Subjekt werden: Neutestamentliche Perspektiven und politische Theorie 9783110310665, 9783110310573

Questions related to the subject of political action are among the important current issues in political theory formatio

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Subjekt werden: Neutestamentliche Perspektiven und politische Theorie
 9783110310665, 9783110310573

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Die Frage nach dem Subjekt in systematisch-ethischer Perspektive. Zu einer Ethik des Politischen
Rückbindung (religio) an den Anderen - im europäischen Horizont. Zu Grenzen der Politisierung menschlicher Subjektivität
Lacan und das Begehren – zu Heilsgeschichte, Gesetzeskraft und Objekt klein a
Das liminale Subjekt. Modelle der Subjektivierung im Neuen Testament
Mitherrschaft als politisches Phantasma. Zum Imaginären des Subjekts im Neuen Testament
Eschatologische Mitherrschaft. Die transformative Kraft im politischen Diskurs der ersten Christen
Verrat und Umkehr – Selbstverrat und korrumpierte Vernunft
„Ihr seid Zeugen“ (Joh 15,27). Die johanneische Figur des Zeugen in subjekttheoretischer Sicht
Das autobiographische „Ich“ des Paulus und das politische Subjekt
Die Bergpredigt als ermutigende Anweisung zur prekären Selbst-Bezeugung der Kinder Gottes
Subjekt werden. Zur Konstruktion narrativer Identität bei Paulus, Johannes und Matthäus
Autorenregister
Bibelstellenregister

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Subjekt werden

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von Bruce McCormack, Friederike Nüssel und Christoph Schwöbel

Band 162

De Gruyter

Subjekt werden Neutestamentliche Perspektiven und politische Theorie

Herausgegeben von Eckart Reinmuth

De Gruyter

ISBN 978-3-11-031057-3 e-ISBN 978-3-11-031066-5 ISSN 0563-4288 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

” 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

       

Vorwort 

    ECKART REINMUTH    Die Beiträge dieses Bandes basieren auf zwei Workshops an der Theo‐ logischen  Fakultät  der  Universität  Rostock  im  Herbst  2010  und  2012.  Ziel  dieser  Arbeitstreffen  war  ein  interdisziplinärer  Austausch  zu  der  Frage,  wie  der  Begriff  der  Subjektwerdung  als  eines  der  aktuellen  Themen politischer Philosophie in neutestamentlicher Perspektive und  im Dialog mit anderen Kulturwissenschaften reflektiert und bearbeitet  werden kann. Die Konzeption ging von der Beobachtung aus, dass sich  Facetten  der  gegenwärtigen  Diskussion  um  die  Theorie  des  Subjekts  mit  neutestamentlichen  Reflexionen  von  Marginalisierung  und  Exklu‐ sion,  Personsein  und  Identität,  Unterworfenheit  und  Handlungsfrei‐ heit, Selbstverlust und Selbstbestimmung berühren. Die Frage, wieweit  hier  ein  interdisziplinärer  Dialog  möglich  sein  würde,  lag  auf  der  Hand.   Die  Problematisierung  des  klassischen  Subjektbegriffs  unter  post‐ strukturalistischem Vorzeichen führte dazu, seine wesentlichen Konsti‐ tuenten kritisch zu hinterfragen. Das Subjekt ist nichts Fertiges, weder  personales  Apriori  noch  biographisches  Produkt,  sondern  Begriff  für  eine  nicht  abschließbare  Prozessualität.  Im  Gegenzug  zum  Begriff  „ei‐ nes  autonomen  und  vernünftigen  Subjekts“1  geht  es  nun  um  die  Machtverhältnisse  und  Disziplinierungen,  in  die  Menschen  hinein‐ wachsen und eingebunden sind. Sie setzen sich mit ihnen auseinander  und  realisieren  in  diesen  Prozessen  konkret  ihre  Freiheit.  In  diesen  Prozessen  zeigen  sich  wesentliche  Bedingungen  der  Subjektwerdung.  Der  Titel  dieses  Bandes  knüpft  sachlich  hier  an  und  zeigt  neue  Mög‐ lichkeiten  eines  aufschlussreichen  Dialogs,  die  dann  auch  für  einen  theologischen  Beitrag  zur  politischen  Theorie  von  Bedeutung  sind.  Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass der moderne Sub‐ jektbegriff im  Neuen  Testament  kein  Äquivalent  hat.  Die  Heraufkunft  des politischen Subjekts in der Moderne ist an die die europäische Auf‐ klärung  und  die  Herausbildung  des  Souveränitätsgedankens  gebun‐                                1  

Robin  Celikates,  Stefan  Gosepath,  Grundkurs  Philosophie  Band  6:  Politische  Philo‐ sophie, RUB 18473, Stuttgart 2013, 143 und pass. 

VI 

Eckart Reinmuth 

den,2  und  die  Traditionen,  an  die  der  philosophische  Subjektdiskurs  anknüpft, verdanken sich durchweg modernen Fragestellungen.   Will man überhaupt so etwas wie Vorausgestalten des klassischen,  also mündigen, souveränen, freien Subjekts in der Antike aufsuchen, so  legt  sich  das  hellenistisch‐römische  Erziehungsideal  ungleich  näher.  Die  Ausbildung  des  freien  Mannes  zu  einem  politisch  handlungsfähi‐ gen Subjekt schloss sein Wissen, seine Tugenden und seine körperliche  Trainiertheit ein. Ziel der Erziehung (paideia) war die Verkörperung des  gesellschaftlichen  Leitideals  des  freien  Bürgers  als  politisches  Subjekt.  Sein kostbarstes Gut ist seine Ehre.3 Mit ihr verbinden sich Vorstellun‐ gen von Mut und Stolz, Kraft und Entscheidungsfreiheit, Bildung, Re‐ putation und Durchsetzungsfähigkeit.  Im  Neuen  Testament  sucht  man  vergeblich  nach  entsprechenden  Modellen.  Das  Stichwort  paideia  und  das  entsprechende  Verb  sind  gänzlich anders besetzt. Hier geht es um eine den dominant geltenden  Werten entgegengesetzte Orientierung: Erfahrungen von ungerechtfer‐ tigtem  Leiden,  Erniedrigung,  Ehrverlust  werden  mit  dem  Erziehungs‐ konzept  verknüpft,  und  es  wird  auf  diese  Weise  nachhaltig  konterka‐ riert.4  Das  christliche  Subjekt  konnte  vor  diesem  Horizont  und  in  dieser  Korrelation  nur  als  gebrochenes  und  zugleich  erhöhtes  sub‐iectum  ge‐ dacht werden. Diejenigen Attribute, die in gesellschaftlicher Perspekti‐ ve  Signale  der  Gebrochenheit,  Unterlegenheit  und  Wehrlosigkeit  wa‐ ren,  wurden  nun  zu  Auszeichnungen  des  neuen  Seins.  Gleichzeitig  konnte dieses neue Sein metaphorisch mit den positiven Zielwerten der  paideia umschrieben werden.5  Nimmt man an dieser Stelle die Spur frühchristlichen Denkens auf,  so wird deutlich, dass es in dessen Perspektive um das Zerbrechen des  als sicher Gewussten und Geglaubten, um das Verlieren von Sicherhei‐ ten, um tiefgreifende Erschütterungen geht. Bedarf das antike – männ‐ liche – Subjekt der Stärke, der Freiheit, der Überlegenheit, so bricht sich                                 2   3  

4  

5  

Vgl.  z.B.  Hauke  Brunkhorst,  Einführung  in  die  Geschichte  politischer  Ideen,  UTB  2161, München 2000, 182f.  Vgl. z.B. John G. Peristiany, Honour and Shame. The Values of Mediterranean Socie‐ ty, London 1965; Ludgera Vogt/Arnold Zingerle (Hrsg.), Ehre. Archaische Momente  in der Moderne, stw 1121, Frankfurt a.M. 1994.  Vgl.  Eckart  Reinmuth,  Der  Hebräerbrief  vor  dem  Horizont  politischer  Philosophie  in:  ders.  Neues  Testament,  Theologie  und  Gesellschaft.  Hermeneutische  und  dis‐ kurstheoretische Reflexionen, Stuttgart 2012, 375–395, 384–386.  Als Beispiele nenne ich die Metaphern des Gerüstetseins und der Kampfbereitschaft  (vgl.  1  Thess  5,8;  Röm  13,12;  2  Kor  6,7;  10,4;  Eph  6,11–17  {vgl.  Jes  59,17})  oder  des  vollendeten Mannseins (vgl. Eph 4,13; Jak 3,2). 

 

Vorwort 

VII 

im  frühen  Christentum  diese  Vorstellung  an  einer  entgegenlaufenden  Denkrichtung, mit der die selbstverständlichen, als ‚natürlich’ definier‐ ten Elemente dessen, was ein Subjekt ausmacht, umgesprochen, umbe‐ setzt und umgedeutet werden. Stärke findet sich nun in der Schwäche,  Hoheit in der Niedrigkeit, Herrschaft in Dienstbarkeit, Freiheit in einer  Liebe, die sich auf Schwäche und Verlust einlässt.  Das  Neue  Testament  dekliniert  die  Herrschaft  Gottes  als  Be‐ freiungsgeschehen,  das  Menschen  aller  sie  entmündigenden  Bindun‐ gen  entledigt  und  dazu  befähigt,  neue Bindungen  in  Freiheit  einzuge‐ hen. Da, wo Menschen einander zu ‚Nächsten‘ werden (vgl. Lk 10,36),  geht es um ihre Eigenständigkeit, Fremdheit, um das je ‚Andere‘ ihres  Lebens. Andernfalls bliebe die neutestamentliche Rede vom ‚Nächsten‘  bedeutungslos.  Einander  zu  ‚Nächsten‘  werden  bedeutet,  die  Bezie‐ hung  zum  eigenen  Selbst  verändern  und  in  den  Prozess  der  Subjekt‐ werdung einbeziehen zu lassen. Das biblische Gebot zur Nächstenliebe  (Lev 19,18) lautet im unmittelbaren Anschluss an das Verbot der Rache  und des nachtragenden Grolls, „sondern sollst deinen Nächsten lieben  wie dich selbst. Ich bin der Herr.“ Dieses im Neuen Testament zentrale  Gebot  zur  Nächstenliebe6  korreliert  die  Beziehung  zum  Anderen  mit  der  Beziehung  zum  eigenen  Selbst.  Ohne  diese  wird  der  Andere  kein  Nächster.  In  der  Sicht  neutestamentlicher  Texte  konstituiert  sich  das  Subjekt  der  Glaubenden  als  radikaler  Selbstverlust.  Die  Preisgabe  der  eigenen  Identität, das Widerfahrnis ihres Entzugs, die Gebrochenheit des eige‐ nen Selbstbezugs, der Verlust sozialer Verbindungen werden in vielen  Variationen  durchgespielt.  Es  sind  Variationen  der  Geschichte  Jesu  Christi als der neutestamentlichen Grundgeschichte, auf die sich diese  Texte  beziehen,  und  die  für  die  Subjektwerdung  der  Glaubenden  grundlegend ist. Die neutestamentlichen Texte sprechen Menschen an,  die  dieser  Geschichte  Glauben  schenkten  und  ihr  Leben  von  ihr  be‐ stimmen  ließen.  Diese  Texte  konstruieren  jeweils  ein  Subjekt,  das  sich  auf  radikale  Verlusterfahrungen  eingelassen  hat  und  sich  darin  zu‐ gleich  eines  Lebens  gewürdigt  weiß,  zu  dem  all  diese  Erfahrungen  in  keinem  Verhältnis  stehen  (vgl.  z.B.  Röm  8,18:  „Die  Leiden  der  gegen‐ wärtigen  Zeit  bedeuten  nichts  gegenüber  der  Herrlichkeit,  die  künftig  an  uns  offenbar  werden  soll.“).  Dem  unerlässlichen  Selbstverlust  ist  unerschöpflicher  Lebensgewinn  versprochen,  ja  mit  ihm  gleichsam  korreliert.  Im  Neuen  Testament  findet  sich  eine  Fülle  von  Metaphern  und  Umschreibungen,  um  diesen  neu  geschenkten  Lebensgewinn  zu  umschreiben.  Es  ist  ein  Gewinn  an  Freude,  Souveränität,  Freimut,                                 6  

Vgl. Mt 5,43; 19,19; 22,39; Mk 12,31.33; Lk 10,27; Röm 12,19; 13,9; Gal 5,14; Jak 2,8. 

VIII 

Eckart Reinmuth 

Durchblick.  Schon  in  der  mutmaßlich  ältesten  Schrift  des  Neuen  Tes‐ taments  werden  die  Adressaten  ermutigt,  sich  von  den  befremdeten  und feindseligen Reaktionen auf ihren neuen Glauben nicht beeindru‐ cken zu lassen. Knapp zwanzig Jahre nach dem Tod Jesu schreibt Pau‐ lus an die von ihm gegründete Gemeinde in Thessalonich, die er Hals  über Kopf verlassen musste, die Glaubenden dort hätten die Botschaft  in  großer  Bedrängnis  und  mit  der  Freude  des  heiligen  Geistes  aufge‐ nommen,  und  sie  seien  damit  eigenständige  Nachgestalter  (mimetai)  des  Apostels  und  Jesu  geworden  (1  Thess  1,6).  An  dieser  knappen  Formulierung  wird  sowohl  deutlich,  dass  in  der  Perspektive  des  Au‐ tors für die Glaubenden die Erfahrungen von Feindseligkeit und Freu‐ de  zusammengehören,  und  dass  sie  damit  zu  selbstverantwortlichen  und selbstbestimmten Gestaltern ihres Lebens geworden sind, das sich  wie  das  des  Paulus  mit  der  Geschichte  Jesu,  des  ‚Herrn‘,  verbunden  weiß.  Im  Neuen  Testament  haben  sich  vielfältige  und  unterschiedliche  Erfahrungen  niedergeschlagen,  die  Menschen  im  Zuge  ihrer  Be‐ freiungsgeschichten machen konnten. Sie standen vor der Aufgabe, ihr  Bekenntnis zu dem, dem sie ihre Freiheit verdankten, unter den Bedin‐ gungen seiner Abwesenheit zu leben. Die Texte des Neuen Testaments  bezeugen  Lebensentwürfe,  die  sich  als Realisierung einer Freiheit  ver‐ standen, die in der vertrauenden Reflexion der Geschichte Jesu Christi,  in der interpretierenden Auseinandersetzung mit ihr gewonnen wurde.  Aus Abhängigen wurden Freie (vgl. z.B. Gal 5,1), aus den Unmündigen  mündige  Menschen  (Gal  4,1–7).7  Der  Galaterbrief  ist  ein  markantes  Beispiel des Ringens um die Freiheit der Adressaten, um ihre Emanzi‐ pation  von  einer  ihnen  auferlegten  neuen  Entmündigung.  Die  Texte  des Paulus zeigen deutlich, dass er seine Lebenserfahrungen so mit der  Jesus‐Christus‐Geschichte  verbindet  und  vor  diesem  Horizont  deutet,  dass sich das Sterben wie das zum‐Leben‐Kommen Jesu in seinem Le‐ ben ereignet (vgl. z.B. Gal 2,19–21; 2 Kor 4,10). Gerade die Auslöschung  des  bisherigen  Subjektstatus  und  seine  Ersetzung  durch  Christus  um‐ schreibt  in  dieser  Sicht  einen  entscheidenden  Schritt  der  Subjektwer‐ dung.  Die  metaphorische  Formulierung  „Christus  lebt  in  mir“  kann  dessen  Abwesenheit  nicht  dementieren.  Sie  impliziert  vielmehr,  dass  die  Lebensbindung  und  ‐geprägtheit  des  Autors  durch  die  Jesus‐ Christus‐Geschichte  nur  in  einem  Subjektstatus  gelebt  werden  kann,  der eigene Verantwortung und Freiheit kennt.                                 7  

Vgl. die metaphorische Verwendung des Topos „Mündigkeit – Unmündigkeit“ in 1  Kor 3,1; 13,11; Eph 4,13f; Hebr 5,12–14. 

 

Vorwort 

IX 

Die  Erinnerung  an  die  Anwesenheit  Jesu,  also  die  narrative  Reflexion  seiner  Praxis  und  seines  Weges,  wie  die  Evangelien  sie  ausführlich  bieten, der Glaube an ihn als den authentischen Repräsentanten Gottes  oder  das  Vertrauen  auf  den  Geist  Gottes  sind  entscheidende  Orientie‐ rungsmarken  dieses  neuen  befreiten  Lebens.  Sie  werden  im  Neuen  Testament  diskursiv  kommuniziert.  Sie  setzen  nicht  autoritätsfixierte  Befehlsempfänger,  sondern  mündige  Diskursteilnehmer  voraus.  Die  Adressierungen  dieser  Texte  reden  Menschen  als  Subjekte  an,  die  in  der übergroßen Mehrzahl als Erwachsene Christen geworden sind. Sie  sahen  sich  Konflikten  ausgesetzt,  in  Widersprüche  verstrickt  und  an‐ scheinend  unlösbaren  Alternativen  gegenüber,  für  die  es  keine  vorge‐ fertigten Lösungen, Antworten oder Auswege gab.  Die  Fragestellungen  moderner  Subjektdiskurse  eröffnen  überra‐ schende Perspektiven auf die antiken Texte. Zugleich sind in der Inter‐ pretationsarbeit  an  neutestamentlichen Texten  Facetten  der gegenwär‐ tigen Diskussion zu entdecken, die freizulegen sich lohnt, wenn es im  interdisziplinären  Gespräch  darum  geht,  einen  Subjektbegriff  heraus‐ zuarbeiten, der seinen aktuellen Herausforderungen ins Auge sieht.  Schließlich  handelt  es  sich  nicht  nur  um  eine  akademische  Frage.  Wie  ist  selbstbestimmtes  Handeln  angesichts  einer  Vielfalt  von  hand‐ lungsbestimmenden  Bedingungen,  seien  sie  gesellschaftlicher,  wirt‐ schaftlicher,  kultureller  oder  religiöser  Art,  überhaupt  denkbar?  Pro‐ zesse  freiwilliger  und  unfreiwilliger  Entmündigung  stehen  zusehends  gesteigerten  Freiheitsversprechen  gegenüber.  Dazu  kommen  forcierte  Subjektivierungsaufforderungen;8  das  „unternehmerische  Selbst“  steht  auf der Agenda der Marktentwicklung.9 Menschen erfahren sich – me‐ dial vermittelt – in steigendem Maß weniger als Subjekte denn als Ob‐ jekte subjektloser „Mächte“.10 Wo politische Partizipation nicht gelingt  oder  gesucht,  verweigert  oder  verunmöglicht  wird,  wird  die  Frage  nach  dem  Subjekt  politischen  Handelns  problematisch.  Offenkundig  gehören  selbstbestimmte,  politisch  handlungsfähige  Subjekte  zu  den  Desideraten  gegenwärtigen  demokratischen  Alltags.  Wo  sich  Politik  alternativlos gibt und ihre Legitimation aus der Angabe von Zwängen  bezieht, wird die Frage nach den Konstitutionsbedingungen des politi‐ schen Subjekts aktuell.                                 8  

Vgl.  dazu  Alex  Demirovic,  Christina  Kaindl,  Alfred  Kovoza  (Hg.),  Das  Subjekt  –  zwischen Krise und Emanzipation, Münster 2010.  9   Ulrich  Bröckling,  Das  unternehmerische  Selbst.  Soziologie  einer  Subjektivierungs‐ form, stw 1832, Frankfurt a.M. 2007.  10   Vgl.  die  eindringliche  Analyse  bei  Reiner  Matzker,  Medien  und  Religion.  Zur  ge‐ genwärtigen  Anthropologie,  in:  ders.,  Anthropologie.  Theorie  –  Geschichte  –  Ge‐ genwart, UTB 2006, 1998, 198–221. 



Eckart Reinmuth 

Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Frage nach dem gegenwärtigen  politisch‐philosophischen  Diskurs  des  Subjekts  und  seiner  Konstituti‐ onsbedingen  von  selbst.  Ist  doch  die  ausschlaggebende  Impression  dieses  Diskurses  die  Geburt  des  Subjekts  aus  seiner  Unterworfenheit  unter kulturell gültige Ordnungen, diskursive Machtformationen oder  hegemoniale Herrschaftsstrukturen  –  je  nachdem,  in  welcher Perspek‐ tive die Bedingungen der Subjektkonstitution benannt werden.  Zu  danken  habe  ich  zunächst  der VW‐Stiftung,  die den  interdiszi‐ plinären  Workshop  im  Herbst  2010  gefördert  hat.  Mein  Dank  gilt  so‐ dann  den  Herausgebern  der  Theologischen  Bibliothek  Töpelmann,  Bruce McCormack, Friederike Nüssel und Christoph Schwöbel, für die  Aufnahme  des  Bandes  in  diese  traditionsreiche  und  renommierte  Rei‐ he. Herzlich danke ich den Kolleginnen und Kolleginnen, deren Beiträ‐ ge  in  diesem  Band  zusammengestellt  sind,  und  besonders  Burkhard  Liebsch, der zusätzlich zu seinem Beitrag eine problemorientierte Ein‐ leitung  aus  philosophischer  Sicht  beigesteuert  hat.  Einen  besonderen  Dank  schulde  ich  Frau Sabina  Dabrowski  vom  de Gruyter  Verlag, die  den Entstehungsprozess des Buches von Beginn an umsichtig geduldig  begleitete,  sowie  den  studentischen  Hilfskräften  Sonja  Wowczerk  und  Kristian Herrmann, die aus den Einzelbeiträgen eine druckfähige Vor‐ lage gemacht haben und die Register erstellten.     Eckart Reinmuth   

     

  Inhalt 

    ECKART REINMUTH  Vorwort ........................................................................................................... V    BURKHARD LIEBSCH   Einleitung ........................................................................................................ 1    REINER ANSELM  Die Frage nach dem Subjekt in systematisch‐ethischer Perspektive.       Zu einer Ethik des Politischen .................................................................... 21    BURKHARD LIEBSCH   Rückbindung (religio) an den Anderen − im europäischen Horizont.    Zu Grenzen der Politisierung menschlicher Subjektivität ...................... 35    DOMINIK FINKELDE  Lacan und das Begehren – zu Heilsgeschichte, Gesetzeskraft               und Objekt klein a ........................................................................................ 73    CHRISTIAN STRECKER  Das liminale Subjekt. Modelle der Subjektivierung im                        Neuen  Testament ........................................................................................ 97    REBEKKA A. KLEIN  Mitherrschaft als politisches Phantasma. Zum Imaginären                    des Subjekts im Neuen Testament ........................................................... 125    STEFAN SCHREIBER   Eschatologische Mitherrschaft. Die transformative Kraft                         im politischen Diskurs der ersten Christen ............................................ 145   

XII                                                 Inhaltsverzeichnis    BRIGITTE BOOTHE  Verrat und Umkehr – Selbstverrat und korrumpierte Vernunft ......... 171    KRISTINA DRONSCH  „Ihr seid Zeugen“ (Joh 15,27). Die johanneische Figur                            des Zeugen in subjekttheoretischer Sicht ................................................ 195    LUKAS BORMANN  Das autobiographische „Ich“ des Paulus                                                  und das politische Subjekt ........................................................................ 213    STEFAN ALKIER  Die Bergpredigt als ermutigende Anweisung zur prekären              Selbst‐Bezeugung der Kinder Gottes ....................................................... 237    ECKART REINMUTH  Subjekt werden. Zur Konstruktion narrativer Identität                            bei Paulus, Johannes und Matthäus ........................................................ 251    Autorenregister .......................................................................................... 285    Bibelstellenregister ..................................................................................... 293   

        Einleitung      BURKHARD LIEBSCH 

 

Als  vor  einigen  Jahren  im  Rahmen  einer  groß  angelegten  Bilanz  der  Geschichte  moderner  Subjektivität  verkündet  wurde,  im  Spätwerk  Foucaults  sei  das  Subjekt  wieder  aufgetaucht,  es  habe  demnach  alle  offenbar  verfrühten  Für‐tot‐Erklärungen  und  Beerdigungen  überlebt,  war  unter  den  Anwesenden  ein  erleichtertes  und  zustimmendes  Rau‐ nen  angesichts  dieser  frohen  Botschaft  zu  vernehmen.  Selbst  dieser  ketzerische Autor schien demnach auf den rechten Weg einer Philoso‐ phie zurückgekehrt zu sein, die ein denkendes und autonom sich selbst  bestimmendes  Subjekt  zu  ihrem  obersten  Prinzip  erhoben  hatte.  War  nicht die Philosophie als solche von all jenen leichtfertig verspielt wor‐ den,  die  den  Tod  des  Subjekts  −  und  nach  ihm  des  Autors  und  eines  Selbstseins,  das  als  Ursprung  oder  Quelle  selbstbewusster  und  auto‐ nomer Selbstbestimmung gedacht worden war − verkündet hatten?1  So  wenig  wie  beim  nicht  erst  durch  Nietzsche  ausgerufenen,  son‐ dern bereits von Hegel diagnostizierten Tod Gottes handelt es sich hier  jedoch um eine schlicht deskriptive Feststellung, sondern um eine De‐ klaration − nach einem Muster, das bereits vielfältig variiert worden ist:  „Hiermit  erkläre  ich/erklären  wir,  dass  x  [dem  Subjekt,  Gott,  der  Mo‐ derne,  dem  Marxismus…]  seit  y  [Zeitpunkt,  Ereignis  oder  Epoche  ist  nach  eigenem  Ermessen  einzusetzen]  kein  Leben  mehr  innewohnt  [bzw.  dass  x  keine  Zukunft  mehr  hat…].“  Derartigen  Deklarationen  sind  inzwischen  ihre  performativen  Momente  deutlich  anzumerken,  nachdem  man  uns  sprechakttheoretisch  darüber  aufgeklärt  hat,  wie  man  etwas  mit  Worten  tut.  Wer  spricht  hier  für  wen  und  ermächtigt  sich  −  mit  welcher  Berechtigung  −  zu  einer  solchen  Erklärung?  Gibt  man dem Subjekt etwa durch die Erklärung, es sei „tot“, sonstwie „leb‐ los“ und in Folge dessen ohne Zukunft, erst den letzten Todesstoß und                                 1  

Vgl. R. L. Fetz, R. Hagenbüchle, P. Schulz (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte moderner  Subjektivität,  Bd.  I/II,  Berlin  1998;  B.  Waldenfels,  „Jenseits  des  Subjektprinzips“,  in:  Der  Stachel  des  Fremden,  Frankfurt/M.  1990,  Kap.  5;  P.  Bürger,  Das  Verschwinden  des  Subjekts/C. Bürger, Das Denken des Lebens. Fragmente einer Geschichte der Subjektivität,  Frankfurt/M. 2001. 



Burkhard Liebsch 

führt  so  den  mal  beklagten,  mal  begrüßten  „Tod“  des  jeweils  verab‐ schiedeten Gegenstandes erst herbei? Oder ist auch das noch eine über‐ spannte Deutung, wenn es sich herausstellt, dass das Subjekt nie gelebt  hat und infolge dessen auch niemals sterben oder gar gespenstisch sich  selbst  überleben  konnte?  Laufen  derartige  Erzählungen  nicht  auf  eine  Art  philosophische  Märchenstunde  hinaus,  wenn  man  bedenkt,  dass  wir  es  hier  zunächst  einmal  mit  einem  Begriff  zu  tun  haben,  dessen  Verwendung sich im Ausgang von gewissen Erfahrungen, die ihn auf  den  Plan  rufen,  als  plausibel,  als  hilfreich  oder  als  fruchtbar  erweist  −  oder  eben  auch  nicht?2  Genau  genommen  kann  überhaupt  kein  philo‐ sophischer  Begriff  von  Anfang  an  für  sich  in  Anspruch  nehmen,  für  unbegrenzte Zeit zu überzeugen. Alle Begriffe erweisen sich bei nähe‐ rem Hinsehen als kontextuell, historisch und idiomatisch imprägniert,  so  dass  eine  niemals  ganz  zu  tilgende  Kontingenz  in  ihren  mehr  oder  weniger  langlebigen  Gebrauch  einsickert.  Wenn  wir  fragen,  was  be‐ stimmte Begriffe zum Verständnis eines Lebens beitragen, dem wir uns  unvermeidlich  immer  schon  durch  Andere  überantwortet  finden,  das  wir aber auch aus eigener Kraft zu „führen“ versuchen müssen, weil es  sich  gewissermaßen  nicht  von  selbst  (angenehm,  intensiv,  gut,  richtig  oder  gerecht…)  lebt,  dann  ist  von  vornherein  zu  erwarten,  dass  diese  Begriffe  uns  unter  veränderten  Umständen  auch  anders,  auf  ganz  neue  Weise  oder  auch  gar  nicht  mehr  als  vielversprechend  erscheinen  kön‐ nen.3   All das ist dem Begriff des Subjekts und seinen Vorläufern − bis hin  zum  subjectum  und  hypokeimenon  der  römischen  und  der  griechischen  Antike  −  längst  mehrfach  widerfahren;  und  zwar  derart  tief  greifend,  dass er sich in der Zwischenzeit geradezu gegen seinen ursprünglichen  Sinn gekehrt hat.4 Diese Geschichte ist bereits mit großem Aufwand in  verschiedenen  Versionen  rekonstruiert  worden,  was  hier  nicht  noch  einmal geschehen soll. Es ist in diesem Zusammenhang nicht zu über‐ sehen,  dass  es  sich  in  der  Arbeit  der  historisch‐hermeneutischen  Re‐ konstruktion durchzusetzen beginnt, das Aufkommen, die verschiede‐ nen Transformationen, Umbrüche, Sklerosen und Sackgassen der Ver‐ wendung  des  Subjektbegriffs  nicht  mehr  auf  dessen  vermeintliches                                 2   3   4  

Vgl.  G.  Canguilhem,  „Tod  des  Menschen  oder  Ende  des  Cogito?“,  in:  Der  Tod  des  Menschen im Denken des Lebens, Tübingen 1988, S. 17–51.  Vgl. Michel Foucault vorgestellt von Maurice Blanchot, Tübingen 1987, S. 28.   M.  Heidegger,  Nietzsche,  Bd.  2,  Pfullingen  1961,  S.  129;  ders.,  Nietzsches  Lehre  vom  Willen zur Macht als Erkenntnis, Frankfurt/M. 1992, S. 41; R. Boehm, „Spinoza und die  Metaphysik  der  Subjektivität“,  in:  Zeitschrift  für  philosophische  Forschung  XXII/2  (1968),  S.  165–186;  H.‐G.  Gadamer,  „Vom  Anfang  des  Denkens“  [1986],  in:  Hegel.  Husserl. Heidegger, Tübingen 1987, S. 375–393, hier: S. 382 f., 392. 

 

Einleitung 



„Leben“ oder auf seinen „Tod“ hin zu befragen, sondern daraufhin, ob  und wie er sich jeweils als geeignet erweist angesichts eines Interpreta‐ tionsbedarfs,  dem  diese  Arbeit  Rechnung  tragen  muss  –  es  sei  denn,  man überginge die berechtigte Erwartung, unser Denken solle die Zeit,  der  es  selbst  zugehört,  „in  Gedanken  fassen“,  d.  h.  sich  ihr  aussetzen,  um  sie  begrifflich  zur  Sprache  zu  bringen,  auch  auf  die  Gefahr  hin,  darin zu scheitern. So gesehen geht es hier nicht darum, ob, sondern wie  wir uns als − denkende oder inkarnierte, als selbst‐ und fremdbestimm‐ te, als in ihrer Selbigkeit verharrende, um ihre nackte Existenz oder um  ihre Selbstheit besorgte, als entfremdete, auf der Suche nach sich selbst  befindliche und/oder als vom Anderen subjektivierte und diasporische  –  Subjekte verstehen sollen.5 Hinter diese signifikative oder hermeneutische  Differenz  und  die  ihr  unvermeidlich  innewohnende  Kontingenz  des  Sich‐so‐ oder‐anders‐Verstehens  können  wir  nicht  zurück.  Nur  in  miteinander  kon‐ trastierenden  Deutungen  kommen  wir  ggf.  Antworten  auf  die  Frage  näher, was eigentlich auf dem Spiel steht, wenn wir uns so − oder an‐ ders  −  als  Subjekte  verstehen  und  was  wir  dabei  möglicherweise  ge‐ winnen,  wenn  wir  an  entscheidenden  Uminterpretationen  unseres  Selbstverständnisses arbeiten.   Genau  so  ist  im  Grunde  auch  Hegel  verfahren,  als  er  vorschlug,  „geistiges“ Leben nicht nach dem Vorbild der Beständigkeit einer Sub‐ stanz, sondern als Wirklichkeit einer immerfort tätigen, nämlich negie‐ renden  Subjektivität  zu  verstehen,  die  paradoxerweise  erst  wird,  was  sie ist − und zwar über unsere Köpfe hinweg. Manchen schien mit die‐ sem  Ansatz  ungeachtet  dessen  eine  bis  heute  unübertroffene  Lösung  für das Fragen danach, was uns als „geistige“ Wesen ausmacht, gefun‐ den zu sein. Doch nach Jahren triumphaler Durchsetzung einer ganzen  Serie von Theorien, die sich einer selbsthaften, aber kaum mehr in einer  Geschichtsphilosophie  des  Geistes  kulminierenden  Subjektivität  ver‐ schrieben hatten, beginnt der vermeintlich sehr solide fundamentierte,  auf Prinzipien gegründete Boden unter diesen Theorien wieder brüchig  zu  werden;  vor  allem  dort,  wo  man  einem  leibhaftigen  Selbst  auf  der                                 5  

Wie stark die bislang vorherrschenden modernen Theorien der Subjektivität von der  kritischen  Auseinandersetzung  mit  der  Erbschaft  einer  aufs  Überleben  verkürzten  Selbsterhaltung  (Hobbes)  und  eines  epistemischen  Selbstverhältnisses  (Descartes)  geprägt bleiben, ohne eine Inspiration des Selbst durch den Anderen zu ahnen, wie  sie  heterogenen  ideengeschichtlichen  Traditionen  zu  entnehmen  ist,  zeigen  erste  Vergleiche  im  historischen  Abstand  weniger  Jahrzehnte  heute  deutlich;  vgl.  P.  Ricœur,  Die  Interpretation.  Versuch  über  Freud,  Frankfurt/M.  1974;  H.  Ebeling  (Hg.),  Subjektivität und Selbsterhaltung, Frankfurt/M. 1976; K. Cramer et al. (Hg.), Theorie der  Subjektivität, Frankfurt/M. 1987; T. Grundmann et al. (Hg.), Anatomie der Subjektivität,  Frankfurt/M. 2005. 



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Spur  ist,  das  weder  sein  eigener  Urheber  ist  noch  auch  im  bewussten  Besitz  seiner  selbst  sein  oder  sein  Ziel  in  sich  selbst  haben  kann,  son‐ dern vom Anderen her subjektiviert wird.6   Was würde daraus folgen, ein solches leibhaftiges Selbst wiederum  als ein „subjektives“ zu denken? Was für einen Begriff seiner Wirklich‐ keit, seines Verhaltens, seines Werdens müssten wir uns in Folge des‐ sen  von  ihm  machen?  Können  wir  noch  annehmen,  dass  seine  Wirk‐ lichkeit etwa (nur) durch eine fortschreitende Negativität7 bestimmt ist  und dass diese archäologisch‐teleologisch darauf festgelegt ist, am En‐ de zu zeitigen, was an sich von Anfang an in ihm lag?8 Macht die Wirk‐ lichkeit dieses Selbst etwa auch ein Schmerz aus, der nicht in der „Ar‐ beit  des  Negativen“  aufgeht,  sondern  über  Verlorenes  wacht,  wie  Maurice Blanchot insistiert?9 Kann es nicht unvermeidlich stets erst im  Nachhinein  nach  seinem  Ursprung  fragen,  der  ihm  vom  Anderen  her  zukommt? Und bleibt es nicht einer offenen Geschichtlichkeit überant‐ wortet, die sich nicht mehr als Verwirklichung vorheriger Möglichkei‐ ten  deuten  lässt?  Hat  es  im  Zuge  seiner  Geschichte  immerfort  an  der  Überwindung von Hindernissen zu arbeiten, so dass es sich als prakti‐ sches Subjekt eines Könnens in der Zeitigung von neuen Möglichkeiten  behauptet,  ohne  je  auf  Widerstände10  und  auf  Un‐Möglichkeiten11  zu  treffen, die ihm nicht bloß als Beraubung seiner Kompetenzen und als  Einschränkung  seines  Lebens  erscheinen  müssten?  Geht  es  als  ge‐ schichtliches Subjekt in einer geistigen Form auf, die es im Prozess der  Geschichte aufzuheben vermöchte?  Wer die neuere Literatur durchschaut, die sich mit diesen Kernfra‐ gen  befasst  hat,  wird  rasch  feststellen,  wie  weit  sie  davon  entfernt  ist,  lediglich  auf  einen  überkommenen,  etwa  Hegelschen  Begriff  der  Sub‐                                6  

E.  Levinas,  Jenseits  des  Seins  oder  anders  als  Sein  geschieht,  Freiburg  i.  Br.,  München  1992, Kap. V; R. Bernet, „Das traumatisierte Subjekt“, in: M. Fischer, H.‐D. Gondek,  B. Liebsch (Hg.), Vernunft im Zeichen des Fremden, Frankfurt/M. 2001, S. 225–252.  7   Vgl. E. Angehrn, J. Küchenhoff (Hg.), Die Arbeit des Negativen, Weilerswist (i. E.).  8   Vor allem Ricœur hat sich wiederholt in  die Tradition eines solchen archäologisch‐ teleologischen  Denkens  gestellt;  vgl.  seinen  Aufsatz  „Die  Zukunft  der  Philosophie  und die Frage nach dem Subjekt“, in: H. R. Schlette (Hg.), Die Zukunft der Philosophie,  Olten, Freiburg 1968, S. 128–165, hier: S. 138 f., 162 f., wo das Telos einer „Wiederan‐ eignung des wahren Subjekts“ noch unangefochten bleibt und ein konstitutives Sich‐ Verkennen noch keine maßgebliche Rolle spielt.  9   M. Blanchot, Die Schrift des Desasters, München 2005, S. 69.  10 Vgl. P. Ricœur, Philosophie de la volonté. Le volontaire et le involontaire, Paris 1950; v. Verf., „Das leibliche Selbst und der Widerstand des Anderen“, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 58, Nr. 2 (2011), S. 471–493. 11   I.  U.  Dalferth,  P.  Stoellger,  A.  Hunziker  (Hg.),  Unmöglichkeiten.  Zur  Phänomenologie  und Hermeneutik eines modalen Grenzbegriffs, Tübingen 2009. 

 

Einleitung 



jektivität  in  affirmativer  Absicht  zurückzukommen.  Vielmehr  arbeitet  sie  echte  Forschungsprobleme  heraus,  die  sich  nicht  in  einem  bloßen  Plädoyer für oder gegen das Festhalten an einer Philosophie menschli‐ cher Subjektivität erschöpfen, sondern nach Präzisierungen verlangen.  Sich als Subjekt zu verstehen, bedeutet bereits eine theoretische Subjek‐ tivierung,  durch  die  etwas  in  seiner  Selbigkeit  oder  jemand  in  seiner  Selbstheit  als  Subjekt  zum  Vorschein  und  zur  Geltung  gebracht  wird.  Dabei handelt es sich niemals um ein einfaches Registrieren von objek‐ tiv  Vorliegendem,  sondern  darum,  etwas  oder  jemanden  als  Subjekt  einzustufen, zu deuten, zu beachten, zu würdigen, zu zählen etc. Und  zwar nicht nur überhaupt als Subjekt, sondern im Hinblick auf besonde‐ re  Formen  der  Subjektivität,  die  nicht  einfach  vorliegen,  sondern  stets  als  Ergebnisse  mehr  oder  weniger  spezieller  Subjektivierungen  ver‐ standen  werden  müssen,  welche  ein  Subjekt  in  gewisser  Weise  über‐ haupt erst ins Leben rufen,12 das sich nicht selbst hervorbringen kann.  Ein  menschliches  Subjekt  lebt,  so  lehren  es  Phänomenologie  und  Hermeneutik seit langem, nach Maßgabe seines Angesprochenwerdens  und seines Erwidernkönnens, ohne das es verkümmern müsste in einer  tödlichen  Selbstbezogenheit.  Aber  steht  eine  solche  Selbstbezogenheit  am Anfang subjektiven Lebens, das vor ihr nachträglich bewahrt wer‐ den müsste, um zum Anderen hin vordringen zu können? Eine reich‐ haltige Überlieferung spricht für das genaue Gegenteil: nämlich dafür,  dass ein solches Subjekt im engeren, nämlich ethischen Sinne erst lebt,  wo es sich als vom Anderen angesprochen realisiert; und zwar in seiner  Singularität,  diesseits  von  Allgemeinem  und  Besonderem.13  Wer  ist  dieser  Andere?  Gott,  oder  die  Ahnen,  die  Eltern,  die  Stimme  des  Ge‐ wissens oder eine Leerstelle? Ich weiß es nicht, gesteht Ricœur ein, der                                 12   Entscheidend ist hier, wie das genau zu verstehen ist: Gewiss doch nicht als Produkti‐ on  eines  Subjekts  ex  nihilo,  das  am  Ende  nur  kraft  seiner  Benennung  durch  Andere  existieren würde und auf diese Weise von sich aus nicht einmal als „ansprechendes“  in  Betracht  käme.  Hier  drohen  Religionsphilosophie,  Religionswissenschaft  und  Theologie  reichhaltigere,  eigene  Interpretationsangebote  einzubüßen,  wenn  sie  nur  auf  dem  Umweg  über  keineswegs  unanfechtbare  politische  Theorien  Anschluss  an  Diskurse  über  das  Politische  und  menschliche  Subjektivität  suchen.  Vgl.  M.  Bergunder,  „Was  ist  Religion?  Kulturwissenschaftliche  Überlegungen  zum  Gegen‐ stand der Religionswissenschaft“, in: Zeitschrift für Religion 19, Nr. 1, 2 (2011), S. 3– 55.  13   Dagegen sieht P. Bürger das Subjekt nur zwischen Besonderheit und Allgemeinheit  im  Verschwinden  begriffen  (s.  die  Literaturangabe  in  Anm.  1,  S.  49).  So  bekommt  man freilich nicht die dialogistische Geschichte des modernen Subjektivitätsdenkens  in den Blick, die von L. Feuerbach über M. Buber und K. Löwith bis hin zu F. Jacques  einer Singularität auf der Spur ist, die bei Levinas, Ricœur, Abensour u.a. als solche  im Politischen platziert wird, so dass sich letzteres umgekehrt niemals gänzlich vom  Anspruch des Anderen lösen kann, der es durchkreuzt. 



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sich  als  Philosoph  überdies  weigert,  dem  Wissen‐können  hier  mehr  zuzutrauen, als es leisten kann.14 In Folge dessen gestattet er sich keine  direkte Aussage über die Quelle des Anspruchs des Anderen, sondern  insistiert  −  wie  auch  Levinas  −  auf  der  Nachträglichkeit  unseres  Ant‐ wortens auf ihn als der einzigen Zugangsmöglichkeit zu ihm. So ist zu  erklären, dass uns diese Philosophen keineswegs ohne Umschweife auf  eine  Urszene  verweisen,  in  denen  ein  „hier  bin  ich“  als  Antwort  auf  eine  zuvorkommende  Anrede  zum  Vorschein  kommt  (vgl.  Gen  3,9;  22,1.7.11;  31,11  u.ö.).  Angerufen  und  in  diesem  Sinne  subjektiviert  als  dem  Anspruch  des  Anderen  gegenüber  responsive  Subjekte  werden  wir  tatsächlich  auf  vielfältige  Arten  und  Weisen  −  bis  hin  zum  anma‐ ßenden Befehlston eines Amtsträgers, der uns anlässlich irgendwelcher  Regelwidrigkeiten zur Rede stellt: „He, Sie da…“   Bekanntlich hat diese vermeintliche Trivialität von Louis Althusser  bis Judith Butler Karriere gemacht.15 Als subjektivitätstheoretisch uner‐ heblich lässt sie sich gewiss nicht abtun, denn sie weist uns darauf hin,  dass jedes Geschehen der Subjektivierung in einer Lage, in einem Um‐ feld  oder  Kontext  stattfindet,  der  mit darüber  bestimmt,  als  wer  über‐ haupt  jemand  −  als  Befehlender  oder  als  Befehlsempfänger,  als  zur  Verantwortung  Aufrufender  oder  als  verantwortlich  Gemachter,  als  wortlos  Angesehener  oder  stummer  Zeuge  −  „in  Betracht  kommt“.  So  bleibt  selbst  ein  außer‐ordentlicher  Anspruch  noch  der  Ordnung  ver‐ pflichtet, die er durchbricht.16 Und das kann philosophisch nicht gleich‐ gültig sein, solange wir nicht von einer weltlosen Subjektivität, sondern  von  einem  leibhaftigen  Leben  sprechen,  das  nur  durch  die  Einbezie‐ hung  in  eine  Vielzahl  von  Ordnungen  auch  über  sie  hinaus  gelangen  kann. So lassen sich Subjekte nicht ohne Praktiken der Subjektivierung  und  diese  wiederum  nicht  ohne  Bezug  auf  Kontexte  verständlich  ma‐ chen, in denen sie auftreten − aber nur in Grenzfällen so, dass die jewei‐ lige Subjektivierung auf eine völlige Unterwerfung hinauslaufen muss.  Stets unter gewissen Umständen sind wir, erweisen wir uns oder gelten  wir  als  Subjekte.  Und  das  geht  niemals  ohne  Zwiespältigkeiten  ab,  wenn es stimmt, dass die Erfahrung der Subjektivierung durch Andere  nicht  ohne  einen  gewissen  Zwang  des  Sichfügenmüssens  auskommt.  Darin  mag  eine  tiefe  Ambivalenz  liegen,  die  mit  regressiven  Formen  der  Entsubjektivierung  wie  auch  mit  souveränen  Formen  der  Über‐ windung  jeglicher  Abhängigkeit  von  Anderen  liebäugeln  lässt.  Aber                                 14   P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, Kap. 10.  15   Vgl. U. Bröckling, Das unternehmerische Selbst, Frankfurt/M. 2007.  16   Worauf v. a. B. Waldenfels, auch gegen Levinas, immer insistiert; vgl. sein Buch Hy‐ perphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin 2012. 

 

Einleitung 



mit so oder so vermeintlich überwundenen Normen geht zugleich de‐ ren Orientierungsleistung verloren, die es uns auch ermöglichen kann,  normative Vorgaben hinter uns zu lassen, ohne sie einfach zu ignorie‐ ren. Unvermeidlich werden wir von Anderen originär subjektiviert und  so zu mannigfaltig ansprechbaren und endlich zu moralisch zurechen‐ baren, verantwortlichen Wesen, deren Leben niemals in dem wird auf‐ gehen können, was man aus ihm gemacht hat. So kann sich erneut die  Alternative aufdrängen, kein Subjekt mehr sein zu wollen; nicht jeden‐ falls  zu  Bedingungen  der  Anderen,  die  allzu  oft  darauf  hinauslaufen,  uns zu einem eigentlich unlebbaren Leben zu zwingen (worauf Judith  Butler immer wieder insistiert).17   Wenn wir aber nur durch Andere überhaupt zu Subjekten werden  (so  dass  die  Rede  von  Subjektivierung  hier  tatsächlich  den  radikalen  Sinn  der  originären  Zeitigung  eines  „Wesens“  hat,  das  es  zuvor  nicht  gab18), so können wir nicht regressiv dahinter zurück, sondern müssen  uns so oder so zu jeweils bereits wirklich gewordenen Formen der Sub‐ jektivierung  verhalten,  an  denen  auch  eine  oft,  aber  wenig  überzeu‐ gend  propagierte  völlige  Ent‐Unterwerfung  nicht  mehr  vorbeikommt.  Eine  solche  Anstrengung  wird  in  Wahrheit  nur  auf  mühevolle  Versu‐ che der Umarbeitung einer in der Zeitigung eines Subjekts immer schon  vorliegenden  Orientierung  an  mehr  oder  weniger  normativen  Vorga‐ ben und Beschränkungen seiner responsiven Verhältnisse zu Anderen  hinauslaufen  können,  die  es  zeit  seines  Lebens  niemals  ganz  und  gar  hinter sich lässt. Sobald sich ein ansprechbares und ansprechendes Sub‐ jekt  nach  Maßgabe  konkreter  Beziehungen,  in  die  es  verwickelt  wird,  ausformt, nimmt es eine unvermeidlich kontingente, zwar anders mögliche,  aber  nicht‐arbiträre,  also  nicht  beliebige  Gestalt  an,  die  ihm  selektiv  Spielräume seiner weiteren Umgestaltungen eröffnen und verschließen,  von  denen  wir  uns  nur  ein  geschichtliches  Bild  machen  können.  Das  gilt  in  individueller  wie  auch  in  kollektiver  und  kulturgeschichtlicher  Hinsicht, die ohne weiteres erkennbar macht, dass sich Menschen nicht                                 17   Vgl. N. Balzer, N. Ricken (Hg.), Judith Butler: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden 2012.  18   Kann  das  aber  darauf  hinauslaufen,  dass  produktive  Mächte  „den  Menschen  zum  Subjekt machen“, d.h. dass sie ihn als Subjekt regelrecht erzeugen und produzieren?  Wie kann das damit zusammen passen, dass ein solches Subjekt wiederum dazu in  der  Lage  sein  soll,  sich  selbst  zu  formieren  −  und  zwar  möglichst  unabhängig  von  jenen  Mächten,  die  es  angeblich  zu  unterwerfen  versucht  haben?  Allzu  leicht  fällt  auch die neuere Diskussion um den Subjektbegriff in längst überwunden geglaubte,  grobe  Schemata  (wie  Heteronomie  vs.  Autonomie,  Fremd‐  vs.  Selbstbestimmung,  Unterwerfung  vs.  Souveränität,  Selbsthervorbringung  vs.  Produziertwerden  etc.)  zurück;  vgl.  M.  Foucault,  „Subjekt  und  Macht“  [1982],  in:  ders.,  Schriften  IV.  1980– 1988,  Frankfurt/M.  2005,  S.  269–294;  J.  Butler,  „Was  ist  Kritik?“,  in:  Deutsche  Zeit‐ schrift für Philosophie 50, Nr. 2 (2002), S. 249–265. 



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immer  schon  als  Subjekte  begriffen  haben.  Wer  dagegen  mit  Hegel  glaubt  einwenden  zu  können,  das  zeige  doch  nur,  wie  sie  endlich  für  sich genau zu dem haben werden müssen, was sie an sich immer schon  waren, riskiert einen bloßen Sophismus, der uns in keiner Weise dazu  verhilft,  die  konkreten  Genealogien  zu  verstehen,  die  ein  Sich‐Ver‐ stehen als Subjekt unter bestimmten historischen, kulturellen… Bedin‐ gungen nahe gelegt haben − und die in Zukunft dieses Verstehen auch  wieder tiefgreifend umgestalten oder sogar außer Kurs setzen könnten.  Das gilt nicht zuletzt für die Rede von politischer Subjektivierung,  die in diesem Buch verhandelt wird − und zwar in der Perspektive von  Autoren,  für  die  es  offenbar  (aus  ganz  unterschiedlichen  Gründen  al‐ lerdings) keine Selbstverständlichkeit ist, dass und inwieweit wir spezi‐ fisch  politische  Subjekte  sein  sollen.  Schon  die  politische  Theorie  der  Antike gab durchaus Ausblicke auf Spielräume diesseits oder jenseits des  Politischen  frei,  obgleich  sie  nicht  selten  (wie  in  Perikles’  berühmter  Grabrede)  darauf  hinauszulaufen  schien,  nur  den  guten  Bürger  anzu‐ erkennen und all jene gering zu schätzen, die nicht im vollen Sinne als  der jeweiligen politischen Lebensform Zugehörige gelten konnten oder  die  sich  abseits  zu  halten  versuchten.  Wer  erst  von  einer  offenbarten  Wahrheit  her  lebt,  die  absolute  Geltung  beansprucht,  ohne  diskursiv  zureichend  nachvollziehbar  zu  sein,  muss  sich,  so  scheint  es,  primär  überhaupt  nicht  als  politisches  Subjekt  verstehen  und  wird  eine  politi‐ sche  Subjektivierung  womöglich  als  Äußerlichkeit  und  Zumutung  er‐ fahren.  Wenn  allerdings  diese  Wahrheit  keinerlei  „Privatisierung“  zu‐ lässt,  sondern  virtuell  das  ganze  Leben,  auch  das  Leben  mit  (allen)  Anderen erfasst, muss sie dann nicht politisch virulent werden? In ihr  selbst  liegt  dann  unter  Umständen  eine  politische  Gefahr  für  Andere,  die  sie  nicht  teilen  −  es  sei  denn,  aus  dieser  Wahrheit  selbst  geht  ein  Verbot  ihrer  gewaltsamen  Implementierung  gegen  Andere  hervor.  In  diesem Falle ist es nicht ausgeschlossen, eine politische Subjektivierung  geradezu aus einer religiösen Subjektivierung abzuleiten, insofern letz‐ tere in der religio oder religatio an einen ganz Anderen19 selbst schon auf  die  Spur  einer  Pluralität  von  Anderen  hinführt,  die  nicht  in  diesem  Bezug  stehen  bzw.  leben.  Genau  so  hat  bspw.  Hermann  Cohen  den  biblischen Begriff des Nächsten begründet.20   So oder so aber muss unsere Auffassung vom Politischen eine Vor‐ stellung davon vermitteln, wie in einer unübersehbaren Pluralität von                                 19   Zur Kritik an dieser Rede vgl. I. U. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, Tübingen  2003, S. 528, 542; P. Ricœur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II, Freiburg  i. Br., München 21988, S. 61.  20   H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums [1919/1928], Wiesbaden  2008, Kap. IX, S. 192 ff. 

 

Einleitung 



Anderen  relativ  abgegrenzte  politische  Lebensformen  möglich  sein  sollen, in denen alle, die ihnen zugehören, aber auch jene, die in ihnen  aufgenommen  zu  werden  begehren,  als  solche  zählen  und  Gehör  fin‐ den  sollen;  und  zwar  unter  der  Voraussetzung  eines  weitestgehenden  Dissenses darüber, was uns als Fremde − und Fremde mit uns − verbindet.  Weder  auf  einen  menschlichen  Ursprung  der  Gattung  noch  auf  ein  letztes Telos kann man sich noch im Sinne einer unanfechtbaren Wahr‐ heit  berufen.  Wo  dennoch  nicht  auf  absolute  Ansprüche  und  deren  gewaltsame  Durchsetzung  gegen  Andere  verzichtet  wird,  stellt  sich  sofort  die  Herausforderung  einer  Gewalt,  die  jede  politische  Lebens‐ form auf Dauer zerstören muss, wenn sie die Unterwerfung aller unter  eine religiöse oder für unbezweifelbar ausgegebene Wahrheit verlangt.  So gesehen ist der Begriff, den wir uns heute vom Politischen machen,  Ausdruck  unserer  Bejahung  eines  Zusammenlebens,  dem  nicht  abver‐ langt werden soll, jenen Dissens zu kaschieren.  In  diesem  Sinne  schreibt  sich  auch  die  neuere  Diskussion  um  den  Begriff  des  Politischen  in  die  Apologie  einer  Kultur  des  Konflikts  ein,  die (wie schon Edmund Burke, der bekannte Kritiker der Französischen  Revolution)  glauben  macht,  menschliches  Zusammenleben  jeglicher  Art  müsse  ganz  und  gar  auf  Kompromisse  und  Verhandlungen  ge‐ gründet  sein.  Kompromisslose  Unnachgiebigkeit  dagegen  scheint  alle  Vorteile guten Zusammenlebens aufs Spiel zu setzen und letztlich rui‐ nieren  zu  müssen.  Burke  hat  denn  auch  den  Gedanken  für  abwegig  gehalten,  etwa  im  Namen  einer  für  unanfechtbar  gehaltenen  und  an‐ geblich  keinen  Kompromiss  gestattenden  Wahrheit  das  Glück  der  Menschen  zu  riskieren,  dem  alle  Politik  verpflichtet  sei.  Von  den  be‐ kannten  historischen  Umständen  von  Burkes  Argumentation  abge‐ sehen, stellt sich bis heute das Problem, ob speziell das politische Leben  nicht von allen unbedingten und insofern unanfechtbaren bzw. absolu‐ ten  Ansprüchen  entlastet  werden  muss,  die  keinerlei  Kompromiss  ge‐ statten.   Tatsächlich herrscht die Meinung vor, dass Ansprüche, die für ab‐ solut, unumstößlich oder für unverzichtbar gehalten werden, schlimm‐ ste Formen der Gewalt heraufbeschwören.21 Deshalb wird häufig kon‐ sequenter  Verzicht  auf  „letzte“  Wahrheiten  als  Fundamente  des  Po‐ litischen  verlangt  und  behauptet,  längst  müsse  jeglicher  unbedingte  Wahrheitsanspruch  als  desavouiert  gelten  und  nichts  sei  derart  ge‐ fährlich  wie  ein  Anspruch  auf  angeblich  Gemeinschaft  begründende 

                               21   R. Safranski, Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?, München, Wien 1990. 

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Wahrheit.22 Andere halten dagegen nach wie vor die Suche nach einer  letztlich  auch  im  politischen  Leben  zu bewährenden  Wahrheit  für  un‐ verzichtbar – sei es auch nur die Wahrheit des Verzichts auf Wahrheit.  Wieder andere zeigen sich davon überzeugt, hier handle es sich weni‐ ger darum, die Berufung auf letzte Wahrheiten zu verfechten oder zu‐ rückzuweisen,  als  vielmehr  darum,  eine  gewaltsame  Instrumentalisie‐ rung  von  Für‐wahr‐Gehaltenem  gegen  Andere  oder  eine  rücksichtslose  Anwendung von Für‐wahr‐Gehaltenem auf Andere zu unterbinden. So  gesehen  wäre  allen,  die  auf  die  praktische  Inanspruchnahme  von  Wahrheit  nicht  glauben  verzichten  zu  können,  anzuraten,  von  konse‐ quenten bzw. rücksichtslosen Versuchen abzusehen, eine bloß gedachte  Wahrheit  mit  dem  eigenen  Leben  und  mit  dem  Leben  Anderer  zur  Deckung  bringen  zu  wollen.  Weniger  unter  Berufung  auf  derartige  Wahrheiten  als  vielmehr  auf  „unbedingte“  bzw.  als  „unverzichtbar“  geltende Ansprüche ist jedoch immer wieder bestritten worden, das Poli‐ tische lasse sich ganz und gar auf ein Geschäft von Verhandlungen und  Kompromissen reduzieren.   In  diesem  Sinne  war  vom  „Anspruch  des  Anderen“  die  Rede,  oft  mit  Hinweis  auf  Levinas,  dessen  Philosophie  man  zum  Vorwurf  ge‐ macht  hat,  diesen  Anspruch  im  Sinne  eines  fragwürdigen  Ethizismus  zu hypostasieren und diesem das Politische gewaltsam unterwerfen zu  wollen.23  Beschwört  also  ein  solcher  Anspruch  (an  Andere  oder  auf  Gerechtigkeit etwa) Gewalt herauf? Ähnliche Probleme wirft das indi‐ viduelle Verlangen nach einem lebbaren Leben auf, wie es Judith Butler  beschrieben  hat,  oder  auch  der  Anspruch  auf  ein  würdiges  bzw.  nicht  entwürdigendes Leben (Avishai Margalit).24 

                               22   Vgl. J.‐L. Nancy, Wer hat Angst vor Gemeinschaft?, Berlin 2009, S. 10 f., 78 f., zur Kritik  an Nancy B. Liebsch, A. Hetzel, H. R. Sepp (Hg.), Profile negativistischer Sozialphiloso‐ phie, Berlin 2011.  23   Vgl. in diesem Sinne D. Wetzel, Diskurse des Politischen. Zwischen Re‐ und Dekonstruk‐ tion, München 2003; S. Moebius, Die soziale Konstituierung des Anderen. Grundrisse ei‐ ner  poststrukturalistischen  Sozialwissenschaft  nach  Lévinas  und  Derrida,  Frankfurt/M.,  New York 2003; T. Bedorf, „Antinomien gesellschaftlicher Ordnung. Philosophie der  Politik nach dem Poststrukturalismus“, in: Philosophische Rundschau 52 (2005), S. 95– 123; R. Heil, A. Hetzel (Hg.), Die unendliche Aufgabe. Kritik und Perspektiven der Demo‐ kratietheorie,  Bielefeld  2006;  S.  Critchley,  Unendlich  fordernd.  Ethik  der  Verpflichtung,  Politik des Widerstands, Berlin 2008; M. Flatscher, S. Loidolt (Hg.), Das Fremde im Selbst  −  Das  Andere  im  Selben,  Würzburg  2010;  O.  Marchart,  Die  politische  Differenz,  Berlin  2010; M. Abensour, Demokratie gegen den Staat, Berlin 2012.  24   J.  Butler,  Precarious  Life.  The  Powers  of  Mourning  and  Violence,  London,  New  York  2006; A. Margalit, The Decent Society, Cambridge, London 1996. 

 

Einleitung 

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Vom Anspruch darauf, wenigstens wahrgenommen zu werden und inso‐ fern politisch zu „zählen“,25 über den Anspruch, nicht gedemütigt zu wer‐ den,  bis  hin  zur  Rücksicht  und  zur  Anerkennung  kommt  vieles  in  Be‐ tracht, was subjektiv, sei es für Einzelne, sei es für politische Kollektive,  als „unabdingbar“ gelten kann, ohne indessen im engeren Sinne religi‐ ös fundiert zu sein. So haben wir es tatsächlich mit einer bislang unge‐ nügend ausgeloteten Vielfalt von Quellen radikaler Konflikte mit einer  kompromisshaften,  alles  in  Werten  und  Preisen  verrechnenden,  inso‐ fern  ökonomisierten  Lebensform  zu  tun.  Müssen  solche  Ansprüche,  wenn  sie  als  verletzt  erfahren  werden,  nicht  unvermeidlich  einen  tief  greifenden  Konflikt  mit  einer  politischen  Lebensform  heraufbeschwö‐ ren,  insofern  diese  voraussetzt,  dass  man  in  jeder  Hinsicht  zu  Kom‐ promissen  bereit  ist?  Genau  das  suggeriert  Margalit:26  Dass  ein  un‐ bedingter Anspruch wie der auf ein würdiges bzw. nicht demütigendes  Leben  in  Konflikt  geraten  muss  mit  politischen  Lebensformen,  die  scheinbar  überhaupt  keinem  unbedingten  Anspruch  mehr  gerecht  werden können und es ausschließen, dass man auf einem solchen An‐ spruch besteht. Kompromiss sei in diesem Sinne schlicht unumgänglich  „zum  Aufbau  und  Erhalt  einer  gemeinsamen  Welt  und  zum  Kultivie‐ ren  der  convivialité“  –  als  ein  „Bollwerk  gegen  die  Gewalt“,  wird  viel‐ fach  behauptet.27  In  diesem  Verständnis  wird  die  Kompromissbereit‐ schaft  als  für  eine  verlässliche  politische  Kultur  unverzichtbar  be‐ schrieben, die uns ans Herz legt, auf überhaupt nichts „kompromisslos“  zu bestehen, schon gar nicht auf etwas für wahr oder sakrosankt Gehal‐ tenem.  Für  wahr  oder  heilig  Gehaltenes,  aber  auch  kategorisch  Gelten‐ des28 gilt als schlechterdings unverhandelbar – und gerade deshalb nicht  selten als eminente Gefahr für jedes Zusammenleben, in dem mit irre‐ duzibel  heterogenen  Überzeugungen  und  heterodoxen  Formen  des  Glaubens zu rechnen ist.  Zwar soll in einer politischen Kultur des Streits bzw. des agonalen  Konflikts  grundsätzlich  alles  zur  Diskussion  gestellt  oder  angefochten  werden dürfen – aber nur bis zu einem Punkt, wo die agonale Ausein‐ andersetzung  selbst  die  Beziehung  der  miteinander  Streitenden  noch                                 25   J. Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M. 1992.  26   A.  Margalit,  „I.  Indecent  Compromise.  II.  Decent  peace”,  The  Tanner  Lectures  on  Human  Values,  Stanford,  4.–5.  5.  2005,  http://tannerlectures.utah.edu/_documents/a‐ to‐z/m/Margalit_2006.pdf.  27   Vgl. A. und J. Assmann, „Kultur und Konflikt. Aspekte einer Theorie des unkommu‐ nikativen  Handelns“,  in:  J.  Assmann,  D.  Harth  (Hg.),  Kultur  und  Konflikt,  Frank‐ furt/M. 1990, S. 11–48.  28   Vgl.  O.  Höffe,  Politische  Gerechtigkeit.  Grundlegung  einer  kritischen  Theorie  von  Recht  und Staat, Frankfurt/M. 1989, S. 77. 

