Jacob Taube nahe, der Frage nachzugehen, ob sich Walter Benjamin damit nicht auf den Apostel Paulus bezieht. Für Jacob Taubes ist dies soviel wie sicher. Er bezieht sich dabei auf 1 Kor 7 und Röm 8, auf die wir noch zu sprechen kommen. Benjamin sehe »die Wehen der Schöpfung, die Vergeblichkeit der Schöpfung.« (Taubes, 101) Auch wenn man nicht sagen könne, Paulus und Benjamin seien im Verständnis des Messias im streng exegetischen Sinn identisch, so hätten doch beide Erfahrungen gemacht, die sie, wie Taubes bemerkt, »durchschütteln« (Taubes, 103). Giorgio Agamben versucht erneut der Frage nachzugehen, welche Theologie sich hinter Benjamins Texten im frühen Theologisch- politischen Fragment und zumal in den erst spät verfassten Thesen Zum Begriff der Geschichte verbergen. Gegen Ende seiner Interpretation unter der Überschrift »Schwelle oder tornada« (153 – 162) kommt Agamben vor allem auf die Thesen Walter Benjamin zurück und beginnt mit der ersten These. Agamben fragt nach der Bedeutung des versteckten buckligen Zwergs im Getriebe des automatischen Schachbretts und vermutet, dass der »Text der Thesen selbst als ein Schachbrett zu betrachten« sei, »auf dem sich eine entscheidende theoretische Schlacht abspielt« (Agamben, 153). Wer aber ist der Theologe, der sich im buckligen Zwerg verbirgt und dennoch spielentscheidend sein soll? Es müsste einer sein, der die gesamten 6 Vgl. Taubes, Jacob: Die Politische Theologie des Paulus, München 1993, 97 – 106, 98.

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Thesen beeinflusst. Gibt es genügend Indizien dafür, dass der Theologe in Zwergsgestalt der Apostel Paulus ist? Gibt es in den Thesen ausreichende Signale oder gar Zitate dafür? Agamben spielt auf Benjamins Kraus-Essay an, wonach gilt: »Ein Wort zitieren heißt es beim Namen rufen« (GW II/1, 362); dadurch werde es zerstörend aus dem Zusammenhang gerissen. (Agamben, 154) Anspielungen auf bestimmte Texte oder Autoren werden, wie Agamben darstellt, bei Benjamin durch Sperrungen hervorgehoben. Wer also ein Wort s p e r r t, macht doppelt darauf aufmerksam. So fällt etwa auf, dass sich in Benjamins Handexemplar bereits in These 2 ein gesperrtes Wort findet. Es heißt dort: »Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine s c h w a c h e messianische Kraft mitgegeben.« (GS I/2 694; KG 30, Zit. Agamben, 154) Warum soll sich die Aufmerksamkeit ausgerechnet auf diese Sperrung richten und warum ist es gerade eine schwache messianische Kraft, »die für Benjamin die Erlösung der Vergangenheit herbeiführen kann« (154)? Die Antwort auf diese Frage führt zu 2 Kor 12,9 f., wo Paulus von der Kraft spricht, die in der Schwachheit zur Vollendung kommt.7Damit ist also ein erster Zitationsbeleg gegeben, der auf Paulus zurückführt. Agamben erinnert sich seiner Betroffenheit, die ihn befiel, als er diesen Bezug in dem von ihm entdeckten Handexemplar Benjamins zum ersten Mal vor Augen hatte. (155) Agamben sieht damit auch bestätigt, dass der bucklige Zwerg in der ersten These für Paulus und seine Theologie steht, von der er heißt, dass diese »heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen« (GS I/ 2, 693). Somit bestimme Paulus Benjamins »testamentarische Zusammenfassung seiner messianischen Geschichtskonzeption« (158). In der fünften These taucht das Wort ›Bild‹ auf. Es heißt im Schlusssatz: »Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.« (GS I/2, 695; KS 32, Zit. Agamben, 158) Agamben ergänzt zur Klärung des Bildbegriffs ein weiteres Wort Benjamins: »[…] Bild ist dasjenige, worin die Vergangenheit mit der Gegenwart zu einer Konstellation zusammentritt. Während die Beziehung des Einst zum Jetzt eine (kontinuierliche) rein zeitliche ist, ist die der Vergangenheit zur Gegenwart eine dialektische, sprunghafte.« ( Zit. 158 aus Ms 474. In: GS I/3, 1242 f.) Bild bei Benjamin, so interpretiert Agamben sei z. B. ein Gegenstand, Kunstwerk, Text, eine Erinnerung oder ein Dokument und somit »alles […], in dem ein Augenblick der Vergangenheit und 7 Agamben verweist auf die Übersetzung des Hieronymus: virtus in infirmitate perficitur. Bei Luther heißt es: »denn mein Kraft ist in den schwachen Mechtig«. (155) Vgl. 2 Kor 12,7 – 10. In schwieriger persönlicher Lage ruft Paulus dreimal den Kyrios an und erhält die Antwort: »Es genügt dir meine Gnade (V 9a). In V 9c und in V 10a wird zweimal das Wort ›Schwachheit‹ verwendet, ehe V 10b mit der Begründung endet: »wenn ich nämlich schwach bin, dann bin ich stark.«

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ein Augenblick der Gegenwart »plötzlich« (ebd. 1243) zu einer Konstellation zusammentreten, in dem sich die Gegenwart in der Vergangenheit erkennen muß und letztere in ersterer ihre Bedeutung und Vollendung erfährt« (158). Somit werde mit ›Bild‹ das gemeint, was Agamben unter ›typologischer Beziehung‹ versteht. Diese Beziehung sei genau »der messianische kairûs«.8 Der erste Satz in der fünften These lautet: »Das wahre Bild der Vergangenheit h u s c h t vorbei.« Darin sieht Agamben eine Anspielung auf 1 Kor 7,31, wo es heißt: »Es vergeht nämlich die Gestalt dieser Welt« (par‚gei gar to sche¯ma tou kosmou totou). Diese Interpretation erscheint mir eher zweifelhaft. Agamben meint: »Vielleicht hat Benjamin aus dieser Stelle die Überlegung gewonnen, daß das Bild der Vergangenheit für immer zu verschwinden droht, wenn sich die Gegenwart nicht in ihm erkennt.« (159) Schrittweise arbeitet sich Agamben an Benjamins Begriff der Jetztzeit heran. Dem Ausdruck ho nyn kairûs entspreche bei Benjamin der Ausdruck ›die-jetztZeit‹. In These 18 heißt es: »[…] Die Jetztzeit, die als Modell der messianischen in einer ungeheueren Ab[b]reviatur die Geschichte der ganzen Menschheit zusammenfaßt, fällt haarscharf mit d e r Figur zusammen, die die Geschichte der Menschheit im Universum macht.« (GS I/2, 705; KG [=These XIX], 43) Auffallend ist der Verweis auf »die Geschichte der Menschheit im Universum«9. Deshalb sei an Agambens Aufnahme des Theorems der Rekapitulation nach Eph 1,10 erinnert.10 Erlösung ist bei Benjamin auf die Vergangenheit gerichtet, je8 Benjamin verwendet ›Bild‹ für das griechische Wort ›Typos‹. (Vgl. Röm 5,14: typos tou m¦llontos) und erinnert damit an die Übersetzung dieser Stelle bei Luther mit: »welcher ist ein Bilde des der zukunfftig war«; in 1 Kor 10,6 übersetzt Luther ›Typos‹ mit »Fürbilde«. (159) 9 Der Anklang der These an kosmische Zusammenhänge ist auffällig. Möglich, dass Benjamin auch hier um die Betonung der kosmischen Versöhnung in den Deuteropaulinen (Eph und Kol) weiß. 10 Mit dem Theorem der Anakephalaiosis im Eph 1,10 umschreibt Agamben selbst die messianische Zeit als eine Zeit der ›Rekapitulation‹, die eine Art summarischer Verkürzung aller Dinge im Himmel und auf Erden darstellt. (90) Die Rekapitulation sei eine andere Version der typologischen Beziehung, »die sich im messianischen kairûs zwischen Gegenwart und Vergangenheit darstellt« und wodurch die Vergangenheit ihre Rettung erfährt. (91) Eingespannt in seine eigene Vergangenheit und ausgestreckt auf die Zukunft könne Paulus, wie er in Phil 3,12 f. zeigt, »weder sich selbst ergreifen noch vollenden – er kann nur das eigene Ergriffensein ergreifen«. (92) – Agamben führt – im Kontext seiner Ausführungen zum Verständnis des Nomos bei Paulus – aus, in die repräsentierte Zeit werde ein »Bruch und eine Verspätung« eingeführt, »die aber der Zeit nicht einfach als Supplement oder als unendliche Ausdehnung hinzugefügt werden können. Im Gegenteil ist das Messianische – die »Unverfügbarkeit des ›Jetzt‹ – genau die Leerstelle, durch die man die Zeit ergreifen und unsere Zeitvorstellung vollenden und enden lassen kann.« (114) Wenn ich mich nicht täusche, arbeitet Agamben hier mit einer Phänomenologie des Zeitbewusstseins, das von Augustinus bis Husserl, Levinas und Marion den Augenblick der ›Urimpression‹ betrifft, in der bei Levinas der Andere in meine Zeit ›einbricht‹. Es wäre genau jenes passive Zeitbewusstsein der Unverfügbarkeit, das sich etwa im Älterwerden anzeigt. Es sind aber auch jene Nullpunkte, in denen das Ein- vom Ausatmen getrennt ist oder der Herzschlag pulsiert. – Der

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doch in der Weise, dass die Vergangenheit wie ein Bild vorbeihuscht; wenn sie von der Gegenwart im Augenblick des Aufblitzens nicht ergriffen wird, fällt die Vergangenheit der Vergessenheit anheim. Agamben bemerkt zunächst, dass der Begriff im handgeschriebenen Exemplar beim ersten Auftreten in These 14 mit Anführungszeichen geschrieben ist, was darauf hindeutet, der Begriff sei nicht so gebraucht, wie ihn etwa Schopenhauer und vor allen Heidegger gebraucht hätten. (Heidegger wendet ihn auf die ›Uhrzeit‹ an, die den ekstatischen Charakter der Zeit verdecke.) Dies deutet erneut auf die messianische Zeit, wie sie Paulus als ho nyn kairûs benennt. Im letzten Satz der These 18/19 führe die Spur auf Luthers Übersetzung zurück: »alle ding zusammen verfasset würde in Christo« (160). So zeigt Agamben, dass das gesamte Vokabular der Thesen paulinisch durchsetzt ist. Im Mittelpunkt stehe bei Benjamin ohnehin der Begriff der ›Erlösung‹, den Luther für das griechische Wort apoly´trosis gebrauchte; dieses verweise auf die Befreiung aus der Sklaverei (sei sie jüdisch oder hellenistisch gemeint oder auf beides angewendet). »In jedem Fall scheint die Ausrichtung auf die Vergangenheit, die Benjamins Messianismus kennzeichnet, ihren Maßstab in Paulus zu haben.« (161) So ist Agamben schließlich davon überzeugt, dass die paulinischen Texte über Walter Benjamin vermittelt »das Jetzt ihrer Lesbarkeit« erfahren, weil die Krise von einst und die Krise von heute eine enge Konstellation bilden.

2.

Messianisches Zeitverständnis

Mit dem Begriff der ›Jetztzeit‹ haben wir bereits ein Element messianischen Zeitverständnisses vorweggenommen, das ebenso zu diesem neuen Abschnitt gehört. Die Zeit, die Paulus als Apostel erlebt, ist Agamben zufolge nicht das Ende der Zeit. Den Apostel interessiere deshalb nicht der letzte Tag, und auch nicht »der Augenblick, in dem die Zeit aufhört, sondern die Zeit, die zusammengedrängt ist und zu enden beginnt (1 Kor 7,29)« (75). Die jüdische Apokalyptik habe unterschieden zwischen dem olam hazzeh und dem olam habba, d. h. die Welt von der Schöpfung bis zu ihrem Ende und die dann kommende Welt, »die unzeitliche Ewigkeit«. (75 f.) Die messianische Zeit jedoch, die der Apostel meint und die er erlebt, sei weder die Zeit der Schöpfung noch die Zeit nach der Zeit, weder die chronologische Zeit noch das apokalyptische Eschaton, sondern es ist »die Zeit, die zwischen diesen beiden Zeiten übrig bleibt, wenn man mit einer messianischen Zäsur […] die Teilung der Zeit selbst teilt« (76). nähere Vergleich einer Philosophie der Zeit bei Benjamin und Levinas wäre spannend, zumal beide voneinander keinerlei Kenntnis hatten.

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Die Zeit des Endes darf deshalb nicht mit dem Ende der Zeit verwechselt werden. Mit dem Ereignis der Auferstehung, so argumentiert Agamben, beginnt die Zeit »sich zusammenzuziehen und zu enden«. (77) Diese zusammengedrängte Zeit, ist die »Jetztzeit« im Benjaminischen Sinn und stellt nichts anderes dar als die Übersetzung des von Paulus gebrauchten griechischen Ausdrucks ho nyn kairos. Für Paulus gilt nämlich: »Das messianische Ereignis hat schon stattgefunden, die Rettung ist für die Gläubigen schon vollendet, gleichwohl impliziert sie für ihre wirkliche Vollendung eine weitere Zeit.« (83) Agamben wendet sich an dieser Stelle ganz dezidiert gegen Gershom Scholem, für den die messianische Antinomie »als ein Leben im Aufschub, in dem nichts endgültig vollendet werden« könne, zu verstehen ist. (83) Der messianische ho nyn kairos fällt Agamben zufolge nicht mit einem chronologischen Zeitpunkt innerhalb ihrer Darstellung zusammen. Das Ende der Zeit wäre aber eine vorgestellte Zeit oder eine Bild-zeit, die auf einer Linie den chronologischen Endpunkt der Linie darstellen würde. Auf die schwierige Passage, in der Agamben mit Bezug auf französische Sprachphilosophen die messianische Zeit als von der normalen Zeit als chronos und somit als Chronologie unterscheidet, ist hier nicht näher einzugehen.11 Wichtig ist das Ergebnis, das Agamben herausarbeitet. Parousia bedeute nicht die zweite Ankunft Jesu, gewissermaßen ein zweites messianisches Ereignis, das auf das erste folge und es integriere. Vielmehr gelte: »Der Messias ist schon gekommen, das messianische Ereignis hat schon stattgefunden, aber seine Anwesenheit enthält in ihrem Innern eine andere Zeit, die deren parousia entfaltet, nicht um sie aufzuschieben, sondern um sie zu ergreifen.« (85) Hier erinnert Agamben an ein Diktum Walter Benjamins, wonach jede Sekunde die kleine Pforte sei, durch die der Messias eintreten könne, und folgert daraus: »Der Messias macht immer schon seine Zeit – d. h. er macht seine Zeit und 11 Agamben beruft sich hier auf das Theorem der »operativen Zeit« bei dem Sprachgelehrten Gustave Guillaume. »Gemäß Guillaume verfügt der menschliche Verstand über die Erfahrung der Zeit, nicht aber über deren Anschauung und muß daher, um sie darzustellen, auf räumliche Konstruktionen zurückgreifen. […] Jeder Vorgang des Denkens – und sei er noch so schnell – benötigt eine bestimmte Zeit, die sehr kurz sein kann, die deswegen aber nicht weniger real ist. Guillaume definiert diejenige Zeit als ›operative Zeit‹, die der Verstand benötigt, um eine Bild-Zeit zu realisieren.« (79) Bild-Zeit betrifft jene Darstellung einer Zeitlinie, auf der Vergangenheit und Zukunft eingetragen sind, die durch die Gegenwart unterbrochen wird. Solche Zeit ist immer schon konstruierte Zeit. In der Phänomenologie spricht man seit Husserl (und mit Levinas) von synthetischem Zeitverständnis, zu dem das menschliche Bewusstsein fähig ist, aber zugleich ahnt, dass die wirkliche Zeit, über die der Mensch nicht verfügen kann, von anderer Art ist. Emmanuel Levinas zufolge zeigt sie sich im Phänomen des Alterns, aber auch schon in der Geburt und dann vor allem im Tod. Die messianische Zeit ist nicht chronologische, sondern kairologische Zeit. Letztere signalisiert den Einbruch in die (Bild-) Zeit und wird deshalb bei Levinas ›Diachronie‹ genannt. Agamben spricht im Folgenden von einer ›anderen Zeit‹ oder von einem ›inneren Bruch in der Zeit‹.

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vollendet sie zugleich.« (85)12 Parousia, so hieß es schon zuvor, bedeutet deshalb die vollständige Anwesenheit des Messias und lässt die Zeit implodieren »in einen anderen Äon, die Ewigkeit« (77). Zum besseren Verständnis der messianische Zeit bietet Agamben S. 77 ein Schema an: Es gibt die Zeitlinie A als Zeit der Schöpfung, es gibt B das messianische Ereignis, das in die Zeit der Schöpfung einbricht und mit C jenen olam habba eröffnet, in den die Zeit implodiert. Daraus ergibt sich, »daß die messianische Zeit – ho nyn kairûs – weder mit dem Ende der Zeit und dem Äon der Zukunft noch mit der profanen chronologischen Zeit zusammenfällt, ohne aber der letzteren äußerlich zu sein. Sie ist vielmehr ein Teil der profanen Zeit, der zusammengedrängt und dadurch gänzlich verwandelt wird […]« (77) Noch besser fände Agamben allerdings das Schema, in dem nach dem Schnitt des Apelles13 die messianische Zeit C jene Zeit ist, die sowohl die Schöpfungszeit als auch das Eschaton teilt. (Vgl. S. 77 unten) Aber alle solche Schemen seien nur dargestellte Zeiten, die sich nicht mit der Zeit decken, die Agamben (mit Gustave Guillaume) die »operative Zeit« nennt, die auf dem Phänomen beruht, dass jeder gesprochene Satz eine (synthetische) Zeitstruktur impliziert, die gegenüber dem vorausgegangenen Gedanken eine Verspätung und einen Bruch darstellt. (Vgl. 80) Daraus folgt eine mögliche Definition der messianischen Zeit, die Agamben nach wiederholten Anläufen vorschlägt: »Sie ist die Zeit, die die Zeit benötigt, um zu Ende zu gehen – oder genauer, die Zeit, die wir benötigen, um unsere Zeitdarstellung zu beenden, zu vollenden.« Also keine darstellbare Zeitlinie der chronologischen Zeit, auch kein aus der chronologischen Zeit herausgebrochenes Segment, das von der Auferstehung bis zum Ende der Zeit dauert. »Sie ist vielmehr die operative Zeit, die in der chronologischen Zeit drängt, die diese im Innern bearbeitet und verwandelt, die Zeit, die wir benötigen, um die Zeit zu beenden – in diesem Sinne: die Zeit, die uns bleibt.« Die so verstandene messianische Zeit ist nach 1 Kor 7,29 die zusammengedrängte Zeit (ho kairûs synestalm¦nos est†n), die zu dem führt, was noch zu besprechen sein wird. Um sich das Gesagte besser vorstellen zu können, verweist Agamben auf das 12 Vgl. Anhang B der Thesen: »Denn in ihr [sc. der Zukunft] war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.« (GS I/2 704) – Würde man Agambens Passage von der messianischen Jesusinterpretation her lesen, wäre sie im Sinne Benjamins und Agambens wohl ganz unjüdisch; die Ankunft des Messias in der Person Jesu von Nazareth müsste jüdisch ja gerade bestritten werden. 13 Vgl. Agamben 62. Es geht um die zwei Rivalen Protogenes und Apelles. Der Erstere zeichnet eine Linie von schier unsichtbarer Feinheit. Der Zweite, Apelles, »teilt mit einem Stift die von seinem Rivalen gezeichnete Linie mit einer noch feineren Linie« (62). Die messianische Trennung von Juden und Juden, Christen und Christen, Heiden und Heiden gleicht einem Schnitt des Apelles, der so verfeinert ist, dass die Trennungen nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Es bleibt immer noch ein weiterer Rest. (Vgl. 62 – 71)

»Die Zeit ist kurz« (1 Kor 7,29)

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rabbinische Verständnis des Sabbat als eines »Modell[s] der messianischen Zeit«. Einerseits sei der Sabbat der Tag der Vollendung, andererseits der der Unterbrechung. »Der Sabbat – die messianische Zeit – ist nicht ein weiterer, den anderen Tagen äquivalenter Tag. Er ist vielmehr der innere Bruch in der Zeit, durch den man – um Haaresbreite – die Zeit ergreifen und sie vollenden kann.« (85) Entsprechend sei das Messianische bei Paulus kein drittes Zeitalter zwischen den beiden genannten Zeiten (dem Äon seit der Schöpfung und dem kommenden Äon), sondern jene Zäsur, »in der die Vergangenheit in die Gegenwart verschoben und die Gegenwart in die Vergangenheit ausgedehnt wird«. (88) Damit verlässt Agamben freilich die Sprachphilosophie Guillaumes und kommt auf Walter Benjamin zurück. Die messianische Zeit ist – so in einem weiteren Präzisierungsversuch – »ein Spannungsfeld, in dem die beiden Zeiten zu einer Konstellation zusammengedrängt werden, die der Apostel den nyn kairûs nennt: In ihr gewinnt die Vergangenheit (das Abgeschlossene) wieder Aktualität und wird unabgeschlossen, während die Gegenwart (das Unabgeschlossene) eine Art von Abgeschlossenheit erfährt.« (89)14

Damit taucht zugleich ein Aspekt auf, dem zufolge die messianische Zeit vor allem auf der Rettung des Verlorenen, d. h. der in der Vergangenheit nicht realisierten Glückspotentiale der Menschheit, besteht.15

14 Dieses Theorem könnte m. E. durchaus auf das Verhältnis der beiden Testamente bezogen werden, das in der frühkirchlichen Theologie eine so zentrale Rolle spielte. Von Benjamin her ließe sich gerade das zu einfache Schema Verheißung-Erfüllung überwinden. Vgl. die Konsequenzen, die Agamben selbst für die Behandlung der Typologien zieht. 15 Freilich ergibt sich für mich, dessen Phänomenologie des Zeitbewusstseins von Emmanuel Levinas geprägt ist, ein Grundproblem. Walter Benjamin schreibt Thesen Über den Begriff der Geschichte und verharrt dadurch unausgesprochen bei einem synthetisierenden Zeitverständnis. Dieses ist allerdings durch Benjamins Rückbezug auf Paulus und in Auseinandersetzung Benjamins mit dem Historischen Materialismus in der Lage, ein kontinuierliches Zeitverständnis, in dem alles gleichrangig wie auf einem Rosenkranz angeordnet und eingeordnet ist, zu kritisieren. Geschichte ist ereignishaft-kairologisch und es gibt die Erfordernis nach Erfüllung eines ausgebliebenen oder abgebrochenen oder unterdrückten Glücks. Agamben kann von Paulus her auch begründen, dass das messianische Subjektverständnis den neuzeitlichen Subjektbegriff selbst verändert. Die messianische Figur des ›Als-ob-nicht‹ impliziert auch einen eigenartigen Schwebezustand des Schon und Nochnicht, der diachronische Brüche aufweist. Aber die ›Vergängnis‹ einer Schöpfung in Geburtswehen und die Natalität des Menschen sowie sein Tod, die beide auf die Priorität der Alterität verweisen und die in die messianische Zeit eine Diachronie einzeichnen, von der her die Frage der Erlösung der unvordenklichen Vergangenheit und der diachronen Zukunft, die sich von aller Totalität unterscheidet, verlangt über den Begriff der Geschichte hinaus jene Transzendenz der Immanenz, von der die paulinische Theologie geprägt ist.

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3.

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Messianischer Lebensstil des ›Als-ob-nicht‹

Die Frage nach der Figur des Als-ob-nicht taucht bei Agamben schon relativ früh auf. Paulus versteht sich selbst, wie es im Römerbrief heißt, als berufener Apostel (kle¯tos apostolos), was darauf hinweist, dass für ihn als die gängigen Einteilungen, ›beschnitten‹ oder ›unbeschnitten‹, ›Jude‹ oder ›Heide‹ nicht mehr gelten. Was dieser Ruf oder diese Berufung bedeutet, hat Paulus, wie Agamben ihn versteht, zumal »in einer außerordentlichen Passage« des ersten Korintherbriefes für eine messianische Lebensgestaltung umschrieben. Es geht um »Berufung und Widerrufung« (34) in einem. In seinem lesenswerten, jüngst veröffentlichten Aufsatz hat Erwin Dirscherl darauf hingewiesen, dass Agambens Interpretation auf dem Hintergrund des gravierenden Einschnitts gelesen werden muss, den Paulus in der Unterbrechung seines Lebens vor Damaskus erfahren hat.16 1 Kor 7,29 – 31 lautet bei Agamben in seiner möglichst genauen Wiedergabe des griechischen Originals: »Dies aber sage ich, Brüder [und Schwestern], die Zeit ist zusammengedrängt [ho kairûs synestalm¦nos est†n]. Was bleibt, ist, damit die Frauen Habenden als ob nicht Habende seien und die Weinenden als ob nicht Weinende […] und die Kaufenden als ob nicht Behaltende und die die Welt Nutzenden als ob nicht Nutzende. Es vergeht nämlich die Gestalt dieser Welt.« (Agamben, 34; kursiv : J.W.)