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nicht  gänzlich  zu  ruinieren  droht  und  wenigstens  noch  eine  „gegen‐ strebige  Fügung“  (Heraklit),  eine  „ungesellige  Geselligkeit“  (I.  Kant),  ein „Miteinander im Modus des Gegeneinander“ (M. Heidegger) oder  eine  „zwieträchtige  Harmonie“  (N.  Loraux)  möglich  erscheinen  lässt,  ohne das sog. „soziale Band“ zerreißen zu lassen. In diesem Sinne gilt  die  Erhaltung  einer  vielfältig  strittigen  Sozialität  im  Vergleich  zu  allem,  was  man  für  absolut  wahr  oder  heilig  hält,  als  vorrangig,29  auch  wenn  die  dafür  zu  erbringenden  Verzichtsleistungen  ihrerseits  Gewalt  heraufbe‐ schwören.30 Eine offene Gesellschaft, die ihre Offenheit in diesem Sinne  bewahren  wolle,  müsse  ihr  „Allerheiligstes  leer  halten“,  wird  gefor‐ dert.31  Überhaupt  keine  für  absolut,  schlechterdings  nicht  relativierbar  bzw.  für  unanfechtbar  gehaltene  Überzeugung  soll  demnach  um  den  Preis durchgesetzt werden dürfen, dass dies die Zerstörung der betref‐ fenden  Lebensform  heraufbeschwört.  So  wird  an  ein  unbedingtes  bzw.  absolutes  Interesse  an  deren  Erhaltung  appelliert  und  verlangt,  ihm  alles  andere unterzuordnen.   Auf  diese  Weise  scheint  sich  eine  klare  Alternative  abzuzeichnen:  entweder  man  hält  an  Wahrheitsansprüchen  fest,  die  ggf.  gewaltsam  und  um  den  Preis  der  Beschädigung  oder  Zerstörung  der  politischen  Verhältnisse  gegen  Andere  durchzusetzen  wären,  oder  aber  man  ver‐ zichtet auf derartige Wahrheitsansprüche und lässt sich rückhaltlos auf  Versuche  der  Einigung,  ein‐  oder  gegenseitiger  Anpassung  und  des  Kompromisses  ein,  die  das  politische  Zusammenleben  am  Ende  sogar  unter Absehung von jeglichem Wahrheitsanspruch zu stabilisieren ver‐ sprechen – vorausgesetzt, niemand sieht sich dazu genötigt, unwürdige  Lebensbedingungen hinzunehmen.   Tatsächlich  führt  diese  schroffe  Alternative  zwischen  gewaltträch‐ tigem Insistieren auf Wahrheit einerseits versus Pazifizierung des politi‐                                29   Vgl. S. Hampshire, Morality and Conflict, Oxford 1983, ch. 7; H. F. Fulda, „Philosophi‐ sche  Kultur  im  gesellschaftlichen  Konflikt“,  in:  J.  Assmann,  D.  Harth  (Hg.),  Kultur  und  Konflikt,  S.  113–139,  hier:  S.  115,  125  f.;  U.  K.  Preuß,  „Zu  einem  neuen  Verfas‐ sungsverständnis.  Wie  kann  der  Geist  der  Revolution  institutionalisiert  werden?“,  in:  G.  Frankenberg  (Hg.),  Auf  der  Suche  nach  der  gerechten  Gesellschaft,  Frankfurt/M.  1994,  S.  103–126,  hier:  S.  116  ff.;  J.  Habermas,  Die  Einbeziehung  des  Anderen,  Frank‐ furt/M. 21997, S. 172 ff.; U. Bröckling, R. Feustel (Hg.), Das Politische denken. Zeitgenös‐ sische Positionen, Bielefeld 2010.  30   Genau  so  müsste  man  das  Thema  „Gewaltpotenzial  unbedingter  Ansprüche“  auch  wenden. Denn es handelt sich nicht zuletzt darum, deren Beschränkung oder Unter‐ drückung  im  Namen  des  Politischen  und  nicht  nur  dessen  Überforderung  durch  derartige Ansprüche zu bedenken.  31   Vgl.  R.  Saage,  Demokratietheorien.  Historischer  Prozess  –  Theoretische  Entwicklung  –  Soziotechnische Bedingungen, Wiesbaden 2005, S. 252; C. Mouffe, „Radical Democracy:  Modern or Postmodern?“, in: Social Text, nr. 21 (1989), S. 31–45. 

 

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schen Lebens andererseits, das den Preis völligen Verzichts auf Wahr‐ heitsansprüche  zu  zahlen  hätte,  jedoch  in  die  Irre.  So  wenig  Wahrheit  notwendigerweise  gewaltsam  gegen  Andere,  denen  sie  sich  nicht  er‐ schließt, durchgesetzt werden muss, so wenig kommt der Wille, dieses  Leben zu befrieden, prima facie ohne die Berücksichtigung unbedingter  Ansprüche  aus;  jedenfalls  dann  nicht,  wenn  es  sich  um  ein  würdiges  (oder individuell als „lebbar“ erscheinendes) Leben handeln soll. In der  Tat  sollte  man  niemandem  nahe  legen,  sich  „um  des  lieben  Friedens  willen“ auch mit unwürdigen oder demütigenden Lebensbedingungen  abzufinden. Dabei kommt es nicht darauf an, ob man den Anspruch auf  ein  würdiges  Leben  in  letzter  Instanz  auf  eine  einsehbare  Wahrheit  gründen  kann.  Es  genügt,  dass  dieser  Anspruch  insofern  als  unab‐ dingbar gilt, als es buchstäblich undenkbar erscheint, auf ihn zu verzich‐ ten.32  In  diesem  Sinne  ist  von  überhaupt  niemandem  anzunehmen,  er  (oder  sie)  könnte  (oder  sollte)  sich  jemals  mit  Bedingungen  eines  un‐ würdigen oder dauernd gedemütigten Lebens abfinden.33   Hieraus  ergibt  sich  eine  Reihe  von  Fragen:  Wie  sind  unbedingte  Ansprüche,  irrelative  Wahrheiten  und  für  unverzichtbar  oder  heilig  Gehaltenes zu unterscheiden und wie stellt sich dar, was jeweils als solches  in Rede steht?34 − Beschwören auch unabdingbare oder unbedingte Ansprüche  Gewalt  herauf?  −  Sind  auch  säkulare  Lebensformen  mit  unbedingten  Ansprüchen bzw. Maßgaben (bspw. absoluter Verpflichtung auf unbe‐ dingt zu Achtendes) konfrontiert, die nicht als kompromissfähig gelten,  oder  beruhen  sie  sogar  selbst  auf  solchen  Ansprüchen?  −  Sind  überhaupt  eindeutige  Grenzen  zwischen  Austauschbarem  und  Kompromissfähigem  einerseits  und  dem  Heiligen  bzw.  unbedingt  zu  Achtendem  andererseits  er‐ kennbar?  Wo  die  einen  Entgegenkommen  für  möglich  halten  (etwa  in  der Frage des Zugangs zu sakralen Stätten), handelt es sich für die an‐ deren  bereits  um  Sakrilege,  absolute  Verletzungen  des  Heiligen,  die  ebenso  absolute  Sanktionen  nach  sich  zu  ziehen  drohen.  −  Muss  tat‐ sächlich jegliche Berufung auf einen absoluten bzw. im oben präzisier‐ ten  Sinn  unabdingbaren  Wahrheitsanspruch  eine  Unvereinbarkeit  des  Zusammenlebens  mit  Anderen  heraufbeschwören,  die  von  ihm  nicht                                 32   Dabei  handelt  es  sich  freilich  nicht  um  eine  rein  theoretische  Undenkbarkeit,  son‐ dern  um  eine  praktische  Unannehmbarkeit  dessen,  was  sich  theoretisch  sehr  wohl  ausmalen lässt.  33   Vgl. R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992, S. 127, 151.   34   Von  der  Sphäre  des  Austausch‐  und  Verhandelbaren,  in  der  Kompromisse  grund‐ sätzlich möglich sind, scheint Margalit nur das Heilige ausgenommen. Er schreibt in  „I. Indecent Compromise. II. Decent peace” (S. 195): „Crudely put, one cannot com‐ promise over the holy without compromising the holy.” „The logic of the holy as an  ideal type is the negation of the idea of compromise“. 

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überzeugt sind? − Wie kann sie dann in eine Margalit zufolge „ökonomi‐ sierte“ Politik eingehen, die grundsätzlich alles gegen anderes einzutau‐ schen,  zur  Disposition  zu  stellen  und  zum  Gegenstand  von  Verhand‐ lungen  zu  machen  empfiehlt?  Wenn  eine  solche  Politik  ihrerseits  auf  unbedingte  Ansprüche  angewiesen  ist,  gerät  sie  dann  nicht  in  einen  Widerstreit  mit  sich  selbst?  Was  die  oft  gelobte  Kompromissbereit‐ schaft angeht, so stehen wir hier offenbar vor einer aporetischen Lage.   Vielfach  wird  Kompromissbereitschaft  als  für  die  verlässliche  Si‐ cherstellung einer gemeinsamen sozialen und politischen Welt absolut  unabdingbar bezeichnet. Und man traut wenn nicht allein, so doch vor  allem ihr zu, die gewaltsame Eskalation politischer Konflikte verhüten  zu  können.  Jedoch  sollte  auch  die  Kompromissbereitschaft  ihrerseits  minimalen Maßgaben (wie der Achtung der menschlichen Würde oder  der  Vermeidung  von  Demütigung)  genügen.  Unwürdige  (indecent)  Kompromisse dürften niemandem abverlangt werden; und zu unwür‐ digen  Kompromissen  sollte  auch  niemand  bereit  sein.  Politische  Le‐ bensformen, die  mit der Würde  vereinbar  sein  sollten,  deren Achtung  wir jedem Anderem schulden, verlangen demnach einerseits eine weit‐ gehende Kompromissbereitschaft, schließen sie jedoch auch aus, wenn  sie mit dieser Achtung konfligieren. Zugleich bleibt in ihnen aufgrund  der unvermeidlichen Vagheit des Begriffs der Würde notorisch unklar  bzw. strittig, wo und inwiefern ein Fall vorliegt, in dem die jedem An‐ deren  geschuldete  Achtung  der  Würde  verletzt  wird.  In  Folge  dessen  scheitert  unumgänglich  die  Strategie,  das  agonal‐antagonistische  Kon‐ fliktpotenzial  in  politischen  Lebensformen  dadurch  zu  entschärfen,  dass  man  entweder  jegliche  Berufung  auf  vermeintlich  absolute  Wahr‐ heiten (bzw. auf Sakrales oder Heiliges35) unterbindet, oder sie nur noch  auf  einen  „minimalen“,  für  unverzichtbar  gehaltenen  Anspruch  (wie  den der Achtung der Würde) verpflichtet, um sich ansonsten mit nicht‐ idealen,  sog.  „zweitbesten“  Lösungen  zu  begnügen,  die  kein  letztes  Fundament  haben  und  nur  auf  dem  gemeinsamen  Willen  beruhen,  es  ungeachtet radikalen Streits nicht zum Zusammenbruch der jeweiligen  Lebensform kommen zu lassen. Wenn dieser Wille nicht die Nötigung  zu unwürdigen Kompromissen beinhalten soll, so hat er eine Grenze an  der  verlangten  Achtung  der  Würde  aller  Anderen.  Sieht  man  diese  jedoch  verletzt,  muss  man  im  Grunde  jeden  Kompromiss  verweigern  und kategorisch verlangen, diese Verletzung als eine Form unannehm‐ barer Gewalt abzustellen. So gerät die Bereitschaft, auch um den Preis                                 35   Zur  Differenz  vgl.  A.  de  Benoist,  „Paganische  Sakralität  und  jüdisch‐christliche  Entsakralisierung  der  Welt“,  in:  D.  Theraios  (Hg.),  Welche  Religion  für  Europa?  Ein  Gespräch über die religiöse Identität der Völker, Bern 1992, S. 41–56, hier: S. 46. 

 

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schmerzhafter  Kompromisse  zusammen  zu  leben,  unumgänglich  in  Konflikt  mit  dem  absoluten  bzw.  unverzichtbaren  (minimalen)  Maß‐ stab, dem alle Kompromisse genügen müssen, sollen sie nicht unwür‐ dig ausfallen.  In diesem Konfliktfall stellt sich jedoch nicht nur die Frage, ob die‐ ser Maßstab mit der geforderten Kompromissbereitschaft so konfligiert,  dass er mit dieser unvereinbar zu sein scheint. Vielmehr stellt sich auch  die  Frage,  wie  der  daraus  sich  ergebende  Widerstreit  auszutragen  ist.  Selbst die eindeutige Feststellung, dass eine Verletzung der Menschen‐ würde vorliegt, berechtigt nicht zu einem kompromisslos‐gewaltsamen  Vorgehen gegen diejenigen, die man ggf. für sie verantwortlich machen  muss.  Auch  ein  verabsolutierter  Wert,  der  wie  die  Würde  einer  rück‐ haltlos  ökonomisierten  Politik  entzogen  gedacht  wird,  in  der  man  be‐ liebige relative Werte für einen gewissen Preis gegen andere einzutau‐ schen  bereit  ist,  rechtfertigt  es  nicht,  die  Überlebensfrage  politischer  Lebensformen  indifferent  oder  gewaltsam  zu  übergehen,  ob  man  trotz  radikaler  Auseinandersetzungen  noch  die  Form  eines  (zweideutig)  geteilten  Lebens zu bewahren vermag.   Der  Verdacht  hat  sich  erhärtet,  dass  das  Politische  seine  Vitalität  nicht  allein  aus  sich  selbst,  sondern  gerade  aus  seinem  unaufhebbaren  Missverhältnis  zu  unbedingten  Ansprüchen  bezieht,  die  es  nicht  einfach  hinter  sich  lassen  kann.  Zugleich  fordern  diese  Ansprüche  das  Politi‐ sche heraus und überfordern es. Sie sind ihrerseits nur durch eine poli‐ tische  Bändigung,  die  ihnen  durch  Beschränkung  Rechnung  trägt,  da‐ vor  zu  bewahren,  das  Leben,  um  dessen  Lebbarkeit  es  ihnen  geht,  durch ihre kompromisslose Behauptung zu ersticken.  Weiterer  Aufklärung  bedarf  jedoch  die Frage,  wo  man auf Spuren  unabdingbarer  Ansprüche  stößt,  die  liberale  politische  Lebensformen  gewissermaßen  in  sich  außer  sich  sein  lassen,  und  inwiefern  diese  An‐ sprüche  (sei  es  individuell,  sei  es  kollektiv)  als  „unbedingt“,  „unver‐ zichtbar“,  „unbestreitbar“  etc.  gelten.  Auf  der  Grundlage  dieser  Auf‐ klärung wären die Spielräume des Verhaltens auszuloten, die verbleiben  zwischen  unabdingbaren  Ansprüchen,  ohne  deren  Beachtung  oder  Ge‐ währleistung vielen ihr Leben und das Leben Anderer als nicht lebbar  erscheint, einerseits und dem Interesse an der Aufrechterhaltung politi‐ scher  Lebensformen  andererseits,  in  denen  derartige  Ansprüche  un‐ vermeidlich  in  Konflikt  miteinander  geraten.  Ob  die  Rede  von  einer  „Kultur  des  Konflikts“,  die  sich  am  scheinbar  einzig  Unbedingten,  nämlich der Bereitschaft zum Kompromiss orientieren würde, wie eine  Zauberformel  den  skizzierten  Herausforderungen  im  Widerstreit  zwi‐ schen  dem  Politischen  und  unbedingten  Ansprüchen  gerecht  werden  kann, muss man bezweifeln. 

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Im  Ganzen  gesehen  ergibt  sich  aus  dieser  kurzen  Beschreibung  der  Lage, in der wir uns heute befinden, wenn wir nach politischer Subjek‐ tivität fragen, die folgende Konstellation von theoretischen Herausfor‐ derungen:  1. Wir sind nicht einfach Subjekte, sondern verstehen uns unter va‐ riablen und kontingenten historischen Umständen so oder so als solche;  und zwar in verschiedenen Hinsichten:   2. Vom Anderen her verstehen wir uns als responsive Subjekte, die  so  oder  so  zur  Antwort  auf  den  Anspruch  des  Anderen  herausgefor‐ dert sind, von dem wir nicht „in letzter Instanz“ sagen können, wer er  ist und worauf er ggf. Anspruch erhebt oder hat.   3.  Selbst  wenn  im  Anspruch  des  Anderen  schon  eine  gewisse  Tertialität  impliziert  sein  sollte  (weil  der  Dritte  auch  dann  immer  mit  anwesend  ist,36  wenn  wir  „unter  vier  Augen“  zu  sein  scheinen),  ist  doch  dem  Begriff  eines  responsiven  Subjekts  noch  keine  Antwort  auf  die  Frage  zu  entnehmen,  wie  es  auch  als  politisches  zu  verstehen  ist.  Um das zu zeigen, müssten wir über den Befund der Ansprechbarkeit  vom  Anderen  hinausgehend  zeigen,  wie  es  zu  konkreten  Formen  der  Subjektivierung in der Ausformung eines Zusammenlebens mit Dritten  kommt,  die  im  Rahmen  einer  politischen  Lebensform,  eines  Staates  oder auch eines transnationalen Machtgefüges wie der EU „zählen“.   4.  Niemals  werden  alle  gleichermaßen  zählen  und  dementspre‐ chend  Beachtung  finden können.  Fremde  bleiben  außen  vor,  ohne  da‐ rum berechtigte Ansprüche gänzlich einzubüßen; und im Innern wird  zunächst nur eine formale Gleichheit etabliert, die durch mannigfaltige  Formen  der  Ungleichbehandlung  konterkariert  wird.  Keineswegs  hat  jeder, der „zählt“, auch gleiches Gewicht und die Macht, sich ggf. auch  gegen  Widerstreben  Gehör  zu  verschaffen.  Politische  Lebensformen,  die in ihrer institutionellen Grundstruktur dafür Sorge tragen könnten,  dass  alle  unter  allen  Umständen  die  gleichen  Chancen  haben,  sich  als  politische  Subjekte  mit  eigenen  Ansprüchen  zu  artikulieren,  bleiben  Utopie. Dem ist auch mit einem forcierten Normativismus nicht beizu‐ kommen, der aus dem Anspruch des bzw. jedes Anderen ein Anrecht  oder  ein  Recht  auf  Rechte  macht.  Ob,  wann  und  warum  jeweils  ein  Appell,  der  an  uns  ergeht,  uns  nicht  nur  in  Anspruch  nimmt,  sondern  mit  einem  Anspruch  im  Sinne  eines  Anrechts  oder  Rechtes  im  engeren  Sinne  einhergeht,  bleibt  stets  erst  zu  klären  und  ist  niemals  einfach  unter  Umgehung  von  politischen  Kontexten  der  Subjektivierung  zu  entscheiden,  die  gewissermaßen  kanalisieren,  wer  wie,  wie  lange  etc.  Gehör findet. Dass jemand nicht Gehör findet, bedeutet gerade nicht, es                                 36   Wie Levinas bereits in Totalität und Unendlichkeit, Freiburg i. Br., München 1987, sagt. 

 

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stehe  ihm  bzw.  ihr  nicht  zu.  Ein  Recht  darauf,  wirklich  Gehör  zu  fin‐ den, kann es aber nicht geben. Auch das Recht der freien Meinungsäu‐ ßerung kann niemals erzwingen, dass man bei Anderen auf offene Oh‐ ren  trifft.  So  bleiben  Formen  normativer  Subjektivierung,  die  etwa  präskriptiv  regeln,  unter  welchen  Umständen  wir  als  Subjekte  von  Rechten  und  Pflichten  gelten,  auf  vorgelagerte  Formen  responsiver  Subjektivierung  angewiesen,  durch  die  sich  im  Wechselspiel  von  An‐ sprüchen  und  Erwiderungen,  das  durch  keinen  noch  so  ausgefeilten  Juridismus  und  Normativismus  durchgängig  zu  regeln  ist,  überhaupt  inter‐subjektive  Verhältnisse  artikulieren  können,  in  denen  man  aller‐ erst  aufeinander  Bezug  nimmt  und  einander  so  zur  Geltung  kommen  lässt.   Über  die  Geschichte  unterschiedlichster  normativer  Subjektivie‐ rungen  belehrt  uns  spätestens  die  Politische  Theorie  der  Neuzeit  mit  ihren  diversen  Vertragsmodellen,  in  denen  man  sich  reziproke  Pflich‐ ten  und  Rechte  geregelt  denkt.  Über  jene  responsive  Subjektivierung  aber,  die  durch  ein‐  oder  gegenseitige  Inanspruchnahme  geschieht,  belehren  uns  schon  älteste  Texte,  in  denen  man  sie  heute  wiederzuer‐ kennen  lernt  oder  auch  derart  zum  ersten  Mal  Gestalt  annehmen  sieht37, dass die entsprechende religiöse Überlieferung politisch frucht‐ bar  werden  kann. So z.B. dort,  wo unter  Berufung auf  diese  Texte  be‐ hauptet wird, auch dem Fremden und dem Feind stehe Liebe, wenigs‐ tens  aber  die  Gerechtigkeit  und  Verantwortung  der  Anderen  zu.  Ri‐ cœur  schreibt  in  Das  Selbst  als  ein  Anderer,  jedes  Gesicht  sei  in  diesem  Sinne „ein Berg Sinai“, der das Selbst als ein radikal von der Stimme des  Anderen in Anspruch genommenes zu denken zwinge.38 Und zwar so,                                 37   Dass  es  im  hermeneutischen  Zirkel  zwischen  der  historischen  Gegenwart,  von  der  man ausgeht, und der fernen Vergangenheit, auf die man (ob „präsentistisch“ oder  nicht)  zurückkommt,  nahezu  unvermeidlich  zu  Anachronismen  kommt,  nimmt  nicht Wunder. Wenn sie sich schon nicht vermeiden lassen, wo man etwa − an der  Begriffs‐ und Ideengeschichte gleichsam vorbei − fragt, ob sich im AT oder NT For‐ men  politischer  „Subjektivierung“  ausmachen  lassen,  so  sollte  man  sie  wenigstens  zu  kontrollieren  versuchen  und  diese  anachronistische  Form  des  Fragens  selbst  deutlich herausstellen, die einen zweifellos modernen Begriff des Politischen auf ei‐ ne  Überlieferung  projiziert,  welche  von  ihm  noch  nicht  hat  wissen  können,  dessen  ungeachtet  aber  für  die  politische  Gegenwart  fruchtbar  gemacht  werden  kann.  Macht man sich jene Anachronismen nicht in möglichst kontrollierter Art und Weise  bewusst,  müssen  hermeneutische  Gewaltsamkeiten  unvermeidlich  die  Folge  sein.  Die  Begriffs‐  und  Ideengeschichte  des  Politischen  beginnt  vielleicht  nicht  erst  mit  Carl  Schmitt,  aber  wenn  man  dieser  Geschichte  keinen  vorliegenden  Begriff  einfach  entnehmen  kann  oder  will,  wird  man  explizieren  müssen,  wie  man  einen  anderen  Begriff an frühere Zeiten so herantragen kann, dass derartige Gewaltsamkeiten nicht  die Folge sein müssen.  38   Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, S. 404, 411. 

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dass  das  Selbst  nolens  volens  Verantwortung  angesichts  des  Anderen  und sogar für ihn trage. Und nur als derart „immer schon“ Verantwort‐ liche könnten wir demzufolge auch ins politische Leben eintreten − das  umgekehrt niemals von uns verlangen dürfe, aus dem ethischen, vom  Anderen  her  gebotenen  Leben  gleichsam  auszutreten  wie  aus  einem  Verein.   Wer  die  Theorie‐Diskussion  der  letzten  Jahrzehnte  in  diesem  Be‐ reich verfolgt und gesehen hat, wie man eine Art Chiasma gegenseiti‐ ger  Inspiration  und  Überforderung  von  Ethik  und  Politik  herausgear‐ beitet  hat,  wird  ohne  weiteres  zu  dem  Ergebnis  kommen,  dass  diese  Arbeit niemals in dieser Art und Weise möglich geworden wäre ohne  eine  radikale  Öffnung  des  politischen  Diskurses  für  eine  im  europäi‐ schen  Horizont  überaus  befremdliche  Revision  des  Subjektivitätsden‐ kens. Von Rosenzweig über Buber und Levinas bis Abensour dreht die‐ se  sich  nicht  mehr  um  ein  Subjekt,  das  sich  bewusst  denkend,  reflek‐ tierend, sich bestimmend und in seiner Selbigkeit behauptend um sich  selbst  dreht,  sondern  um  ein  ganz  und  gar  nachträgliches,  dem  An‐ spruch  des  Anderen  Antwort  gebendes,  insofern  sensibles  Selbst,  das  nur als solches auch zur Vernunft kommen kann. Hier wird nicht etwa  einer Sensibilität vor aller Vernunft das Wort geredet, die vernünftiger  sein könnte als die Vernunft, sondern der Weg einer sensibilisierten Ver‐ nunft  gebahnt,  die  an‐archisch  „im  Zeichen  des  Anderen“  unterwan‐ dert, aber keineswegs zum Einsturz gebracht werden soll. Levinas hat  diese  Gefahr  gesehen  und  sich  nirgendwo  zu  einer  Zerstörung  politi‐ scher Vernunft hinreißen lassen. Aber indem er dazu aufforderte, diese  von einem − angeblich − nur dem Alten Testament zu entnehmenden ra‐ dikalen Anspruch des Anderen her zu denken, spielte er auf einen der  europäischen  Überlieferung39  im  Grunde  nicht  verständlichen  Ur‐ sprung  menschlicher  Sprache40  im  Antworten  auf  den  Anspruch  des  Anderen an, der dem Politischen nicht zu Gebote stehe. Dabei musste  er  zugestehen,  nur  in  der  Spur  dieses  Ursprungs  sich  halten  zu  kön‐ nen41, von dem er gleichwohl glaubte, er wiederhole sich überall dort,  wo,  mit  Hannah  Arendt  zu  reden,  ein  politischer  Erscheinungsraum  gestiftet wird.   War aber nicht das, was „von der jüdischen Bibel entdeckt“ worden  war,  von  Anfang  an  „in  der  Menschlichkeit  des  Menschen  angelegt“?                                 39   Vgl.  dazu  B.  Keintzel,  B.  Liebsch  (Hg.),  Hegel  und  Levinas.  Kreuzungen  –  Brüche  –  Überschreitungen, Freiburg i. Br., München 2010.  40   Vgl.  W.  Hamacher,  G.  Hartung,  A.  Noor  (Hg.),  Judentum  und  Sprachdenken.  Beiträge  zur Sprach‐ und Kulturtheorie der Moderne, München 2013.  41   G. Scholem, Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt/M. 1996, S. 105. 

 

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Das suggeriert Levinas selbst in seiner Auseinandersetzung mit Wassili  Grossman, dem er sich im Geist einer radikalen nachträglichen Befragung  der Überlieferung verbunden fühlte, die durch die äußersten Verbrechen  notwendig geworden ist, die die Menschheit bis dahin gekannt hatte.42  Sie,  diese  Verbrechen  sind  es  paradoxerweise,  was  zur  Besinnung  auf  einen politisch unverfügbaren Anspruch des Anderen geführt hat, von  dem wir allerdings nichts wissen, der vielmehr nur bezeugt wird; und  zwar  gerade  von  jenen,  die  sehen  mussten,  wie  man  ihn  mit  Füßen  getreten  hat.  Die  Gewaltgeschichte  der  Moderne  ist  so  gesehen  noch  im‐ mer das anfängliche Milieu unserer nachträglichen Befragung einer bis  in  älteste  religiöse  Schriften  zurückreichenden  Überlieferung,  die  man  als  anti‐politische  Herausforderung  im  Politischen  zur  Geltung  bringt  −  um  es  davor  zu  bewahren,  sich  selbst  zu  genügen  in  einer  Politik  für  Gleiche (oder gleich Gemachte), für sog. Glaubens‐ oder Partei‐Brüder,  Zeit‐ oder Gesinnungsgenossen. Niemals sollen dem, was wir summa‐ risch  „Politik“  nennen,  je  wieder  derartige  Reduktionen  um  den  Preis  radikaler Exklusionen erlaubt sein − von denen G. Agamben behauptet,  sie seien nach wie vor die Kehrseite aller, auch scheinbar wohlgeform‐ ter  politischer  Ordnungen.43  Dagegen  wird  längst  auch  im  Politischen  ein politisch unverfügbarer Anspruch des Anderen bezeugt, ohne dass  man darauf aber ohne weiteres eine Beschreibung von Ansprüchen als  Anrechten gründen könnte.44 Das bleibt nach wie vor eine genuin politi‐ sche Aufgabe. Sie noch genauer, vielleicht auch unnachsichtiger als un‐ erlässliche  Aufgabe  herauszustellen,  mag  hilfreich  sein  im  Gespräch  zwischen  politisch  Handelnden  und  Religionen  jeglicher  Couleur  −  vorausgesetzt  alle  Beteiligten  verzichten  auf  den  Geist  der  Aneignung  gerade  dessen,  was  sie  im  irreduzibel  pluralen,  vielstimmigen  politi‐ schen  Diskurs  beizutragen  haben.45  Für  Andere,  die  unsere  eigenen  Voraussetzungen,  unsere  hermeneutischen  Vorurteile  und  blinden                                 42   E. Levinas, Jenseits des Buchstabens, Bd. I, Talmud‐Lesungen, Frankfurt/M. 1996, S. 14;  sowie ders., Stunde der Nationen, Talmudlektüren, München 1994, S. 98, 103, 135–140.  43 G. Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002; ders., „Der Ausnahmezustand. Rechtsstaat und reine Gewalt – zur Substanz des Politischen“, in: Lettre International, Nr. 1 (2003), S. 61 ff. 44   P. Delhom, A. Hirsch (Hg.), Im Angesicht der Anderen. Emmanuel Levinas’ Philosophie  des Politischen, Berlin, Zürich 2005; v. Verf., Prekäre Selbst‐Bezeugung. Die erschütterte  Wer‐Frage im Horizont der Moderne, Weilerswist 2012.  45   In  diesem  Sinne  greift  eine  phänomenologisch  explizierte  Theorie  der  religio,  der  Rückbindung  an  den  Anspruch  des  Anderen  tradierte  Deutungsangebote  auf,  aber  nicht ohne ihnen zuzumuten, sich rückhaltlos einer globalen Agora zu überantwor‐ ten; und zwar im Geist der Gastlichkeit allen Überlieferungen gegenüber, sofern sie  nur  bejahen,  gewissermaßen  geschichtlich  ungeschützt,  vor  die  anderen  zu  treten,  ohne Besitzansprüche geltend zu machen. 

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Flecke  nicht  teilen,  wird  man  attraktive  Deutungsangebote  nur  anbie‐ ten  können,  wenn  man  sie  am  Ende  nicht  doch  wieder  für  sich  in  Be‐ schlag nimmt im mehr oder weniger stolzen Bewusstsein der Zugehö‐ rigkeit zu einer Überlieferung, die immer wieder glauben macht, sie sei  immer  schon  der  Spur  des  Wahren  gefolgt  und  habe  sie  nie  aus  dem  Auge verloren. Kann das irgend eine Religion der Welt glaubwürdig für  sich in Anspruch nehmen?   Was bedeutet es, wäre dagegen mit dem ganz und gar ernüchterten  italienischen  Autor  Alessandro  Barrico  zu  fragen,  dass  wir  lernen  mussten, „dass die Wahrheit sich allein dem Grauen verschreibt“? Was  ist das für eine Wahrheit, „die sich vom Schmerz nährt und auflebt, wo  der  Mensch  sich  demütigt  und  triumphiert“?46  Lässt  sich  heute  eine  Form  politischer  Subjektivität  denken,  die  diese  Lektion  nicht  wieder  vergisst  und  sich  nicht  mit  harmlosen  Modellen  guten  und/oder  ge‐ rechten Lebens abspeisen lässt, welche weder von einer diesem Leben  immanenten unaufhebbaren Negativität noch auch von einem Diesseits  oder Jenseits des Politischen etwas ahnen lassen?   

                               46   A. Barrico, Oceano Mare, München 2000, S. 155. 

       

Die Frage nach dem Subjekt in   systematisch‐ethischer Perspektive       Zu einer Ethik des Politischen   

REINER ANSELM    Die  Anerkennung  des  Einzelnen  als  Subjekt  bildet  die  Grundlage  der  politischen  Ordnung  moderner  Gesellschaften.  Während  dabei  zu  Be‐ ginn  der  Moderne  die  Respektierung  des  Einzelnen  und  seiner  Frei‐ heitsrechte  durch  den  Staat  im  Vordergrund  stand,  stehen  heute  die  Partizipationsrechte  des  Einzelnen  im  Mittelpunkt  des  Interesses  de‐ mokratischer  Gesellschaften  westlichen  Typs.  Der  Zusammenhang,  aber auch die unterschiedliche Akzentsetzung der beiden Aspekte liegt  auf  der  Hand:  Die  Partizipationsrechte  folgen  aus  der  Anerkennung  des  Einzelnen  als  Subjekt  seiner  Entscheidungen  und  sind  dabei  die  konsequente  Weiterentwicklung  der  Freiheitsrechte.  Denn  war  die  klassische Sicht der Aufklärung noch davon ausgegangen, dass mögli‐ che  Konflikte,  die  sich  aus  der  Anerkennung  individueller  Freiheits‐ rechte ergeben – die Freiheit des einen muss ihre Grenze an der Freiheit  des  anderen  finden  –  auf  der  Grundlage  eines  vernunftbasierten  und  darin allgemeinen Rechts gelöst werden können, so stellt sich die Situa‐ tion  in  fortgeschritten  modernisierten  Gesellschaften  deutlich  komple‐ xer und komplizierter dar: Kants Formel, „das Recht ist also der Inbe‐ griff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Will‐ kür  des  anderen  nach  einem  allgemeinen  Gesetze  der  Freiheit  zusam‐ men vereinigt werden kann,“1 erweist sich hier als zwar unverzichtba‐ re,  aber  doch  nicht  ausreichende  Grundlage.  Komplexere  Gesellschaf‐ ten benötigen nicht nur – negativ – eine Beschränkung des Staates auf  die Gewährung individueller Freiheiten, sondern auch – positiv – eine  Verständigung über die leitenden Ziele und über die staatlich zu unter‐ stützenden Güter. Dieser Aspekt, den Kant in seinen Überlegungen zu  den unvollkommenen Pflichten zwar in den Blick nahm, ihm aber nicht  ausreichend Beachtung zumaß, gewinnt in der weiteren Debatte immer  1 

I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Ders., Werke in 10 Bänden, hg. von Wilhelm  Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. 7, 337. 

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mehr  Raum.  Dabei  erweist  es  sich,  dass  die  notwendig  mit  der  Ver‐ ständigung  über  Ziele  und  Güter  verbundenen  Einschränkungen  und  Kompromisse  nur  dann  als  vereinbar  mit  den  individuellen  Freiheits‐ rechten  gelten  können,  wenn  sie  sich  aus  der  Inanspruchnahme  der  politischen Partizipationsrechte der Einzelnen ergeben.   Mit dieser hier notwendig nur äußerst knapp skizzierten Problem‐ lage  verbindet  sich  eine  Fragestellung,  die  in  ihrer  Bedeutung,  aber  auch in ihrer Vielschichtigkeit kaum zu überschätzen ist. Denn mit der  Konzentration auf die Partizipationsrechte steht zugleich die Frage im  Raum,  welche  Bedingungen  erfüllt  sein  müssen,  damit  der  Einzelne  diese  Rechte  auch  wahrzunehmen  in  der  Lage  ist.  Anders  als  bei  den  Schutzrechten,  die  jedem  aufgrund  seines  Menschseins  zukommen,  stellt sich die Sache bei den Partizipationsrechten schwieriger dar. Hier  müssen  nicht  nur  Grenzen  gezogen  werden,  die  wie  etwa  im  Fall  der  Volljährigkeit  selbst  wiederum  nur  das  Ergebnis  von  Konventionen  sein  können  und  sich  nur  auf  schwache  empirische  Indizien  stützen  können  –  womöglich  auf  schwächere  Indizien,  als  es  an  den  Grenzen  des menschlichen Lebens der Fall ist. Es muss auch dafür Sorge getra‐ gen werden, dass die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Partizipa‐ tionsrechten  gegeben  ist.  Partizipation  setzt  darum  nicht  nur  die  grundsätzliche Fähigkeit zum moralischen Urteil voraus, sondern auch  die  konkrete  Befähigung.  Partizipation  ist  daher  ohne  Bildung,  ohne  das Beherrschen elementarer Kulturtechniken nicht denkbar.   Der  Kreis  derer,  die  nicht  nur  formal  zur  Partizipation  berechtigt  sind, sondern die auch zu einer konkreten Wahrnehmung ihrer Rechte  befähigt  werden  sollen,  ist  unter  dem  Eindruck  der  Demokratisie‐ rungsprozesse seit der Mitte der 1960er‐Jahre massiv ausgeweitet wor‐ den. Stand zunächst der Gedanke im Vordergrund, keiner Gruppe die  ihnen zukommenden Rechte zu entziehen, so wird diese Frage immer  stärker von der Debatte um die Befähigung zur Partizipation abgelöst –  ein Prozess, der in der Akzentverschiebung von den als Abwehrrechten  verstandenen  Menschenrechten  der  ersten  Generation  zu  den  An‐ spruchsrechten der zweiten Generation sein Äquivalent findet. Subjekt  werden,  das  Leitthema  dieses  Bandes,  bedeutet  in  dieser  Perspektive,  die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Partizipation zu erhalten. Da‐ bei nahm die Diskussion bei der stärkeren gesellschaftlichen Gleichbe‐ rechtigung  der  Frau  ihren  Ausgangspunkt,  später  schlossen  sich  die  Debatte um Kinderrechte sowie, jüngst, um Inklusion in einem umfas‐ senden Sinn an. Wie sehr sich dabei die Frage‐ aber auch die Problem‐ stellung seit der Aufklärung verschoben haben, zeigt ein Blick auf den  entsprechenden  Passus  in  Kants  „Metaphysik  der  Sitten“:  Kant  selbst  konstatiert,  dass  neben  der  Freiheit und  der  Gleichheit  auch  die  „bür‐

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gerliche Selbständigkeit“, mithin die Fähigkeit, „seine Existenz und Er‐ haltung  nicht  der  Willkür  eines  anderen  im  Volke,  sondern  seinen  ei‐ genen Rechten und Kräften, als Glied des gemeinen Wesens verdanken  zu  können“  für  die  Qualifikation  zum  Staatsbürger  eine  notwendige  Bedingung darstellen.2 Dementsprechend muss dann zwischen aktiven  und  passiven  Staatsbürgern  unterschieden  werden,  wobei  der  Kauf‐ mannsgeselle, „alles Frauenzimmer“, Hauslehrer und andere abhängig  Beschäftigte eben nicht als aktive Staatsbürger gelten können.3   Konnte  Kant  somit  noch  diejenigen,  die  aufgrund  (ökonomischer)  Abhängigkeiten  kein  selbstständiges  Leben  führen  können,  sondern  den  Entscheidungen anderer unterstehen, aus der  Gruppe  der Partizi‐ pationsberechtigten  ausschließen,  so  stellt  sich  in  der  Gegenwart  die  Situation fundamental anders dar: Nun geht es darum, auch diesen, in  kantischer  Terminologie  Abhängigen,  trotz  ihrer  Unselbstständigkeit  die  politische  Teilhabe  und  damit  die  Wahrnehmung  von  Partizipati‐ onsmöglichkeiten zu ermöglichen. Damit freilich muss geklärt werden,  welche  Bedingungen  erfüllt  sein  müssen,  damit  es  zu  einer  erfolgrei‐ chen  Ausübung  solcher  Teilhaberechte  kommen  kann  –  und  dazu  ge‐ nügen formale Kriterien nicht mehr. Dann aber stellen sich sogleich die  Schwierigkeiten  ein,  die  sich  mit  jeder  Bestimmung  eines  positiven  Freiheitsbegriff  verbinden  und  auf  die  Isaiah  Berlin  in  seinem  Traktat  „Two  concepts  of  liberty“  aus  dem  Jahr  1958,  der  vielleicht  einfluss‐ reichsten  Schrift  der  politischen  Philosophie  zur  Frage  der  Verwirkli‐ chung der Freiheit, mit Nachdruck hingewiesen hat: Vom Standpunkt  klassisch liberaler Argumentation aus verweist Berlin darauf, dass po‐ sitive  Freiheitskonzepte  letztlich  immer  in  totalitäre  oder  zumindest  paternalistische  Systeme  umschlagen.  Denn  wer  die  Realisierungsbe‐ dingungen  von  Freiheit  und,  so  wird  man  für  unsere  Fragestellung  ergänzen können, Partizipation in den Blick nehme, der müsse, so sein  Argument, bereits eine genaue Vorstellung davon haben, welche Frei‐ heit als erstrebens‐ und unterstützenswert gelten kann – und während  sie  sodann  die  Verwirklichung  dieser  Freiheitsvorstellung  unterstüt‐ zen,  drohen  sie  beständig  andere  Formen  von  Freiheit  zu  unterdrü‐ cken.  Wie  seine  liberalen  Parteigänger  vor  und  nach  ihm  legt  Berlin  daher nahe, Freiheit strikt als negative Freiheit zu begreifen und sie vor  allem auf die Abwesenheit äußerer Hindernisse zu begrenzen. Auf die  Frage der Partizipationsrechte übertragen: Folgt man der Argumentati‐ on  Berlins,  so  müsste  es  genügen,  niemandem  diese  Rechte  abzustrei‐ ten.  Jede  positive  Aussage  darüber,  welche  Bedingungen  erfüllt  sein  2  3 

Ebd., 432.  Ebd., 433. 

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müssen  für  eine  Ermöglichung  von  Partizipation  liefe  nämlich  darauf  hinaus, solche Rechte von einer normativen Vorentscheidung abhängig  zu  machen,  die  gerade  nicht  durch  die  Zustimmung  der  Betroffenen  gedeckt ist. Damit aber werden durch die Akzentverschiebung in mo‐ dernen, demokratischen Gesellschaften Fragen der ethischen Legitima‐ tion aufgeworfen, die durch deren Ausgangsprinzip bei den Prinzipien  einer liberalen, aufklärungsbasierten Ethik nicht adäquat gedeckt sind.  Hier  liegen  in  meinen  Augen  die  schwierigen  Fragen  nicht  nur  der  politischen Ethik der Gegenwart.  Die  unmittelbare  Evidenz,  die  zwingende  Überzeugungskraft  der  modernen politischen Ordnung wie der modernen Ethik bestand darin,  die  Begründungsfragen  und  den  Legitimationsgrund  für  die  grundle‐ genden  Fragen  des  Zusammenlebens  von  einer  durch  Religion  oder  Staat  administrierten  kosmologischen  oder  metaphysischen  Ordnung  in  das  einzelne  Subjekt  zu  verlegen,  wie  dies  besonders  wirkmächtig  Immanuel Kant vorführte. Nicht die Ordnung der Natur oder der Wille  des  Schöpfergottes,  sondern  die  Würde  des  einzelnen  Menschen  stellt  nun  den  letzten  und  entscheidenden  Referenzpunkt  für  die  Ethik  dar.  Im  Interesse  einer  möglichst  stabilen,  nicht  durch  die  notwendigen  Einschränkungen der Empirie relativierten Basis für die Ethik insistier‐ te Kant – Luthers Argumentation in der Freiheitsschrift und vor allem  im  Sermon  von  den  guten  Werken  aufnehmend  –  darauf,  dass  die  Würde  des  Menschen  kein  empirisch  begründeter,  damit  eben  auch  nicht  verifizierbarer  oder  falsifizierbarer  Sachverhalt  sein  könne,  son‐ dern  als  eine  transzendente  Größe  gedacht  werden  müsse.  Nur  unter  diesen Umständen könne, so Kants Argumentation, ein Prinzip wie die  Würde des Menschen kategorische – und das heißt eben unbedingte –  Gültigkeit  erlangen.  Ebenso  stellt  die  Autonomie,  die  Fähigkeit,  dem  eigenen Willen ein Gesetz zu geben, nur ein formales Prinzip dar, das  durch die Unzulänglichkeiten bei der Realisierung nicht infrage gestellt  wird  bzw.  werden  kann.  Das  kantische  Autonomieprinzip  und  der  moderne Selbstbestimmungsgedanke sind daher nicht deckungsgleich,  denn der Selbstbestimmungsgedanke fokussiert gerade auf die empiri‐ sche Realisierbarkeit von Autonomie, eine Korrelation, die Kant um der  unbedingten  Gültigkeit  des  Autonomieprinzips  willen  gerade  ausge‐ schlossen  wissen  wollte.  Als  eine  transzendent  begründete  Grundlage  vermögen  weder  Würde  noch  Autonomie  selbst  hergestellt  oder  ver‐ wirkt werden, die Tatsache ihres Gegebenseins gilt es vielmehr anzuer‐ kennen und ihr zu entsprechen: Würde und Autonomie sind zu achten,  ihnen  ist  gerade  deswegen  Respekt  entgegenzubringen,  weil  sie  sich  nicht  eigenen  Fähigkeiten  verdanken.  Dementsprechend  formuliert  Kant  in  der  Metaphysik  der  Sitten:  „Allein  der  Mensch  als  Person  be‐

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trachtet,  d.i.  als  Subjekt  einer  moralisch‐praktischen  Vernunft,  [...]  be‐ sitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen an‐ dern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem  anderen  dieser  Art  messen  und  auf  den  Fuß  der  Gleichheit  schätzen  kann“ 4 .  Auch  die  Gleichheit  und  der  Respekt  voreinander  resultiert  somit  nicht  aus  empirischen  Überlegungen,  sondern  in  der  Anerken‐ nung des absoluten, transzendenten Wertes, der in einem Vernunftwe‐ sen  zum  Ausdruck  kommt.  Dementsprechend  ist  auch  die  Kantische  Ordnung  des  Zusammenlebens  nur  negativ  bezogen  auf  den  Schutz  vor Missachtung der Würde Einzelner. Wie einleitend dargestellt, prägt  dieser Gedanke auch seine Rechtsethik und damit die Vorstellung vom  politischen Zusammenleben.  Die  Leistungskraft  des  Kantischen  Entwurfs  bestand  und  besteht  ohne Zweifel an der universalistischen Perspektive, die diese nach Art  der physikalischen Gesetze entworfene Ethik zu entfalten vermag. Ihre  spezifische  Schwäche  liegt  freilich  darin,  dass  sie  ihre  Empirie‐ unabhängigkeit und damit ihre kategorische Gültigkeit nur postulieren  konnte,  letztlich  aber  durchaus  auf  die  empirische  Nachweisbarkeit  ihrer Grundthesen angewiesen war. Denn auch hier gibt es eine Paral‐ lele  zu  den  Naturwissenschaften,  die  insbesondere  in  der  Rezeption  Kants  häufig  übersehen  wurde:  Obwohl  Naturgesetze  als  Abstraktio‐ nen der Vernunft gewonnen werden, müssen sie dennoch sich zumin‐ dest mittelfristig als kompatibel mit der Erfahrung erweisen. Auch das  Kantische  Würde‐  und  Autonomiepostulat  sehen  sich  dieser  Heraus‐ forderung ausgesetzt, der Frage nämlich, wie der emanzipative Gehalt  dieses  Ansatzes  sich  in  der  Empirie  aufweisen  lasse.  Anders,  und  mit  Blick  auf  die  Fragestellung  dieses  Bandes  formuliert:  Wie  lassen  sich  die  Souveränität  und  die  Freiheit  des  Subjekts  mit  dessen  faktischer  Unfreiheit  und  Abhängigkeit  so  zusammendenken,  dass  das  Postulat  eines  selbstständigen,  an  der  Vernunft  orientierten  und  darin  auch  verantwortungsfähigen  Subjekts  nicht  nur  eine  bloße  kontrafaktische  Fiktion bleibt? Genau auf diese Problematik wies Hegel in seiner Kritik  gegenüber Kant hin und konstatierte: „Die Person muß sich eine äußere  Sphäre ihrer Freiheit  geben,  um als  Idee  zu  sein“5.  Freiheit und  damit  auch  Subjekthaftigkeit  des  Menschen  dürfen  eben  nicht  nur  Postulate  bleiben,  sondern  müssen  ihr  Äquivalent  in  der  empirischen  Wirklich‐ keit  haben.  Nur  nebenbei  kann  ich  hier  darauf  hinweisen,  dass  damit  im Bereich der neuzeitlichen Ethik das Problem wiederkehrte, das sich  auch  für  die  zweite  reformatorische  Generation  einstellte:  Welche  –  4  5 

Ebd., 569.  G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Ders.: Werke in 20 Bän‐ den, Frankfurt /M. 1986, 102 (=§ 41). 

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auch empirisch wahrnehmbare – Folgen ergeben sich eigentlich aus der  transzendent  im  Glauben  zugesagten  Personalität  und  Freiheit  des  Menschen?   Die Frage, wie und ob es ein empirisches Äquivalent zu der starken  Stellung  des  Personbegriffs  und  auch  des  Subjekts  in  der  kantischen  nach  ihm  der  gesamten  neuzeitlichen  Ethik  geben  könne,  beschäftigt  die Theoriedebatten der Ethik und der politischen Philosophie seit dem  19.  Jahrhundert  nachhaltig.  Der  Grund  dafür  ist  unmittelbar  evident,  geht  es  doch  um  nichts  weniger  als  um  einen  fundamentalen  Umbau  der Autoritäts‐ und Hierarchiestrukturen der Gesellschaft: Nicht mehr  wenige  Exponenten  vertreten  das  Gemeinwohl,  sondern  umgekehrt  baut  sich  das  Gemeinwohl  aus  dem  Miteinander  und  dem  gegenseiti‐ gen  Abgleich  der  Interessen  unterschiedlicher  Individuen  auf.  Wäh‐ rend  in  der  angelsächsischen  Tradition  diese  Herangehensweise  vor‐ rangig  rezipiert  und  ausgearbeitet  wurde,  kam  es  in  der  deutschen  Theoriebildung  zu  einer  massiven  Kritik.  Dabei  wurde  die  skizzierte  Zentralstellung  des  Subjekts  in  der  liberalen  Tradition  in  der  Ausein‐ andersetzung von zwei Seiten angegriffen, die sich durchaus beide auf  die Philosophie Hegels  berufen  konnten:  Auf  der  einen Seite  betonten  die  konservativen  Theoretiker  die  Notwendigkeit  institutioneller  Be‐ schränkungen für die einzelnen Subjekte. Denn weil sie – so vor allem  die im  Bereich  der  Theologie auf  der  Grundlage  einer  pessimistischen  Anthropologie  vertretene  These  –  zutiefst  ihren  eigenen  Interessen  verpflichtet sind und diese vorrangig gegen die Interessen des Nächs‐ ten  und  des  Gemeinwohls  zur  Geltung  bringen  wollen,  sei  es  nötig,  dem  einzelnen  Subjekt  starke  Kollektivsubjekte,  eben  Staat,  Gesetz,  Kirche entgegenzusetzen. Dementsprechend wird von dieser Seite auch  die  Orientierung  am  Einzelnen  scharf  kritisiert,  ebenso  wie  dessen  Freiheitsrechte  infrage  gestellt  werden:  Aufgrund  der  Verderbtheit,  aufgrund  auch  der  Beschränktheit  seiner  Erkenntnismöglichkeiten  ist  es  dem  einzelnen  Subjekt  nicht  möglich,  das  bonum  commune  zu  er‐ kennen, ja es erkennt nicht einmal seinen eigenen Willen, wie man mit  Röm 7 argumentieren konnte. Erst im Rahmen einer größeren und dem  Einzelnen übergeordneten Struktur könne es zu einer wahren Subjekt‐ werdung  kommen.  Dass  damit  die  emanzipativen  Ideale  der  Aufklä‐ rung unterlaufen werden konnten und sollten, liegt auf der Hand.  Auf der anderen Seite konnten sich auch diejenigen kritisch zu dem  Modell neuzeitlicher Hochschätzung des Subjekts äußern, die den Ge‐ danken aus der  Rechtsphilosophie  Hegels in  der Weise  weiterführten,  dass  ein  vor  allem  in  materiellen  Dingen  hochgradig  Abhängiger  kei‐ neswegs  als  Subjekt  seiner  eigenen  Lebensführung  und  seiner  Ent‐ scheidungen  gelten  könne;  vielmehr  sei  er  determiniert  durch  die  Le‐

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bensumstände.  Die Hochschätzung des  Subjekts  und  seiner  Würde ist  hier also dann nicht mehr wie bei Kant gerichtet auf die Achtung und  damit die Anerkennung einer gegebenen Eigenschaft, sondern sie wird  zum  herzustellenden  Programm.  Dementsprechend  wird  auch  das  Recht nicht mehr als Abwehrrecht gegenüber der Bedrohung der eige‐ nen Souveränität durch den Staat und durch andere Mitmenschen ver‐ standen,  sondern  nun  steht  der  bereits  angesprochene  Gedanke  der  Anspruchsrechte im Vordergrund, wie er dann vor allem in der Entste‐ hung  des  Sozialstaats  und  später  dann  in  den  Menschenrechten  der  zweiten Generation zum Ausdruck kommt.  Wie eng dabei die beiden Wege miteinander verwandt waren, zeig‐ te sich in den sozialistisch‐totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts, in  denen sich beide Kritiken an der modernen Subjektvorstellung verban‐ den:  Aus der  konservativen  Kritik  der Gedanke,  dass  der Einzelne  im  Grunde  nicht  wisse  oder  zumindest  nicht  wissen  könne,  worin  sein  eigentlicher Wille bestehe und ihm daher dies von einer Elite vorgege‐ ben werden müsse. Aus der Hegelschule der Aspekt, dass zunächst die  materiellen  Voraussetzungen  gegeben  sein  müssten,  damit  sich  der  Einzelne als Subjekt in Freiheit konstituieren könnte. Der ursprüngliche  liberale  Gedanke,  der  das  Subjekt  als  transzendent  situiert  ansah  und  deshalb  das  Augenmerk  darauf  richtete,  die  Achtung  der  Freiräume  des  einzelnen  Subjekts  durchzusetzen,  musste  demgegenüber  in  dem  Maße in den Hintergrund treten, in dem die Akzeptanz für die Vorstel‐ lung  eines  dergestalt  transzendent  konstituierten  Subjekts  zurücktrat  und gleichzeitig die faktische Abhängigkeit und auch die Verzweckung  eines  Großteils  der  Bevölkerung  in  den  ersten  Phasen  der  Industriali‐ sierung  unübersehbar  wurde.  Denn  um  es  noch  einmal  zu  wiederho‐ len:  Zwar  wäre  die Subjektkonstitution,  wie  sie  Kant  und  auch  seinen  Nachfolgern  im  deutschen  Idealismus  vorschwebte  eigentlich  nicht  durch  solche  empirischen  Defizite  infrage  zu  stellen  gewesen,  jedoch  verlor das transzendentale Konzept von Subjektivität und Freiheit vor  dem  Hintergrund  dieser  empirischen  Defizite  beständig  an  Plausibili‐ tät.  Die Folgen dieser Allianz sind bekannt, sie münden in eine entwe‐ der konzeptionelle Vernachlässigung oder gar Bestreitung des Subjekts  und  seiner  politischen  Partizipationsmöglichkeiten  im  Sinne  gleicher,  staatlich  garantierter  Persönlichkeits‐  und  Partizipationsrechte.  Dabei  geht das Negieren des Subjekt‐Status für weite Kreise der Bevölkerung  über  das  schon  genannte  Argument,  dass  diese  doch  gar  nicht  in  der  Lage seien, ihre Interessen wirklich zu vertreten, Hand in Hand mit der  gegenläufigen Tendenz, dass nämlich Betroffene ihre aus dem Gedan‐ ken  ihrer  eigenen  Subjektivität  und  Freiheit  resultierende  Verantwor‐

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tung nicht mehr wahrnehmen. Dies ist erst die explosive Mischung, aus  der die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts ihre menschenverach‐ tende  Kraft  ziehen  konnten.  Diese  Bestreitung  führt  aber  nicht  nur  –  tragisch  genug  –  in  die  großen  totalitären  Ideologien  des  20.  Jahrhun‐ derts,  sie  führt  auch  zu  einer  beständig  wachsenden  Distanzierung  weiter Kreise von Kirche und auch vom Christentum.  Führt man sich diese Struktur vor Augen, so ist es im Grunde doch  überraschend, dass das Bonner Grundgesetz von 1949 einen so deutlich  anderen Akzent setzte und nun nicht nur die Unantastbarkeit der Men‐ schenwürde  und  deren  Achtung  als  einer  allem  staatlichen  Wirken  vorausgehenden Größe festhielt, sondern zugleich auch den Staat zum  aktiven Schutz der Menschenwürde verpflichtete: Gemeinsam mit dem  Sozialstaatsgebot aus Art. 20 GG ist das Grundgesetz einem Verständ‐ nis  des  Einzelnen  als  eines  politischen  Subjekts  verpflichtet,  das  die  Freiheits‐  und  Partizipationsrechte  nicht  nur  anerkennt,  sondern  das  den Staat auch dazu verpflichtet, die Möglichkeiten für eine freie Ent‐ faltung  der  Persönlichkeit  zu  schaffen.  Sozialleistungen  sind  darum  kein  Ausdruck  staatlicher  Barmherzigkeit,  sondern  Pflichtleistungen  gegenüber dem Einzelnen als Person und als Subjekt.  Neben  die  Orientierung  an  den  abwehrorientierten  Grund‐  und  Menschenrechten  tritt  damit  in  immer  stärkerem  Maße  die  Ausrich‐ tung  an  den  sozialen  Anspruchsrechten,  ein  Blick  auf  die  Geschichte  der  jungen  Bundesrepublik  und  auf  die  Haushaltspläne  fördert  das  sehr schnell zutage: Eines der ersten Gesetze, das der Bonner Bundes‐ tag verabschiedet, ist ein Gesetz zum sozialen Wohnungsbau. Mit dem  Auf‐ und Ausbau des Sozialstaates konzentriert sich die Staatstätigkeit  immer  mehr  auf  den  Bereich  der  sozialen  Sicherung.  Gegenwärtig  fo‐ kussiert  nur  ein  verschwindend  kleiner  Anteil  der  Staatstätigkeit  und  der Staatsausgaben auf den Bereich altliberaler Staatsaufgaben, nämlich  der Sicherung der Kompatibilität der Freiheit des einen mit der Freiheit  des  anderen.  Vielmehr  ist  der  überwiegende  Teil  den  Anspruchsrech‐ ten  gewidmet  und  orientiert  sich  dabei  an  dem  Gedanken,  dass  eine  partizipative  Gesellschaft  auf  Mechanismen  angewiesen  ist,  die  den  Einzelnen  die  Teilhabe  am  Gemeinwesen  auch  dann  ermöglichen  sol‐ len, wenn sie aktuell – aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer gegenwärti‐ gen Verfassung – dazu nicht in der Lage sind. Die Ausbildung z. B. von  leistungsfähigen Medizinsystemen lässt sich in dieser Perspektive deu‐ ten  und  ist  durchaus  als  ein  Prozess  der  Demokratisierung  zu  verste‐ hen. Denn moderne Gesellschaften wenden darum einen beträchtlichen  Teil des BIP für das Medizinsystem auf, weil dieses eben den Betroffe‐ nen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Dabei ist es  auffallend,  dass  in  der  Gegenwart  gerade  in  den  westlichen  Ländern 

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der  Anteil  der  öffentlich  finanzierten  Gesundheitsausgaben  steigt,  in  denen er traditionell eher niedrig war, unter anderem in den USA und  auch in der Schweiz. Ähnliches ließe sich natürlich auch für die ande‐ ren  Bereiche  der  sozialen  Sicherung,  aber  auch  für  die  Verbesserung  der individuellen Ausbildung namhaft machen.  Es  gehört  nun  zu  den  Grundproblemen  für  eine  gegenwartsbezo‐ gene  politische  Ethik,  dass  im  Zuge  fortschreitender  Modernisierung  nun  gerade  die  Unterstützungssysteme,  die  die  Verwirklichung  von  Freiheit  und  Partizipation  sicherstellen  sollen,  umschlagen  können  in  deren Gefährdung. Dazu muss man keineswegs nur die (sicher zu kurz  greifende)  Kritik  neoliberaler  Provenienz  bemühen,  dass  nämlich  der  Sozialstaat seine Bürger entmündige und letztlich nichts anderes als die  vormoderne Form des paternalistischen Obrigkeitsstaates darstelle, der  lediglich  unter  dem  Deckmantel  der  Demokratie  firmiere.  Eine  solche  Kritik greift eben deswegen zu kurz, weil sie übersieht, dass es gerade  zu den Einsichten des 20. Jahrhunderts gehört, dass freiheitliche Gesell‐ schaften  auf  eine  adäquate  materielle  Ausstattung  ihrer  Bürgerinnen  und Bürger angewiesen sind: Freiheit und Daseinsvorsorge bilden kei‐ ne Gegensätze, sondern bedingen einander. Daher ist angesichts man‐ cher neoliberaler Vorstellungsweisen an die präzise Kritik John Deweys  gegenüber  solchen  von  ihm  bezeichnenderweise  als  altliberal  apostro‐ phierten  Konzepten  zu  erinnern.  Dewey  hatte  darauf  hingewiesen,  dass die von den altliberalen Theoretikern vertretene Ansicht, es werde  sich  eine  freiheitsdienliche  und  faire  Ordnung  gleichsam  von  selbst  einstellen,  wenn  nur  die  äußeren  Hemmnisse  und  Einschränkungen  abgeschafft  wären,  unsachgemäß  sei.  Vielmehr  stelle  sich,  so  Deweys  Einsicht, eine solche Ordnung eben nicht von selbst ein, sondern bedür‐ fe  flankierender  Maßnahmen.  Darum  müsse  ein  moderner  Liberalis‐ mus  darauf  abzielen,  „die  Bedingungen  bereitzustellen,  unter  denen  die  Masse  der  Individuen  de  facto  und  nicht  bloß  de  jure  Freiheit  er‐ langen könne“.6 Wenn dem aber so ist, dann bedarf es nicht einfach der  Absenz  staatlichen  Handelns,  sondern  eines  gestaltenden  staatlichen  Handelns,  das  die  Grundlagen  für  eine  freie  und  selbstbestimmte  Le‐ bensführung bereitstellt. Dazu gehört die Zurückweisung überborden‐ der  ökonomischer  Macht  genauso  wie  die  Bereitstellung  eines  Bil‐ dungssystems,  vor  allem  aber  die  Garantie  von  Rechtssicherheit  und  Rechtstaatlichkeit.   An  eben  dieser  Stelle  nämlich  liegt  das  entscheidende  Problem:  In  fortschreitend modernisierten Gesellschaften gibt es eine Dialektik von  6 

J. Dewey: Liberalismus und gesellschaftliches Handeln, in: Ders.: Liberalismus und  gesellschaftliches Handeln. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Achim und Nora Eschbach,  Tübingen 2011, 149–207, 163. 

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Reiner Anselm 

 

Freiheitszugewinnen und Freiheitsverlusten, und zwar genau weil die  Verwirklichung  der  Freiheit  in  den  Fokus  öffentlicher  und  politischer  Aufmerksamkeit geraten ist: Die Freiheitszugewinne, die die Grundla‐ ge für das Wahrnehmen gesellschaftlicher Partizipation darstellen und  den Einzelnen in die Lage versetzen, tatsächlich sich als ein eigenstän‐ diges Subjekt im Prozess des Politischen zu begreifen, werden erkauft  dadurch,  dass  der  Einzelne  tatsächlich  sich  immer  mehr  den  System‐ logiken  differenzierter  Systeme  unterwerfen  muss  –  sei  es  dem  Fahr‐ plan  öffentlicher  Verkehrsmittel  oder  der  komplizierten  Logik  von  wirtschaftlichen  Unternehmungen.  In  diesem  Prozess  kommt  es  nicht  nur zu neuen Abhängigkeiten, es kristallisiert sich vielmehr eine Sicht‐ weise  heraus,  die  die  Existenz  individueller  Subjekte  als  Handlungs‐ subjekte,  d.  h.  als  Agenten  ihrer  eigenen  Lebensführung  überhaupt  infrage stellt. In modernen Gesellschaften muss der Einzelne nicht nur  in besonders hohem Maße Vertrauen in andere Teilbereiche erbringen  können, er macht sich auch selbst von immer komplexeren Strukturen  abhängig.  Die  modernen  Arbeitsformen,  Mobilität,  Informationstech‐ nologien  aber  auch  die  moderne  Medizin  mit  ihren  hochkomplexen  Systemen  stellen  gute  Beispiele  für  dieses  Problem  dar.  An  die  Stelle  individueller  Verantwortung  tritt  dann  die  Rationalität  einzelner  Teil‐ systeme oder sozialer Rollenzuschreibungen, verbunden mit der Frage,  wie in diesen Strukturen noch von Verantwortung gesprochen werden  kann.  Dass  diese  Frage  eng  korreliert  mit  der  naturwissenschaftlichen  Infragestellung der Subjektkonstruktion, kann ich hier nur nennen und  insbesondere auf die Debatte um die genetische Determination und die  neuere Diskussion um den Freiheitsgedanken aus der Sicht der Neuro‐ biologie verweisen.  Wichtiger  und  drängender  als  die  Auseinandersetzung  mit  den  Neurowissenschaften  scheint  mir  für  eine  politische  Ethik  die  Frage  nach der Zukunft der Demokratie in nachhaltig modernisierten Gesell‐ schaften zu sein: Die Distanz vieler gegenüber dem Politikbetrieb resul‐ tiert ja auch aus der Wahrnehmung, dass es angesichts der Komplexität  der gesellschaftlichen Steuerungsprozesse doch gar keine Alternativen  gibt,  dass  „die  da  in  Berlin“  sowieso  eigentlich  nichts  zu  entscheiden  haben, weil die Eigenlogik entpersonalisierter Systeme an die Stelle der  Entscheidung  getreten  sei.  Die  Sehnsucht  nach  identifizierbaren  Sub‐ jekten,  nach  neuen  Helden  oder  Ikonen  in  der  Politik,  widerspricht  dem  nicht  sondern  stellt  nur  eine  Facette  dieser  Entwicklung  dar.  Be‐ denklich ist diese Sehnsucht, weil sie auf der einen Seite dazu tendiert,  Einzelne  in  den  Status  von  übersteigerten  Hoffnungsträgern  zu  kata‐ pultieren  und  gleichzeitig  zu  einem  inneren  Rückzug  vieler  aus  den  Strukturen  gesellschaftlicher  Verantwortung  führt.  Dieser  Prozess  ist 

Die Frage nach dem Subjekt 

 

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nicht  nur  für  den  gesellschaftlichen  Rückhalt  der  Demokratie  proble‐ matisch, er ist es auch für die Lebensführung der Einzelnen. Denn die‐ jenigen, die sich selbst nur als Spielball von Systemen sehen und erle‐ ben,  stehen  in  der  Gefahr,  die  Verantwortung  für  sich  selbst  und  für  andere  abzulehnen  und  somit  in  eine  amoralische  –  vielleicht  nicht  einmal unmoralische – Lebensführung abzugleiten. Der Frage, wie das  Bewusstsein und das Erleben eigener Subjektivität auch für die gestal‐ tet werden kann, die nicht über die notwendigen kognitiven und mate‐ riellen  Voraussetzungen  verfügen,  ohne  dass  diese  Unterstützungs‐ strukturen  das  Problem  verstärken,  das  sie  eigentlich  lösen  sollen,  ge‐ hört  daher  die  besondere  Aufmerksamkeit  der  politischen  Ethik.  Die  Herausforderung  besteht  dabei  darin,  ein  Subjekt  zu  denken,  ohne  einer nur transzendentalen Konstitution der Person das Wort zu reden,  ohne  aber  auch  die  Unterstützungsstrukturen  so  anzulegen,  dass  der  Einzelne  zum  Objekt  von  Wohlfahrtshandeln  oder  auch  von  freiheits‐ ermöglichenden  Gesellschaftsstrukturen  wird.  Aus  theologischer  Sicht  stellt sich diese Problematik noch einmal in besonderer Weise: Hier gilt  es daran festzuhalten, dass die Subjektwerdung des Einzelnen aus der  Perspektive  des  Glaubens  allein  in  der  Gottesbeziehung  und  damit  unabhängig von den empirisch fassbaren Eigenschaften des Einzelnen  erfolgt;  gleichzeitig  aber  muss  ebenso  emphatisch  der  Bedrohung  die‐ ser  Subjektivität  in  den  gesellschaftlichen  Kontexten  entgegengetreten  werden.  Die  Fokussierung  auf  die  Begründung  der  Subjekthaftigkeit  im  Glauben  darf  nicht  mit  dem  Desinteresse  gegenüber  konkreten  Hindernissen für die lebensweltliche Realisierung dieser Subjekthaftig‐ keit einhergehen, im Gegenteil: Sie muss die Aufmerksamkeit auf diese  Gefährdungen  richten  und  ihnen  entgegentreten,  sei  es  im  Blick  auf  tätliche Angriffe, durch mangelnde Ressourcen oder durch den entsub‐ jektivierenden Zugriff von sozialen Strukturen.  In dem Augenblick aber, in dem staatliches Handeln sich an einem  positiven Begriff der Freiheit als Bedingung für gesellschaftliche Parti‐ zipation  ausrichtet,  bedarf  es  einer  Rahmentheorie,  an  der  sich  dieses  Handeln  ausrichten  kann  –  und  zwar  so,  dass  zugleich  die  Aufgaben  wie  die  Grenzen  staatlichen  Handelns  beschrieben  werden  können.  Nur über ein solches Rahmenkonzept ist die für die politische Ordnung  in  modernen  Gesellschaften  unabdingbare  Balance  von  negativer  und  positiver  Freiheit  zu  gewährleisten,  das  hat  Charles  Taylor  in  seiner  geistreichen  Auseinandersetzung  mit  Isaiah  Berlins  Konzeption  nach‐ gewiesen7.  Es  bedarf  eines  Hintergrundmodells,  von  dem  aus  die  ge‐ 7 

Ch.  Taylor,  Der  Irrtum  der  negativen  Freiheit,  in:  Ders.:  Negative  Freiheit?  Zur  Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt /M. 1992, 118–144. 

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forderten  Handlungen  beurteilt  werden  können  –  dabei  aber  muss  zugleich  der  Gefahr  entgegengetreten  werden,  dass  dieses  Hinter‐ grundmodell selbst zur Freiheitsbedrohung wird.   In diesem Spannungsfeld hat sich nun eine evangelische Ethik des  Politischen  als  Ethik  der  Freiheit  zu  bewähren:  Sie  muss  als  Hinter‐ grundkonzeption fungieren, die den Maßstab für ein auf die Verwirkli‐ chung  der  Freiheit  zielendes  Engagement  darstellen  kann,  und  darf  dabei aber nicht eine bestimmte Realisierung von Form der Freiheit als  unverrückbar  festschreiben.  Der  Unbedingtheit  der  Botschaft  von  der  Freiheit muss darum das Bewusstsein korrespondieren, dass alle Reali‐ sierungsformen  nur  Formen  endlicher  Freiheit  darstellen  –  und  zwar  um der Verwirklichung und der Begründung der Freiheit willen.   Diese  Struktur  lässt  sich  sehr  gut  an  der  Ethik  Karl  Barths  zeigen,  die  dieses  Spannungsfeld  zum  Konstruktionsprinzip  erhebt.  Freiheit  des Einzelnen wurzelt für Barth zwar wie für die reformatorische Theo‐ logie  insgesamt,  allein im Handeln  Gottes,  dieses Handeln  Gottes  tritt  aber nicht in der Gestalt von Gesetz und Evangelium auf, sondern als  die Erwählung des Menschen zum Miteinander, und zwar zum Mitein‐ ander  ebenso  mit  Gott  wie  mit  dem  Mitmenschen.  Aus  dieser  Erwäh‐ lung ergibt sich die Möglichkeit für den Menschen, am Wirklichwerden  der geschenkten Freiheit mitzuwirken, die Aufforderung zum Handeln  folgt  somit  unmittelbar  aus  der  Erwählung  des  Menschen.  Christliche  Freiheit ist daher keine Freiheit der Innerlichkeit, sondern sie ist tätige  Freiheit. Oder, in seinen eigenen Worten: „Der freie Mensch ist der […]  wählende  sich  entscheidende  und  entschließende  und  demgemäß  in  Gedanken, Worten und Werken handelnde Mensch“.8 Im Handeln des  Christen verwirklicht sich die Freiheit, es soll dabei dem Handeln Got‐ tes, das auf die Ermöglichung menschlicher Existenz zielt, entsprechen.  Für  diese  Beziehung  zwischen  dem  Grund  der  Freiheit  und  ihrer  täti‐ gen  Realisierung  kann  Barth  verschiedene  Bilder  gebrauchen,  denen  allerdings  eines  immer  gemeinsam  ist:  Sie  verdeutlichen,  dass  es  eine  kategoriale  Differenz  gibt  zwischen  Gott  und  Mensch,  dem  Menschen  ist  das  Gebot  Gottes  nur  im  Modus  des  Hörens,  des  Interpretierens,  Aneignens zugänglich.  Ein  Verfügen  über  Gottes  Gebot,  gar  eine  Ver‐ wirklichung  dieses  Gebots  in  Strukturen,  Ordnungen,  Institutionen  kann  es  nicht  geben.  Eben  darum  eignet  –  bei  aller  mitunter  anstren‐ genden  Rhetorik  –  Barths  Ethik  etwas  erfrischend  Undogmatisches.  Je  nach  Situation  gilt  es  Gottes  Willen  von  der  Ermöglichung  gegenseiti‐ ger  Freiheit  neu  auszulegen;  Barths  Ethik  ist  daher  –  anders  als  die  8 

K. Barth, Das Geschenk der Freiheit (1953), in: Freiheit im Leben mit Gott. Texte zur  Tradition  evangelischer  Ethik,  hg.  v.  Hans  Günter  Ulrich,  Gütersloh  1993,  336–362,  350. 

Die Frage nach dem Subjekt 

 

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Ethik mancher Barthianer – eine der Kasuistik abständige, den Einzel‐ nen  in  den  Mittelpunkt  stellende  Situationsethik.  Zum  Maßstab  wird  dabei, darauf hat Christopher Frey zu Recht hingewiesen, die Ermögli‐ chung  von  Zukunft:  „Jenes  Dürfen,  in  das  sich  das  Sollen  verwandelt  und in dem das Sollen zur Freiheit wird, ist die Zukunft des Menschen,  die Gott schenkt“.9   Zukunft ermöglichen, darin nun besteht der Richtungssinn, den ei‐ ne  theologische  Ethik  im  Blick  auf  die  Verwirklichung  der  Freiheit  zu  vertreten hat. Das bedeutet zugleich, keiner vorfindlichen Realisierung  der  Freiheit  den  Status  der  Unbedingtheit  zuzumessen,  ein  Gedanke,  der gerade auch durch die strikte Trennung zwischen Gott und Mensch  in  der  reformierten  Tradition  gestützt  wird.  Der  Rekurs  auf  den  Got‐ tesgedanken impliziert dabei auch, dass Freiheit immer in intersubjek‐ tiver Perspektive zu thematisieren und zu vertreten ist: Die Erwählung  gilt eben nicht einem Menschen, sondern den Menschen. Der andere ist  daher  als  gleichberechtigter  Nächster  zu  behandeln,  aber  gleichzeitig  dürfen und müssen die eigenen Interessen nicht dem anderen unterge‐ ordnet  werden.  In  der  Perspektive  der  christlichen  Ethik  bedeutet  die  Verwirklichung  der  Freiheit  die  Suche  nach  Möglichkeiten,  auch  nach  Kompromissmöglichkeiten,  die  die  Entwicklungsperspektiven  mög‐ lichst aller mit in den Blick nehmen.   Den Rahmen dafür gibt die Geschöpflichkeit des Menschen ab, und  es  ist  daher  auch  nur  folgerichtig,  dass  Karl  Barth  die  materiale  Ethik  wesentlich  als  Teil  der  Schöpfungslehre  konzipiert.  Sich  als  Geschöpf  und die Welt als Schöpfung zu verstehen bedeutet ja ganz zentral, sich  selbst und die Welt nicht als etwas Geschichtsloses, Überzeitliches auf‐ zufassen, sondern als etwas, das in seiner Einmaligkeit gewollt ist, das  einen  Anfang  und  auch  ein  Ziel  hat.  Dementsprechend  ergibt  sich  als  maßgebliche  Norm,  an  der  sich  die  Verwirklichung  der  Freiheit  zu  messen hat, die Ermöglichung von Individualität, und das ist gleichbe‐ deutend mit der Ermöglichung von Entwicklungs‐ und Zukunftsfähig‐ keit.    An  drei  Beispielen  möchte  ich  abschließend  skizzieren,  welche  Konkretionen das gesellschaftliche Zusammenleben nach sich zieht: So  gilt (1) für die staatliche Ordnung, dass sie konsequent vom Gedanken  der Ermöglichung von Zukunftsfähigkeit her zu konzipieren ist. Nicht  das  Einordnen  des  Einzelnen  in  vorgegebene  Konzepte,  sondern  die  Funktionalisierung  der  staatlichen  Organe  für  die  Ermöglichung  von  individueller Zukunft stellt das entscheidende Kriterium für eine Ver‐ 9 

Chr.  Frey,  Die  Ethik  des  Protestantismus  von  der  Reformation  bis  zur  Gegenwart,  Gütersloh, 2. Aufl. 1994, 188. 

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wirklichung von Freiheit dar. Das gilt sowohl für den Bildungsbereich,  aber  auch  für  die  Daseinsvorsorge  im  Sozial‐  und  Medizinwesen,  für  die außenpolitische Orientierung als auch die Ökologiefrage. Ebenso ist  auch (2) im Blick auf die Ökonomie darauf zu achten, dass sie der Zu‐ kunftsfähigkeit dient, wobei hier der Ausgleich zwischen der individu‐ ellen  und  der  überindividuellen  Zukunftsfähigkeit  eine  nicht  unbe‐ trächtliche  Herausforderung  darstellt.  Angesichts  aktueller  Herausfor‐ derungen nur thesenartig so viel: Überschuldung stellt gerade über die  Bedrohung  der  Zukunftsfähigkeit  eine  Bedrohung  der  Freiheit  dar.  Schließlich ergeben sich (3) vom Gedanken der Freiheit als Gewährleis‐ tung  von  Zukunftsfähigkeit  auch  Leitlinien  zur  Beurteilung  der  Her‐ ausforderungen  in  der  biomedizinischen  Ethik: Hier  bedeutet  die  Ori‐ entierung  an  der  Zukunftsfähigkeit  eine  gesteigerte  Aufmerksamkeit  für  die  jeweilige  Situation  und  Zurückhaltung  gegenüber  generalisie‐ renden  Lösungen,  wie  sie  zuletzt  immer  wieder  thematisiert  worden  sind.  Ein  Freiheit  verwirklichendes  Handeln  speist  sich  in  seinen  Kon‐ kretionen immer aus der umgebenden Kultur. Theologische Ethik wird  darum immer auch für den Erhalt einer christlich‐freiheitlichen Kultur  einzutreten haben.    

Der andere ist nicht Teil unserer Welt.  Luce Irigaray1    Inwiefern können wir diese Sprache übernehmen?  Maurice Blanchot2    Das Religiöse wird immer verdächtig bleiben.  Emmanuel Levinas3 

       

Rückbindung (religio) an den Anderen −                  im europäischen Horizont     

Zu Grenzen der Politisierung menschlicher Subjektivität    BURKHARD LIEBSCH   

1. Zur Nachträglichkeit Europas    Ungeachtet  einer  durchgreifenden  Destruktion  des  auf  die  Griechen  der Antike zurückgehenden Ursprungsdenkens zeigt sich die überbor‐ dende Literatur zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft Europas noch  immer von notorischen Fragen wie diesen irritiert: Was macht Europa  ursprünglich  aus?  Was  ist  „uns  Europäern“  von  Anfang  an  eigen  ge‐ wesen? Und was gehört uns in diesem Sinne nach wie vor eigentlich zu  − sei es als Ursprung, Herkunft, Erbschaft, Besitz, Kompetenz oder blo‐ ße Eigentümlichkeit? Je mehr die nachträglich als europäisch eingestuf‐ te Geschichte das Ursprungsdenken durchkreuzt hat, um es einer ver‐ wirrenden  Vielzahl  disparater  Anfänge,  kontingenter  Ereignisse  und  einer nicht erst seit dem Anbruch der Moderne unvorhersehbaren Zu‐ kunft  auszuliefern,  desto  hartnäckiger,  so  scheint  es,  behaupten  sich  diese Fragen.   Rémi  Brague,  der  sich  Jahrzehnte  lang  mit  ihnen  auseinanderge‐ setzt hat, kam endlich zu dem Schluss, dass die Antwort in jedem ein‐                                1   2   3  

L. Irigaray, Welt teilen, Freiburg i. Br., München 2010, S. 104.  M. Blanchot, Der Gesang der Sirenen, Frankfurt/M. 1988, S. 117.  E.  Levinas,  „Ein  Brief  Jean  Wahl  betreffend“,  in:  Die  Unvorhersehbarkeiten  der  Ge‐ schichte, Freiburg i. Br., München 2006, S. 89 (=UG). 

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Burkhard Liebsch 

zelnen Fall lauten muss: nichts. Im Rückblick des Historikers resultiert  Europa  nicht  aus  irgendwelchen  Ursprüngen,  sondern  aus  Projekten  nachträglicher  Vereinigung,  die  ihrerseits  eine  Trennung  von  all  dem  implizieren, „was es nicht ist“ oder nicht (mehr) sein will. Schmerzhaft  habe Europa im Zuge einer Reihe erzwungener bestimmter Negationen  erst  zu  seiner  „exzentrischen  Identität“  finden  müssen,  die  es  ihm  bis  heute versage, seine eigene kulturelle Geschichte als einen ursprüngli‐ chen,  nunmehr  unverlierbaren  Besitz  zu  betrachten.  Brague  insistiert,  die europäische Kultur sei und bleibe sich mehr als jede andere selbst  fremd.  „Nur  auf  dem  Umweg  über  das  Vorhergegangene  und  das  Fremde  hat  der  Europäer  Zugang  zum  Eigenen“,  das  sich  nicht  von  einem  unangefochtenen  Ursprung  her,  sondern  stets  nur  nachträglich  als  Eigenes  abzeichne.  Darüber  hinaus drohe  es  immer  wieder in  Ver‐ gessenheit  zu  fallen  und  müsse  immer  wieder  erobert  werden,  wobei  aber nicht vergessen werden dürfe, dass das Eigene nichts Ursprüngli‐ ches sei.4  Bis in die jüngste Geschichte hinein führt das „Vorhergegangene“,  ungeachtet fragwürdiger Aneignungen in der Form seiner historischer  Inbesitznahme,  vielmehr  eine  Selbst‐Fremdheit  vor  Augen,  die  nicht  zuletzt von einer tiefen Verstrickung in äußere und innere Verfeindun‐ gen  herrührt,  die  mehrfach  die  Selbstvernichtung  Europas  heraufbe‐ schworen haben. Auch deshalb „sollte man es sich versagen, selbstzu‐ frieden auf die griechischen, lateinischen oder jüdischen Kulturschätze  zurückzugreifen,  als  ob  es  sich  dabei  um  eine  Rente  handelte,  welche  den  faulen  Besitzer  dazu  berechtigte,  einen  ‚Rundgang  des  Eigentü‐ mers  im  Garten  der  Vergangenheit‘  zu  machen.  Man  mag  mit  vollem  Recht  die  griechische  Rationalität  und  Demokratie,  die  römische  Ord‐ nung, den jüdischen Sinn für die Transzendenz usw. bewundern; ihre  Aufzählung  jedoch  –  schon  als  Klischee  ärgerlich  genug  –  wird  voll‐ ends anrüchig, wenn es darum geht, sie selbstzufrieden für sich in An‐ spruch zu nehmen.“5  Der Geist einer solchen Eigentümerschaft prägt bis heute viele Ver‐ suche,  tatsächlich  kaum  auf  einen  historischen  Nenner  zu  bringende  „Vorläufer“ des sog. „Europagedankens“ von der griechischen Mytho‐ logie über das „hellenisierte“ frühe Christentum, Karl d. Gr. und Nova‐ lis bis hin zu Nietzsche nachträglich in eine Tradition „guter Europäer“ 

                               4   5  

R. Brague, Europa. Eine exzentrische Identität, Frankfurt/M. 1993, S. 10, 16.  Ebd., S. 110. 

 

Rückbindung (religio) an den Anderen 

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einzugemeinden.6  Demgegenüber  entwirft  Brague  das  Bild  einer  an‐ archischen Formation  Europas,  zu  der man  nun  im Lichte  verschiede‐ ner  Vereinigungsprojekte  nachträglich  europäisierte,  passende  Geschich‐ te(n) schreibt. Zwar wurde in der Vergangenheit vielfach einem künfti‐ gen Europa vorgegriffen, doch hat man es dann doch immer wieder re‐ interpretieren  müssen  −  vor  allem  infolge  der  destruktivsten  Gewalt,  die  je  einen  Kontinent  verwüstet  hat  und  die  je  exportiert  worden  ist.  Darauf  wies  schon  Paul  Valéry  hin,  der  nach  dem  Ersten  Weltkrieg  feststellte,  Europa  sei  (bis  dahin)  eigentlich  nur  ein  geografischer  Be‐ griff  gewesen,  dieser  Krieg  aber  drohe  das,  was  sich  seinerzeit  sche‐ menhaft  als  europäischer  „Geist“  abgezeichnet  hatte,  vollkommen  ab‐ sterben  zu  lassen.  Im  Jahre  1919  stellte  Paul  Valéry  fest,  Europa  habe  „aufgehört […], sich selbst zu gleichen“. „Der Glaube an eine europäi‐ sche  Kultur  ist  dahin;  daß  die  Erkenntnis  nichts,  gar  nichts  zu  retten  vermag,  ist  erwiesen;  die  sittlichen  Ansprüche  der  Wissenschaft  sind  tödlich getroffen, sie ist gleichsam entehrt durch die Grausamkeit ihrer  praktischen  Anwendung;  der  Idealismus  […]  ist  tief  verwundet  und  büßt für seine Träume; der Realismus enttäuscht, geschlagen, mit allen  Verbrechen und Verfehlungen belastet […].“7    In  die  gleiche  Kerbe  schlugen  nach  dem  Ende  des  Zweiten  Welt‐ kriegs,  das  Valéry  nicht  mehr  erlebt  hat,  zahlreiche  Diagnosen,  denen  zu  entnehmen  ist,  Europa  habe  sich  selbst  endgültig  zerstört;  wenn  überhaupt, dann könne es nur aus seiner Asche wieder entstehen. Aber  nicht wie ein Hegelscher Phönix8, dem zuzutrauen wäre, jede Destruk‐ tion „verjüngt“ und „erhöht“ zu überleben, sondern nur nach Maßgabe  einer  angemessenen  Antwort  auf  die  Desaster,  die  auf  europäischem  Boden  möglich  geworden  sind  und  die  Europa  paradoxerweise  voll‐ kommen  ruiniert  zu  haben  schienen,  bevor  Europa  überhaupt  eine  durch internationale Verständigung und Verträge gesicherte Form an‐ genommen hatte. Demnach wäre Europa nach seiner Zerstörung und als  Antwort auf sie entstanden; als ein in seinem geschichtlichen Sinn nach‐ trägliches  Gebilde.  Demnach  gäbe  es  „uns“  Europäer  erst  infolge  der  europäischen  Desaster9  −  ungeachtet  jener  Phänomenologen  und  Her‐                                6  

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Vgl.  U.  Frevert,  Eurovisionen,  Frankfurt/M.  2003;  F.  Seibt,  Die  Begründung  Europas,  Frankfurt/M. 2004; T. Kobusch, Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität,  Darmstadt 2006.  P. Valéry, Die Krise des Geistes, Wiesbaden 1956, S. 9.  Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. I. Die Ver‐ nunft  in  der  Geschichte,  Hamburg  1994,  S.  35,  wo  sich  der  Autor  vom  „morgenlän‐ dischen Bild“ eines nur verjüngten Wiederauflebens absetzt.  Wer glaubt, daraus seien längst die moralischen, rechtlichen und politischen Konse‐ quenzen gezogen worden, dem sei als Gegenprobe M. Blanchots  Die Schrift des De‐

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meneutiker,  die  die  Urstiftung  des  Sinns  europäischer  Vernunft  und  Wahrheit bereits in der Antike ausgemacht haben wollen.   An dieses, abgesehen von Paul Valéry u.a. durch Martin Heidegger,  Edmund Husserl, Karl Löwith und Jan Patočka10 angebahnte nachträg‐ liche  Fragen  nach  dem  Ursprung  Europas  knüpfte  nach  dem  Zweiten  Weltkrieg Jacques Derrida in Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden  der  Geometrie  (1962)  an,  wo  er  sich  mit  der  Frage  beschäftigte,  ob  eine  definitive  Vernichtung  der  „geistigen  Leiblichkeit“  europäischen  Den‐ kens vorstellbar sei (womit er Erinnerungen an den 1914 von deutschen  Soldaten  verursachten  Brand  der  Bibliothek  von  Löwen,  wo  später  Husserls  Nachlass  vor  den  Nazis  verwahrt  werden  konnte,  aber  auch  an  deren  Bücherverbrennungen  in  den  1930er  Jahren  und  an  den  sog.  Holocaust  weckte).11  Vor  allem  in  dem  Essay  Das  andere  Kap  und  in  dem Interview, das den Titel Die vertagte Demokratie trägt (1989/90), ist  Derrida auf das Problem der Nachträglichkeit Europas wieder zu spre‐ chen  gekommen,  wobei  eine  eher  beiläufige  Bemerkung  Valérys  eine  zentrale Rolle spielte. Gemeint ist die Feststellung, dass die (scheinbar  genuin europäische) Idee der Freiheit „nicht an erster Stelle“ steht; „im‐ mer  dann,  wenn  man  sie  beschwört,  wird  sie  eigentlich  herausgefor‐ dert; ich meine damit, daß sie immer eine Antwort ist“.12   Für  Derrida  musste  diese  Bemerkung  freilich  über  das  bei  Valéry  Gemeinte  hinausführen,  insofern  er  im  Hinblick  auf  die  Geschichte  Europas zu dem Schluss kam, dass sie von einer unaufhebbaren Alteri‐ tät (KD, S. 26) unterwandert wird, die sich als solche wiederum nur in  nachträglichen  Versuchen  abzeichnete,  gewissermaßen  zu  sich  selbst  zu finden. So erwies sich Europa in die ständige Erfahrung eines Mit‐ sich‐Differierens verstrickt (KD, S. 36), in der sich jedem Versuch, eine  europäische  Identität  zu  etablieren,  eine  irreduzible  Selbst‐Fremdheit                                 sasters,  München  2005,  empfohlen;  eine  Schrift,  die  deutlich  der  Meinung  wider‐ spricht,  die  fragliche  Gewalt  sei  „Vergangenheit“  und  fordere  uns  nicht  mehr  her‐ aus.  Hierzulande  ist  zumindest  im  geschichtstheoretisch‐ethischen  Denken  bislang  nur  eine  spärliche  Auseinandersetzung  mit  Blanchot  und  anderen,  ebenfalls  so  zu  verstehenden Autoren festzustellen.  10   P.  Valéry,  Werke,  Bd.  7,  Frankfurt/M.  1995;  K.  Löwith,  „Die  Idee  von  Europa  in  der  deutschen Philosophie der Geschichte“; Antrittsrede an der Tohoku Imperial Universi‐ ty,  Sendai/Japan,  20.  11.  1936  (unveröffentlichtes  Typoskript,  das  mir  freundlicher‐ weise Hans Rainer Sepp zur Verfügung gestellt hat); E. Husserl, Die Krisis der europä‐ ischen  Wissenschaften  und  die  transzendentale  Phänomenologie,  Hamburg  1982;  J.  Patočka, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, Berlin 2010.  11   Vgl. J. Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie [1962], Mün‐ chen 1987, im Vorwort R. Bernets S. 21, sowie S. 122–129.  12   J. Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie, Frankfurt/M. 1992, S. 73 (=KD); P.  Valéry, „Die Freiheit des Geistes“, in: Werke 7, S. 349–376, hier: S. 369. 

 

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widersetzte. Statt diese Erfahrung aber nur privativ zu deuten, münzte  Derrida sie in eine Forderung und in die Pflicht um, sich „auf jenes hin  zu öffnen, was nie europäisch gewesen ist und was nie europäisch sein  wird“ (KD, S. 56).13 Von daher entwickelte er den Gedanken einer Gast‐ lichkeit Europas, das „versprechen“ sollte, gerade das, was niemals in  einer europäischen Identität aufgehen kann, in sich aufzunehmen und  ihm gerecht zu werden. Und dazu zählte er nicht zuletzt die Inspiration  durch  eine  geradezu  maßlose,  in  keiner  politischen  Lebensform  oder  Ordnung  aufzuhebende  Gerechtigkeit  und  Verantwortung  für  den  Anderen, womit er einen jüdischen Horizont aufspannte, ohne im Ge‐ ringsten  suggerieren  zu  wollen,  sich  einfach  auf  ein  vor‐europäisches  „Erbe“ zu berufen.14 Auf diese Weise hätte Derrida auch eigentümlich  konterkariert,  was  er  über  die  Prozessualität  einer  nachträglichen  Ge‐ schichtlichkeit gelehrt hatte, die uns auf Vergangenes zurückzuwenden  zwingt,  das  sich  dem  Gegenwartsbezug,  in  dem  es  erinnert  wird,  im‐ mer  dann  widersetzt,  wenn  es  auf  die  Spur  einer  außer‐ordentlichen  Herausforderung  führt.  Genau  das  ist  der  Fall,  wenn  ein  singulärer  Gerechtigkeitsanspruch  im  Spiel  ist,  dem  wir  uns  immer  zu  spät  stel‐ len. Er ergeht an uns und lässt uns nur die Wahl, so oder so (in Freiheit)  zu antworten. Selbst eine Antwort, die den Anspruch zurückweist oder  ihn  zu  liquidieren  versucht,  kann  aber  nicht  umhin,  immer  schon  im  Modus einer Rückbindung (religio) in Beziehung zu ihm zu stehen.15                                  13   Man  fragt  sich  allerdings,  was  damit  gemeint  ist.  Bestätigt  der  Befund,  dass  sich  Europa im Zweiten Weltkrieg selbst zu ruinieren drohte,  nicht gerade, dass es  hier  in besonderer Art und Weise, nämlich selbstzerstörerisch mit sich selbst konfrontiert  war?  Ist  es  insofern  sich  selbst  fremd  geworden  oder  gerade  in  dieser  Erfahrung  (d.h. in der von Deutschland seinerzeit ausgehenden Aggression) sich selbst begeg‐ net? Oder führte diese Erfahrung auf die Spur einer in den radikalsten  Verbrechen  geleugneten  Verantwortung  für  den  Anderen,  die  nicht  genuin  europäischen  Ur‐ sprungs  ist?  Bleibt  diese  Verantwortung  als  außer‐ordentliche  Herausforderung  nicht nur Europa, sondern jeder denkbaren Kultur fremd? Usw.  14   Das konnte um so weniger in Betracht kommen, als jene außer‐ordentliche Gerech‐ tigkeit,  an  die  Derrida  in  einem  „jüdischen  Horizont“  erinnerte,  gerade  erst  durch  die Verbrechen  der Nazis radikal in Frage gestellt worden war; und zwar so  nach‐ haltig, dass anstelle einer  weit zurückreichenden Zusammengehörigkeit eines euro‐ päischen und jüdischen „Erbes“ ein unüberwindliches Schisma zu treten drohte.  15   Bei  näherem  Hinsehen  zeigt  sich,  dass  sich  Derrida  keineswegs  einfach  auf  die  lateinische Etymologie beruft (siehe die folg. Anm.), da es ihm darum zu tun ist, ein‐ gedenk  jener  „Ereignisse,  von  denen  man  weiß,  dass  man  immer  noch  nicht  weiß,  wie man sie denken soll, und von denen sich keine Religion […] ausnehmen kann“,  dasjenige  Phänomen  zu  bedenken,  „das  man  zu  Unrecht  ‚Rückkehr  der  Religion’  nennt“  (J.  Derrida,  „Glaube  und  Wissen.  Die  beiden  Quellen  der  ‚Religion’  an  den  Grenzen der bloßen Vernunft“, in: ders., G. Vattimo, Die Religion, Frankfurt/M. 1994,  S. 9–106, hier: S. 67). Zwar wendet sich Derrida dagegen, eine fragwürdige christli‐

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Mit diesem Terminus benannte Derrida die Struktur eines unvermeid‐ lich nachträglichen Antwortens auf außerordentliche Ansprüche, nicht  das,  was  man  konventionell  unter  „Religion“  versteht.  Dezidiert  ist  sogar  von  einer  religio  ohne  Religion  (und  Konfession)  die  Rede.16  Al‐ lerdings  wissen  wir  von  der  Spur  eines  außerordentlichen  (gerechten)  Anspruchs  streng  genommen  nichts.17  Wir  verstricken  uns  hier  in  die  Logik  einer  Bezeugung18,  die  sofort  das  Problem  aufwirft,  ob  sie  nicht  Gefahr  läuft,  in  Zeugnissen  angeeignet  zu  werden,  die  man  für  be‐ stimmte religiöse Traditionen und Konfessionen exklusiv in Anspruch  nimmt. Tatsächlich besteht diese Gefahr überall dort, wo man die Über‐ lieferung,  auf  die  man  sich  stützt,  in  einer  Metaphorik  des  Erbes  be‐ schreibt,  das  Erben  wie  rechtmäßige  Besitzer  für  sich  in  Anspruch  nehmen  können,  um  in  ihrer  politischen  Gegenwart  symbolisches  Ka‐ pital  daraus  zu  schlagen.  Genau  das  geschieht  vielfach,  wo  man  die  Gegenwart Europas auf gewisse geschichtliche Ursprünge zurückführt,                                 che „Mundialatinisierung“ in eine universale Bestimmung von Religion umzumün‐ zen (ebd., S. 51), doch übernimmt er affirmativ ein Verständnis jener religio, ohne die  es „kein ‚gesellschaftliches Band’, keine Anrede, die sich an den anderen richtet, kei‐ ne  Performativität  im  allgemeinen“  gäbe  (ebd.,  S.  72  f.).  Die  Rede  ist  hier  von  dem  „verlangten“, „treuen“ Glauben an das, „was vom ganz anderen, vom anderen ganz  anderen, von jedem anderen als einem ganz anderen herrührt“. Dieser Glaube fun‐ diere  das  soziale  Mitsein,  insofern  er  darauf  baut,  vom  Anderen  her  werde  uns  Wahrheit  zugemutet  und  eben  das  manifestiere  bzw.  bezeuge  sich  darin,  dass  und  wie er uns anspricht und in Anspruch nimmt. Alles Wissen beruht für Derrida auf  einem derart prekären Glauben, der seinerseits auf eine Bezeugung angewiesen ist,  die niemals beweiskräftig ausfallen kann. So nimmt das Wissen den Glauben in An‐ spruch, der die Frage aufwirft, wie wir von ihm wissen können.   16   Ich sehe hier davon ab, den u.a. auf Cicero, Augustinus und Thomas v. Aquin einer‐ seits,  auf  Laktanz  und  Tertullian  andererseits  verweisenden  semantischen  Spuren  nachzugehen,  die  zu  dieser  Idee  geführt  haben  (relegere  =  wieder  durchgehen;  religare = verbinden; [r]eligere = [wieder] auswählen, etc.); vgl. H. de Vries, Philosophy  and the Turn to Religion, Baltimore, London 1999, S. 3 f.; W. Schüssler, „Einleitung“,  in: ders. (Hg.), Religionsphilosophie, Freiburg i. Br., München 2000, S. 9–24, hier: S. 12  f.; M. Lutz‐Bachmann, „Religion nach der Religionskritik“, in: Theologie und Philoso‐ phie  77  (2002),  S.  374–388;  J.  Figl,  „Religionsbegriff  –  zum  Gegenstandsbereich  der  Religionswissenschaft“, in: ders. (Hg.), Handbuch der Religionswissenschaft, Innsbruck  2003,  S.  62–80,  hier:  S.  63  f.;  J.‐L.  Nancy,  Die  herausgeforderte  Gemeinschaft,  Zürich,  Berlin 2007, S. 39; M. Bergunder, „Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überle‐ gungen  zum  Gegenstand  der  Religionswissenschaft“,  in:  Zeitschrift  für  Religion  19,  Nr. 1, 2 (2011), S. 3–55, hier: S. 21 ff. mit Bezug auf E. Feil.  17   Was keineswegs, wie sich gleich zeigen wird, bedeutet, wir hätten es hier mit einer  „Religiosität  des  Nichts“  zu  tun,  die  U.  Eco  „in  den  neuen  Anti‐Metaphysiken  der  Abwesenheit  und  der  Differenz“  witterte;  U.  Eco,  „Das  Heilige  ist  keine  Mode“  [1979], in: ders., Über Gott und die Welt, München, Wien 1985, S. 102–108, hier: S. 107.  18   Derrida, „Glaube und Wissen“, S. 101. 

 

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in  deren  Traditionen  man  sich,  gleichsam  als  legitimer  Erbe,  selbst  stellt.   Demgegenüber  betont  Jürgen  Habermas,  das  jüdische  Gerechtig‐ keitsdenken  zähle  wie  auch  das  christliche  Liebesgebot  zwar  unbe‐ streitbar  zu  den  traditionalen  Grundlagen  Europas  und  in  gewisser  Weise markierten die Begriffe Liebe und Gerechtigkeit den nicht mehr  überschreitbaren  Horizont  des  (europäischen)  politischen  Denkens.  Aber so wenig wie das Christentum oder der Kapitalismus, die Natur‐ wissenschaft und  die  Technik, das  (römische) Recht oder  die „bürger‐ lich‐urbane Lebensform“, die Demokratie oder die Menschenrechte sei‐ en diese Begriffe noch als europäisches „Proprium“ zu betrachten.19 Da‐ mit  wird  auch  hier  ausdrücklich  verneint,  der  bis  in  die  aktuelle  Ge‐ genwart hinein nach wie vor strittige Rekurs auf Ursprünge, Anfänge,  Quellen  oder  Grundlagen  Europas  lasse  sich  noch  sinnvoll  in  einer  Begrifflichkeit  der  historischen  Verwurzelung  oder  der  Erbschaft  den‐ ken, die man wie ein legitimer Besitzer einer testamentarischen Hinter‐ lassenschaft für sich in Anspruch nehmen könnte.20                                 19   J.  Habermas,  Zeit  der  Übergänge.  Kleine  Politische  Schriften  IX,  Frankfurt/M.  2001,  S.  175; ders., Der gespaltene Westen, Frankfurt/M. 2004, S. 47.  20   Der Streit, der um die Äußerung des ehemaligen Bundespräsidenten Wulff über die  Zugehörigkeit  „des“  Islams  zu  Deutschland  entbrannte,  zeigt  im  Übrigen  deutlich  genug,  dass  man  sich  selbst  auf  einer  derartigen  Allgemeinheitsstufe  noch  immer  nicht wirklich einig ist − angefangen bei der Frage, was die reklamierte Zugehörig‐ keit eigentlich besagen soll. Im einfachsten Fall kann sie rein deskriptiv verstanden  werden. Sie besagt dann, dass in Deutschland annähernd 3,3 bis 4,3 Millionen Mus‐ lime  weit  überwiegend  nicht  nur  mit  langfristiger  Aufenthaltsgenehmigung,  son‐ dern dauerhaft als Staatsangehörige leben, die das kulturelle Leben in diesem Land  mehr  oder  weniger  prägen.  Eine  stärkere  Bedeutung  liegt  darin,  dass  suggeriert  wird,  dass  eben  diese  Tatsache  als  solche  gewürdigt  werden  sollte;  und  zwar  so,  dass die Muslime sich als akzeptiert, als womöglich willkommen oder als normaler,  hinsichtlich  seines  Daseins  und  der  mit  ihm  verbundenen  religiösen,  ethnischen  oder kulturellen Differenzen nicht in Frage gestellter Teil der Bevölkerung begreifen  können.  Jedoch  wurde  die  Attribution  der  Zugehörigkeit  des  Islam  auch  ganz  an‐ ders  verstanden,  nämlich  als  Infragestellung  der  historisch‐religiösen,  angeblich  eindeutig christlich‐jüdischen Identität des eigenen Landes. Auf diese Weise wurde  scheinbar  ein  exklusiver  Besitzanspruch  auf  eine  nationale  Geschichte  hinsichtlich  ihrer  die  gegenwärtige  Gesellschaft  und  den  Staat  prägenden  Kraft  erhoben;  und  zwar  ohne  Rücksicht  auf  die  historische  Befundlage.  In  der  Behauptung  einer  „jü‐ disch‐christlichen“  religiösen  Identität  Deutschlands  wird  nicht  nur  in  überaus  un‐ sensibler  Art  und  Weise  das  Judentum  nach  seiner  nahezu  vollständigen  Vernich‐ tung  auf  deutschem  Boden  in  Beschlag  genommen;  auch  das  antike  griechische  Denken  fällt  in  einer  Verkürzung  der  angeeigneten  Überlieferung  auf  „religiöse  Wurzeln“  einfach  weg  −  und  damit  natürlich  auch  die  auf  die  iberisch‐islamische  Vermittlung Ibn Rushds (Averroes), Al‐Kindis und Al‐Farabis zurückgehende Über‐ lieferung  insbesondere  des  aristotelischen  Denkens,  deren  Kontinuität  im  europäi‐

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Die fragwürdige Metaphorik der Verwurzelung und der Erbschaft un‐ terstellt  eine  gleichsam  naturalisierte  Vorstellung  europäischer  Ge‐ schichtlichkeit,  die  verkennen  lässt,  dass  sie  nicht  nur  vorgegebene  Möglichkeiten hervorgebracht, sondern Unvorhergesehenes als radikal  Neues  gezeitigt  hat,  das  nur  nachträglich  als  „möglich“  zu  beurteilen  war.  Das  macht  historische  Ursachenforschung  nicht  gänzlich  obsolet,  schränkt deren Geltungsanspruch aber grundsätzlich ein. Geschichte ist  weder  ein  kausal  oder  final  determinierter  und  insofern  erschöpfend  erklärbarer Prozess noch auch ein ganz irrationales Geschehen absolut  überraschender  Ereignisse,  die  wie  in  einer  Brownschen  Molekularbe‐ wegung kontingente Interaktionen nach sich ziehen. Geschichte ermög‐ licht originär, was nicht vorher schon möglich war, aber nachträglich in  gewisser Weise verständlich werden kann.   In  Versuche nachträglichen  Verstehens  gehen  Interpretamente  ein,  die wie die Liebe oder gewisse Konzeptionen von Gerechtigkeit zwei‐ fellos Spuren in alten und ältesten Quellen hinterlassen haben, die aber  ihrerseits  vielfachen  retrograden  Neu‐Interpretationen  unterzogen  worden  sind,  um  auf  diese  Weise  eine  ständige  Verwandlung  ihres  Sinns zu erfahren. So verwirbeln sich gewissermaßen Rückgriffe späte‐ rer  Zeiten  mit  jenen  Interpretamenten,  auf  die  man  später  zurückge‐ kommen  ist,  sei  es,  um  ihnen  auf  die  treueste  (oder  sklavischste)  Art  und Weise den Fortbestand zu sichern, sei es, um sie Anderen provoka‐ tiv neu zu denken zu geben. Das bedeutet einerseits, dass das Frühere  niemals  vollkommen  „rein“,  ungetrübt  von  jeglichen  nachträglichen  Zugriffen  und  Deutungen  erhalten  geblieben  sein  (und  bleiben)  kann.  Andererseits  bedeutet  es  nicht,  dass  spätere  Rückgriffe  auf  frühere  bzw. ältere Interpretamente in jedem Falle eine souveräne Macht über  diese  ausüben  können,  der  das  Überlieferte  wehrlos  gleichsam  zum  Opfer fallen müsste. Im Gegenteil spricht viel dafür, dass das Überlie‐ ferte nicht aufhört, in unaufhebbarer Art und Weise diejenigen zu irri‐ tieren,  die  sich  seiner  bemächtigen  wollen.  Obgleich  alles  Überlieferte  unumgänglich in einem gewissen Gegenwartsbezug stehen muss, wenn  es überhaupt noch Zukunft haben soll, ist nicht ausgeschlossen, dass es  sich  eine  ihm  eigene  Fremdheit  oder  Alterität  in  der  Weise  eines  Ent‐ zugs im Rückbezug auf es bewahrt. Gerade für die inspirierendsten Texte  −  auf die aufgrund  eben dieser  Fremdheit  im  Grunde  keine  ganz  nor‐ male  Ordnung  zu  bauen  ist  −  gilt  das  in  besonderem  Maße.  Deshalb  ziehen  sie  lange  und  auf  absehbare  Zeit  nicht  endende  Geschichten  ständiger Neu‐Interpretationen nach sich. Und es spricht wenig dafür,                                 schen Mittelalter unterbrochen war. Vgl. K. Flasch, Das philosophische Denken im Mit‐ telalter von Augustin bis Machiavelli, Stuttgart 1986. 

 

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dass  sich  diese  Geschichten  bald  erschöpft  haben  werden.  Das  zeigt  nicht  zuletzt  die  Geschichte  vielfältiger  Versuche,  eine  außer‐ordent‐ liche  Verantwortung,  Gerechtigkeit  oder  Liebe,  die  scheinbar  dem  x‐ beliebigen Nächsten und selbst dem Feind gelten soll, dem Politischen  einzuschreiben; auch auf die Gefahr hin, es auf diese Weise dramatisch  zu überfordern, ja sogar zu ruinieren.      

2. Unruhe im Politischen    Derartige Versuche behaupten sich hartnäckig gegen einen politischen  Diskurs, von dem immer wieder gesagt wurde, spätestens seit Machia‐ velli sei er zu sich selbst gekommen und er habe sich im Zuge der sog.  Säkularisierung und des neuzeitlichen, macht‐staatlichen Denkens voll‐ kommen  autonom  etabliert.  In  der  Gegenwart  dieses  Diskurses  ist  zu  beobachten, wie die Vorgeschichte dieser Autonomisierung das Politi‐ sche gewissermaßen wieder einzuholen beginnt und es in Unruhe ver‐ setzt, an der Erinnerungen an eine Hyperbolik der Verantwortung, der  Gerechtigkeit  und  der  Liebe,  die  das  Politische  zugleich  heraus‐  und  überfordern, erheblichen Anteil haben.21 Seit etwa drei Jahrzehnten an‐ haltende  Arbeiten  an  grundlegenden  Revisionen  des  Politischen  rech‐ nen  dieser  Geschichte  nicht  nur  Verluste  vor,  die  sozusagen  auf  der  Strecke geblieben sind; sie stellen auch in Frage, ob sich ein (ggf. global  erweitertes) macht‐staatliches Denken überhaupt selbst genügen kann.  Dabei  haben  Debatten,  die  in  den  20er  Jahren  des  vergangenen  Jahr‐ hunderts und in der Zeit der sog. 68’er Generation um den Begriff der  Politischen Theologie geführt worden sind, eine eigentümliche Renais‐ sance erfahren.22 Darüber hinaus wurde die von Carl Schmitt über Karl                                 21   Das gilt besonders für Philosophen wie Levinas, Derrida, Ricœur und Abensour. Im  Hinblick auf die fragliche Hyperbolik sei nur auf das Spätwerk Ricœurs, Gedächtnis,  Geschichte, Vergessen, München 2004, verwiesen, wo die Frage aufgeworfen wird, ob  nicht eine Spur des Liebesgebots in der weltbürgerlichen Hospitalität bei Kant wie‐ derzufinden sei, die vorschreibt, Andere (bei ihrer Ankunft auf dem Boden Fremder)  „nicht feindselig“ zu behandeln (S. 738 f.). Diese Frage scheint weit hergeholt, ging  es Kant doch auch im säkularen Weltbürgerrecht nur um eine Rücksicht auf Andere,  zu der sich selbst ein Volk (oder eine weltweite Gemeinschaft) von „Teufeln“ durch‐ ringen müsste, sofern sie nur bei Verstand sind. Gleichwohl insistiert Ricœur auf der  Frage, ob etwa einer überschwänglichen „agapistischen“ Liebe doch wenigstens in‐ direkt eine politische Bedeutung zuzusprechen ist; vgl. P. Ricœur, Wege der Anerken‐ nung, Frankfurt/M. 2006, S. 277; ders., Liebe und Gerechtigkeit. Amour et justice, Tübin‐ gen 1990.  22    Vgl.  C.  Schmitt,  Politische  Theologie,  Berlin  51990;  ders.,  Politische  Theologie  II,  Berlin  31990; R. Faber,  „Von der ‚Erledigung jeder  Politischen Theologie’ zur Konstitution 

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Löwith und Hans Blumenberg bis hin zu Giorgio Agamben verhandel‐ te  Säkularisierungsthese  eingehender  Revision  unterzogen.23  Speziell  Habermas,  der  solchen  Revisionen  grundsätzlich  aufgeschlossen  ge‐ genübersteht, weigert sich aber zuzugestehen, das Politische bzw. eine  säkularisierte, d. h. in keiner Weise mehr auf sog. „Offenbarungswahr‐ heiten“ sich stützende Vernunft24 sei wieder einer Suprematie des The‐ ologischen  (gleich  welcher  Couleur)  zu  unterwerfen.  An  dieser  Stelle  sieht  er  die  der  Moderne  zu  verdankende  Liberalität  des  säkularen  Staates  in  Frage  gestellt.  Das  hindert  aber  nicht  daran,  zu  fragen,  ob  sich  die  Liberalität  der  angeblich  „restlos“  verrechtlichten  politischen  Gewalt  des  modernen  Staates  überhaupt  selbst  genügen  kann  und  ob  sie  nicht  zu  verrechtlichende  Momente  in  sich  aufnimmt  (oder  sogar  aufnehmen muss).  Aktuelle  Debatten  um  diese  Fragen  drehen  sich,  soweit  ich  sehe,  weniger  um eine  Unter‐  oder  Überordnung  des  Politischen  respektive  des Theologischen als vermeintlich säuberlich zu trennender, aber um  Autonomie  vs.  Heteronomie  kämpfender  Sphären,  kultureller  Mächte  oder Codierungen heutiger Gesellschaften.25 Fern derart grobschlächti‐ ger Zuordnungen entzündet sich ihr besonderes Interesse vielmehr an  der  Analyse  spezieller  Phänomene,  deren  Deutung  erhebliche  Zweifel  daran  weckt,  ob  das  Politische  je  den  Grad  reiner  Autonomie  erreicht  hat,  wie  ihn  manche  von  ihm  erwarten.  Es  könnte  sich  herausstellen,  dass  die  Erzählung  von  der  Autonomisierung  und  von  der  restlosen                                 Politischer Polytheologie“, in: J. Taubes (Hg.), Religionstheorie und Politische Theologie,  Bd. 1,  Der Fürst  dieser Welt. Carl  Schmitt und die Folgen, München  21983, S. 85–99; B.  Wacker,  „Politische  Theologie“,  in:  P.  Eicher  (Hg.),  Neues  Handbuch  theologischer  Grundbegriffe,  Bd.  4,  München  1991,  S.  235–247;  Jahrbuch  Politische  Theologie,  Bd.  1  (1996); J. Manemann, Carl Schmitt und die Politische Theologie. Politischer Anti‐Monothe‐ ismus, Münster 2002.  23   Vgl. K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Berlin, Köln, Mainz  71979; H. Blu‐ menberg,  Säkularisierung  und  Selbstbehauptung,  Frankfurt/M.  21983;  G.  Agamben,  Herrschaft  und  Herrlichkeit.  Zur  theologischen  Genealogie  von  Ökonomie  und  Regierung  (Homo sacer II.2), Berlin 2010.  24   Der  Rede  vom  „Politischen“  begegnet  Habermas  mit  Misstrauen,  insofern  sie  (auf  den Spuren Carl Schmitts) suggeriert, es könne noch eine „rechtsfreie“ Substanz des  Staates angenommen werden. Dem stellt er die These entgegen, dass „das Recht die  politische  Gewalt  ohne  Rest  durchdringt“.  J.  Habermas,  Zwischen  Naturalismus  und  Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 2009, S. 108.  25   Allerdings  erweckt  Jan  Assmann  genau  diesen  Eindruck  doch,  insofern  er  die  Schmittsche Behauptung, alle politischen Begriffe speziell moderner Staatslehre sei‐ nen im Grunde säkularisierte theologische Konzepte, ausdrücklich umkehren möchte;  vgl. J. Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Euro‐ pa, München, Wien 2000, S. 29. 

 

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Säkularisierung  des  Politischen  nur  eine  Art  Märchen  ist.  Aus  mehre‐ ren Gründen:   −  weil  die  Geschichte  des  Politischen  nach  wie  vor  unterwandert  wird von einer Vorgeschichte, die sie nie ganz hinter sich lassen konnte, wie  aus  verschiedenen  Versuchen  hervorgeht,  das  Gebot  der  Nächsten‐  oder Feindesliebe politisch zu reinterpretieren26;  −  weil  dem  Politischen  nach  wie  vor  Heraus‐  und  Überforderungen  innewohnen, die man nicht als spezifisch politische einstufen kann − ohne  dass es sich aber darum gleichgültig zu ihnen verhalten könnte27;   − und schließlich weil das Politische ungeachtet einer relativen Au‐ tonomie  und  Unabhängigkeit  von  religiösen  Zumutungen  nicht  sich  selbst genügen kann, insofern es zu einem Leben in und mit unaufhebba‐ rem  Widerstreit  von  praktischen  Gegensätzen  verurteilt,  die  rein poli‐ tisch allenfalls auszuhalten, aber nicht zu überwinden sind. Möglicher‐ weise  bedarf  ein  derart  unaufhebbar  konflikthaftes  politisches  Leben  sowohl  gewisser  ihm  voraus  liegender  als  auch  über  das  Politische  hinausweisender  Ressourcen,  ohne  die  es  auf  Dauer  verkümmern  müsste, gerade weil man es als vollkommen säkulares und autonomes  nur  noch auf  sich  selbst zentrieren  wollte,  ohne  sich  zu fragen,  ob  ein  rückhaltlos  bzw.  rücksichtslos  politisiertes  Leben  überhaupt  noch  lebbar ist.28   Tatsächlich erweckten schon Platon und Aristoteles (die sowohl ein  privates als auch ein theoretisches Leben diesseits und jenseits vulgärer  Politik  kannten)  den  Eindruck,  nur  ein  politisches Leben  könne wahr‐ haft auch als ein menschliches Leben gelebt bzw. geführt werden. Nach  der  mit  der  frühen  Neuzeit  anhebenden  historischen  Karriere  der  Staatsraison  und  der  Apotheose  des  Machtstaates  im  19.  Jahrhundert,  der das Gute und das Gerechte schließlich ganz aus dem Blick geraten  ließ,  schien  sich  nach  zweieinhalb  Jahrtausenden  erst  recht  −  aber  aus  ganz  anderen  Gründen  −  zu  bestätigen,  das  Politische  sei  „unser  Schicksal“;  es  erfasse  uns  ganz  und  gar.  Sich  dem  politischen  Leben  entziehen zu wollen, würde (falls das überhaupt möglich ist) demnach  bedeuten, für Andere nicht mehr sichtbar zu sein, keine Rolle mehr zu  spielen,  nicht  mehr  zu  „zählen“  und  am  Rande  der  Geschichte  liegen  zu bleiben… Inzwischen hat besonders der auf der Menschheit lasten‐ de demografische Druck derart zugenommen und er beginnt sich glo‐                                26   Vgl. nur beispielhaft C. Türcke, Kassensturz. Zur Lage der Theologie, Lüneburg 1997, S.  133 f.  27   Vgl. in diesem Sinne M. Abensour, Demokratie gegen den Staat, Berlin 2012.  28   Diese Frage wirft in  den letzten Jahren v. a.  J.  Butler verstärkt auf, ohne  sich  dabei  aber  polemisch  gegen  den  Begriff  des  Politischen  selbst  zu  wenden.  Siehe  unten,  Anm. 46. 

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bal in einer Weise bemerkbar zu machen, dass kaum mehr vorstellbar  ist, wie noch abseits der Geschichte ein depolitisiertes Leben zu führen  sein sollte, das sich getrennt vom politischen Leben der Anderen selbst  genügen könnte.   Doch  besteht  der  Verdacht,  ein  totalisiertes  Politisches  werde  menschlichem Leben überhaupt nicht gerecht, das nicht „immer schon“  politisiert  ist  −  wie  Aristoteles  glauben  machte,  als  er  vom  Menschen  (bzw. mit Blick auf den „Vollbürger“ seiner Zeit) als einem zoon politi‐ kon sprach. Auch diejenigen, die meinen, ihre eigene politische Theorie  bis  heute  im  Grunde  nur  auf  eine  Paraphrase  dieses  Ansatzes  stützen  zu müssen29, verkennen, dass wir keineswegs als politische Wesen zur  Welt kommen. Wir werden zu solchen Wesen (oder Un‐Wesen) erst ge‐ macht im Zuge einer Politisierung,   −  die  (selektiv)  originär  politisiert,  was  nicht  immer  schon  politisch  ist  oder war;  −  die  nie  restlos  gelingt,  also  nicht  völlig  aufgehobene  Grenzen  zum  Vor‐Politischen, zum Un‐Politischen oder A‐Politischen und zum An‐ ti‐Politischen impliziert, so dass wir niemals mit Haut und Haaren im  Politischen aufgehen; und  −  die  an  ein  Jenseits  des  Politischen  denken  lässt.  Ob  dieses  als  Post‐ Demokratisches  oder  Post‐Politisches  richtig  benannt  ist,  bleibe  da‐ hingestellt.  In dreifacher Hinsicht kann demnach bestritten werden, dass das Poli‐ tische  unabänderlich  „unser  Schicksal“  sein  muss:  Niemand  ist  von  Anfang  an  politisch;  niemand  wird  je  restlos  politisch;  und  niemand  muss letztlich bzw. für immer im Bann des Politischen leben. Das gilt für  die Geschichte von Individuen, Gruppen, Nationen, Kulturen, interna‐ tionale  Machtgefüge  wie  für  die  Menschheit  insgesamt30  −  ungeachtet  der  unbestreitbaren  Verschärfung  „globaler“  Herausforderungen,  die  alle Menschen zu einer Art „Zwangssolidarität“ nötigen, wenn sie sich  schon  nicht  von  sich  aus  zur  Verantwortung  füreinander  durchringen  können.  Carl Schmitt, für den weder der Einzelne noch auch die Menschheit  politisch  von  Gewicht  war,  hätte  dem  energisch  widersprochen.  In  seiner  polemischen  Schrift  Der  Begriff  des  Politischen  (1927/1932/1963)                                 29   Vgl. O. Höffe (Hg.), Der Mensch − Ein politisches Tier?, Stuttgart 1992.  30   Demgegenüber  haben  Generationen  von  Lesern  bei  O.  Spengler  gelernt:  „Politik  im  höchsten  Sinne  ist  Leben,  und  Leben  ist  Politik“;  und  der  Krieg  sei  „die  Urpolitik  alles  Lebendigen“  (Der  Untergang  des  Abendlandes.  Umrisse  einer  Morphologie  der  Weltge‐ schichte,  München  172006,  S.  977,  1109).  In  dieser  ausdrücklich  zoologisierten  Ge‐ schichtsperspektive muss jeder Einzelne, der nicht in Politik aufgeht, als bloßer Rest  der Verachtung anheimfallen (vgl. ebd., S. 28, 614). 

 

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suggerierte er, alles komme darauf an, politisch zu existieren; und zwar  nach  Maßgabe  der  Unterscheidung  von  Freund  und  Feind.  Wer  diese  Unterscheidung nicht souverän treffen könne, begehe im Grunde poli‐ tischen  Selbstmord.  Schmitt  zog  zwar  in  Betracht,  dass  man  sich  für  diese  Unterscheidung  eines  Tages  nicht  mehr  interessieren  könnte.  Aber für diesen Fall zog er nur zwei Möglichkeiten in Betracht: so stelle  man sich entweder auf die Seite seiner Feinde oder aber, wenn auch sie  sich von der politisch unabdingbaren Feindschaft abwenden, ein post‐ politischer  Zustand  trete  ein,  in  dem  am  Ende  die  pure  Langeweile  eines vor tödlicher Gewalt sicheren Lebens herrschen müsste.   Mit Recht ist Schmitt entgegengehalten worden, was denn daran so  schrecklich  sein  soll,  nicht  länger  politisch  (wohlgemerkt:  politisch  im  Sinne einer zu potenziellen Feinden sich polemogen verhaltenden kol‐ lektiven Existenz) zu leben. Immerhin bliebe selbst innerhalb einer „die  ganze Menschheit umfassende[n], die Möglichkeit kriegerischer Ausei‐ nandersetzungen  ausschließende[n]  Einheit“  noch  „politikreine  Welt‐ anschauung, Kultur,  Zivilisation,  Wirtschaft, Moral, Recht,  Kunst,  Un‐ terhaltung  usw.“  übrig.31  Warum  sollte  ein  de‐politisiertes  Leben  ein  minderwertiges sein, wie es Schmitt zweifellos suggeriert? Nur weil es  sich „den Feind“ (bzw. die Feindschaft als entscheidende Herausforde‐ rung eines Lebens, das ernst zu nehmen ist) hat „ablisten“ lassen?  Ähnlich  könnte  man  gegen  ausdrücklich  an  Schmitt  anknüpfende  „radikal‐demokratische“  Positionen  (etwa  diejenige  Chantal  Mouffes)  einwenden, warum wir unbedingt daran interessiert sein sollten, nach  Maßgabe  antagonistischer  oder  agonaler  Konflikte  zu  leben  und  um  Hegemonie zu kämpfen. Weil nur sie das Politische zu vitalisieren ver‐ sprechen?32  Stellen  nicht  derartige  Konflikte,  in  denen  jeder  scheinbar  nur ein Interesse kennt: nämlich sich gegen Andere durchzusetzen, die  phantasieloseste,  schroffste,  nur  Sieg  oder  Niederlage  kennende  Form  der  Auseinandersetzung  dar?  Warum  sollte  man  daran  überaus  inte‐ ressiert sein, in einer solchen Form immerfort gegen Andere zu kämp‐ fen − selbst dann, wenn das gar nicht unvermeidlich sein sollte?   Das um diese Fragen kreisende radikal‐demokratische Denken ver‐ fährt  erklärtermaßen  (wie  das  Vorbild  Schmitt)  polemisch,  indem  es  weniger  vorliegende  Konflikte  beschreibt,  zu  denen  realer  Anlass  be‐ steht, sondern vielmehr vor einem Verschwinden des Politischen selbst                                 31   H.  Hoffmann,  „‚Die  Welt  ist  keine  politische  Einheit  sondern  ein  politisches  Pluriversum‘“, in: R. Mehring (Hg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein koope‐ rativer Kommentar, Berlin 2003, S. 111–122, hier: S. 112.  32   Vgl.  C.  Mouffe,  „Radical  Democracy:  Modern  or  Postmodern?”,  in:  Social  Text  21  (1989),  S.  31–45;  dies.,  Über  das  Politische.  Wider  die  kosmopolitische  Illusion,  Frank‐ furt/M. 2007. 