Agamben erinnert an den synoptischen Sprachgebrauch, wonach ho¯s einen Vergleich einleitet (z. B. Mt 18,3: wenn ihr nicht wie die Kinder [ho¯s ta paid†a] werdet) oder als Verneinung verwendet wird (wie in Mt 6,5: seid nicht wie die Heuchler [ouk ¦sesthe ho¯s hoi hypokrita†] ›Mensch/ihr‹ und ›Kind‹ bzw. Mensch/ihr und Heuchler werden miteinander verglichen, »ohne daß die beiden Ausdrücke deswegen identisch wären« (35). Im ho¯s me¯ (als ob nicht) erkennt Agamben jedoch eine Sprachform des Apostels von hoher messianischer Bedeutung. Der Apostel sage weder : ›Weinende als ob Lachende‹; er sage auch nicht: ›Weinende als ob (d. h.: =) nicht Weinende‹. Vielmehr sagt er : ›Weinende als ob nicht Weinende‹. (35) Nicht von ungefähr enden die Aufzählungen der Beispiele mit ho¯s-me¯ in V 31 mit dem Satz, dass die Gestalt dieser Welt vergeht [par‚gei gar to sche¯ma tou kosmou toutou]. Wenn aber die Gestalt oder Seinsweise dieser Welt vergehen wird, so bedeutet dies: »Indem das Messianische im Als-ob-nicht alles auf sich selbst bezieht, löscht es dieses nicht einfach aus, sondern lässt es vorübergehen, bereitet sein Ende vor. Es ist […] das Vorbei16 Vgl. Dirscherl, Erwin: Paulus und seine messianische (Lebens-)Zeit der Wandlung. Nachdenken über die Verbindung von Biografie und einer Theologie der Zeit im Dialog mit biblischer Exegese und G. Agambens Römerbiefkommentar ; in: ders., Das menschliche Wort Gottes und seine Präsenz in der Zeit, Paderborn u. a. 2013, 137 – 164, hier bes. 139 – 147.

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gehen der Gestalt dieser Welt.« (35 f) Sie h u s c h t gleichsam vorüber. Messianisch in der Form des Als-ob-nicht zu leben, bedeutet bei Paulus deshalb, die Berufung (kle¯sis) »zu ›gebrauchen‹, und die messianische kle¯sis [Berufung] ist umgekehrt etwas, das man nur gebrauchen und nicht besitzen kann.« (37) Somit stellt Paulus den Gebrauch der Güter und Dinge deren Besitzen gegenüber. Messianisches Leben verzichtet auf Herrschaft durch Besitz,17 an die der Mensch sein ganzes Herz hängt. »Die Ankunft des Messias bedeutet, daß alle Dinge […] vom Als-ob-nicht eingenommen und mit einer einzigen Geste zugleich berufen und widerrufen sind.« Dies bedeute freilich die Infragestellung des Subjekts durch den messianischen Lebensstil des Als-ob-nicht: »Die messianische Berufung disloziert und annulliert zuallererst das Subjekt: Das ist der Sinn von Gal 2,20: ›nicht mehr ich lebe [zo¯ ouk¦ti egû], sondern der Messias lebt in mir [ze¯ de en emoi Xristûs].‹« (53) Der Berufene lebt im Messias Jesus »als jenes ›nicht mehr ich‹« (53). Agamben kommt in einer verwobenen Argumentation also zu der These, dass die messianische Berufung eine Differenz im Subjekt anzeigt, die zugleich eine Spannung zu sich selbst erzeugt; die Identität des Berufenen ist in Frage gestellt. Daraus zieht er weiter unten u. a. die Folgerung: »Jude, als ob nicht Jude, Grieche als ob nicht Grieche.« (65)18 Dies führt zu einem Subjektverständnis, das nicht mehr von der Identität geprägt ist. Zugleich spricht sich Agamben mit Bezug auf Walter Benjamin entschieden dafür aus, dass eine Rettung, die den Namen verdient, das Unrettbare betreffen und insofern die Rettung selbst noch die 17 Agamben bemerkt, dass hier bei Paulus vorbereitet werde, was später in der »klassenlosen Gesellschaft« als der säkularisierten Ausdrucksgestalt messianischer Zeit gedacht werden sollte. (41) Agamben geht in manch weiteren Verästelungen der Unterscheidung zwischen dem paulinischen Als-ob-nicht und – davon deutlich zu unterscheiden – einem Denken im Stil des Als ob nach und spricht sich gegen eine Philosophie des Als-ob aus, als würde all das, was Religion und Ethik betrifft, nur den Schein des Als-ob an sich haben. Philosophie gebe es beispielsweise bei Adorno nur deshalb noch, weil sie bisher verfehlt hat, das zu verwirklichen, was ihr eigentlicher Gegenstand wäre: Erlösung und Versöhnung. Ähnlich wie Jacob Taubes hält Agamben Adornos Negative Dialektik für ein unmessianisches Buch, sehr im Gegensatz zu Walter Benjamin, dem Agamben seine Pauluslektüre maßgeblich verdankt. Im Gegensatz zum Ressentiment Adornos ist Agamben zufolge das Messianische bei Paulus »der Ort einer Erfordernis, die sehr genau die Erlösung dessen, was gewesen ist, betrifft. Es ist nicht ein Standpunkt, von dem aus man die Welt anschauen könnte, als ob die Erlösung vollendet wäre.« (53) Vgl. zum Begriff ›Erfordernis‹, Agamben, 50 f.; zu Adornos Philosophie des Als-ob vgl. 46 – 50. Ich bezweifle, ob die Kritik dem gesamten Werk Adornos, zumal seiner kritischen Ästhetischen Theorie, gerecht werden kann. 18 Deshalb gebe es nicht viel Sinn, bei Paulus von Universalismus zu sprechen, wie es Badiou versucht habe. Bei Paulus, so in Röm 9 – 11, sei Israel der Rest, d. h. weder das Ganze noch ein Teil von ihm. »Das auserwählte Volk – jedes Volk – definiert sich im entscheidenden Augenblick notwendigerweise als einen Rest, als ein Nicht-Alle.« (68) »Der messianische Rest überschreitet unrettbar das eschatologische Ganze, er ist das Unrettbare, das die Rettung möglich macht.« (70 f.)

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gewesene Vergangenheit umfassen muss. »Agamben spricht von einer Notwendigkeit der Widerrufung, die in dem Wort ›gebrauchen [chre¯sai] mitschwingt«, schreibt Erwin Dirscherl, und charakterisiert die messianische Berufung so, dass sie »weder ein Recht noch eine Identität, sondern ›eine allgemeine Potenz (sei), die man gebraucht, ohne je ihr Inhaber zu sein‹.« (Dirscherl, 152; Agamben, 37) Im Übrigen hat Martin Heidegger, wie Agamben in einer ausführlichen Anmerkung (45 f.) ausführt, schon zu Beginn der 1920er Jahre die paulinische Figur des ›Als-ob-nicht‹ in seinen Vorlesungen herausgearbeitet. Heidegger habe dies in Sein und Zeit in der wichtigen Unterscheidung zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit wieder aufgenommen.19 Unter der Überschrift »Das Subjekt und seine mögliche Verlorenheit« bespricht Erwin Dirscherl die gravierenden Konsequenzen, die Agamben für das Subjekt und dessen Zeit zieht. (153) Unter der Modalität der ›Erfordernis‹20 greift Agamben nämlich Walter Benjamins Eintreten für die Rettung des Verlorenen auf, die oben schon kurz berührt wurde. Es gebe die Erfordernis, Vergessenes in Erinnerung zu rufen, zumal wenn es sich um die nicht oder noch nicht realisierten Möglichkeiten des Glücks im Vergangenen handelt. Hier wird für Agamben die historische Verantwortung von besonderer Bedeutung, wenn er fast pathetisch schreibt: »Dieser Erfordernis nachzukommen ist die einzige historische Verantwortung, die ich bedingungslos auf mich nehmen würde. Wenn wir ihr hingegen nicht nachkommen, wenn wir sowohl auf der kollektiven als auch auf der individuellen Ebene die Beziehung zur Masse des Vergessenen verlieren, die uns wie ein stiller Golem begleitet, dann wird sich in uns das Vergessene auf eine destruktive und perverse Art zeigen, in der Form 19 Im Kontext des Zweiten Tages kommt Giorgio Agamben in philosophiegeschichtlichen Reminiszenzen auf Martin Heidegger und Theodor W. Adorno zurück. (bes. 45 – 47) Seit der Veröffentlichung der Phänomenologie des religiösen Lebens (Heidegger, Martin Gesamtausgabe, Bd. 60. Frankfurt am Main 1995) ist aus dem dortigen fünften Kapitel unter der Überschrift »Charakterisierung der urchristlichen Lebenserfahrung« bekannt, dass Heidegger auch auf das paulinische ho¯s me¯ zu sprechen kommt. (116 – 125) Dabei spielen auch schon die Verse 1 Kor 7,20 – 24 eine Rolle, wo es in V 20 heißt: »Jeder soll in der Berufung, in der er berufen wurde, bleiben.« Beides, Sklavesein und Freisein ist ein ›Brauchen‹; deshalb solle jeder in dem, worin er berufen ist, vor Gott bleiben. Heidegger interpretiert: »Also: der Christ tritt nicht aus der Welt heraus. Ist einer als Sklave berufen, so soll er gar nicht in die Tendenz verfallen, daß er bei Steigerung seiner Freiheit für sein Sein etwas gewinnen könnte. Der Sklave soll Sklave bleiben. Es ist gleichgültig, in welcher umweltlichen Bedeutung er steht. Der Sklave als Christ ist frei von aller Gebundenheit, der Freie aber als Christ wird Sklave vor Gott.« (118 f.) 20 Agamben schreibt über den Satz von Leibniz: omne possibile exigit existere, wonach alles Mögliche verlangt, wirklich zu werden, und kehrt den Satz prompt um in: omne existens exigit possibilitatem suam, ›alles Wirkliche erfordert seine eigene Möglichkeit, erfordert, möglich zu werden‹. »Die Erfordernis ist eine Beziehung zwischen dem, was ist oder gewesen ist, und seiner Möglichkeit, und diese geht der Wirklichkeit nicht voraus, sondern folgt ihr.« (Agamben, 51)

»Die Zeit ist kurz« (1 Kor 7,29)

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dessen, was Freud die Rückkehr des Verdrängten nannte, d. h. die Rückkehr des Unmöglichen als solchem.« (52)

Hier gehe es um all das, was als Gewesenes die ›Erlösung‹ erfordert. In diesem Zusammenhang kommt Agamben kurz auf das achte Kapitel des Römerbriefes zu sprechen, genauer auf Röm 8,20 – 26. (53 f.) Der Philosoph weiß natürlich, dass das Wort ›Vergängnis‹ nicht in Benjamins Thesen Zum Begriff der Geschichte zu finden ist, sondern im Theologisch-politischen Fragment steht. (155) Benjamin könnte Luthers Übersetzung vergengliches Wesen in Röm 8,21 im Auge gehabt haben. Im Kontext des Als-ob-nicht führt Agamben aus, Paulus schreibe über die Vergänglichkeit (mataiote¯s), der die Schöpfung unterworfen ist, und führe Klage über ihre Geburtswehen. An die Stelle wohlgeformter Gebete der Berufenen treten die »unaussprechlichen Seufzer« (Röm 8,26). Daraus folgert Agamben: »Deswegen kann, wer dem Verlorenen treu bleibt, nicht an irgendeine Identität oder weltliche kle¯sis glauben. Das Als-ob-nicht ist in keiner Weise eine Fiktion […] und hat nichts mit einem Ideal zu tun. Die Angleichung an das, was verloren geht und vergessen [wird], ist absolut: ›Wir sind wie der Abfall der Welt geworden, wie der Abschaum von allem.‹ (1 Kor 4,13). Die paulinische kle¯sis ist eine Theorie über die Beziehung zwischen dem Messianischen und dem Subjekt, die ein für allemal mit dessen Ansprüchen auf Identität und Eigentum abrechnet.« (53)

So kommt Agamben zu dem Ergebnis: »Das messianische Subjekt betrachtet die Welt nicht, als ob sie gerettet wäre. Vielmehr betrachtet es die Rettung, indem es sich – mit den Worten Benjamins – im Unrettbaren verliert. So kompliziert ist die Erfahrung der kle¯sis, so schwierig ist es, im Ruf zu verharren.« (54) Es ist das messianische Ereignis, das sich für Paulus in der Auferstehung schon ereignet hat und das sich nicht in Gleichnissen des Als-ob ausdrückt; vielmehr sei dieses Ereignis in der Jetztzeit (en to¯ nyn kairo¯) anwesend als Widerrufung jeden weltlichen Zustands, die diesen von sich selbst befreit, um seinen Gebrauch zu ermöglichen« (55).21 An dieser Stelle möchte man am liebsten an das Exerziti21 Ich vermute, dass Agamben in dieser Passage nicht mit dem Nihilismus liebäugelt. Wenn sich die messianische Zeit nämlich tatsächlich auf die Auferstehung von JesusMessias gründet, wäre jedenfalls nicht zu folgern, dass ein Leben im Modus des ho¯s me¯ der völligen Vernichtung anheimfalle, wenngleich auch die menschliche Lebensgestalt mit der Gestalt der Welt vergeht. – Wolfgang Schrage schreibt zum Verständnis des paulinischen Weltverhältnisses in Absetzung von dualistisch-negativen oder monistisch-naiven Grundeinstellungen: »Nach Paulus setzt die in V 29 – 31 vorliegende Weltdistanz die Erledigung der Welt durch Christus (vgl. Gal 6,14) und eine von Christus geschenkte Freiheit voraus (vgl. Phil 4,13). Auch der pantheistisch-monistische Weltbegriff, für den der Kosmos sich als zweckvollvernünftige Weltordnung darstellt, in der sich der Mensch organisch eingegliedert versteht, ist etwas toto coelo anderes als die paulinische Weltsicht, die Gott und Welt unterscheidet und eine creatio ex nihilo sowie das nahe Ende und das Gericht über die Welt im Blick hat.« Schrage, Wolfgang: Der erste Brief an die Korinther, EKK VII/1 (1995), 172.

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enbuch des Ignatius von Loyola denken, in dem es im sog. ›Fundament heißt: »Deshalb ist es notwendig, uns gegen alle geschaffenen Dinge gleichmütig [›indifferent‹] zu stimmen, insoweit es dem eigenen Ermessen unseres freien Willens anheimgestellt und nicht verboten ist […]«22 Agamben stellt aber auch eine Differenz zwischen Paulus und Walter Benjamin heraus, wenn er schreibt: »Während nämlich bei Paulus die Schöpfung gegen ihren Willen der Vergänglichkeit und der Zerstörung unterworfen ist und deswegen in Erwartung auf Erlösung seufzt und leidet, ist bei Benjamin [im Theologisch-politischen Fragment] die Natur durch eine geniale Umkehrung gerade aufgrund ihrer ewigen und totalen Vergänglichkeit messianisch. Und der Rhythmus dieser messianischen Vergänglichkeit ist das Glück.« (155).

Der paulinische Kontext bestätigt die von Agamben festgehaltene Differenz zu Benjamin. Aber von Zerstörung der Welt ist bei Paulus nicht die Rede, wohl aber von der messianischen Hoffnung, und diese Hoffnung ist nicht die messianische Natur, sondern der Messias Jesus, der durch seinen Geist in den stöhnenden Herzen der Glaubenden wohnt.23 Eine theologische Auseinandersetzung mit dem Philosophen legt es deshalb nahe, einen kurzen Blick auf Röm 8,31 – 39 zu werfen. Mit V 31 beginnt nämlich ein Abschnitt, den Ulrich Wilckens in seinem Kommentar zum Römerbrief24 mit der Überschrift »Das Siegeslied der Christen« (169) versieht und Heinrich Schlier von der »alles überwindende[n] Liebe Gottes in Jesus Christus«25 spricht. Paulus zieht die Konsequenzen aus allem, was er von 5,1 bis 8,30 ausgeführt hat. Wenn dieser Gott (ho Theûs) mit uns ist, wer könnte dann überhaupt gegen uns sein? Eine verwegene Behauptung, die Paulus in V 32 sehr grundsätzlich begründet. Dieser Gott hat seinen Sohn nicht geschont, sondern ihn »für uns alle« (hyp¦r p‚nton hymûn) übergeben, »preisgegeben, ausgeliefert, überliefert« »in einem absoluten Sinn« (Schlier, 277). Der 22 Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen. 12. Auflage Freiburg 1957, 39. In Anm. 2 heißt es: »Indifferenz ist innere Unabhängigkeit von den Geschöpfen, weil nur Gott als Ziel genügt.« 23 Taubes habe zwar als im Theologisch-politischen Fragment als Erster den Bezug zu Paulus festgestellt; doch an dieser Stelle meldet Agamben Kritik an Taubes an. Es seien »substantielle Unterschiede« in der Interpretation des Fragments, die freilich schon Irving Wohlfahrt in seinem Bonner Vortrag im Jahr 2000 festgehalten hat. Vgl. Wohlfahrt, Irving, Nihilistischer Messianismus. Zu Walter Benjamins Theologisch-politischem Fragment. In: Noor, Ashraf/Wohlmuth, Josef, Hg., ›Jüdische‹ und ›christliche‹ Sprachfigurationen im 20. Jahrhundert. Studien zu Judentum und Christentum [Bd. 1], Paderborn u. a. 2002, 131 – 214. Wohlfahrts Kritik bezieht sich in erster Linie auf die Interpretation des Theologisch-politischen Fragments, wie der Titel verrät. Dabei spricht er Benjamin »eine ekstatische Hingabe ans Irdische« (187) zu, während Paulus eher auf eine Erlösung aus dem Leiden durch Vernichtung der Schöpfung abziele. Dies scheint mir für Paulus nicht zuzutreffen, wie aus den folgenden Überlegungen ersichtlich werden dürfte. 24 Vgl. Wilckens, Ulrich: Der Brief an die Römer; EKK VI/2 (1980). 25 Vgl. Schlier, Heinrich: Der Römerbrief; HTKNT (1977), 275.

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Gedanke des Heils, auf das sich die Sehnsucht der Schöpfung richtet, klingt hier erneut an. (Vgl. Wilckens, 174) Deshalb fragt Paulus. Warum Gott mit Christus nicht auch uns alles zur Gnade werden lasse (echar†sato). Paulus fragt weiter, ob es einen von den Berufenen gibt, der vor Gottes Gericht angeklagt wird. Die Antwort ist kurz: Gott ist ein Rechtfertigender. Sofort folgt die nächste Frage, ob einer das Urteil spricht. Antwort: Jedenfalls nicht der Messias Jesus, der gestorben, ja auferweckt ist, der auch zur Rechten dieses Gottes sitzt und für uns auch (als Anwalt) eintritt.26 Was zuvor in Röm 8,26 f. vom Geist gesagt wurde, wird nun in V 34 auch von dem gesagt, der gestorben und auferweckt worden ist. Er tritt für uns ein. Doch während der Geist in 8,27 aus unseren eigenen Abgründen heraus alles vor Gott hinträgt, ist der Messias in V 34 der zu Gott Erhöhte und hat dort seinen Platz. Aber er ist uns dennoch nicht fern; denn Paulus fragt sogleich, wer uns von der Liebe des Messias Jesus trennen könne. Mit dem Wort ›Liebe‹ fasst Paulus alles zusammen, was er von Jesus/Messias/Christus sagen kann. Sie ist Jesu SelbstHingabe am Kreuz, die uns zugute kommt und in der Gottes Liebe am Werk ist. (Schlier, 278) V 35 fragt, wer uns von dieser Liebe trennen könnte, und zählt die Kräfte auf, die es nicht vermögen: Weder Bedrängnis oder Not, noch Verfolgung, Hunger, Kälte, Gefahr oder Schwert. Zum Beleg zitiert Paulus in V 36 aus Ps 43,23 (LXX): »Um deinetwillen sind wir den ganzen Tag dem Tod ausgesetzt, wir werden behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat.« In all dem, so fährt V 37 fort, sind wir mehr als Sieger (hyperniko¯men) kraft des uns Liebenden. Was dieser ›Übersieg‹ bedeutet, fasst Paulus beinahe hymnisch in V 38 – 39 zusammen: »Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe dieses Gottes, die im Messias Jesus ist, unserem Kyrios.« (Übers. J.W.)

Noch einmal wird auch hier deutlich, welche kosmischen Dimensionen der Glaube in seiner Ausgesetztheit und Gewissheit hat. »Nicht nur der Mensch, sondern auch der Kosmos, in dem er lebt, machen das menschliche Dasein aus.« (Schlier, 280) Mit diesem hymnischen Höhepunkt, in dem alles Stöhnen und alle Geburtswehen vergessen zu sein scheinen, endet das achte Kapitel. Aber es scheint nur so. Denn mit der ganzen Brutalität wird aus Ps 43 zitiert, was nicht krasser gesagt werden könnte: Der berufene Apostel versteht sich nicht nur als Abschaum der Welt, sondern er kommt sich jeden Tag wie ein Schaf auf der 26 Während Schlier in V 33 – 35 nur Fragesätze erkennt, bleibt Wilckens bei der Fassung von Frage und Antwort.

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Schlachtbank vor. Das ist gewiss ein metaphorischer Vergleich, der aber alles andere als nur ein als-ob ist. Das ist die Wirklichkeit der apostolischen Berufung selbst. Wir sind jeden Tag dem Tod ausgeliefert (thanatofflmetha), heißt es in der griechischen LXX-Sprache des Psalms. Es klingt ungeheuerlich, wenn Paulus sagt, es sei gerade dieser tägliche Tod, der durch den, der uns liebt, überboten wird. Dem Tod wird nicht nur der Sieg des Lebens gegenübergestellt, sondern der Über-Sieg aus der Kraft der Liebe, die eine geschenkte Liebe ist. So wie die Geburtsleiden der Schöpfung überboten werden von der Hoffnung, die mehr hofft, als nur irgendwie durchzukommen. »Wir sind auf Hoffnung hin gerettet.« (Röm 8,24) Aber gerade deshalb rücken uns die Geburtswehen des Kosmos auf den Leib. In den Schlussversen des Kapitels sind es die Strapazen des Apostellebens, in denen sich die Geburtswehen austoben, aber genau so und nicht anders wird die Hoffnung zur Gewissheit, dass die Liebe stärker ist als der Tod. Hier kommt die Eigenart messianischer Berufung und der damit verknüpften Sprengung subjektiver Identität zu ihrer abgründigen Gipfelaussage.27 Das Verständnis eines messianischen Lebensstils und seiner spezifischen Hoffnung für die Rettung des Unrettbaren, die Walter Benjamin ebenso beschäftigt hat, wie sie Giorgio Agamben der gegenwärtigen Kultur zu bedenken gibt, stellt eine Herausforderung sowohl für die christliche Theologie als auch für die säkulare Gegenwartskultur dar und betrifft nicht zuletzt auch die gegenwärtige christliche Religionsdidaktik, die sich fragen muss, ob sie u. U. von einem kritischen messianischen Zeitbewusstsein zu wenig geprägt ist. Vermutlich ist es nicht einfach, den biblischen Texten im Alltag der Schule den Kairos ihrer Lesbarkeit zu eröffnen.28

27 Ulrich Wilckens betont in seiner Zusammenfassung, dass dieses ›Hohelied der Heilsgewißheit‹ (177) auch liturgischen Charakter erhält. (Vgl. 179) Aber Wilckens betont auch, von »jederart Enthusiasmus« sei diese Heilsgewissheit dadurch zu unterscheiden, »daß sie nicht an der ganzen Erfahrungswirklichkeit der Entfremdung vorbei, sie überspringend und über sie sich hinausschwingend, sondern mitten aus ihr heraus und bewußt an ihr teilhabend, die Wirklichkeit ihrer Überwundenheit durch Kreuz und Auferstehung Christi ihr entgegensingt« (179). Mit Agamben könnte man folgern, hier liege so etwas wie die Umschreibung messianischer Liturgie vor, die der gesamten christlichen Ökumene (auf)gegeben ist. 28 Ein weiterer Gedanke von erheblicher Brisanz, den ich hier nur noch andeuten kann, betrifft die Hermeneutik der Typologie. Wenn die messianische Zeit Vergangenheit und Gegenwart auf den kommenden Äon hin zusammenschließt, dann ist der atl. Typos nicht nur der Schatten, sondern dann gibt es eine Korrespondenz zwischen Altem und Neuem Testament, die nicht nur ein Auslegungsprinzip ist. Vielmehr gilt Agamben zufolge: »Wichtiger ist die Spannung, die Vergangenheit und Zukunft, typos und antitypos, zu einer untrennbaren Konstellation zusammendrängt und verwandelt. Das Messianische ist nicht einfach eine der beiden Grenzen dieser typologischen Beziehung: Es ist diese Beziehung selbst.« (88) So wäre beispielsweise das Zitat aus Ps 43 so eng mit unserem eigenen Leben zu konstellieren, dass daraus die messianische Lebensform ihre fast erschreckende Herausforderung erhält.