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warnt. Als „Feinde“ oder Gegner dieses Denkens werden deshalb auch  nicht etwa Mächte der Unterdrückung oder Quellen politischer Gewalt  und  Verfeindung  namhaft  gemacht,  sondern  Apologeten  des  Konsen‐ ses, der herrschaftsfreien Kommunikation und der Reduktion des Poli‐ tischen auf „Friedenspolitik“. Ihnen vor allem sei es zu verdanken, dass  man  die  Wirklichkeit  polemogener  Konflikte  aus  dem  Auge  verliere  und dass auch die Quellen solcher, die Vitalität des Politischen ausma‐ chender Konflikte zu versiegen drohten.   Von Schmitt bis Mouffe zeigt man sich unbedingt an einem politi‐ schen  Leben  interessiert,  dessen  Vitalität,  so  scheint  es,  ganz  und  gar  verkümmern müsste, wenn es nicht mehr im Kampf mit Feinden oder  mit Gegnern (gemäß Mouffes moderaterer Position) geführt würde. Bei  näherem  Hinsehen  zeigt  sich  freilich,  dass  auch  diese  Positionen  vor‐ aussetzen,  menschliches  Leben  sei  nicht  von  Anfang  an  als  derart  po‐ litisiertes verfasst, es müsse vielmehr bei Bedarf re‐politisiert und dabei  daran  erinnert  werden,  worum  es  ihm  in  Wahrheit  gehen  müsse:  um  (politische)  Intensität  oder  Vitalität,  die  scheinbar  aus  nichts  anderem  zu beschaffen ist. Weder Schmitt noch Mouffe behaupten dabei zu wis‐ sen,  dass  es  sich  so  verhalten  muss.  Dezidiert  verfechten  sie  vielmehr  einen  polemischen  Begriff  des  Politischen,  der  sich  keinesfalls  theore‐ tisch‐neutral zu gewöhnlicher Politik verhalten soll, sondern direkt zur  Intervention im politischen Streit verwandt wird. In diesem Sinne, be‐ haupten beide Theoretiker, ist jeder Begriff des Politischen unvermeid‐ lich  selbst  politisch  und  daher  rückhaltlos  der  Anfechtbarkeit  ausge‐ setzt. So gesehen ist es kein Wunder, dass sowohl der auf unumgäng‐ liche  Feindschaft  als  auch  der  auf  unabdingbare  Gegnerschaft  abstell‐ ende Begriff des Politischen ebenfalls zurückgewiesen wird.   Während Schmitt methodisch scheinbar ganz unbefangen souverän  glaubt definieren zu können, worin der Sinn des Politischen liegt − und  dabei Nietzsches Hinweis vergisst, man könne nur das definieren, was  keine Geschichte hat33 −, weisen andere auf eine Historizität des Politi‐ schen  hin,  die  längst  den  Horizont  des  alten  Jus  Publicum  Europaeum,  der Nationalstaatlichkeit und selbst jener post‐nationalen Feindschaften  hinter  sich  gelassen  hat,  die  Schmitt  in  seiner  Theorie  des  Partisanen  (1963) beschrieben hatte. Nicht erst diese Schrift zeigt, dass sich Schmitt  längst darüber im Klaren war, dass die Begriffe des Politischen und des  Staatlichen  auseinandertreten  würden.  Aber  er  hat  sich  standhaft  ge‐ weigert, den Begriff des Politischen mit einer transnationalen Verrecht‐ lichung zusammen zu denken, wie es uns heute, unter dem Druck der                                 33   F. Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral“, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 5 (Hg. G.  Colli, M. Montinari), München 1980, S. 245–412, hier: S. 317. 

 

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Globalisierung und im Zeichen weltweiter Geltung der Menschenrech‐ te, als unverzichtbar erscheint.   Was  die  Frage  angeht,  inwieweit  uns  das  im  globalen  Horizont  vielfach transformierte Politische eigentlich erfasst, gehen die Meinun‐ gen  wiederum  auseinander.  Oft  wird  behauptet,  wir  alle  seien,  nolens  volens,  Teil  einer  seit  langem  sich  abzeichnenden  Welt‐Ökonomie,  Cy‐ ber‐Society  oder  Welt‐Bürger‐Gesellschaft,  sei  es  in  einem  „globalen  Dorf“  (McLuhan),  sei  es  in  einem  kommenden  Welt‐Staat,  der  den  Weltmarkt  domestizieren  müsse.  So  gesehen  habe  uns  die  Welt  des  Politischen längst „total zu umfassen“ begonnen. Alle Nischen würden  verschwinden,  und  niemand  könne  sich  mehr  „herausnehmen“.  „Bis  hinunter zum ‚letzten Menschen‘“ werde uns das (sei es ökonomistisch  verkürzte,  sei  es  völkerrechtlich,  weltbürgerlich  oder  welt‐staatlich  formierte) Politische beherrschen.34   Skeptischere,  mit  Kant  für  eine  kosmopolitische  Verrechtlichung  plädierende  Stimmen  besagen,  im  globalen  Maßstab  gehe  es  keines‐ wegs  um  eine  „restlose“  Politisierung  der  alle  Menschen  als  Fremde  einschließenden  Verhältnisse  einer  Welt‐Bürger‐Gesellschaft,  sondern  vorrangig lediglich darum, deren Gewaltpotenziale in den Griff zu be‐ kommen, die im Rahmen des sog. Westfälischen Systems intern durch  das staatliche Gewaltmonopol und international durch Verträge mit be‐ grenzter  Reichweite  nicht  ausreichend  pazifiziert  werden  konnten.  Auch für einen Begriff des Politischen, der auf die pazifizierende Ver‐ rechtlichung der transnationalen Strukturen einer im Entstehen begrif‐ fenen  Welt‐Gesellschaft  zugeschnitten  ist,  gilt:  wir  sind  ihm  nicht  im‐ mer  schon  unterworfen,  er  erfasst  uns  nicht  rückhaltlos  und  er  weist  über sich hinaus, z. B. wo er auf die Spur tragischer Konflikte hinweist,  mit  denen  wir  „trostlos“  leben  müssen,  wie  man  uns  von  Hegel  bis  Habermas einschärft.35   

 

3. Religion als Ressource des Politischen? 

  Nach der alten, in transnational‐globaler Perspektive lediglich komple‐ xer auszubuchstabierenden Devise „Frieden durch Recht“ könnten wir  bestenfalls eine relative Befriedung im Reich der sog. äußeren Freiheit                                 34   W.‐D.  Narr,  A.  Schubert,  Weltökonomie.  Die  Misere  der  Politik,  Frankfurt/M.  1994,  S.  14, 22 f.  35   Hegel,  Vorlesungen  über  die  Philosophie  der  Weltgeschichte,  S.  78;  Vorlesungen  über  die  Philosophie der Religion II, Werke 17 (Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel), Frankfurt/M.  1986,  S.  111.  Vgl.  die  Auseinandersetzung  von  Habermas  mit  Max  Horkheimer  in:  Texte und Kontexte, Frankfurt/M. 21992, S. 125. 

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erreichen.  Aber  davon  bleiben  Konflikte  diesseits  und  jenseits  des  Rechts  unberührt.  Deswegen  soll  hier  „die  Religion“  einspringen,  die  so in den Sog einer Funktionalisierung als Ressource gerät.36 Und zwar  gleich in mehrfacher Hinsicht. Sie wird als Quelle vorpolitischer „nor‐ mativer  Grundlagen“  und  „ethischer  Prägungen“  des  säkularisierten  (inzwischen  aber  auch  schon  wieder  als  „postsäkular“  eingestuften)  Staates  in  Anspruch  genommen,  die  dieser  gemäß  dem  oft  strapazier‐ ten „Böckenförde‐Theorem“ anscheinend nicht aus eigener Kraft garan‐ tieren  kann.  „Die  Religion“  soll  so  insbesondere  verantwortliche  und  solidarische Orientierungen bereitstellen, die sich in „belastbaren Über‐ zeugungen“  darüber  ausdrücken,  worauf  es  im  menschlichen  Zusam‐ menleben  auch  im  Hinblick  auf  Fremde  ankommt.  Der  säkulare  Staat  hätte demnach derartige Überzeugungen dankend zur Kenntnis und in  Dienst  zu  nehmen,  unter  der  Voraussetzung  freilich,  dass  sie  sich  der  Rechtfertigung vor der „Autorität der natürlichen Vernunft“ unterwer‐ fen und nicht gegen ein mühsam erkämpftes Toleranzgebot verstoßen,  das  allein  sicherstellen  kann,  dass  mit  diesen  (und  anderen)  Überzeu‐ gungen  verknüpfte  Wahrheitsansprüche  gewaltlos  nebeneinander  be‐ stehen bleiben können.37  Abgesehen  davon,  ob  sich  irgend  eine  Religion  (oder  Konfession)  überhaupt  darauf  reduzieren  lassen  kann,  als  bloße  Ressource  oder  Funktion einer säkularen Macht eingestuft und im Übrigen privatisiert  zu  werden,  bleibt  es  in  dieser  Perspektive  kompromisslos  dabei,  dass  eine  souveräne  säkulare  Vernunft  frei  darüber  zu  entscheiden  hat,  „was  sie  in  ihre  eigenen,  im  Prinzip  allgemein  zugänglichen  Diskurse  übersetzen kann“ und was unter dieser Voraussetzung „als vernünftig“  zu akzeptieren ist.38 Der „Rest“ bleibt Privatsache, die niemandem von  anderen  aufgenötigt  werden  sollte.  Dafür  trägt  der  säkulare  Staat  so  weit  wie  möglich  Sorge.  Er  stößt  aber  genauso  wie  die  ihn  tragende  politisch‐öffentliche  Vernunft  dort  an  seine  Grenze,  wo  tragisch‐exis‐ tenzielle  Konflikte  zu  bewältigen  sind  und  schließlich  der  Tod  sich                                 36   Unterschlagen  wird  auf  diese  Weise  nebenbei,  dass  wir  seit  Schleiermacher  eigent‐ lich  nur  noch  von  Religionen  und  somit  von  einer  pluralen  Religiosität  sprechen  können; vgl. F. Schleiermacher, Über die Religion, Stuttgart 1969.  37   Vgl.  M.  Reder,  J.  Schmidt  SJ,  „Habermas  und  die  Religion“,  in:  dies.  (Hg.),  Ein  Be‐ wußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt/M. 2008, S.  9–25, hier: S. 16, 20. Man fragt sich an dieser Stelle allerdings, was diese Unterwer‐ fung  bedeuten  würde  für  den  Anspruch  Anderer  an  uns.  Hat  die  Vernunft  über‐ haupt  „Zugriff“  auf  unsere  Affizierbarkeit  durch  außer‐ordentliche  Ansprüche,  die  von  der  Liebe  bis  hin  zur  Gastlichkeit  reichen  können,  ohne  bereits  als  Geltungs‐ ansprüche anfechtbar zu sein?  38   J.  Habermas,  „Ein  Bewusstsein  von  dem,  was  fehlt“,  ebd.,  S.  26–36,  hier:  S.  27  (im  Folg. zit. mit der Sigle B). 

 

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ankündigt.39  Weder  auf  die  Herausforderung  der  Kontingenz  des  Schmerzes,  der  verletzenden  Gewalt  oder  der  Krankheit  noch  auf  das  Sterben  oder  auf  darüber  hinausweisende  sog.  „Sinnfragen“  hat  diese  Vernunft  irgendeine  zureichende  Antwort.  Nachdem  sie  als  kritischer  Filter  fungiert  hat,  der  alle  nicht  verallgemeinerungsfähigen  Gehalte  vorpolitischer  Orientierungen  ins  Reich  des  Privaten  verweisen  muss,  versagt sie just da, wo es „Ernst wird“, wenn eine unaufhebbare Nega‐ tivität40  ins  Fleisch  der  Menschen  einschneidet.  Es  bleibt  dabei,  dass  damit schlicht „trostlos“ zu leben sei.  Viel  mehr  beschäftigt  Habermas,  ob  die  praktische  Vernunft  wo‐ möglich  „ihre  eigene  Bestimmung  [verfehlt],  wenn  sie  nicht  mehr  die  Kraft hat, in profanen Gemütern das Bewußtsein für die weltweit ver‐ letzte  Solidarität,  ein  Bewusstsein  von  dem,  was  fehlt,  von  dem,  was  zum  Himmel  schreit,  zu  wecken  und  wachzuhalten“  (B,  S.  30  f.).  Das  erinnert  stark  an  Kants  Feststellung  in  seinem  Entwurf  Zum  Ewigen  Frieden, nunmehr werde jede Rechtsverletzung weltweit gespürt.41 Da‐ mit  brachte  Kant  aber  eine  Sensibilität  angesichts  des  Schicksals  Frem‐ der  ins  Spiel,  die  in  der  Tat  aus  dem  Begriff  praktischer  Vernunft,  so  wie er ihn lehrte, in keiner Weise folgt und ihr auch nicht generell un‐ terstellt zu denken ist. Ist die praktische Vernunft, die sich vor allem im  Modus  der  Urteilskraft  behauptet,  nicht  darauf  angewiesen,  dass  wir  von  Erfahrungen  gewaltsamen  Verletztwerdens,  der  Ungerechtigkeit  und  des  Unrechts  (gerade  auch  dann,  wenn  es  Fremde  betrifft)  über‐ haupt  affiziert  werden?  Kann  sie  das  aus  eigener  Kraft  gewährleisten?  Erhebt sie ihre Stimme nicht immer erst dann, wenn schon ein Wider‐ fahrnis vorliegt, das nach einer kritischen Beurteilung (als Widerfahrnis  unannehmbarer  und  möglichst  abzustellender  Ungerechtigkeit  etwa)  verlangt?42                                  39   Von der dem Staat in überaus fragwürdiger Art und Weise oft attestierten „weltan‐ schaulichen“ Neutralität sehe ich hier ganz ab.  40   Ich  sehe  hier  davon  ab,  dass  dieser  gelegentlich  zum  bloßen  Schlagwort  verkom‐ mende  Begriff  einer  gründlichen  Revision  bedarf;  vgl.  dazu  E.  Angehrn,  „Leiden  und Erkenntnis“, in: M. Heinze (Hg.), Das Maß des Leidens, Würzburg 2003, S. 25–43;  Profile negativistischer Sozialphilosophie. Ein Kompendium. Sonderband Nr. 32 der Deut‐ schen Zeitschrift für Philosophie, Berlin 2011 (Hg. B. Liebsch, A. Hetzel, H. R. Sepp); v.  Verf., „Einsetzen und Aussetzen  der Arbeit des Negativen. Bestandsaufnahme und  Perspektiven  phänomenologischer  Revision  negativistischen  Denkens“;  in:  E.  Angehrn, J. Küchenhoff (Hg.), Die Arbeit des Negativen, Weilerswist (i. E.).  41   I. Kant, „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“, in: Werkausgabe Bd. XI  (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 191–251, hier: S. 216.  42   Vgl.  v.  Verf.,  Menschliche  Sensibilität,  Weilerswist  2008,  wo  auch  eine  gegenseitige  Befruchtung von Sensibilität und Rationalität in Betracht gezogen wird. 

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Hier  geht  es  nicht  darum,  dass  die  praktische  Vernunft  bspw.  für  Er‐ fahrungen existenzieller Tragik, der Trauer und gewaltsamen Todes für  unzuständig  erklärt  und  stattdessen  nach  „Religion“  gerufen  wird.  Vielmehr geht es angesichts von Verletzungen Fremder um ihr eigenes  Angewiesensein  auf  eine  Affizierbarkeit,  die  die  praktische  Vernunft  aus  eigener  Kraft  nicht  garantieren  kann.  Deshalb  droht  sie,  mit  Ha‐ bermas gesprochen, ihre „Bestimmung“ in dem Maße immer zu verfeh‐ len,  wie  sie  sich  auf  die  Ebene  anfechtbarer  und  begründbarer  Gel‐ tungsansprüche  zurückzieht,  damit  aber  die  Erfahrungsansprüche  aus  dem  Auge  verliert,  die  eine  Verletzung  überhaupt  erst  als  Verletzung  wahrzunehmen  veranlassen.  Ohne  eine  entsprechend  sensible  Wahr‐ nehmung hat die praktische Vernunft nicht einmal einen Ansatzpunkt.  Was  nicht  bedeutet,  die  Wahrnehmung  könnte  vernünftiger  als  die  Vernunft  sein.  Wenn  sie  letzterer  aber  nicht  völlig  untersteht,  wie  ist  dann  das  Zusammenwirken  von  Sensibilität  und  Rationalität  im  Ein‐ zelnen zu begreifen?   Ist  diese  Wahrnehmung  von  Anfang  an  eine  Frage  des  Bewusst‐ seins?  Antwortet  unser  Bewusstsein  nicht  auf  Erfahrungsansprüche,  die ihm  vorausgehen?  Wird  es selbst  nicht  erst  durch  Ansprüche  „ge‐ weckt“, die es nicht sich selbst zu verdanken hat? Genau so spricht Le‐ vinas  −  in  kritischer  Distanz  zur  Phänomenologie,43  die  Habermas  of‐ fenbar  weitgehend  fremd  geblieben  ist  −  von  menschlicher  Sensibili‐ tät44,  deren  Quelle  er  im  Anspruch  des  Anderen  lokalisiert;  aber  so,  dass  sie  dem  Bewusstsein,  das  auf  ihn  Antwort  gibt,  entzogen  und  unverfügbar bleibt.45 So werden wir als Subjekte ins Leben gerufen, die  ein ethisches Verhältnis zum Anderen niemals allein aus eigener Kraft  stiften  könnten.  (Dass  daraus  eine  als  Unterwerfung  zu  verstehende  Subjektivierung  folgt,  wie  die  Diskussion  um  diesen  Begriff  mit  Blick  auf Louis Althusser, Ernesto Laclau, Michel Foucault und Judith Butler  immer  wieder  nahe  legt,  ist  zu  bezweifeln.46  Schließlich  würde  eine                                 43   Diese Distanz betrifft vor allem die Rede von „Erfahrung“, die Levinas einer energi‐ schen, hier nicht i. E. nachzuvollziehenden Revision unterzogen hat.   44   E.  Levinas,  Jenseits  des  Seins  oder  anders  als  Sein  geschieht,  Freiburg  i.  Br.,  München  1992, Kap. III.  45   In diesem Zusammenhang kennt Levinas sehr wohl auch eine „kognitive Funktion“  der  Sensibilität,  die  dem  Anspruch  des  Anderen  keineswegs  einfach  entnehmen  kann,  was  denn  als  ungerecht  verletzend…  gelten  soll  und  wie  dem  politisch  (im  Kontext  einer  Vielzahl  anderer  Ansprüche)  Rechnung  getragen  werden  soll.  Hier  sind  Probleme  der  Artikulation  und  der  Urteilskraft  angesiedelt,  die  Levinas  nicht  ignorieren wollte, auch wenn sie für ihn offenbar keine vorrangige Bedeutung hat‐ ten.  46   Vgl.  M.  Foucault,  In  Verteidigung  der  Gesellschaft.  Vorlesungen  am  Collège  de  France  (1975‐76), Frankfurt/M. 2001, S. 60; J. Butler, Hass  spricht, Berlin 1998, S. 41; kritisch 

 

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absolut  heteronome  Unterwerfung  direkt  der  eigenen  Verantwortlich‐ keit der vom Anspruch des Anderen herausgeforderten Subjekte zuwi‐ derlaufen,  worauf  bereits  Derrida  in  seiner  frühen  Levinas‐Kritik  auf‐ merksam gemacht hat.)  Zweifellos  stützt  sich  Levinas  auf  eine  vor‐europäische  Überliefe‐ rung,  die  er  rückhaltlos  auf  der  öffentlichen  Agora  der  praktischen  Vernunft  der  Anfechtbarkeit  aussetzen  muss.  Denn  er  kann  nicht  be‐ weisen, sondern nur bezeugen, worum es ihm hier wesentlich geht: die  Wirksamkeit einer an‐archischen Inspiration als Herausforderung eines  praktischen  Subjekts47,  das  erst  dadurch,  dass  es  diese  Herausfor‐ derung annimmt, zu einem „menschlichen“ wird − vom Anderen her,  dem es diese Inspiration zu verdanken hat. So denkt Levinas die religio  an  den  Anderen  ganz  und  gar  vom  Widerfahrnis  (pathos)  seines  An‐ spruchs her, nicht aber als „Ressource“, der man sich politisch einfach  bedienen könnte.48                                 dazu v. Verf., „Grenzen der Lebbarkeit eines sozialen Lebens. Anerkennung und so‐ zialer  Tod  in  der  Philosophie  Judith  Butlers“,  in:  N.  Balzer,  N.  Ricken  (Hg.),  Judith  Butler: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden 2012, S. 303–328. Bei Foucault geht es aus‐ drücklich um die Fabrikation von Untertanen (sujets), also um eine bestimmte politi‐ sche  Form  der  Unterwerfung;  nichts  wird  an  der  zitierten  Stelle  über  die  Genese  menschlicher  Subjektivität  als  solcher  gesagt.  Das  Gleiche  gilt,  scheint  mir,  für  L.  Althusser, der v. a. im Auge hatte, wie jemand „zur Ordnung gerufen“ wird (durch  einen  dazu  Befugten  wie  etwa  einen  Polizisten,  der  ruft  „He,  Sie  da…“).  Bei  Althusser spielt sich dies innerhalb einer etablierten (in der Terminologie J. Rancières:  „polizeilichen“) Ordnung ab; und bei Laclau („Dekonstruktion, Pragmatismus, He‐ gemonie“, in: C. Mouffe [Hg.], Dekonstruktion und Pragmatismus, Wien 1999, S. 111– 153, hier: S. 132) geht es um Subjektpositionen als Effekte strukturaler Determinatio‐ nen;  wohingegen  Foucault  eher  die  Einfügung  in  eine  politische  Ordnung  im  Blick  hat; und  Levinas schließlich bedenkt die Außer‐Ordentlichkeit eines Anspruchs des  Anderen, die überhaupt keiner polizeilichen oder politischen Ordnung zur Dispositi‐ on steht.  47   Vgl.  v.  Verf.,  „Von  der  Phänomenologie  der  Offenheit  zur  Ethik  der  Verwundbar‐ keit. Merleau‐Ponty und Levinas auf den Spuren einer An‐Archie der Subjektivität“,  in: R. L. Fetz, R. Hagenbüchle, P. Schulz (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der moder‐ nen Subjektivität Bd. 2, Berlin, New York 1998, S. 1248–1276; M. Abensour, „Anarchy  between Metapolitics and Politics“, in: parallax 8, no. 3 (2002), S. 5–18.  48   Nicht  übersehen  werden  sollte  an  dieser  Stelle,  dass  wir  hier  weit  davon  entfernt  sind, uns auf vermeintlich evidente, nicht‐kontingente religiöse Gehalte einfach be‐ rufen zu können, die gar keiner genaueren hermeneutischen Rechtfertigung dessen  bedürften, wie Erfahrenes als solches zur Sprache gebracht wird. Wer sich derart auf  eigene Erfahrung beruft, befand schon Hegel, schließe sich aus der (kritischen) Hu‐ manität aus  (Phänomenologie des  Geistes, Frankfurt/M.  41980, S. 64 f.). Aus der religio  des  Antwortens  auf  den  Anspruch  des  Anderen  folgt,  dass  auch  „Religionen“  responsiv  fundiert  sind,  aber  gerade  nicht  umgekehrt,  dass  das  Antworten  immer  schon ein im geläufigen Sinne „religiöses“ sein müsste. 

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Der Rekurs auf eine solche Inspiration mag zumal in historischer Per‐ spektive  als  anfechtbar  erscheinen49,  aber  darauf  kommt  es  an  dieser  Stelle  nicht  an.  Worum  es  geht,  ist  vielmehr  die  Infragestellung  einer  Funktionalisierung des Religiösen durch eine Vernunft,   − die es zuerst als pränormative Quelle gewisser ethischer Orientie‐ rungen in Anspruch nimmt;  −  die  sich  dann  aber  souverän  über  alle  Ansprüche  hinwegsetzt,  welche sich nicht als Geltungsansprüche rechtfertigen lassen;   −  und  die  sich  dann,  wenn  sie  mit  diesem  Latein am  Ende  ist,  an‐ geblich  „sinnstiftender“  Idiome  vor  allem  christlicher  und  jüdischer  Provenienz  wieder  erinnert,  um  „der  Religion“  die  Bewältigung  des  Nichtwiedergutzumachenden,  des  Trostlosen,  der  Verzweifelung,  des  Todes, der himmelschreienden Ungerechtigkeit usw. anzutragen.50   So werden „der Religion“ Plätze angewiesen im Konzert einer Kul‐ tur, der man das Label postsäkular aus purer Verlegenheit anklebt: Sie  ist  scheinbar  über  eine  (angeblich)  durchgreifende  Säkularisierung  hinaus  (oder  befindet  sich  „danach“),  ohne  dabei  in  offenen  Wider‐ spruch  zu  einer  Vernunft  geraten  zu  dürfen,  die  Habermas  nach  wie  vor dezidiert als säkulare, aber existenziell ohnmächtige oder vielmehr  ratlose einstuft. Aber es soll dabei bleiben, dass die politisch‐öffentliche  Vernunft  darüber  zu  befinden  hat,  wo  sie  an  ihre  Grenzen  gerät  und  Platz  lassen  kann  oder  muss  für  die  Bewältigung  von  Erfahrungsan‐                                49   Warum und wie habe ich ausführlich an anderer Stelle zu zeigen versucht: Geschichte  als Antwort und Versprechen, Freiburg i. Br., München 1999. Zweifellos verdankt sich  Levinas’ Ethik der Inspiration menschlicher Subjektivität der Herausforderung einer  geschichtlichen  Erfahrung,  die  ihr  radikal  zu  widersprechen  schien  (wie  es  bereits  die Widmung von Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht deutlich macht). Inso‐ fern haben wir es hier mit einer tiefgreifenden Historizität auch dieser Ethik zu tun,  die keineswegs einfach auf Quellen des Alten Testaments zurückgeht, um von ihnen  her die politische Gegenwart zu deuten. Im Gegenteil wird letztere zum Ausgangs‐ punkt  einer  nachträglichen,  neuartigen  Lektüre  einer  testamentarischen  Hinterlas‐ senschaft, deren Wiederaufnahme gerade bei Levinas nicht dazu führt, eine wie üb‐ lich  auf  Descartes  oder  sogar  bis  auf  Augustinus  zurückgeführte  Geschichte  der  Subjektivität  zu  affirmieren  (die  K.  Oehler  bereits  bei  Platon  und  Aristoteles  in  der  Form des Selbstbewusstseins sich ankündigen sieht: Subjektivität und Selbstbewußtsein  in der Antike, Würzburg 1996, S. 11, 15 ff., 49 f.). Vielmehr wird in einem von der Ge‐ genwart ausgehenden hermeneutischen Zirkel auch die Vorgeschichte des Subjekti‐ vitätsdenkens radikal revidiert; und zwar im Lichte einer geschichtlich in Frage ge‐ stellten  Ansprechbarkeit  vom  Anderen  her,  die  in  den  klassischen  transzenden‐ talphilosophischen  Theorien  der  Subjektivität  weder  bedacht  noch  auf  ihre  Geschichtlichkeit hin überprüft wird.   50   Sei  es  auch  nur,  um  der  „Peinlichkeit  nichtreligiöser  Bestattungsformen“  zu  entge‐ hen. Diese zweifelhafte Beobachtung stand am  Anfang von Habermas’ Reflexionen  über „das, was fehlt“ (B, S. 26). 

 

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sprüchen,  denen  sie  nie  über  den  Weg  traut,  solange  diese  sich  nicht  mittels  der  bekannten  Ja‐Nein‐Stellungnahmen  in der  Form  von  ratio‐ nalen Geltungsansprüchen bewerten lassen.   Wie  auch  immer  von  Platon  über  Descartes  bis  hin  zu  Kant  und  Hegel „monologisch“ beschränkte Wahrheitsbegriffe durch die Theorie  der  kommunikativ  fundierten,  politisch‐öffentlichen  Vernunft  über‐ wunden worden sein mögen, sie bleibt epistemisch beschränkt. Sie wagt  sich aus dem Wissen nicht heraus. Sie gesteht nur zu,   − dass Glauben und Wissen so wie Philosophie und Religion einen  „gemeinsamen Ursprung“ haben51;  − dass eine epistemisch aufgezäumte, säkulare, politisch‐öffentliche  Vernunft  nicht  aus  eigener  Kraft  ihrer  eigenen  Bestimmung  gerecht  werden  kann  und  sich  zu  diesem  Zweck  auf  vor‐politische,  vor‐ra‐ tionale, prä‐normative, nicht‐epistemische „Grundlagen“ stützen muss,  die sie zugleich säkular entschärft und in Dienst nimmt;   − und dass eine im Modus des Wissens sich behauptende säkulare  Vernunft ratlos bleibt, wenn es vor allem in Erfahrungen des Leidens,  des Schmerzes und der Gewalt existenziell „Ernst wird“ für uns.   So  geraten  Glauben  und  Wissen,  Religion  und  Philosophie  analy‐ tisch  zunächst  in  ein  abstraktes  Nebeneinander  (ungeachtet  des  Zuge‐ ständnisses,  dass  sie  womöglich  einen  gemeinsamen  Ursprung  in  der  Achsenzeit hatten52); sodann geraten sie in ein schematisches Nacheinan‐ der,  demzufolge  sich  die  säkulare  Vernunft  aufbauend  auf  nicht‐ra‐ tionalen (insbesondere religiösen) Voraussetzungen von diesen distan‐ ziert,  um  sich  ihnen  schließlich  wieder  zu  überantworten,  wo  sie  sich  selbst keinen Rat mehr weiß.   Begreiflicherweise  geben  Vertreter  der  Religionen,  die  Habermas  vor  allem  im  Blick  hat,  ein  gewisses  Unbehagen  zu  erkennen  bei  der  Aussicht,  ihre  „Erbmasse“  als  „sinnstiftende  Ressource“  bereitstellen  zu  sollen,  wo  sich  die  säkulare  Vernunft  dem  Ernst  des  Lebens  und  Sterbens der Einzelnen nicht mitteilt und angesichts kollektiver Gewalt  − mangels geschichtsphilosophischen Rückhalts − ganz verstummt. Ge‐ rät  so  nicht  alles,  was  sie  als  unverfügbare  Quelle  des  Glaubens  zur  Sprache  bringen,  ins  Zwielicht  einer  rein  kompensatorischen  Funkti‐ on?53 So könnte diese Art, „der Religion“ durch eine Selbstbegrenzung  säkularer  Vernunft  die  Ehre  zu  geben,  ihr  einen  weiteren  tödlichen                                 51   Ebd., S. 28.  52   Vgl. K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt/M., Hamburg 1955.  53   Ausdrücklich geht es um Behebung von „Defiziten“ (B, S. 98); und zwar mittels der  Erinnerung  an  verschüttete  „semantische  Gehalte“.  Einer  Phänomenologie  der  Er‐ fahrung traut Habermas scheinbar nichts zu. 

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Stoß  versetzen.54  Es  mag  soziologischer  Sachverstand  daraus  sprechen,  wenn überlegt wird, wie man heute Wissen und Glauben, Philosophie  und Religion einander zuordnen sollte − sei es von einem gemeinsamen  Ursprung  her,  sei  es  im  Sinne  eines  diachronen  Prozesses,  in  dem  sie  sich  als  mannigfaltig  miteinander  verflochten  erweisen,  sei  es  im  Sinne  einer  synchronen  gegenseitigen  Ergänzungsbedürftigkeit.  Dabei  herrscht  offenbar  der  Gedanke  vor,  zu  zeigen,  wofür  man  Religion(en)  „braucht“ im Kontext einer (post‐) säkularen Kultur, oder wie Religio‐ nen  ihrerseits  darauf  angewiesen  sind,  sich  „vernünftig“  zu  artikulie‐ ren, wenn sie nicht umhin können, sich im Horizont einer religiös po‐ lyphonen Welt verständlich zu machen. Dabei sieht man sich gezwun‐ gen,  miteinander  zu  vermitteln,  was  zuvor  begrifflich  bis  zur  gegen‐ seitigen Indifferenz getrennt wurde.   Methodisch einen ganz anderen, vielversprechenderen Weg gehen  dagegen  Ansätze  phänomenologisch‐hermeneutischer  Provenienz,  de‐ nen daran gelegen ist, zu eruieren, wie es mit der Differenzierbarkeit des  Verhältnisses  von  Glauben  und  Wissen,  Religion  und  Vernunft  selbst  steht.  Kann  es  überhaupt  als  ausgemacht  gelten,  dass  es  sinnvoll  ist,  diese Begriffe zunächst abstrakt von einander abzuheben, um sie dann  als solche komplementär zuzuordnen?55 Genau so geht Habermas vor.  Demgegenüber kommen im Folgenden Autoren zur Sprache, die einer  Verschränkung  von  Religion  und  Vernunft,  Glauben  und  Wissen  auf  der Spur sind, ausgehend vom Phänomen des Anspruchs des Anderen,  der in einer vielstimmigen Kultur immer schon, nicht erst nachträglich,  die politische Frage aufwirft, wie man ihm soll gerecht werden können,  wenn er von Anfang an in einem Leben mit und unter Dritten die Di‐ mension einer Tertialität ins Spiel bringt, die bis in das ferne Leben von  Fremden  und  bis  in  das  fremde  Leben  von  Nächsten  ausstrahlt.56  So  spielt diese Dimension diese Frage gewissermaßen dem Politischen zu,  das  die  Vorgabe  dieser  Frage  nicht  der  Vernunft  unterwerfen  kann,  insofern  es  sich  um  einen  ihr  zuvorkommenden  Erfahrungsanspruch,  nicht um einen Geltungsanspruch handelt.                                          54   So  muss  sich  Habermas  daran  erinnern  lassen,  schließlich  habe  auch  Stalin  ein  „Zweckbündnis“ (mit der Orthodoxie) im Sinn gehabt… (B, S. 37).  55   Vgl. dagegen den „chiasmatischen“, vom späten Merleau‐Ponty inspirierten Ansatz  von C. Lefort, Fortdauer des Theologisch‐Politischen?, Wien 1999.  56   Vgl.  P.  Ricœur,  Autrement.  Lecture  d’Autrement  qu’être  ou  au‐delà  de  l’essence  d’Emmanuel Levinas, Paris 1997, S. 36. 

 

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4. Die Rede vom „Anderen“    In  politischer  Perspektive  ist  die  erst  seit  etwa  einem  halben  Jahrhun‐ dert festzustellende philosophische Karriere, die der Begriff des Ande‐ ren  erfahren  hat,  erstaunlich  und  irritierend.  Seit  der  „Entstehung  des  Politischen bei den Griechen“, wie sie der Althistoriker Christian Meier  rekonstruiert  hat,  befasste  sich  das  politische  Denken  doch  mit  den  Mitbürgern  (polites),  nicht  mit  Anderen,  Nächsten  oder  Fremden,  zu  denen  man  überhaupt  kein  politisches  Verhältnis  zu  haben  glaubte.57  Der Horizont des politischen Denkens erweiterte sich allerdings infolge  des Niedergangs der griechischen Antike und ihres Übergangs ins rö‐ mische  Reich:  Es  kommt  zur  Vorstellung  einer  megalopolis,  die  alle  Menschen und  die  Götter  einschließt.58  Nach  Eric  Brown  konnte  dem‐ nach sogar der Kosmos als ein Raum gelten, der als Ganzes die Defini‐ tion  der  polis  zu  erfüllen  schein,  wie  es  dann  die  stoische  Doktrin  der  Kosmopolis  besagte.59  Obgleich  uns  die  (etwa  bei  Plutarch  zu  finden‐ de60)  Vorstellung  einer  als  Abbild  des  Kosmos  gedachten  Polis  fremd  geworden  ist61,  ist  bis  heute  eine  gewisse  Affinität  zwischen  welt‐ bürgerlichem  und  kosmo‐politischem  Denken  festzustellen.62  Aller‐ dings  führt  sie  vielfach  in  die  Irre,  bedenkt  man,  dass  der  vermutlich  von Diogenes von Sinope stammende Begriff des Kosmopolitischen die  Erfahrung zum Ausdruck bringen sollte, ganz ohne Polis, Haus und Va‐ terland zu leben und insofern nur „der Welt“ zu gehören.63   Im  Denken  des  Kosmopolitischen  wird  dieser  Aspekt  der  Welt‐ Fremdheit  bzw.  der  politischen  Unzugehörigkeit  fast  immer  unter‐ schlagen.  Dagegen  hat  sich  besonders  im  späten  stoischen  und  natur‐ rechtlichen  Denken  die  Vorstellung  einer  universalen,  auf  angeborene                                 57   Zur  Vielzahl  von  (nicht‐politischen)  Beziehungen,  die  die  Griechen  zu  Fremden  unterhielten, siehe A. Dihle, Die Griechen und die Fremden, München 1994.  58   V.  Sellin,  „Politik“,  in:  O.  Brunner,  W.  Conze,  R.  Koselleck  (Hg.),  Geschichtliche  Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 789–874, hier: S. 798.  59   E.  Brown,  „Die  Erfindung  kosmopolitaner  Politik  durch  die  Stoiker“,  in:  M.  Lutz‐ Bachmann,  A.  Niederberger,  P.  Schink  (Hg.),  Kosmopolitanismus.  Zur  Geschichte  und  Zukunft eines umstrittenen Ideals, Weilerswist 2010, S. 9–24.  60   W. Kranz, Die griechische Philosophie, Birsfelden‐Basel o. J., S. 304 f.  61   Nicht  zuletzt  aufgrund  der  idealisierten,  den  Sternbildern  abgelesenen  Ordnungs‐ vorstellung.  62   Am  greifbarsten  bei  S.  Toulmin,  Kosmopolis.  Die  unerkannten  Aufgaben  der  Moderne,  Frankfurt/M. 1991.  63   Diogenes Laertius, Leben und Lehre der Philosophen, Stuttgart 1998, S. 267. Darin liegt  gewiss eher eine Nähe zum Verbannten, dem Flüchtigen, dem Vogelfreien, dem Va‐ ganten und Unbehausten als zum Status eines Bürgers, der überall seiner Rechte si‐ cher sein könnte. 

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Rechte  gestützten  Gemeinschaft  durchgesetzt,  die  niemanden  aus‐ schließen sollte. Jedoch schwankt dieses Denken zwischen der Annah‐ me einer nur sozialen, nicht spezifisch politischen Gemeinschaftsbezo‐ genheit  einerseits64  und  einer  allen  Menschen  zukommenden,  nicht  abstufbaren Würde (dignitas) andererseits, die (in der Vorstellung Cice‐ ros) eine universale societas humani generis begründete, für die das Na‐ turrecht gelten sollte.65   Naturrechtlich  versteht  Cicero  Rücksicht  auch  auf  Ausländer  als  geboten.  Angeblich  verbindet  die  Rücksicht  wie  auch  das  Bestreben,  nicht grausam zu sein, alle Menschen.66 Wer sich aber der Grausamkeit  schuldig macht (wie der Tyrann), hat prompt mit dem Ausschluss aus  der  societas  aller  Menschen  zu  rechnen.67  Das  Gleiche  gilt  für  den  See‐ räuber, den noch Hugo Grotius und Christian Thomasius von mensch‐

                               64   E.‐W. Böckenförde, Geschichte der Rechts‐ und Staatsphilosophie, Tübingen 2002, S. 140.  Cicero  führt  jene  Gemeinschaft  auf  das  Redevermögen  zurück;  vgl.  De  officiis.  Vom  pflichtgemäßen Handeln (lat./dt.), Stuttgart 2003, S. 49, 51.  65   Cicero, De officiis, S. 241. So sollte das Naturrecht auch das Völkerrecht begründen.  Von  einer  einfachen  Harmonie  beider  Begriffe  kann  freilich  keine  Rede  sein,  wie  noch  Suárez’  strikte  Unterscheidung  von  Naturrecht,  (gewohnheitsrechtlichem)  jus  gentium und (schriftlich niedergelegtem) jus civilis zeigt (F. Suárez, Ausgewählte Texte  zum  Völkerrecht,  Tübingen  1965,  S.  13,  26  f.,  41).  Abgesehen  davon  handelt  Suárez  vom  Menschen  als  einem  animal  sociale  und  vom  Menschengeschlecht  (genus  humanum) als einer Gemeinschaft (communitas), in der das „natürliche Gebot der ge‐ genseitigen  Liebe  und  Hilfsbereitschaft“  gelten  soll,  die  sich  auch  auf  Fremde  (extraneos) erstrecken soll (ebd., S. 67).  66   Cicero, De officiis, S. 243 ff., 261.  67   Es  gibt  kein  Verderben,  das  den  Menschen  nicht  von  anderen  widerfahren  würde  (ebd., S. 155). Insofern muss gelten: nichts Menschliches ist uns fremd (ebd., S. 29).  Dazu zählt auch die Möglichkeit, dass der Mensch im Menschen ganz beseitigt wird  (oder nicht mehr erkennbar ist; ebd., S. 243). Genau das scheint für den Tyrannen zu  gelten.  Deshalb  endet  hier  die  allen  gegenüber  gebotene  Rücksicht.  Der  Tyrann  ist  ein  brutales  Tier  in  der  Gestalt  des  Menschen  (ebd.,  S.  247,  289),  mit  dem  es  keine  Gemeinschaft  geben  kann.  Er  ist  das  „verhassteste  Lebewesen“,  das  nur  „dem  Er‐ scheinungsbild“ nach einem Menschen gleicht. Aber wer wie er „mit seinen eigenen  Mitbürgern,  ja  schließlich  mit  dem  ganzen  Menschengeschlecht  keine  Rechtsge‐ meinschaft,  keine  auf  echter  Menschlichkeit  sich  gründende  Verbundenheit  haben  will“,  den  dürfe  man  eigentlich  nicht  als  Menschen  bezeichnen!  (Vgl.  Cicero,  Über  den  Staat,  Stuttgart  1995,  S.  82.)  Das  sollte  aber  gerade  nicht  dem  Feind  gegenüber  gelten. Auch im Zusammenstoß mit Todfeinden sollte man an der Würde festhalten  (De officiis, S. 37, 119). Auch ihnen (Fremden wie Feinden) gegenüber sind Verspre‐ chen zu halten (ebd., S. 39, 301); auch ihnen gegenüber soll man zur Versöhnung be‐ reit bleiben (ebd., S. 79, 157). Man sieht hier deutlich, wie ambivalent der Gedanke  einer alle Menschen einschließenden Gemeinschaft bei Cicero ist. 

 

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lich  gebotener  Rücksicht  ausnehmen.68  Der  Seeräuber  und  der  Tyrann  sind  also  zwei  Figuren,  die  aus  der  Menschheit  herausfallen  konnten,  ungeachtet  eines  universalen  Ansatzes,  der  im  Naturrecht  bereits  die  „Einbeziehung“  aller  Menschen  zu  versprechen  schien,  die  ihnen  die  gebotene Rücksicht und Gerechtigkeit niemals absprechen dürfte.   In  seiner  weit  ausholenden  Geschichte  des  modernen  Kosmopoli‐ tismus  stellt  Peter  Coulmas  gleichwohl  unumwunden  fest,  angeregt  von der Stoa habe sich das Bewusstsein einer alle Menschen (ungeach‐ tet  ihrer  verschiedenen  Physis  und  Sitten69)  einschließenden  Gemein‐ schaft herausgebildet. Schon das römische Recht habe in diesem Sinne  die  Welt  geeint.70  Und  zwar  unter  weitgehender  Absehung  von  einer  nur natürlichen Verwandtschaft oder Abstammung. Schließlich sei eine  alle  Menschen  einschließende  Verbundenheit  universalisiert  und  die  polis auf die Menschengemeinschaft projiziert worden. So sei „die Idee  des  Fremden  […]  überflüssig“  geworden,  und  für  alle,  die  sich  der  communis  humani  generis  societas  zugehörig  wissen  konnten,  habe  sich  bewahrheitet, dass ihnen „nichts Menschliches [mehr] fremd“ erschei‐ nen musste.71 So findet in diesem kosmopolitischen Denken die Erfah‐ rung,  sich,  den  Anderen  und  der  Welt  fremd  zu  sein,  keinen  Platz  mehr.  Sie  wird  politisch  gewissermaßen  selbst  ortlos.  Allenfalls  lässt  sich noch eine als apolis eingestufte Heimatlosigkeit privativ denken.72  Coulmas  geht  so  weit,  Erfahrungen  der  Heimatlosigkeit,  der  er‐ zwungenen Emigration und des Exils in seiner Diskussion der Renais‐ sance  kosmopolitisch  zu  positivieren.  Auch  hier  habe  sich  bestätigt,  was  es  heiße,  sich  als  Bürger  der  Welt  zu  verstehen:  nämlich  „überall  zu Hause“ und − dem ersten gegenteiligen Anschein zum Trotz − nir‐ gends  fremd  zu  sein.73  Die  Geschichte  der  Welt‐Bürgerschaft  musste  in                                 68   Vgl. Cicero, De officiis, S. 313, 317; H. Grotius, De jure belli ac pacis [1625], Tübingen  1950, S. 550 ff., Abschnitte II und V; C. Thomasius, Göttliche Rechtsgelahrtheit [1709],  Hildesheim, Zürich, New York 2001, S. 201.  69   P. Coulmas, Weltbürger, Reinbek 1990.  70   Vgl. H. Arendt, Was ist Politik?, München 2003, S. 110, die in der Ablösung des römi‐ schen Vertragsdenkens vom griechischen nomos, jenem „Zaunwort“, auf das noch C.  Schmitt so großes Gewicht legte, den entscheidenden Schritt zur Einbeziehung aller  Menschen erkennt.  71   Coulmas, Weltbürger, S. 118, 120 und 126 zu Tertullian; Cicero, De officiis, S. 29.  72   Ebd., S. 70.   73   Ebd.,  S.  275.  Dagegen  sagte  Dante  nach  seiner  Verbannung:  ich  kann  die  Sonne  überall schauen. Er akzeptierte so das Exil und verschloss sich nicht in eine politeia,  sondern begriff sich als überall Fremder (ebd., S. 272) − wie jene Christen, die sich als  „fremd  in  jedem  Vaterland“  fühlten  und  zugleich  behaupten  konnten,  überall  zu‐ hause  zu  sein  (ebd.,  S.  199).  Der  scheinbare  Widerspruch  zwischen  Weltfremdheit  und  bürgerlicher  Zugehörigkeit  zur  Welt  löst  sich  auf,  wenn  man  bedenkt,  worauf 

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dieser  Perspektive  schlicht  darauf  hinauslaufen,  Humanität,  Men‐ schenwürde  und  Kosmopolitismus  zu  identifizieren  im  Sinne  einer  keinen  Menschen  mehr  ausschließenden  Welt‐Gemeinschaft,  aus  der  jede Spur unaufhebbarer Fremdheit getilgt zu sein scheint.74  Von  den  frühen  griechischen  Kolonisierungen,  Handels‐  und  Ent‐ deckungsreisen  an  über  den  neuzeitlichen  Kolonialismus  bis  hin  zu  den aktuellen Prozessen der Globalisierung hätten wir es demnach nur  mit  einer  zunehmenden  Inklusion  ohne  Kehrseiten  zu  tun.75  Genau  das  scheint  sich  auch  zu  bestätigen,  wo  man  im  13.  und  frühen  14.  Jahr‐ hundert  auf  erste  Konzeptionen  einer  Internationalen  Schiedsgerichts‐ barkeit  und  eines  Völkerbundes  in  den  Schriften  von  Ramon  Llull  (1232–1316)  und  Pierre  Dubois  (1255–1321)76  sowie  in  der  spanischen  Scholastik, speziell bei Vitoria (1448–1546) und Suárez (1548–1617), auf  die  Idee  eines  Internationalen  Rechts  (jus  gentium)  stößt.77  Für  Vitoria  musste  sich  in  diesem  Recht  eine  weltweite  Gemeinschaft  der  Men‐ schen  manifestieren,  die  im  Grunde  immer  schon  bestand,  aber  der  rechtlichen  Sicherstellung  eines  Weltgemeinwohls  (bonum  commune  orbis)  bedürfe.  Wie  ein Vorgriff  auf  die von  Kant  konzipierte  weltbür‐ gerliche  Hospitalität  liest  sich,  wie  Vitoria  die  Vorstellung  einer  nur  von  der  Oberfläche  der  Erde  begrenzten  Freizügigkeit  entwirft,  die  es  jedem erlauben sollte, sich überall mit Fremden in Verbindung zu set‐ zen.78  Während  aber  Kant  ein  Recht  postulierte,  bei  der  Ankunft  auf  dem Boden Fremder nicht feindselig behandelt zu werden, sah Vitoria  die  Gäste  dazu  verpflichtet,  sich  friedlich  aufzuführen  und  sich  jeder  Ungerechtigkeit zu enthalten.                                 

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sich die Begriffe jeweils beziehen: auf die civitas terrena (den Erdenstaat) oder auf die  civitas  dei  (vgl.  K.  Flasch,  Augustin,  Stuttgart  1980,  S.  374  ff.);  eine  Unterscheidung,  die  in  dem  Moment  freilich  entscheidend  relativiert  wird,  wo  das  Christentum  zur  Zeit Konstantins Staatsreligion wird. W. Lienemann, Gewalt und Gewaltverzicht, Stu‐ dien  zur  abendländischen  Vorgeschichte  der  gegenwärtigen  Wahrnehmung  von  Gewalt,  München 1982, S. 400.  Coulmas, Weltbürger, S. 127.  Vgl. Kobusch, Christliche Philosophie, der das Christentum ohne Umschweife insofern  als Vollendung der antiken Philosophie versteht, als es sich als in keiner Weise mehr  exklusives auf die „Welt der Barbaren“ erstreckt habe (S. 18 f., 55).  Vgl. A. Fidora, „Internationale Schiedsgerichtsbarkeit und Völkerbund in den Schrif‐ ten  von  Ramon  Llull  und  Pierre  Dubois“,  in:  M.  Lutz‐Bachmann  et  al.  (Hg.),  Kosmopolitanismus, S. 25–38.   N. Brieskorn, „Erde ohne Grenzen – Ordnung ohne Hierarchie. Vitorias und Suárez’  Vorstellungen  von  Internationalem  Recht“,  in:  M.  Lutz‐Bachmann  et  al.  (Hg.),  Kosmopolitanismus, S. 39–58.  I. Kant, „Zum ewigen Frieden“, in: Werkausgabe Bd. XI (Hg. W. Weischedel), Frank‐ furt/M. 1977, S. 193–251, hier: S. 213 f.; Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII,  § 62, S. 475 f. 

 

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Gegen  das  optimistische  Bild,  von  der  Stoa  über  Vitoria  und  Suárez’  Spekulationen über eine natürliche Gemeinschaft der Nationen bis hin  zu  Kant  sei  man  im  Grunde  schon  auf  dem  Weg  der  Erkundung  der  richtigen  politisch‐rechtlichen  Gestalt,  die  eine  Welt‐Bürger‐Gesell‐ schaft, ein internationales Völkerrecht oder sogar ein Weltstaat anneh‐ men könnte, in dem sich niemand mehr als Fremder begreifen müsste,  spricht  freilich  eine  weit  zurückreichende  Geschichte  der  Erkundung  des Menschen bzw. des Menschlichen, die es in immer größerer Vielfalt  und  Befremdlichkeit  zur  Geltung  gebracht  hat.  Das  belegt  die  Ge‐ schichte  der  Entdeckungen  „fremder  Welten“  von  den  ersten  als  eth‐ nografisch einzustufenden Berichten der griechischen Antike über den  neuzeitlichen  Kolonialismus  bis  hin  zur  modernen  Ethnologie  über‐ reichlich.79   Diese  Geschichte  hat  erst  nach  und  nach  zur  Entdeckung  der  question  de  l’autre  geführt,  wie  Tzvetan  Todorov  zeigen  konnte.80  Was  den  fremden  Anderen  überhaupt  „zum  Anderen  macht“,  und  zwar  zum  unaufhebbar  Anderen,  der  allen  Annäherungs‐,  Verstehens‐  und  Aneignungsversuchen zum Trotz anders bleibt, das war den Reise‐ und  Forschungsberichten keineswegs einfach zu entnehmen. Nicht umsonst  hält die Diskussion um diese Frage bis heute an; wobei auch die Ethno‐ logie  nicht  umhin  kann,  sich  auf  die  Rede  vom  Anderen  zu  beziehen,  die wie gesagt erst in der Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts − und  zwar als historische Antwort auf die gewaltsamsten Erfahrungen dieser  Zeit − rückhaltlos zur Geltung kam.  Ein  gewichtiges,  1965  erschienenes  Werk  von  Michael  Theunissen  (Der  Andere)  bilanziert  den  sozialontologischen  Diskussionsstand.81  Demgegenüber  handelte  Emmanuel  Levinas  von  der  Spur des Anderen  zuvor  schon  in  dezidiert  anti‐ontologischer  Manier.82  Paul  Ricœur  schließlich  verfolgte  diese  Spur  in  das  Sein  des  menschlichen  Selbst  hinein, um sich am Ende seines Buches Das Selbst als ein Anderer einge‐ stehen zu müssen, nicht zu wissen, auf wen oder was diese Spur hin‐ führt: auf einen Anderen, „dem ich ins Angesicht sehen oder der mich  anstarren  kann“,  oder  auf  unbekannte  Ahnen  oder  auf  Gott  oder  auf  eine bloße „Leerstelle“.83                                 79   Ich  verweise  nur  auf  die  einschlägigen  Schriften  von  K.‐H.  Kohl,  W.  Neuber,  T.  Todorov, S. Greenblatt und M. Sahlins.  80   T. Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt/M. 1985.  81   M.  Theunissen,  Der  Andere.  Studien  zur  Sozialontologie  der  Gegenwart  [1965],  Berlin,  New York 21977.  82   E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilo‐ sophie [1983], Freiburg i. Br., München 21987.  83   P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 426. Siehe S. 5 in diesem Band. 

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Ricœur  insistierte  selbst  gegen  Kants  Begriff  der  Menschheit,  der  ge‐ wiss  niemanden  (zumindest  keine  vernünftige  Person)  ausschließen  sollte,  dass  er  der  Alterität  des  Anderen  nicht  wirklich  Rechnung  tra‐ ge.84  Damit  wandte  er  sich  zugleich  gegen  die  Vorstellung,  in  einer  universalen  Gemeinschaft  der  Menschen  oder  in  einer  „brüderlichen“  Welt‐Gesellschaft,  wie  sie  die  französischen  Revolutionäre  angedacht  hatten85, werde man dem Anderen als Anderem gerecht. So legte er wie  schon  Levinas  den  Finger  in  die  Wunde  eines  von  der  Stoa  über  die  spanische  Scholastik  bis  hin  zum  modernen  Kosmopolitismus  entwi‐ ckelten  Universalismus,  der  zuletzt  (bei  Habermas)  eine  niemanden  auslassende  „Einbeziehung  des  Anderen“  in  Aussicht  gestellt  hatte.86  Gehen  Menschen,  die  im  Verhältnis  zueinander  unaufhebbar  Andere  sind,  überhaupt  in  der  Zugehörigkeit  zur  menschlichen  Gattung  auf?  Ist  die  als  Gattung  verstandene  Menschheit  wirklich  der  humanisti‐ schen  Weisheit  letzter  Schluss?  Oder  muss  man  einen  „Humanismus  des anderen Menschen“ ins Auge fassen, der angesichts jedes Anderen  eine unaufhebbare Singularität würdigt?87   Mit  der  bei  Levinas  und  Ricœur  zu  bemerkenden  Skepsis  gegen‐ über  jenem  Universalismus  tragen  die  beiden  Philosophen  einer  trau‐ matischen  historischen  Erfahrung  Rechnung,  deren  nachdrücklichste  Beschreibung wir im Werk von Hannah Arendt finden, die bekanntlich  v.  a.  in  Elemente  und  Ursprünge  totaler  Herrschaft  darauf  hingewiesen  hatte, dass es gegen totalitäre Gewalt rein gar nichts bewirkt hatte, sich  darauf  zu  berufen,  Mensch  (und  daher  elementarer  Rechte  teilhaftig)  zu  sein.  Wird  politisch‐rechtlich  nicht  immer  von  Anderen  darüber  verfügt, wem konkret solche Rechte zu‐ oder auch abgesprochen wer‐ den können, d.h. wer eigentlich als Mensch „zählt“, wenn niemals ein‐ fach feststeht, was oder wer als solcher gelten darf? Diese Überlegung  bewog  Arendt  dazu,  ein  Recht,  Rechte  zu  haben,  zu  postulieren.  Sie  fragte sich, ob nicht jedem auch als Fremdem, nicht Zugehörigen, we‐ nigstens dieses elementare Recht zukommen muss, wenn keiner politi‐ schen  Ordnung  (ob  totalitär  oder  nicht)  zugestanden  werden  kann,  darüber zu befinden, ob überhaupt jemand als Mensch effektiven An‐ spruch darauf hat, als solcher auch behandelt zu werden.   Arendt war weit entfernt davon zu glauben, mit dieser Überlegung  die von ihr skizzierte Aporie der Menschenrechte bereits überwunden                                 84   Zur Kant‐Kritik Ricœurs vgl. v. Verf., Moralische Spielräume, Göttingen 1999.  85   S. Lukes, „Fünf Fabeln über Menschenrechte“, in: S. Shute, S. Hurley (Hg.), Die Idee  der Menschenrechte, Frankfurt/M. 1996, S. 30–52.  86   J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M. 21997.  87   Vgl. E. Levinas, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989. 

 

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zu haben. Und es besteht kaum Grund zu der Annahme, in dieser Hin‐ sicht  seien  wir  inzwischen  einen  wesentlichen  Schritt  weiter  gekom‐ men.  Das  zeigen  die  direkt  an  Arendt  anschließenden  Überlegungen  von  Lyotard  zum  „Recht  des  Anderen“  als  des  Anderen.88  Sieht  man  genauer  hin,  so  zeigt  sich  nämlich,  dass  es  hier  nicht  um  ein  (bereits  positiviertes)  Recht,  sondern  nur  um  einen  vor‐juridischen  Anspruch  gehen  kann,  der  sich  überdies  nicht  der  Zugehörigkeit  zur  menschli‐ chen Gattung verdankt, sondern gerade von dem herrührt, was „ange‐ sichts“  des  Anderen  nicht  in  dieser  Zugehörigkeit  aufgeht.  So  folgt  auch Lyotard der Spur jener Singularität. Dass und wie vom singulären  Anderen aber ein Anspruch ausgeht, der keiner rechtlichen oder politi‐ schen  Verfügung  untersteht  und  sowohl  jeglicher  Gewalt  als  auch  In‐ differenz  ihm  gegenüber  sich  widersetzen  soll,  ist  durch  nichts  zu  be‐ weisen, sondern nur zu bezeugen.  Genau an dieser Stelle läuft das Denken vom Anderen her auf die  Figur  einer  religio  zu,  die  beschreibt,  wie  das  menschliche  Selbst  vom  Anderen  immer  schon  und  unausweichlich  in  Anspruch  genommen  wird, bevor es so oder so dazu Stellung nehmen kann, sei es gleichgül‐ tig, sei es gewalttätig, sei es im Sinne des Anderen. So kommt uns der  Anspruch  des  Anderen  stets  zuvor  und  verurteilt  zu  einer  unüber‐ windlichen  Nachträglichkeit  des  Antwortgebens  auf  ihn,  die  der  Machtergreifung  einer  souveränen  Subjektivität  den  Weg  versperrt.89  Diese  souveränitätskritische  Pointe  des  Denkens  einer  nachträglichen  Rückbindung  an  den  Anspruch  des  Anderen,  der  jeder  Antwort  vo‐ rausgeht,  ist  ihrerseits  nicht  ohne  die  historische  Herausforderung  ei‐ ner  zu  radikaler  Gewalt  sich  ermächtigenden  Subjektivität  zu  denken.  Dieses Denken steht also selbst in einer (geschichtlichen) Antwortrela‐ tion zu Erfahrungen, denen es sich stellen musste. Gemeint sind Erfah‐ rungen,  die  alles,  was  man  gemäß  einer  sublunaren  Logik  des  Wahr‐ scheinlichen für möglich gehalten hat, sprengten.  Die  Struktur jener  Nachträglichkeit  ist  bereits  vielfach  beschrieben  worden, so aber, dass es ausgeschlossen ist, sie ohne weiteres für eine  bestimmte  Religion  in  Anspruch  zu  nehmen.  Das  zeigt  sich  vor  allem  daran, dass es phänomenologisch nicht angeht, den unausweichlichen                                 88   J.‐F.  Lyotard,  „Die  Rechte  des  Anderen“,  in:  S.  Shute,  S.  Hurley  (Hg.),  Die  Idee  der  Menschenrechte, S. 171–182; vgl. v. Verf., Prekäre Selbst‐Bezeugung. Die erschütterte Wer‐ Frage im Horizont der Moderne, Weilerswist 2012, Kap. VIII, IX.  89   Diese Nachträglichkeit aber so zu verstehen, als laufe sie auf eine das Subjekt „sub‐ jektivierende“ Unterwerfung unter den Anspruch des Anderen hinaus, würde in alt‐ bekannter Manier nur auf eine Art Heteronomie hinauslaufen und zu einem neuen  Verständnis  eines  responsiven,  zunächst  asymmetrischen  Verhältnisses  zwischen  Selbst und Anderem nichts beitragen. 