»Die Zeit ist kurz« (1 Kor 7,29)

4.

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Glauben mit Herz und Mund

Giorgio Agambens fünfter und sechster Tag behandelt den Glauben. (101 – 152) Der Glaube bei Paulus »besteht aus der völligen Gewissheit von der notwendigen Einheit von Verheißung und Realisierung. […] Die Verkündigung (sc. des Apostels) ist die Form, die die Verheißung in der Verdichtung der messianischen Zeit erhält.« (104) Zuvor hieß es schon: »Der Glaube ist das Im-Akt-Sein, die en¦rgeia der Verkündigung.« (103)29 Agamben ist – gegen Martin Bubers Zwei Glaubensweisen – davon überzeugt, dass das griechische Wort pistis gleichbedeutend ist mit dem hebräischen emunah. (127)30 In der griechisch-römischen Welt sei der Glaube grundgelegt »in der ältesten Sphäre des Vor-Rechts«, d. h. in der Welt des Schwörens und des Vertrauens. Verheißung und Gesetz (epangel†a und nomos) werden bei Paulus vor allem dadurch gegenübergestellt, dass der erste Bund mit Abraham ein Bund der Verheißung ist. Ganz in die Nähe von pistis trete die charis (Gnade), die »eine unentgeltliche Leistung« darstellt und »von den obligaten Fesseln der Gegenleistung und des Befehls« befreit ist. (133) Für Paulus ist die Gnade ein Übermaß (perisse†a) und kein bloßer Ausgleich nach begangener Sünde.31 Aus der Analyse des Glaubensbegriffes zieht Agamben weitreichende Konsequenzen: Paulus wisse nicht, dass Jesus der Messias ist, sondern er kenne nur ›Jesus Messias‹. (142) Jesus ist der Messias sei keine Ausdrucksweise des Paulus. Das sein oder ist sagt der Apostel von Jesus nicht aus. Was bedeutet diese Un-

29 Ein eigenes Thema, auf das ich hier nur hinweise, betrifft die Außerkraftsetzung (katargein) des Gesetzes (nomos). »Das messianische Gesetz ist das Gesetz des Glaubens und nicht einfach die Negation des Gesetzes […]« (108) »Das Messianische ist nicht die Zerstörung, sondern die Deaktivierung und die Unausführbarkeit des Gesetzes.« (111) Nach 2 Kor 3,12 – 13 ist der nomos zugleich deaktiviert und vollendet. »Was deaktiviert ist, was aus der en¦rgeia entlassen wird, wird deswegen nicht vernichtet, sondern bewahrt und zu seiner Vollendung festgehalten.« (112) (Vgl. ›aufheben‹ bei Hegel). Von der Außerkraftsetzung des nomos ist kein weiter Weg zu Carl Schmitts Theorem des Ausnahmezustands. »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« So lautet der erste Satz der Politischen Theologie von 1922. Auch wird das Gesetz nicht einfach aufgehoben, sondern teil- und zeitweise außer Kraft gesetzt. Agamben zieht daraus weitreichende Konsequenzen, wenn er über das Geheimnis der paulinischen anomia schreibt: »Die Enthüllung dieses Geheimnisses bedeutet, dass in der messianischen Zeit die Unwirksamkeit des Gesetzes und die substantielle Illegitimität jeder Macht ans Licht treten.« (125) 30 Emunah geht auf das hebräische Grundwort aman zurück, das ›vertrauen‹ oder ›sich einlassen‹ bedeutet und im liturgischen Amen nachklingt. 31 Gnade und Gabe gehören insofern engstens zusammen, wobei Agamben auf Marcel Mauss aufmerksam macht. »Die Gnade ist nicht die Grundlage des Tausches und der sozialen Verpflichtung, sondern eher deren Unterbrechung. Die messianische Geste begründet nicht, sondern vollendet.« (138)

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terscheidung zwischen Jesus ist der Messias und Jesus Messias?32 ›Messias‹ ist für Paulus kein Prädikat, das dem Subjekt eines Satzes hinzugefügt wird, »sondern etwas, was untrennbar von ihm ist, ohne deshalb einen Eigennamen zu bilden« (143). Der Glaube des Paulus an Jesus Messias ist »eine Erfahrung des Seins jenseits sowohl der Existenz als auch der Essenz, jenseits sowohl des (sprachlichen) Subjekts als auch des Prädikats. Ist dies aber nicht genau das, was sich in der Liebe ereignet? Die Liebe erträgt keine Prädikation und hat nie eine Qualität oder eine Essenz zu ihrem Gegenstand […] Die Liebe kennt keine Gründe – deswegen ist sie bei Paulus eng mit dem Glauben verbunden […]« (Vgl. 1 Kor 13,4 – 7) (143)

Es geht in keiner Weise primär um die fides quae, d.h einen Glauben als inhaltliche Aussage, »daß jener bestimmte Mensch der Messias ist usw.«. Daraus folgt, dass es um eine Primärform des Glaubensvollzuges (fides qua) geht, den Agamben so umschreibt: »Ich bin zu Jesus einfach hingezogen, so dass »‹nicht ich lebe, sondern der Messias in mir‹ » [Gal 2,20] (144). Worin besteht dann aber das Wort des Glaubens? In einem eigenen Abschnitt kommt Agamben auf Röm 10,6 – 10 zu sprechen und vergleicht die Stelle mit Dtn 30,11 – 14. Es handelt sich im Folgenden um eine der dichtesten Stellen in Agambens Kommentierung. (144 – 152) Zunächst wird das nahe Wort des einstigen Gebotes zum Wort des Glaubens (to re¯ma te¯s p†steo¯s). Das Wort ›nahe‹ habe eher zeitliche als räumliche Bedeutung und leite sich etymologisch von engy´e¯s (= Bürgschaft, Pfand) ab. (Vgl Hebr. 7,22: Jesus als ›Bürge‹ (¦ngyos) des stärkeren Bundes). Insgesamt gilt: »Der Glaube im Herzen ist weder ein Für-wahr-Halten noch die Beschreibung eines inneren Zustandes, sondern betrifft die Legitimation. Erst das Aussprechen im Mund vollendet die Rettung. Weder Glossolalie ohne Bedeutung noch einfach referentielles Wort: Vielmehr erwirkt das Wort des Glaubens seinen Sinn durch sein eigenes Ausgesprochenwerden. Wir müssen hier an so etwas wie eine performative Wirkung im Wort des Glaubens denken, die im Aussprechen selbst in der Nähe von Mund und Herz realisiert wird.« (146)

Austins berühmtes Theorem How to do things with words klingt an. »Mit Worten Dinge zu tun«, sei »keine unschuldige Angelegenheit«. (147) Auch beim Sprachphilosophen Êmile Benveniste verweise das autoreferentielle Sprechen nicht heimlich auf eine Sache, die der Referent selbst hervorbringt. Vielmehr bestehe das performative Sprechen darin, dass die denotative (= inhaltlich aussagbare) Eigenschaft der Sprache aufgehoben wird. Der konstative Charakter eines Dictums in seiner Inhaltlichkeit wird aber dann aufgelöst, wenn es nicht mehr um eine Mitteilung geht, sondern wenn das Wort Ich schwöre oder Ich 32 Vgl. Êmile Benvenistes Unterscheidung zwischen Nominalsatz und Verbalsatz, die Agamben aufgreift. (142)

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beschließe hiermit vorausgeht. Wie im Ausnahmezustand »hebt die Sprache im Performativen ihre Denotation deshalb auf, um ihre Verbindung zu den Dingen zu begründen«. Das bedeute aber nicht, dass das Gesagte das faktisch Wahre sei, sondern nur, »dass das dictum selbst ein factum ist, und dass es als solches diejenigen Personen verpflichtet, vor denen es ausgesprochen wurde« (148 f.). Das Wort schwört gewissermaßen »als die grundlegende Tatsache auf sich selbst« (149). Es geht um die unbedingte Verlässlichkeit des menschlichen Sprechens. Agamben schreibt mit Berufung auf Michel Foucault, das Geständnis des Sünders (exhomolûge¯sis) sei ebenfalls performativ, da nicht der Inhalt als solcher wichtig ist, sondern das Aussprechen des Wahren selbst, nämlich der auf sich geladenen Schuld. »Das performativum fidei stellt zwischen dem Performativen des Schwurs und demjenigen der Buße die ursprüngliche messianische – d. h. christliche – Erfahrung des Wortes dar.« (149) Wiederum zieht Agamben weitreichende Konsequenzen: Für Paulus bestehe »die homolog†a nicht zwischen Wort und Ding, sondern innerhalb der Sprache selbst, in der Nähe von Mund und Herz. Jede Offenbarung ist immer zuallererst Offenbarung der Sprache selbst, Erfahrung eines reinen Ereignisses des Wortes, das jede Bedeutung überschreitet und gleichwohl von zwei entgegengesetzten Spannungen belebt ist: Die erste wird von Paulus nomos genannt. Der nomos versucht, den Überschuss zu begrenzen, indem er ihn nach Vorschriften und semantischen Inhalten artikuliert. Die zweite Spannung hingegen fällt mit der pistis zusammen und ist darauf gerichtet, den Überschuss jenseits jeder bestimmten Bedeutung offenzuhalten.« (150)

Agamben bleibt aber hier noch nicht stehen. Das reine Sagen, »ein Wort, das sich stets in der Nähe seiner selbst hält, kann weder ein bedeutendes Wort sein, das wahre Aussagen über Zustände trifft, noch ein juristisches Performativum, das sich selbst als Tatsache setzt« (152). Dann folgt der Satz, der nicht überlesen werden darf: »Es gibt keinen Inhalt des Glaubens. Das Wort des Glaubens aussprechen bedeutet nicht, wahre Aussagen über Gott und die Welt zu verkünden. An Jesus Messias zu glauben, bedeutet nicht, etwas von ihm zu glauben […] und der Versuch der Konzil[i]e [n], in den sy´mbola einen Inhalt des Glaubens zu formulieren, kann in diesem Sinne nur als eine erhabene Ironie gelten.« (152)33 33 Agamben bemerkt, dass sich in den Glaubens-Symbolen des 4. Jh. die Akzente zu verschieben beginnen. Wenn das Wort der p†stis zurück- und das des nomos an erste Stelle tritt und – wie sich Agamben ausdrückt – »das performativum fidei gänzlich vom performativum sacramenti verdeckt wird, dann wird das Gesetz selbst starr, verkümmert die Beziehung unter den Menschen und verliert jede Gnade und jede Vitalität« (150 f.). Hier wird allerdings unter der Hand aus dem Performativ des Nomos ein Performativ des Sakramentes, während das Sakrament nach theologischem Verständnis doch gerade als Inbegriff des wirksamen Wortes, d. h. als performativum fidei schlechthin zu gelten hat. Kein Wunder, wenn von da

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Agamben zufolge wird für Paulus die Gnade in der Schwachheit am wirksamsten. Der Glaube lässt insofern Rechts- und Wirklichkeitszustände fallen. Aber genau dadurch wird es nach Agambens Verständnis möglich, diese Zustände frei zu gebrauchen. Es ist eine ähnliche Figur, die wir von oben bereits kennen. Wenn die Sprache gelöscht wird (vgl. 1 Kor 13,8), gilt umso mehr : »Auf diese Weise ist sie Zeuge dessen, was im Gebrauch für immer unausgesprochen und unbedeutend nahe beim Wort bleibt.« (152)34

5.

Kritische Hermeneutik und Religionsdidaktik

Es ist mir wichtig, am Ende meines kurzen Einblicks einige Konsequenzen für religionsdidaktische Reflexion und religionspädagogisches Handeln zu ziehen. Das Christentum hat mit der Mitgift aus dem Judentum das Versprechen auf ›Glück‹, ›Erlösung‹ und – zusammenfassend – ›Heil‹ in seinem messianischen Erbe. Das Zweite Vatikanische Konzil hat in Nr. 12 der Kirchenkonstitution Lumen Gentium keine Scheu, die Christenheit als messianisches Volk anzusprechen, dem es aufgegeben ist, den Glauben als messianische Hoffnung durch die Zeit, die bleibt, zu tragen – hin bis zur Implosion der Zeit in die Ewigkeit, wie sich Agamben ausdrückt. (Vgl. auch LG Nr. 48) Agambens Interpretation des Römerbriefes ist ein Versuch, den jüdischen Paulus mit zeitgenössischen jüdischen Positionen ins Gespräch zu bringen, beide philosophisch zu durchdringen und der Gegenwartskultur zu unterbreiten. Mir scheint, dass Agamben damit auch die Praktische Theologie einlädt, der jeweiligen Gegenwart mit kritischer Hermeneutik gegenüberzutreten und mit der Zuversicht des Apostels Paulus aus auch das Dogma in Misskredit gerät. (Vgl. 151) – Origenes habe bereits in der Interpretation von Röm 10,6 – 10 darauf hingewiesen, dass das nahe Wort des Glaubens die Gegenwart Jesu im Sprechenden bedeute, der Jesus Christus mit dem Mund bekennt. Er erfährt die absolute Nähe des Wortes selbst. Wer könnte das besser sagen! Aber ebenso klar sollte sein, dass auch nach katholischem Dogmenverständnis, die sprachlichen Aussageformen gegenüber der fides qua immer sekundären Charakter haben und vom Glaubensvollzug ausgehen und auf ihn zurückbezogen werden müssen. 34 Ein Vergleich zwischen den phänomenologischen Reduktionsverfahren der Glaubenssprache bei Agamben und Levinas könnte sich nahe legen, würde aber den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Levinas ist sich jedenfalls bewusst, dass es ohne ›Gesagtes‹ nicht geht, wenngleich eine aussagenorientierte traditio immer Gabe oder Verrat sein kann. Agambens Absage an jegliche Inhaltlichkeit des Glaubens belässt der Glaubenssprache kaum noch eine Chance, der Verständigung oder gar dem theologischen Diskurs zu dienen. Ich folge als Dogmengeschichtlicher Agamben am wenigsten, wenn er die christologischen Aussagen der frühen Kirche in die Kategorie ›erhabene Ironie‹ einordnet. Dies sage ich, obwohl ich Agamben darin zustimme, dass das Offenbarungswort als Wort absoluter Nähe ins Herz gelegt wird und performative Kraft entfaltet. Diese wirkt aber noch nach, wenn die Sprache des Glaubens seine denotativen Ausdruckformen sucht und findet, die auf ihre Herkunft auf die Glaubensakte reduzierbar bleiben.

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einen messianischen Lebensstil zu erlernen, der aus kritischer Distanz zu einer vergänglichen Welt für die Rettung des Verlorenen einzutreten fähig und bereit ist. Agamben beendet statt eines eigenen Schlusswortes seine Pauluslektüre mit einem weiteren Text Walter Benjamins. Daran lässt sich rückschauend zunächst zusammenfassen, wie kühn das hermeneutische Unterfangen ist: Es gilt, die paulinischen Texte nicht nur historisch-kritisch zu lesen, sondern – wie Agamben sagt – dialektisch. Darunter versteht er, wie gezeigt, eine Lektüre, in der Texte als Ergebnis bestimmter Konstellationen blitzhaft aufleuchten, in erfahrener Krise den zeitlichen Hiatus von Einst und Jetzt überwinden und so zu überraschenden ›Bild‹-Interpretationen führen. Es heißt bei Benjamin: »[…] Jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit. In ihm ist die Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen geladen […] Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt […] Das gelesene Bild, will sagen, das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt.« (162)35

Lesen – ein gefährliches Unterfangen. Das ist ein herausforderndes Programm auch für religionspädagogische Lernversuche! Nicht zuletzt durch den Rückbezug auf die Geschichtshermeneutik Walter Benjamins hat Giorgio Agamben – im Anschluss an Jacob Taubes – einen Text mit erheblichem Streitpotenzial vorgelegt. Der Hinweis Agambens, dass er die paulinischen Texte in benjaminischer Hermeneutik lesen wollte, zeigt, dass mit Benjamins messianischer Geschichtshermeneutik auch ein Stück jüdischer Denkgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts in die Auslegung eingegangen ist, die an Gesprächspartner Benjamins wie Ernst Bloch, Gershom Scholem oder Franz Rosenzweig erinnert. Es ist auch erstaunlich, dass Agambens Paulusinterpretation, die den Apostel als jüdischen Autor liest, sich mit jenen christlichexegetischen Bemühungen trifft, die Paulus in neuer, nachreformatorischer und jüdischer Perspektive zu lesen versuchen.36 35 Zit. aus: Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Erster Band. Gesammelte Schriften V/1 (1982), 578. 36 Vgl. Frankemölle, Hubert: Zur Auslegung des Neuen Testaments im Kontext des Judentums und die kirchliche Rezeption der Bibel heute; in: ders.: Das Evangelium des Neuen Testaments als Evangelium aus den heiligen Schriften der Juden; Münster 2013, 275 – 302, hier bes. 286 – 293 (Lit. 287, Anm. 13); vgl. ders.: Aspekte der Zeit im Römerbrief des Paulus. Eine Auseinandersetzung mit Giorgio Agambens ›Die Zeit, die bleibt‹; ebd. 174 – 196. Ich habe gegenüber dem Autor, mit dem ich freundschaftlich verbunden bin, schon geäußert, dass seine kritische Auseinandersetzung bei aller berechtigen exegetischen Kritik an Agamben dem Philosophen nicht in jeder Hinsicht gerecht wird.

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Der Bonner Pastoraltheologe Jörg Seip hat Agambens Römerbriefkommentar und seine Rede, die er 2009 in Notre Dame in Paris gehalten hat (Kirche und Reich) in vier Anwendungsfeldern der gegenwärtige Pastoraltheologie zu bedenken gegeben.37 Diese versuche ich meinerseits in eigener Verantwortung auf die Religionsdidaktik zu übertragen und in folgenden Punkten fragend zur Diskussion zu stellen: 1. Wie hält es gegenwärtige Religionsdidaktik mit der Spannung zwischen dem Zeitverständnis des säkularen Alltagslebens und dem messianischen Zeitverständnis? Vermag sie angesichts der Faszination technischer Errungenschaften und des Konsumüberangebots gegenwärtiger Gesellschaften dem paulinischen Lebensstil des Als-ob-nicht eine Chance zu geben, wenngleich damit ein gewisses Maß an ›Weltentsagung‹ verbunden ist, weil alles Irdische nur zu gebrauchen, nicht aber zu besitzen ist?38 2. Verfällt eine um die Schüler und Schülerinnen werbende Religionsdidaktik der Gegenwart verständlicherweise nicht allzu leicht der Versuchung, auf kritisch Auseinandersetzung mit der Gegenwart zu verzichten und die Rettung des Verlorenen zu vergessen? Oder wird die Religionsdidaktik vor der ›Vergängnis‹ der Schöpfung mit ihrem Übermaß an Leiden und Katastrophen eher resignieren als – wenigstens leise – in den Hoffnungsgesang des österlichen Halleluja einzustimmen? 3. Kann man einer heutigen Schülerschaft zumuten, ihr mögliches Verständnis von messianischer Hoffnung ins Gespräch zu bringen mit denen, die in der säkularen Welt der Vergänglichkeit alle Hoffnung auf Rettung des Unrettbaren aufgegeben haben? Erscheint es heute lehrbar, die Dinge in der Zeit, die bleibt, im Licht der Auferstehung Jesu zu sehen und die Welt durch verantwortliches Handeln ihrer Ewigkeitsgestalt entgegenzuführen? 4. Ist die gegenwärtige Religionsdidaktik angesichts einer tiefen Glaubenskrise in Europa für eine Lesekultur biblischer und kirchlicher Texte gerüstet, durch welche vergangene Lebenswelten des Glaubens konstellativ vergegenwärtigt und in neue Lebenswelten des Glaubens überführt werden? Traut sich die Religionsdidaktik überhaupt noch zu, mit den gegenwärtigen Schülerinnen 37 Vgl. Seip, Jörg: Messianische Pastoral. Überlegungen nach Giorgio Agambens Pauluslektüren; in: Im Angesicht der Anderen (FS J. Wohlmuth); hg. von Florian Bruckmann und Ren¦ Dausner, Paderborn u. a. 2013, 441 – 460. Hier bes. 456 – 460. 38 Insofern steht die ›Entweltlichung‹, von der Papst Benedikts XVI. in seiner der Freiburger Rede gesprochen hat, in einer gewissen Nähe zum messianischen Lebensstil, den Paulus unterbreitet und Agamben der Gegenwartsgesellschaft nahelegt. Daraus ist freilich alles andere als Weltverachtung abzuleiten, weil die Grundhaltung des ho¯s me¯ oder der ignatianischen Indifferenz erst ermöglicht, die Schöpfung als Gabe des Schöpfers anzunehmen und verantwortlich mitzugestalten. Die Option messianischen Lebensstils sollte deshalb dringend in den Kanon der Kompetenzen aufgenommen werden, um die sich heutige Religionsdidaktik bemüht.

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und Schülern einen Weg der Bekehrung zu suchen, an dessen Ende die messianische Grunderfahrung des Paulus stehen kann: »Nicht mehr ich lebe, sondern Jesus Messias lebt in mir.« (Gal 2,20)?

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Moralische Bildung durch Zustimmung. Ein Versuch zu verstehen, wie ethisches Lernen sich vollzieht verbunden mit einer empirisch qualitativen Untersuchung ethischen Lernens im Religionsunterricht an einer beruflichen Schule am Beispiel der Friedensethik Ethisches Lernen geschieht nicht mit einem Mal, ist nicht irgendwann ausgelernt, sondern bleibt immer ein anfängliches Unternehmen, weil es ausgerichtet ist auf ein ›affektives Geltenlassen anderer‹1 und damit verbunden auch auf die affektive Geltung einer Praxis gemeinsam geteilten Lebens und Handelns. Solche Geltung wird erlebt in der immer wieder neuen Begegnung mit Menschen und ihrem Leben, die oft unvorhersehbar ist und doch Kontinuität und Verläßlichkeit erfordert. Woher kommt aber die Fähigkeit zu solcher affektiven Kontinuität, die sich eben nicht abstrakt als Akzeptanz ethischer Normen erfassen läßt und weniger noch als Einsicht in gute moralische Gründe? Das affektive Erleben basiert auf Zustimmungen, die das gemeinsame Leben oder auch die besondere Begegnung mit anderen ausgestalten, führt in Zustimmungen, die zumeist nicht-reflexiv vermittelt sind und doch Übereinkunft im gemeinsamen Leben ermöglichen. Solche Zustimmung zu dem, was uns widerfährt und in dem wir uns bewegen hat Dietrich Ritschl kurz und prägnant mit dem Satz gefasst: »›Ja, so geht es‹, ›so gelingt das Leben‹.«2 Er folgt damit den Überlegungen von John Henry Newman, der diesen Vorgang der Zustimmung in seinen Reflexionen zu einer zustimmungsfähigen Bildung wahrgenommen hat, indem er Zustimmung vom rein begrifflichen Erfassen absetzt und als ein dem Menschen innewohnendes Vermögen (illative sense) beschreibt, das Menschen befähigt »in der konkreten, auf Erfahrungsmomenten beruhenden Situation, das ›Richtige zu tun‹ bzw. zu einem sicheren Urteil zu finden.«3 Zustimmung ist nach Newman »umfassender, wirklicher, lebendiger, ohne dabei das Reflektive auszuschlie1 Honneth, Axel: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie; Frankfurt am Main 2005, 53. 2 Ritschl, Dietrich: Konzepte. Ökumene, Medizin, Ethik. Gesammelte Aufsätze; München 1986, 161. Vgl. dazu Ulrich, Hans G.: Regeln im Reden von Gott – ein Bericht; in: Implizite Axiome. Tiefenstrukturen des Denkens und Handelns; hg. von Wolfgang Huber, Ernst Petzold, Theo Sundermeier ; München 1990, 151 – 174. 3 Ulrich, Jörg: John Henry Newman; in: BBKL Band XVII, hg. von Friedrich Wilhelm Bautz und Traugott Baut; 4. Auflage Herzberg 2000, 1007 – 1037, Sp. 1019.

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ßen.«4 Der Zustimmung haftet nichts Bedrängendes an, sondern sie verweist, wie bereits Epiktet festhält, auf etwas von Natur Freies im Menschen.5 Was also geschieht in der Zustimmung? Kann die Konzentration auf den Vorgang der Zustimmung dazu anleiten, die innere Dynamik ethischen Lernens genauer zu erfassen? Kommt mit Zustimmung der Vorgang ethischen Lernens genauer in den Blick und damit eine Praxis des Urteilens, die mehr bezeichnet als nur eine abstrakte Regelbefolgung oder Erfüllung normativer Setzungen? Im Folgenden wird der ethischen Reflexion zuerst zugemutet, in den Kindergarten zu gehen, um in einer Betrachtung dessen, was an diesem Ort früher ethischer Bildung geschieht, der Eigenart der Zustimmung auf die Spur zu kommen. Dieser erste Zugang führt dann in die Reflexion, die die Zustimmung in ihrem Vollzug genauer wahrzunehmen versucht, um daran Kriterien zu erarbeiten, die sie erkennbar machen und ihr Profil wenn auch in aller Vorläufigkeit zeigen. In einem zweiten Teil soll exemplarisch an einer empirisch qualitativen Untersuchung ethischen Lernens im Religionsunterricht an einer beruflichen Schule aufgezeigt werden, was zustimmungsfähige Lernprozesse auszeichnet und welche Bedeutung dem Lernen zukommt, wenn es sich auf Zustimmungen ausrichtet, die im Lernen christlicher Religion eröffnet werden. Die aus der Reflexion gewonnenen Kriterien, die Zustimmung vorläufig erfassen lassen, werden in diesem Zusammenhang auf ihre Tragfähigkeit für die Unterrichtsforschung religiöser/ethischer Bildungsprozesse an konkreten Unterrichtswegen überprüft.

1.

Ethische Reflexion auf den Vorgang der Zustimmung

1.1

Eine Erinnerung an einen Anfang ethischen Lernens

Alles, was wir wirklich wissen müssen, haben wir im Kindergarten gelernt, behauptet Robert L. Fulghum; und das besonders auch in moralischer Hinsicht. Dieser Ort früher ethischer Bildung zeichnet sich aus durch Regeln, die das gemeinsame Leben und Handeln tragen, und die eine eingespielte Praxis vor Augen führen: »Das meiste von dem, was ich wirklich darüber wissen muß, wie ich leben, handeln und sein soll, habe ich im Kindergarten gelernt. Nicht auf dem Gipfel des Universitätshügels fand sich die Weisheit, sondern dort, im Sandkasten des Kinderhorts. Diese Dinge habe ich gelernt: Teile alles mit anderen. Spiele fair. Schlage nicht andere Menschen. Lege 4 Ebd. 5 Epiktet: Dissertationes III, 22, 42 f.; zitiert nach: Epiktet. Vom Kynismus, hg. und übersetzt von Margarethe Billerbeck, Leiden 1978, 23.

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Sachen dorthin zurück, wo du sie gefunden hast. Räume die von dir verursachte Unordnung auf. Nimm nicht Dinge, die dir nicht gehören. Entschuldige dich, wenn du jemandem wehgetan hast. Wasch vor dem Essen die Hände. Zieh hinterher die Spülung. Warme Kekse und kalte Milch tun dir gut. Führe ein ausgewogenes Leben. Lerne ein bißchen, denke ein bißchen, zeichne und male und singe und tanze und spiele und arbeite jeden Tag ein bißchen. Halte jeden Nachmittag ein Nickerchen. Wenn du in die Welt hinausgehst, paß auf den Verkehr auf. Nehmt euch an den Händen und bleibt zusammen. Verlerne das Staunen nicht. Weißt du noch, das kleine Samenkorn in der Plastiktasse? Die Wurzeln wachsen nach unten und die Pflanze nach oben, und niemand weiß wirklich, wie oder warum, aber wir alle sind so. Goldfische und Hamster und weiße Mäuse und auch der Same in der Plastiktasse – sie alle sterben. Wir genauso. Und dann denk an das Buch über Dick und Jane und das erste Wort, das du gelernt hast, das größte von allen: DA. Alles, was du wissen mußt, steckt irgendwo darin. Die Goldene Regel und Liebe und Körperhygiene. Ökologie und Politik und vernünftiges Leben. Stell dir vor, wie viel besser die Welt wäre, wenn wir alle – die ganze Welt – jeden Nachmittag um 3 Uhr Kekse und Milch bekämen und uns dann zum Mittagsschlaf in unsere Decken rollen könnten. Oder wenn alle in unserem Volk und in anderen Völkern sich daran hielten, Dinge an ihren Ort zurückzulegen und die eigene Unordnung zu beseitigen. Und nach wie vor gilt, für alle Altersgruppen: wenn man in die Welt hinausgeht, ist es das beste, sich gegenseitig an der Hand zu nehmen und zusammenzubleiben.«6

Dieser Text hat etwas Eindrückliches und Gewinnendes, das vielleicht auch unmittelbar an eigene Erinnerungen rührt und Einverständnis weckt. In einer ersten Seminarsitzung mit Lehramtsstudierenden zum Thema ›Ethisches Lernen‹ wurde dieser Text vorgelesen, um das weite Feld ethischen Lernens zu eröffnen und ein erstes Gespür dafür zu entwickeln, worauf das Seminar zugeht. Ein staunendes Verweilen an diesem Text ermöglichte erste Wahrnehmungen, bei dem der affirmative Ton des Textes ganz und gar nicht in Schrecken versetzte, sondern vielmehr sich eine Zustimmung bei den zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern Raum verschaffte. Was der Text evozierte, erzeugte im Seminar eine Atmosphäre der Zustimmung: Ja, so geht es, das sind die Inhalte, auf die unsere Lernwege gerichtet sein müssen – auch im Imperativ. Was ist es, was hier zur spontanen Zustimmung führt, und was lässt sich daraus folgern? Es sind nicht nur die einfachen Lebensregeln oder die Erinnerung an eine heile und komplexitätsreduzierte Welt, die sich mitteilt und die diese Zustimmung hervorbringt. Es ist auch die Atmosphäre, die sich im Hören und Lesen des Textes auftut; freilich schwingt in ihr auch eine Ambivalenz mit, dass Strukturen und Ordnungen auch bedrängen können, wenn sie nicht aus einer gemeinsam ge6 Robert L. Fulghum: all I Ever Really need to Know I Learned in Kindergarten; in: Kansas City Times, 17. Sept. 1976; zitiert nach: Bruce C. Birch / Larry L. Rasmussen: Bibel und Ethik im christlichen Leben; aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Manuel Goldmann; Gütersloh 1993, 90 f.

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teilten Praxis hervorgehen, wenn eine gemeinsam geteilte Praxis verkehrt wird durch Strukturen, die nicht lebensdienlich sind. Für eine Studierende war das offensichtlich der Fall; sie erinnerte sich an beengende Strukturen in einem Kinderhort, die sie in der früheren DDR erlebt hatte. Mit der Zustimmung zeigt sich demnach eine Spannung, die ethischem Lernen wohl immer innewohnt; eine Spannung, die aufmerksam wahrgenommen werden muss, um zu deren Überwindung und zu einer lebensdienlichen Ausrichtung ethischen Lernens beizutragen. Offensichtlich bleibt in der Erinnerung von Robert Fulghum das lebensdienliche Moment in dem bestimmend, was er im Erzählten dieser Praxis im Kindergarten mitteilt; sie zeigt sich ihm noch in der Erinnerung als menschenfreundlich; darum fehlen die Spuren des Beengenden. Auf fünf Aspekte dieser Erinnerung möchte ich mich besonders beziehen und die Dimensionen aufsuchen, die diese Erinnerung zu einer Erzählung guten Lebens machen: Leiblichkeit und Freude – Drei Uhr Kekse und Milch

Ethisches Lernen hat mit diesen Keksen und der Milch um drei Uhr am Nachmittag zu tun, weil im Geschmack der Kekse und der Milch die Freundlichkeit gemeinsamen Lebens zu schmecken ist; er zergeht auf der Zunge, dieser Geschmack von Keksen und Milch: Labsal und Freude im Schmecken. Diese leibliche Erfahrung schafft eine Atmosphäre, in der man gerne verweilt, weil in ihr gutes Leben ›im Schmecken‹ spürbar wird. Bedürftigkeit – Mittagsschlaf und in die Decke rollen

Ein embryonales Bild bestimmt diese Erinnerung; die warme Decke und der Mittagsschlaf. Frühkindliche Erfahrungen, Wohlsein und Versorgtsein spiegeln sich in der Erzählung wieder. Umgeben vom schützenden Warm der Decke, wird der Alltag unterbrochen, ein Wohlgefühl der Entspannung und Entlastung stellt sich ein: Alltag und Ruhe bleiben aber doch aufeinander bezogen. Wie wohl ist es, wenn das gelingt: wenn die schützende Ruhe sich mitten am Tage einstellt und damit der Bedürftigkeit des Lebens Raum gegeben ist. Gute Ordnungen – Dinge an ihren Ort zurücklegen und die eigene Unordnung beseitigen

Ethisches Lernen lebt von Ordnungen, braucht Strukturen, in denen ich mich bewegen kann und die für andere so verlässlich sind wie für mich. Das entlastet den gemeinsamen Alltag; dabei bleibt der andere im Blick und das gemeinsame Leben findet seine Konturen. Menschen erfahren sich in diesem Geflecht von Ordnungen nicht allein auf sich gestellt, sondern bleiben gerade auch in

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Strukturen aufeinander bezogen; gebrauchen Dinge gemeinsam, machen so das gemeinsame Leben überschaubar und bewältigbar. Miteinander leben und füreinander Sorge tragen – Sich gegenseitig an der Hand nehmen

In der Erinnerung an den Kindergarten zeigt sich die Verwiesenheit auf den Nächsten und anderen als grundlegende Herausforderung. Sich gemeinsam an der Hand zu nehmen, sei es als Verbündeter oder sei es nach einem Konflikt, lässt den anderen nicht mit sich allein. Die Bezogenheit aufeinander wird leiblich spürbar, im Spüren der Hand des anderen. An der Hand des anderen ist das überwunden, was trennt; an der Hand des anderen öffnen sich Räume ins gemeinsame Leben, lassen sich auch schwierige Wege gehen. Utopisches – Wie viel besser wäre die Welt

Diese Erinnerung aus dem Kindergarten zeigt ethisches Lernen in seinen Anfängen: Dort gibt es Strukturen und Zusammenhänge, die Kindern ein Lernen eröffnen, um ein selbstbewusster Bürger und Mensch zu werden. Im kleinen, zunächst unscheinbaren Kontext gemeinsamen Lebens geschieht es, dass Kinder die ersten Schritte nach draußen wagen, ohne Eltern und Geschwister an der Seite. Im neuen Kontext werden diese ersten Schritte gemeinsame Schritte. Dem haftet etwas Utopisches an: eine Sehnsucht nach solchem Gelingen gemeinsamen Lebens. In der Erwachsenenwelt scheint ein Verlust dieser Erinnerung eingetreten. Gelten in der Erwachsenenwelt diese basalen Bedürfnisse nicht mehr, die das gemeinsame Leben zu einem guten Leben machen? Wenn diese Sehnsucht wieder Raum beanspruchen dürfte, dann wäre die Welt eine bessere: Dieser hoffnungsvolle Ausblick tut gut und ernüchtert zugleich. Er schafft Hoffnung, weil er aufmerksam macht darauf, wie gemeinsames Leben zu einem gemeinsamen werden kann; und er bedrängt, weil er an Misslingen denken lässt und an nicht gelebtes, an ungelebtes Leben.7

1.2

Zugänge zum ethischen Lernen

Mit diesen Beobachtungen stellen sich einige sehr grundsätzliche Fragen zum Verständnis des ethischen Lernens. Wie vollzieht es sich? Wie wird eine Praxis gelebten Lebens zu einem Ort gemeinsamen Lebens und Handelns? Welche 7 Vgl. bes. Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben; Frankfurt am Main 1951: Er gebraucht für das, was im je eigenen Leben aussteht, aber in der Sehnsucht immer wieder aufscheint, die Rede vom entwichenen Leben (70), vom genormten Leben (78) usw.

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Zustimmungen sind es, die diese Praxis auszeichnen und worin sind diese begründet? Um dem auf die Spur zu kommen, kann die Unterscheidung von JetztDringlichem und Bleibend-Wichtigem8 weiterführen, die Dietrich Ritschl in den Ethikdiskurs eingebracht hat. Beide Dimensionen machen auf die Logiken aufmerksam, die das ethische Lernen bestimmen: In der Reflexion ethischer Urteile sind zum einen die aktuellen Herausforderungen der Gegenwart wahrzunehmen, die einer je eigenen Logik der Dringlichkeit und Unausweichlichkeit folgen; demgegenüber zeigen sich aber auch Orientierungen, die aus gemeinsam geteilten und grundlegenden Perspektiven erwachsen und deren Logik einen kriteriellen Bezugsrahmen bildet. Beide Momente sind freilich aufeinander bezogen, zugleich aber auch sorgfältig zu unterscheiden, um die Notwendigkeit von grundlegenden und tragenden Perspektiven für das eigene Urteilen und Handeln zum Ausdruck zu bringen: Erst in der Klarheit über tragende Kategorien, die das je eigene Urteil formen, lassen sich Orientierungen in dringlichen Situationen finden. Insofern stellt das Bleibend-Wichtige den kriteriellen Rahmen zur Verfügung, in dem sich jetzt dringliche Entscheidungen dann treffen lassen. Mit dieser Unterscheidung kann darum das ethische Lernen genauer in den Blick kommen, weil ohne tragfähige Perspektiven der Einzelne in konkreten ethischen Problemlagen auf sich selbst gestellt und letztlich in seinem Urteilen überfordert wäre; das zeigt sich angesichts der aktuellen Herausforderungen etwa auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Medizinethik besonders deutlich. Erst im gemeinsamen Diskurs um angemessene Urteile, die nicht nur der Dringlichkeit aktueller Herausforderungen folgen, sondern sich auf verbindliche Kriterien beziehen, lassen sich verlässliche und lebensdienliche Urteile entwickeln, die auch zu angemessenem Handeln befähigen. Damit stellt sich die Frage, von woher Menschen tragfähige Perspektiven zum Urteilen und Handeln gewinnen? Diese Frage ist eng verknüpft mit dem ethischen Lernen, das seine Berechtigung freilich erst darin findet, wenn deutlich bleibt, dass solche tragfähigen Perspektiven erlernt werden und in einer Praxis gemeinsamen Lernens erprobt und eingeübt worden sind. Dietrich Ritschl hat für diesen Zusammenhang den hilfreichen Begriff der »Impliziten Axiome« aufgenommen, mit dem die fundamentalen Überzeugungen benannt werden, die oft unerkannt das Leben und Handeln steuern. Sie sind die Perspektiven, die den Referenzrahmen für das Urteilen bestimmen und eröffnen gleichsam einen Sprachraum, innerhalb dessen Menschen lernen sich 8 Ritschl, Dietrich: Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken; 2. Auflage München 1988. Vgl. Implizite Axiome. Tiefenstrukturen des Denkens und Handelns, hg. von Wolfgang Huber, Ernst Petzold und Theo Sundermeier, München1990.

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zu orientieren und in dem sie sich in ihrem Urteilen und Handeln aussetzen. Implizite Axiome verdichten sich in diesem Lebenszusammenhang immer wieder neu zu regulativen Sätzen, die sich an dem bilden, worauf sich Menschen oder auch eine Gruppe mit einer gemeinsamen Story beziehen. Implizite Axiome können so als der Referenzrahmen des Denkens und Handelns beschrieben werden; sie »sorgen für überprüfbares Denken und Sprechen und für geordnetes Handeln. Sie sind nicht unbedingt und immer sprachlich ausformuliert.«9 Von Zustimmung wäre in diesem Zusammenhang dann zu sprechen, wenn bestimmte Orientierungen und Perspektiven zu etwas Gemeinsamen werden und eine Verständigung darüber möglich werden kann auch für diejenigen, die ursprünglich nicht an diesem Lebenszusammenhang teilnehmen. Der regulative Aspekt, der den Axiomen innewohnt, bringt die Verlässlichkeit hervor, ohne die die Kontur gemeinsamen Lebens und Handelns verschwimmen würde. Was hat es also mit der Zustimmung auf sich, die gemeinsam geteilte Perspektiven aufzeigt, ohne schon den Ursprungskontext zu teilen, auf den die Axiome basieren? Eben das aber wäre ja die notwendige Voraussetzung ethischen Lernens, dass sich gemeinsames Leben eröffnen kann, dass an dem gewonnen ist, was eine gemeinsame Praxis bestimmt. Entscheidend für den gemeinsam geteilten Lebenszusammenhang bleibt darum der Vorgang des Lernens, der zunächst nicht von expliziten, sondern vorrangig von impliziten Axiomen bestimmt ist. Im gemeinsamen Raum des Lernens und also auf Wegen, die das Leben, Denken und Handeln tragfähig bestimmen können, eröffnet sich ein gemeinsames Lernen, das in die Lage versetzt, gemeinsame Orientierungen in der Verständigung darüber auszuloten und als verbindliche Perspektiven explizit zu formulieren. Gerade darum sind die impliziten Axiome immer explikationsbedürftig und weisen auf die Notwendigkeit gemeinsamen Lernens, das einer gelebten Praxis ihre Gestalt gibt.10 Dieses Lernen ist bezogen auf gemeinsam geteilte Perspektiven; im Lernen christlicher Religion bilden sich diese im Bezug auf die Story Israels und der Kirche; Erfahrungen, Texte und Reflexionen der Story Gottes mit den Menschen eröffnen den Zugang zu den impliziten Axiomen, damit sie im Leben explizite Gestalt und Ausformung finden. Insofern kann hier von regulativen Sätzen gesprochen werden, die sich ausbilden als verbindliche Bezugspunkte gemeinsamen Lebens und Handelns. Dietrich Ritschl betont diese Verwiesenheit auf die Story Gottes mit den Menschen, weil an ihr und mit ihr die Lebensformen der Christen immer wieder neu ihre Form und Gestalt findet:

9 Ritschl, Dietrich: Zur Logik der Theologie, 21 10 Schoberth, Ingrid: Erinnerung als Praxis des Glaubens; München 1992.

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»Zugang zur Erkenntnis der Axiome, die unserer eigenen Lebens-Story und unserer Story mit Gott implizit sind, haben wir nur durch komplexe, vielfältige und sich auch widersprechende Erfahrungen, Texte und Reflexionen … Ohne die Verwicklung in die Vielfalt der Texte, der Erinnerungen, der Kontroversen, ohne das Leiden der Glaubenslosigkeit, Sinnlosigkeit, würden wir sie nicht finden. Wir finden sie, weil wir sie brauchen.«11

Insofern werden in der Erinnerung von Fulghum Spuren sichtbar von dem, woraus die Praxis der Christen lebt und was ihr ihre Kontur gibt. Die eingangs genannten Erinnerungen an den Kindergarten führen demnach die ›regulativen‹ Sätze aus, die das gemeinsame Leben im Kindergarten bestimmen. Sie lassen die Perspektiven erfassen, aus denen die an dieser Praxis Beteiligten leben und die sie sprachfähig machen – auch um immer neue Sätze zu formulieren, die auf die Zukunft gemeinsamen Lebens gerichtet sind. Diese Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft drückt sich etwa aus in dem Satz: Wie viel besser wäre die Welt, wenn wir uns immer öfter gegenseitig an die Hand nehmen! Die Dimensionen, die diese Erinnerung an den Kindergarten eröffnet, sind demnach als die bestimmenden Perspektiven für das gemeinsame Leben und Handeln zu verstehen, die freilich nur dann als bestimmende Orientierungen fungieren, wenn sie aus der Praxis heraus wahrgenommen werden, in der sie gelebt werden. Das Atmophärische, das der Text vom Anfang eröffnet und die Zustimmung, die er evoziert, ist wohl gerade auch darin begründet, dass sich hier eine Zustimmungsqualität Ausdruck verschafft, die mit dem Erzählen der Praxis im Kindergarten, mit diesen gehaltvollen Sätzen – wenn auch im Imperativ – erst vernehmbar wird. Diese Affirmationen zeigen sehr genau, wie sich das gemeinsame Leben vollzieht. Sie sind die expliziten Regeln, die für ein »überprüfbares Denken und Sprechen und für geordnetes Handeln« sorgen. Sie sind gewonnen aus der Teilhabe an einer Story, einer »Heimat«12, die im Kontext christlicher Religion als die Story Israels und der Kirche genauer bestimmt ist. In der Erinnerung an den Kindergarten ist somit das Bleibend-Wichtige zu finden, diejenigen Momente, die für die Praxis bestimmend sind, wenn etwa Fulghum formuliert: »Die Goldene Regel und Liebe und Körperhygiene. Ökologie und Politik und vernünftiges Leben.« Freilich ist es als bleibend Wichtiges nur narrativ zu erfassen – das führt die narrative Entfaltung der Erinnerung an den Kindergarten vor. Es sind die Konturen, die im Erzählen stark bewertet werden und die als die tragfähigen Momente wahrgenommen werden, die das gemeinsame Leben ausrichten. In11 Ritschl, Dietrich: Die Erfahrung der Wahrheit. Die Steuerung von Denken und Handeln durch implizite Axiome; in: ders.: Konzepte. Ökumene, Medizin, Ethik. Gesammelte Aufsätze; München 1986, 162 f. 12 Ritschl, Dietrich: Zur Logik der Theologie, 21 f.

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sofern kommt in der Zustimmung das zum Ausdruck, was von Ritschl mit den impliziten Axiomen gefasst ist und erhält im je bestimmten Kontext als lebendige Praxis der Verständigung ihre je eigene explizite Gestalt. Sie führt in eine Übereinstimmung mit den Perspektiven, die das gemeinsame Leben tragen und sie macht die Story erkennbar, in der bleibend-wichtige Bezugspunkte ihre Heimat haben. Indem diese Bezugspunkte in die je eigene Lebenswelt und Lebenskontexte eingebunden werden, kann auch dort die Story Israels und der Kirche als Referenzrahmen fungieren, wo dies nicht immer explizit vorausgesetzt ist. Die Erinnerung von Fulghum führt vielleicht gerade darum zur Zustimmung, weil sie sich auf ein gemeinsames gutes Leben richtet, das auch elementare und basale Bedürfnisse des Lebens nicht ausspart und an einer sozialen und menschenfreundlichen Welt zu präsentieren einlädt.13 In der Zustimmung tut sich demnach Gelerntes, gemeinsam Geteiltes und Verlässliches auf, das das Leben braucht, damit es menschlich sein und bleiben kann.14 Zustimmung vollzieht sich darum auch in verschiedenen Kontexten und bleibt nicht auf den Binnenraum von Kirche beschränkt. Diese Öffnung der Lebensform des Glaubens, die an der Story Israels und der Kirche ihren Bezugspunkt hat, gehört zur öffentlichen Gestalt des Glaubens hinzu, der sich immer auch in die Welt hinein auslegt und sich gerade nicht ängstlich abschotten muss vor Diskursen um gemeinsam geteilte Perspektiven: Darum ist es für die Reflexion einer Kontur ethischen Lernens unabdingbar, den Kontext aufzusuchen, in dem ethisches Lernen geschieht; nicht das einzelne moralische Subjekt steht dabei im Vordergrund, sondern der gelebte Lebenszusammenhang, an dem der Einzelne teilzunehmen und teilzuhaben lernt. Das hat freilich weitreichende Konsequenzen für eine Reflexion ethischen Lernens, wenn das ›moralische Subjekt‹ nicht für sich allein und ausgestattet mit postmoderner Wahlfreiheit wahrgenommen wird;15 vielmehr wird hier der Versuch unternommen, ausgehend von der inneren Dynamik ethischen Lernens, die im Vorgang der Zustimmung aufscheint, darauf zuzugehen, sowohl eine reduktionische Vorstellung von Moralerziehung zu kritisieren, die ausgerichtet ist auf die moralische Erziehung des einzelnen Subjekts,16 als auch die Kritik an solchen 13 Birch, Bruce C. / Larry L. Rasmussen: Bibel und Ethik im christlichen Leben; aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Manuel Goldmann; Gütersloh 1993, 91. 14 Vgl. dazu Lehmann, Paul: Sollen wir die Gebote halten? in: Rechtfertigung und Erfahrung, hg. von Michael Beintker, Ernstpeter Maurer, Hinrich Stoevesandt und Hans G. Ulrich; Gütersloh 1995, 328 – 341. 15 Vgl. Horster, Detlef: Postchristliche Moral. Eine sozialphilosophische Begründung; Hamburg 1999, 31 u. ö. 16 Vgl. Ulrich-Eschemann, Karin: Biblische Geschichten und ethisches Lernen. Analysen – Beispiele – Perspektiven; Frankfurt am Main u. a. 1996, 27 u. ö..