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Appellcharakter  des  Anspruchs  des  Anderen  mit  einer  bestimmten  Prätention  zu  verknüpfen,  der  man  gehorsam  Folge  zu  leisten  hätte.90  Wenn es stimmt, dass wir den Anspruch des Anderen nicht nicht hören  können,  so  muss  doch  festgehalten  werden,  dass  wir  ihm  weder  im  engeren Sinne Gehör schenken noch auf ihn hören oder ihm gar gehor‐ chen  müssen.  Das  legt  zwar  Levinas  nahe,  wo  er  den  Anspruch  des  Anderen ohne weiteres imperativisch deutet, als einen Befehl nämlich,  der  uns  ohne  Wenn  und  Aber  die  Verantwortung  für  den  Anderen  auftrage  (die  wir  so  gesehen  nicht  nicht  übernehmen  könnten).  Aber  mit dieser Wendung beweist Levinas nur, dass er den Pfad der Phäno‐ menologie  bereits  verlassen  und  auf  theologischen  Wegen  wandelt.  Phänomenologisch  ausweisbar  ist  jedoch  nur,  dass  der  Anspruch  des  Anderen  eine  Rückbindung  an  ihn  und  in  diesem  Sinne  eine  unaus‐ weichliche religio im Modus der Bezeugung erzwingt, nicht aber, dass  der Anspruch etwas Bestimmtes „besagt“, dem man sich nur noch un‐ terwerfen dürfte, ohne auch nur die Chance der Zurückweisung der Ver‐ antwortung zu haben.91 Streng genommen ist der Anspruch des Ande‐ ren nicht zu erkennen. In diesem Sinne scheitert das Wissen an ihm.92   Das bedeutet aber nicht, dass die verschiedenen Formen, die er an‐ nehmen  kann,  nicht  phänomenologisch  differenziert  zu  beschreiben  wären  und  dass  dieses  Scheitern  des  Wissens  nur  als  ein  privatives  verstanden werden könnte.93 Was der Anspruch des Anderen im Sinne  einer Bestimmung zu ethischer Nicht‐Indifferenz, von der uns Levinas  überzeugen möchte, indessen besagt (und ob er überhaupt etwas „be‐ sagt“, was sich in der Form einer Aussage fassen ließe), steht dahin und  bleibt  einer  Bezeugung  überantwortet,  die  niemals  einen  überzeugen‐ den  Beweis  wird  erbringen  können.  So  steht  auch  das  Selbst,  das  zu‐ gleich  den  Anspruch  des  Anderen  und  sich  selbst  im  Antworten  auf  ihn  bezeugt94, unvermeidlich im Zwielicht einer niemals ganz überzeugen‐                                90   Vgl. A. MacIntyre, P. Ricœur, The Religious Significance of Atheism. Bampton Lectures in  America,  Nr.  18,  New  York,  London  1969,  S.  71  ff.;  B.  Waldenfels,  Antwortregister,  Frankfurt/M. 1994.  91   Konfrontiert  mit der Frage, ob er sich eine radikal von der Verantwortung entbun‐ dene  Relation  zum  Anderen  vorstellen  könne,  beruft  sich  Levinas  auf  eine  „ur‐ sprüngliche  Erfahrung“,  die  „den  tiefsten  Grund  unserer  Existenz“  ausmache  (UG,  S. 177).  92   Für Levinas  handelt es  sich  freilich um ein „gutes“ Scheitern, das nicht privativ an  Ansprüchen eines Wissens zu messen ist, das hier versagt.  93   Vgl. v. Verf., „Zu einem ‚positiven’ Verständnis von Nicht‐Wissen in sozialphiloso‐ phischer Perspektive − am Beispiel des Vertrauens“, in: P. Wehling (Hg.), Kulturelle  Deutungen des Nichtwissens im Wandel: Jenseits der modernen Wissensordnung? (i. V.).  94   In diesem Sinne befindet Ricœur mit Recht, das Zeugnis sei immer „das Zeugnis von  jemandem“, und liefert es rückhaltlos dem geschichtlichen Leben aus, in dem es im‐

 

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den  Bezeugung.  Das  heißt:  man  muss  ihm  glauben  oder  weigert  sich,  das zu tun − was nachfolgende Kritik niemals ausschließt.95  Diese  an  anderer  Stelle  ausführlich  entfalteten  Strukturmomente  der  Selbst‐Bezeugung  zeigen,  wie  wir  bereits  im  sozialphilosophisch  elementaren  Phänomen  des  Antwortens  auf  den  Anderen  an  Grenzen  des  Wissens  stoßen:  in  der  Form  einer  religio  nämlich,  die  uns  an  den  Anspruch  des  Anderen  rückbindet,  dessen  Quelle  uns  letztlich  fremd  bleibt und sich so dem epistemischen Zugriff entzieht. Gleichwohl ob‐ liegt es dem Antwort gebenden Selbst, zu eruieren, ob und wie es ggf.  angemessen Antwort geben kann. Gerade als im Übermaß für die An‐ derheit des Anderen sensibilisiertes Subjekt ist es auf die kognitive Funk‐ tion  seiner  Urteilskraft  angewiesen,  ohne  die  es  politisches  Leben  schlechterdings  nicht  geben  kann.  Darauf  haben  Ernst  Vollrath  und  Hannah Arendt mit Recht insistiert.96   Auch  Levinas  hat  dieser  Funktion  ausdrücklich  Rechnung  tragen  wollen.  In  der  Macht  der  Urteilskraft  steht  es  aber  nach  seiner  Über‐ zeugung  nicht,  den  Anderen  nach  eigenem  Gutdünken  „einzubezie‐ hen“  (oder  auszuschließen),  wie  es  die  scheinbar  so  generöse  Formel  von Habermas nahe legt, die unterstellt, zumal die Rolle, die dem An‐ deren  politisch  zukomme,  könne  niemals  von  ihm  aus  festgelegt  wer‐ den. Dagegen bezeugen Levinas, Lyotard und Derrida einen Anspruch  des  Anderen  an  uns,  der  uns  immer  schon  zuvorgekommen  sei  und  uns (deshalb bzw. insofern) nicht zur Disposition stehe.   Es  ist  dieser  Gedanke,  der  auch  die  Politische  Theorie  der  Gegen‐ wart  am  meisten  in  Unruhe  versetzt.  Man  fürchtet  eine  massive  „ethizistische“  oder  politisch‐theologische  Destabilisierung  politischer  Ordnung  unter  Berufung  auf  einen  „unbedingten“  Anspruch  des  An‐ deren97,  der  das  Politische  ruinieren  müsse.98  Man  schreckt  vor  der                                

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mer anfechtbar bleiben wird; auch dann, wenn es für sich in Anspruch nimmt, der  Spur des Absoluten zu folgen (P. Ricœur, „Die Hermeneutik des Zeugnisses“, in: An  den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, Freiburg i. Br.,  München 2008, S. 7–40, hier: S. 26).  Wobei diffizile Bedingungen der Glaubwürdigkeit ins Spiel kommen, die hier nicht  en détail zu erörtern sind.  E.  Vollrath,  Die  Rekonstruktion  der  politischen  Urteilskraft,  Stuttgart  1977;  H.  Arendt,  Was ist Politik?, S. 98.  Demgegenüber versucht Levinas den unbedingten Anspruch des Anderen mit einer  „relativen Autonomie des Politischen“ zusammen zu denken (UG, S. 154).  Muss  das  Politische  nicht  in  der  Tat  jeden  Appell,  jeden  Anspruch  und  jegliches  Anrecht gewissen Bedingungen unterwerfen, um eine erträgliche Lebensform stabi‐ lisieren zu können? Miguel Abensour insistiert aber mit Recht darauf, dass die Mä‐ ßigung  und  Regelung  von  Appellen,  Ansprüchen  und  Anrechten  nicht  auf  deren  souveräne Beherrschung hinauslaufen kann. Deshalb spricht er von einer démocratie 

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fragwürdigen Emphase einer Rede vom Anderen zurück, die ungeach‐ tet der Politisierung, die sie bei Derrida, Lyotard, Lefort, Nancy, Levi‐ nas  und  zuletzt  bei  Abensour  erfahren  hat,  dem  politischen  Diskurs  vollkommen fremd zu sein scheint. Diesem Diskurs wird nun zugemu‐ tet,  sich  mit  dem  Denken  einer  religio,  einer  Bindung  an  den  Anderen  auseinanderzusetzen,  das  nicht  nur  semantisch  weit  bis  in  die  Ge‐ schichte der Theologie zurückführt, sondern auch den Verdacht nährt,  die Autonomie des Politischen radikal in Frage zu stellen, von der die  Souveränität  einer  säkularen  Vernunft  abhängen  könnte.  Ist  aber  der  Gedanke der Bezeugung eines unverfügbaren Anspruchs des Anderen  nur so gegen das Politische − und nicht etwa auch zu seinen Gunsten −  ins Feld  zu führen?  Lässt sich  nicht  der  Gedanke  der  Bindung  an  den  Anspruch des Anderen mit einer von ihm zwar inspirierten, aber ihm  nicht unterworfenen politischen Vernunft auch anders zusammen den‐ ken?     

5. Eine sich selbst nicht genügende, herausgeforderte  und überforderte politische Vernunft?    Dass  besonders  mit  Bezug  auf  Levinas  von  einem  „unbedingten“  An‐ spruch  des  Anderen  die  Rede  war,  hat  zu  dem  Missverständnis  ge‐ führt, eine auf ihn sich stützende Ethik müsse zwangsläufig die Auto‐ nomie des Politischen in Frage stellen, die überaus mühsam durch den  Verzicht auf gewaltsame Durchsetzung absoluter Wahrheitsansprüche  habe erkämpft werden müssen. Aber so wie diese Autonomie nur eine  Illusion  ist,  so  ist  es  ein  Irrtum,  die  bezeugte  religio  an  den  Anspruch  des  Anderen  mit  einem  bestimmten  Wahrheitsanspruch  zu  verknüp‐ fen,  der  unvermittelt  politisch  zu  interpretieren  wäre.99  Appelliert  der  Andere an uns, so bedarf es doch allemal der Klärung, worauf er − ggf.  mit Recht − Anspruch erheben kann in Kontexten konfligierender An‐ sprüche, die nur politisch, wenn überhaupt, zum Ausgleich zu bringen  sind.100 In diesem Sinne ist der Phänomenologie des Hörens der Stimme  bzw.  auf  die  Stimme  des  Anderen  streng  genommen  nur  eine  Unaus‐                                sauvage. Vgl. v. Verf., „Die Politische Welt und die Ereignishaftigkeit des Demokrati‐ schen.  Bestandsaufnahmen  politischer  Theorie“,  in:  Philosophischer  Literaturanzeiger  65, Nr. 2 (2012), S. 136–166.   99   Vgl. E. Reinmuth, „Subjekt werden“, in: ders. (Hg.), Subjekt werden. Politik und Neues  Testament, Göttingen 2012, S. 331–358, Anm. 95, 100; in diesem Band S. 251ff.   100   Genau das bezweifelt Levinas, wo er sagt, eine verabsolutierte Gerechtigkeit schließe  den  Frieden  geradezu  aus  und  der  Friede  sei  nur  auf  Kosten  der  Gerechtigkeit  zu  haben (UG, S. 164 f.). 

 

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weichlichkeit  zu  entnehmen,  nicht  aber  ein  Befehl,  ihr  so  oder  so  Folge  zu leisten. Keinesfalls gilt „unbedingt“ (d.h. hier: ohne Einspruchsmög‐ lichkeit), was wir angesichts eines Anderen oder vieler Anderer zu tun  haben;  sei  es  im  Sinne  der  Gerechtigkeit,  der  Verantwortung  oder  im  Sinne  der  Nächstenliebe,  von  der  Hermann  Cohen  sagte,  sie  sei  die  eigentliche Quelle des Talmud101, und von der Spinoza behauptet hatte,  sie  repräsentiere  im  Grunde  die  einzige  Substanz  des  Neuen  Testa‐ ments.102  Insofern  muss  die  Eigenständigkeit103  des  Politischen  allen  diesen  Herausforderungen  gegenüber  gewahrt  bleiben,  denn  nur  sie  lässt  die  Pluralität  vieler,  wenn  nicht  aller  Anderen  zu  ihrem  Recht  kommen,  die  sofort  gewaltsam  beschränkt  oder  unterdrückt  würde,  sollte  sich  ein  ethischer  Anspruch,  gleich  welcher  Provenienz,  bedin‐ gungslos Geltung verschaffen und zu seiner Befolgung nötigen. Insofern  setzt das Politische auch dann, wenn es sich auf eine Logik der Bezeu‐ gung  außer‐ordentlicher  ethischer  Ansprüche  stützt,  eine  Depotenzie‐ rung  und  Epoché  ihrer  theologischen  Motive  voraus.104  Diese  können  das Politische ihrerseits nur um den Preis inspirieren, auf jegliches Be‐ sitzdenken  im  Reklamieren  solcher  Ansprüche  zu  verzichten.105  Wer  meint,  sie  exklusiv  für  eine  bestimmte  religiöse  oder  konfessionelle  Tradition  reklamieren  zu sollen,  stärkt sie  nicht, sondern  schwächt  sie                                 101   H.  Cohen,  „Die  Nächstenliebe  im  Talmud.  Als  ein  Gutachten  dem  Königlichen  Landgerichte zu Marburg erstattet“, in: ders., Jüdische Schriften. 1. Bd., Berlin 1924, S.  145–174,  hier:  S.  148;  vgl.  ders.,  Religion  der  Vernunft  aus  den  Quellen  des  Judentums  [1919/1928], Wiesbaden 2008, Kap. IX, S. 192 ff.  102   B. de Spinoza, Opera. Werke. Tractatus Theologico‐Politicus [1670] (lat./dt.), Darmstadt  1979, Kap. XIV, S. 431.  103   Ich ziehe diesen bescheideneren Terminus der Rede von einer angeblichen Autono‐ mie und Souveränität des Politischen vor, die ideengeschichtlich irreführende Asso‐ ziationen weckt.  104   Ich  lasse  hier  dahingestellt,  inwieweit  theologisches  Denken  dem  seinerseits  entge‐ gen kommt, etwa dort, wo auch ein eschatologischer Anspruch scheinbar vor jegli‐ cher  Identifikation  mit  einem  bestimmten  Was  seines  Inhalts  bewahrt  werden  soll,  um ihn gegen ein „empirisch anfechtbare[s] Fürwahrhalten von Dingen“ abzugren‐ zen; vgl. H. Timm (mit Blick auf R. Bultmann), „Remythologisierung? Der akkumu‐ lative  Symbolismus  im  Christentum“,  in:  K.  H.  Bohrer  (Hg.),  Mythos  und  Moderne,  Frankfurt/M. 1983, S. 432–456, hier: S. 434.  105   Das hat wohl auch Habermas im Sinn, wo er eine freie, weder säkulare noch religiö‐ se Standpunkte bevormundende kommunikative Anarchie als das Medium ins Spiel  bringt,  in  dem  auch  konfligierende  theologische  Erbschaften  politisch  zum  Tragen  kommen können, vorausgesetzt, keine von ihnen maßt sich die Definition von „me‐ tasocial  connotations  for  whatever  kind  of  state  authority“  an  (J.  Habermas,  „’The  Political’. The Rational Meaning of a Questionable Inheritance of Political Theology“,  in: J. Butler et al., The Power of Religion in the Public Sphere, New York 2011, S. 15–33,  hier: S. 24 f.). 

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entscheidend auf den vielfältig ausdifferenzierten Feldern einer säkula‐ ren Agora, die freilich niemals sich selbst genügen kann.   Vielmehr  zehrt  die  Vitalität  des  Politischen  von  Voraussetzungen,  die es wie gezeigt selbst nicht gewährleisten kann, insofern es den An‐ deren als Anderen nicht kennt. Seit der „Entstehung des Politischen bei  den Griechen“ hat es scheinbar nur mit dem Guten und Gerechten für  die Gleichen zu tun, die als solche „zählen“. Aber wer entscheidet, wer in  diesem  Sinne  zählt,  so  dass  Stimme  und  Vernunft,  phone  und  logos,  auch  politisch  von  Gewicht  sind,  wäre  mit  Rancière  zu  fragen.106  Und  wer bezeugt, dass niemandem das Recht zustehen sollte, in diesem Sinne  darüber zu befinden, wessen Leben politisch zählt? Unter Hinweis auf  eine singulare, jedem als Anderem geschuldete Gerechtigkeit und Ver‐ antwortung oder auf eine maßlose Liebe, die jedem geschenkt werden  sollte,  hat  man  dagegen  Einspruch  erhoben,  das  Politische  gleichsam  zur letzten Instanz in diesen Fragen zu erheben. Deshalb wohnt ihm bis  heute ein unauslöschlicher Skrupel inne, wie es all jenen soll Rechnung  tragen  können,  die  auf  eine  politisch‐rechtlich  geregelte  Gemeinschaft  angewiesen sind. Es scheint, als könne das politische Denken diese Fra‐ ge  nicht  aus  eigener  Kraft  beantworten;  als  sei  es  vielmehr  darauf  an‐ gewiesen,  von  Motiven  herausgefordert  zu  werden,  die  es  ihm  versa‐ gen, sich jemals mit einer „Lösung“ abzufinden (wie sie Francis Fuku‐ yama  zufolge  bereits  in  greifbare  Nähe  gerückt  schien).  Wäre  eine  solche  Saturiertheit  und  Selbstgerechtigkeit  nicht  auch  das  Ende  des  Politischen,  wenn  es  von  keinem  unaufhebbaren  Anspruch  mehr  her‐ ausgefordert (und überfordert) würde?  Der Streit um solche Heraus‐ und Überforderungen wird kein Ende  nehmen.  Eine  eschatologische  Perspektive  der  Aufhebung  des  Kon‐ flikts zwischen ihnen (und des Politischen mit ihnen) ist uns verbaut.107  So  muss  sich  das  Politische  im  unaufhebbaren  und  nicht  zu  beenden‐ den Streit bewähren – mit Hilfe eines Ethos der Mäßigung unbedingter  und von sich aus geradezu maß‐loser Ansprüche, die es ständig durch‐ kreuzen (und die es insofern keineswegs einfach überwindet bzw. los‐ wird).  Aber  auch  so,  als  gewissermaßen  temperiertes  Politisches  wird  es  niemals  restlos  befriedigen;  denn  wir  verlangen  nach  mehr  als  nur  nach einer Politik unter Gleichen (Brüdern, politischen Freunden, Men‐ schen  von  der  gleichen  Sorte…).  Wir  verlangen  nach  einer  Gerechtig‐ keit, Verantwortung oder Liebe vor, im oder jenseits des Politischen, die  es  nicht  leisten  kann.  Die  Herausforderungen,  für  die  diese  Begriffe  stehen,  entstammen  nicht  dem  Politischen;  sie  durchkreuzen  es  aber,                                 106   J. Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M. 2002.  107   Vgl. D. Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt/M. 1984, V. Teil. 

 

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ohne  jedoch  in  ihm  aufzugehen.  Menschen  kommen  nicht  als  „politi‐ sche Lebewesen“ zur Welt; sie werden vielmehr (selektiv) originär poli‐ tisiert  und  d.h.  zugleich:  politisch  subjektiviert  nach  Maßgabe  einer  Zu‐ gehörigkeit,  die  jeden  ihrer  Ansprüche  beschränken  und  regeln  muss  und damit Gefahr läuft, die Lebbarkeit des Lebens eines jeden in Frage  zu  stellen.  So  leben  wir gewissermaßen  vor  dem  Politischen,  im  Politi‐ schen − und über das Politische hinaus, wenn wir Antworten auf die Fra‐ ge nach der Lebbarkeit unseres Lebens nicht mehr von politischen Le‐ bensformen  und  deren  Regelung  erwarten  können.  Müssen  jene  Herausforderungen  auf  dem  Weg  der  Politisierung  zunächst  gewis‐ sermaßen entschärft und geregelt werden, so müssen sie als Überforde‐ rungen  des  Politischen  davor  bewahrt  werden,  das  politische  Leben  gewaltsam  zu  beherrschen.  Nirgends  sind  jedoch  objektive  Grenzen  gezogen,  die  es  erlauben  würden,  eindeutig  zu  bestimmen,  wo  diese  Gefahr  droht.  Wir  wissen  im  Allgemeinen  nur,  dass  sie  besteht;  und  zwar  gerade  dort,  wo  man  unter  Berufung  auf  heilige  Schriften  quasi  testamentarisch  beglaubigte  politische  Normen  glaubt  deduzieren  zu  können.   So mag es sein, dass derjenige, der fragt „Bin ich denn meines Bru‐ ders  Hüter?“  immer  schon  an  den  ethischen  Anspruch  des  Anderen  gebunden ist (sonst würde sich diese Frage gar nicht stellen), wie Levi‐ nas insistiert.108 Folgt jedoch daraus, dass politisch gesehen jeder Andere  mein Bruder sein muss? Bekanntlich haben Politisierungen der Brüder‐ lichkeit, die ein Kollektiv politischer Freunde schmieden sollten, immer  die  Kehrseite  der  Denunziation  falscher  Brüder  und  radikaler  Feinde  gehabt. Aber hatte nicht die Nächstenliebe des Alten Testaments und die  Feindesliebe des Neuen Testaments gerade dem entgegenwirken sollen?  Beide  Konzepte  hätten  sich  demnach  dann zu  bewähren,  wenn  es  um  „Brüder“  geht,  die  nicht  unsere  Brüder  sind,  sondern  Andere,  Fremde  und Feinde109, jedenfalls nicht Freunde in der aristotelischen Bedeutung  der  philia.  Gerade  die  Nicht‐Brüder  also  hätten  wir  zu  lieben  und  uns  dadurch als Nächste zu erweisen (aber nicht im Modus der politischen  Freundschaft, sondern der agape, wie man uns einschärft).   Als  vor‐politische  Herausforderungen  theologischer  Provenienz  mögen jene Gebote ins Politische hineinwirken und zur Widersetzlich‐ keit  gegen  dessen  rigorose  Reduktion  auf  zweifelhafte  „politische  Freunde“  und  Freunde  des  Politischen  anhalten;  aber  daraus  folgt                                 108   E. Levinas, Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, S. 187.  109   Vgl. P. Ricœur, A. LaCoque, Penser la Bible, Paris 1998, S. 178 f.; v. Verf.: „‚… wie dich  selbst‘.  Befremdliche  Selbstverhältnisse  in  Beziehung  zum  Anderen  –  vom  alttesta‐ mentarischen  Paradigma  der  Liebe  zu  Hass  und  politischer  Feindschaft“,  in:  Schei‐ dewege 42 (2012/2013), S. 151–165. 

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Burkhard Liebsch 

nicht,  man  könne  aus  der  Kategorie  des  Nächsten  oder  seines  Hüters  eine allgemeine politische Norm ableiten, mit deren Hilfe soziale Zuge‐ hörigkeiten und verrechtlichte Mitgliedschaften zu regeln wären. Denn  das,  was dem  Nächsten zukommen  soll,  untersteht  wie auch  das Ver‐ langen  danach  überhaupt  keiner  Verfügung,  auch  keiner  politisch‐ theologischen.110 Vielmehr erfährt das Politische in Heraus‐ und Über‐ forderungen,  die  ihm  nicht  entstammen,  die  ihm  aber  gleichwohl  ein‐ beschrieben  bleiben,  eine  Erinnerung  an  das  Unverfügbare,  dessen  Anspruch  uns  nach  der  Überzeugung  von  Levinas  überhaupt  erst  als  ethische  Subjekte  ins  Leben  ruft.  Diese  Erinnerung  ist,  wie  er  meint,  nicht  europäischen  Ursprungs.111  Insofern  beschwört  sie  eine  Selbst‐ Fremdheit Europas herauf, die sich in keiner nachträglichen, sei es ex‐ klusiv‐religiösen  oder  politischen  Tradition  aneignen  lässt.112  Gerade  deshalb  besteht  die  Chance,  den  Gedanken  eines  unverfügbaren  An‐ spruchs,  der  niemandem  abzusprechen  ist,  auf  jeder  Agora,  weltweit,  zur  Geltung zu  bringen und  ihn  überall  dort  attraktiv  zu  machen,  wo  man  glauben  macht,  das  politische  Leben  unter  Gleichen  könne  sich  selbst  genügen,  ohne  den  nächsten  oder  fernsten  Anderen,  Fremden  oder  Feinden  im  Geringsten  verpflichtet  zu  sein.  So  stiftet  die  Erinne‐ rung an diesen − niemals zu beweisenden, nur zu bezeugenden − An‐ spruch des Anderen und des Fremden Unruhe im Politischen, das nur  so  davor  bewahrt  wird,  sich  in  einer  Politik  unter  „Seinesgleichen“  selbst  zu  genügen.  Stattdessen  wird  es  auf  eine  schlechterdings  nicht  normalisierbare, außer‐ordentliche, es inspirierende Überforderung hin  geöffnet,  die  es  zugleich  vitalisiert  und  bedroht.  In  dem  Fall  nämlich,                                 110   Ob  diesem  Befund  in  der  „großherzigen“  Logik  einer  Praxis  der  Gabe  Rechnung  getragen  werden  kann,  wie  Ricœur  erwägt,  bleibe  dahingestellt  (Wege  der  Anerken‐ nung, S. 275).  111   Nach Ricœurs Überzeugung setzt jedoch die religiöse Rede von einer menschlichen  Ansprechbarkeit durch den Anderen eine nicht‐religiöse Anthropologie voraus, die zu‐ nächst  ein  zur  Responsivität  im  Verhältnis  zum  Anderen  begabtes  Selbstverhältnis  zu beschreiben hätte. Dieses bezeichnet er als Gewissen, von dem er sagt, es beinhal‐ te in sich „la structure duale d’une voix qui appelle et d’un soi qui répond, et qui en  outre  est  déjà  constitué  de  témoignage  et  de  jugement“;  P.  Ricœur,  „Le  sujet  con‐ voqué. A l’école des récits de vocation prophétique“, in: Revue de l’Institut Catholique  de Paris (1988), S. 83–99, hier: S. 94. Gegen diese eindeutige Vorordnung einer irreli‐ giösen und sich scheinbar an keine religiöse Überlieferung anlehnenden Anthropo‐ logie melden sich freilich ebenfalls Bedenken.   112   In  seinen  politischen  Schriften  hat  Levinas  dies  so  weit  wie  möglich  zu  beherzigen  versucht, was sich schon darin zeigt, wie er das ethische und das religiöse Leben zu‐ sammendenkt im Sinne einer laizistischen Geisteshaltung (UG, S. 156–167). Ob diese  Lösung  befriedigen  kann,  insofern  sie  speziell  für  das  Judentum  in  Anspruch  ge‐ nommen wird, muss hier ebenso dahingestellt bleiben wie die Frage der Zuordnung  von Anthropologie und Ethik. 

 

Rückbindung (religio) an den Anderen 

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dass man sich unter Berufung auf jene religio zur Durchsetzung politisch  unvermittelter  Ansprüche  im  Namen  des  oder  irgend  eines  Anderen  be‐ rechtigt glaubt. Eine säkulare Kultur muss die Selbständigkeit des Poli‐ tischen demgegenüber wahren, wenn sie sich nicht durch die ihr einbe‐ schriebene  Rückbindung  an  den  Anderen113,  von  der  sie  unvermeidlich  zu‐ gleich  inspiriert  und  überfordert  wird,  rückhaltlos  der  Gewalt  ausliefern  will.   

                               113   Vgl. Lefort, Fortdauer des Theologisch‐Politischen?, S. 45. 

 

     

Lacan und das Begehren –   zu Heilsgeschichte, Gesetzeskraft   und Objekt klein a 

   

DOMINIK FINKELDE    „Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat“, schreibt Aristoteles  im  siebten  Kapitel  seiner  Poetik.1  Peter  Brooks  nimmt  diese  unbedeu‐ tend  erscheinende  Beobachtung  auf  und  fragt  im  Kontext  seiner  psy‐ choanalytischen  Erzähltheorie,  was  eigentlich  der  Sinn  des  Mittelteils  zwischen  Anfang  und  Ende  sei.2  Und  er  behauptet,  dass  die  Aufgabe  eines  narrativen  Textes  darin  besteht,  Begehren  zu  produzieren,  es  in  Bewegung  zu  bringen  und  den  Mittelteil  im  eigentlich  paradoxalen  Sinne auf das Ende hin und wie auch von diesem Ende her weg aufzu‐ schieben.3  Richtig  ist  ein  Plot  daher  in  einem  entsprechenden  Maße,                                 1  

2  

3  

Aristoteles:  „Ein  Ganzes  ist,  was  Anfang,  Mitte  und  Ende  hat.  Ein  Anfang  ist,  was  selbst  nicht  mit  Notwendigkeit  auf  etwas  anderes  folgt,  nach  dem  jedoch  natürlicherweise  etwas  anderes  eintritt  oder  entsteht.  Ein  Ende  ist  umgekehrt,  was  selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in  der  Regel,  während  nach  ihm  nichts  anderes  mehr  eintritt.  Eine  Mitte  ist,  was  sowohl  selbst  auf  etwas  anderes  folgt  als  auch  etwas  anderes  nach  sich  zieht.“  Aristoteles,  Poetik  (7.Kapitel,  1450b  24–35),  übersetzt  und  herausgegeben  von  M.  Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 25.   P.  Brooks,  Reading  for  the  Plot.  Design  and  Intention  in  Narrative,  Harvard  1992.  Ebenso:  P.  Brooks,  „Repetition,  Repression,  and  Return:  Great  Expectations  and  the  Study of Plot“, in: New Literary History (Spring 1980), S. 503–526.     „If in the beginning stands desire, and this shows itself ultimately to be desire for the  end, between beginning and end stands a middle that we feel to be necessary (plots,  Aristotle tells us, must be of ‚a certain length‘) but whose processes, of transforma‐ tion  and  working‐through,  remain  obscure“  (Brooks,  Reading  for  the  Plot,  S.  69).  Brooks  sieht  in  Freuds  Jenseits  des  Lustprinzips  ein  Medium,  Licht  in  die  erwähnte  Dunkelheit  zu  bringen.  „His  [Freud‘s,  D.F.]  boldest  intention  may  be  to  provide  a  theory of comprehension of the dynamic of the life span, and hence of its narrative  understanding.  [...]  Narrative  always  makes  the  implicit  claim  to  be  in  a  state  of  repetition, as a going over again of a ground already covered [...] Why does the child  [in the fort‐da game, D.F.] repeat an unpleasurable experience“ (Brooks, Reading for  the Plot, S. 97).  

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        Dominik Finkelde   

 

Begehren  zu  stimulieren  und  den  Exzitationsnachlass  aufzuschieben  bzw. Das‐sich‐Hinauszögern‐des‐Endes zu inszenieren.  Das  eben  Gesagte  betrifft  die  jüdisch‐christliche  Heilsgeschichte,  denn sie ist als die Geschichte von Geschichten wesentlich Heilsnarrati‐ on.  Auch  diese  Tradition  versteht  sich  in  einer  Zusammenschau  be‐ stimmter, teils kontingent anmutender Ereignisse auf dem Hintergrund  eines bestimmten Erzähl‐ und Begehrensbogens, und der Gedanke liegt  nahe, als sei das Begehren wesentlich ein Narrationsmoment, von dem  her  der  Gläubige  sein  eigenes  Selbstverhältnis  konstituiert.  Das  Leben  des  Gläubigen  ist  Teil  dieser  narrativen  Spannung  und  so  Teil  einer  narrativen  Begehrensstruktur,  die  fundamental  dem  Menschen  eigen  ist.  Das  narrative  Prinzip  der  Heilsgeschichte  liegt,  wie  Jakob  Taubes  schreibt, „in ihrer Einsinnigkeit beschlossen“. „In der Einsinnigkeit und  Nichtumkehrbarkeit  gründet  der  Sinn  der  Zeit  wie  der  Sinn  des  Le‐ bens. Der Sinn der Einsinnigkeit liegt in der Richtung. Die Richtung ist  immer  auf  ein  Ende  gerichtet,  sonst  wäre  sie  richtungslos.  Das  Ende  aber ist wesentlich Eschaton.“4   Die Rede vom Ende ist entscheidend, da die Narration ihren Mittel‐ teil  zwischen  Alpha  und  Omega  als  das  eigentliche  die  Erlösung  hin‐ ausziehende  Begehren  von  diesem  Ende,  diesem  Eschaton,  aufbauen  muss. Und das betrifft natürlich das Begehren des Gläubigen, denn für  diesen  erfüllt  sich  der  Mittelteil  gerade  in  seiner  retrospektiven  Über‐ nahme von diesem Ende her. So lebt er auf dieses sich zentralperspek‐ tivisch  von  ihm  immer  mehr  oder  weniger  wegschiebende  Ende  hin,  wobei  Kierkegaard  den  eigentlichen  Spannungsbogen  des  Begehrens  des Gläubigen in seiner Unwissenschaftlichen Nachschrift als „unendliche  Leidenschaft“5 beschreibt.   Wie  kommt  es  aber  überhaupt  dazu,  dass  Begehren  von  so  ent‐ scheidender Bedeutung für die mentale Erlebenswelt des Menschen ist  (unabhängig davon, ob er nun gläubig ist oder nicht), wobei die eigen‐ willige  Zügelung  dieses  Begehrens  zwischen  Exzitation  und  Span‐ nungsverlust  als  Hinauszögern  grundlegend  erscheint.  Oder  anders  gefragt: Warum darf der Mensch scheinbar sein Begehren nicht erfüllen  und  muss  –  z.B.  durch  Gesetzesstrukturen  –  dieses  metonymisch  auf‐ schieben  lernen,  um  trotz  einer  ihm  eigenen  Exzentrizität  in  einer  Le‐ benswelt  begehrter  Objekte  zu  leben.  Was  zeichnet  den  Menschen  überhaupt  aus,  dass  er  im  Gegensatz  zum  Tier  von  diesem  Begehren  heimgesucht  wird,  einem  Begehren,  das  er  in  einem  zu  entfaltenden                                 4   5  

J. Taubes, Abendländische Eschatologie, Berlin 2007, S. 11.   S. Kierkegaard, Abschließende  Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophi‐ schen Brücken – Erster Teil, Düsseldorf/Köln 1957, S. 15.  

 

Lacan und das Begehren 

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Verhältnis zwischen Teil‐Erfüllung und Erfüllungs‐Versagung für sich  gestalten und so permanent in einem „Unbehagen der Kultur“ als sei‐ ner eigenen Lebenswelt verbringen muss?  Jacques Lacan hat sich mit diesen Fragen über drei Jahrzehnte aus‐ einandergesetzt  und  sie  in  seiner  Subjektphilosophie  entfaltet.  Dabei  entwickelte  er  eine  psychoanalytische  Transzendentalphilosophie,  die  das Begehren im Kontext paradoxaler Gesetzeskräfte aus den symboli‐ schen Ordnungen intersubjektiver Normativitäten wie aus den psychi‐ schen  Substrukturen  menschlichen  Erlebens  entfaltet.  Dabei  zeigt  er,  wie  nahezu  alle  Entwicklungsstadien  menschlicher  Psyche  vom  früh‐ kindlichen Narzissmus bis zum Ödipuskomplex solche sind, in die der  Mensch  in  seine  „zweite  Natur“  tritt  kraft  seiner  Unterwerfungs‐  und  Anpassungsfähigkeit an kollektive Normativitäts‐ und Begehrensstruk‐ turen.  Lacans  Theorie  des  Begehrens  soll  hier  vorgestellt  werden  mit  dem Ziel, sie als einen möglichen Interpretationsschlüssel zu einer Phä‐ nomenologie  religiöser  Begehrensstrukturen  zu  entfalten.  Transzen‐ dentalphilosophisch ist diese Theorie, insofern Lacan das Begehren als  Bedingung  der  Möglichkeit  des  Menschseins  überhaupt  offenlegt.  In  den  folgenden  Ausführungen  beziehen  wir  uns  hauptsächlich  auf  ein  Theorem  Lacans,  das  seine  Theorie  des  Begehrens  auf  sich  besonders  gut  vereint  und  uns  hier  als  Leitmotiv  durch  die  teils  heterogen  und  sehr spekulativ anmutenden Theoreme Lacans dient: Objekt klein a. Die‐ ses  verspielte  Mathem  Lacans  hilft  durch  Lacans  Kommentare  selbst,  zum menschlichen Begehren, zum großen Anderen und zur paradoxen  Struktur  individualpsychologischer  und  kulturell‐religiöser  Gesetze  einen Weg zu bahnen, mit dem Ziel, ansatzweise Lacans Verhältnis zur  Subjektphilosophie  in  der  Tradition  des  jüdisch‐christlichen  Glaubens  offenzulegen. Wir werden daher im Folgenden zuerst Lacans Rede von  Objekt  klein  a  entfalten,  dann  generell  das  Begehrensmoment  in  der  Narration der Heilsgeschichte analysieren und nach Anmerkungen zu  paradoxen Gesetzesstrukturen, in die das Subjekt sich einbinden lassen  muss,  mit  einigen  Bemerkungen  des  französischen  Psychoanalytikers  zur Singularität des jüdisch‐christlichen Monotheismus schließen.   Lacans Rede von Objekt klein a verweist auf den Anfangsbuchstaben  des französischen Wortes „autre“ und er möchte mit dieser Kurzformel  eine  essentielle  Verbindung  zu  seiner  Rede  vom  sogenannten  großen  Anderen  und  seiner  Theorie  des  Begehrens  entfalten.  Am  eindring‐ lichsten  gelingt  es  Lacan,  die  Kurzformel  in  seinen  Kommentaren  zu  dem  berühmten  Fort‐Da‐Spiel  vorzustellen,  mit  dem  Freud  in  Jenseits  des  Lustprinzips  das  Spiel  seines  Enkels  mit  einer  Holzspule  benennt.  Freud interpretiert das „Fort‐Da‐Spiel“ als einen Lernprozess, mit dem  das  Kleinkind  anweisungslos  die  Ab‐  und  Anwesenheit  seiner  Mutter 

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konzipiert.6 In dem das Kleinkind sich an die mit einem Faden verbun‐ dene Holzspule in einem zum Ritual werdenden Wegwerf‐ und Rück‐ hol‐Spiel klammert, kann es trotz seiner Trennung vom bzw. von dem  Anderen, sich die Illusion einer Ganzheit geben.7 In einer paradoxalen  Verschränkung gleichzeitig innen und außen zu sein, ist die Spule Objekt  klein  a,  insofern  sie  Teil  des  Selbst  und  Teil  einer  dem  Subjekt  noch  nicht  sprachlich  zugänglichen  Außenwelt  ist.  Der  entscheidende  As‐ pekt von Objekt klein a ist dessen liminaler Charakter. Objekt klein a ist,  wie  Lacan  in  Die  vier  Grundbegriffe  der  Psychoanalyse  sagt,  „ein  kleines  Etwas  vom  Subjekt,  das  sich  ablöst,  aber  trotzdem  ihm  zugehörig  ist,  von ihm bewahrt wird.“8 Und wenig später heißt es: „Mit seinem Ob‐ jekt  [Lacan  meint  hier  die  Holzspule  von  Freuds  Enkel,  D.F.]  über‐ springt  das  Kind  die  Grenze  seines  Bezirks,  der  sich  in  Gräben  ver‐ wandelt hat, und beginnt so die Beschwörung.“9 „Beschwörung“ meint  das ritualisierte Anrufen des abwesenden großen Anderen, der Mutter,  die nun in der „Repräsentanz“10 der Spule dem Kleinkind die Möglich‐ keit gibt, die Abwesenheit in ein Wechselspiel von An‐ und Abwesen‐ heit zu verkehren. „Beschwörung“ beginnt gerade dort, wo dieser An‐ dere nicht präsent, sondern nur in der Spule als Symbol der Kluft selbst  zuhanden  ist.11  Die  Analogie  zum  Ritus  der  Religion  war  auch  schon  für Freud präsent.   Lacan  konzeptualisiert  mit  seiner  Rede  von  Objekt  klein  a  so  ein  Pseudo‐Objekt, das weder radikal auf der Seite des individuellen Sub‐ jekts zu finden ist, noch auf der Seite der Außenwelt, d.h. auf der Seite  anderer Subjekte, wo z.B. wie bei Freud die Mutter in ihrer Anwesen‐ heit  vermisst  wird. Objekt klein  a  ist  Teil  des Subjekts  als Abwesenheit  und  Teil  einer  Abwesenheit  als  symbolisierte  Anwesenheit.  „Darin  zeigt sich, was vom Subjekt sich loslöst [...], es zeigt sich die Selbstver‐ stümmelung,  von  der  aus  sich  [...]  die  Ordnung  der  Signifikanz  per‐ spektivisch  ausrichtet.  Denn  das  Spiel  der  Spule  ist  die  Antwort  des                                 6   7  

J. Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim/Berlin 1996, S. 68f.   Bruce Fink schreibt sehr treffend: „Object a can be understood here as the remainder  produced  when  that  hypothetical  unity  [between  child  and  mother,  D.F.]  breaks  down,  as  a  last  trace  of  that  unity,  a  last  reminder  thereof.  By  cleaving  to  that  rem(a)inder, the split subject, though expulsed from the Other, can sustain the illu‐ sion of wholeness; by clinging to object a, the subject is able to ignore his or her divi‐ sion“  (B.  Fink,  The  Lacanian  Subect:  Between  Language  and  Jouissance,  Princeton  1995, S. 59).   8   Lacan, Die vier Grundbegriffe, S. 68.   9   Ebd., S. 68.    10   Ebd., S. 69.   11   Ebd., S. 68.  

 

Lacan und das Begehren 

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Subjekts  auf  das,  was  die  Abwesenheit  der  Mutter  an  der  Grenze  des  kindlichen  Bezirks  schaffen  sollte  am  Rand  der  Wiege:  einen  Graben,  um den es nur noch das Sprungspiel machen muß.“12 So ist Objekt klein  a  nicht  ein  intimes,  sondern  ein  extimes  Objekt.  Es  ist  etwas,  das  dem  Subjekt zueigen ist und das gleichzeitig außerhalb von ihm auftauchen  kann und von dem wir glauben, dass wir es dann, wenn wir es ergrei‐ fen, auch ohne seine symbolische Doppelfunktion als reine Fülle unse‐ res  Begehrthabenwollens  besitzen.  Martin  Schulte  schreibt  treffend:  „Objet petit a ist damit in seiner dialektischen Funktion im Begehren die  phantasmatische  –  metonymische  –  Verkörperung  der  Einheit  (und  gleichzeitig  der  Leere),  denn  ein  beliebiges  Objekt  [...]  kann  als  deren  Repräsentant fungieren.“13   Die  Psyche  des  Kindes  schafft  sich  so  einen  zweiten  Bedeutungs‐ raum,  mit  dem  es  die  Stresssituation  der  abwesenden  Mutter,  des  ab‐ wesenden  großen  Anderen,  indirekt  beherrschen  kann.  Das  Kind  schafft eine symbolische Beruhigungsstruktur gegenüber der enigmati‐ schen Abwesenheit der Mutter.14 In der symbolischen Fülle einer Leere,  die das Repräsentationsspiel der Spule aufreißt, markiert Objekt klein a  dann  auch  den  Effekt  der  Signifikation,  wie  ihn  die  Sprache  als  inferentielles  Zeichensystem  nicht  Einhalt  gebietender  Differenzen  für  Lacan repräsentiert. Denn für Freuds Enkel ist die Spule ja ein Signifi‐ kant, der für eine Abwesenheit anwesend einsteht. Genau diese Struk‐ tur  betrifft  aber,  worauf  Lacan  wiederholt  hinweist,  die  Sprache  als  Signifikantenkette generell.   Aber Objekt klein a ist auch noch auf einer anderen Ebene liminal. Es  partizipiert nämlich in allen drei Registern der Lacanʹschen Kategorien  des  Symbolischen,  Imaginären  und  Realen.  Gleichzeitig  gehört  es  zu  keinem  dieser  Bereiche  exklusiv.  Seine  primitivste  Repräsentation  fin‐ det  es  im  Imaginären,  und  zwar  in  Form  von  wirklich  imaginierten  Körperteilen  wie  z.B.  der  Mutterbrust.  Lacan  betont  aber,  dass  auch  diese  Repräsentation  nur  liminal,  nur  als  Grenzmoment  interpretiert  werden  kann.  Wie  wir  am  Beispiel  der  Spule  gesehen  haben,  spielt  diese  ja  mit  der  Differenz  von  Abwesenheit  und  Anwesenheit  und  macht  sie  erst  durch  diese  Markierung  repräsentierbar.  Insofern  ist                                 12   Ebd., S. 68.   13   M.  Schulte,  Das  Gesetz  des  Unbewussten  im  Rechtsdiskurs:  Grundlinien  einer  psychoanalytischen Rechtstheorie nach Freud und Lacan, Berlin 2010, S. 84.   14   Jonathan Lear schreibt: „If we are trying to respect the childʹs point of view we can‐ not even say that the game is prompted by loss. For it is only after the game is installed  that the child will begin to have the concept of loss or absence. Only when the game  is established will the loss be a loss for him“ (J. Lear, Happiness, Death, and the Re‐ mainder of Life, Harvard 2001, S. 92). 

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Objekt klein a nicht eigentlich in eine Repräsentation zu überführen. Es  ist  das,  „was  jeder  Assimilierung  an  die  Funktion  des  Signifikanten  widersteht“.15 Dennoch bleibt Objekt klein a auf intime Art und Weise in  die linguistischen Bedeutungsebenen eingeschrieben, als ein schwer zu  verstehender  aber  dennoch  konstitutiver  Effekt  von  Signifikation  und  Bedeutungsbildung.  Daher  behauptet  Lacan,  klein  „a“  als  „den  Rest  der Konstitution des Subjekts am Ort des Anderen definiert zu haben,  insofern  es  sich  als  das  gespaltene  Subjekt  $  konstituiert  hat.“16  Lacan  behauptet, Objekt klein a spiele auf der Ebene des Symbolischen und im  Bereich  der  Bedeutungen  die  Rolle  einer  strukturellen  Leerstelle.  Es  „symbolisiert  das,  was  sich  in  der  Sphäre  der  Signifikanten  stets  als  verloren,  als  das,  was  sich  der  Signifikation  verloren  geht,  präsen‐ tiert.“17  Objekt  klein  a  ist  so  etwas  wie  ein  nicht  verdaubarer  Rest,  ein  Riss in der Ordnung des Imaginären und des Symbolischen, „the ‚un‐ dead‘ [...] remainder“, wie Slavoj Žižek schreibt, „which persists in its  osbscene immortality.“18 Und in diesem Sinne, d.h. in der Form seiner  eigentlichen  Nicht‐Repräsentierbarkeit,  kann  es  dem  dritten  Register  zugesprochen werden, nämlich dem Bereich des Lacan’schen Realen.19   Entgegen  der  Vorstellung  von  einer  ursprünglichen  Fülle,  die  ir‐ gendwann  einmal  verloren  ging,  spricht  Lacan  von  einem  ursprüngli‐ chen Mangel, dem keine Fülle vorausgeht und der deshalb auch konsti‐ tutiv  nicht  durch  irgendein  Objekt  gefüllt  werden  kann.  Objekt  klein  a  kann daher in seiner radikalen Negativität, in seiner uns immer entge‐ henden Anwesenheit, gar keine Form annehmen. Es kann nur topogra‐ phisch verortet werden als ein uns permanent umtreibender Nicht‐Ort,  der  uns  dazu  veranlasst,  mehr  oder  weniger  schwungvoll  jeden  Mor‐ gen aus dem Bett zu hüpfen in der Hoffnung, dass wir an diesem Tag  dem Objekt klein a wieder ein klein wenig näher kommen werden.20 Es                                 15   16   17   18   19  

J. Lacan, Die Angst. Das Seminar, Buch X, Wien/Berlin 2011, S. 218.   Ebd., S. 357 (leicht abgewandelte Übersetzung).   Ebd., S. 218 (leicht abgewandelte Übersetzung).   S. Žižek, The Parallax View, Cambridge/Massachusetts 2006, S. 110.  Objekt klein a ist, wie Lacan wiederholt sagt, ein unmögliches Objekt, ein Objekt, das  letztlich  nie  wirklich  uns  vor  Augen  treten  kann.  Es  tritt  immer  retroaktiv  in  Er‐ scheinung,  und  gerade  aufgrund  dieser  Retroaktivität  ist  es  die  Objektursache  un‐ seres Begehrens. Was mit dem Motiv der Retroaktivität eigentlich gemeint ist, ist die  Bedingungsmöglichkeit  des  Subjekts  selbst.  Lacan  widerspricht  damit  der  Vor‐ stellung, dass es zuerst ein Subjekt gibt, das dann ein Objekt entdeckt, auf das es sein  Begehren richtet. Stattdessen gibt es ein Begehren vor dem Verlust: weil das Subjekt  immer nur die Sehnsucht nach seiner Fülle ist.  20   Eine  Depression  scheint  gerade  der  Moment  zu  sein,  wenn  das  Objekt  klein  a  uns  nahezu  unerreichbar  geworden  vorkommt,  wenn  wir  keinen  eigentlichen  Grund  mehr  sehen,  aus  dem  Bett  zu  steigen,  zur  Arbeit  zu  gehen  oder  unser  Leben  mehr 

 

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ist so das psychoanalytische Objekt par excellence. Es ist die Gräte im  Hals menschlichen Begehrens, „an excessive object, an object that lacks  its place in the structure.“21 Es verkörpert sowohl die phantasmatische  Illusion  einer  Genussfülle,  als  auch  die  Unmöglichkeit,  diesen  Genuss  durch ein begehrtes Objekt wirklich einverleiben zu können. Es ist das  Objekt,  um  das  sich  unsere  Triebe  bewegen  (nicht  unsere  Instinkte).22  Das  Tier  kennt  ein  solches  Begehren  nicht.  Es  ist  begehrens‐immun,  weil es „epistemisch arm“ ist. Weil das Tier weder die Quadratwurzel  aus neun ziehen, noch eine schlichte Prädikation aussagen kann, ist es  epistemisch den sogenannten drei Registern verschlossen. Das hat zur  Folge, dass das Tier kein mit dem Menschen vergleichbares Unbewuss‐ tes entwickeln und immer nur eine Mohrrübe instinktiv haben möchte,  aber  nie  „begehren“  kann.  Der  Mensch  hingegen  ist  ein  begehrendes  Wesen und somit an Objekt klein a gebunden. Und weil dies so ist, kann  Objekt  klein  a  auch  den  absurdesten  Blödsinn  verkörpern.  Die  freie  Marktwirtschaft  ist  deshalb  die  Gesellschaftsform  merkantiler  Höchst‐ leistung,  weil  sie  sich  die  unendliche  Metonymie  des  menschlichen  Begehrens  zunutze  macht.  Sie  füttert  die  unendliche  Metonymie  des  Begehrens mit dem nicht zu leugnenden (bis jetzt noch) positiven Ne‐ beneffekt einer allgemeinen Anhebung des Lebensniveaus durch hohen  Konsumverkehr.  Fassen wir das bisher Gesagte noch einmal zusammen: Das Objekt  klein  a  taucht  für  Lacan  mit  einer  eigenwilligen  Notwendigkeit  in  der  Relation des Subjekts und dem Anderen auf. Ähnlich wie das freudia‐ nische Ding – auf das wir noch zu sprechen kommen und von dem es  konzeptuell abstammt – ist Objekt klein a abgesprungen, abgeplatzt vom  Repräsentationsprozess als ein nicht‐kommensurables „X“, ein Ort des  Undenkbaren,  das  sich  immer  an  der  Grenze  zwischen  dem  Imaginä‐ ren und Symbolischen generiert, ohne letztlich in einer konkreten Form  absolute Gestalt zu bekommen. Es ist – wie Slavoj Žižek sagt – ein un‐ endlicher Stimulus, ein unendlicher Juckreiz, den wir nicht befriedigen,  aber  den  wir  auch  nicht  direkt  orten  oder  therapieren  können.  Objekt                                 oder  weniger  diszipliniert  zu  führen.  Wir  sind  begehrensschwach  geworden.  Das  Objekt klein a ist dann nicht ganz weg, – denn dann könnten wir wirklich nicht mehr  leben – aber wir müssen dann lernen, unser Begehren langsam auf etwas anderes zu  richten.  Nicht  mehr  auf  das  Lebenswerk  z.B.,  sondern  auf  das  kleine  Lebensglück  wie einen Spaziergang im Park, ein Stück Kuchen, etc.  21   Žižek, The Parallax View, S. 122.   22   Lacan: „Das Objekt a ist ein etwas, von dem als Organ das Subjekt sich getrennt hat  zu seiner Konstituierung. Dieses Objekt gilt als Symbol des Mangels, d.h. des Phal‐ lus, und zwar nicht des Phallus an sich, sondern des Phallus, sofern er einen Mangel  darstellt“ (Lacan, Die vier Grundbegriffe, S. 110).    

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klein a ist ein Abgrund um den herum unsere Triebe kreisen und es hält  unser Kreisen aufrecht, gerade weil es sich durch eine reine, sich selbst  nährende  Negativität  definiert:  Es  ist  Inkarnation  des  Mangels,  den  unsere  Psyche  füllen  muss  und  nicht  füllen  kann.  Objekt  klein  a  ist  so  zeitgleich uneinholbar wie es uns einholbar erscheint.   Wie  eingangs  erwähnt,  schreibt  Aristoteles  in  seiner  Poetik,  dass  ein  literarisches  Werk  seine  Mitte  auf  ein  Ende  hin  konzipiert.  Peter  Brooks  behauptet  im  Anschluss  daran,  dass  die  Struktur  des  Textes  –  um  dieses  Ziel  zu  erfüllen  –  gleichzeitig  auch  ein  Begehren  für  eine  reduzierte  Exzitation  aufbringen  muss.  Der  Plot  einer  Narration  muss  so sinnbildlich ein Objekt klein a erscheinen lassen, das zwischen Lust‐ steigerung‐  und  Lustminimierung  die  Waage  hält.  Brooks  versteht  daher in der Struktur einer Erzählung ihre arabeske Form bzw. die Art  und  Weise,  wie  sie  den  Aufschub  ihres  Endes  inszeniert.  Der  Plot  ist  die  geniale  Konstruktion  von  Exzitation,  Begehren  und  Begehrens‐ Aufschub.  Man  erkennt  hier  Brooks  als  Leser  Freuds,  denn  für  Freud  besteht  ein  wesentlicher  Teil  des  Traums  im  Aufschub  der  Wunscher‐ füllung, ein Aufschub, der sich im Objekt klein a als Lacans Objektursa‐ che des Begehrens ausdrückt. Träume sind oftmals weder nur langwei‐ lig  oder  belanglos,  noch  sind  sie  einfach  nur  verstörend  und  alp‐ traumartig.  Vielmehr  sind  viele  Träume  ermüdend  und  erschöpfend.  Wir  kennen  solche  Erfahrungen:  Eine  Traumschleife,  eine  Traumse‐ quenz einer sich aufschiebenden Erfüllung hat uns ein wenig zu lange,  zu erschöpfend beschäftigt, so dass wir wie gerädert aus dem Bett stei‐ gen.  Die  Mitte  der  Narration  sollte  möglichst  ohne  diese  Erschöpfung  auskommen. Der Literaturwissenschaftler Peter Fry bringt das gut auf  den Punkt, wenn er schreibt: „perhaps fiction does have this superior‐ ity over the dream work: that its art, that its structure, is precisely the  protraction  of  delay  to  a  desired  degree  but  not  unduly  beyond  that  degree“.23  Unsere  erste  These  im  Kontext  einer  Analyse  des  Begehrens  im  Neuen  Testament  schließt  nun an  diesen  zuletzt  genannten  Gedanken  in  Kombination  mit  Lacans  Theorie  der  Objektursache  des  Begehrens  (Objekt klein a) an. Das Neue Testament und die Einbindung desselben  in einen religiösen Lebensvollzug legt dem Gläubigen nahe, sein Leben  in einem Sinne von Peter Brooks Anmerkungen über den Plot als den  eigentlichen  Teil  der  Heilsnarration  zu  lesen,  der  gleichzeitig  sich  für  den  Gläubigen  gerade  noch  nicht  „einlösen“  darf.  Leben  im  Anblick  des  Neuen  Bundes  ist  der  metonymische  Begehrensprozess  des  sich                                 23   Unveröffentlichtes Manuskript.  

 

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hinauszögernden Eschatons.24 Fest steht, dass das Leben des Gläubigen  Teil einer narrativen Spannung ist und damit Teil einer narrativ struk‐ turierten  Begehrensstruktur.  Das  Leben  des  Gläubigen  ist,  wie  Jacob  Taubes  sagte,  notwendig  auf  ein  Eschaton  gerichtet.  Dieses  vereint  verschiedene  Geschichten  auf  ein  Ende.  Durch  das  Eschaton  wird  die  Gegenwart  von  einer  Zukunft  her  „formatiert“,  so  wie  der  Plot  in  Brooks  Interpretation  vom  Ende  seine  retrospektive  Illumination  er‐ fährt.  Die  Gegenwart  wird  im  Eschaton  von  der  Zukunft  überschrie‐ ben, umgeschrieben. Was den Gläubigen auszeichnet wäre dann gemäß  der Heilsgeschichte, aus dem Bekenntnis zu leben, dass Jahwe in Jesus  Messias  sich  als  derjenige  bekennt,  der  bei  uns  gewesen  sein  wird,  wie  die Selbstdeutung Jahwes in Exodus 3,14 im Sinne eines futur antérieur  impliziert.25 Es markiert eine retrospektive narrative Einholung als das,  was  Heilsgeschichte  ausmacht.  Jahwe  ist  die  im  Kommen  sich  befin‐ dende  Narration  der  Wahrheit,  die  gemäß  der  Theologie  von  Paulus  durch Christus die chronologische Zeit durchtrennt und den Gläubigen  in der Zeit auch immer schon vor das Ende der Zeit stellt. Die Rede vom  Ende  ist  entscheidend,  da  die  Narration  ihren  Mittelteil  zwischen  Al‐ pha  und  Omega  als  das  eigentliche,  das  Erlösung  hinausziehende  Be‐ gehren  von  diesem  Ende  her,  aus  diesem  Eschaton  aufbauen  muss.  Und das betrifft natürlich das Begehren des Gläubigen bzw. mit Lacan  gesagt, sein Verhältnis zur Struktur von Objekt klein a. Walter Benjamin  beschreibt dies im Sinnbild des individuellen Todes von Romanfiguren.  Deren  Ende,  deren  Tod  ist  „die  Sanktion  von  allem,  was  der  Erzähler  berichten kann. Vom Tode hat er seine Autorität geliehen.“26 Das Ende  als  nicht‐kontingentes  Ereignis  drängt,  die  Mitte  zwischen  Alpha  und  Omega lesbar zu machen. Deshalb ist auch die Rede vom Eschaton ein  wesentliches  Moment,  welches  Begehren  als  das  Hinauszögern  des  Endes  braucht.  Denn  der  Gläubige  ist  zwar  Teil  des  christlichen  Eschatons, aber die Parusie, die Wiederkehr Christi, steht immer noch  aus. Die Rede von „letzten Dingen“ drängt dann den Gläubigen gera‐                                24   Darauf könnte eine zukünftige, detaillierte Analyse der Bücher der Bibel, für die wir  hier nicht den Platz haben, ihre Aufmerksamkeit richten: d.h. wie inszenieren Altes  und  Neues  Testament  diese  Hinauszögerung,  wie  erzählt  die  Bibel  ihren  Plot,  wie  inszeniert sie den Mittelteil zwischen Alpha und Omega als Begehrensprozess?  25   Die  Ich‐Prädikation  Jahwes  „Ehyeh  Asher  Ehyeh“  (Ex  3,14)  impliziert  mit  dem  hebräischen Verb „sein“ eine Dynamik des Werdens, die statt der geläufigen Selbst‐ definition Jahwes „Ich bin, der Ich‐bin‐da“ (Septuaginta: „Ich bin der Seiende“) ein  „Ich  bin  der,  der  ich  sein  werde“  zum  Ausdruck  bringt.  Vgl.  T.  Boman,  Das  he‐ bräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, Göttingen 1977, S. 45.   26   W. Benjamin, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: Ders.,  Illuminationen, Frankfurt/M. 1961, S. 421.  

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dezu,  in  einem  Begehren  permanenter  Aufmerksamkeit  diese  Gegen‐ wart nicht in der Perspektive einer „langen Bank“ von Aufschiebemög‐ lichkeiten  einer  chronologischen  Zeit  zu  schieben,  sondern  in  einem  Begehren  der  „Jetztzeit“  zu  verharren,  d.h.  in  einer  Haltung  erwar‐ tungsvoller Gereiztheit. Damit dieses Eschaton nicht beliebig oder ver‐ gessen wird, braucht es ein permanentes Begehren (nach Objekt klein a),  eine Wachsamkeit, die Begehren auf das Eschaton nicht vergehen lässt.  Oder  mit  Peter  Brooks  gesagt:  Auch  die  Heilsgeschichte  steht  unter  dem Narrationszwang, das Begehren des Gläubigen immer wieder vor  dem sich hinauszögernden Ende anzufachen, oder wie Paulus sagt, im  Glauben unermüdlich zu beharren (Röm 12, 9–21).  Martin  Heideggers  Vorlesungen  zur  Phänomenologie  des  religiösen  Lebens  aus  dem  Jahr  1919  sind  hierzu  aufschlussreich,  denn  ihn  faszi‐ nierte das besondere Zeitbewusstsein der frühchristlichen Gemeinden.  Die  Ungewissheit  gegenüber  dem  nicht  zu  erwartenden  Einbruch  des  Zeit‐Endes lässt, so seine Interpretation, die Spannung des Lebens des  Gläubigen  als  Existenz  bedeutsam  werden.  Das  Leben  des  Gläubigen  wäre  dann  gerade  dasjenige,  das  den  „törichten  Jungfrauen“,  von  de‐ nen Kierkegaard sprach, entgegensteht und das Begehren, die unendli‐ che Sehnsucht, in einer Spannung der Aufmerksamkeit hält. Heidegger  aufnehmend könnte man dann sagen, das Leben des Gläubigen begehrt  eine  Fülle  der  Zeit,  gerade  weil  zu  jeder  Zeit  mit  der  Zeit  nicht  mehr  „gerechnet“ werden kann. Die Zeit zwischen Alpha und Omega ergibt  sich aus der existentiellen Spannung darüber, wann Omega eintritt. So  ist Omega als Kairos zwar immer schon Teil der chronologischen Zeit,  aber  gerade  das  macht  die  Bedeutung  des  Eintritts  der  Parusie  noch  entscheidender. Denn die erste Vergewisserung des Erlöstseins braucht  die rückwirkende Bestätigung in der Rückkehr des Messias.   Objekt klein a hat aber auch etwas für Lacan mit dem Motiv des Op‐ ferns zu tun. Und darauf soll im folgenden Abschnitt der Abhandlung  eingegangen  werden.  Was  es  mit  einer  Opfergeste  auf  sich  hat,  illus‐ triert Lacan in seinem zehnten Seminar mit dem Titel Angst am Beispiel  des  ödipalen  Dramas.  Das  Kind  wird  gemäß  Freuds  Arbeiten  zum  Ödipuskomplex  vom  mütterlichen  Körper  getrennt,  unter  der  Rück‐ sicht, dass da ja noch ein anderer ist, der Vater, der sein Anrecht auf die  Mutter  stellt.  Dieser  Verlust,  den  das  Kleinkind  erfährt,  wird  durch  Entwöhnung  kompensiert  und  von  Entwöhnung  z.B.  von  der  Mutter‐ brust  begleitet.27  Die  Entwöhnung  von  der  Mutterbrust  ist  dabei  für                                 27   Lacan  behauptet,  dass  das  Kind  beim  weinenden  Abschiednehmen  vom  Mutter‐ Körper, der in der Entwöhnungsperiode noch eine Schnittstelle mit seinem eigenen  Körper  gebildet  hatte,  eigentlich  so  etwas  wie  einen  unbewussten  Tausch  begeht. 

 

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Lacan  gleichbedeutend  mit  einer  Opferung,  wobei  das  Kind  sinnbild‐ lich  die  Brust  der  Mutter  übergibt.  Lacan  verweist  hier  auf  die  ersten  „Abtretungserfahrungen“28,  in  denen  das  Kind  sich  und  die  Mutter  zugleich  sozusagen  auf  Distanz  bringt.  Lacan  versucht  mit  seiner  Op‐ fertheorie  zu  erklären,  inwiefern  das  Subjekt  noch  vor  seiner  Subjekt‐ werdung  in  einer  Art  Verhandlung  mit  dem  großen  Anderen  steht,  sozusagen  als  unbewusste  Struktur  seiner  Subjektwerdung.  Die  Mut‐ terbrust erweist sich als opferungsfähiges Objekt, und Lacan legt nahe,  dass  der  Ursprung  der  Welthaftigkeit  in  so  etwas  wie  einem  aktiven  Akt spielerischer Abtretungserfahrungen liegt, die die Subjektwerdung  des Kleinkindes unbewusst und unthematisch aber letztlich identitäts‐ konstituierend  begleiten.29  Das  Subjekt  konstituiert  sich  dann  auf  der  Ebene  zu  einem  großen  Anderen  und  einem  Teilobjekt  zwischen  bei‐ den. Was für eine Art Opferung aber soll das sein und wem wird hier  geopfert? Lacan behauptet, dass das Objekt in einem wesentlichen Sin‐ ne  hergegeben  oder  „geopfert“  wird,  um  Angst  zu  vermeiden.  Lacans  Begründung  von  Angst  liegt  in  einem  unheimlichen,  nicht  assimi‐ lierbaren Begehren, das aufkommt, wenn das Subjekt „nicht weiß, wel‐ ches Objekt a ich für das Begehren des Anderen bin.“30 Die Abtretungs‐ erfahrung  des  Objekts  ist  ein  spielerisches  Moment,  diese  Angst  zu  bezwingen. Das Kind ist an der Mutterbrust unthematisch mit der nicht  zu  beantwortenden  Frage  nach  dem  Begehren  der  Mutter  konfron‐

                               Lacan:  „Was  das  Wesentliche  angeht,  so  stimmt  es  nicht,  dass  das  Kind  entwöhnt  wird. Es entwöhnt sich. Es löst sich von der Brust ab, es spielt. Nach der ersten Ab‐ tretungserfahrung,  deren  bereits  subjektivierter  Charakter  sich  spürbar  durch  den  Vorbeizug erster Zeichen auf seinem Gesicht manifestiert [...] spielt es, sich von der  Brust abzulösen und sie wieder aufzunehmen. [...] Die Brust ist nicht Teil des Ande‐ ren, sie ist nicht die Bindung des Anderen, die es zu durchbrechen gilt, sie ist aller‐ höchstens das erste Zeichen für diese Bindung. Deshalb hat sie eine Beziehung  mit  der Angst, aber deshalb ist  sie auch  die erste Form des Übergangsobjekts im Sinne  von Winnicott, die Form, die Essen als Funktion möglich macht. Ebenso ist sie, auf  dieser durch a definierten Stufe, nicht das einzige Objekt, das sich anbietet, sie aus‐ zufüllen“ (Lacan, Die Angst, S. 413f.).    28   Lacan, Die Angst, S. 413.   29   Man  könnte  annehmen,  Lacan  wolle  mit  seiner  Opfertheorie  eine  transzendentale  Denknotwendigkeit  offenlegen,  die  uns  zeigt,  wie  Subjektivität  auftritt  und  wie  sie  sich in einem Einfangen eines Begehrens des großen Anderen von der Konfrontation  mit  dessen  „enigmatischen  Signifikanten“  (Jean  Laplanche)  herleitet.  Aber  Lacan  meint  hier  nicht  nur  eine  transzendentale  Denknotwendigkeit,  sondern  einen  wirklich  spielerischen  Umgang  des  Kindes  mit  der  Brust  in  der  Phase  seiner  Abtretung.   30   Lacan, Die Angst, S. 410.  

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tiert.31 Es erfährt sich in der Konfrontation mit dem enigmatischen Fak‐ tum,  dass  die  Mutter  in  einem  gewissen  Sinne  eine  bedrohliche,  nicht  assimilierbare Dimension, nämlich die ihres eigenes Begehren, verkör‐ pert.  Hier  ist  nicht  die  Rede  vom  „kleinen  Anderen“  des  imaginären  Objekts,  das  sich  für  Lacan  im  Spiegelstadium  als  ein  Reflexionsbild  der  eigenen,  wenn  auch  falsch  interpretierten  Identität  zeigt,  sondern  hier  tritt  der  große  Andere  auf,  der  eine  monströse  und  nicht  reprä‐ sentierbare  Dimension  verkörpert.  Freud  nennt  sie  in  dem  aus  einem  Briefwechsel  mit  Fließ  entstehenden  Entwurf  einer  Psychologie  das  „Ding“  am  „Nebenmenschen“32  als  eine  nicht  assimilierbare  Größe.  Richard Boothby vergleicht die Strategie des Kindes metaphorisch mit  der Fluchtstrategie einer Eidechse, die sich in Not von ihrem Hinterteil  trennen  kann.33  In  einer  analogen  Art  und  Weise  ist  die  Mutterbrust  dasjenige  Teil,  das  das  infantile  Ego  selbst  aufgibt,  von  dem  es  sich  entwöhnt,  und  das  es  dem  Anderen  „opfert“.  Lacan  sagt  dabei,  dass  das Kind nicht die Brust vom eigenen Körper trennt, mit dem Ziel den  ganzen  übrigen  Körper  zu  retten  (wie  die  Eidechse).  „Der  entschei‐ dendste Moment in der Angst, um die es geht, die Angst vor der Ent‐ wöhnung, ist nicht so sehr, dass gelegentlich die Brust dem Bedürfnis  des  Subjekts  fehlt,  sondern  vielmehr,  dass  das  kleine  Kind  die  Brust  abtritt,  an  der  es  als  an  einem  Teil  von  ihm  selbst  aufgehangen  ist.“34  Lacan  behauptet  damit,  dass  das  Kind  in  dem  Moment  der  Trennung  sich  selbst  erstmals  schmerzhaft  subjektiviert  durch  die  Abtrennung  von  einem  Teil  seiner  selbst.  „Die  Funktion  des  abgetretenen  Objekts  als abtrennbares Stück vermittelt anfänglich etwas von der Identität des  Körpers,  Vorgeschichte  auf  den  Körper  selbst  hin  mit  Blick  auf  die  Konstitution des Subjekts.“35 Lacan möchte den Gedanken artikulieren,  dass  die  Aufgabe  des  Teilobjekts  als  subjektkonstituierende  Spaltung  vom großen Anderen, das Subjekt in ein ökonomisches Verhältnis mit  dem Begehren des großen Anderen bringt, gerade weil das aufgegebe‐ ne, angeblich geopferte Teilobjekt das unnennbare Begehren des Ande‐ ren wie durch einen ökonomischen Tausch scheinbar berechenbar wer‐ den  lässt.  Und  diese  Berechenbarkeit  scheint  auf  den  ersten  Blick                                 31   Jean Laplanche hat sich in Anlehnung an Lacan immer wieder mit diesem Begehren  auseinandergesetzt  und  von  dort  her  seine  Theorie  enigmatischer  Signifikanten  hergleitet.  32   Vgl.  S.  Freud,  Aus  den  Anfängen  der  Psychoanalyse  1887–1902.  Briefe  an  Wilhelm  Fließ, Frankfurt/M. 1982, S. 337f.   33   R.  Boothby,  Freud  as  Philosopher.  Metapsychology  after  Lacan,  New  York/London  2001, S. 246.   34   Lacan, Die Angst, S. 394.   35   Ebd., S. 396.  

 

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Wesentliches mit religiösen Opferriten zu tun zu haben. „Das anfängli‐ che mythische Subjekt, an den Anfang gestellt als eines, das sich in der  signifikanten Konfrontation zu konstituieren hat, erfassen wir niemals,  und  das  mit  gutem  Grund,  weil  das  a  ihm  vorausgegangen  ist,  und  insofern es selbst von dieser anfänglichen Ersetzung geprägt ist, muss  es sekundär jenseits seines Verschwindens wiederauftauchen.“36 Indem  das  Objekt  aufgegeben  wird,  erscheint  der  Ort,  auf  dem  das  Subjekt  zutage  tritt.  Gleichzeitig  wird  retroaktiv  die  Illusion  einer  ursprüngli‐ chen,  wenn  auch  nur  negativ  erfahrbaren  Existenzfülle  des  menschli‐ chen  Wesens  aufgebaut.  Die  Existenz  desjenigen,  der  opfert  (i.e.  das  Kind  als  Subjekt),  erscheint  erst  bzw.  tritt  erst  auf  den  Plan  in  dem  Moment,  in  dem  der  Akt  des  Opferns  vollzogen  wurde.  Das  Objekt  wird aufgegeben, nicht mit dem Ziel, ein schon existierendes Begehren  aufrechtzuerhalten, sondern – sehr viel radikaler gedacht – das Begeh‐ ren etabliert sich erst im Moment des Hingebens des Objekts. Das Ob‐ jekt  wird  weggegeben,  damit  es  begehrt  werden  kann,  es  ist  verloren,  so dass es gefunden werden kann.   Begehren  tritt  so  durch  den  Akt  einer  teils  absurd  kontingent  er‐ scheinenden  Limitierung  auf  den  Plan.  Begehren  als  Subjekt‐konsti‐ tuierende Komponente erscheint in dem Moment eines Verbots.37 Und  Lacan  wird,  wie  wir  noch  sehen  werden,  dieses  Verbot  fundamental  mit den Zehn Geboten in Verbindung bringen.  Lacan  verbindet  explizit  das  aufgegebene  Objekt  mit  dem  Objekt  der  Opferung  und  meint  damit  auch  die  religiöse  Opferung.  Daher  behauptet  er  auch,  dass  ein  Opfer  „keineswegs  seine  Bestimmung  in  der Opfergabe und auch nicht in der Gabe hat [...], sondern im Einfan‐ gen  des  Anderen  im  Netz  des  Begehrens.“38  Und  was  Lacan  dann  als  den  paradoxen  Opfertausch  gegenüber  Göttern  sagt,  betrifft  in  einem  gewissen Sinne auch das Subjekt. Das vom Subjekt auch transzenden‐ talphilosophisch  zu  verstehende  initiierte  Abgeben  begründet  das  Be‐ gehren des Subjekts genau in dem Ausmaße, dass es, wie Boothby sagt,  durch die Mediation des Objektes dem Begehren des großen Anderen  eine genaue Form gibt.39 „Die ganze Frage drehte sich darum, ob diese  Götter etwas begehrten. Das Opfer, es bestand darin, so zu tun, als ob  sie  begehrten  wie  wir,  und  wenn  sie  begehren  wie  wir,  hat  a  dieselbe  Struktur.  Das  bedeutet  nicht,  dass sie  das,  was  man ihnen  opfert,  ver‐                                36   Ebd.  37   Boothby:  „Desire  paradoxically  comes  into  being  in  and  through  its  limitation,  the  upsurge of desire is thus coincidence with its inhibition“ (Boothby, Freud as Philos‐ opher, S. 247).    38   Lacan, Die Angst, S. 348.   39   Boothby, Freud as Philosopher, S. 248.  

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zehren  werden,  noch  nicht  einmal,  dass  dies  ihnen  zu  irgendetwas  dienen  könnte;  das  Wichtige  ist,  dass  sie  es  begehren  [...].  Wenn  man  die  Götter  in  der  Falle  des  Begehrens  zähmt,  ist  es  wesentlich,  nicht  Angst zu erwecken.“40    Man  könnte  nun  fragen,  ob  Gesetzesvorschriften  im  Alten  und  Neuen  Testament  (Monogamie,  Askese,  Bilderverbot)  weniger  den  Sinn  haben,  unserem  Lustprinzip  Grenzen  aufzulegen,  als  vielmehr  Begehren  entstehen  zu  lassen,  um  es  dann  –  aufschiebend  und  einho‐ lend – zu beherrschen.41   Lacan scheint uns ähnlich wie Freud nahelegen zu wollen, dass nur  das  Verbot  uns  garantiert,  zu  begehren,  begehrens‐  und  kulturschaf‐ fende Wesen zu bleiben. Daher ist auch die Opferung entscheidend als  ein  Ritual  limitierbaren  und  kalkulierenden  Begehrens.  Es  scheint  ebenso, dass die inszenierte Genuss‐Limitierung durch das Gesetz bzw.  die  Gesetze  dabei  eine  strukturelle  Motivation  offenlegt,  nämlich  die  lebensförderliche  Illusion  eines  wahren  Genusses  zu  etablieren.  Vor  diesem  Zusammenhang  wird  auch  deutlich,  inwiefern  das  Theorem  Objekt klein a eine bedeutende Schnittmenge teilt mit Lacans, von Freud  übernommenen  Begriff  des  „Dings“.  Lacan  entfaltet  diesen  in  seinem  Seminar  VII  zur  Ethik  der  Psychoanalyse.42  Das  Ding  teilt  eine  große  Schnittmenge  mit  Objekt  klein  a,  weil  es  ein  analog  zu  verstehender  Grenzbegriff ist, der eine die Psyche des Menschen betreffende struktu‐ relle  Bedeutung  hat,  kein  empirisches  Objekt  ist  und  wesentlich  für  Lacan Gesetzeskraft strukturiert von einem verbotenen Ort phantasier‐ ter Fülle. „Dieses das Ding ist nämlich im Mittelpunkt just in dem Sinne,  dass es ein ausgeschlossenes ist.“43 Das Ding gehört nach Lacan zu ei‐ ner  Ordnung  des  Mangels,  die  strukturnotwendig  den  Menschen  als  ein von Begehren angetriebenes Wesen zugehört. Das Ding ist so etwas  wie  die  allegorische  Umschreibung  für  ein  verlorenes  Objekt,  das  an 

                               40   Lacan, Die Angst, S. 348f.   41   Vgl. dazu Lacans Paulus‐Adaptation in seinem Buch: Die Ethik der Psychoanalyse,  Das Seminar Buch VII, Weinheim/Berlin 1996, S. 104.   42   Er entnimmt diesen Begriff unter anderem Freuds Entwurf einer Psychologie aus dem  Jahr 1895.  43   Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, S. 89. Und Lacan fährt fort: „Das heißt, dass es  in  Wirklichkeit  als  ein  Außen  gesetzt  werden  muss,  dieses  das  Ding,  dieser  prä‐ historische Andere, der unmöglich zu vergessen ist, der, wie Freud behauptet, eine  notwendige erste Setzung ist, in der Form von etwas, das entfremdet, mir fremd ist,  aber  eben  durchaus  im  Mittelpunkt  dieses  Ichs  ist,  etwas,  das  auf  der  Ebene  des  Unbewussten allein von einer Repräsentation repräsentiert wird“(S. 89).  

 

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eine  ursprüngliche  Erfahrung  denken  lässt.44  Diese  mögen  wir  als  Kleinkind  an  der  schon  erwähnten  Mutterbrust  gehabt  haben.  In  die‐ sem Fall steht die Mutterbrust für eine Fülle, die uns in der – zur Auto‐ nomisierung  unseres  Selbst  –  notwendigen  Trennung  von  der  Mutter‐ brust  als  abwesender  und  doch  anwesender  Verlust  eingeschrieben  ist.45 Da wir nur durch die Trennung vom Mutterkörper in den Prozess  der Subjektivierung treten, ist die ursprüngliche Fülle aber eben keine  reale, sondern nur eine retrospektiv uns unbewusst umtreibende. Wer  von  uns  sehnt  sich  nicht  nach  dieser  Fülle,  in  der  wir  angeblich  wir  selbst  sein  können?  Das  Ding  ist  nun  für  Lacan  allegorisches  Sinnbild  eines  verbotenen  unzugänglichen  Bereichs,  der  unser  Begehren  struk‐ turell  regelt.  Das  Ding  ist  nicht  mit  einem  konkreten  Objekt  zu  ver‐ wechseln. Es ist wie Lacan sagt, jenseitig, aber eben nur strukturell be‐ dingt. In einer seiner typischen Worterfindungen nennt es Lacan „hors‐ signifié“,  es  ist  ein  „Signifikats‐Außerhalb“.46  Das  Ding  ist  daher  auch  nicht so etwas wie ein ursprüngliches Signifikat oder als eine ursprüng‐ liche platonische Idee zu verstehen, die wir irgendwie vergessen haben  und  an  die  sich  unser  Geist‐begabter  Seelenteil  erinnert.  Das  Ding  ist  etwas,  das  dem,  was  verloren  ist,  vorausliegt.47  Dem  Ding  liegt  nichts  voraus, außer der Verlust selbst. Das Ding – und das ist Bernard Baas’  These  –  ist  mit  einem  Terminus  von  Kant  gesagt  der  „focus  ima‐ ginarius“ des Begehrens. In diesem Sinne erfüllt es eine ähnlich struk‐ turelle Funktion wie der Begriff des Unbedingten in Kants Erkenntnis‐                                44   Lacan:  „Das  Ding,  das  ist  –  was  logisch  und  gleichzeitig  chronologisch  am  Aus‐ gangspunkt der Organisation der Welt im Psychismus – sich darstellt und abhebt als  der fremde Term, um den die ganze Bewegung der Vorstellung kreist, die Freud uns  als  von  einem  regulativen  Prinzip,  dem  sogenannten  Lustprinzip,  beherrscht  darstellt“ (Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, S. 73f.).     45   Lacan:  „Was  wir  im  Inzestgesetz  finden,  gehört  als  solches  auf  die  Ebene  des  unbewussten  Verhältnisses  zum  Ding.  Das  Begehren  nach  der  Mutter  ist  nicht  zu  befriedigen, weil es das Ende, den Endpunkt, das Auslöschen einer ganzen Welt des  Anspruchs  bedeutet,  der  Welt,  die  das  Unbewusste  des  Menschen  zutiefst  struktu‐ riert.  Das  ist  so  in  dem  Maße,  als  die  Funktion  des  Lustprinzips  macht,  dass  der  Mensch stets auf der Suche nach dem ist, was er wiederfinden soll, was er aber nicht  erreichen  kann.  [...]  Diese  metaphysische  Einsicht  wäre  nicht  der  Erinnerung  wert,  könnten  wir  sie  nicht  auf  der  Ebene  des  tatsächlichen  Diskurses  bestätigen  [...]  des  vorbewussten  oder  bewussten  Diskurses,  d.h.  des  effektiven  Gesetzes,  letztlich  dieser berühmten Zehn Gebote“ (Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, S. 85).     46   Ebd., S. 69.  47   Bernard  Baas:  „Wenn  es  Begehren  gibt  und  wenn  das  Begehren  alle  Umwege  der  Metonymie  von  Signifikanten  benutzt,  so  nicht  aufgrund  des  Verlustes  eines  wie  auch  immer  gearteten  Originals,  sondern  gerade,  weil  der  Verlust  selbst  der  Ursprung  ist“  (B.  Baas,  Das  reine  Begehren,  Berlin/Wien  1995,  S.  47).  Baas  inter‐ pretiert treffend Lacans Dingbegriff: S. 46ff.  

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lehre.  Ähnlich  wie  das  Unbedingte  ein  rein  denknotwendiger  Grenz‐ begriff ist, ist das Ding so etwas wie die Illusion einer Fülle hinter den  Grenzen  des  Gesetzes  von  Religion  und  Kultur  und  damit  die  Bedin‐ gung  der  Möglichkeit  des  Begehrens.  Wenn  man  versucht,  dem  Ding  eine mehr als regulative Form zu geben, dann – so Lacan – konstruiert  man einen Mythos. Und Lacan behauptet, dass z.B. Melanie Klein einen  solchen  Mythos  geschaffen  hatte,  als  sie  glaubte,  die  ursprüngliche  Symbiose  mit  der  Mutter  sei  wie  der  Ursprung  das  Ziel.  Der  Mythos  verkennt aber, so Lacan, dass es sich bei dem Ding nur um eine Begeh‐ ren‐bedingende  Leerstelle  handelt.  Lacan  artikuliert  also  seine  Lehre  von  einem  Begehren  aufgrund  eines  Mangels,  der  nie  eine  Fülle  war.  Das Ding ist daher nicht nur Bedingung unseres leider immer vergeb‐ lich bleibenden Begehrens, sondern es hat gleichzeitig eine gesetzliche  Ordnung:  es  garantiert  uns,  nicht  in  der  Natur  aufzugehen.  Es  garan‐ tiert uns als verbotenes Ding, Absurdes, Aberwitziges, Un‐ oder Über‐ menschliches begehren zu können: von der neuen Spiegelreflexkamera  zum Oberhemd, bis zum Tod am Kreuz.  Lacan behauptet in Anlehnung an Freuds Kulturtheorie, dass Reli‐ gion  und  moderne  nachchristliche  Kultur  genau  das  Gesetzesgeflecht  sind, welche uns die Sehnsucht nach dem Ding aufrechterhalten und es  zugleich  versagen  soll.  Nur  in  dieser  Zwangshaltung  zwischen  dem  Ding, das uns geraubt wurde als Erfüllung unserer intimsten Sehnsüch‐ te, und dem Ding, das wir ʹbloß nichtʹ berühren dürfen, – nur in dieser  Zwischenstellung leben wir glücklich.  Monotheistische  Religion  ist  nun  wesentlich  ein  –  durch  symboli‐ sche  Semantik  –  konstruiertes  Welterklärungsmodell,  das  genau  ver‐ sucht,  den Menschen  in diesem  Zwischenzustand zwischen  dem  Ding  als  absoluter  Wunscherfüllung  und  dem  Ding  als  absolutem  Tabu  in  einer  letztlich  gesunden  Balance  zu  halten.  Religion  lehrt  uns  durch  Versagung  und  Gesetz  zu  begehren,  was  als  solches  nur  eine  struktu‐ relle  Leerstelle  ist,  die  uns  als  phantasmatisch  untermalte  Fülle  den‐ noch  als  Vision  glücklich  macht.  Lacan  schreibt  direkt  auf  Paulus  Be‐ zug  nehmend:  „Ist  das  Gesetz  das  Ding?  Sicher  nicht.  Immerhin,  ich  hatte  Kenntnis  vom  Ding  nur  durch  das  Gesetz.  In  der  Tat,  hätte  ich  nicht  den  Gedanken  gehabt,  begierig  auf  es  zu  sein,  hätte  das  Gesetz  nicht gesagt – Du sollst es nicht begehren. [...] ohne das Gesetz ist das  Ding  tot.“48  Das  Gesetz  produziert  ein  aufschiebendes  Begehren,  das  uns  immer  wieder  den  Wiederholungszwang  einer  Rückkehr  auf  die‐ ses Gesetz hin implementiert. Das Verhältnis zum Gesetz des Verbotes  konstituiert ein Begehren, das immer in einer Wiederholung gefangen                                 48   Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, S. 104. 

 

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ist,  in  einem  Versuch,  das  Begehren  zu  meistern  und  zu  beherrschen.  Lacan: „Das dialektische Verhältnis von Begehren und Gesetz läßt unser  Begehren allein auflodern in einem Verhältnis zum Gesetz, durch das es  Todesbegehren wird.“49 Probleme tauchen dann auf, wenn das Subjekt  aufgrund irgendeiner Ver‐Rücktheit nicht in einer Lebens‐gedeihenden  Balance  bleibt/bleiben  möchte  und  dabei  sein  Leben  riskiert.  Oder  wenn es die symbolische Ordnung selbst zum Einsturz bringen möch‐ te,  indem  es  das  Ding,  die  Ursache  des  Begehrens,  mit  radikaler  Ent‐ schiedenheit verfolgt. Antigone ist für Lacan so eine Figur, die koste es,  was  es  wolle,  ihr  Begehren  durchzusetzen  versucht.50  Sie  will  –  mit  Lacan gesprochen – das Ding selbst. Sie will sich nicht mit metonymi‐ schen  Trostpreisen  abbringen  lassen  von  dem,  was  sie  begehrt:  eine  Beerdigung für ihren Bruder Polyneikes. Und so liegt ebenso die Asso‐ ziation  nahe,  dass  Antigone  gerade  durch  ihr  nicht  verhandelbares  Begehren  wie  eine  religiös  inspirierte  Persönlichkeit  erscheint.  Sind  nicht  viele  Heilige  wie  Ignatius  von  Loyola,  Jeanne  dʹArc,  Johannes  vom Kreuz, Teresa von Ávila ... et al. besessen von einem Drang nach  dem verbotenen Ding, der wahnsinnigen und gefährlichen Lebensfülle,  die  sie  für  orthodoxe  Vertreter  des  Dogmas  bedrohlich  und  suspekt  erscheinen lassen? Kultur und Religion streben nach Befriedigung und  Kontrolle  dieses  exzentrischen  Begehrens.  Das  Gesetzesgefecht  der  symbolischen Ordnung, in das der Mensch nach Lacan und Freud un‐ ter  anderem  durch  den  Ödipuskomplex  eintritt,  verbietet  das  Ding.  Es  bringt  so  eine  Metonymie  des  Begehrens  in  Spiel.  Das  Begehren  wird  abgelenkt:  Vom  Ding  weg  auf  Ersatzprodukte,  die  nie  das  einlösen  können, was das Ding zu versprechen scheint. Das Ding verweist aber  dabei,  wie  wir  gesagt  haben,  auf  einen  Nicht‐Ort,  etwas  Nicht‐Reprä‐ sentierbares,  um  das  herum  das  Imaginäre  seine  Realitätversion  kon‐ struiert.51 Das zeigt die folgende Grafik, die ich einem wertvollen Arti‐ kel von Fredrick Depoortere entnehme.                                              49   Ebd., S. 104.   50   Lacan erwähnt Antigone ausführlich in: Die Ethik der Psychoanalyse.   51   Für Lacan ist Kunst, wenn sie dieses Namens würdig ist, immer in einem ähnlichen  Sinn im Kontakt mit diesem Ding, dem Ding als dem verbotenen, nicht‐realen Objekt  jenseits der Signifikantenkette befasst. 

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Graphik 1: d = désir, $ = Lacans Begriff des durch eine Nicht‐Koinzidenz geprägten    Subjekts 

  Was dem Begehren unterliegt, ist die oben erwähnte notwendige Illusi‐ on, dass absolute Befriedigung doch möglich sei.52 Deswegen steht zwi‐ schen  dem  Gesetz  und  dem  Ding  der  breite  Balken der  Phantasie.  La‐ can  will  in  Anlehnung  an  Freud  offenlegen,  dass  nur  das  Verbot  uns  garantiert  zu  begehren,  begehrens‐  und  kulturschaffende  Wesen  zu  bleiben. Anders  gesagt:  Das  Gesetz  provoziert  die Phantasie,  dass  das  Ding nicht wirklich ein unmögliches Ding sei, sondern dass es lediglich  verboten  ist.  Weil  das  Gesetz  uns  das  Ding  verbietet;  oder  mit  Freud  gesagt: Weil der Ödipuskomplex uns aus der Dyade mit der Mutter in  die  angeblich  kompensatorische  Kulturproduktion  als  Zwangsjacke  unserer Libidobewältigung entlässt, bleibt der Mensch ein begehrendes  Wesen.  Alles  kann  Objekt  unseres  Begehrens  werden,  weil  wir  dem  mehr  oder  weniger  homöostatischen  Raum  des  Tieres  verschlossen  sind.  Dem  Tier  ist  das  Ding  ebenso  wie  Objekt  klein  a  epistemisch ver‐ schlossen,  weil  es  dem  Imaginären,  Symbolischen  und  Realen  ver‐ schlossen  ist.  Was  passieren  würde,  wenn  das  Gesetz  nicht  existierte,  beschreibt Freud in Jenseits des Lustprinzips: Der Kontakt mit dem Ding  wäre  menschliche  Existenz  vernichtend,  weil  es  keine  metonymische  Abbiegung  auf  „d“  gäbe  (vgl.  Graphik  2).  Der  Mensch  würde  seinen  Mangel  Phantasie‐  und  Begehrens‐vernichtend  wie  ein  Tier  oder  wie  eine  Maschine  zu  kompensieren  versuchen  und  dadurch  letztlich  sich  selbst  auslöschen.  Denn  nur  vom  Mangel  her  ist  der  Mensch.  Dieser                                 52   F.  Depoortere:  „[T]he  course  of  desire  is  sustained  by  the  illusion  that  full  satisfac‐ tion (the possession of the Thing) would be possible if only the Law did not prevent  it. Or, to put it differently, the law calls into being the fantasy that the Thing is not  really impossible, but only forbidden and fosters in this way the expectation that one  day possession of the Thing will become possible. it is this expectation, then, which  drives human culture [...]“ (F. Depoortere, „The End of Godʹs Transcendence? On In‐ carnation in the Work of Slavoj Žižek“, in: Modern Theology (October 2007), S. 497– 523, hier:  S. 508).  

 

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Mangel darf nicht durch das Ding gefüllt werden. Der Mensch wäre –  wenn er von seinem Mangel befreit wäre, Materie, nicht er selbst, eine  Maschine Gottes oder ein Tier.                     Graphik 2 

    Was  das  Gesetz  (die  symbolische  Ordnung,  die  religiöse  Norm,  die  Etikette, die uns nahelegt, ‚was man so tun darf‘) also leistet, ist, dass es  in einem gewissen Sinne die Phantasie provoziert, dass es da draußen  wirklich  etwas  absolut  Genuss‐  bzw.  Sinnvolles  gibt,  das  Ding.53  Das  Gesetz wird demnach, wie Depoortere treffend beschreibt, zur eigentli‐ chen Projektionsfläche der Phantasie, die den Menschen vom Ding auf  Distanz  hält,  gerade  weil  der  direkte  Kontakt  vernichtend  wäre.  Mit  den Worten Žižeks: „The Thing is nothing but its own lack, the elusive  spectre  of  the  lost  primordial  object  of  desire  engendered  by  the  symbolic  Law/prohibition  and  objet  petit  a.“54  So  verstanden  begegnet  uns das Ding – ebenso wie Objekt klein a – als eine Kluft im Zentrum der  symbolischen  Ordnung,  um  die  herum  diese  ihre  metonymischen  Be‐ wegungen  des  Begehrens  vollzieht.  Begehren  „humanisiert“  dort,  wo  es sich unendlich aufschiebt und nicht erfüllt.   Abschließend soll noch auf einige Anmerkungen Lacans zur Religi‐ on eingegangen und damit noch einmal die strukturellen Dimensionen  von Objekt klein a, metonymischem Begehren und dem Ding aufgezeigt  werden.  Teils  wurde  die  Frage  nach  dem  Begehren  schon  durch  das  Motiv des Opferns zu beantworten versucht, ebenso wie die These vom  heilsgeschichtlichen  Plot  zwischen  Alpha  und  Omega  als  dem  leis‐ tungsstarken Prozess eines unendlichen Aufschubs der konkreten Erlö‐ sung.  In  seinem  Seminar  XXI  (1973–74)  kommentiert  Lacan  die  Blind‐ heit  einer  atheistischen  Perspektive  auf  die  Religion,  indem  er  seinen  Zuhörern  gegenüber  provokant  behauptet:  „Ich  weiß  sehr  wohl,  dass                                 53   Ebd., S. 508.  54   S. Žižek, On Belief, London/New York 2001, S. 97.  

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        Dominik Finkelde   

 

Sie keine Gläubigen sind, nicht wahr? Aber das heißt nicht, dass gerade  Sie um so mehr verarscht werden [...] selbst wenn Sie keine Gläubigen  dieser  Hoffnung  [à  cette  aspiration]  sind,  werde  ich  Ihnen  im  Verlauf  dessen, was ich Ihnen heute darlegen werde, zeigen, dass sie an diese  Hoffnung  [à  cette  aspiration]  glauben.  Ich  möchte  nicht  behaupten,  dass  Sie  diese  Hoffnung  voraussetzen. Es  ist  vielmehr  umgekehrt:  sie,  diese  Hoffnung,  setzt  Sie  voraus.“55  Lacan  möchte  mit  dieser  Bemer‐ kung nicht behaupten, was heute unter christlichen Intellektuellen weit  verbreitet ist: dass atheistische oder glaubensindifferente Intellektuelle  –  heißen  sie  Dawkins,  Hawking,  Hitchens  oder  Dennet  etc.  –  in  ihren  innersten  Sehnsüchten  eigentlich  doch  religiöse  uneingestandene  Grundbedürfnisse haben, die sie sich einfach nicht eingestehen können.  Lacan  behauptet  stattdessen  etwas  viel  Radikaleres:  nicht  die  Inner‐ lichkeit des Subjekts glaubt an Gott, sondern die symbolische Ordnung  hat  in  dieser  Innerlichkeit  immer  schon  einen  archimedischen,  meta‐ physischen Punkt im Subjekt, weil das Subjekt nur in der Appellstruk‐ tur  einer  überdeterminierten  und  somit  zwangsweise  metaphysischen  Matrix  zu  sich  selbst  kommt.  Das  betrifft  Lacans  berühmtes  Diktum,  dass  das  Unbewusste  kein  Hort  der  Innerlichkeit,  sondern  vielmehr  eine  überdimensionierte  Struktur  zwischen  Innerlichkeit  und  Äußer‐ lichkeit selbst ist. Hinter dem Wort Gott verbirgt sich so notwendig die  Frage:  Was  kann  ich  tun,  um  dem  Begehren  des  großen  Anderen  und  durch  dieses  meinem  eigenen  gerecht  zu  werden.  Und  diese  Frage  ist  für  Lacan  besonders  virulent  im  Gottesbild  der  jüdisch‐christlichen  Tradition als der zentralen  Schnittstelle zur Moderne, von der die Auf‐ klärung  nicht  loskommt.  Hegel  hatte  dieselbe  Intuition,  als  er  das  Christentum  mit  dem  eigentlichen  Beginn  der  Moderne  im  Bild  der  singulären  Universalität  des  Gottessohnes  gleichsetzte.  Was  kann  ich  tun,  damit  der  große  Andere  –  mag  er  Gott  sein,  oder  wer  oder  was  auch  immer  –  mich  als  kontingentes  und  dennoch  absolut  singuläres  Subjekt  annimmt,  liebt,  würdigt,  etc.  Lacans  berühmtes  „Que  vuoi?“  steht für dieses Begehren nach Singularität und Universalität in einem.  Das säkulare Subjekt der europäisch‐christlich metaphysischen Moder‐ ne ist für Lacan (und ebenso für Pierre Legendre) so immer schon das                                 55   Lacan: „Je sais bien que vous nʹêtes pas croyants, nʹest‐ce pas ? Mais vous êtes encore  plus  cons,  comme  jʹai  déjà  eu  lʹoccasion  de  vous  le  dire  la  dernière  fois,  parce  que,  même  si  vous  nʹêtes  pas  croyants,  à  cette  aspiration,  je  vous  le  montrerai  tout  au  cours de ce que je vais vous dire aujourdʹhui, à cette aspiration, vous y croyez. Je ne  dirai pas que vous la supposez: elle vous suppose.“ 18. Dezember 1973. Das Seminar  ist  nicht  übersetzt  und  auch  in  der  französischen  Mitschrift  zurzeit  nur  online  zugänglich:  http://espace.freud.pagesperso‐orange.fr/topos/psycha/psysem/nondup/  nondup4.htm 

 

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durch dieses eruptive Fragen nach der Singularität produzierte Subjekt.56  Wie  Kenneth  Reinhard  und  Julia  Lupton  Reinhard  aufzeigen,  ist  die  traumatische  Singularität  des  modernen  Subjekts  für  Lacan  dabei  we‐ sentlich  eine,  die  erst  der  jüdisch‐christliche  Diskurs  möglich  gemacht  hat.  Die  Gesetze,  Narrative  und  Symbole  des  Monotheismus  liefern  Schlüsselphantasien von der Singularität des Person‐Seins, von Nation  und dem Begriff des Nachbarn. Religion spricht daher weiterhin auch  durch die angebliche Säkularität des modernen Subjekts ihren Diskurs.  Daher  auch  Lacans  Verweis  darauf,  dass  seine  angeblich  aufgeklärten  Hörer  „verarscht“  werden,  wenn  sie  glaubten,  dass  es  keinen  großen  Anderen gäbe, der mit ihnen und durch sie lebt und genießt. Und La‐ can geht sogar so weit zu behaupten, dass die säkulare Gesellschaft nie  herauskommen  kann  aus  diesem  Bann,  weil  der  große  Andere  immer  mit  von  der  Partie  sein  wird.  In  Lacans  Formulierung  glaubt  deshalb  der Monotheismus durch die Moderne an dieses Subjekt der Moderne,  weil in  diesem  Subjekt  genau  die Phantasien  weiterleben,  unabhängig  davon,  ob  die  verschiedenen  Volkskirchen  ihre  Mitglieder  verlieren  oder  nicht.  Der  monotheistische  Gott  sei  gerade  in  Abgrenzung  zur  griechischen Götterwelt genau dieser Gott einer traumatischen Singula‐ rität.  Seine  Zehn  Gebote  markierten  die  „Distanz  des  Subjekts  zum  Ding“,57  als  Bedingung  moderner  Subjektivität.  Weil  es  dort  ist  und  verboten,  begehrt  der  Mensch.  In  seiner  entschiedenen  Denkform  von  Singularität,  Auserwählung  und  einmaligem  Bund  vereitle,  wie  Ken‐ neth Reinhard und Julia Reinhard Lupton hervorheben, der Monothe‐ ismus jede griechisch‐philosophische Theoretisierung des Einen, wie es  im hellenistischen Judentum, in Teilen der Paulinischen Theologie oder  im  arabischen  Aristotelismus  vorherrscht.58  Lacan  erwähnt  überhaupt  das  monotheistische  Projekt  der  gedachten  Singularität,  indem  er  in  seinem Seminar XIX darauf insistiert, dass es „da das Eine gebe“. Aber  wenn  er  von  dem  Einen  spricht,  dann  ist  damit  nicht  das  selbst‐ identische Eine der griechischen Philosophie gemeint, sondern das Eine  steht  hier  als  Synonym  eines  gewaltsamen  Einbruchs,  der  gerade  als  Einbruch  Subjekte  kreiert  und  Welten  um  eine  Leerstelle  entstehen  lässt.59 In dem Sinne stellt sich Lacan der Interpretation von Freud zur  Religion entgegen. Er widerspricht (indirekt) der Vorstellung, Religion  hätte nur eine Funktion in der Formation sozialer Strukturen. Religion                                 56   Vgl.  K.  Reinhard,  J.  Reinhard  Lupton,  „The  Subject  of  Religion.  Lacan  and  the  Ten  Commandments“, in: Diacritics (Summer 2003), S. 71–97.   57   Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, S. 87.   58   Vgl. Reinhard/Reinhard Lupton, Lacan and the Ten Commandments, S. 71.   59   Ebd. 

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grenzt sich für Lacan gerade von Kultur ab, indem sie die Distanz zum  Ding  aufreißt.  Das  Subjekt  entdeckt  am  Gesetz  dasjenige,  „was  sein  Verhalten  so  artikuliert,  dass  das  Objekt  seines  Begehrens  für  es  stets  auf  Distanz  bleibt.  Diese  Distanz  ist  keine  vollkommene,  es  ist  eine  intime  Distanz.“60  Die  Zehn  Gebote,  zusammen  mit  dem  Gebot  der  Nächstenliebe, dem „ungeschriebenen Gesetz“, dem sich Antigone ver‐ pflichtet fühlt, bekommen zusammen mit Kants kategorischem Impera‐ tiv in Lacans Seminar VII eine radikale Sublimierungsform, die für La‐ can  ihren  Wert  bekommt,  wo  sie  auch  in  Radikalität  dem  realen  So‐ zialleben  entgegensteht.  Schon  Freud  erwähnt  in  Das  Unbehagen  der  Kultur seine Befremdung gegenüber dem Gebot der Nächstenliebe. Das  Gesetz in seiner teilweise abstrakten Normativität wirkt unheimlich in  seiner  Proximität  zum  Ding  wenn  es,  wie  Lacan  schreibt,  „auf  dem  höchsten Punkt des ethischen Gebots auf so seltsame, nach dem Emp‐ finden einiger so skandalösen Weise schließt, indem es sich in der Form  des Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst artikuliert.“61 Religion  fordert  so  eine  Ethik,  die  jenseits  der  Tatsache  steht,  dass  es  soziale  „Pflichten  gibt  oder  ein  Band,  das  das Gesetz  der  Gesellschaft  knüpft,  ordnet und herstellt.“62 Die Ethik ökonomischer Zweckbeziehungen ist  das Eine, aber das Ethische „fängt noch weiter jenseits [der Gesetze der  Gesellschaft, D.F.] an. Sie fängt an in dem Augenblick, wo das Subjekt  die  Frage  nach  dem  Gut“63  als  einem  jenseitigen  Gut  stellt.  Kultur  müsste Religion werden, wenn sie genau selbst eine semantische Spra‐ che  für  diesen  Einbruch  des  Singulären  nachträglich  neuartikulieren  will.  Und  vielleicht  gelingt  ihr  das  auch  eines  Tages.64  Daher  ist  der  folgende  Gedanke  wichtig,  den  schon  Jacob  Taubes  erwähnt.  Auch  wenn  Religion  als  Teil  der  sozialen  Interaktion  verstanden  werden  kann,  so  kann  Kultur  gerade  auch  als  die  Gegenstrategie  verstanden  werden,  die  versucht  das  exzessive  Moment  der  Religion  unter  Kon‐ trolle zu halten. Lacan sah im Dekalog einen grundlegenden Text in der  Formation  des  modernen  Subjekts,  gerade  weil  er  die  abstrakte  Form  schlichter Normen ist. Das Gesetz setzt das Ding und damit das Subjekt  vor ein Jenseitiges, das es nicht mehr in seinem eigenen Hoheitsbereich,  der  Lebenswelt  und  der  Kultur,  einholen  kann.  Lacan  präsentiert  im                                 60   61   62   63   64  

Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, S. 95.   Ebd.  Ebd., S. 94.   Ebd.  Vielleicht  wäre  die  Scientology‐Kirche  als  ein  solcher  Versuch  zu  betrachten;  even‐ tuell  die  einzige  Kirche,  die  ihr  fundamentum  in  re  durch  ihren  Gründer  in  einer  Science Fiction Tradition verankert.  

 

Lacan und das Begehren 

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Seminar VII den Dekalog in einer eigenwilligen Kombination mit Kants  moralischem  Gesetz  als  eine  moderne  Subjektivität  begründende  Ent‐ fremdung  des  Subjekts  durch  einen  Herrensignifikanten  (einem  über‐ determinierten  Bedeutungsträger)  und  verweist  dabei  auf  die  „Bedin‐ gung  des  Sprechens“65:  Der  Dekalog  markiert  einen  Grenzstein  in  der  Geistigkeit  durch  die  (traumatisierende,  Lebenswelten  in  ihrer  Natür‐ lichkeit  zerreißende)  Differenz  zu  einem  begehrten  und  verbotenen  Jenseitigen. In dieser Abstraktion liegt gerade der Wert gegen ein Ver‐ bleiben im ikonographischen Genießen am Imaginären und Bildlichen.  Der  Dekalog  markiert  durch  seine  permanente  Überforderung  eine  neue  Radikalität  des  Menschen  in  der/seiner  Welt  symbolischer  For‐ men,  selbst  wenn  –  oder  gerade  wenn  –  dadurch  seine  Exzentrizität  noch umso schmerzhafter zum Ausdruck kommt.   

                               65   Lacan,  Die  Ethik  der  Psychoanalyse,  S.  85.  Was  Lacan  am  Dekalog  hervorhebt,  thematisiert Jan Assmann in einem breiteren Kontext seines Buches: Die Mosaische  Unterscheidung:  oder  der  Preis  des  Monotheismus.  München/Wien  2003.  Für  Ass‐ mann  markiert  die  Mosaische  Unterscheidung  den  abrupten  Einbruch  einer  bis  dahin  in  der  polyvalenten  Götterwelt  der  Antike  unbekannten  radikalen  Norma‐ tivität.  Assmann  sieht  jedoch  das  jüdisch‐christliche  Erbe  sehr  viel  kritischer  als  Lacan dies tut.   

Das Ur‐Ich und die Ich‐Idee / Gingen selbander im grünen Klee:  Die Ichidee fiel hin ins Gras / Das Ur‐Ich wurde vor Schreck ganz blaß.  Da sprach das Ur‐ zur Ichidee: / „Was wandelst du im grünen Klee?“  Da sprach die Ichidee zum Ur‐: / „Ich wandle nur auf deiner Spur.“ –  Da, Freunde, hub sich große Not: / Ich schlug mich gegenseitig tot.  Jakob van Hoddis1    Die Innen und die Außenwelt, / die warn mal eine Einheit.  Das sah ein Philosoph, der drang / erregt auf Klar‐ und Reinheit.  Die Innenwelt, / dadurch erschreckt, / versteckte sich in dem Subjekt.  Als dies die Außenwelt entdeckte, / verkroch sie sich in dem Objekte.  Der Philosoph sah dies erfreut: / indem er diesen Zwiespalt schuf,  erwarb er sich für alle Zeit / den Daseinszweck und den Beruf.  Robert Gernhard2 

       

Das liminale Subjekt     

Modelle der Subjektivierung im Neuen Testament    CHRISTIAN STRECKER   

Der (Aus‐)Weg in die humorvolle Satire liegt verführerisch nahe, sucht  man  sich  in  den  scheinbar  unendlich  verzweigten  Verästelungen  des  Diskurses über das Subjekt in der abendländischen Geschichte irgend‐ wie  zurechtzufinden.  Bedeutungsschwer  und  kaum  zu  überblicken  sind  all  die  zahlreichen  Reflexionen  und  Gedanken  über  das,  was  ein  Subjekt  vermeintlich  konstituiert,  was  es  im  Innersten  zusammenhält  oder  auch  spaltet,  vielgestaltig  und  umstritten  sind  die  Thesen  vom  Auftauchen und vom Verschwinden des Subjekts in der Geschichte des  Menschen, schillernd die vielen Kontexte, in die man das Subjekt maß‐ geblich eingelassen und eingebunden sieht, mannigfaltig all die postu‐ lierten  komplexen  Überschneidungen  mit  und  Abgrenzungen  gegen‐ über  den  Konzepten  des  Individuums,  des  Selbst,  der  Person,  der                                 1  2 

J.  van  Hoddis,  Galgenlied,  in:  ders.,  Dichtungen  und  Briefe,  hg.  v.  R.  Nörtemann,  Göttingen 2007, 63.  R.  Gernhard,  Philosophie‐Geschichte,  in:  ders.,  Gedichte.  1954–1994,  Zürich  1996,  106. 

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Christian Strecker 

Identität, des Objekts, des/r Anderen. In Anbetracht all der tiefgründi‐ gen Argumentationen, Spekulationen und Behauptungen, die der Sub‐ jektdiskurs  im  Laufe  der  Zeit  hervorgebracht  hat,3  scheut  man  davor  zurück, die Stimme zu diesem Thema zu erheben, noch dazu, wenn es  um die Auslegung und das Verständnis von Texten geht, die lange Zeit  vor dem Aufkommen all jener komplexen philosophischen und sozial‐ wissenschaftlichen  Hypothesen  und  Modellbildungen  entstanden,  die  die wissenschaftliche Rede vom Subjekt heute maßgeblich prägen. Die  folgenden  Ausführungen  wollen  sich  gleichwohl  der  Aufgabe  stellen  und, wenn auch nicht nach „dem Subjekt“, so aber doch nach Modellen  der  „Subjektivierung“  in  den  Texten  des  Neuen  Testaments  fragen.  Dabei kann es sich in Anbetracht der besagten Intrikatheit des Themas  um nicht mehr als um einige notgedrungen fragmentarische Erwägun‐ gen  handeln.  Diese  werden  in  zwei  Schritten  dargeboten.  In  einem  ersten  Schritt  sollen  zunächst  einige  allgemeine  Überlegungen  zum  Begriff  des  Subjektes  und  der  Subjektivierung  dargeboten  werden.  In  einem zweiten Schritt werden dann in einigen groben Zügen drei Mo‐ delle  bzw.  Aspekte  der  Subjektivierung  im  Neuen  Testament  vorge‐ stellt: die Subjektivierung als Ereignis, die Subjektivierung im Ruf und  die  Subjektivierung  aus  dem  Schmerz.  Das  aus  diesen  Subjektivie‐ rungsprozessen hervorgehende Subjekt wird in allen Fällen mehr oder  weniger  als  ein  sich  den  geläufigen  gesellschaftlichen  Subjektivie‐ rungsweisen entziehendes liminales Subjekt sichtbar werden. 

1. Subjekt – Subjektivierung  Ohne genauer ins Detail gehen zu können, seien zunächst einige weni‐ ge  Schlaglichter  auf  die  vielfältigen  Inhalte  und  Konturen  des  viel‐ schichtigen  Begriffs  „Subjekt“  geworfen.  Bekanntlich  erfuhr  dieser  in  der  Neuzeit,  näherhin  in  der  Zeit  zwischen  René  Descartes  und  Gott‐ fried  Wilhelm  Leibniz,  einen  manifesten  Bedeutungswandel.  So  stand  der  von  Martianus  Capella  und  Boethius  im  5./6.  Jh.  als  lateinische  Übersetzung  des  griechischen  Begriffs  u`pokei,menon eingeführte  Termi‐ nus subiectum in der antiken und mittelalterlichen Philosophie zunächst  für das Zugrundeliegende im Sinne eines Seins, das Träger von Eigen‐ schaften  und  Qualitäten  ist.  Die  Vokabel  subiectum  konnte  so  nahezu  als Synonym des Substanzbegriffs gebraucht werden. In der nachcarte‐                                3 

Vgl.  dazu  nur  die  zahlreichen  Einträge  unter  den  Stichworten  „Subjekt“,  „Subjekt,  transzendentales“,  „Subjekt/Objekt;  subjektiv/objektiv“,  „Subjekt/Prädikat“,  „Sub‐ jektivität“, „Subjektivität, transzendentale“ in: HWP 10 (1998), 373–473. 

 

Das liminale Subjekt 

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sianischen Zeit löste sich der Subjektbegriff indes aus dieser Nähe zum  Substanzbegriff und markierte mehr und mehr das geistige Wesen des  denkenden  und  sich  seiner  selbst  bewussten  sowie  seiner  selbst  ver‐ antwortlichen Ichs. Der Subjektbegriff stand nun für „etwas, dem men‐ tale und insbes. intentionale Eigenschaften … zukommen und das über  Selbstwissen sowie über die Fähigkeit zur Selbstbestimmung verfügt“4.  Von  früher  Zeit  an  waren  dem  Subjektbegriff  freilich  weitere  Bedeu‐ tungsaspekte  immanent,  die  ungeachtet  diverser  Bedeutungsverschie‐ bungen  und ‐variationen  im  Detail  bis heute  nachwirken,  nämlich  die  logische  und  zumal  sprachlich‐syntagmatische  Bedeutung  des  Sub‐ jekts,  von  dem  das  Prädikat  ausgesagt wird, dann  das Subjekt  als  Ge‐ genstand  einer  Diskussion  bzw.  Wissenschaft  (im  Englischen  noch  heute „subject“) und schließlich das Subjekt als unterworfene, suspekte  Person.  Andreas  Schmidt  fasst  die  Bedeutungskomponenten  des  älte‐ ren Subjektbegriffs dementsprechend insgesamt wie folgt zusammen:   „Im  älteren  Sprachgebrauch  versteht  man  unter  S.  (i)  logisch  den  Gegen‐ stand  eines  Urteils,  das,  von  dem  etwas  prädiziert  wird  (subiectum  praedicationis); (ii) ontologisch: das Zugrundeliegende, oft gleichbedeutend  mit Substanz (subiectum inhaesionis) und in der Regel, aber nicht zwingend,  als  Träger  von  Eigenschaften  begriffen;  (iii)  wissenschaftstheoretisch:  den  Gegenstand einer Disziplin (subiectum occupationis); (iv) politisch: den Un‐ tertan,  denjenigen,  der  einer  Autorität  unterworfen  ist  (‚subiectum  est  quod paret Domino suo‘).“5  

Darüber hinaus gilt es zu sehen, dass sich der neuzeitliche, primär auf  das  Cogito‐Subjekt  fokussierte  Sprachgebrauch  ebenfalls  in  eine  Fülle  weiterer Bedeutungskomponenten und ‐aspekte ausdifferenzierte. Joël  Biard  nennt  in  seinem  Lexikonartikel  folgende  Aspekte,  die  sich  pro‐ blemlos noch erweitern ließen:   „Vom Gesichtspunkt des aktiven Handelns her betrachtet, ist das S. der Ort  des Willens und der freien Entscheidung. In der Psychologie sowie in der  Psychoanalyse  ist  das  S.  das  menschliche  Wesen  bezüglich  seiner  psychi‐ schen Aspekte betrachtet, seien sie bewußt oder unbewußt. In der Soziolo‐ gie, in der politischen Philosophie oder in der Rechtsphilosophie ist das S.  zunächst das einer Autorität unterworfene Individuum, doch ist es im Sin‐ ne  eines  ‚Rechtssubjektes‘  auch  Individuum  oder  moralische  Person,  wel‐ che  ein  Recht  besitzt  und  ausübt.  In  der  Geschichtsphilosophie  ist  das  S.  wirkende Kraft der Geschichte, welches sich als Individuum, als Kollektiv, 

                               4  5 

A.  Schmidt,  Art.  „Subjekt“,  in:  Enzyklopädie  Philosophie  3  (2010),  2632–2637,  hier  2632.  Schmidt, Subjekt, 2632. Das lateinische Zitat in der letzten Klammer entstammt dem  1613 erschienenen Lexicon Philosophicum von R. Goclenius. 

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als Gesamtheit der Menschheit oder aber als metaphysische Realität durch  die Geschichte hindurch verwirklicht.“6 

Überblickt  man  all  diese  Bedeutungskomponenten,  so  wird  deutlich,  dass  dem  nach  landläufiger  Anschauung  vermeintlich  auf  Integration  und Einheitlichkeit hin angelegten Subjektbegriff eine manifeste Ambi‐ valenz  eingeschrieben  ist.  Schon  von  seiner  sprachlichen  bzw.  etymo‐ logischen Grundlage her (u`pokei,menon, subiectum) verweist er sowohl auf  das Zugrundeliegende, Substanzhafte und konstitutiv Feststehende als  auch  auf  das  Untergeordnete,  Unterworfene  und  Preisgegebene.  So  konnten sich an ihm gleicherweise die Konnotate des Autonomen und  Souveränen wie auch des Heteronomen und Passiven festmachen.7 Der  Subjektbegriff  entzog  und  entzieht  sich  dergestalt  schon  von  seiner  sprachlichen Basis her allen einseitigen Synthetisierungs‐ und Zentrie‐ rungsversuchen.  Er  ließ  und  lässt  sich  mit  anderen  Worten  nicht  schlüssig  auf  einen  wie  auch  immer  gearteten  irreduziblen  Bedeu‐ tungskern  zurückstutzen.  Vielmehr  ist  ihm  rundweg  das  Moment  der  Differenz  eingeschrieben,  nämlich  der  Differenz  von  Autonomie  und  Heteronomie,  Aktivität  und  Passivität,  Souveränität  und  Unterwer‐ fung.  Nichtsdestotrotz  kaprizierte  sich  der  neuzeitlich‐moderne  Dis‐ kurs  einseitig  auf  das  Verständnis  des  menschlichen  Subjekts  als  sou‐ verän  agierendes,  selbstbestimmtes,  selbsttransparentes,  die  Wirklich‐ keit bearbeitendes und transformierendes Ich. Ja, im Zuge des mit der  Aufklärung  heraufziehenden  Akzeptanzverlustes  theologisch‐religiö‐ ser  Gewissheiten  und  der  damit  einhergehenden  prekären  Kontin‐ genzbedrängnis rückte das Subjekt letztlich genau in jene Leerstelle ein,  die  die  traditionelle,  nun  aber  entlegitimierte  metaphysische  Fundie‐ rung  der  Wirklichkeit  in  Gott  hinterließ.  Die  aufgeklärte  Diskreditie‐ rung des althergebrachten Zutrauens in die göttliche Verankerung und  Gründung der Welt öffnete dem menschlichen Subjekt so genau jenen  Spielraum,  dessen  es  bedurfte,  um  sich  als  neues  verlässliches  Funda‐ ment  der  Wirklichkeit  –  quasi  als  „anthropozentrisches  Ebenbild  des  göttlichen  Subjekts“8  –  auf  breiter  Ebene  durchzusetzen.  Die  bislang  göttlich gesicherte Außenfundierung der Welt wurde solcherweise nun  gleichsam nach innen, nämlich in das über alle Empirie hinausgehende  transzendentale  Bewusstsein  des  „Ich  denke“  verlegt,9  also  in  jenes                                 6  7  8  9 

J.  Biard,  Art.  „Subjekt“,  in:  Europäische  Enzyklopädie  zu  Philosophie  und  Wissen‐ schaften 4 (1990), 474–480, hier 474.  Vgl. dazu Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur  marxistischen Theorie, Hamburg/Berlin 1977, 148.  P.V. Zima, Theorie des Subjekts, Tübingen/Basel 2000, 86.  Vgl.  dazu  N.  Luhmann,  Soziale  Systeme.  Grundriß  einer  allgemeinen  Theorie,  Frankfurt a.M.  41994, 649; s. ferner B. Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, Frankfurt 

 

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selbstzentrierte  Subjekt  des  cogito,  das  mit  René  Descartes,  Immanuel  Kant und der ihm folgenden idealistischen Philosophie zur unumstöß‐ lichen  Keimzelle  des  Wirklichen  und  Wahren  avancierte  und  so  die  Anthropologie  zum  neuzeitlichen  Paradigma  schlechthin  erhob.10  Die  Kehrseite dieser im denkenden Bewusstsein erlangten Souveränität des  Vernunftsubjekts  war  ein  bedenklicher  philosophischer  Autismus,  ein  „transzendentaler Narzissmus“, wie Foucault schrieb,11 der sein Gegen‐ teil,  das  Andere  der  Vernunft,  den  Körper,  die  Materie,  die  Gefühle  und  den  Wahnsinn  als  ein  dem  cogito  gegenüber  Fremdes  ausschloss  (totschwieg), einschloss (domestizierte) oder wegschloss (kasernierte).12  Die  im  und  seit  dem  20.  Jh.  verstärkt  aufkommende  Subjektkritik  setzte und setzt u.a. an diesem Punkt an, insofern sie nachdrücklich die  Momente  der  Heterogenität,  Passivität,  Unterordnung,  Fremdheit,  Materialität,  Körperlichkeit,  Emotionalität  und  des  Begehrens  in  das  Subjekt  reinskribierte  und  darin  die  vermeintliche  Autonomie,  Selbst‐ transparenz, Objektdistanz und Einheitlichkeit des erhabenen Subjekts  der Moderne destruierte.13 Im Groben lassen sich zwei basale Entwick‐ lungslinien dieser Kritik am autonomen Subjekt unterscheiden, die hier  nur genannt, aber nicht weiter erläutert und vertieft werden können:14  Zum  einen  jene  Kritik,  die  stärker  auf  einen  in  der  Sprache  bzw.  im  Bewusstsein  verankerten  Zerfall  des  in  sich  konsistenten  Subjekts  ab‐                               

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a.M.  1987,  118ff.  Ch.  Taylor,  Quellen  des  Selbst.  Die  Entstehung  der  neuzeitlichen  Identität, Frankfurt a.M.  31999, 235ff. sieht den Weg in die Innerlichkeit im Sinne ei‐ nes  „Proto‐Cogito“  –  freilich  unter  Beibehaltung  des  Gottesglaubens  –  bereits  bei  Augustinus angelegt.   Vgl.  M.  Foucault,  Die  Ordnung  der  Dinge.  Eine  Archäologie  der  Humanwissen‐ schaften, Frankfurt a.M. 71988, 412: „Die Anthropologie bildet vielleicht die grundle‐ gende  Position,  die das philosophische Denken von Kant bis zu uns bestimmt  und  geleitet hat.“ Die Rückführung auf Kant trifft insofern, als der ältere Diskursbegrün‐ der  der  neuzeitlichen  Subjektphilosophie,  Descartes,  die  Existenz  eines  eingreifen‐ den Gottes noch unmittelbar einkalkuliert. Näheres dazu bei Zima, Theorie, 94ff.  M. Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 71995, 289.  Vgl. dazu M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im  Zeitalter  der  Vernunft,  Frankfurt  a.M.  152003;  ders.,  Die  Ordnung  der  Dinge.  Eine  Archäologie  der  Humanwissenschaften,  Frankfurt  a.M.  122012;  ders.,  Überwachen  und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.  182012 und H. Böhme / G.  Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am  Beispiel Kants, Frankfurt a.M. 1983.  Vgl. zu dieser Kritik in aller Kürze Schmidt, Subjekt, 2633–2635.  Diese  Unterteilung  orientiert  sich  an  Zima,  Theorie,  193.237  u.ö.  Etwas  andere  Ak‐ zente setzen Reiner Keller / Werner Schneider / Willy Viehöver, Theorie und Empirie  der Subjektivierung in der Diskursforschung, in: dies. (Hg.), Diskurs – Macht – Sub‐ jekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung, Wiesbaden  2012, 7–20, hier 13f.  

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hebt. Hier lässt sich eine Linie zurückverfolgen, die von Jacques Derri‐ das Zersetzung individueller Subjektivität angesichts der Prozesse von  Iterabilität  und  différance,  über  Jacques Lacans  strukturalistische  These  vom sprachförmig geprägten Bewusstsein und der darin eingelagerten  Subjektspaltung  zwischen  je  und  moi  bis  hin  zu  Sigmund  Freuds  be‐ kannter Einsicht, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist, zurück‐ reicht. Zum anderen lässt sich eine Linie erkennen, die stärker den As‐ pekt  der  praktischen,  körperlichen  Unterwerfung  des  Subjekts  unter  die Strukturen der Ideologie, des Diskurses und der Macht betont. Die‐ se  Linie  reicht  von  Michel  Foucaults  machtanalytischen  Untersuchun‐ gen unterschiedlichster Subjektivierungsprozesse über das strukturalis‐ tisch‐marxistische Interpellationstheorem Louis Althussers bis auf Karl  Marx’  berühmte  Entfremdungstheorie  zurück.  Beide  Linien  berühren  und überschneiden sich in vielfältiger Weise. Judith Butler ist vielleicht  diejenige  Theoretikerin,  die  beide  Stränge  am  originellsten  und  über‐ zeugendsten ineinander  verzahnt,  indem  sie in ihrem  am  Konzept  so‐ matischer  und  sprachlicher  Performativität  ausgerichteten  Subjektmo‐ dell  gleichermaßen  Derrida  und  Foucault,  Lacan  und  Althusser  und  diese  zusammen  mit  Freud  ins  Spiel  bringt.15  Darauf  kann  und  muss  hier  nicht  näher  eingegangen  werden  –  ein  kurzer  Rekurs  auf  Butler  wird gleichwohl weiter unten noch folgen –, ebenso wenig auf die weit‐ aus älteren Hinterfragungen, Entwertungen und Dekonstruktionen au‐ tonomer  Subjektivität  bei  Georg  Christoph  Lichtenberg  („es  denkt“),16  Arthur  Rimbaud  („Je  est  un  autre“)17  oder  Friedrich  Nietzsche  (das  Subjekt als „Verführung der Sprache“ und die Hinterfragung noch des  „es“ in „es denkt“)18 und bei vielen anderen.19                                 15  Vgl. J. Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001.  Wesentliche Aspekte der Subjekttheorie Butlers bündelt A. Reckwitz, Subjekt, Biele‐ feld 22010, 81–95.  16  Vgl. G.Chr. Lichtenberg, Sudelbücher II, Materialhefte, Tagebücher, in: ders., Schrif‐ ten  und  Briefe  II,  München  1971:  „Es  denkt,  sollte  man  sagen,  so  wie  man  sagt:  es  blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt. Das  Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis“; s. auch J.L. Borges, Ma‐ gische  Sachlichkeit,  in:  H.  Radermacher,  Kant,  Swedenborg,  Borges,  Berlin  /  Frank‐ furt a.M. / New York 1986, 71–84, hier 78.  17  Vgl.  dazu  G.  Steiner,  Von  realer  Gegenwart.  Hat  unser  Sprechen  Inhalt?,  München  1990, 134ff.; Hagenbüchle, Subjektivität, 54f.  18  Vgl.  F.  Nietzsche,  Zur  Genealogie  der  Moral  1,13  (KSA  5,279f.);  ders.,  Jenseits  von  Gut und Böse 7 (KSA 5,30f.).  19  Zu den mannigfaltigen Keimen der Selbstauflösung des Subjekts von der Romantik  bis ins 20. Jh. vgl. insgesamt R. Hagenbüchle, Subjektivität. Eine historisch‐systema‐ tische Hinführung, in: R.L. Fetz / R. Hagenbüchle / P. Schulz (Hg.), Geschichte und  Vorgeschichte der modernen Subjektivität I (European Cultures  11.1), Berlin / New 

 

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Von  besonderer  Relevanz  für  eine  historische  Untersuchung  sind  nun  freilich  zweifelsohne  die  subjekttheoretischen  Überlegungen  Michel  Foucaults,  ersetzte  er  doch  die  klassische  Frage  nach  dem  universellen  Subjekt konsequent durch die Analyse der sich wandelnden historisch‐ kulturellen  Bedingungen  und  Prozeduren  der  Hervorbringung  und  Formung von Subjekten unterschiedlichster Art („Subjektivierungen“).  Foucaults  Überlegungen  sollen  daher  im  Folgenden  etwas  genauer  betrachtet  werden.  Wie  er  selbst  herausstellte,  durchzieht  das  Thema  „Subjekt“  sein  gesamtes Werk.20  Mit  seinem  berühmten  Schlusssatz  in  „Die  Ordnung  der  Dinge“  prägte  er  im  Übrigen  auch  die  prominente  Formel vom „Verschwinden des Subjekts“ maßgeblich mit. In jener viel  diskutierten  Schlussbemerkung  kündigte  er  bekanntlich  an,  der  Mensch  würde  verschwinden  „wie  am  Meeresufer  ein  Gesicht  im  Sand“21.  Was  hier  dem  Verschwinden  überantwortet  wurde,  war  je‐ doch nicht der Mensch als solcher, sondern die neuzeitliche Figuration  des  Menschen  als  universales  Subjekt  im  Sinne  einer  autonomen,  selbsttransparenten  mentalen  bzw.  geistigen  Instanz.  Die  zitierte  Sen‐ tenz  proklamierte  folglich  nicht  das  Ende  der  humanen  Spezies,  son‐ dern die Abdankung jenes oben beschriebenen Subjekts als Zugrunde‐ liegendes,  „des  Subjekts  als  Ursprung  und  Grund  des  Wissens,  der  Freiheit,  der  Sprache  und  der  Geschichte“22.  Diesem  zentrierten,  sich  gewissermaßen  selbst  blendenden  Subjekt  stellte  Foucault  mit  Verve  das  Subjekt  als  Unterworfenes  gegenüber.  In  der  wohl  wichtigsten  Definition des Subjekts in seinem Werk schreibt er: „Das Wort Subjekt  hat  einen  zweifachen  Sinn:  vermittels  Kontrolle  und  Abhängigkeit  je‐ mandem  unterworfen  sein  und  durch  Bewußtsein  und  Selbstkenntnis  seiner eigenen Identität verhaftet sein. Beide Bedeutungen unterstellen  eine  Form  von  Macht,  die  einen  unterwirft  und  zu  jemandes  Subjekt  macht.“23  Foucault  sieht  das  Subjekt  folglich  rundweg  in  ein  Gewebe                                

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York  1998,  1–88,  hier  44ff.  Speziell  zur  Subjektkritik  am  fin  de  siècle  s.  K.  Meyer‐ Drawe, Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ichs,  München 22000, 31ff. Zur wechselvollen Entwicklung der Subjekttheorien ab Descar‐ tes vgl. überdies insgesamt Zima, Theorie, 91–363.  Vgl. M. Foucault, Das Subjekt und die Macht, in: H.L. Dreyfus / P. Rabinow, Michel  Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1987, 243– 264,  hier  243:  „Nicht  die  Macht,  sondern  das  Subjekt  ist  …  das  allgemeine  Thema  meiner  Arbeit“;  s.  auch  ders.,  „Autobiographie“  (Lexikonartikel  von  M.  Foucault  und  F.  Ewald  unter  dem  Pseudonym  Maurice  Florence  verfasst),  in:  DZPhil  42  (1994), 699–702; vgl. zu Foucaults Subjekttheorie insgesamt Reckwitz, Subjekt, 23–39.  Foucault, Ordnung der Dinge, 462.  Foucault,  zit.  nach  W.  Schmid,  Auf  der  Suche  nach  einer  neuen  Lebenskunst.  Die  Frage nach dem Grund der Ethik bei Foucault, Frankfurt a.M. 2000, 138.  Foucault, Subjekt, 246f. 