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Modellen zu führen, die sich hinter der gängigen Rede von der Werteerziehung verbergen.17 Diese Kritik wird einmal durch die Biographieforschung gestützt, weil sich gezeigt hat, dass es Lebensläufe und also lebensgeschichtliche Zugänge zum moralischen Lernen gibt, die sich dem engen Raster einer theoriegeleiteten Zuordnung entziehen.18 Mit den Analysekriterien der rekonstruktiven Sozialforschung ist zudem deutlich geworden, dass ihre Verfahren ermöglichen, »die individuelle Sinn- und Bedeutungshaltigkeit moralischer und religiöser Erfahrungen, Einstellungen und Werthaltungen genauer und detaillierter in den Blick zu bekommen.«19 Indem die Wahrnehmung und Analyse moralischen Lernens durch den Bezug auf »kollektive Erfahrungen und Entwicklungsverläufe sowie milieu-, geschlechts- und kohortenspezifische Typen bzw. Muster der Erfahrungsverarbeitung«20 durchgeführt wird, ergeben sich neue und erweiterte Fragerichtungen, die in den klassischen Theoriemodellen und der Engführung auf das moralische Subjekt abgeblendet sind.21 Ethisches Lernen, das nicht unabhängig von den Kontexten nach dem Lernen fragt, erweitert darum den Blick auf den Einzelnen durch den Blick auf solche Praxen, die geeignet erscheinen, den Einzelnen weder in seiner postmodernen Verfasstheit zu überfordern, weil er kaum noch in der Lage scheint, zu Zustimmungen in der Wahl seiner Perspektiven und Orientierungen zu gelangen, noch ihm Forderungen aufzuerlegen, die er selbst nicht teilen kann. Die Dilemmata der Gegenwartskultur machen darum einen Blick auf solche eingespielten Kontexte notwendig, in denen sich das gemeinsam gute Leben vollzieht. Mit der Praxis der Christen zeigt sich eine dezidierte und konturierte Lebensform, in der sich gemeinsam geteilte Perspektiven ausbilden, indem gemeinsam nach der guten Gestalt des Lebens gefragt wird und in der immer wieder neu eine Vorstellung von dem gewonnen wird, was auf Zustimmung treffen kann. Ob sich mit der Zustimmung eine Teilhabe an einer je bestimmten Praxis eröffnet, kann sich freilich erst lebensgeschichtlich22 erweisen. Weil die Praxis der Christen von einer Offenheit bestimmt ist, die den Diskurs um Orientierungen aufnimmt und dabei auch auf Zustimmung derer trifft, die ihre 17 Vgl. dazu die umfassende Darstellung wie Kritik solcher Modelle bei Hoerster, Detlef: Postchristliche Moral. Eine sozialphilosophische Begründung; Hamburg 1999. 18 Vgl. Billmann-Mahecha, Elfriede: Entwicklung von Moralität und Religiosität; in: Einführung in die Religionspsychologie, hg. von Christian Henning u. a.; Paderborn 2003, 118 – 137. 19 Billmann-Mahecha, Elfriede: Entwicklung, 130. 20 Billmann-Mahecha, Elfriede: Entwicklung, 130 f. 21 Vgl. dazu die in sozialphilosophischer Perspektive ausführlich dargestellte Kritik bei Detlef Horster : Postchristliche Moral. Eine sozialphilosophische Begründung; Hamburg 1999. 22 Vgl. von Engelhardt, Michael: Das Verhältnis von Biographie und Religion, in: Religion und Erziehung, hg. von Eckhard Liebau, Hildegard Macha und Christoph Wulf; Weinheim 2002, 146 – 167.

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Praxis nicht teilen, ist die Praxis der Christen ein ausgezeichneter Ort der Auseinandersetzung, an dem um zustimmungsfähige Perspektiven gerungen wird: gerade weil die Praxis der Christen sich durch eine Bestimmtheit ausweist, die an den Konturen ihrer Lebensform erkennbar ist, kann sie im Diskurs um Orientierungen und Perspektiven eine wesentliche und lebensdienliche Aufgabe in der Gegenwartskultur wahrnehmen, damit die Welt ein menschliches Antlitz behält.

1.3

Gemeinsame Praxis im Vollzug

Ethisches Lernen vollzieht sich in Kontexten gemeinsamen Lebens und Handelns. Hier treffen Menschen auf verlässliche und gewissmachende Bewertungen und Bindungen, die Zustimmung freisetzen. Die Erinnerung an den Kindergarten rührt in besonderer Weise an die Praxis, in der Christen leben und an der sie teilnehmen. Sie kann als eine Praxis der Zustimmung verstanden werden, weil die tragfähigen Bezugspunkte, an denen diese Praxis ihre Perspektiven und ihre Orientierung findet, erkennbar sind. In der Erinnerung an den Kindergarten zeigt sich das prägnant in dem Bezug auf die ›goldene Regel‹, wie sie sich im Matthäusevangelium (Mt 7,12: »Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!«) findet; aber auch andere dichte Zusammenhänge der gelebten Praxis des Glaubens, in der das Leben mit und für den Anderen sich auftut, werden erzählt, die für die Lebensform der Christen bestimmend sind. D.h. es geht zum einen um die expliziten Regeln, die sich etwa mit dem Bezug auf die ›goldene Regel‹ finden, aber auch zugleich um den komplexen Zusammenhang, der diese Praxis ausmacht und ihr ihre Form gibt. Neben den verbindlichen Imperativen, die in der Erinnerung genannt werden, ist diese Praxis ja nie ausgeschöpft und unbeweglich; sondern sie verweist immer wieder selbst darauf, dass erst in ihrem Vollzug ihre bestimmte Gestalt zu finden ist. Die Erinnerung an den Kindergarten verweist also auf die vielen Geschichten des Kindergartenalltags, in denen um diese besondere Gestalt gemeinsamen Lebens gerungen wird. Dass das gegenseitige an der Hand nehmen eine explizite Regel ist, wird demnach erst inmitten des Alltags eingeübt und auf ihre Verbindlichkeit hin erprobt. Daran wird die innere Dynamik ethischen Lernens erkennbar, das von Zustimmung her auf Zustimmung hin sich bewegt und sich darum unterscheidet von einem Modus des Lernens, der auf die Erfüllung von gesetzten oder vorgegebenen Regeln gerichtet ist. Dieser Praxis der Zustimmung soll nun genauer nachgegangen werden insbesondere in der Absicht, diese Praxis selbst verstehen zu lernen, indem die Momente aufgesucht werden, die sie beschreibbar machen ohne sie freilich ganz in die Verfügung nehmen zu können:

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1.3.1 Zustimmung im Rückgriff auf Bewährtes Zustimmung geschieht im Rückgriff auf Bewährtes und Gelebtes. Orientierungen, die sich bewährt haben, werden zustimmend erkannt und aufgenommen. Darin zeigt sich ethisches Lernen, dass es nicht nur aus der je aktuellen Gegenwart schöpft, sondern sich auf Erfahrungen bezieht, in denen sich bestimmte Handlungen als ertragreich erwiesen haben. Menschen lassen sich von den Traditionen gelebten Lebens bestimmen und suchen sie für die je bestimmte Gegenwart auf. Die Zustimmung führt dabei zur Anerkennung erlebten Lebens wie der Anerkennung der Urteile und erfolgter Handlungen, die bereits Geltung gewonnen haben. Dabei gewinnt die vergangene Geschichte in einzelnen Geschichten konstitutive Bedeutung; es sind die vielen Geschichten, die narrativ mitgeteilt werden und einen Rückgriff auf sie ermöglichen, indem sie neu für und in der Gegenwart erzählt werden. Zustimmung ist mit der Tugend verbunden, die Alasdair MacIntyre als das Gespür für Traditionen fasst.23 Dieses Gespür wäre allerdings falsch verstanden, würde es mit einer konservativen Begeisterung für Vergangenes identifiziert; vielmehr werden die Traditionen narrativ aufgenommen, um sie auf ihre Tragfähigkeit für das Heute je neu zu reflektieren und zu befragen. Der narrative Zugang verwehrt einen unkritischen Umgang mit den Traditionen, der versucht, sie für die Gegenwart verfügbar zu machen. Dieser Zugang entwickelt gerade nicht ein Abbild eines gesamten Spektrums ethischer Praktiken noch ist er bloße Reproduktion angesammelter Wissensbestände; vielmehr ist er darauf gerichtet, eine »zusammenhängende ethische Praxis einer Tradition narrativ in Erinnerung zu rufen, ihre Grundlinien durch neues Erzählen hervortreten zu lassen, um somit den Zusammenhang zu finden, in dem sich ethische Besinnung bewegt.«24 Ein narrativer Zugriff auf die Traditionen unterlässt darum zwingend den Versuch, einen objektiven und übergeordneten Zusammenhang herzustellen, sondern begibt sich hinein in die Stories. Die Lebens- und Handlungsmodi, die mit solchem Gespür für die Traditionen aufgesucht werden, werden aus dem kritischen Bezug auf die Traditionen entfaltet inmitten all jener öffentlichen wie auch privaten Stories, die den Reichtum einer Tradition ausmachen. Für das religiöse Lernen bietet es sich hier an, in der Begegnung mit exemplarischen Biographien, aber auch in der diskursiven Reflexion bewährter oder auch nur traditioneller Orientierungen das spezifische Gespür für Traditionen 23 MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart; aus dem Engl. von Wolfgang Rhiel (After Virtue), Frankfurt am Main/New York 1987, 297 u. ö. 24 Hofheinz, Marco: Narrative Ethik als ›Typfrage‹. Entwicklungen und Probleme eines konturierungsbedüftigen Programmbegriffs; in: Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik; hg. von Marco Hofheinz, Frank Mathwig und Matthias Zeindler, Zürich 2009, 11 – 66, 27.

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zu entwickeln, die sich als tragend und gewissmachend für das Leben und Handeln erweisen können – oder eben auch bewußt zurückgelassen werden. In solchem Lernen vollzieht sich also nicht ein bloßer Rückgriff auf Vergangenheit, sondern in der Zustimmung zu bewährten Lebensorientierungen verändert sich das Verhältnis zu ihr ; Vergangenheit wird in ihrer Bedeutung für die Gegenwart relevant. Sie trägt zu neuen Perspektiven für die Gegenwart bei, gerade indem sie Geltung dafür beansprucht. In dieser Umkehr, dass es eben die Vergangenheit ist, die die Gegenwart kritisch erhellt, behält die Vergangenheit ihr kritisches Potential und kann es in der Auseinandersetzung mit ihr entfalten. Insofern hat das Bewährte eine wesentliche Funktion für ethisches Lernen in der Gegenwart. Die Zustimmung greift insofern auf sie aus, als sich an ihr und mit ihr die tragenden Gründe und Begründungen für Leben und Handeln auftun. Auch wenn sich neue Urteile eröffnen oder neue und andere Entscheidungen sich auftun, so verweist diese Aufnahme und der verbindliche Bezug auf starke Bewertungen der Traditionen auf eine lebendige Praxis, auf ihre Formen der Urteilsbildung, die sich als unvertretbar und zugleich in ihrer Situations- und Zeitbedingtheit ausweisen lassen muss; denn beides sind Momente einer ethischen Praxis: die Unvertretbarkeit in ethischen Situationen, die zu je neuen Urteilen auffordert wie die Zeitbedingtheit ethischer Urteile, die im Rückgriff auf Bewährtes in der je neuen Gegenwart nach tragenden Perspektiven sucht. 1.3.2 Zustimmung und Kritik Zustimmung basiert also zunächst auf einem Bezug auf gelebtes Leben und seine Entscheidungen; sie führt aber auch in die Kritik an ihnen und ist herausgefordert, deren Geltung für die Gegenwart neu zu bestimmen. Zustimmung hat demnach ein weiteres wesentliches Moment, das im Umgang mit bereits bewährter Praxis sich auftut; sie setzt auch und notwendig Kritik an dem frei, was nicht gelungen ist, was Schuld hervorgebracht hat und was Zustimmung in ihrer Verkehrung wahrnehmen lässt. Jürgen Habermas hat mit Recht darauf hingewiesen, dass angesichts von Versagen und Schuld auch das in der Erinnerung Raum finden muss, was eine spürbare Leere hinterlässt: »Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren. Denn mit dem Wunsch nach Verzeihung verbindet sich immer noch der unsentimentale Wunsch, das anderen zugefügte Leid ungeschehen zu machen. Erst recht beunruhigt uns die Irreversibilität vergangenen Leidens – jenes unrecht an den unschuldig Misshandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes Maß menschlicher Wiedergutmachung hinausgeht. Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion hinterlässt eine spürbare Leere.«25 25 Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Friedenspreisrede 2001 (2003), 258.

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Das ist ein wesentliches und unterscheidendes Moment in diesem Bezug auf Bewährtes, dass Vergangenes auch als Vergangenes wahrgenommen werden muss und möglicherweise neue Perspektiven notwendig werden, die die bisherigen Formen und Muster des Bewährten scharf kritisieren, neu ausrichten und ganz und gar neu zu schreiben aufgeben. Zur Ethik der Zustimmung gehört darum das diskursive Ausschreiten der ethischen Perspektiven, die sich mit der Vergangenheit auftun; in ihrem Befragen und mit ihrer kritischen Infragestellung durch die Gegenwart wird in der Zustimmung der Unvertretbarkeit und Zeitgemäßheit ethischen Urteilens und Handelns entsprochen wie aber auch zum Umgang mit Vergangenem und Bewährtem angeleitet. Dieser Umgang mit Bewährtem zeigt einen dynamischen Zugang auf die Vergangenheit, die sowohl in der Analyse von Texten christlicher Tradition als auch in der Reflexion von Tradition geübt und gelebt wird. Der kritische Bezug auf Tradition erlaubt es, Themen auf ihren Gehalt hin zu befragen, Entdeckungen zu machen, kritische Intentionen aufzunehmen und eigene Aspekte demgegenüber abzusetzen. Im Aufsuchen von biblischen Texten, im Ausschreiten ihrer Texträume und im Prozess genauer Textwahrnehmung ermöglichen es darum Lernwege, den tragenden und auch bindenden Traditionen christlicher Religion nachzugehen; im Einlassen auf Textwelten und im Suchen und Erahnen der Tiefendimensionen des Lebens, die sich in der Wahrnehmung biblischer Texträume auftun, findet das Lernen sein Profil.26 Prägende Texte und Ereignisse, die sich lebensgeschichtlich bewährt haben, werden in der Praxis im aktuellen Diskurs aufgenommen und setzen Wiedererinnerungen (recognition)27 frei. Lebensgeschichtlich Bewährtes erscheint sodann in einem neuen Zusammenhang und verbindet aktuell Bedeutsames mit vergangenen (Lebens-)Geschichten.

1.3.3 Zustimmung in der Konfrontation mit ihrer dogmatischen Explikation Ethischen Lernen durch Zustimmung ist bezogen auf ihre dogmatisch-theologische Explikation: dabei erweist sich ein Rückgriff auf die dogmatische Rede vom assensus als ausgesprochen hilfreich. Nicht zufällig findet sich eine Reflexion auf den Vorgang und die innere Dynamik der Zustimmung im dogmatischen Kontext; hier ist sie gerade nicht nur als eine intuitive Übereinkunft in 26 Vgl. Bizer, Christoph: Kirchgänge im Unterricht und anderswo. Zur Gestaltwerdung von Religion, Göttingen 1995. Vgl. dazu auch Schoberth, Ingrid: ›Glauben-lernen‹ heißt eine Sprache lernen – Zur Performance der Heiligen Schrift im Religionsunterricht. Exemplarisch durchgeführt an einer Performance zu Psalm 120; in: rhs 45, 2002, 20 – 31. 27 Vgl. Ricoeur, Paul: Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein; Aus dem Französischen von Ulrike Bokelmann und Barbara Heber-Schärer ; Frankfurt am Main 2006.

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Bezug auf Orientierungen und Perspektiven wahrgenommen, sondern gleichwohl als eine wesentliche theologische Perspektive reflektiert, die es erlaubt der Relationalität Gottes und des Menschen auf die Spur zu kommen. Die dogmatische Reflexion erörtert in diesem Zusammenhang das, woraus christlicher Glaube lebt, das, »was ihm Bestand und Kraft gewährt, außerhalb seiner selbst.«28 Otto Weber nimmt das exemplarisch an zwei biblischen Geschichten wahr ; an der Geschichte vom Hauptmann zu Kapernaum (Mt 8, 5 – 13) und mit der Geschichte von der blutflüssigen Frau (Mk 5, 25 – 34); die Zustimmung wird hier lebensgeschichtlich wahrgenommen, als eine Erfahrung, in der Menschen »nichts anderes mitbringen als ein in ihre Vorstellungen eingebettetes Zutrauen.«29 Aber gerade ihnen spricht Jesus den Glauben zu, denn das, »was diesen Glauben zum helfenden und rettenden macht, das ist nicht seine menschliche Qualität oder Quantität.«30 Damit betont die dogmatische Rede vom assensus, dass das Zutrauen des Menschen ein Moment des Zugangs zum Glauben selbst beschreibt. Es macht auf die Momente aufmerksam, die den je einzelnen Menschen engagiert in das Geschehen verwickeln, auf das sich christlicher Glaube bezieht. Das widerspricht nun freilich nicht der theologischen Einsicht, dass Glaube immer Gottes Gabe an den Menschen bleibt, sondern gibt dieser Einsicht vielmehr Raum, auch das zu bedenken, was sich im Zutrauen, in der Zustimmung eröffnet. In Hinsicht der Geltung von Orientierungen für das eigene Leben und Handeln kann und darf darum gerade nicht vorschnell auf das Vertrauen (fiducia) ausgegriffen werden, als dem innersten Beweggrund des Glaubens, den Gott allein im Handeln in seinem Geistes am Menschen eröffnet. Vielmehr zeigen empirische Befunde aus der religiösen Gegenwartslage, dass die Zustimmung bereits einen wesentlichen Aspekt benennt, der nicht außer Acht gelassen werden darf: Mit ihr werden alle die Phänomene erkennbar, die die noch unterbestimmten religiösen Zugänge wahrnehmen lassen, in der Menschen leben und in der es um Klärungen und also Sprachformen geht, die zu einer lebendigen Partizipation an dem führen können, was christlicher Glaube verkündigt. Gerade der mit dem assensus bezeichnete Charakter des Glaubens, der eher auf Zustimmung als auf Vertrauen basiert, ist theologisch von entscheidender Bedeutung, will sich Theologie auch auf solche Erfahrungs- und Handlungsorientierungen beziehen, die zunächst nur wenig oder noch ungenau auf Glauben verweisen. Insofern ist ethisches Lernen auf ein Lernen gerichtet, das sich auf die fiducia zubewegt. Im Raum des assensus sind demnach Spuren gelegt für die Wahrnehmung des Glaubens und seiner Perspektiven für das 28 Weber, Otto: Grundlagen der Dogmatik, Bd. 2; 7. Auflage Neukirchen-Vluyn 1987, 294. 29 Ebd. 30 Ebd.

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Leben und Handeln, die in ihrer Bestimmtheit aufgesucht werden und insofern zu einer Teilhabe an den Lebensformen motivieren können, für die die Praxis des christlichen Glaubens einsteht. Die Vorläufigkeit, die in alle dem mitschwingt, ist dabei aufmerksam wahrzunehmen und nicht abwertend zu beurteilen, denn sie gibt Aufschluss über die Zugänge, die Menschen auffinden und aufsuchen, um ihrem je eigenen Leben und Handeln eine Kontur zu geben. Dabei treten starke Wertungen auf, die sich auch offensichtlich an dem bilden, was christlichem Glauben eigen ist und woraus er lebt. In der Bewertung der Zustimmung, die Menschen vollziehen, die hier als Zutrauen genauer beschrieben ist, erweisen sich die Kriterien ›richtig oder falsch‹ als unangemessen; vielmehr bringt das Zutrauen bzw. die Zustimmung erste Eindrücke und auch Bewertungen zum Ausdruck, die Menschen in aller Vorläufigkeit vornehmen und die auch über bloß ›säkulare‹ Wahrnehmungen hinausweisen. Die Zustimmung ist dabei auch Ausdruck für eine implizite Bezogenheit auf die gelebte Praxis der Christen; wesentliche und für die Praxis gelebten Glaubens grundlegende Orientierungen werden als verbindliche Orientierungen für das eigene Leben anerkannt, auch wenn deren religiöse oder frömmigkeitliche Praxis nicht (oder auch noch nicht) geteilt wird. In der Reflexion der Zustimmung wird so ein weites Feld der Zugänge zu religiöser Wirklichkeit sichtbar, das die Verfasstheit der religiösen Gegenwartslage genauer zum Ausdruck bringen kann. Dabei lassen sich insbesondere auf der Sprachebene die Überschneidungen mit dem dogmatischen Reden wie die Unterscheidungen vom dogmatischen Reden aufsuchen, die eine sprachlich verfasste Zustimmung etwa in einem narrativen Interview ausdrückt. An ihr können sowohl die Übereinstimmungen sichtbar werden als auch die Differenzen zum dogmatischen Reden markiert werden. Insofern stellt die analytische Wahrnehmung der Zustimmung ein religionsanalytisches Kriterium vor, das geeignet ist, Differenzen und Übereinstimmungen im Bezug auf die gemeinsam geteilte Praxis der Christen aufzusuchen. Es ist zudem geeignet, ein eigenes theologisches Analysekriterium zu entwickeln, das zu einer immer genaueren Wahrnehmung der religiösen Gegenwartslage beiträgt und wozu die Theologie und die Religionspädagogik angesichts der religiösen Gegenwartslage auch von Schülerinnen und Schülern herausgefordert sind. In ethischen Bildungsprozessen etwa im Religionsunterricht ist es für die Lehrenden unabdingbar, die je eigene Verfasstheit der Schülerinnen und Schüler auszuloten und diese in besonderer Weise zu würdigen. In der didaktischen Arbeit an den aus der Zustimmung gewonnenen Perspektiven der Schüler wäre darum etwas aufzufinden, das dazu verhilft, religiöse Bildungsprozesse auszurichten. Denn nur in einer Würdigung der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler wird ein religiöser Diskurs möglich, der ihnen eigene Wertungen im Blick auf eigenes Leben und Handeln erkennbar macht wie er auch dazu beiträgt

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die tragenden Orientierungen der Christen in verschiedenen thematischen Zusammenhängen wahrnehmen zu lernen. Für ethisches Lernen in religiösen Bildungsprozessen sind darum zwei Aspekte weiterführend. Einmal: dass die Bestimmtheit christlicher Religion, die sich den Lernenden zeigt, erkennbar und wahrnehmbar wird. Zum anderen: dass die Lernprozesse diskursiv angelegt werden, indem die Schülerinnen und Schüler herausgefordert werden, danach fragen zu lernen, ob das, was sie hier lernen, auf ihre Zustimmung trifft. 1.3.4 Zustimmung in der Unterscheidung von ›Mystik und Dogmatik‹ Eng mit der dogmatischen Explikation verbunden kann die idealtypische Unterscheidung von Mystik und Dogmatik dazu verhelfen deutlich zu machen, welche Artikulationsformen Menschen veranlassen, Religion für sich in Anspruch zu nehmen. Dabei gilt grundlegend für den Gebrauch dieser Unterscheidung, dass beide Momente, Mystik und Dogmatik, immer aufeinander verweisen;31 sie ermöglichen es, in den Sprach- und Artikulationsformen die Bezüge aufzusuchen, die Menschen auswählen: Mit Mystik wird einmal die Erfahrungsebene benannt, die als Austauschbegriff zu Spiritualität verstanden wird und die als Grundmuster einer Sinnsuche für diejenigen dient, die sich noch nicht unmittelbar in einem engen Referenzsystem (z. B. Kirche) bewegen. Dogmatik dagegen wird hier verstanden als Ausdruck für ein dogmatisch fundiertes Verständnis von Religiosität, das auf explizite Lehrbildungen bezogen ist und Bezüge zu einem Referenzrahmen(Kirche, christliche Theologie u. a.) aufweist. Mit dieser Unterscheidung ist freilich sorgsam umzugehen; sie markiert in aller Vorläufigkeit, dass beide Aspekte nicht umstandslos und unabhängig voneinander aufgesucht werden können, denn auch mystische Orientierungen sind undenkbar ohne implizite Überzeugungen und Dogmatisierungen (sie sind also nicht anti-dogmatisch) wie umgekehrt ein enger Bezug auf dogmatische Vorgaben auch mystisch und erfahrungsbezogene Aspekte einbezieht. Diese Unterscheidung kann dazu beitragen, dass der jeweilige Bezugsrahmen, der für die Ausgestaltung der je eigenen religiösen und auch ethisch ausgerichteten Wirklichkeit bestimmend ist, klarer hervortritt, ohne dass der Anspruch erhoben würde, diese umfassend abbilden zu können. Vor allem sind es Sprachformen, die sich etwa in narrativen Interviews niederschlagen,32 die von dieser Unterscheidung ausgehend kritisch befragt werden können und mit denen 31 Bochinger, Christoph/Engelbrecht, Martin: Mystik oder Dogmatik? Empirische und religionshistorische Zugänge zur religiösen Gegenwartskultur ; in: GluLern 17/2002, 114 – 135. 32 Vgl. Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion. Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur ; hg. von Christoph Bochinger, Martin Engelbrecht und Winfried Gebhardt; Stuttgart u. a. 2007.