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von  Machtbeziehungen  eingelassen.  Mehr  noch,  es  geht  aus  dem  Zu‐ sammenspiel  äußerer,  den  Körper  und  das  Verhalten  der  Menschen  disziplinierender  Prozeduren  und  innerer,  über  das  Regime  der  Dis‐ kurse und Wissensordnungen im Bewusstsein verankerter Prozesse der  Fremd‐ und Selbstunterwerfung allererst hervor. In seinen Büchern ist  Foucault  den  zahlreichen  diskursiven  und  nichtdiskursiven  Praktiken  der Subjektivierung in der Neuzeit und der Moderne immer wieder auf  erhellende  Weise  nachgegangen,  insbesondere  in  „Überwachen  und  Strafen“ und „Der Wille zum Wissen“.   Um  die  in  diesen  Büchern  und  in  seinem  Werk  insgesamt  begeg‐ nende  Subjekttheorie  angemessen  verstehen  zu  können,  ist  es  nötig,  sich  Foucaults  besonderes  Machtverständnis  zu  vergegenwärtigen.  Gegenüber  den  traditionellen  Machtkonzepten  liberaler,  marxistischer  oder  auch  psychoanalytischer  Prägung,  die  Macht  auf  der  Grundlage  asymmetrischer Beziehungen vornehmlich rein negativ fassen und mit  Zensur,  Verbot,  Unterjochung,  Ausbeutung  und  Verdrängung  gleich‐ setzen,  stellte  Michel  Foucault  nachdrücklich  den  produktiv‐strategi‐ schen  Charakter  von  Macht  heraus.  Macht,  so  Foucault,  manifestiere  sich  keineswegs  primär  in  physischer  Repression  oder  ideologischer  Unterdrückung,  sie  sei  nicht  ausschließlich  als  neinsagende  Gewalt  oder  als  falsches  Bewusstsein  aufzufassen,  vielmehr  manifestiere  sie  sich  als  ein  den  physischen  wie  auch  sozialen  Körper  gleichermaßen  durchdringendes produktives Netz von Beziehungen. Macht präge sich  vermittels des Einübens von Gesten, der Ausbildung von Gewohnhei‐ ten  u.Ä.  in  den  Körper  ein,  forme  und  diszipliniere  ihn  schleichend,  konstituiere  und  bringe  zugleich  Wissen  hervor,  bestimme  Diskurse,  kreiere Wahrheit bzw. Wirklichkeit und bilde in alldem Subjekte aus.   Wichtig  ist  nun,  dass  Foucault,  ungeachtet  seiner  massiven  Kritik  am  neuzeitlich‐autonomen  Subjekt,  in  demselben  Aufsatz,  in  dem  er  die  oben  zitierte  Basisdefinition  des  Subjekts  formulierte,  die  Forde‐ rung erhob, dass wir „neue Formen der Subjektivität zustandebringen  [müssen], indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhun‐ dertelang  auferlegt  hat,  zurückweisen“24.  Hier  meldet  sich  nun  nicht  erneut jenes souveräne Subjekt der Neuzeit zurück, das Foucault eben  noch  so  leidenschaftlich  zurückwies.  Foucault  fällt  sich  nicht  selbst  in  den Rücken, wie bisweilen gemutmaßt wurde. Was er an dieser Stelle  vielmehr  an‐  und  durchdenkt,  ist  ein  Subjekt,  das  als  Form  und  nicht 

                               24  Foucault, Subjekt, 250. 

 

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als  Substanz  zu  verstehen  ist,25  ein  Subjekt,  das  als  potenzieller  Raum  von  Möglichkeiten,  als  eine  „unaufhörlich  modifizierbare  Funktion“26  projektiert ist. Was hier aufscheint, ist mit anderen Worten ein variables  Selbst,  das  nicht  länger  dem  Ordnungszwang  einer  unverrückbaren  Identität eingepasst ist, sondern sich als Subjekt der Erfahrung27 inner‐ halb  des  herrschenden  Macht‐Wissen‐Komplexes  („pouvoir‐savoir“)  Nischen  für  mögliche  Selbstformungen  in  Gestalt  von  konkreten  Selbstpraktiken  erobert.  Verhandelt  wird  von  Foucault  hier  mit  ande‐ ren  Worten  ein  instabiles,  nicht  länger  auf  einen  irreduziblen  Kern  rückführbares  Selbst,  das  vermöge  bestimmter  Übungen  und  Techni‐ ken  in  der  Lage  ist,  eine  somatisch‐ästhetische  Lebensführung  zu  eta‐ blieren,  in  deren  Rahmen  es  fortwährend  an  sich  selbst  arbeitet,  um  sich  kontinuierlich  zu  verwandeln.  Der  unterwerfenden  Subjektivie‐ rung tritt hier gewissermaßen das Projekt einer autopoietischen Subjek‐ tivierung28  gegenüber.  Auch  wenn  Foucault  die  Subjektivierungspro‐ zesse  durchgehend  in  die  jeweiligen  produktiven  Machtverhältnisse  eingebunden  sieht,  billigt  er  dem  Individuum  –  nicht  zuletzt  infolge  der  Mannigfaltigkeit  und  Gegenläufigkeit  der  Machtbeziehungen  so‐ wie der darin eingelassenen Nähte und Risse im relational definierten  gesellschaftlichen  Machtgewebe  –  vage  Spielräume  der  Selbstführung  und  Selbsttransformation  zu.  Diese  potenziellen  Spielräume  verdeut‐ licht  und  exemplifiziert  Foucault  in  seiner  letzten  Schaffensphase  na‐ mentlich  an  den  Ratschlägen  zur  praktischen  Lebensgestaltung  in  der  antiken  Philosophie.  Er  entdeckte  in  ihnen  eine  Kunst,  vermittels  be‐ stimmter  intellektueller  und  somatischer  Übungen  im  Sinne  einer  Art  Selbstsorge oder Selbstregierung Freiheit zu verwirklichen und auszu‐ gestalten.29                                  25  Vgl.  M.  Foucault,  Freiheit  und  Selbstsorge.  Gespräch  mit  Michel  Foucault  am  20.  Januar 1984, in: Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982, hg. v.  H. Becker u.a., Frankfurt a.M. 1985, 7–28, hier 18.  26  Foucault, zit. nach Schmid, Suche, 139.  27  Vgl. dazu M. Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frank‐ furt a.M. 31993, 10: Erfahrung ist danach „die Korrelation …, die in einer Kultur zwi‐ schen  Wissensbereichen,  Normativitätstypen  und  Subjektivitätsformen  besteht“.  Vom  Französischen  expérience  her  steckt  in  dem  fraglichen  Begriff  das  Moment  der  Transformation:  „Eine  Erfahrung  ist  etwas,  woraus  man  verändert  hervorgeht“  (Foucault, zit. nach Schmid, Suche, 236).  28  So  Robert  Lembke,  Der  Mensch  als  Untertan,  Zum  Begriff  der  Subjektivierung  bei  Michel Foucault, in: Tabula rasa. Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken 23 (2005),  1–29.  29  Vgl.  dazu  Foucault,  Gebrauch  der  Lüste;  ders.,  Die  Sorge  um  sich.  Sexualität  und  Wahrheit  3,  Frankfurt  a.M.  31993;  ders.,  Genealogie  der  Ethik.  Ein  Überblick  über  laufende Arbeiten, in: Dreyfus/Rabinow, Michel Foucault, 265–292; ders., Technolo‐

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Vor  diesem  Hintergrund  entwickelte  Foucault  in  seiner  späten  Schaf‐ fensphase  ein  differenziertes,  gleichermaßen  philosophisch  wie  sozial‐ wissenschaftlich  orientiertes  Analyseraster.  Darin  unterschied  er  vier  basale  Felder  von  Techniken  bzw.  Technologien,  die  das  machtdurch‐ tränkte Spiel der Kräfte in einer Gesellschaft maßgeblich bestimmen:   „1. Technologien der Produktion, die es … ermöglichen, Dinge zu produ‐ zieren,  zu  verändern  und  auf  sonstige  Weise  zu  manipulieren;  2.  Techno‐ logien  von  Zeichensystemen,  die  es  …  gestatten,  mit  Zeichen,  Bedeutun‐ gen, Symbolen oder Sinn umzugehen; 3. Technologien der Macht, die das  Verhalten von Individuen prägen und sie bestimmten Zwecken oder einer  Herrschaft unterwerfen, die das Subjekt zum Objekt machen; 4. Technolo‐ gien des Selbst, die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder  mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder sei‐ ner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vor‐ zunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, daß er einen gewissen Zu‐ stand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der  Unsterblichkeit erlangt.“30 

Was die „Technologien des Selbst“ anbelangt, sei nochmals eigens da‐ rauf  verwiesen,  dass  diese  –  den  diskursiven  und  nichtdiskursiven  Praktiken  der  gesellschaftlichen  Subjektivierung  entsprechend  –  so‐ wohl diskursive wie zumal auch nichtdiskursive, also somatische Ope‐ rationen  umfassen.  Foucaults  Unterscheidung  zwischen  diskursiven  und nichtdiskursiven Praktiken stieß nun freilich auf Kritik, und zwar  insofern, als ihm unterstellt wurde, er setze dergestalt in letztlich naiver  Weise  einen  gänzlich  prädiskursiven,  natürlichen  Körper  voraus,  der  als rein materielle Oberfläche und Bühne kultureller respektive diskur‐ siver Einschreibungen fungiere.31 Die Debatte, die sich insbesondere an  Foucaults  Gefängnisstudie  „Überwachen  und  Strafen“  entzündete,  kann und muss hier nicht wiedergegeben werden. Es sei aber festgehal‐ ten,  dass  Foucault  selbstredend  keine  Repristination  des  klassischen  Körper‐Geist‐Dualismus  anvisierte.  Vielmehr  wollte  er  nachdrücklich  auf  die  manifest  materielle  Dimension  von  Machtbeziehungen  auf‐                                gien  des  Selbst,  in:  L.H.  Martin  u.a.  (Hg.),  Technologien  des  Selbst,  Frankfurt  a.M.  1993, 24–62.  30  Foucault,  Technologien,  26.  Das  Schema  ist  durch  Jürgen  Habermas  inspiriert;  vgl.  dazu  J.  Habermas,  Technik  und  Wissenschaft  als  „Ideologie“,  Frankfurt  a.M.  1968,  bes.  162;  dort  ist  von  „Arbeit,  Sprache  und  Herrschaft“  als  Medien  der  Vergesell‐ schaftung die Rede. Foucault ergänzt das Raster eigenständig um den vierten Punkt;  vgl. dazu auch M. Foucault, Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault  im Gespräch, Berlin o.J., 35f.  31  Vgl. dazu Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, 191– 193.198f. 

 

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merksam machen, wurden und werden diese doch nicht selten als rein  geistige bzw. ideologische Phänomene bestimmt.32   Nicht  an  herausgehobenen  Technologien  des  Selbst,  sondern  an  den  unweigerlichen  Unzulänglichkeiten,  Ambivalenzen  und  Wider‐ sprüchlichkeiten  im  Prozess  der  Subjektwerdung  selbst  macht  die  be‐ reits  erwähnte  Judith  Butler  dagegen  das  Potenzial  für  Widerstän‐ digkeit und für zumindest kleine Fluchten und Rückzüge aus der Ein‐ sperrung in die allgegenwärtige diskursive Ordnung fest. In ihrer kom‐ plexen  Subjekttheorie  erscheint  das  Subjekt  als  performativer  Effekt  gesellschaftlicher Diskurse, der sich aus der beständigen Wiederholung  bestimmter  diskursiver  Anrufungen  sowie  in  die  diskursive  Ordnung  eingelassener  körperlicher  Akte  sukzessive  ergibt,  wobei  sich  in  den  instabilen Wiederholungen und Zitierungen beständig Räume für sub‐ versive Verschiebungen und Aberrationen öffnen. Bereits die Reichhal‐ tigkeit  der  gesellschaftlichen  Anrufungen,  die  einem  Individuum  im  Laufe  der  Zeit  widerfährt,  stehe  letztlich  allzu  eindeutigen  Identitäts‐ zuschreibungen  im  Wege.  Butler  weist  darauf  hin,  dass  die  Identität  eines Subjekts gerade in und mit der Sprache nicht wirklich abgesichert  und  fixiert  werden  könne:  „Man  kann  sich  vorstellen,  jemand  müßte  alle  Namen  zusammentragen,  mit  denen  er  jemals  benannt  wurde.  Käme  da  nicht  seine  Identität  in  Verlegenheit?  Würden  nicht  manche  Namen den Effekt anderer auslöschen? … Je mehr wir uns in der Spra‐ che  suchen,  umso  mehr  verlieren  wir  uns  gerade  am  Ort  der  Suche  nach uns selbst.“33 Butler führt hier vor Augen, dass jenes vermeintlich  fixe Subjekt, welches qua Interpellation in der Sprache performiert, sich  angesichts der Vielfalt der Anrufungen zugleich in der Sprache teilwei‐ se wiederum auflöst. Diese sprachliche Zerstreuung des Subjekts hängt  mit  Blick  auf  das  Selbstverhältnis  im  Übrigen  auch  damit  zusammen,  dass  ein  Ich  immer  nur  in  der  Position  der  Nachträglichkeit  über  sich  sprechen  und  reflektieren  kann  und  infolge  dieser  unausweichlichen  zeitlichen  Verzögerung  und  den  damit  einhergehenden  Verschiebun‐                                32  Vgl. Reckwitz, Subjekt, 30: Die Machttechniken setzen bei Foucault „in einem ersten  Schritt  nicht  am  Geist,  sondern  am  Körper  an“;  vgl.  im  Genaueren  H.  Landweer,  Herausforderung Foucault, in: Die Philosophin 4/7 (1993), 8–18; hier 10: „Der Körper  [ist bei Foucault] keine dem Diskurs und der Macht gegenüber privilegierte Theorie‐ stelle, da er immer schon in Machtfeldern verortet ist und in Diskursen interpretiert  wird. … Ihm [Foucault] geht es … um den direkten Zugriff der Macht auf den Kör‐ per, dessen politische Ökonomie er zu rekonstruieren versucht: nämlich als Prozeß,  in dem der Körper zu einer ausnutzbaren Kraft geworden ist, die gleichzeitig produk‐ tiv und unterworfen ist. Der Körper wird dabei immer schon vorausgesetzt, seine In‐ terpretation als Individuum dagegen ist ein Diskursprodukt.“  33  J. Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, 49. 

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gen prinzipiell nicht sicher sein kann, ob es noch dasselbe ist, über das  es spricht.34 

2. Modelle der Subjektivierung im Neuen Testament  In  den  neutestamentlichen  Schriften  lassen  sich  vor  dem  Hintergrund  des  Gesagten  an  vielen  Stellen  Hinweise  auf  Prozesse  der  Subjektivie‐ rung ermitteln.35 Im Folgenden kann nur eine kleine Auswahl einschlä‐ giger Texte bzw. Textpassagen gesichtet werden, der selbstverständlich  andere  an  die  Seite  gestellt  werden  könnten.36  Wenn  in  diesem  Zu‐ sammenhang  von  „Modellen“  die  Rede  ist,  so  soll  damit  zum  Aus‐ druck gebracht werden, dass es darum geht, aus einer Reihe von Tex‐ ten  einige  Grundstrukturen  zu  erheben,  die  –  jenseits  zahlreicher  weiterer  darin  enthaltener  theologischer  Botschaften  –  besondere  For‐ men  der  Subjektivierung  in  der  Welt  des  Neuen  Testaments  bzw.  des  frühen Christentums indizieren. Diese umfassen sowohl stärker sprach‐ lich (2.2) wie auch stärker körperlich (2.3) gestützte Modelle. Mit dieser  Beschreibung  soll  jedoch  in  keiner  Weise  dem  klassischen  Geist‐ Materie‐Dualismus  entsprochen  werden,  vielmehr  sollen  lediglich  –  den obigen Ausführungen gemäß – unterschiedliche Akzente im letzt‐ lich durchgängigen Kontinuum diskursiv und nichtdiskursiv gestützter  Subjektivierungsprozesse angezeigt werden.  

                               34  Vgl.  dazu  Meyer‐Drawe,  Illusionen,  30.  Zum  Phänomen  der  Zeitlichkeit  als  Grund  der  Alterität  des  Selbst  s.  auch  B.  Waldenfels,  Der  Stachel  des  Fremden,  Frankfurt  a.M. 1990, 55, der ebd. auf Husserl, Heidegger, Lévinas und Derrida verweist.  35  Selbstverständlich trägt man, wenn man so vorgeht, moderne bzw. aktuelle philoso‐ phische Konzepte in die antiken Texte des Neuen Testaments ein, die den Autoren  dieser Texte fremd waren. Dieses Problem der Eintragung anachronistischer Vorstel‐ lungen und Perspektiven stellt sich freilich auf die eine oder andere Weise bei nahe‐ zu  jeder  Auslegung  des  Neuen  Testaments.  Worauf  es  ankommt,  ist,  damit  auf  re‐ flektierte  und  wissenschaftlich  verantwortbare  Weise  umzugehen.  Vgl.  dazu  im  Näheren Christian Strecker, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur pauli‐ nischen  Theologie  aus  kulturanthropologischer  Perspektive  (FRLANT  185),  Göttin‐ gen 1999, 26–34.  36  Vgl.  etwa  E.  Reinmuth,  Subjekt  werden.  Zur  Konstruktion  narrativer  Identität  bei  Paulus,  Johannes  und  Matthäus,  in:  ders.,  Neues  Testament,  Theologie  und  Gesell‐ schaft.  Hermeneutische  und  diskurstheoretische  Reflexionen,  Stuttgart  2012,  331– 358; in diesem Band S. 251ff.  

 

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2.1 Subjektivierung durch Übungen und/oder als Ereignis  Zunächst sei nochmals ausdrücklich ein Blick auf die von Michel Fou‐ cault  herangezogenen  Praktiken  der  Selbstsorge  geworfen,  wie  sie  in  der  antiken  Philosophie  propagiert  und  gepflegt  wurden.37  Zu  diesen  zählten u.a. das reflektierende Lehrgespräch mit dem Weisen, die kon‐ zentrierte  Lektüre  philosophischer  Traktate  und  Briefe,  die  Abfassung  selbstreflexiver Notizen und Abhandlungen, Praktiken der Gewissens‐ forschung samt des offenen, mutigen Eingeständnisses von Fehlern, die  bewusste Gestaltung des Tagesablaufs, Meditationen (praemeditatio ma‐ lorum,  praemeditatio  mortis),  Techniken  der  Konzentration  auf  das,  was  jenseits  der  Alltagsverrichtungen  das  Leben  trägt  u.v.a.m.38  Im  Kern  ging es in all diesen Übungen um die Ausmerzung der Leidenschaften  und  Begierden  im  Dienst  der  Freiheit  des  Selbst.39  Ziel  des  übenden  Lebens  war  mit  anderen  Worten  die  Selbstbeherrschung  und  die  Be‐ freiung  von  dem,  wovon  man  abhängig  war.  Unverkennbar  spiegeln  sich darin die Ideale der damaligen sozialen Elite.   Im  Neuen  Testament  lassen  sich  allenfalls  am  Rand  Anklänge  an  diese  übende  Selbstformung  ausmachen.  Die  klassische  griechische  Terminologie für die Einübung in eine neue Lebensform, die sich v.a. in  den Verben avske,w, meleta,w und gumna,zw verdichtet, begegnet im Neuen  Testament  in  einem  vergleichsweise  doch  sehr  bescheidenen  Stellen‐ umfang und überdies nicht durchweg in der Bedeutung einer gezielten  Formung des Lebens (vgl. Apg 24,16 – Lk 10,34f.; 15,8; Apg 27,3; 1Tim  3,5; 4,15f. – 1Tim 4,7; Hebr 5,14; 12,11; 2Petr 2,14).40 Etwas ausgeprägter  ist  der  Rückgriff  auf  den  sportlichen  Wettkampf,  der  in  der  antiken  Welt und in der Philosophie vielfach als Metapher für die gezielte For‐ mung  des  Lebens,  für  die  Selbstbeherrschung  und  das  tugendhafte                                 37  Philosophie  war  damals  im  Kern  keine  „theoretische  Konstruktion“  gewesen,  son‐ dern eine „Methode der Menschenformung, die auf eine neue Lebensweise und ein  neues Weltverständnis abzielt, … eine Bemühung, den Menschen zu verändern“. So  Pierre  Hadot,  Philosophie  als  Lebensform.  Geistige  Übungen  in  der  Antike,  Berlin  1991, 45.  38  Vgl. zu dem Gesagten und zur Vielfalt der philosophischen Übungen insgesamt Chr.  Horn,  Antike  Lebenskunst.  Glück  und  Moral  von  Sokrates  bis  zu  den  Neuplatoni‐ kern, München 22010, 34–46 (dort auch antike Stellenbelege).  39  Vgl. dazu auch M. Nussbaum, The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellen‐ istic Ethics, Princeton 1994.  40  Einzelheiten  zu  den  angeführten  Stellen  bei  Christian  Strecker,  Geistliche  Beglei‐ tung, antike Lebenskunst und das Neue Testament, in: D. Greiner u.a. (Hg.), Geistli‐ che Begleitung in evangelischer Perspektive. Modelle und Personen der Kirchenge‐ schichte, Leipzig 2013 (im Erscheinen). 

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Streben im Sinne der Subjektivierung als einer Lebenskunst gebraucht  wurde.   Dieses  Bildfeld  ist  im  Neuen  Testament  v.a.  in  den  Protopaulinen  bezeugt.41 Unter Verwendung zahlreicher Fachtermini greift der Apos‐ tel  in  1Kor  9,24–27  Aspekte  des  Wettlaufs  und  des  Faustkampfes  in  einem auf Ehrgewinn ausgelegten Kranzagon heraus, um solcherweise  Einsatzbereitschaft,  Zielorientierung  und  Selbstdisziplin  als  Grundele‐ mente  christusgläubiger  Existenz  einzuschärfen.  In  ähnlicher  Weise  hebt er in Phil 3,12–16 sinnbildlich auf die angestrengte Zielausrichtung  des Stadionläufers im  Endspurt ab. Auch  Röm  9,16b  und  Gal 5,7 wei‐ sen  das  Leben  der  Christusgläubigen  als  ein  Laufen  aus.  Beiläufig  ge‐ braucht  Paulus  darüber  hinaus  immer  wieder  Wettkampf‐  und  Lauf‐ terminologie,  wenn  er  auf  seine  Evangeliumsverkündigung  bzw.  auf  eine  diesbezüglich  erwartete  Solidarität  der  Gemeinden  zu  sprechen  kommt (Gal 2,2; Phil 1,27.30; 2,16; 4,3; 1Thess 2,2; Röm 15,30; vgl. auch  Apg  20,24).  Das  metaphorische  Kolorit  ist  hier  indes  teilweise  stark  verblasst.  Die  paulinische  Orientierung  an  der  Agonistik  findet  sich  ebenso in den Deuteropaulinen. Wiederholt klingen hier das Bildmotiv  vom wettkämpferischen (bzw. militärischen) Einsatz für das Evangeli‐ um  und  der  oben  bereits  angesprochene  Aspekt  der  Einübung  in  die  Frömmigkeit an (Kol 1,29; 2,1; 4,12; 1Tim 4,7b–10; 6,12; 2Tim 2,5; 4,6–8).  Schließlich rekurriert der Hebräerbrief auf das Agonmotiv, u.a. indem  er  einerseits  erfahrenes  Leid  mit  einem  Wettkampf  assoziiert  (10,32)  und  andererseits  die  Ausdauer  des  Läufers  im  Agon  als  Bild  für  die  Glaubensexistenz nimmt (12,1).   Die  weitgehend  positive  metaphorische  Adaption  des  Sports  im  Neuen  Testament  an  all  diesen  Stellen  erklärt  sich  aus  dessen  charak‐ terbildender und darin lebensformender Kraft. Diese wird hier spiritu‐ ell  aufgeladen.  Ungeachtet  der  eher  pauschalen  Aufnahmen  der  Sportmetaphorik  hält  sich  das  Neue  Testament  hinsichtlich  konkreter  Angaben  zur  Subjektformung  bzw.  Subjektivierung  durch  Übungen  jedoch  weitgehend  bedeckt.  Die  christusgläubige  Existenz  erscheint  nicht in dem Maß als übende Existenz, wie dies in der antiken Philoso‐ phie der Fall ist. Der Aspekt der Übung, der in der Subjekttheorie Fou‐ caults  eine  prominente  Rolle  einnimmt,  kommt  hier  allenfalls  bedingt  zum Tragen. Weniger die Übung, sondern das Ereignis, namentlich das  einmalige  Christusereignis,  und  die  Hineinnahme  in  das  Ereignis  be‐                                41  Vgl.  dazu  im  Näheren  V.C.  Pfitzner,  Paul  and  the  Agon  Motif  (NT.S  16),  Leiden  1967; U. Poplutz, Athlet des Evangeliums. Eine motivgeschichtliche Studie zur Wett‐ kampfmetaphorik bei Paulus (HBS 43), Freiburg u.a. 2004; M. Brändl, Der Agon bei  Paulus.  Herkunft  und  Profil  paulinischer  Agonmetaphorik  (WUNT  II/222),  Tübin‐ gen 2005. 

 

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stimmen die in den neutestamentlichen Texten aufscheinenden Prozes‐ se  der  Subjektivierung.  Die  christusgläubige  Subjektivierung  beruht  nicht auf konkreten Techniken der Einübung, nicht auf einer te,cnh peri. to.n bi,on, d.h. einer Kunstfertigkeit bezüglich des Lebens und der Seele,  sie gründet vielmehr im ereignishaften Bruch, in der göttlichen Unter‐ brechung der Geschichte und der einmaligen rituellen Hineinnahme in  das  äonen‐  und  lebenswendende  Christusereignis.  Die  umfassende  subjektformende Transformation des Menschen in ein neues Leben, die  in  der  antiken  Philosophie  der  Lebenskunst  mit  so  viel  Anstrengung  und Aufwand angestrebt wurde, sie wird hier als im Kern bereits voll‐ bracht  erachtet.  Die  im  Ereignis  bzw.  im  Ereignishaften  gründende  christusgläubige Subjektivierung führt überdies in vielen Fällen – frei‐ lich keineswegs durchgängig – zu einer Lebensform, die sich den her‐ kömmlichen, alltäglichen Subjektivierungen jenseits jeglichen revoluti‐ onären Gestus subversiv entzieht. 

2.2 Subjektivierung im Ruf   Louis Althusser rekurrierte in seinem äußerst wirkmächtigen und viel‐ diskutierten  Beitrag  „Ideologie  und  ideologische  Staatsapparate“  auf  die  Berufungen  des  Petrus  und  zudem  des  Mose  als  Modellfälle  der  Subjektivierung. An ihnen verdeutlichte er, dass und wie sich die Sub‐ jektivierung  als  „Anrufung“  von  Individuen  als  Subjekte  vollzieht,  nämlich als Unterwerfung unter ein absolutes göttliches Subjekt (SUB‐ JEKT).  Diese  Unterwerfung  basiere  auf  der  wechselseitigen  Wiederer‐ kennung  zwischen  den  Subjekten  und  dem  SUBJEKT,  der  Subjekte  untereinander  sowie  des  Subjekts  durch  sich  selbst  und  schließe  die  Garantie  ein,  dass  alles  in  Ordnung  sei  („Amen“).42  Althusser  entwi‐ ckelte  dieses  Verständnis  von  Subjektivierung  vor  dem  Hintergrund  seiner  These  der  materiellen  Existenz  von  Ideen  respektive  Ideolo‐ gien.43  Die  ideologische  Formung  von  Individuen  erfolge  nicht  etwa  vermittels  einer  bloß  geistigen  Übernahme  bestimmter  Vorstellungen,  sie  sei  vielmehr  rundweg  eingelassen  in  Praktiken,  in  bestimmte  Ver‐ haltensweisen  und  Rituale,  die  im  Rahmen  der  sog.  „Ideologischen                                 42  Vgl. Althusser, Ideologie, 145–149.  43  Auf den Ideologiebegriff kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu nur  T. Eagleton, Ideologie. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2000, 27: „Ideologie ist für  ihn [Althusser] eine bestimmte Organisation der sinngebenden Praxis, die den Men‐ schen  als  gesellschaftliches  Subjekt  konstituiert  und  die  ein  Produkt  der  gelebten  Verhältnisse  ist,  die  das  einzelne  Subjekt  mit  den  dominanten  Produktionsformen  einer Gesellschaft verbinden.“  

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Staatsapparate“ (Kirchen, Schulen, Familien, Gerichte, Medien etc.) er‐ folge. Von zentraler Bedeutung war für Althusser dabei der Satz Blaise  Pascals:  „Knie  nieder,  bewege  die  Lippen  zum  Gebet,  und  Du  wirst  glauben.“  Ihm  entnahm  er  die  Einsicht,  dass  der  Glaube  und  mit  ihm  Ideen aller Art nicht etwa den Praktiken vorausgehen, sondern diesen  eingeschrieben  sind,  ja  aus  ihnen  hervorgehen.  Die  konkrete  gesell‐ schaftliche  Anrufung  verdeutlichte  Althusser  dementsprechend  dann  auch  an  einer  Handlung,  nämlich  dem  Ruf  eines  Polizisten  auf  der  Straße:  „He,  Sie  da!“  Durch  „die  einfache  physische  Wende  um  180  Grad“  werde  der/die  Angerufene  allererst  zum  „Subjekt“.  Althusser  verstand  diese  Szene  weniger  als  konkrete,  denn  als  paradigmatische  Szene. Wie namentlich Judith Butler im Anschluss an Althusser betont,  gründet die subjektivierende Kraft der Anrufung dementsprechend in  der unentwegt wiederholten Praxis solcher Anrufungen.44  Blickt man vor diesem Hintergrund auf die neutestamentlichen Be‐ rufungsszenen  der  Jesusüberlieferung,  ist  zunächst  festzuhalten,  dass  diese  keinem  rundweg  einheitlichen  Schema  folgen.  Es  lassen  sich  vielmehr vier Basistypen unterscheiden: (1) der unvorbereitete Ruf, (2)  der vorbereitete Ruf, (3) das Nachfolgeansinnen und (4) der vermittelte  Ruf.45   (1)  Klassisch  sind  die  Berichte  über  die  Berufung  der  beiden  Brü‐ derpaare  Simon  und  Andreas  sowie  Jakobus  und  Johannes  als  erste  Jünger in Mk 1,16–20 / Mt 4,18–22 und die Berichte über die Berufung  des Levi / Matthäus in Mk 2,14 / Mt 9,9 / Lk 5,27f. Ihnen sind folgende  Charakteristika  eigen:  Die  Gerufenen  werden  namentlich  identifiziert.  Jesu Ruf erfolgt völlig unvermittelt und voraussetzungslos. Die Ange‐ sprochenen  erfahren  den  Ruf  in  einer  konkreten  Arbeitssituation  (Fi‐ scherei,  Zoll).  Sie  reagieren  auf  den  Ruf,  indem  sie  widerspruchslos  ihre  Arbeit  verlassen  und  umgehend  Jesus  nachfolgen.  Jesu  Ruf  er‐ scheint  dergestalt  als  eindrücklicher  performativer  Akt,  der  göttliche  Vollmacht indiziert. Eine rudimentäre Form dieser Berufungsform fin‐ det sich in Joh 1,43, der Schilderung der Berufung des Philippus (s. fer‐ ner Lk 9,59f.). In Mk 2,17 / Mt 9,13 wird das Berufungshandeln Jesu im  Übrigen  in  allgemeiner  Form  auf  alle  Sünder  ausgedehnt.  (2) Lukas  schildert  die  Berufung  des  Simon  (Andreas  wird  nicht  erwähnt)  und                                 44  Auf  all  die  Probleme,  Hinterfragungen  und  Variationen  des  Althusserschen  Anru‐ fungstheorems kann und muss hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu nur Butler,  Psyche, 101–123.  45  Vgl. dazu im Näheren J. Nützel, Die Faszination des Wanderpredigers, in: L. Schen‐ ke  u.a.  (Hg.),  Jesus  von  Nazareth  –  Spuren  und  Konturen,  Stuttgart  2004,  255–274,  hier 260–267; G. Theißen /  A. Merz, Der historische Jesus.  Ein Lehrbuch, Göttingen  1996, 198. 

 

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der  beiden  Zebedaiden  Johannes  und  Jakobus  in  einer  gegenüber  Mk  1,16–20 deutlich veränderten Form: Der Bericht ist situativ breit ausge‐ staltet, mit einem Geschenkwunder (reicher Fischfang) versehen, ferner  ganz  auf  Simon  konzentriert  und  im  Evangelium  anders  verortet.  Die  in Mk 1,21–39 nach der Jüngerberufung geschilderten Ereignisse gehen  hier  der  Berufung  voraus (Lk 4,31–44), was zur  Folge  hat,  dass  Simon  und  Jesus  sich  vor  der  Berufung  bereits  bekannt  waren  (Lk  4,38f.).  (3) In Mt 8,19f. / Lk 9,57f.; Mt 8,21f. (anders Lk 9,59f.: Ruf) und Lk 9,61f.  tritt jeweils ein Nachfolgewilliger aus eigenem Entschluss mit der Bitte  um  Nachfolge  an  Jesus  heran.  Jesus  konfrontiert  die  an  ihn  Herantre‐ tenden  barsch  und  kompromisslos  mit  den  abschreckenden  Anforde‐ rungen  der  radikalen  Nachfolgeexistenz.  (4)  Johannes  schildert  die  Berufung  der  ersten  Jünger  in  1,35–51  in  einer  gegenüber  Mk  1,16–20  und Lk 5,1–11 nochmals veränderten Form: Zunächst werden Andreas  und  ein  Anonymus  als  Täuferjünger  vermittels  des  Bekenntnisses  des  Täufers zu Nachfolgern Jesu. Simon kommt erst durch die Vermittlung  seines Bruders Andreas, also nicht durch Jesu Ruf zu Jesus. Es folgt die  Berufung  von  Philippus  und  Natanael  (nicht  der  Zebedaiden!),  wobei  die des Natanael durch Vermittlung des Philippus geschieht. Die Jün‐ ger treten in den Szenen nicht als Berufstätige, sondern als den Messias  Suchende auf, die ihre Heimat bereits verlassen haben.  Jenseits  aller  Differenzen  ist  eines  relativ  deutlich:  Die  Berufungs‐ szenen  akzentuieren  je  auf  ihre  Weise  den  Ereignischarakter  des  Rufs  in die Nachfolge Jesu. Dies trifft auch auf die unter (3) genannten Sze‐ nen zu, in denen Menschen von sich aus auf Jesus zukommen, um ihm  zu  folgen.  Die  Betroffenen  werden  aus  dem  herkömmlichen  Leben  heraus  in  eine  radikale  Existenz  der  Nachfolge  gerufen.  Besonders  drastisch  zeigt  sich  dies  in  Mt  8,21f.  (vgl.  Lk  9,59f.  als  Ruf).  Dort  ver‐ wehrt  Jesus  dem  Nachfolgewilligen,  den  eigenen  Vater  zu  begraben.  Diese pietätlose Aufforderung stellt sowohl in der jüdischen wie in der  griechischen  Welt  eine  manifeste  Provokation  dar  und  markiert  eine  Unterbrechung  bzw.  einen  Ausbruch  aus  den  herkömmlichen  Subjek‐ tivierungen.  Der  von  Jesus  ausgehende  Ruf  kommt  gewissermaßen  einer  Gegen‐Unterwerfung  gleich,  einer  Unterwerfung,  die  die  her‐ kömmlichen Unterwerfungen und Loyalitäten unterbricht. Auch in Lk  9,61f. verwehrt Jesus – deutlich anders als dies etwa in 1Kön 19,20f. der  Fall  ist  –  jede  familienbedingte  Verzögerung  der  Nachfolge.  Dem  Zeugnis  der  Evangelien  nach  mündet  Jesu  Berufung  in  die  direkte  Nachfolge  grundsätzlich  in  eine  Existenz,  die  von  einem  radikalen  Ethos  geprägt  ist,  nämlich  dem  Ethos  weitgehender  Heimatlosigkeit  (Lk 9,58), Besitzlosigkeit (Lk 6,20f.; 10,4; 12,22b–31; 16,13), Gewaltlosig‐

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keit  (Lk  6,27–38)  und  der  Distanz  zur  Familie  (Lk  12,53;  14,26).46  Die  Subjektivierung im Ruf Jesu befördert mithin nicht im Modus der Wie‐ derholung die gesellschaftliche Normalisierung, sie vollzieht sich viel‐ mehr  als  ereignishafter  Bruch,  der  die  herkömmlichen  Subjektivierun‐ gen auflöst. Das Subjekt dieses Rufs entzieht sich dabei den herkömm‐ lichen  Subjektivierungen.  Es  tritt  –  vom  Standpunkt  des  common  sense  aus  betrachtet  –  als  ein  sich  selbst  marginalisierendes  und  darin  limi‐ nales Subjekt in Erscheinung.  Ruf‐  bzw.  Berufungsterminologie  (kale,w,  klh/sij, klhto,j)  begegnet  neben den Evangelien in vielfältiger Form auch in der neutestamentli‐ chen  Briefliteratur,  insbesondere  in  den  paulinischen  und  paulinisch  geprägten Briefen, und zwar im Kontext von Beschreibungen der Kon‐ stitution, des Empfangs, der Prozessualität und Qualität des in Christus  eröffneten göttlichen Heils. Mit Blick auf die Modalitäten des göttlichen  Berufungshandelns gilt es zunächst zu sehen, dass es in Gottes freiem  Ratschluss  (Röm  8,28–30),  in  seiner  freien  Gnadenwahl  ankert,  was  in  der  Geschichte  Israels  ebenso  manifest  wird  (Röm  9,11f.;  Röm  11,28f.)  wie in der Berufung der Christusgläubigen (2Tim 1,9). Wichtig aber ist:  In keiner Weise orientiert sich der berufende Gott dabei an herkömmli‐ chen menschlichen Maßstäben, schon gar nicht am hohen sozialen Sta‐ tus, sind doch die Berufenen in Korinth in der Mehrzahl weder Weise,  Mächtige noch Wohlgeborene (1Kor 1,26–29). Mehr noch: In 1Kor 7,17– 24  legt  Paulus  dar,  dass  die  Berufung  die  Relevanz  soziokultureller  Differenzen  und  Hierarchien  relativiert  bzw.  suspendiert  und  schließ‐ lich  in  eine  Existenz  des  „Als‐ob‐nicht“  (w`j mh,)  führt  (1Kor  7,29–31).  Giorgio  Agamben  bestimmt  dieses  w`j mh,  in  seiner  Pauluslektüre  be‐ kanntlich  als  „messianische  Formel“  und  legt  diese  nicht  zu  Unrecht  wie folgt aus:   „Die  Berufung  ruft  zu  nichts  und  zu  keinem  Ort:  Deswegen  kann  sie  mit  dem faktischen Rechtszustand, zu dem jeder berufen wird, zusammenfal‐ len, gerade deswegen aber wird dieser auch ganz und gar widerrufen. Die  messianische Berufung ist die Widerrufung jeder Berufung … Es geht selbstre‐ dend  nicht  darum,  eine  weniger  authentische  Berufung  durch  eine  wahr‐ haftere zu ersetzen … Die Berufung ruft die Berufung selbst, sie ist wie ei‐ ne Notwendigkeit, die sie bearbeitet und von innen aushöhlt und sie in der  Geste selbst, mit der sie in ihr verharrt, nichtig macht.“47 Die messianische 

                               46  Vgl. dazu im Näheren G. Theißen, Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revo‐ lution  der  Werte,  Gütersloh  2004,  64–76;  s.  auch  J.P.  Meier,  A  Marginal  Jew  III:  Companions and Competitors, New York 2001, 54–73.  47  G.  Agamben,  Die  Zeit,  die  bleibt.  Ein  Kommentar  zum  Römerbrief,  Frankfurt  a.M.  2006,  34f.  (Hervorhebung  im  Original);  s.  auch  ders.,  Herrschaft  und  Herrlichkeit. 

 

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Berufung  und  das  daraus  hervorgehende  messianische  Leben  verwirkli‐ chen sich also ausdrücklich nicht in einer wie auch immer gearteten Umge‐ staltung  dieser  Welt,  sondern,  wie  Agamben  unter  Verweis  auf  1Kor  7,31  (para,gei ga.r to. sch/ma tou/ ko,smou tou,tou) ausführt, im konsequenten Zulas‐ sen des „Vorübergehens der Gestalt dieser Welt“. Dieser im messianischen  Leben  in  der  Form  des  „Als‐ob‐nicht“  verstetigte  Vorübergang  weltlicher  Zustände  untergrabe  jedes  Recht,  jede  Identität  und  jedes  Eigentum  zu‐ gunsten eines Lebens der reinen Potenz und des reinen Gebrauchs. In den  Worten Agambens: „Die messianische Berufung ist kein Recht und konsti‐ tuiert  auch  keine  Identität.  Sie  ist  eine  allgemeine  Potenz,  die  man  ge‐ braucht,  ohne  je  ihr  Inhaber  zu  sein.  Messianisch  zu  sein  …  bedeutet  die  Enteignung  jedes  juristisch‐faktischen  Eigentums  in  der  Form  des  Als‐ob‐ nicht  (beschnitten/unbeschnitten;  Freier/Sklave;  Mann/Frau).  Aber  diese  Enteignung gründet keine neue Identität: Die ‚neue Schöpfung‘ ist nur der  Gebrauch und die messianische Berufung der alten.“48 

Weniger  eine  Gegen‐Unterwerfung  im  Sinne  einer  Gegen‐Subjektivie‐ rung,  denn  eine  Entsubjektivierung  rückt  hier  in  den  Blick.  Das  von  Paulus  beschriebene  messianische  Subjekt  ist  ein  liminales,49  das  sich  den  gesellschaftlichen  Subjektivierungen  nicht  im  Bruch,  sondern  in  der  Subversion  entzieht,  in  der  subversiven  Unterminierung  der  her‐ kömmlichen  gesellschaftlichen  Subjektivierungen  im  Modus  des  „Als‐ ob‐nicht“, dem die liminale Haltung des „Weder‐noch“ eingeschrieben  ist. 

2.3 Subjektivierung aus dem Schmerz   Im  Neuen  Testament  begegnen  bemerkenswert  viele  Berichte  über  Fälle dämonischer Besessenheit und Exorzismen. Darin rückt ein unse‐ rer Kultur sehr fremdartig erscheinendes Phänomen in den Fokus, das  gleichwohl von hoher Relevanz für das Thema der Subjektwerdung ist.  Dies  gilt  insofern,  als  in  der  Besessenheit  die  geläufigen  Dichoto‐ misierungen zwischen Ich und Nicht‐Ich, Identität und Alterität, Wirk‐ lichkeit und  Illusion,  Körper  und  Geist,  Rationalität und  Irrationalität,  Autonomie und Unterwerfung in eine Zone der Ununterscheidbarkeit  geraten.  Der/die  Besessene  erscheint  letztlich  als  Schwellenperson,  de‐ ren Identität nicht genau zu fixieren ist. Diese Problematik wird gleich  zu  Beginn  des  Markusevangeliums  greifbar:  In  der  Schilderung  des                                 Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo sacer II.2), Ber‐ lin 2010, 296.  48  Agamben, Zeit, 37.  49  Vgl. dazu grundsätzlich Strecker, Theologie. 

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Exorzismus  in  Mk  1,21–28,  mit  dem  Markus  signifikanterweise  die  öffentliche Wirksamkeit Jesu eröffnet, schwankt die erste Äußerung des  Besessenen  seltsam  zwischen  der  1.  Person  Plural  und  der  1.  Person  Singular  (vgl.  Mk  1,24:  „Was  ist  zwischen  uns  und dir,  Jesus,  Nazare‐ ner?  Du  kamst,  uns  zu  vernichten!/?  Ich  kenne  dich,  wer  du  bist,  der  Heilige Gottes“). Selbst das Subjekt der Wir‐Form ist hier uneindeutig  und  dementsprechend  in  der  Exegese  umstritten:  Markiert  das  „Wir“  die Gemeinschaft des unreinen Geistes mit dem besessenen Mann oder  dessen Gemeinschaft mit den Versammelten? Oder bezieht es sich auf  die  dämonische  Welt  insgesamt  (Wir  Dämonen)?  Wie  auch  immer,  bevor  einige  wenige  Facetten  des  komplexen  Themas  etwas  näher  be‐ leuchtet werden können, gilt es sich zunächst einen Überblick über den  neutestamentlichen Befund zu verschaffen.   Markus schildert – wie bereits erwähnt – die Exorzierung eines Be‐ sessenen in der Synagoge zu Kapernaum (Mk 1,21–28; vgl. Lk 4,31–37),  ferner die Dämonenaustreibung eines in Grabstätten hausenden Gera‐ seners50 (Mk 5,1–20; vgl. Mt 8,28–34 / Lk 8,26–39), die Fernexorzierung  der Tochter einer syrophönizischen Frau (Mk 7,24–30; vgl. Mt 15,21–28)  und die exorzistische Behandlung eines unter Anfällen leidenden Kna‐ ben  (Mk  9,14–29;  vgl.  Mt  17,14–21 /  Lk  9,37–42).  Matthäus  und  Lukas  bzw.  die  Logienquelle  erwähnen  ferner  die  Austreibung  bei  einem  stummen  (und  blinden)  Besessenen  (Mt  9,32 /  Lk  11,14;  Mt  12,22f.).  Breit  debattiert  wird  das  Thema  der  Besessenheit  in  der  Beelze‐ bulkontroverse (Mk 3,22–30; Mt 12,24–30 / Lk 11,14f.17–23) und in der  Perikope  über  die  Rückkehr  des  unreinen  Geistes  (Mt  12,43–45 /  Lk  11,24–26).  Hinzu  kommen  zahlreiche  allgemeine  Hinweise  auf  das  exorzistische  Wirken  Jesu  und  entsprechende  Fälle  von  Besessenheit.  Diesbezüglich zu nennen sind die Notiz über die Exorzierung mehrerer  Jüngerinnen einschließlich der von sieben Dämonen besessenen Maria  Magdalena (Lk 8,2; vgl. Mk 16,9) wie auch die generalisierende Erwäh‐ nung  der  Dämonenaustreibungen  Jesu  in  diversen  Summarien  (Mk  1,34 /  Mt  8,16 /  Lk  4,41;  Mk  1,39;  Mk  3,11f. /  Lk  6,18;  Mt  4,24),  in  der  lukanischen  Version  der  Täuferfrage  (Lk  7,21)  und  bei  der  Mitteilung  Jesu an Herodes in Lk 13,32. Erwähnt seien auch die exorzistische Be‐ vollmächtigung der Jünger durch Jesus (Mk 3,15; Mk 6,7.13; Mk 16,17;  Mt 10,1.8; Lk 9,1; Lk 10,17.20) und die Hinweise auf exorzistische Prak‐ tiken  außerhalb  der  Jesusbewegung  (Mk  9,38f. /  Lk  9,49f.;  Mt  7,22;  s.  auch Lk 11,19 / Mt 12,27). Abseits der synoptischen Evangelien finden                                 50  Ob  die  Erzählung  wirklich  auf  Gerasa  verweist,  sei  hier  dahingestellt;  zur  komple‐ xen Problematik vgl. im Genaueren J.P. Meier, A Marginal Jew. Rethinking the His‐ torical Jesus II: Mentor, Message, and Miracles, New York u.a. 1994, 651f. 

 

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sich v.a. in der Apostelgeschichte mehrere konkrete Darstellungen dä‐ monischer  Besessenheit  und  exorzistischer  Praktiken  (Apg  16,16–18;  Apg  19,12.13–16).  Das  Johannesevangelium  übergeht  die  exorzistische  Praxis  Jesu  und  seiner  Jünger  indes  rundweg.  Gleichwohl  wird  das  Phänomen  der  Besessenheit  auch  hier  greifbar,  nämlich  in  der  Rück‐ führung  des  Verrats  des  Judas  auf  eine  innere  Lenkung  durch  Satan  (Joh  13,2.27;  vgl.  Lk  22,3)  sowie  in  dem  mehrfach  erhobenen  und  zu‐ gleich  abgewehrten  Vorwurf,  Jesus  habe  einen  Dämon  (Joh  7,20;  Joh  8,48.49.52; Joh 10,20.21; der gleiche Vorwurf begegnet in Mt 11,18 / Lk  7,33 mit Blick auf den Täufer). Indirekte Anklänge an die Vorstellungen  von Besessenheit und Exorzierung mag man außerdem in der wieder‐ holten Thematisierung der Herrschaft Satans samt ihrer Überwindung  durch Jesus erblicken (Joh 8,44; 12,31; 14,30; 16,11; 1Joh 3,8).  Diese Prominenz und hohe Quantität der Besessenheitsschilderun‐ gen  im  Neuen  Testament  und  zumal  in  der  Jesusüberlieferung  sticht  aus  dem  Quellenmaterial  der  Zeit  deutlich  heraus.  Trotz  der  großen  Verbreitung und auch Bedeutung des Diskurses über Dämonen51 kann  von  einem  breiten  Zeugnis  über  Fälle  von  Besessenheit  und  Exorzis‐ men  in  der  hier  relevanten  Zeit  nicht  die  Rede  sein.52  Außerhalb  des  Neuen Testaments finden sich mit Blick auf das 1. Jh. n.Chr. nur weni‐ ge vergleichbare Berichte. Streng genommen lassen sich eigentlich nur  zwei  wirklich  einschlägige  Darstellungen  ausmachen,53  nämlich  einer‐ seits  der  Bericht  des  Josephus  über  den  Exorzisten  Eleazar,  der  in  der  Gegenwart des späteren Kaisers Vespasian angeblich einem Besessenen  den  Dämon  mittels  eines  magischen  Fingerringes  aus  der  Nase  zog  (Ant  8,42–49),  andererseits  Plutarchs  Bericht  über  einen  gewissen  Nikias, der während einer Volksversammlung im Theater der nordsizi‐ lianischen  Stadt  Engyion  einen  Besessenheitsanfall  mimte  (!),  um  da‐ durch einer drohenden Verhaftung zu entgehen (Marcellus 20).                                  51  Vgl. zu Dämonologie im Altertum und der Antike ausführlicher Christian Strecker,  Die Wirklichkeit der Dämonen. Böse Geister im Altertum und in den Exorzismen Je‐ su, in: Das Böse, hg. v. J. Frey / G. Oberhänsli‐Widmer (JBTh 26 [2011]), Neukirchen‐ Vluyn 2012, 117–150, hier 120–135.  52  So auch R. Kampling, Jesus von Nazareth – Lehrer und Exorzist, BZ 30 (1986), 237– 248;  D.  Trunk,  Der  Messianische  Heiler  (HBS  3),  Freiburg  u.a.  1994,  357.429;  W.  Kirchschläger,  Exorzismus  in  Qumran?,  Kairos  18  (1976),  135–153,  hier  152;  S.  Guijarro,  The  Politics  of  Exorcism.  Jesus’  Reaction  to  Negative  Labels  in  the  Beelzebul Controversy, BTB 29 (1999), 118–129 betont ebd., 128: „Jesus was the first  in the ancient Mediterranean world to give such a prominent place to exorcisms in  his activity.“  53  Zu weiteren nur bedingt relevanten Zeugnissen vgl. im Näheren Strecker, Wirklich‐ keit, 147 Anm. 109. 

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In der Forschung liegen zahlreiche Deutungen des neutestamentlichen  Befundes vor, insbesondere der Exorzismen Jesu. Dazu zählen die psy‐ chologische  Deutung  der Besessenheit und  der  Exorzismen  als  Prakti‐ ken der Bewältigung persönlicher Krisen und traumatischer Erfahrun‐ gen,  ferner  die  soziopolitische  Deutung  als  subversive  Protest‐  bzw.  Symbolhandlungen  zur  Durchsetzung  der  Rechte  unterdrückter  Min‐ derheiten bzw. machtloser Individuen.54 Unter Rückgriff auf die allge‐ meine  kulturwissenschaftliche  Exorzismusforschung  ließen  sich  noch  weitere  Deutungen  in  Erwägung  ziehen.  So  können  Besessenheit  und  exorzistische  Vollzüge  prinzipiell  auch  als  kathartische  Praktiken  des  Stressabbaus,  als  Strategien  zur  Erlangung  von  Zuneigung  und  Auf‐ merksamkeit,  als  Mittel  zur  Erlangung  einer  neuen  sozialen  Position  bzw. Macht (so in Kulturen, die Besessenheit als Ausweis für eine be‐ sondere  religiöse  Karriere  positiv  werten)  wie  auch  als  Mittel  zur  Ab‐ tretung bzw. Verminderung von Verantwortung und Schuld fungieren,  nämlich  vermittels  einer  Verlagerung  der  Haftung  vom  menschlichen  Subjekt auf das dämonische Subjekt.55 All diese Deutungen sind an den  Texten freilich nur bedingt verifizierbar.  Wie auch immer, rein äußerlich betrachtet ist Besessenheit zunächst  nichts anderes als auffälliges körperliches Verhalten. Dies dokumentie‐ ren auch die Evangelien. Erinnert sei an das Schreien des Besessenen in  der Synagoge zu Kapernaum (Mk 1,23f.), das unbezähmbare Toben mit  Selbstgeißelungen seitens des Geraseners (Mk 5,2–7) sowie das Zähne‐ knirschen,  Mundschäumen  und  Sich‐ins‐Feuer‐und‐Wasser‐Stürzen  des Knaben nach Mk 9,18–22. Vor diesem Hintergrund soll das Augen‐ merk  auf  einen  relativ  wenig  beachteten  Aspekt  gelegt  werden,  näm‐ lich den des körperlichen Schmerzes. Markus gestaltet das körperliche  Agieren der Besessenen in den beiden Großportraits des exorzistischen  Handelns Jesu (Mk 5,1–20; 9,14–29) nämlich auffällig deutlich als soma‐ tisches Leiden aus. Während der Ton in den wenigen antiken Berichten  über Besessenheit in der Regel auf der Befremdlichkeit des Verhaltens 

                               54  Vgl. im Näheren Strecker, Wirklichkeit, 140–144.  55  Vgl.  dazu  insgesamt  N.P.  Spanos,  Hypnosis,  Demonic  Possession,  and  Multiple  Personality.  Strategic  Enactments  and  Disavowals  of  Responsibility  for  Actions,  in:  C.A.  Ward  (Hg.),  Altered  States  of  Consciousness  and  Mental  Health.  A  Cross‐ Cultural Perspective, Newbury Park u.a. 1989, 96–124, hier 106f.; C.R. Shekar Chan‐ dra,  Possession  Syndrome  in  India,  in:  ebd.,  79–95,  hier  91.93;  C.  Ward,  Possession  and Exorcism. Psychopathology and Psychotherapy in a Magico‐Religious Context,  in: ebd., 125–144, hier 132. 

 

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als solchem liegt,56 akzentuieren die beiden markinischen Großportraits  den Aspekt der körperlichen Qual.   Mk  5,1–20  beginnt  nach  einer  einleitenden  szenischen  Angabe  (V. 1–2a) mit einer knappen Notiz über die Begegnung zwischen Jesus  und  dem  Besessenen  (V. 2b),  die  dann  unmittelbar  in  eine  sich  über  drei  Verse  erstreckende  Beschreibung  der  fatalen  Situation  des  Geraseners  mündet  (V. 3–5).  Mehrfach  wird  darauf  hingewiesen,  dass  der Besessene in Grabhöhlen haust (V. 3a). Ganz offensichtlich fristet er  auf diese Weise eine Existenz im „Aus“, im Reich der in jeglicher Hin‐ sicht  Abgeschiedenen.  Dem  ihm  einwohnenden  „unreinen“  Geist  (V. 2b) entsprechend siedelt er im „unreinen“ Bereich der Toten und ist  damit  zu  einer  schmerzvollen  sozialen  Isolation  verdammt.  Ausführ‐ lich werden sodann Fesselungsversuche geschildert, die angesichts der  immensen  dämonischen  Kraft  des  Besessenen  scheiterten.  Auch  wenn  dabei  evtl.  das  klassische Motiv  von  der  Fesselung der  Dämonen  mit‐ schwingen mag (vgl. Tob 8,3; äthHen 10,4; Jub 5,6; 10,7–11; s. ferner Mk  3,27;  Mt  12,29),  gilt  es  doch,  das  Moment  des  in  diesen  Fesselungen  malträtierten  Körpers  nicht  zu  übersehen.  V. 5  gestaltet  dann  die  kör‐ perliche Qual des Geraseners, bezogen auf seine aktuelle isolierte Exis‐ tenz, weiter aus. Nun ist es der Besessene selbst, der sich gegen seinen  Körper wendet. Schreiend verausgabt er sich und fügt sich mit Steinen  selbst  Wunden  zu,  wobei  das  dargebotene  Schreckensbild  durch  die  eingangs  des  Verses  explizit  herausgestellte  Beständigkeit  der  Selbst‐ tortur  noch  eine  zusätzliche  Steigerung  erfährt:  Allezeit,  Nacht  und  Tag, vollzieht sich die schmerzhafte Autoaggression. Als Manifestation  und Ausdruck der körperlichen Pein fügt sich dazu dann das Schreien  des  Besessenen.  Der  somatische  Charakter  des  verwendeten  Verbs  kra,zw sollte dabei nicht übersehen werden: Es ist zumal der geängstig‐ te,  leidende  und  verletzte  Körper,  der  schreit.  Dies  dokumentieren  im  Neuen  Testament  nicht  nur  die  Hilfeschreie  der  Kranken  (vgl.  Mk  10,47f.  [Mt  20,30f.];  Mt 9,27),  die Schreckensrufe  der  in  Notsituationen  geängstigten  Jünger  (Mt  14,26.30)  und  das  Schreien  einer  Gebärenden  (Offb  12,2),  dies  zeigt  auch  der  traumatisierte  und  sterbende  Körper  Jesu  am  Kreuz  (Mt  27,50).57  Vor  diesem  Hintergrund  ist  dann  gerade  auch  das  Schreien  des  Besessenen  als  somatische  Manifestation  des  Schmerzes ernst zu nehmen, egal ob es sich als bloßer Körperausdruck  bekundet  (s.  neben  Mk  5,5  auch  9,26  und  Lk  9,39)  oder  als  inhaltlich                                 56  Dies  gilt  insbesondere  für  die  Schilderung  des  fingierten  Anfalls  des  Nikias  bei  Plutarch (Marcellus 20,5f.), aber auch für die Beschreibung des besessenen Jünglings  aus Kerkyra bei Philostrat (VitAp 4,20).  57  Vgl. überdies v.l. Mk 15,39. Das Verb kann freilich auch den somatischen Ausdruck  von Euphorie markieren (vgl. Mk 11,9). 