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aufgesucht werden kann, inwiefern sich in den jeweiligen Artikulationen ein eher enger dogmatischer Referenzrahmen auftut bzw. sich ein Referenzrahmen zeigt, der sich eher durch Unbestimmtheit auszeichnet, weil er nur wenig auf explizite Dogmatisierungen verweist. Auf beiden Ebenen kann das Moment der Zustimmung wahrgenommen werden; als Zustimmung zu expliziten Dogmatisierungen bzw. als Zustimmung zu einer religiösen Wahrnehmung, die sich als eher unterbestimmt dogmatisch ausweisen lässt. An dieser Stelle zeigt sich die Notwendigkeit des Diskurses zwischen der Religionsforschung und dem dogmatisch verantworteten Reden christlicher Theologie, die in diesen Diskurs wesentliche Momente der gemeinsam geteilten Praxis der Christen einzubringen in der Lage ist und damit auch dogmatisch unterbestimmte Artikulationsformen genauer wahrzunehmen und zu analysieren anleitet. Für eine Analyse ethischen Lernens ist diese Unterscheidung von ›Mystik und Dogmatik‹ insofern aufzunehmen, als mit ihr die Sprach- und Artikulationsformen zu erfassen sind, die sich in einer Lerngruppe zeigen. Die religionswissenschaftliche Differenzierung ermöglicht es, Sprachformen etwa von Schülerinnen und Schülern auf ihren Gehalt hin auszuwerten. Religiöse Bildungsprozesse im Lernen christlicher Religion können mithilfe dieser Differenzierung Auskunft geben über den jeweiligen Referenzrahmen, auf den sich Schülerinnen und Schüler in ihrem Urteilen beziehen. Die Differenzierung kann dazu anleiten, danach zu fragen, wo die Schülerinnen und Schüler beheimatet sind, von woher sie ihre Kriterien für ihr Leben und Handeln gewinnen und welche Referenzrahmen ihnen Orientierungen ermöglichen, auf die sie sich beziehen lernen, denen sie zustimmen oder die sie aber auch verweigern. 1.3.5 Zustimmung und die Atmosphären Mit dem kleinen Text vom Anfang stellen sich spürbare Erlebnisqualitäten ein, die sich eindrucksvoll mitteilen und Ahnungen generieren von einem guten gemeinsamen Leben. Die Hand, die die Hand des Anderen ergreift, um einen Weg gemeinsam zu gehen oder die warme Decke, die mich umhüllt im Mittagsschlaf – das sind Beschreibungen, die in eine atmosphärische Wahrnehmung führen. Ethisches Lernen greift darum in eigener Weise auf atmosphärische Räume aus, indem es dazu anleitet, sie zu erspüren: das Lesen in der Bibel oder aber auch das Hören einer biblischen Lesung, Raum-Erfahrungen in Kirchen, die die Heiligkeit des Raumes erfassen lassen, Begegnungen mit Abstraktionen von Lebensentwürfen und Hoffnungen in der modernen Kunst, fragmentarische Einblicke in religiöse Lebensgeschichten anhand von Biographien u. a. dienen dazu, dass sich Atmosphären im Lernprozess auftun und spürbar werden. Im Einlassen auf neue Perspektiven, im Gehör schenken einer

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biblischen Lesung, im Aufmerksamwerden auf Fremdes, im Sich Unterbrechenlassen in gewohnten Haltungen und Orientierungen, im Kommenlassen leiblicher Gefühle (Focusing) spüren darum passive Lernformen in eigener methodischer Weise den Atmosphären nach, die in ein (leibliches) Erleben im Lernen führen. Insofern streift die Zustimmung im Aufsuchen der Atmosphären die Sehnsucht nach ›gelebtem Leben‹ inmitten der Erfahrung ›ungelebten Lebens‹ und lässt aufmerksam werden auf eine Gestalt von Lebensräumen, die nicht nur dem rationalen Kalkül unterstellt sind, sondern die der Sehnsucht nach gelebtem Leben und der Erfüllung gerade auch basaler Bedürfnisse entgegenkommt. Die Zustimmung, die der kleine Text vom Anfang eröffnet, führt atmosphärisch betrachtet dazu, eine Lebensform zu erahnen und wahrnehmen zu lernen, die von gemeinsam geteilten Orientierungen bestimmt ist. Im Teilhaben an gemeinsamen Perspektiven eröffnet sich eine Verlässlichkeit gemeinsamen Lebens und Handelns, die sich atmosphärisch niederschlägt und spürbar das gemeinsame Leben und Handeln ausgestaltet. Entgegen einer ›Gewalt des Globalen‹33 werden im Erspüren von Atmosphären Lebensräume erkennbar, die das ethische Lernen orientieren und auszurichten vermögen und die wesentlich die Frage zu beantworten helfen: Wie wollen wir miteinander leben?

2.

Ein empirisches Projekt zum Thema Friedfertigkeit im Religionsunterricht an einer beruflichen Schule

Die bisherigen Überlegungen erweisen sich als relevant für die Unterrichtsforschung religiöser/ethischer Bildungsprozesse, indem sie die Frage danach aufwerfen, welche Wege sich eignen für das hier bezeichnete ethische Lernen? Aus welchen Lernwegen können demnach Zustimmungen erwachsen? Mit den bisher gewonnenen Kriterien, die den Vorgang und damit die innere Dynamik der Zustimmung beschreiben, sind zugleich Kriterien entwickelt worden, die auf ihre Bewährung im konkreten Kontext Religionsunterricht untersucht werden sollen. Leitend ist dabei folgende theologisch ausgerichtete Fragestellung: Wird mit dem Thema Friedensethik und dem damit gesetzten theologischen Zusammenhang ein Raum für Schülerinnen und Schüler eröffnet, der ihnen Zustimmung (oder auch Abgrenzung) ermöglicht? Kann das Thema der Friedensethik, dass es Gottes Friede für diese Welt und das je eigene Leben ist, auf den bezogen 33 Baudrillard, Jean: Vom Universellen zum Singulären: die Gewalt des Globalen, in: Die Zukunft der Werte. Dialoge über das 21. Jahrhundert, hg. von J¦rúme Bind¦; 1. Auflage Frankfurt am Main 2007, 36 – 45.

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sich die religiösen Lernprozesse im Religionsunterricht ausrichten, in eine Zustimmung führen, die die Schülerinnen und Schüler gleichwohl nicht überfordert, sondern zu selbstbestimmten Urteilen befähigt? Was macht religiöse Lernprozesse zu zustimmungsfähigen Lernprozessen? Haben sie eine Qualität, die es Schülerinnen und Schülern ermöglicht, sich auf Gottes Frieden beziehen zu lernen? In verschiedenen Klassen einer beruflichen Schule in Bayern – die Schüler sind 17 – 21 Jahre alt – wurden Erhebungen durchgeführt. Die Unterrichtswege sind ausgerichtet auf die oben formulierte theologische Fragestellung. Angesichts der religiösen Gegenwartslage ist es für religiöse Bildungsprozesse im Religionsunterricht erforderlich festzuhalten, dass solche Lernwege immer eine Anfänglichkeit besitzen müssen; denn viele Schülerinnen und Schüler sind nicht in christlicher Religion beheimatet; das heißt dann auch, dass in der Auswertung nicht auf große Ergebnisse ausgegriffen wird, sondern dass es die kleinen Wahrnehmungen an den Dokumenten der Schülerinnen und Schüler sind, die auf die Spur möglicher Zustimmung führen. Festzuhalten bleibt das genuin theologische Interesse der Erhebung, die die Analyse des dokumentarischen Materials leitet und deren Durchführung aus den bisher reflektierten und dargestellten Kriterien der Zustimmung gewonnen ist.

2.1

Erste formale Wahrnehmungen

In der ersten Wahrnehmung des dokumentarischen Materials zeigt sich zunächst ganz äußerlich und formal, dass die Artikulationsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler dadurch erschwert ist, dass sie wenig Fähigkeiten ausgebildet haben, sich angemessen artikulieren zu können; die Orthographie- und Grammatikkenntnisse, die ihnen stimmige Darstellungen ermöglichen würden, lassen sehr zu wünschen übrig, was das Verständnis der Texte, die sie geschrieben haben, zum Teil sehr erschwert. In der Bearbeitung der einzelnen Aufgaben durch die Schülerinnen und Schüler ist auffällig, dass sich die Antworten innerhalb der jeweiligen Klassen oft wörtlich wiederholen. Dies lässt eher auf Gruppen- als auf Einzelarbeit schließen. Deutlich wurde auch, dass die Schülerinnen und Schüler sich in ihren Voten eher gemeinsam abstimmen als eigene Stellungnahmen formulieren; sie haben weniger Mut zum eigenen Votum, was etwa bestätigt wird durch Wendungen wie »diese Meinung teilen auch meine Mitschüler« (Schüler 1)34 oder »ich habe dies auch mit meinen Mitschülerinnen besprochen, die mir zustimmten« (Schüler 2).

34 An dieser Stelle sei allen Schülern herzlich für ihre Mitarbeit gedankt, die auch bereit waren,

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2.2

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Erste inhaltliche Wahrnehmungen

Zum Thema Friedfertigkeit fällt auf, dass als Anschauungsbeispiele für Konflikte und Lösungsmöglichkeiten meist Szenen aus dem Alltagsleben gewählt werden, so etwa Prügeleien auf dem Pausenhof, Gewalt in der Familie, im Fußballstadium oder im Straßenverkehr, oder auch – besonders konkret und plastisch – der Konflikt mit dem Hausmeister um den verbotenen Kaffeegenuss innerhalb der Schulräume. Auch Ausländerfeindlichkeit wird häufig thematisiert. Demgegenüber fallen die kenntnisreiche und detaillierte Darstellung eines politischen Konfliktes eher aus dem Rahmen, nämlich des Nahostkonflikts (Schüler 3) und die Beschreibung einer Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen, die sich explizit über ihre jeweilige Religionszugehörigkeit (Christentum bzw. Islam) und Frömmigkeit definieren (Schüler 4). Diese letztgenannte Arbeit ist auch insofern einzigartig und interessant, weil hier als Friedensstifter ein evangelischer Pfarrer auftritt und somit das Thema Religion und ihre Rolle zu Gewaltbzw. Friedensbereitschaft ausdrücklich reflektiert wird. Ein ausgesprochen intelligent dargestelltes Votum (Schüler 5) zeigt sich in der Beschreibung eines kulturellen Konfliktes am Thema Frauen- bzw. Männerbild in der Türkei und in Deutschland; hier wird jeder einfachen und schnellen Konfliktlösung eine Absage erteilt. Das Thema Ladendiebstahl (Schüler 6) besticht durch seine beeindruckend intensiv wahrgenommene Reflexionsfähigkeit. Die aktuelle Lebenssituation der Schüler und Schülerinnen ist immer auch besonders präsent (Schüler 7); sie wird in einem Dokument besonders deutlich. Als neu in die Klasse Dazugekommene/r wird das Thema Fremdheit und als deren Folge Ausgrenzung im Dorf als Thema des Aufsatzes gewählt. Ein Hang zur Melodramatik durchzieht einen Aufsatz in der Ich-Form (Schüler 8), der mit dem Tod der Hauptdarstellerin endet. Gegenüber dem sonst allgemein vorfindlichen Trend zum Antiamerikanismus hebt sich deutlich eine Arbeit (Schüler 9) ab; offensichtlich haben hier US-amerikanische Filme und Fernsehserien ihre Spuren hinterlassen und Liebe zum »American way of life« geweckt. Trotz der ausdrücklichen Ablehnung von Gewalt lässt sich doch beobachten, dass manche Schüler ihr gegenüber auch eine Art Faszination empfinden, was sich etwa an der sehr detailgenauen und plastischen Ausmalung von Gewaltszenen zeigt (Schüler 10), indem etwa ein Amoklauf an einer Schule beschrieben wird. Auch alltägliche Gewaltkonflikte werden z. T. mit einer erschreckenden Genauigkeit erzählt, so etwa eine Messerstecherei auf dem Pausenhof (Schüler 11). Hier muss man sich fragen, in wieweit solche Szenen tatsächlich schon selbst miterlebt wurden und aus eigener Anschauung berichtet werden. ihre Dokumente für diese Auswertung zur Verfügung zu stellen; ihre Namen wurden anonymisiert; im Folgenden werden sie als Schüler mit Nummern versehen bezeichnet.

314 2.3

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Würdigung

Die von den Schülerinnen und Schülern vorgeschlagenen Konfliktlösungen fallen in den meisten Fällen, die insbesondere als Bildgeschichten (Comic) erzählt werden, sehr konventionell aus. Trifft diese Vermutung zu und zeigt sich Gewalt im Alltag der Schülerinnen und Schüler als eine erschreckende und intensiv wahrgenommene Realität, dann ist zu überlegen, ob die schlichte Lösung »Mehr Liebe und weniger Fernsehn« (Schüler 12) tatsächlich Glaubwürdigkeit besitzt oder ob sie als Zugeständnis an das Fach Religion und an die Person des Lehrers zu verstehen ist. Gleiches gilt, wo die Schülerinnen und Schüler eine eigene Stellungnahme zu explizit christlich-religiösen Inhalten formulieren, etwa zur praktischen Relevanz der Bergpredigt für das Handeln in der Gegenwart. Nahezu alle Schülerinnen und Schüler formulieren positive Antworten, die allerdings oft sehr floskelhafte Züge tragen. Vielleicht ist es tatsächlich eine Überforderung, hier Authentizität und Originalität zu verlangen.

2.4

Konkrete Auswertung unter Heranziehung des dokumentarischen Materials, das klassenübergreifend aufgenommen wird

Anhand ausgewählter Beispiele aus dem dokumentarischen Material soll der Frage nach der Zustimmung zum spezifisch christlichen Referenzrahmen der Schülerinnen und Schüler nachgegangen werden und das religionspädagogische Interesse verfolgt werden, nach Ausdrucksformen religiösen Lernens am Thema Friedfertigkeit lernen zu fragen: In den Klassen ist dabei sehr deutlich ein Interesse an christlicher Religion gegeben, was für berufliche Schulen nicht selbstverständlich ist; sie lassen sich sehr bereitwillig auf die Vorgaben des Lehrenden ein. Das hat freilich Konsequenzen für den gesamten Unterricht: 2.4.1 Reflexion der Zugänge zu den Artikulationsformen der Schülerinnen und Schüler mit Hilfe der Arbeit an biblischen Texten Ausgangspunkt einer Einheit im Religionsunterricht war die Beschäftigung mit dem Satz aus der Bergpredigt: »Selig sind die Friedfertigen« (Mt 5,9). Die Schüler wählen, um ihren Zugang deutlich zu machen, meist eine Konfliktsituation, die es ihnen ermöglicht zu beschreiben, was sie unter Friedfertigkeit verstehen: Oft sind es Darstellungen in kleinen Szenenabfolgen (Comic),in denen sie Konflikterfahrungen in der Schule, im Straßenverkehr, in der Auseinandersetzung mit Nazis, auf dem Fußballfeld, in der Familie und mit Freunden darstellen. Das sind ihre Versuche, Friedfertigkeit zu fassen, die als ein Ergebnis eines Konfliktes beschrieben wird.

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Abb. 4: Schülerbild »Friedfertigkeit«.

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Ein Beispiel: Bild 1: ›Was baggerst du meine Freundin an‹ / ›hab doch gar nix gemacht; hab sie nur was gefragt‹. Bild 2: ›Gib dir gleich: hab sie nur was gefragt‹. Bild 3: Aua. Bild 4: (ein Dritter) ›Hört auf; er hat wirklich nur was gefragt wegen Wochenende‹. Bild 5: ›Oh sorry, tut mir echt leid‹ / ›Schon okay ; schon vergessen‹. Konflikte bleiben demnach nicht unbewältigt stehen, sondern werden von den Schülerinnen und Schülern auf Überwindung hin wahrgenommen. – »Alles wird wieder gut.« Ihre Antwortversuche sind aber mehr als nur ein schwacher Trost, sondern eigene Wege, das Ende eines Konfliktes zu fassen: Die Überwindung eines Konfliktes wird in eigener Sprache gefasst und so der Logik der Bergpredigt nachgegangen: »nur nicht zu früh aufgeben« (Schüler 13); »ein reines Gewissen haben« (Sterbehilfe für einen im Koma liegenden Freund; Schüler 14); »Gott sagt: ihr sollt euch versöhnen« (Schüler 15); »nein, ich will keinen Streit; ich gehe« (Schüler 16).

Abb. 5: Schülerbild »Frieden«.

Ein Bild fasst die Friedfertigkeit als Versöhnung, die angesichts von Unrecht und Gewalt aufscheint; mit gelber Farbe wird das Moment der Überwindung aufgenommen; die, die sich bekriegt haben, finden unter dem gelben Engel zu

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Wegen des Friedens; die Überwindung des kriegerischen Konfliktes übergeht dabei nicht die Realität des Leidens und der Gewalt. Doch das gelbe Feld des Friedens folgt einer anderen Dramatik: das Licht der Sonne strahlt tief in die Friedlosigkeit hinein (Schüler 17). 2.4.2 Reflexion der Zugänge zu den Sprachformen der Schülerinnen und Schüler mit Hilfe der theologischen Dogmatik/Ethik Die Schüler haben zu zweit oder zu dritt einen Brief an eine Professorin für evangelische Theologie verfasst; sie waren bereit, ihr zu schreiben, um ihr zu erklären, was sie unter Friedfertigkeit verstehen. Brief: Sehr geehrte Frau Professor X, / Menschen, die für Frieden sorgen, sind von Gott gesegnet, sie sind Gottes Kinder. Da wir alle Kinder von Gott sind, sollten wir alle für Frieden sorgen. Es sollte keinen Krieg geben, vor allem nicht zwischen verschiedenen Religionen – durch den Glauben sollten sie schlau genug sein dass Krieg keine Lösung ist, sie sollten für Frieden sorgen. / Sorge dafür, dass du keine Feinde hast. / Lass dich nicht provozieren und begehe nicht den gleichen Fehler, der er begangen hat … / Wer Frieden stiftet, wird Frieden ernten. / In der Gegenwart wird sich dies nicht immer umsetzen lassen, denn … man (würde) irgendwann ausgenutzt werden. / Auf der Erde gibt es zu viele böse Menschen die oft für Unheil sorgen möchten, daher ist ein gewisser Grad an Eigenwehr notwendig. Man sollte sich trotzdem bemühen in Frieden zu leben. … .« (Schüler 18/19). Das vorangestellt ›Selig sind‹ der Bergpredigt wird in dieser Interpretation der Schüler nicht wahrgenommen; Frieden stiften wird als Imperativ aufgefasst: Sorge für… / Lass dich nicht …/ Begehe nicht …/ Wehre dich …; es sind konkrete Handlungsanleitungen, mit denen die Schüler auf die Aufgabe des Friedenstiftens reagieren. Die Bergpredigt wird als schwierig umsetzbar verstanden: ›In der Gegenwart wird sich dies nicht immer umsetzen lassen, denn … man (würde) irgendwann ausgenutzt werden‹; formuliert demnach die Bergpredigt etwas Unrealistisches? Dem steht gegenüber die Notwendigkeit eines gewissen Grades an Eigenwehr ; die Schüler halten aber dennoch an der Logik der Bergpredigt fest: ›Man sollte sich trotzdem bemühen in Frieden zu leben‹; mit dem ›trotzdem‹ haftet dem Friedenstiften etwas Überzeugendes an; denn der Krieg ist keine Lösung; wer also ›schlau genug‹ ist, wird das verstehen. Dieser Appell an die Klugheit richtet humanes Leben auf und stellt die, die den Krieg suchen in Frage. Darin drückt sich die wenn auch kritische Zustimmung der Schüler zur Bergpredigt aus; sie hält etwas fest, worauf sie nicht verzichten wollen. Ein Gespür für das humane Leben, ein Gespür für gutes gemeinsames Leben im Frieden tut sich in dieser Bewertung der Bergpredigt auf. Brief: Sehr geehrte Frau Professor X, / wir denken, die Bergpredigt war

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Propaganda Jesu zur Aufhetzung des Volkes gegen die ketzerische Einstellung der faschistischen Römer. Würde man heutzutage wie Jesu handeln, würde man der Volksverhetzung angeklakt und als Sektenführer beschimpft werden. / Daher ist es als sehr schwierig anzusehen, in der Gegenwart Frieden zu stiften. / Jeder müsste an sich selber arbeiten, da es sich als beinahe unmöglich erweist, als Einzelner eine große Masse zum Frieden zu bewegen. / Ansätze hierfür können im Religionsunterricht vermittelt werden. / Die menthale Einstellung der großen Mehrheit der Menschen ist trotz der Bergpredigt Jesu wieder dem Prinzip »Auge um Auge, Zahn um Zahn« verfallen. Da die Menschheit heutzutage nicht mehr so sehr von einander abhängig sind, fließt eine Welle des Egoismus durch die Massen. (Unterschrift: die Schlümpfe) Die ›ketzerische Einstellung der faschistischen Römer‹ wird im Unterschied zu dem, was Jesus lehrt, als ›Propaganda‹ wahrgenommen. Im Votum der Schüler erscheint die Gegenwart immer noch unter dem Diktat der Römer zu stehen, weshalb Jesus auch heute der Volksverhetzung angeklagt würde. Die ›menthale Einstellung‹ scheint heute nicht anders zu sein als damals; ein ernüchternder Befund, denn scheinbar ›fließt eine Welle des Egoismus durch die Massen‹, der es verhindert, dass Frieden unter den Menschen herrscht. Hier mischen sich Kenntnisse zum Faschismus mit der Erfahrung des Egoismus ›heutzutage‹. Dieser Bezug auf die Gegenwart scheint den Schülern besonders wichtig zu sein; die Vernetzung von Vergangenheit und Gegenwart besticht in diesem Votum; ein tragfähiger Versuch, die eigene hermeneutische Kompetenz mit der Bergpredigt ins Spiel zu bringen. Eine Lösung für heute wird angeboten: ›Jeder müsste an sich selber arbeiten, da es sich als beinahe unmöglich erweist, als Einzelner eine große Masse zum Frieden zu bewegen‹. In diesem Votum spiegelt sich das Gefühl vieler Jugendlicher wieder, keinen politischen Einfluss auf die Gegenwart zu haben; die Aufgabe zum Friedenstiften wird darum vom eigenen Bemühen um Frieden abhängig gemacht. 2.4.3 Dogmatisch/ethische Reflexion der Voten der Schüler: Welche weiteren Lernaufgaben stehen an? Auf dem Hintergrund dogmatisch/ethischer Reflexion zeigen sich mit diesen Sprachformen der Schüler Möglichkeiten, diese kritisch zu befragen. Das ist darum notwendig, weil sich damit die Momente auftun, die für religiöses Lernen zu berücksichtigen sind; sollen die Lernwege in ihrer bildenden, korrigierenden und vertiefenden Funktion in religiösen Bildungsprozessen fungieren, so ist diese Analyse von weitreichender Bedeutung für die Unterrichtsvorbereitung. Mit den Sprachformen der Schüler wird es möglich, genauer wahrzunehmen, in welcher Hinsicht auf verschieden angelegten Lernwegen thematisch weitergearbeitet werden kann. Damit Schüler in ihrem religiösen Lernen unterstützt

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werden, wären darum in Bezug auf diese Voten der Schüler folgende Aspekte aufzunehmen, um ihr Lernen zu erweitern und zu vertiefen: An den Imperativen der Schüler ist zu sehen, dass Frieden für sie als Forderung erscheint, auf die sie mit ihrem eigenen Handeln antworten. An dieser Stelle wäre das Lernen neu auszurichten auf einen Erkenntnisgewinn, der sich mit der Arbeit am Indikativ der Bergpredigt eröffnen kann. Dabei wäre das Scheitern an solchen Forderungen ebenso zu thematisieren, wie der Zuspruch der ›Seligpreisungen‹ als Ausdruck der Befähigung zum Friedenshandeln. Darin liegt die besondere und neue Wahrnehmung, die die Seligpreisungen festhalten, dass sie die Möglichkeit des Friedenshandelns aus dem Schalom Gottes herausstellen. Diese Verheißung des Friedens Gottes für die Welt und die Menschen, die der Indikativ benennt, erfordert freilich einen Blickwechsel, der unterrichtlich zu arrangieren wäre: die Wahrnehmung des Friedens Gottes als Verheißung, auf die Menschen vertrauen lernen. Die Frage nach Jesus, was sein Leben und Handeln ausmacht, steht von den Voten der Schüler her neu zur Beantwortung an: War das Propaganda, die Jesus da von sich gab? Oder was wäre gewonnen, wenn Jesu Botschaft als Evangelium wahrgenommen würde? Mit dem Votum der Schüler ergibt sich die Lernaufgabe, dem Evangelium nachzugehen: Was beinhaltet diese Sprachform? Wie ist sie von Propaganda zu unterscheiden? Im Nachgehen dessen, was Jesus lehrt und was Menschen im Umgang mit ihm erfahren haben, kann sich den Schülern eine neue Spur der Wahrnehmung Christi eröffnen, die vielleicht weniger auf das Menschsein Jesu bezogen sein sollte als vielmehr auf seine Sendung. Darin würde religiöses Lernen die Vorstellung der Schülerinnen und Schüler von Jesus Christus weiterführen können, indem die dogmatische Rede ›wahrer Mensch und wahrer Gott‹ als kritische Orientierung für das Lernen aufgenommen wird; in dieser Hinsicht wäre die anstehende Aufgabe markiert, die die konkrete Lerngruppe betrifft. Eine Diagnose der Gegenwart wäre geeignet, dem genauer nachzugehen, was es heißt ein politischer Mensch zu sein bzw. zu werden. Weitere Lernprozesse hätten demnach die Möglichkeit, den Einfluss zu thematisieren, der den Schülern zukommt, wenn sie das Engagement für diese Welt, für eine humane Gestalt dieser Welt, eben nicht anderen überlassen, sondern selbst sich als befähigt zum Engagement erfahren können. Dabei wären dann auch im Diskurs Klärungen möglich: Ist Gesellschaft nur eine Masse, die bis heute faschistische Züge trägt? Was hat es mit dem Egoismus der Gegenwart auf sich? Wie ist die ›menthale Einstellung‹ heute wahrzunehmen? Was heißt es je konkret für den einzelnen Schüler, ein politischer Mensch zu werden? Wie kann sich das realisieren? Die Aspekte der dogmatisch/ethischen Reflexion, die es ermöglichen, die neuen Lernmöglichkeiten ins Auge zu fassen, sollen nun aber nicht so verstanden werden, dass sie auf das dogmatisch/ethisch Richtige ausgreifen; es ist

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hoffentlich deutlich geworden, dass die Analyse der Voten der Schüler dazu verhilft, weitere anstehende Lernaufgaben in den Blick nehmen zu können, ohne die eigenen Bemühungen der Schüler vorschnell herabzuwürdigen. Vielmehr wird auf dem Hintergrund dogmatisch/ethischer Reflexion das Weiterführende und Vertiefende wahrzunehmen möglich, um Schülerinnen und Schülern einen Zugang zu christlicher Religion zu eröffnen. Darin spiegelt sich zum einen die Aufgabe christlichen Religionsunterrichts wieder, der eben den Schülern die Möglichkeit eröffnen muss, christliche Religion immer genauer kennenzulernen. Zum anderen bleibt dabei aber das Prinzip der Offenheit religiösen Lernens gewahrt, das festhält, dass in diesem Lernen Schüler immer herausgefordert sind, danach zu fragen, ob das, was sie hier lernen, für sie Geltung beanspruchen kann und soll. Die diskursive Gestalt religiösen Lernens hält diese beiden Momente fest und gibt ihr im religiösen Lernen Raum. 2.4.4 Reflexion der Zugänge zu den Artikulationsformen der Schülerinnen und Schüler mit Hilfe der Unterscheidung von ›Mystik und Dogmatik‹ Grundmuster für die ›Sinnsuche‹ der Schülerinnen und Schüler aufzusuchen, die noch nicht oder die schon auf einen engen Referenzrahmen verweisen, ist das Anliegen der Unterscheidung von ›Mystik und Dogmatik‹: Ein Statement: Lösungen für das praktische Handeln in der Gegenwart wären wenn es mehr friedliche Lösungen geben würde. Wenn sich die Menschen nicht mehr so oft streiten würden, dann bräuchte man nämlich auch keine Lösungen, aber da man das »streiten« nicht verhindern oder vermeiden kann braucht man auch Lösungen und die sollen am Besten friedlich sein. »Die Streithähne« sollten nicht zerstritten auseinander gehen sondern sich unterhalten wer was falsch gemacht hat und sich bei den anderen entschuldigen. Das praktische Handeln in der Gegenwart sieht für mich so aus. Das ist meine persönliche Meinung. Einen Streit nicht lösen das kann jeder, einen Streit lösen kann nicht jeder, sondern nur die die klug handeln. (Schüler 20). Zwei starke Bewertungen werden von diesem Schüler/dieser Schülerin vorgenommen, die seine/ihre Meinung zur Friedfertigkeit wiedergeben: Einmal sollen die Lösungen hin zum Frieden ›am Besten friedlich sein‹. Zudem betont er/sie: ›Einen Streit nicht lösen das kann jeder, einen Streit lösen kann nicht jeder, sondern nur die die klug handeln‹. Aus der Logik der Bergpredigt heraus, kann er/sie so argumentieren und den Streit, den er/sie wohl gut kennt, kritisch wahrnehmen. Ein Statement: Um die Bibel nicht außen vorzulassen, sollte nun noch die Beichte erwähnt werden. Diese soll eigentlich freiwillig, aus eigenem Willen entstehen, doch erschreckend ist nun mal (die »Muss-Beichte« vor Kommunion & Konfirmation. Es heißt zwar freiwillig – doch eigentlich sind/bzw. werden die

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Jugendlichen dazu verpflichtet). … ›Religiösere Menschen bevorzugen evtl. die Beichte – auch dies ist nicht zu verachten – jeder sollte frei gestellt sein, wie er seine Probleme löst, solang dies nicht gewaltvoll erfolgt. (Schüler 21/22) Um ein religiöses Argument ins Spiel zu bringen, wozu sich der Schüler/die Schülerin herausgefordert fühlt, sucht er/sie nach einer Ausdrucksform dafür, ob die Bibel für die Frage nach der Friedfertigkeit eine Rolle spielen kann; ein eher angestrengtes Suchen nach einem religiösen Zusammenhang teilt sich mit; dabei nimmt er/sie einen Zusammenhang auf: Bibel und Beichte; strenge (katholische und evangelische) Beichtrituale lehnt er/sie ab; aber doch hält er/sie an der Beichte als Form der Verzeihung und Versöhnung für ›religiösere Menschen‹ fest. Die Freiheit, die Beichte zu suchen, wird aber im Votum unterstrichen. Auf der Ebene der Mystik findet sich hier ein Bezug auf ein spirituelles Moment, die Beichte, als eine Form religiösen Lebens. Ist das nur, weil die Beichte als eine Ausdrucksform des Glaubens allgemein bekannt ist und der Schüler /die Schülerin diese Form darum aufnehmen kann? Oder verbirgt sich dahinter mehr? Eine eigene Erfahrung in der Konfirmandenzeit vielleicht, in der diese rituelle Form des Glaubens für den Schüler /die Schülerin als befremdlich erlebt worden ist? Wichtig bleibt im Votum: die ›gewaltlose‹ Bemühung um Frieden. Dass der Zusammenhang von Bibel und Beichte in dogmatischer Hinsicht nicht so offensichtlich ist, wie für die Schüler, kann dahingestellt bleiben; jedenfalls wird mit der Beichte das ins Spiel gebracht, was Verzeihen und Versöhnung ermöglichen kann; und zu Recht finden sich ja in der Bibel Bezüge, die von Gott als dem erzählen, der verzeiht. Ganz vorläufig könnte man vermuten, dass mit diesem Votum der Schüler das Rechtfertigungsgeschehen in den Blick kommt, als eines Geschehens, in dem Gott an den Menschen um ihrer Rechtfertigung willen handelt. Dieser Zusammenhang, den die Schüler herstellen, kann demnach als ein impliziter Ausdruck für die Erfahrung interpretiert werden, die im Kontext christlicher Religion explizit artikuliert und reflektiert wird. Die Schüler haben sich demnach auf eine Spurensuche nach christlicher Religion begeben, die stimmig ist zu dem, was für den christlichen Glauben wesentlich ist. Die Anstrengungen, mit der die Schüler sich auf diese Spurensuche einlassen, sind besonders zu würdigen, führen sie doch die Lehrenden auf die Spur, diesem Zusammenhang mehr Raum im religiösen Lernen zu geben. Gerade weil die Rechtfertigung des Sünders zentraler Bezugspunkt christlicher Religion ist, wäre an einem Verstehen der Rechtfertigung zu arbeiten, um Schülern erweiterte Zugänge zu christlicher Religion zu eröffnen und um deutlicher zu machen, was es mit der Versöhnung Gottes auf sich hat. Ohne diese Perspektive blieben die Artikulationsversuche der Schüler auf sich selbst behaftet, blieben sie in ihrer Suche nach Formen der Versöhnung auf sich selbst gestellt und in ihrem religiösen Suchen allein.

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2.4.5 Reflexion der Zugänge zu den religiösen Artikulationsformen der Schülerinnen und Schüler durch die Wahrnehmung von Atmosphären – eine Videoanalyse Atmosphärische Eindrücke können im religiösen Lernen insbesondere über eigenständige Auseinandersetzungen der Schüler in der Arbeit an einem eigenen Videoclip entdeckt werden; diese Form der Bearbeitung von Konflikten gibt einem spielerischen Zugang Raum, der in sich selbst zunächst nichts Absichtsvolles hat, sondern gestaltet ist von einem Sich-Einlassen auf eine neue Wirklichkeit. Im Spiel tut sich auf, was sich als Möglichkeiten für das eigene oder gemeinsame Leben zeigt: In einem Videoclip, der dem Thema »Vor Gott sind alle gleich« nachgeht, artikulieren Schüler in offener, intuitiver Weise die Konsequenzen, die sich dann ergeben, wenn man diesem Thema Zustimmung gewährt. Zunächst die einzelnen Szenen des Videoclips: Szene 1: Ein Mädchen bzw. eine junge Frau kommt zur Tür herein. Eine weibliche Stimme aus dem Off stellt sie vor: »Das ist Penelope. Sie ist eine kleine verwöhnte Zicke.« Penelope geht auf einen jungen Mann zu und gibt ihm ein Begrüßungsküsschen. Die Stimme aus dem Off sagt: »Das ist Bruce. Er ist Stylist und schwul.« Penelope setzt sich. Bruce sprayt ihr Haar. Bruce dreht den Stuhl auf dem seine Kundin sitzt: »Voila!« Penelope: »Perfekt!« Penelope kramt in ihrem Täschchen und gibt Bruce einen Geldschein: »Hier, für Dich!« Penelope steht auf und gibt Bruce ein Verabschiedungsküsschen. Penelope verlässt den Salon mit stolzen Schritten und hoch erhobenem Haupt. Szene 2: Ein Mädchen sitzt in einem Gang mit dem Rücken an die Wand gelehnt neben zwei Mülleimern auf dem Boden. Eine weibliche Stimme aus dem Off stellt sie vor: »Das ist Alex. Sie ist obdachlos und Hartz-IV-Empfängerin.« Man hört Schritte. Die Kamera schwenkt in den Gang und man sieht Penelope kommen, deren Absätze laut auf den Pflasterboden knallen. Als sie an der Obdachlosen vorbei gehen will, reckt sich ihr diese entgegen und sagt zu der erschrockenen Penelope: »Hey, hast mal nen Euro?« Penelope wendet sich ab: »Mit so etwas reden wir nicht. (Offiziell) muss ich mich jetzt frisch machen.« [Der letzte Satz ist nicht verständlich.] Penelope stolziert weiter, während sich Alex ans Käppchen fasst und sich an die Wand zurücklehnt. Szene 3: Eine Blinde kommt langsam mit ihrem Blindenstock tastend den Gang herunter gelaufen. Die Stimme aus dem Off: »Das ist Anne. Sie ist blind.« Anne stößt versehentlich mit ihrem Stock an die Obdachlose. Diese reagiert aggressiv : »Hey (…; unverständlich)«. Anne: »Oh, Entschuldigung. Ich bin blind.« Alex fragt: »Du siehst gar nichts?« Anne: »Nein.« Alex: »Ah, wenn das so ist…« Sie steht auf und stößt Anne auf den Boden. Dann entwendet sie ihr den Geldbeutel aus der hinteren Hosentasche und flieht mit dem für Obdachlose typischen Plastikbeutel. Anne erhebt sich vom Boden.

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Szene 4: Eine Frau mit rotem Kopftuch reinigt den Spiegel in einer öffentlichen Toilette. Sie pfeift bei der Arbeit. Die Stimme aus dem Off: »Das ist Theodora. Sie ist Polin und Kloputzerin.« Die Tür öffnet sich und Penelope stolziert herein. Theodora macht eine Äußerung in einer unverständlichen Sprache (lautmalerisch nachgeahmtes Polnisch; Kontextinformation, die der Lehrer auf Nachfrage erhalten hat). Penelope nimmt ihre Sonnenbrille ab und sagt verächtlich mit Blick auf Theodora: »Wie man so tief sinken kann!« Theodora gibt in ihrer eigenen Sprache einen Kommentar ab, der aufgrund ihrer Gestik ebenfalls eine kritische Aussage über Penelope enthält. Penelope schminkt ihr Gesicht, während Theodora weiterhin den Spiegel putzt. Penelope setzt ihre Sonnenbrille wieder auf und sagt etwas Abschätziges [unverständlich. Es kling wie: »Lass uns wieder ans Licht gehen.«] zu Theodora gewandt. Penelope geht aus dem Raum. Szene 5: Die Kamera ist auf eine Schultafel gerichtet, die die Aufschrift trägt: »Vor Gott sind alle gleich.« Kirchenglocken beginnen zu läuten. Die Kamera schwenkt 180 Grad in den Raum. Man sieht ein Kruzifixus von hinten und Stühle in einem Raum, dessen Tür geöffnet ist. Penelope schreitet herein und setzt sich in die vorderste Stuhlreihe. Als nächster kommt Bruce, der homosexuelle Stylist, gleich danach die obdachlose Alex. Beide nehmen in der dritten Stuhlreihe (von vorne betrachtet) Platz. Danach erscheint die blinde Anne und setzt sich ebenfalls in die dritte Reihe neben Alex, von der sie ausgeraubt worden war. Theodora, die polnische Putzfrau schließlich setzt sich in die zweite Reihe.

Die Kamera zeigt alle Gottesdienstbesucher. Anne legt ihren Blindenstock ab. Jetzt schreitet der (katholische) Priester mit schnellen Schritten zum Altar. Er hält kurz vor dem Kruzifix an und macht eine Verbeugung. Vom Altar zur Gemeinde gewandt spricht er die Eröffnungsformel: »Im Namen des Vater, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen (die Gemeinde stimmt in das gemeinsam gesprochene Amen mit dem Priester ein). Und so lasst uns beten, wie der Herr uns zu beten gelehrt hat. Und wir fassen uns dabei an den Händen.« Die Gemeindemitglieder fassen sich an den Händen. Gemeinsam mit dem Pfarrer beten sie das Vaterunser. Dabei schwenkt die Kamera mehrmals über die Gottesdienstgemeinde und zeigt die einzelnen Personen. Die Gemeinde betet mit dem Pfarrer : »Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute (die Kamera zeigt auf Theodoras Hand). Und vergib uns unsere Schuld (die Kamera schwenkt zu Penelope, die Theodoras Hand hält), wie auch wir vergeben unseren Schuldigern« (die Kamera schwenkt über die hinterste Sitzreihe, in der sich Bruce, Anne und Alex an der Hand halten). Danach erscheint ein schwarzer Filmstreifen. Ein Abspann in Form eines Textes ist nicht vorhanden. Fünf Menschen begegnen einander (der Priester ist hierbei nicht mitgezählt). Dies geschieht teilweise im Rahmen der Alltagsroutinen in ihren Dienstleistungsberufen als Anbieter und Empfänger von Dienstleistungen, teilweise auf

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der Straße beim Betteln oder in einer öffentlichen Toilette. Am Schluss werden alle Personen während eines Gottesdienstes gezeigt: Die Komplexität der Wahrnehmung unterschiedlicher Lebenserfahrungen, die sich mit dem Clip in fünf einzelnen Szenen zeigt, gibt eine Atmosphäre wieder, die in die konkrete Wahrnehmung des Alltags führt und die auf fünf Personen gerichtet ist, die in ihrer Unterschiedenheit deutlich herausgestellt werden. Das Gebaren der Einzelnen zeigt das Video in sehr reduzierter Form und eröffnet gerade in dieser Reduktion Eindrücke der Wahrnehmung des Anderen in der Lebenswelt; auch die gesellschaftlich marginalisierten Personen erscheinen in der gemeinsam geteilten Lebenswelt; Spannungen und Reibungen zwischen den Personen und die sozialen Statusunterschiede werden in den einzelnen szenischen Vignetten aufgezeigt. Die Gottesdienstszene am Schluss des Films zeigt die fünf Menschen, wie sie vor Gott im gottesdienstlichen Raum stehen: Seite an Seite sitzen sie nebeneinander, dem Altargeschehen zugewandt, sich betend an den Händen fassend. Das Video zeigt die Verfassung aller Menschen vor Gott. Gott wendet sich ihnen im gottesdienstlichen Geschehen unterschiedslos zu. Vor Gott sind sie ohne irgendwelche Unterschiede vereint. Dem Video haftet in dieser Schlussszene nichts mehr an Ausgrenzung an. Diese Atmosphäre kommt ohne Bewertungen des Status der Einzelnen aus; es gibt keine Bewertungen wie besser, erfolgreicher oder gescheitert, sondern vielmehr erscheinen alle beteiligten Personen als dazugehörig; ein Bild einer gemeinsam geteilten Lebenswelt entsteht – im Gottesdienst, der eine Atmosphäre des Friedens ausstrahlt. In der Reflexion des Videos wird deutlich, dass es nicht ohne besondere Orte möglich ist, einer realistischen Vision von Frieden nachzugehen; aus bisher Gelerntem nehmen die Schüler den Gottesdienst als einen solchen Ort wahr, an dem Statusunterschiede aufgebrochen sind und gleichsam nichts mehr gelten. Im konkreten Gottesdienstraum lassen sie sich auf eine Zustimmung zu christlicher Religion ein; hier erproben sie die Geltung der Geschöpflichkeit, die Zusage des Personseins und der Würde, die jedem Menschen vor Gott zukommt. In den Alltagsräumen in den konkreten Lebenswelten des je Einzelnen finden sie diese Spur der Geschöpflichkeit nicht vor ; hier regieren Bilder vom Menschsein die Wahrnehmung des Anderen. Zeigt sich darin der Schmerz der Ausgrenzung, den Schüler auf diese Weise mitteilen und mit dem Gottesdienst zugleich die Hoffnung auf ihre Überwindung? Im Video zeigt sich eine Hoffnung auf die Eröffnung von Räumen, die das überschreiten helfen, was in der Alltagswelt als bedrängend erfahren wird; der gottesdienstliche Raum macht namhaft, was der Alltagswelt fehlt und was doch in der Sehnsucht der Schüler hoffnungsvoll auf Zustimmung trifft: Es braucht Räume, die den Alltag und seine Zuschreibungen unterbrechen; Räume, in denen es um das gemeinsame Leben geht und in denen sich gemeinsames Leben aus der Würde eigenen Personseins konstituiert. Das

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Video bringt das in der Performance zum Ausdruck, was mit dem Satz ›Vor Gott sind alle Menschen gleich‹ kurz und bündig gefasst ist. Die Schülerinnen und Schüler erspielen eine Wirklichkeit des Friedens und nehmen vorläufig teil an dieser Wirklichkeit, vielleicht in der Hoffnung, dass das Erspielte ihre Lebenswelt erneuert. Die Atmosphäre des Videos ist darum bestimmt von einer starken Zustimmung der Schülerinnen und Schülern zu dem Satz ›Vor Gott sind alle Menschen gleich‹. Freilich ist das damit Erspielte des Videos auf Bewährung im je eigenen kleinen Lebenskontext ausgerichtet; in diesem Erspielen neuer Lebensmöglichkeiten liegt aber die besondere Chance religiöser Bildungsprozesse: dass sie das, was ist und Realität beansprucht, eben nicht nur bestätigen wollen; vielmehr wird das, was ist, in Frage gestellte. Ihre ›realistische‹ und auch dogmatisch angemessene Einschätzung dessen, was der Gottesdienst der Christen für die Wahrnehmung von Menschsein und Miteinander eröffnet, zeigt, dass religiöses Lernen inmitten vieler Anfänglichkeiten auf eine Vertiefung ausgerichtet ist: der humanen Gestalt gemeinsamen Lebens innewerden zu können. Wenn dieser Lernweg Schülerinnen und Schüler befähigt hat› ein Gespür dafür zu gewinnen, dass ›Unterschiede nicht mehr gelten‹, dann haben sie im Kontext christlicher Religion – wenn auch vorläufig und fragmentarisch – an der Friedenssehnsucht zu partizipieren gelernt, die auf ein gemeinsames Leben gerichtet ist, das Menschen zueinander führt. Dass die Schüler dafür den Rahmen des Gottesdienstes wählen, mag vielleicht am Religionsunterricht hängen; das soll aber nicht vorschnell als abschätzig interpretiert werden; vielmehr bringt diese Wahl des Gottesdienstes seine Geltung für die Schüler zur Anschauung; es ist überraschend genug, dass hier nicht Vorurteile genährt werden und der Gottesdienst von den Schülerinnen und Schülern gerade nicht als unverstandene Feier der Christen wahrgenommen wird, von der man sich eher abwendet; vielmehr zeigt sich in der Zustimmung der Schüler der Gottesdienst als Ort des Humanen, an dem Menschsein in seiner Personalität und Würde wahrnehmbar wird.

2.5

Zusammenfassung der qualitativen empirischen Auswertung

Die Dokumente der Schülerinnen und Schüler zeigen wenig direkte Bezüge auf christliche Religion; nur dann beziehen sie sich auf christliche Religion, wenn sie angeleitet durch den Unterricht explizit biblische Texte aufnehmen; dann lassen sie sich darauf ein und versuchen dazu Stellungnahmen; ihr Wohlwollen gegenüber solchen Zugängen zu christlicher Religion ist bereits genannt worden. Freilich kann das auf dem Hintergrund der analysierten Voten der Schüler gerade nicht heißen, dass christliche Religion für sie kein Bezugsrahmen wäre. Die Anfänge, die sich in den Voten der Schüler zeigen, sich auf christliche Religion

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einzulassen, sind darum zu würdigen: Sie finden treffende Argumente für die Herausforderungen ethischen Lernens und nehmen auch Bewertungen vor, die sich in dogmatisch/ethischer Hinsicht vertiefen lassen und also zeigen, dass sich ihre Zugänge zu Religion oft umstandslos mit dem verbinden lassen, worauf christliches Leben gerichtet ist. Von Dietrich Ritschls Unterscheidung des Bleibend-Wichtigen und JetztDringlichen her lässt sich sagen, dass die Voten der Schüler sich eher im JetztDringlichen aufhalten. Die Bleibend-Wichtigen Bezüge, die den Bezugsrahmen christliche Religion zu erkennen geben, sind eher nur in Spuren erkennbar ; es wäre aber bloße Spekulation, würde man vermuten, dass dieser Bezugsrahmen für die Schüler gar nicht existieren würde. Die Wahrnehmung der Lernaufgaben, die sich auf dem Hintergrund der Analyse der Schülervoten ergeben, zeigen vielmehr, dass in der Erweiterung und Vertiefung durch religiöse Bildungsprozesse sich die Bleibend-Wichtigen Bezugsrahmen eröffnen. Die vorläufigen Zustimmungen der Schülerinnen in ihren ethischen Urteilen und ihre oft treffenden Bewertungen, denen auch manchmal etwas Weisheitliches anhaftet – so etwa ›einen Streit lösen kann nicht jeder, sondern nur die, die klug handeln‹ u. ö. – verweisen freilich auf einen Referenzrahmen, auf eine implizite Zustimmung zu dem, was christliche Religion explizit festhält. Zustimmung ist auf diesem Hintergrund darum mehr als nur eine Einstimmung in konventionelle Haltungen und allgemein menschliche Einstellungen. Insofern dient das Kriterium des Bleibend-Wichtigen dazu, die Aufgabe religiösen Lernens genauer wahrnehmen zu können; wider die Unbestimmtheit der Lebenswelt, die Bleibend-Wichtige Bezüge kaum explizit aufweist oder aber diese verdrängt zu haben scheint, hält religiöses Lernen an den Begründungszusammenhängen fest, die dem je eigenen Handeln und Urteilen ein tragfähiges und urteilsfähiges Profil verleihen. Was in der impliziten Zustimmung der Schüler zum Tragen kommt, wäre dann in der Explikation im religiösen Lernen genauer aufzusuchen, um Schülern die Möglichkeit zu eröffnen, den Kriterien eigenen Urteilens und Handelns nachzugehen, um den Kriterien auf die Spur zu kommen, die sie in ihrem Urteilen leiten. Religiöses Lernen führt darum in der Explikation des Bezugsrahmens christlicher Religion in eine Reflexivität, die dazu motivieren kann, eigene Klärungen vorzunehmen: Was bestimmt mein Urteilen und Handeln? Von woher gewinne ich Kriterien für die Wahrnehmung meiner Selbst und der Welt? Diese Reflexivität in aller Anfänglichkeit ist die Voraussetzung, dass Schülerinnen und Schüler sich als einen selbstbewussten citoyen wahrnehmen lernen, um nicht einer Vielzahl von Optionen aufzusitzen, die die Lebenswelt zur Verfügung stellt. Das hat auch in Hinsicht der eigenen religiösen Verortung seine Bedeutung: erst auf diesem Hintergrund wird es möglich, dass Schülerinnen

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und Schüler nach ihrer eigenen religiösen Heimat fragen lernen und zu urteilen in der Lage sind: Kann das, was ich hier lerne, für mich Geltung beanspruchen? Lasse ich mich darauf ein, mich davon formen zu lassen?35

3.

Befähigt zur Zustimmung – zur Aufgabe religiöser/ethischer Bildungsprozesse heute

Mit der Konzentration auf den Vorgang der Zustimmung sind zwei Momente in den Blick gekommen, die die Notwendigkeit religiöser/ethischer Bildung in der Gegenwart deutlich machen: Einmal ermöglicht sie das dichte Geflecht des Lernens genauer wahrzunehmen, indem die Referenzrahmen Auskunft geben über die Bezugswelten, mit denen sich Schülerinnen und Schüler in ihrem Leben und Handeln zu orientieren lernen. Die Zustimmung, die sich dabei ausdrückt, ist dabei freilich nicht auf den Kontext christlicher Religion beschränkt, sondern verweist auf eine Vielzahl von Orientierungen, die das Leben und Handeln der Lernenden bestimmen. Insofern ermöglicht diese Konzentration auf Zustimmung eine zwar immer auch vorläufige aber doch ertragreiche Wahrnehmung der Einstellungen und Haltungen der Lernenden. Sie ermöglicht es den Lehrenden in Unterrichtsprozessen die Kontexte genauer zu erfassen, die die Sprachversuche der Lernenden an spezifischen Themen zum Ausdruck bringen. Die Argumentationen der Schülerinnen und Schüler verweisen auf die Geltung von Orientierungen, die ihr Leben und Handeln bestimmen. Dass es dabei immer um vorläufige und versuchsweise Argumentationen handelt steht außer Frage, gerade indem berücksichtigt wird, dass es dabei immer auch um die Geltung affektiver Orientierungen geht, die oft noch nicht ausführlich reflektiert worden sind oder aber denen oft noch nicht genauer nachgegangen worden ist. Insofern verhilft die Konzentration auf den Vorgang der Zustimmung dazu, die Bildungsaufgabe deutlich zu machen. Demensprechend ist festzuhalten: Die Lernenden brauchen Räume des Lernens, um die sie bestimmenden Orientierungen auszuloten und auch zur Sprache bringen zu können. Das ist gerade in Hinsicht der affektiven Wirkung von Orientierungen notwendig. Damit bilden sie eine reflexive Kraft aus, die es ihnen ermöglicht, die Geltung von Orientierungen kritisch zu befragen und in weiterführenden und vertiefenden Lernprozessen das weite Feld religiöser und ethischer Orientierungen einschätzen und bewerten zu lernen.

35 Hauerwas, Stanley : Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik; NeukirchenVluyn 1995, 77 u. ö.

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Zum anderen ermöglicht der konzentrierte Blick auf Zustimmung, die Offenheit des Lernens wahrzunehmen, die insbesondere christlicher Religion eignet: Inmitten einer Vielzahl möglicher Orientierungen und starker Bewertungen eigenen Lebens und Handelns können die Lernprozesse christlicher Religion dazu beitragen, die Diskursivität der Verständigung über tragende Orientierungen als wesentliche Grundlage für je eigene Orientierungen hervortreten zu lassen. Auch darin spiegelt sich die Bildungsaufgabe der Gegenwart wieder : Die Lernenden brauchen Räume, die ihnen die Erfahrung von Freiheit eröffnen; Lernprozesse gehen darauf zu, indem sie eine Vielfalt von starken Bewertungen bezogen auf das je eigene Leben und Handeln zulassen, ohne diese vorschnell auf die Lebensform christlicher Religion zurückzubinden. Im Diskurs eröffnen sich dabei Perspektiven, die zur Zustimmung führen können, die aber auch Zustimmung verweigern lassen. Gerade so teilt sich eine Offenheit mit um der Freiheit der im Lernen Beteiligten willen.

Silke Reiser-Deggelmann

»Paradies und Hölle kann man auch auf dieser Welt haben.« Irritationen des Menschseins dargestellt an Franz Kafkas Roman Der Prozess

Am Anfang stehen zwei wichtige autobiographische Zeugnissen Kafkas, die sogenannten Testamente: »(I) Liebster Max, meine letzte Bitte: alles, was sich in meinem Nachlass (also im Bücherkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch zuhause und im Bureau, oder wohin sonst irgendetwas vertragen worden sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem u.s.w. findet restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andere, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten. Dein Franz Kafka«1 »(II) Lieber Max, vielleicht stehe ich diesmal doch nicht mehr auf, (…). Für diesen Fall also mein letzter Wille hinsichtlich alles von mir Geschriebenem: Von allem was ich geschrieben habe gelten nur die Bücher : Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler. (…) Dagegen ist alles, was sonst an Geschriebenem von mir vorliegt ( …) ausnahmslos zu verbrennen und dies möglichst bald zu tun bitte ich Dich Franz »2

Wer ist dieser Kafka? Kafka, geboren am 3. Juli 1883, ein deutsch- böhmischer Jude, ist Staatsbürger der Monarchie Österreich- Ungarns. Er besitzt ab 1919 einen tschechischen Pass und stirbt am 3. 6. 1924 in der Republik Österreich an einer Kehlkopftuberkulose. Das ist das äußere Datengerüst, das Kafkas Leben umfasst. Hier als Ergänzung bzw. Erinnerung an den letzten Vortrag noch einige weitere ›Screenshots‹: Kafka, der mit dem traumatischen Vaterkomplex, »der ewige Sohn«3, der Jude mit der Bindungs- und Berührungsangst, der leidenschaftliche Schriftsteller, der

1 Stach, Reiner : Ist das Kafka? 99 Fundstücke; Frankfurt am Main 2012, 286. 2 Stach, Ist das Kafka?, 287. 3 Alt, Peter-Andr¦: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie; München 2008.

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nachts schreibt und tagsüber als Jurist in Prag bei einer Arbeiterunfall-Versicherungsanstalt arbeitet: »Ich brauche zu meinem Schreiben Abgeschiedenheit, nicht ›wie ein Einsiedler‹, das wäre nicht genug, sondern wie ein Toter. Schreiben in diesem Sinne ist ein tieferer Schlaf, also Tod, und so wie man einen Toten nicht aus seinem Grabe ziehen wird und kann, so auch mich nicht vom Schreibtisch in der Nacht.«4

Kafka, ein Mensch voller Selbstzweifel, der aber auch Elemente des Komischen und Grotesken in seinen Werken einbaut, der das Schreiben als Therapie empfindet: »Manchmal glaube ich, ich verstehe den Sündenfall wie kein Mensch sonst.«5

Kafka, der immer wieder Versuche unternimmt, sich in die bürgerliche Gesellschaft als Ehemann zu integrieren. Kafka, der sich dreimal verlobt, und nach der ersten Entlobung Folgendes anmerkt: »die Verlobungsexpedition mit meinen Eltern war für mich eine Folterung Schritt für Schritt.«6 Was hat gerade eine dieser Verlobungen und Entlobung mit Kafkas Romanfragment Der Prozess zu tun? Diesem Roman, den Kafka eigentlich nicht als überlieferungswürdig ansieht. Der Roman Der Prozess »ist unzweifelhaft aus Kafkas Auseinandersetzung mit der tief gehenden Krise hervorgegangen, in die ihn die Verlobung mit Felice Bauer im Mai 1914 in Berlin und die unmittelbar anschließende Entlobung im Juli stürzten. Kafka befand sich in einer verhängnisvollen Sackgasse. Durch die Entlobung fühlte er sich einerseits befreit, aber die Schuldgefühle, in der entscheidenden Frage der Ehe- und Familiengründung versagt zu haben, waren überwältigend.«7

Zwar scheint Felice von Anfang an nicht als begehrenswerte Frau, sondern ist nur das Ziel der gefassten Heiratspläne Kafkas. Eine Geliebte auf dem Papier, der er 500 Briefe schreibt. Schon zu Beginn der Beziehung spielt die »Angst vor der Verbindung, dem Hinüberfliessen«8 eine außerordentlich große Rolle. Dies zeigt sich an der Befürchtung Kafkas: »Dann bin ich nie mehr allein. (21. 7. 1914)«9 Die Entlobung der beiden erfolgte sechs Wochen später bei einem Treffen in 4 Kafka, Franz: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit; hg. von Erich Heller und Jürgen Born, Frankfurt am Main 2009, 412. 5 Heller, Erich: Die Welt Franz Kafkas (1948/49); in: Franz Kafka, hg. von Heinz Politzer, Darmstadt 1973, 175. 6 Robertson, Ritchie: Kafka. Judentum Gesellschaft Literatur ; Stuttgart 1988, 131. 7 Beicken, Peter : Biographische Hintergründe zum »Process«. Der Gerichtshof im Hotel; in: Franz Kafka: Der Process, Oldenbourg Interpretationen Bd. 70, hg. von Klaus-Michael Bogdal und Clemens Kammler, München 1999, 27. 8 Beicken, Peter : Biographische Hintergründe zum »Process«, 28. 9 Beicken, Peter : a. a. O., 28.

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Berlin im ›Askanischen Hof‹. Kafka nennt dieses Ereignis den »Gerichtshof im Hotel«.10 Er kehrt nach Prag zurück und muss den eigenen inneren Kampf aufnehmen. »Verfolgt von dieser nagenden Schuld erfährt er einen inneren Prozess der Selbstanklage und des Selbstgerichts.(…) Eine Schmach des Lebens wird literarisch geahndet.«11 In dieser Zeit des Versuchs, die Felice-Problematik literarisch zu verarbeiten, kommt er zu einer Entscheidung: »Wenn ich mich nicht in eine Arbeit rette, bin ich verloren.« (Tagebucheintrag am 28.7.14)12 In zwei Monaten entstehen 200 Manuskriptseiten. Er arbeitet mit zehn Quartheften. Die dem Process zugehörigen Blätter trennt er heraus und ordnet sie nach Kapiteln und Fragmenten. Er schreibt zugleich das erste und das letzte Kapitel des Romans. Die Arbeit vollzieht sich in zwei Abschnitten: Vom August 1914 bis Oktober und vom Oktober 1914 bis Januar 1915. Zum Teil kommentiert Kafka seine Schaffensphasen mit Sätzen wie »14. Dezember. Jämmerliches Vorwärtskriechen der Arbeit. (…) 15. Dezember. Gar nichts gearbeitet (…).«13 Die Methode, die er anwendet, führt dazu, dass er mehrere Kapitel gleichzeitig verfasst, d. h. er lässt die streng lineare Schreibweise fallen. Der moderne Roman ist geboren. Was aber ist das für ein Roman – Der Process? Ein moderner Geniestreich des 20. Jahrhunderts? Inhaltlich bestehend aus Bildern von verstaubten Akten und skurrilen Charakteren und einem vernetzten Handlungsstrang, der das Leben des Protagonisten Josef K. ein Jahr beleuchtet? Geschrieben mit einem Anflug von Paranoia unter dem Vorzeichen eines neurotischen Schuldkomplexes? Kommt dazu noch eine Moral in Form einer Legende, welche natürlich im Kapitel ›Im Dom‹ entfaltet wird? Begeben wir uns also in das Labyrinth des Processes: Der Roman beginnt im ersten Kapitel mit dem Satz: »Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.«14 Josef K., die Hauptfigur, steht an seinem 30. Geburtstag am frühen Morgen zwei Wächtern gegenüber, die ihn quasi im Bett verhaften, sein Frühstück verspeisen und über sein Nachthemd verhandeln. Seltsamerweise wird ihm durch den hinzugezogenen Aufseher eröffnet, dass er sich als Mensch weiterhin frei bewegen darf und zur Arbeit gehen kann. Das ›Tribunal‹ der Prozessverkündi10 Ebd., 30. 11 Ebd.27. 12 Kafka, Franz: Tagebücher Bd. 3: 1914 – 1923 in der Fassung der Handschrift, Frankfurt am Main 2008, 27. 13 Beicken, a. a. O., 33. 14 Kafka, Franz: Der Prozess und ausgewählte Parabeln; hg. von Johannes Diekhans. Erarbeitet und mit Materialien versehen von Norbert Schläbitz, Paderborn 2004, 7.

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gung besteht aus den beiden Wächtern, dem Aufseher und drei Mitarbeitern aus K.s Arbeitsstelle, der Bank. Der Form nach ist Kafkas Gerichtswesen realistisch. Zum Teil jedoch hat man das Gefühl, dass es sich um »die Karikatur eines Gerichts« handeln muss.15 Zumindest wird fast alles, was K. zustößt, irgendwie voyeuristisch beobachtet, sei es durch die beiden Wächter Willem und Franz, durch Nachbarn am Fenster oder durch die drei Bankbeamten Rabensteiner, Kaminer und Kullich, die Kollegen von K. an der Bank sind. K. selbst ist Prokurist dieser großen Bank, hat ein genau geregeltes Leben bestehend aus Arbeit und sogenannter Freizeit. Diese verbringt er am abendlichen Stammtisch bzw. einmal die Woche bei der Kellnerin Elsa, die seine Geliebte ist. Eine Familie hat K. nicht, nur einen Onkel, der sich später als Mann vom Lande in K.s Prozess einmischt. Das erste Kapitel führt dann am Ende zu Gesprächen mit seiner Vermieterin und einer attraktiven Zimmernachbarin über den Vorfall der Verhaftung am Morgen; wie könnte es anders sein, sie trägt den Namen Fräulein Bürstner, die Initialen F.B. erinnern – nicht gerade zufällig – an Felice Bauer. Die nachfolgende Szene mit Fräulein Bürstner endet allerdings triebhaft- animalisch, wohl eher einen Wunschtraum Kafkas verkörpernd. Wie wir gehört haben, entspricht Felice Bauer ja in Wirklichkeit nur der Geliebten auf dem Briefpapier. Das zweite Kapitel eröffnet den ersten Kontakt mit den Gerichtsinstanzen. K. wird telefonisch vorgeladen und findet sich an einem Sonntagmorgen verspätet und gehetzt in einer entlegenen Vorstadtstrasse ein. Er hält – nachdem er vor Gericht mit einem Zimmermaler verwechselt wurde – eine flammende Verteidigungsrede, die es an Unverschämtheiten nicht fehlen lässt. Im dritten Kapitel sucht er eine Woche darauf die Gerichtskanzleien auf – es wird ihm klar, dass es sich um schäbige Bretterbuden handelt. Kapitel vier enthält eine kurze Episode mit der Freundin von Fräulein Bürstner. Kapitel fünf entwirft in der Prüglerszene eine sado-masochistische Szenerie. K.selbst lernt die Gesinnungsethik des Prüglers kennen: »Ich bin zum Prügeln angestellt, also prügle ich.«16 Es gibt ein Wiedersehen mit den Wächtern Willem und Franz. In Kapitel sechs erscheint K.s Onkel in der Bank und führt ihn beim Advokaten Huld ein. Leni, die Haushälterin Hulds, verführt K. nicht nur aufgrund ihrer schwarzen Augen. Sie vertritt den Doppelaspekt der Frau – nämlich als Dienerin und Beherrscherin, Sklavin und Domina. Die Frauen sind vermeintliche Helferfiguren. Im siebten Kapitel wird deutlich, dass der Prozess für K. zum alles beherr15 Stach, Reiner : Kafka. Die Jahre der Entscheidungen; Frankfurt am Main 2003, 548. 16 Kafka, Franz: Der Prozess und ausgewählte Parabeln, 88.

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schenden Element in seinem Leben geworden ist. Er ist jetzt fest entschlossen eine Verteidigungsschrift auszuarbeiten. Zunächst macht er die Bekanntschaft des Gerichtsmalers Titorelli, der ein bohemienhaftes Leben führt und ihm die Aussichtslosigkeit seines Prozesses vor Augen führt. In Kapitel acht kündigt K. dem Advokaten und will alles selbstbestimmt in die Hand nehmen. Im vorletzten Kapitel ›Im Dom‹ tritt uns als Leser der Gefängniskaplan entgegen, der mit der Türhüterlegende ein erneutes Rätsel in den Text einbringt. Als Resümee gibt er K. folgende Sentenz mit: »Du musst nicht zu viel auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.«17 Des Weiteren sagt er : »Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst.«18 Am Ende des Romans wird K. von zwei Männern am Vorabend seines 31. Geburtstages abgeholt und mit einem Würgegriff des einen Mannes und einem Messer des anderen Mannes umgebracht. Ein Jahr hat K. versucht, die Maschinerie des Gerichts zu durchschauen, um zu ergründen, was ihm genau vorgeworfen wird: »Das entspricht Kafkas eigener Neigung, psychische Vorgänge unter dem Brennspiegel der juristischen Perspektive zu betrachten. ›Kämest du unsichtbares Gericht!‹ heißt es schon am 20. Dezember 1910 in der knappen Zusammenfassung einer Tagebuchphantasie (…)«19

Wo aber finden sich Irritationen im Prozess? Hierzu einige Thesen: »K. steht vor dem Gerichtshof des eigenen Ichs (…).«20 Im Karussell des Prozesses dreht sich alles um K. K.s Schuld ist zunächst nur ein Schuldgefühl. »Die Seelenarbeit, die der Roman beschreibt, bedient sich einer rechtswissenschaftlichen Hermeneutik, die das menschliche Innenleben als Fallgegenstand zu erfassen versucht.«21 Frauen werden als Helferfiguren mit in den Prozessablauf eingebunden: »Nicht als Charaktere, sondern als erotisch aufgeladene Typenfiguren innerhalb männlich besetzter Ordnungen spielen sie ihre genau umrissenen Rollen.«22 Auch dadurch entwickelt sich ein Schuldgefühl K.s. Gerade Leni wird im Prozess zur sirenenhaften Figur, der K. einerseits verfällt, sie andererseits aber auch benutzt. Durch den Makel des Schwimmhäutchens zwischen Mittelfinger und Ringfinger wird Lenis Andersartigkeit betont. Sie bündelt die Männerphanta17 18 19 20 21 22

Ebd. 213. Kafka, Franz: Ebd. 217. Alt, Peter-Andre: Franz Kafka. Der ewige Sohn, 393. Ebd. 395. Ebd. 393. Ebd. 397.

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sien in ihrer Person. Noch weiter ist zu sagen, dass Kafkas Prozess »die Obsessionen und Verwerfungen des männlichen Wissens über weibliche Sexualität« darzustellen versucht.23 »Die Sexualität verbindet sich auf bemerkenswerte Weise mit K.s Prozess.«24 Pornohefte und schlüpfrige Gesetzesbücher, die dubiose Rolle des Untersuchungsrichters, die Atmosphäre der Prüglerszene mit den Attributen Peitsche und Leder, die Frau des Gerichtsdieners sowie Lenis Promiskuität und die Szene mit Fräulein Bürstner, der K. erotisch in der Nacht der Verhaftung verfällt und sie daraufhin animalisch ›anspringt‹ – all das sind Irritationen, die sich im Prozess finden. Für Irritationen sorgt auch das Gericht auf dem Dachboden: »Wo immer K. mit dem Gericht in Verbindung tritt, muss er erfahren, dass es streng hierarchisch, aber in letzter Konsequenz unüberschaubar gegliedert ist.«25 Zum einen ist das Gericht als Ordnungsmacht ein »differenziertes administratives Gefüge«, zum anderen besitzt das Gericht »die provisorischen Züge der Organisation«, nichtsdestotrotz kann man sagen, dass »die wahre Macht der Behörde (…) jedoch in ihrer Omnipräsenz« zu finden ist.26 »(…) gerade weil das Gericht K.s komplettes Leben beherrscht, muss es beweglich bleiben: sein provisorisches Erscheinungsbild ist die andere Seite seiner Allgegenwart.«27 Die größte Irritation, die der Roman aufwirft, ist die, dass Josef K. immer mehr von seinem Prozess umzingelt und dominiert wird. K.s Prozess ist in gleichem Masse auch Spiegelung der Arbeit des Autors an diesem Text, »seiner das gesamte Leben Kafkas absorbierenden Kräfte (…).«28 Somit komme ich zur Erkenntnis, dass der komplette Roman, das ganze Romanfragment, eine Irritation per se darstellt: »Da sich die Kategorien der Schuld und der Strafe bei Kafka neu definiert finden, können sie auch nicht nach einem religiösen oder juristischen Vorverständnis beurteilt werden. Schon im Urteil tritt zutage, dass konventionelle Rechtsbegriffe in Kafkas Werk keine Geltung haben.«29

Kurz vor seinem Tod im Steinbruch stellt K. heraus: »Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck. Das war unrichtig.«30 Dies zeigt K.s Einsicht, »(…) dass er durch

23 24 25 26 27 28 29 30

Ebd. 399. Ebd. 401. Ebd. 403. Ebd. 403. Ebd. 403. Ebd. 407. Ebd. 390. Kafka, Franz: Der Prozess, a. a. O., 220.

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Unruhe und Oberflächlichkeit den Zugang zu den inneren Zentren seines eigenen Lebens verfehlt hat.«31 Dass die Gesamtdeutung eines solchen Romans schwierig ist, brauche ich nicht explizit zu erwähnen. Es sei nur daran erinnert, dass der Roman vielen Interpretationsversuchen unterworfen wurde und wird, unter anderem der psychoanalytischen Deutung, der werkimmanenten, der religiösen bzw. der soziologischen Deutung.32 Vielleicht verhält es sich mit diesen Deutungsversuchen ähnlich wie mit der folgenden Anekdote in Bezug auf Kafkas beeindruckende Augen: »Um so auffallender, dass selbst diejenigen, die Kafka am nächsten standen, die Farbe seiner Augen völlig unterschiedlich wahrnahmen.«33 Dies wird an folgender ›Augenanekdote‹ deutlich: »Dunkel (4 Stimmen): ›der Blick seiner dunklen Augen fest und doch warm‹ (Felix Weltsch) ›sah mich aus seinen dunklen Augen, die stets so wehmütig, eigentlich unjugendlich blickten, an‹ (Anna Lichtenstein) ›seinem dunklen Blick‹ (Michal Mares) ›dunkle Augen‹ (Alois Gütling) Grau (4 Stimmen): ›ich blieb tief beeindruckt von den stahlgrauen Augen Kafkas und ihrem tiefen Blick‹ (Miriam Singer) ›Kafka hatte große graue Augen‹ (Gustav Janouch) ›die Augen kühn, blitzend grau‹ (Max Brod) ›graue Augen‹ (V‚clav Karel Krofta) Blau (3 Stimmen): ›mit seinen stahlblauen Augen‹ (Dora Geritt) ›sah ich, dass seine dunklen Augen blau waren‹ (Fred Berence) ›tiefblaue Augen‹ (Tile Rössler) Braun (3 Stimmen): ›er hatte braune, schüchterne Augen, in denen es aufleuchtete, wenn er sprach‹ (Dora Diamant) ›mit seinen schönen braunen Augen‹ (Christine Geyer, geb. Busse) ›er hatte schöne, große, braune Augen‹ (Alice Herz-Sommer) Eine diplomatische Lösung dieser Widersprüche bietet Kafkas Reisepass. Dort ist die Augenfarbe vermerkt: DUNKELBLAUGRAU.«34

31 32 33 34

Alt, Peter -Andre: Franz Kafka. Der ewige Sohn, 417. Stach, Reiner : Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, vgl. 547. Stach, Reiner : Ist das Kafka?, 52. Ebd. 52 ff.

Bilderverzeichnis und Genehmigungen

Die Schutzfristen für die Werke Malewitsch und Velasquez sind abgelaufen und insofern frei. 1. Bildnummer : 23979 Künstler : Malewitsch, Kasimir, 1878 – 1935 Bildtitel: Das schwarze suprematistische Quadrat. 1913 Maße: 79,5 x 79,5 cm Technik: Öl/Lwd. Standort: Moskau, Tretjakow-Galerie Foto: Ó IMAGNO – ARTOTHEK 2. Die Genehmigung für das Bild von Picasso haben wir von VG Bild-Kunst sowohl für die normale Reproduktion als auch für die digitale Reproduktion erhalten und auch bezahlt. (Motiv Nr.:7-ALB-ORZ082266, Akg image, Berlin) 3. Bildnummer : 25888 Künstler : Velazquez, Diego Rodriguez de, 1599 – 1660 Bildtitel: Venus mit dem Spiegel. Um 1647 – 51(?) Maße: 122 x 177 cm Technik: Öl/Lwd. Standort: London, National Gallery Foto: Ó IMAGNO – ARTOTHEK 4. Schülerbild »Friedfertigkeit« (Den Schülerinnen und Schüler die mir die Erlaubnis gaben, die Bilder zu veröffentlichen, danke ich hiermit ganz herzlich.) 5. Schülerbild »Frieden«