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gefüllter Ruf (vgl. Mk 1,23; 3,11; 5,7). Die Bitte des Dämons in Mk 5,7,  ihn  nicht  zu  quälen  (mh, me basani,sh|j),  bringt  schließlich  das  Moment  der somatischen Qual, welches die Besessenheit begleitet, in gespiegel‐ ter Form konkret auf den Punkt: Offenbar befürchtet der Dämon, durch  den Exorzismus den von ihm verursachten Schmerz mit gleicher Mün‐ ze  zurückbezahlt  zu  bekommen.  Das  Verb  basani,zw steht  jedenfalls  direkt für den körperlichen Schmerz.  Ebenso drastisch wird der somatische Schmerz der Besessenheit in  Mk 9,14–29 ausgemalt. Gleich viermal setzt der Text zu einer Beschrei‐ bung  der  Qualen  des  Knaben  an:  Zunächst  in  der  Beschreibung  des  Vaters  in  V. 18,  dann  im  Zusammenhang  mit  der  Erstbegegnung  zwi‐ schen  Jesus  und  dem  Besessenen  in  V. 20,  weiter  in  einer  neuerlichen  Beschreibung  des  Vaters in  V. 22  und  schließlich  bei  der  Ausfahrt  des  Dämons in V. 26. Immer wieder neue Facetten der körperlichen Tortur  treten dabei zutage, wodurch die somatische Dimension der Besessen‐ heit besonders eindrücklich zum Ausdruck kommt. Nach V. 18 ergreift  der  Dämon  den  Jungen  und  wirft  ihn  zu  Boden,  Schaum  tritt  aus  sei‐ nem  Mund,  er  knirscht  mit  den  Zähnen  und  wird  starr.  In  offenbar  konzentrierter  Form  vollzieht  sich  diese  körperliche  Marter  dann  nochmals vor aller Augen, als er vor Jesus gebracht wird (V. 20). Spas‐ men  durchziehen  ihn  und  auf  die  Erde  gestürzt  wälzt  er  sich  schäu‐ mend hin und her. Wie bei dem Gerasener reicht diese Marter schließ‐ lich auch hier bis zu Formen der Selbstverstümmelung. Darauf deutet  jedenfalls  die  Bemerkung  des  Vaters  hin,  dass  sein  Sohn,  durch  den  Dämon getrieben, ins Feuer und ins Wasser geworfen werde, und zwar  augenscheinlich  derart  brutal,  dass  sein  Leben  dabei  auf  dem  Spiel  steht  (V. 22).  Die  Austreibung  des  Dämons  bekundet  sich  dann  noch  einmal  in  einem  letzten  Schreien  und  spastischen  Aufbäumen,  bevor  der  Körper,  nach  der  Ausfahrt  des  Geistes,  am  Ende  vollständig  zur  Ruhe  kommt,  sodass  der  Junge  nun  fälschlicherweise  für  tot  erachtet  wird (V. 26).   In Anbetracht all dessen darf man wohl mit Fug und Recht von ei‐ ner  „Inszenierung  des  Schmerzes“  sprechen.  Die  Besessenheit  führt  gewissermaßen  am  Körper  die  Schmerzhaftigkeit  der  Subjektivierung  als Unterwerfung unter eine fremde Macht vor Augen.   Zu  beachten  ist  nun  in  diesem  Zusammenhang,  dass  der  Dämon  des Jungen in Mk 9,14–29 als sprachloser Geist (pneu/ma a;lalon) bezeich‐ net  wird.  Stummheit  bzw.  Sprachlosigkeit  erscheinen  überdies  in  Mt  9,32–34 sowie in Mt 12,22f. / Lk 11,14 als Hauptmerkmal der Besessen‐ heit.  Auch  wenn  in  Mt  12,22f.  zusätzlich  noch  Blindheit  hinzukommt,  so zeigt sich in der Ausformulierung des Heilungserfolges dann doch,  dass  das  Stummsein  auch  hier  als  zentrales  Merkmal  des  Besessenen 

 

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figuriert.  So  heißt  es  in  V. 23  ausdrücklich,  „der  Stumme“  habe  durch  Jesu Heilung gesprochen und gesehen (kai. evqera,peusen auvto,n( w[ste to.n kwfo.n lalei/n kai. ble,pein). Darüber hinaus fällt auf, dass die Besessenen  in den neutestamentlichen Berichten überhaupt als ihrer eigenen Spra‐ che  beraubt  vorgestellt  werden.  Die  Worte,  die  sie  artikulieren,  sind  nicht rundweg die ihrigen, sondern zumal die der Dämonen, die durch  sie hindurch an Jesus sich wenden. Und wo über die Rede der Dämo‐ nen  hinaus  sprachliche  Verhandlungen  eine  Rolle  spielen,  werden  sie  durch Stellvertreter vollzogen, etwa durch den Vater in Mk 9,17ff. par.  oder durch die syrophönizische Mutter in Mk 7,26–29 par. Die besesse‐ nen  Personen  selbst  bleiben  weithin  sprachlos.  Lediglich  das  Schreien  respektive  der  bloße  Laut  kann  dort,  wo  keine  gänzliche  Stummheit  vorliegt,  als  die  ihnen  eigene  Artikulationsform  verstanden  werden.  Die Besessenen treten so allenfalls als Träger einer Stimme auf, nicht als  Subjekte eines Diskurses.   Was aber impliziert diese Sprachlosigkeit bzw. Diskursunfähigkeit?  Einerseits  zeitigt  sie  zweifelsohne  Ausgrenzung,  soziale  Isolation  und  damit  einhergehend  eine  Schmälerung  der  eigenen  Entfaltungschan‐ cen.  Zugleich  aber  markiert  die  Sprachlosigkeit  auch  den  Schmerz,  schafft  doch  der  Schmerz  jenen  dunklen  Raum,  in  welchem  sich  der  Körper  vom  Sagbaren  löst.  Der  Schmerz  ist  „der  Antipode  zur  Spra‐ che“58.  In  ihm  provoziert  die  körperliche  Erfahrung  einen  radikalen  Bruch im Diskursiven. In ihm fällt der Körper gewissermaßen zerstöre‐ risch  in  die  Sprache  ein.  Elaine  Scarry  hat  die  Auflösung  der  Sprache  im Schmerzempfinden in ihrer Studie „The Body in Pain“ eindrücklich  aufgezeigt.59 Etwas von dem unberedten Schweigen, von der Fremdheit  des  namenlosen  Schmerzes,  der  jede  Sprache  erschöpft,  spiegelt  sich  wohl  auch  in  der  Sprachlosigkeit  der  von  Dämonen  gequälten  Perso‐ nen. Verstärkt noch durch das bizarre Verhalten, reißt ihr Sprachverlust  Wunden  in  die  kulturelle  Textur,  denn  ungeachtet  aller  Objek‐ tivierungen  ihres  Gebarens  als  Besessenheit  bekundet  sich  in  der  Stummheit ihres schmerzenden Wahns auch eine Resistenz gegenüber  den eingespielten Techniken der Bedeutungsproduktion. Und doch ist  dies nur die eine Seite der Medaille. So wie der Körper im Schmerz die                                 58  So  J.  Tanner,  Körpererfahrung,  Schmerz  und  die  Konstruktion  des  Kulturellen,  in:  Historische Anthropologie 2 (1994), 489–502, hier 494 (mit Bezug auf D.B. Morris).  59  Vgl.  E.  Scarry,  Der  Körper  im  Schmerz.  Die  Chiffren  der  Verletzlichkeit  und  die  Erfindung der Kultur, Frankfurt a.M. 1992, 42ff. Über den Extremfall in dieser Hin‐ sicht reflektiert Giorgio Agamben in seinem verstörenden Buch über den nicht mehr  der  Sprache  fähigen  sog.  „Muselmann“  in  den  nationalsozialistischen  Konzentra‐ tionslagern; vgl. Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der  Zeuge (Homo sacer III), Frankfurt a.M. 2003. 

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Christian Strecker 

Sprache  zu  destruieren  vermag,  so  kann  die  Sprache  bisweilen  auch  aus  dem  Schmerz  wieder  neu  geboren  werden.  Als  absoluter  Null‐ punkt  gesellschaftlich  sanktionierten  Sinns  drängt  der  schmerzende  Körper zu neuer Versprachlichung. Der sprachlose Schmerz vermag so  zu einem Transformationsriemen kultureller Ordnungen werden, liegt  doch im Kollaps der Sprache die Chance zur Revision der Sprache und  darin der Kultur.60 Vielleicht liefert gerade auch die neutestamentliche  Akzentuierung des Schmerzes in der Passion Jesu, in der Kreuzestheo‐ logie und  in der  Darstellung  der  geplagten  Körper  jener  vielfältig  Ge‐ quälten, denen Jesus als Heiler begegnet, einen Schlüssel zu der bemer‐ kenswerten  kulturellen  Transformationskraft,  die  der  christlichen  Überlieferung in der antiken bzw. spätantiken Welt zukam.  Wie auch immer: Den physischen Schmerz der Besessenen und die  Sprachlosigkeit gilt es als Ausgangspunkt des in den Evangelien entfal‐ teten  exorzistischen  Handelns  Jesu  mit  zu  beachten.  Die  darin  grün‐ dende  Entsubjektivierung  der  Besessenen  sprengt  Jesus  in  den  Exor‐ zismen  nun  freilich  mittels  einer  neuen  Subjektivierung  auf.  Diese  artikuliert  sich  zunächst  in  der  dramatischen  Verhaltensänderung  der  ehedem besessenen Menschen. Anschaulich kommt dies in der Erzäh‐ lung  vom  tobenden  Gerasener  nach  Mk  5  zum  Ausdruck,  der  unver‐ mutet  ein  augenfällig  „normales“  Gebaren  an  den  Tag  legt  und  darin  als  neues  Subjekt  wiedererkannt  wird  (V. 15).  Ebenso  zeigt  sich  diese  subjektivierende Veränderung in der Exorzierung des Knaben in Mk 9,  dessen explosives Auftreten derart abkühlt, dass er für einen Moment  gar tot erscheint (V. 26), der dann aber von Jesus aufgerichtet wird und  aufsteht (aufersteht). Während in Mk 1,26; 7,30 eher pauschal vom Aus‐ fahren der Dämonen die Rede ist, wird in Mt 9,33; Mt 12,22f. / Lk 11,14  dann auch explizit die Spracherlangung notiert.   Die Dämonenaustreibungen erscheinen dergestalt als Selbstprozes‐ se,  als  rituelle  Operationen  Jesu,61  die  die  Konstitution  eines  neuen  Selbst  ermöglichen,  eines  Selbst,  das  nicht  länger  in  zwanghafter  Ma‐ nier  dämonische  Mächte  verkörpert,  das  von  den  damit  verbundenen  physischen  Qualen  befreit  ist  und  darin  eine  neue  Sprach‐  bzw.  Dis‐ kursfähigkeit erlangt. Damit geht auch eine Veränderung des sozialen  Status  der  ehemals  besessenen  Person  einher.  Dieser  Aspekt  scheint  deutlich in der Erzählung vom Gerasener auf, kehrt dieser doch aus der                                 60  In  freilich  z.T.  gewagten  und  hinterfragbaren  Argumentationsgängen  führt  Scarry,  ebd.,  239ff.  die  Entstehung  der  Zivilisation  und  kultureller  Artefakte  auf  den  Schmerz bzw. die Schmerzvermeidung zurück.   61  Näheres  dazu  bei  Christian  Strecker,  Jesus  und  die  Besessenen.  Zum  Umgang  mit  Alterität im Neuen Testament am Beispiel der Exorzismen Jesu, in: W. Stegemann /  B.J. Malina / G. Theißen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 53–63. 

 

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sozialen Isolation auf dem Friedhof in das Haus seiner Familie zurück  (Mk  5,19).  Ebenso  deutet  natürlich  die  Heilung  von  Stummheit  und  Taubheit der Besessenen in Mt 9,33 und Mt 12,22f. / Lk 11,14 eine Reak‐ tivierung  sozialer  Interaktionen  und  damit  eine  Reintegration  in  den  normalen sozialen Konnex an. Allerdings weist die Jesusüberlieferung  an diesem Punkt eine spezifische Akzentuierung auf. Der Hinweis auf  den Nachfolgewillen des Geraseners (Mk 5,18) und die Erwähnung der  Exorzierung  der  Maria  Magdalena  (Lk  8,2)  geben  zu  verstehen,  dass  das  sozialintegrative  Moment  der  Exorzismen  auch  durch  eine  Auf‐ nahme  in  die  Jesusgruppe  eingelöst  werden  konnte,  die  aber  just  das  Verlassen  alltäglicher  Existenz  und  der  herkömmlichen  Sozialstruktur  impliziert (s. oben). In diesem Fall setzt sich die exorzistische Subjekti‐ vierung in einer dauerhaften Abwendung bzw. Umstrukturierung von  herkömmlichen  Lebensformen  in  einer  liminalen  Existenz  fort.  Die  besondere  transformative  Kraft  des  Reiches  Gottes,  das  man  als  Heterotopie begreifen mag,62 reflektiert sich darin dann besonders ein‐ dringlich. Einmal mehr begegnet hier das liminale Subjekt.  Wie  eingangs  erwähnt:  Dieser  Beitrag  vermag  nur  wenige  Schlag‐ lichter  auf  das  geradezu  erschlagende  Thema  des  Subjekts  bzw.  der  Subjektivierung im Allgemeinen und im Neuen Testament im Speziel‐ len zu werfen. Vieles wäre noch zu ergänzen, manches ließe sich vertie‐ fen und weiter profilieren …   

                               62  So jetzt Wolfgang Stegemann, Jesus und seine Zeit (BE 10), Stuttgart 2010, 325–353. 

Mitherrschaft als politisches Phantasma   

  Zum Imaginären des Subjekts im Neuen Testament 

 

REBEKKA A. KLEIN   

1. Einleitung    Im  vorliegenden  Text  soll  eine  politische  Heilskategorie  des  Neuen  Testaments  untersucht  werden.  Es  handelt  sich  um  das  traditionsge‐ schichtliche Motiv des Mitherrschens und Mitrichtens mit Christus, das  sowohl  bei  den  Synoptikern  als auch  in  den  Paulusbriefen  und  in  der  Offenbarung  des  Johannes  verwendet  wird.  Dieses  Motiv  wird  erst‐ mals  in  der  Monographie  Eschatologische  Mitherrschaft.  Entwicklungsli‐ nien einer urchristlichen Erwartung1 von Hanna Roose systematisch ana‐ lysiert.  Roose  deutet  das  Motiv  des  Mitherrschens  mit  Christus  im  Eschaton  als  ein  durchaus  irdisches  politisches  Motiv,  das  von  den  Autoren der neutestamentlichen Texte zur Orientierung und Kritik der  Herrschaftskonstellationen  der  frühchristlichen  Gemeinde  herangezo‐ gen wird. Seine Verwendung zeige, dass der Traum von der Macht für  die ersten Christen durchaus von Bedeutung war, auch wenn er in der  Rezeptionsgeschichte  der neutestamentlichen  Texte nur  selten als  eine  christliche Tugend galt.2  In  ihrem  Buch  betont  Roose  in  erster  Linie  die  ethischen  und  ekklesiologischen  Funktionen  der  Heilskategorie  des  Mitherrschens,  d.h. ihre Bedeutung für die Verhaltenssteuerung und die Klärung von  Machtfragen  innerhalb  der  christlichen  Gemeinde.  Weniger  Gewicht  legt sie dagegen auf den Bezug zur nicht‐christlichen Umwelt der Ge‐ meinde, zur weltlichen und Staatsmacht. So werden etwa die zum Teil  gegensätzlichen  Urteile  im  Blick  auf  weltliche  Macht,  die  das  Neue  Testament  insgesamt  auszeichnen,3  von  ihr  nicht  in  einen  Bezug  zur                                 1   2   3  

H.  Roose,  Eschatologische  Mitherrschaft.  Entwicklungslinien  einer  urchristlichen  Erwartung, Göttingen 2004.  Vgl. ebd. , 5. Vgl.  R.  Feldmeier,  Die  zu  herrschen  scheinen.  Gottes  Diener  und  Hure  Babylon:  weltliche Macht im Neuen Testament, in: Zeitzeichen 9 (2005), 26–30, sowie M. Eich‐ horn,  Paulus  und die imperiale Theologie der Evangelien.  Das  Neue Testament als  kontroverser  politischer  Machtdiskurs,  Beiträge  zur  politischen  Wissenschaft  (165),  Berlin 2011. 

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Rebekka A. Klein 

Mitherrschaft  gestellt.  Roose  versteht  das  Subjekt  zudem  lediglich  als  historischen  Adressaten  und  sozialen  Träger  von  politischen  Heilszu‐ sagen  und  setzt  es  damit  den  neutestamentlichen  Texten  und  den  in  ihnen diskursiv erzeugten Subjektpositionen voraus.  Demgegenüber  werde  ich  untersuchen,  auf  welche  Weise  diese  Texte  selbst  ein  politisches  Subjekt  der  Mitherrschaft  konstituieren.  Über die Analyse und Deutung von Roose hinaus werde ich die Heils‐ zusage  der  Mitherrschaft  daher  einer  ideologiekritischen  Relektüre  in  der Nachfolge des Psychoanalytikers Jacques Lacan unterziehen. Dabei  unterstelle  ich  ausgehend  von  der  Metapsychologie  Lacans,  dass  Sub‐ jektwerdung  sich  stets  im  Rahmen  von  symbolisch‐imaginären  Sinn‐ konstruktionen  vollzieht,  ohne  jedoch  in  diesen  aufzugehen.  Durch  seine  Einschreibung  in  eine  symbolische  Ordnung  wird  das  Subjekt  positioniert, kann jedoch aufgrund seiner Abweichung von den symbo‐ lischen  Repräsentationen  nie  vollständig  eins  mit  sich  werden.  Seine  Positionierung  bleibt  somit  instabil  und  fragil.  Lacan  bezeichnet  dies  als  Spaltung  des  Subjekts  bzw.  als  Überschuss  des  Subjekts  über  die  Sinnordnungen,  in  denen  es  sich  organisiert.  Konstitutiv  für  das  ge‐ spaltene Subjekt ist eine Mangelstruktur, die es beständig in Differenz  zu  sich  selbst  setzt  und  die  es  durch  seine  Identifikation  mit  symbo‐ lisch‐imaginären Sinnkonstruktionen zu kompensieren sucht. Da diese  Kompensationsversuche jedoch nie vollständig und dauerhaft gelingen  können,  erhält  das  Subjekt  keine  gefestigte  Identität  und  verbleibt  in  einem ungesicherten Status. Es ist auf phantasmatische Konstruktionen  angewiesen,  die  es  ihm  erlauben,  diesen  Mangel  zu  verdrängen.  Eine  solche  phantasmatische  Konstruktion  könnte  nun  auch  in  Gestalt  der  Heilszusage der Mitherrschaft vorliegen.  Die Zusage der Mitherrschaft legitimiert den Verzicht auf Autorität  und  Herrschaft  in  der  Welt  durch  eine  Teilhabe  an  der  Herrschaft  im  Eschaton,  die  den  ersten  Christen  entweder  als  Lohn  (Synoptiker,  Of‐ fenbarung)  oder  als  unverdientes  Geschenk  (Paulus)  in  Aussicht  ge‐ stellt  wird.4  Im  Sinne  der  Metapsychologie  Lacans  ist  das  Motiv  der  Mitherrschaft als eine ideologische Konstruktion zu deuten, mit deren  Hilfe  die  Ohnmachts‐  und  Leidenserfahrungen  der  Gegenwart  kom‐ pensiert  werden  sollen.  Der  Preis  für  die  Aufrechterhaltung  der Parti‐ zipationsperspektive  lässt  sich  jedoch  als  eine  zweifache  Spaltung  des  Subjekts beschreiben. Im Folgenden gehe ich so vor, dass ich zunächst  die  Grundannahmen  der  Subjekttheorie  Jacques  Lacans  vorstelle,  um  dann deren Tragweite für eine Interpretation und Analyse des neutes‐ tamentlichen Motivkomplexes der Mitherrschaft zu erörtern.                                 4  

Vgl. Roose, Mitherrschaft, 5.

 

Mitherrschaft als politisches Phantasma 

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2. Subjektwerdung als Begehren  Poststrukturalistische  Subjekttheorien5  betonen  vor  allem  die  fragile  Identität  des  Subjekts  und  die  Phänomene  seiner  De‐Zentrierung  und  De‐Stabilisierung  durch  ein  Anderes,  ein  Alteritätsmoment.  Gemein‐ sam  ist  ihnen  der  Ausgang  von  einem  ungesicherten  und  uneinheitli‐ chen Subjekt, das seine Identität im Prozess der Subjektwerdung nicht  nur gewinnen, sondern ebenso auch verlieren kann. Die Einsicht in die  Fragilität des Subjekts ist auch für die Metapsychologie Jacques Lacans  leitend.6 Nach dieser ist der Prozess der Subjektwerdung in erster Linie  durch einen Exzess, einen Überschuss des Subjekts geprägt, welches in  den  symbolischen  Sinnordnungen,  in  denen  es  sich  konstituiert,  in  einen  Antagonismus  von  Sinnaufbau  und  ‐verlust  hineingezogen  wird.7  Die  Grundstruktur  der  Subjektwerdung  wird  daher  in  erster  Linie durch den Widerstreit dieser beiden Bewegungen charakterisiert  und von Lacan als ‚Begehren‘ beschrieben.  Mit diesem Begriff nimmt Lacan die psychoanalytische Konzeption  eines  ursprünglich  unerfüllbaren  Wunsches  auf.  Bei  Sigmund  Freud  wird die Subjektwerdung durch die Beziehung des ‚Ich‘ zu einem ver‐ lorenen  Objekt  eingeleitet.  Im  Rahmen  seiner  am  Aufbau  von  ‚Ich‘‐ Identität  orientierten  Psychologie  wird  dieser  Objektverlust  jedoch  in  die Urgeschichte des Selbst zurückverlegt: Durch die symbolische Kast‐ ration,  die  das  Kind  durch  eine  Vaterfigur  erfährt,  wird  die  sexuelle  Beziehung  zur  eigenen  Mutter  verhindert.  Lacan  wendet  nun  Freuds  diachrone in eine synchrone Perspektive: Der Objektverlust des ‚Ich‘ ist  nicht  ursprünglich  im  Sinne  einer  frühkindlichen  Urgeschichte,  son‐ dern  vielmehr  strukturell  und  damit  unhintergehbar  für  den  gesamten  Prozess der Subjektwerdung. Das unerfüllbare Begehren ist Bedingung  der Unmöglichkeit von Einheit und Identität des Subjekts. Nach Lacan  sucht  das  Subjekt  seinen  Verlust  durch  seine  Einschreibung  in  eine  vorhandene  Sinnordnung  zu  bewältigen,  um  auf  diese  Weise  Ab‐ wehrmechanismen gegen die destruktiven Effekte seines unerfüllbaren  Begehrens  zu  gewinnen.  Zugleich  wird  es  damit  aber  von  sich  selbst  abgetrennt  und  entfremdet,  da  es  mit  den  symbolischen  Identifikatio‐ nen  innerhalb  der  Sinnordnungen  von  Sprache  und  Kultur  nie  voll‐                                5   6  

7  

Zu denken ist hier vor allem an die Überlegungen zur De‐Zentrierung des Subjekts  durch den Anderen bei Jacques Derrida, Emmanuel Levinas und Paul Ricœur.  Für eine Position, welche die Differenz der poststrukturalistischen und der metapsy‐ chologischen  Subjekttheorie  stärker  akzentuiert  als  hier  angegeben,  vgl.  S.  Žižek,  The Sublime Object of Ideology, London 1989, 171–174.197f.  Vgl. dazu die Deutung der Lacanschen Subjekttheorie bei C. Braun, Die Stellung des  Subjekts. Lacans Psychoanalyse, Berlin 2008.

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Rebekka A. Klein 

ständig  identisch  werden  kann.  Die  Struktur  von  Mangel  und  Verlust  kann daher durch die Einschreibung des Subjekts in eine Sinnordnung  nur  verdeckt,  aber  nicht  aufgehoben  werden.8  Konstitutiv  für  das  Be‐ gehren des Subjekts ist demnach nicht die Fülle der sinnhaften Identifi‐ kationsmöglichkeiten innerhalb einer symbolischen Ordnung, sondern  eine unaufhebbare Differenz zu sich selbst. Um diese von ihrer sexual‐ psychologischen Engführung bei Freud zu befreien und ihren struktu‐ rellen Charakter deutlich zu machen, bezeichnet Lacan sie als das ‚Rea‐ le‘ – als eine spezifische Dimension der Wirklichkeit, die sich jeglicher  Symbolisierung vollständig entzieht.9   Die  symbolischen  Sinnordnungen  und  das  traumatische  Ereignis  ihres  Entzugs  (‚das  Reale‘)  sind  nach  Lacan  für  die  Subjektwerdung  gleichursprünglich.10  Ihre  Differenz  erzeugt  die  sogenannte  Dialektik  des Begehrens, in der das Subjekt sich mit seinem Anderen, der symbo‐ lischen  Ordnung,  über  verschiedene  Objekte  vermittelt  und  dennoch  nicht  in  diesen  Vermittlungsversuchen  aufgeht.  Daraus  ergibt  sich  wiederum  eine  unaufhebbare  Differenz  des  Subjekts  zu  den  Sinnkon‐ struktionen, in deren Rahmen es sich zu entwerfen sucht. Diese Diffe‐ renz ist dem Subjekt nicht äußerlich in dem Sinne, dass es sie handha‐ ben  und  bewältigen  könnte.  Vielmehr  wird  es  durch  diese  Differenz  ontologisch konstituiert, d.h. es formiert sich im Schnittpunkt der Ver‐ knüpfung  der  drei  Dimensionen  seiner  Subjektwerdung:  des  Realen,  der  symbolischen  Ordnung  und  ihrer  imaginären  Überschreitung.  Letztere  ist  nun  konstitutiv  für  eine  metapsychologische  Kritik  der  Subjektwerdung.  Durch die Unmöglichkeit, das Trauma des Realen und die mit ihm  verbundene  Negativität  zu  umgehen,  wird  das  Subjekt  kontinuierlich  von  seinen  sinnhaften  Identifikationen  innerhalb  der  symbolischen  Ordnung abgetrennt. Gerade aus diesem Grund ist es anfällig für ‚mehr  als‘  symbolische  Sinnkonstruktionen,  die  über  die  Wirklichkeit  der  sozialen Ordnungen hinausgehen, in denen es lebt. Sie ermöglichen es,  den  Einbruch  des  Realen  in  die  symbolischen  Sinnordnungen  durch  deren  imaginäre  Überschreitung  zu  kompensieren.  Lacan  deutet  den  Prozess,  in  dem  sich  eine  solche  kompensatorische  Subjektwerdung  vollzieht,  als  Einschreibung  des  Subjekts  in  eine  phantasmatische  Reali‐                                8  

Vgl.  J.  Lacan,  Über  den  ‚Trieb‘  bei  Freud  und  das  Begehren  des  Psychoanalytikers,  in: Lacan. Trieb und Begehren,  hrsg. V. C. Kupke, Berlin 2007, 13–17.  9   Zur Definition des ‚Realen‘ vgl. Žižek, Ideology, 190f.  10   Vgl. R. Heil, Subjekt und Ideologie. Althusser – Lacan – Žižek,  http://www.demokratietheorie.de/home/documents/ideologie_und_subjekt.pdf  (letzter Aufruf am 18.8.2010; R.K.), 69. 

 

Mitherrschaft als politisches Phantasma 

129 

tät. Dem Phantasma kommt dabei ein ideologischer Charakter zu.11 Es  besteht in einem imaginären Narrativ oder Mythos, der die ursprüngli‐ che Dialektik des Begehrens scheinbar einer Lösung zuführt. Das Phan‐ tasma  verdeckt  die  immanente  Grenze  der  Sinnkonstruktionen  des  Subjekts,  welche  die  prinzipielle  Unabgeschlossenheit  des  Symboli‐ schen  anzeigt,  durch  ein  fiktives  Objekt  der  Einheit  und  Identität,  das  Lacan als ‚Objekt klein a‘ (‚objet petit a‘) bezeichnet.  Das  ‚Objekt  klein  a‘  wehrt  den  drohenden  Zusammenbruch  der  Sinngebung durch den Einbruch des Realen ab, indem es dessen Nega‐ tivität  positiv  identifiziert.  Lacan  spricht  deshalb  im  Hinblick  auf  das  Phantasma von einer Mythifizierung des Realen.12 Das Phantasma ver‐ zerrt  das  das  Subjekt  bedrohende  ‚Nichts‘  zu  einem  ‚Etwas‘,13  das  ex‐ ternalisiert,  identifiziert  und  damit  bewältigt  werden  kann.  Es  stellt  eine imaginäre Sinnkonstruktion zur Verfügung, die fiktiv und illusio‐ när ist, insofern sie die Beschränktheit und den Konstruktionscharakter  der  symbolischen  Sinnordnungen  maskiert,  d.h.  dem  Subjekt  eine  Sichtweise der Realität anbietet, in der es das Reale scheinbar vollstän‐ dig verdrängen kann. Und in genau diesem Sinne kann die imaginäre  Sinnkonstruktion  als  ideologisch  bezeichnet  werden:  „Ideologie  ver‐ sucht,  die  grundlegende  Differenz  zwischen  dem  Realen  und  dem  Symbolischen  zu  verdecken,  indem  sie  innerhalb  der  symbolischen  Ordnung  ein  Element  erzeugt,  das  den  Blick  auf  diese  Differenz  ver‐ deckt.“14  Wird  die  ideologische  Konstruktion  dagegen  vom  Subjekt  selbst als Phantasma erkannt und von ihm als solche thematisiert, ist es  also in der Lage, die Differenz zwischen Symbolischem und Realem zu  benennen,  so  kann  es  sich  von  der  Determination  seiner  Lebensspiel‐ räume durch das Phantasma befreien.  Mit  dem  Realen  ist  demnach  eine  Möglichkeit  zum  entlarvenden  Umgang mit den Phantasmen verbunden. Dies kann als das subversive  Potential  des  Subjekts  bezeichnet  werden,  das  im  Falle  einer  imaginä‐ ren  Schließung  von  Sinnordnungen  ideologiekritische  Dimensionen  entfaltet.  Der  Philosoph  Slavoj  Žižek  hat  daher  die  Einsichten  Lacans  für  eine  kritische  Kulturphilosophie  fruchtbar  gemacht.  Er  zeigt,  wie  der  von  Lacan  beschriebene  Grundkonflikt  der  Subjektwerdung  im  Horizont einer politischen Ontologie neu zu lozieren ist, und analysiert  die  Einbettung  des  Subjekts  in  phantasmatische  Sinnkonstruktionen                                 11   Zur ontologischen, nicht im engeren Sinne politischen Fassung des Ideologiebegriffs  in der metapsychologischen Subjekttheorie vgl. D. Finkelde, Žižeks Metapsychologie  zwischen Lacan und Hegel, Wien 2009, 52–56, sowie Heil, Subjekt und Ideologie.  12   Vgl. Lacan, Über den ‚Trieb‘ bei Freud, 15.  13   Vgl. Heil, Subjekt und Ideologie, 70.  14   Ebd., 54.

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Rebekka A. Klein 

der  Gegenwart.  In  seinem  Buch  The  Ticklish  Subject  verweist  er  bei‐ spielsweise  auf  eine  englische  Pressekampagne,  die  alle  Übel  der  mo‐ dernen Gesellschaft – von der Jugendkriminalität bis zur Finanzkrise – auf die große Anzahl der alleinerziehenden Mütter in England zurück‐ führt.15 Die kontingente Existenz dieser Mütter, d.h. das Einzelschicksal  der von den Vätern ihrer Kinder getrennt lebenden Frauen, wird damit  als  Verkörperung  eines  gesellschaftspolitischen  Feindbildes  in  An‐ spruch  genommen.  Diese  Vereinnahmung  und  symbolische  Überhö‐ hung  des  Schicksals  der  alleinerziehenden  Mutter  deutet  Žižek  als  Spaltung bzw. als Entfremdung ihrer universellen von ihrer partikula‐ ren Identität. Er bezeichnet diesen Vorgang als eine ‚hegemoniale Uni‐ versalisierung‘,16  um  dessen  politische  Funktion  deutlich  zu  machen.  Hegemonial  ist  diese  politische  Sinnkonstruktion,  da  sie  dazu  dient,  eine mögliche Erklärung für die Übel der Gesellschaft zur allgemein Ver‐ bindlichen zu erheben. Die Spaltung des Subjekts dient in diesem Fall  der  Befriedung  gesellschaftlicher  Grundkonflikte:  Alle  Gruppierungen  der  Gesellschaft  können  sich  auf  ein  gemeinsames  Feindbild  einigen,  das für das Misslingen und die Defizite des gesellschaftlichen Zusam‐ menlebens  verantwortlich  ist.  Auf  diese  Weise  kann  die  Einheit  der  Gesellschaft  auch  angesichts  von  Erfahrungen  des  Scheiterns,  zum  Beispiel des Scheiterns von politischen Reforminitiativen gewahrt wer‐ den. Zugleich wird die Erklärung für diese Fehlschläge in einen außer‐ politischen  Bereich  verlagert:  Das  Misslingen  von  Mutterschaft  und  Familie im Privaten verhindert das Gelingen öffentlicher Reformbemü‐ hungen.  Durch  die  Konstruktion  eines  außerpolitischen  Apriori  in  Gestalt  des imaginären Feindbildes der alleinerziehenden Mutter wird also die  Möglichkeit  geschaffen,  politische  Reformbemühungen  gegen  jegliche  Kritik  zu  immunisieren.  Für  ihr  Scheitern  ist  ein  ihnen  vorgegebenes  gesellschaftliches Dilemma verantwortlich, das (scheinbar) unabänder‐ lich  ist.  Die  negative  Grenze  politischer  Lösungsversuche  für  gesell‐ schaftliche  Dilemmata  wird  damit  im  Sinne  Lacans  durch  ein  ‚Objekt  klein  a‘  positiv  identifiziert.  Dieses  ‚Objekt  klein  a‘  trägt  einen  phan‐ tasmatischen Charakter, da es auf undifferenzierte Weise eine partiku‐ lare  Existenz  zur  Ursache  des  Fehlgehens  von  gesellschaftlichen  Re‐ formbemühungen  erklärt.  Auf  diese  Weise  ist  es  möglich,  einen  hegemonialen politischen Diskurs zu führen, der auf einer natürlichen  Ontologie  des  politischen  Subjekts  beruht,  die  ideologisch  und  damit                                 15   Vgl.  S.  Žižek,  The  Ticklish  Subject.  The  Absent  Centre  of  Political  Ontology,  Lon‐ don/New York 1999, 206f.  16   Ebd., 214.

 

Mitherrschaft als politisches Phantasma 

131 

potentiell  illusionär  ist,  jedoch  innerhalb  des  Diskurses  nicht  als  eine  solche identifiziert werden kann.  Hier könnten nun sicherlich Analogien im Hinblick auf jüngere ge‐ samtgesellschaftliche  Kontroversen  wie  beispielsweise  die  Debatte  um  das  Buch  von  Thilo  Sarrazin  gezogen  werden.17  Im  dritten  Abschnitt  möchte  ich  stattdessen  versuchen,  die  Einsichten  der  Lacanschen  Me‐ tapsychologie  mit  der  eschatologischen  Herrschaftszusage  in  Verbin‐ dung  zu  bringen,  die  in  zahlreichen  neutestamentlichen  Texten  gege‐ ben wird. 

3. Mitherrschaft als Phantasma   Im ersten Schritt werde ich ausgehend von dem von Hanna Roose zu‐ sammengestellten  Textmaterial  zum  Motivkomplex  ‚Mitherrschaft‘  nachzeichnen,  inwiefern  die  Hypothese  von  einer  Spaltung  des  politi‐ schen  Subjekts  plausibel  belegt  werden  kann.  Hanna  Roose  zeigt  in  ihrem Buch u.a. auf, in wie vielen verschiedenen Konstellationen dieses  Motiv in den neutestamentlichen Texten in Anspruch genommen wird.  Zur  Zusammenstellung  des  Materials  verwendet  sie  verschiedene  Heilskategorien, die ich in der untenstehenden Tabelle den jeweils un‐ tersuchten Texten zugeordnet habe (Tabelle 1). So fragt Roose nach den  Adressaten der Mitherrschaft, der Form ihres Zugangs zur eschatologi‐ schen  Heilsverheißung,  den  Voraussetzungen  für  ihre  Autorisierung  als Mitherrschende, der ekklesiologischen und ethischen Funktion des  Motivs in den neutestamentlichen Texten und nach der Form der poli‐ tischen  Herrschaftsausübung,  die  den  ersten  Christen  in  Aussicht  ge‐ stellt  bzw.  in  ihrer  gegenwärtigen  Organisationsstruktur  verstärkt  wird.                                                 17   T. Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, Mün‐ chen  2010;  J.  Müller‐Jung,  Phantasma  „Juden‐Gen“.  Sarrazins  Biologismus,  FAZ  30.08.2010,  http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/2.1763/die‐thesen‐sarra‐ zins‐biologismus‐phantasma‐juden‐gen‐11028466.html (letzter Aufruf: 12.02.2013). 

132 

Rebekka A. Klein 

  Text 

Adressat  

Zu‐

Vorausset‐

gang 

zung  

Zwölfer‐

Ge‐

Kollektiv‐

ethisch:  Werterevo‐

hierar‐

kreis 

schenk 

bildung 

lution 

chisch; 

 

Funktion 

Herr‐

 

schafts‐ form 

Mt 19 

missiona‐ risch  Mk 10 

Märtyrer 

Lohn 

und  leiden‐

Leiden  mit 

ekklesiologisch: 

un‐

Christus 

Herrschaftskritik  

hierar‐

Ausharren 

ekklesiologisch: Amt  hierar‐

als Zeuge 

als Dienst 

de Gerechte  Lk 22 

Zeugen Jesu  und 

chisch  Lohn 

ganz 

chisch; 

Israel 

demokra‐ tisch 

Offb 

alle  Chris‐

20 

ten 

2Tim 

Gemeinde‐

Lohn  Lohn 

leiter 

Kämpfen 

ekklesiologisch: 

demokra‐

mit Christus 

Herrschaftskritik  

tisch 

Leiden  mit 

ekklesiologisch: 

hierar‐

Paulus 

Herrschaftslegitima‐

chisch 

tion   Paulus 

alle  Aufer‐

Ge‐

Auferste‐

ethisch:  keine  Strei‐

demokra‐

(1Kor; 

standenen 

schenk 

hung 

tigkeiten 

tisch 

Röm)  Eph 

in 

der 

Gemeinde  alle  Getauf‐

Ge‐

ten 

schenk 

Taufe 

ekklesiologisch  und  hierar‐ ethisch: 

Identitäts‐

chisch 

stiftung  im  Gegen‐ über zur Welt  Tabelle 1: Heilskategorien der neutestamentlichen Texte zur Mitherrschaft   

Hanna  Rooses  Analyse  zeigt  (wenigstens)  zwei  Entwicklungslinien  in  den  neutestamentlichen  Texten  auf:  Zum  Ersten  wird  das  Motiv  der  Mitherrschaft eingesetzt, um einen gegenwärtigen Herrschaftsverzicht,  unter  Umständen  sogar  ein  gegenwärtiges  Leiden  der  Christen  durch  die  Aussicht  auf  eine  zukünftige,  endzeitliche  Herrschaftsbeteiligung  mittels Lohn bzw. Sonderlohn zu legitimieren. Roose identifiziert diese  Traditionslinie vor allem in den Texten der Synoptiker und in der Of‐ fenbarung  des  Johannes.  Zum  Zweiten  benennt  sie  eine  paulinische  und  deuteropaulinische  Entwicklungslinie  des  Motivs.  Diese  versteht  Mitherrschaft  als  ein  unverdientes  Geschenk  an  alle  auferstandenen  oder  getauften  Christen,  das  keinen  zukünftigen,  sondern  einen  ge‐

 

Mitherrschaft als politisches Phantasma 

133 

genwärtigen  Statuszugewinn  der  Christen  im  Gegenüber  zur  Welt  bezeichnet.18  Die  von  Roose  herausgearbeitete  Typologie  der  Mitherrschaft  als  (Sonder‐)Lohn  und  als  Geschenk  ist  auffällig  an  den  dogmatischen  Kategorien von Gesetz und Evangelium aus der lutherischen Rechtfer‐ tigungslehre orientiert. Mit ihr allein kommen die Dynamiken der Sub‐ jektbildung,  wie  sie  in  der  Metapsychologie  Lacans  beschrieben  wer‐ den,  selbstverständlich  noch  nicht  in  den  Blick.  Über  das  von  Roose  benannte  Problem  der  anthropologischen  Voraussetzungen  für  den  Zuspruch der Mitherrschaft hinaus möchte ich deshalb nach möglichen  Spaltungen des Subjekts und dem sich daraus ergebenden Konfliktpo‐ tential  der  Subjektwerdung  im  Sinne  einer  Suche  nach  seiner  politi‐ schen  Identität  innerhalb  und  außerhalb  der  christlichen  Gemeinde  fragen. Ich verstehe das Subjekt daher anders als Roose nicht als histo‐ rischen  Adressaten  oder  als  anthropologische  Voraussetzung  für  die  Heilszusage  der  Mitherrschaft,  sondern  frage  nach  der  Differenz,  die  sich  zwischen  dem  durch  Leiden,  politische  Ohnmacht  und  soziale  Konflikte  de‐zentrierten  Subjekt  und  seiner  Prädikation  als  Mitherr‐ schender herausbildet. Ziel ist es zunächst zu beschreiben, welche Kon‐ flikte  der  Subjektwerdung  durch  die  Inanspruchnahme  des  Prädikats  der  Mitherrschaft  verdeckt  werden,  und  inwiefern  diese  das  Subjekt  de‐zentrieren könnten. Anschließend soll nach der Wirkungsweise und  Funktion  des  Mitherrschaftsmotivs  als  politisches  Phantasma  gefragt  werden. 

3.1 Soziale Antagonismen und Spaltung des politischen Subjekts  Die Kategorie des Subjekts ist den Texten des Neuen Testaments nicht  immanent,  kann  aber  durch  eine  aktualisierende  Interpretation  an  sie  herangetragen werden, um verschiedene Positionierungen des Subjekts  zu beschreiben, die sich implizit in ihnen vollziehen. Daher möchte ich  zunächst in einem Schritt der Annäherung an die Texte zwischen einer  Subjektbildung  am  Ort  des  sozialen  Kollektivs  bzw.  der  Gruppe  und  einer  Subjektbildung  am  Ort  des  Individuums  unterscheiden,  um  auf  diese Weise eine dichtere Beschreibung der Texte zu ermöglichen. 

                               18  Dass  dieser  Statuszugewinn  in  der  Gegenwart  „noch  nicht  ganz  verfügbar“  ist,  betont  dagegen  Rainer  Schwindt.  Vgl.  ders.,  Die  Erwartung  eschatologischer  Mit‐ herrschaft  der  Erlösten  bei  Paulus,  in:  Ephemerides  Theologicae  Lovanienses  85/1  (2009), 23–45, hier 42.

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Rebekka A. Klein 

(a)  Das  politische  Subjekt  als  Kollektividentität:  Die  neutestamentlichen  Texte  zur  Mitherrschaft  zielen  auf  kollektive  Identitätsbildung,  näher‐ hin  auf  eine  innere  Einheit  der  christlichen  Gemeinde  ab.  Ihr  sozialer  Horizont  ist  daher  zum  einen  das  Verhältnis  verschiedener  Gruppen  innerhalb der christlichen Gemeinde und zum anderen das Verhältnis  der  Gemeinde  Christi  als  Ganzes  zur  Welt.  Im  ersten  Fall  wird  die  eschatologische  Vorstellung  der  Mitherrschaft  zur  Legitimation  des  Herrschaftsanspruchs einer innergemeindlichen Gruppe herangezogen.  Es  hat  eine  gruppenideologische  Funktion,  da  mit  ihm  Streitigkeiten  zwischen verschiedenen Gruppen durch den Bezug auf eine imaginäre  Herrschaftsordnung  in  der  Endzeit  entschärft  werden  können.  Dazu  wird die imaginäre Herrschaftsordnung des Eschaton als die letztgülti‐ ge (universelle) Herrschaftsordnung interpretiert, von der her die Kon‐ flikte  der  Gegenwart  entschieden  werden.  So  wird  beispielsweise  in  Matthäus  19,27–30  das  bestehende  hierarchische  Herrschaftsverhältnis  zwischen  Gemeindeleitung  (Zwölferkreis)  und  Gemeindegliedern  durch  die  Verlängerung  der  Herrscherrolle  der  Gemeindeleiter  ins  Eschaton  vertieft.  Die  Befestigung  der  Stellung  der  Herrschenden  durch eine zusätzliche Heilszusage kann somit einem möglichen inner‐ gemeindlichen  Zwist  um  die  Legitimität  der  Herrschaftsstellung  der  Zwölf vorbeugen.   In  Markus  10,35–45,  dem  sogenannten  Zebedaidengespräch,  wird  dagegen  ebenfalls  unter  Verwendung  des  Motivs  des  Mitrichtens  mit  Christus die Position der Märtyrer und leidenden Gerechten gegenüber  dem  Zwölferkreis  gestärkt.  Die  bestehenden  Herrschaftsverhältnisse  werden  kritisiert,  indem  das  Herrschaftsverlangen  der  Söhne  des  Zebedäus stellvertretend für das der Gemeindeleiter abgewiesen wird.  Zusätzlich  wird  auf  die  Teilhabe  am  Leiden  Christi  verwiesen.  Dienst  und Leiden treten somit an die Stelle von Herrschen und Richten, an‐ statt  sie  lediglich  vorzubereiten.19  Durch  das  eschatologische  Motiv  werden in beiden Texten Streitigkeiten der ersten Christen untereinan‐ der in ihrem Konfliktpotential entschärft. Es geht um die Vorherrschaft  einzelner Gruppen innerhalb der christlichen Gemeinde, aber auch um  das  Amts‐  bzw.  Herrschaftsverständnis  als  solches.  So  stellt  sich  u.a.  die Frage, ob Herrschaft in der Demonstration von Überlegenheit und  Stärke  oder  in  Leidensbereitschaft  und  Dienstbarkeit  zum  Ausdruck  kommen soll. Die Kontroverse wird jeweils durch den Verweis auf die  Mitherrschaft im Eschaton entschieden.  Abgesehen von den Streitigkeiten um die Macht innerhalb der Ge‐ meinde  kann  zum  Zweiten  ein  Antagonismus  zwischen  christlicher                                 19

Vgl. Roose, Mitherrschaft, 115ff.

 

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Gemeinde  und  Welt  in  den  Texten  festgestellt  werden.  Die  Frage  der  Hegemonie wird in diesem Verhältnis ebenfalls durch die Einführung  des Motivs der eschatologischen Mitherrschaft entschieden. Diese Rhe‐ torik lässt sich besonders in der paulinischen und deuteropaulinischen  Traditionslinie  finden.  Im  1.  Korintherbrief  stehen  beispielsweise  ver‐ schiedene  christliche  Gruppen  innerhalb  der  Gemeinde  in  einem  Wi‐ derstreit, den Paulus durch die Aussicht auf die gemeinsame Mitherr‐ schaft  aller  Christen  zu  überwinden  trachtet.  In  1.  Korinther  6,1–11  fordert er neben der Befriedung der innergemeindlichen Konflikte aber  auch  eine  stärkere  Abgrenzung  der  Christen  zur  Welt.  Er  verurteilt,  dass die Mitglieder der korinthischen Gemeinde sich bei Streitigkeiten  an  die  weltlichen  Gerichte  wenden  und  diesen  damit  Autorität  über  innergemeindliche Angelegenheiten zugestehen. Er erinnert die Korin‐ ther an die Heilszusage des Mitrichtens und dass sie dazu auserwählt  sind,  dereinst  mit  Christus  über  die  Welt  zu  richten  und  somit  auch  über  der  weltlichen  Gerichtsbarkeit  zu  stehen.  Diese  Heilszusage  ist  nach  Auffassung  des  Paulus  bereits  jetzt  wirksam  und  erlaubt  es,  die  innere  Zerrissenheit  der  christlichen  Gemeinde  zu  überwinden.20  Pau‐ lus  löst  hier  den  Antagonismus  auf,  indem  er  ein  eschatologisches  A‐ priori  einführt  und  den  ersten  Christen  damit  gegenüber  der  Welt  ei‐ nen  überlegenen  Status  einräumt.  Auch  dies  ist  eine  Strategie  der  hegemonialen  Universalisierung,  denn  ob  die  Gerichtsbarkeit  besser  durch  ein  weltliches  oder  ein  christliches  Gericht  ausgeübt  werden  sollte, könnte in der Gegenwart ohne den Verweis auf das eschatologi‐ sche  Apriori  gar  nicht  definitiv  entschieden  werden.  Zudem  wäre  es  möglich,  dass  der  Anspruch  der  christlichen  Gemeinde,  ihre  Angele‐ genheiten selbst zu regeln, durch ihre innere Zerrissenheit und fehlen‐ de Einheit scheitert.  Im Epheserbrief verstärkt sich die Tendenz, den Antagonismus von  Gemeinde und Welt in Richtung einer Herrschaft der Christen über die  Welt aufzulösen. Die eschatologische Entscheidung über den endgülti‐ gen, wahren Herrschaftsstatus der Gemeinde wird noch stärker in die  Gegenwart hinein verlagert: Die christliche Gemeinde herrscht als Ein‐ heit,  d.h.  als  Leib  Christi  bereits  aktuell  über  die  Welt  und  wird  er‐ mahnt,  sich  dementsprechend  zu  verhalten.  Genauso  wie  die  inner‐ gemeindlichen  Streitigkeiten  wird  der  Antagonismus  von  Gemeinde  und  Welt  also  durch  die  Inanspruchnahme  eines  eschatologischen  A‐ priori,  des  Gerichts  Christi  und  des  Mitrichtens  der  Christen  mit  ihm,  entschärft  und  zugunsten  des  Herrschaftsverlangens  der  christlichen  Gemeinde entschieden.                                 20   Vgl. dazu Schwindt, Die Erwartung eschatologischer Mitherrschaft. 

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(b)  Das  politische  Subjekt  als  Individuum:  Des  Weiteren  möchte  ich  nun  die Aufmerksamkeit auf den individuellen Prozess der Subjektivierung  lenken, den auch Hanna Roose zum Ausgangspunkt ihrer an die dog‐ matische  Rechtfertigungslehre  angelehnten  Typologie  der  Mitherr‐ schaft gemacht hat. Anders als Roose werde ich aber nicht das Subjekt  des  Glaubens  thematisieren,  dem  entweder  verdient  oder  unverdient  das Heil zugesprochen wird, sondern fragen, inwiefern das individuel‐ le  Begehren  des  Individuums  nach  Herrschaft  und  politischer  Partizi‐ pation durch die Heilszusage der Mitherrschaft in seinem Eskalations‐ potential  entschärft  wird.  Denn  die  Verheißung  eschatologischer  Mit‐ herrschaft ist nicht nur eine Herrschaftszusage, die zur Selbststeigerung  des  Subjekts  beiträgt,  sondern  kann  auch  dessen  aktiven  Herrschafts‐ verzicht  in  der  Gegenwart  legitimieren.  Dies  zeigen  insbesondere  die  Texte  des  Markus‐  und  Lukasevangeliums  (Mk 10,35–45;  Lk  22,28–30)  sowie  die  Texte  der  Offenbarung  des  Johannes  (Offb  20,1–6),  die  den  engen  Zusammenhang  von  Dienst  bzw.  Leiden  und  eschatologischer  Herrschaft betonen. Das politische Subjekt wird in diesen Texten in ei‐ ner temporalen Perspektive zwischen eschatologischer Heilszusage für  die  Endzeit  und  faktischem  Herrschafts‐  und  Machtverzicht  in  der  Gegenwart positioniert. Sein Erniedrigt‐ und Erhöhtwerden wird durch  die  Verwendung  des  Gegensatzpaars  von  Dienen  und  Herrschen  in  den  Texten  noch  weiter  verstärkt.  Das  eschatologische  Heil  wird  dem  Subjekt  allerdings  durch  das  Apriori  der  alle  menschlichen  Herr‐ schaftsverhältnisse  aufhebenden  Herrschaft  Christi  zugesprochen.  Es  erscheint  somit  nicht  als  Erfüllung  seines  eigenen  Herrschaftsbegeh‐ rens,  sondern  als  Begehren  eines  Anderen,  nämlich  als  Begehren  Got‐ tes.  Anders  als  das  Begehren  des  Menschen  trägt  das  Begehren  des  großen  Anderen  (‚Gott‘)  die  Macht  zu  seiner  Erfüllung  in  sich  selbst.  Durch  das  eschatologische  Apriori  kann  die  unerfüllte  Dialektik  des  menschlichen Herrschaftsbegehrens daher ausgesetzt und zugleich vor  einer Eskalation, etwa in Gestalt einer Revolte oder einer opportunisti‐ schen  Abkehr  von  der  christlichen  und  einer  Hinwendung  zu  einer  anderen religiösen Gruppe, bewahrt werden.  Aus meinen Betrachtungen zu den neutestamentlichen Texten lässt  sich nun das folgende Fazit ziehen: Das eschatologische Motiv der Mit‐ herrschaft  kanalisiert,  kompensiert  und  entschärft  die  kollektiven  und  individuellen  Begehrenskonflikte  des  nach  Einfluss  und  Herrschaft  verlangenden  Subjekts.  Dabei  lassen  sich  zwei  Hauptkonflikte  unter‐ scheiden:  (1)  Ekklesiologische  Konflikte  zwischen  (a)  verschiedenen  inner‐ gemeindlichen Gruppen und (b) Gemeinde und Welt werden durch die  Identifikation  der  Christen  als  Mitherrschende  hegemonial  univer‐

 

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salisiert,  d.h.  auf  Kosten  des  Bezugs  zum  Realen  (Zerrissenheit  und  Auflösung der christlichen Gemeinde) abgeblendet.  (2)  Die  Dialektik  von  (a)  Sich‐Unterwerfen/Leiden  und  (b)  Herr‐ schen  des  Subjekts  wird  durch  das  eschatologische  Apriori  der  Welt‐ herrschaft  Christi  im  Eschaton  in  eine  zeitliche  Abfolge  gebracht  und  durch die Zusicherung von Herrschaft in der Endzeit in ihrem Eskala‐ tionspotential entschärft.  Die  Texte  zeigen  damit,  wie  die  Konflikte  der  Positionierung  des  Subjekts  mit  Hilfe  einer  politischen  Eschatologie  sinnstiftend  organi‐ siert  werden  können.  Die  Vorstellung  der  Mitherrschaft  im  Eschaton  verdeckt  die  Möglichkeit  des  inneren  und  äußeren  Scheiterns  der  ers‐ ten  christlichen  Gemeinden  und  erlaubt  es  ihnen,  ihre  Identität  auch  angesichts von Erfahrungen der Ohnmacht und des Unterlegenseins zu  stabilisieren. 

3.2 Phantasmatische Verdoppelung der symbolischen Ordnung   Das  Motiv  des  Mitherrschens  bzw.  Mitrichtens  mit  Christus  stellt  den  Lesern  der  neutestamentlichen  Texte  eine  Herrschaftsteilhabe  in  Aus‐ sicht,  die  ihren  sozialen  Status  deutlich  aufwertet.  Um  diesen  christli‐ chen Traum von der Macht genauer analysieren zu können, möchte ich  zunächst die Unterscheidung zwischen zwei Formen der Macht einfüh‐ ren, die sich als Konsequenz aus den vorangegangenen Überlegungen  verstehen lässt. Das Wort ‚Macht‘ soll in diesem Zusammenhang nicht  personal  als  Vermögen  eines  handelnden  Subjekts,  sondern  relational  als Kräfteverhältnis zwischen einem Subjekt und der politischen Herr‐ schaftsordnung,  der  es  unterworfen  ist,  verstanden  werden.  Dieses  Kräfteverhältnis  kann  nun  von  zwei  Seiten  her  beschrieben  werden:  Zum  einen  als  vollständige  Unterwerfung  des  Subjekts  unter  eine  be‐ stehende  Herrschaftsordnung  und  zum  anderen  als  Subversion  dieser  Herrschaftsordnung  durch  die  Intervention  eines  freien,  souveränen  Subjekts.   Im  ersten  Fall  vollzieht  sich  die  Subjektwerdung  durch  Einschrei‐ bung  der  Identität  dieses  Subjekts  in  eine  bestehende  politische  Ord‐ nung,  von  der  es  zur  Herrschaftsausübung  ermächtigt  oder  entmäch‐ tigt wird, indem es seine politische Identität als Herrschender oder als  Beherrschter  formiert.  Dieses  Machtverhältnis  kann  als  autoritär  be‐ zeichnet werden. Im zweiten Fall entfaltet die Subjektwerdung subver‐ sive Potentiale gegenüber der bestehenden Herrschaftsordnung, da das  Subjekt diese als Phantasma entlarvt. Dies gelingt ihm durch den Bezug  auf  das  Reale  als  einer  Dimension  abstrakter  Negativität,  die  nicht 

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durch  die  bestehende  politische  Ordnung  determiniert  werden  kann.  Es  handelt  sich  um  ein  subversives  Machtverhältnis.  Das  folgende  Schema  stellt  das  Kräfteverhältnis  zwischen  Subjekt  und  Herrschafts‐ ordnung in seiner zweifachen Gestalt dar:                                        Autoritäre Macht                                       Ermächtigung /                                      Entmächtigung        Herrschaftsordnung                          Subjekt      nicht symbolisierbare                                                                                   Wirklichkeit (‚Reales‘)                                           Intervention                                        Subversive Macht    Schema 1: Autoritäre und subversive Macht 

  Die Unterscheidung zwischen einer autoritären und einer subversiven  Macht des Subjekts kann nun auch für die Interpretation der neutesta‐ mentlichen  Texte  herangezogen  werden,  um  mit  ihrer  Hilfe  zwischen  verschiedenen  Formen  der  Positionierung  des  Subjekts  zu  differenzie‐ ren.  Dabei  ist  zu  berücksichtigen,  dass  die  neutestamentlichen  Texte  historisch gesehen die hierarchisch verfasste Gesellschaftsordnung der  Antike vor Augen haben. Die politische Einflusslosigkeit der Mehrheit  der  Bevölkerung  wurde  hier  innerhalb  von  autoritären  Machtverhält‐ nissen stabilisiert, damit die Herrschaft von einigen Wenigen ausgeübt  werden konnte. Von diesem Motiv ist auch die Verheißung der escha‐ tologischen Mitherrschaft bestimmt, welche die christlichen Heilszusa‐ gen  mittels  politischer  Partizipationszusagen  interpretiert:  Eine        Teilhabe  an  der  Herrschaft  Christi  im  Eschaton  wird  entweder  einer    bestimmten  christlichen  Gruppe  innerhalb  der  Gemeinde  (Gemeinde‐ leiter, Wanderradikale oder Märtyrer) oder den Christen im Gegensatz  zur  Welt  verheißen.  Damit  wird  das  hierarchische  Herrschaftsmodell  der antiken politischen Ordnung allerdings nicht grundsätzlich in Fra‐ ge gestellt oder abgelehnt, sondern – so meine These – lediglich imagi‐

 

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när  verdoppelt.21  Die  Verheißung  der  Mitherrschaft  ist  eine  Form  der  politischen  Ideologie,  welche  die  bestehende  Herrschaftsordnung  zu  transformieren sucht. Indem Christen dazu angeleitet werden, sich im  Rahmen  einer  politischen  Eschatologie  und  Apokalyptik  als  Mitherr‐ schende zu identifizieren, kann ihr Traum von der Macht gegen aktuel‐ le  Erfahrungen  des  Scheiterns  abgeschirmt  werden.  Wie  dies  erfolg‐ reich  funktioniert  haben  könnte,  werde  ich  im  Folgenden  kurz  erläutern.  Bemerkenswert ist hier zunächst, dass die Autorisierung der escha‐ tologischen Herrschaftszusage im Neuen Testament stets an die Person  Christi  gebunden  ist  und  damit  dem  menschlichen  Subjekt  entzogen  bleibt.  Indem  ein  unverfügbarer  Anderer  die  Legitimations‐  und  Durchsetzungsgewalt  für  die  Herrschaftsteilhabe  der  Christen  bzw.  einer  innergemeindlichen  christlichen  Gruppe  innehat,  erscheint  ihr  Herrschaftsverlangen  letztlich  nicht  als  ihr  eigenes  Begehren,  sondern  als dasjenige ihres Gottes und damit als Begehren eines Anderen. Dies  hatte ich weiter oben bereits unter dem Stichwort des eschatologischen  Apriori erläutert. Der Glaube an die Zusage der Mitherrschaft ist daher  –  und  dies  belegen  die  neutestamentlichen  Texte  –  konstitutiv  auf  die  Vorstellung  von  der  Allmacht  Gottes  angewiesen,  die  sich  eschatolo‐ gisch als Herrschaft und Gericht Christi über die Erde und als Mitherr‐ schaft der Christen (oder zumindest einiger Christen) mit ihm realisie‐ ren  soll.  Diese  Vorstellung  übernimmt  insofern  die  Funktion  eines      politischen  Phantasmas,  als  die  Allmacht  Gottes  die  prinzipielle  Be‐ grenztheit aller menschlichen Herrschaftsansprüche durch ein eschato‐ logisches Apriori umgeht und den Christen erlaubt, ihre Erfahrung der  politischen  Ohnmacht  und  Einflusslosigkeit  durch  die  Imagination  ei‐ ner endzeitlichen Herrschaft zu überwinden. Die Allmacht Gottes fun‐ giert  hier  also  im  Lacanschen  Sinne  als  ‚Objekt  klein  a‘.  Sie  garantiert  den  Statuswechsel  vom  Beherrschten  zum  (Mit‐)Herrschenden  durch  eine imaginäre Verdopplung der gegenwärtigen in einer endzeitlichen  Herrschaftsordnung, die mit einer Umkehrung der bestehenden autori‐ tären Machtverhältnisse, aber nicht mit deren Überwindung verbunden  ist.  Historisch  könnten  hier  das  Martyrium  der  ersten  Christen  und  andere Leidenserfahrungen der christlichen Existenz wie Heimat‐ und  Besitzlosigkeit,  Verfolgung  und  Ächtung  eine  Sinnstiftung  erfahren  haben, die christliche Lebensideale in ihrer politischen Tragweite nicht  vollständig  aufgibt,  sondern  sie  vielmehr  auch  angesichts  negativer                                 21

Dies  ist  auch  gegen  Roose  zu  betonen,  die  dem  Motiv  der  Mitherrschaft  zuweilen  einen sehr egalitären Charakter zuschreibt. Vgl. Roose, Mitherrschaft, 258f.308f.

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Erfahrungen  stabilisiert.  Die  imaginäre  Zusage  politischer  Partizipati‐ onsmöglichkeiten  durch  die  Wiederkehr  Christi  als  Herrscher  und  Richter der Welt am Ende der Zeiten könnte die aktuellen Erfahrungen  in ein neues Licht gerückt und die Sehnsucht bzw. das Begehren nach  Einfluss, Rang und Macht unter den ersten Christen kanalisiert haben.  Wie  erfolgreich  dieses  Programm  empirisch  gewesen  ist,  kann  hier  nicht beurteilt werden und ich möchte diese Frage im Folgenden auch  ausklammern.  Als  Hypothese  für  die  Lektüre  der  neutestamentlichen  Texte kann jedoch formuliert werden, dass sie ihren Lesern eine Identi‐ fikation  als  Mitherrschende  mit  Christus  anbieten,  um  sie  vor  den    destruktiven  Konsequenzen  ihrer  aktuellen  politischen  Ohnmachtser‐ fahrungen  zu  schützen  und  eine  opportunistische  Abkehr  vom  christ‐ lichen  Glauben  zu  verhindern.  Nichtsdestotrotz  begründet  das  Phan‐ tasma der Mitherrschaft eine imaginäre politische Identität, die erneut  ein  autoritäres  Machtverhältnis  konstituiert.  Denn  die  Mitherrschaft  gründet  nicht  im  eigenen  Streben  des  Subjekts  nach  Herrschaft,  son‐ dern wird ihm als Lohn oder Geschenk aufgrund des Erlösungswerks  Gottes  in  Jesus  Christus  zuteil.  Des  Weiteren  kann  sie  ebenso  dazu  dienen,  die  gegenwärtige  Herrschaftsausübung  und  ‐entfaltung  von  Gemeindeleitern  zu  legitimieren,  wie  deren  Herrschaftsverlangen  zu  disqualifizieren,  indem  im  Gegensatz  dazu  der  Statusverzicht  von  christlichen  Märtyrern  und  Wanderradikalen  als  verdienstvolles  Be‐ mühen in der Endzeit belohnt und damit geadelt wird. Das Motiv der  Mitherrschaft  bietet  dem  Subjekt  demnach  eine  Identitätskonstruktion  an, welche es erlaubt, sein gegenwärtiges Leiden im Hinblick auf eine  eschatologische  Bestimmung  (verdienstvoll)  auf  sich  zu  nehmen.  Die  Dialektik  des  Subjektbegehrens  wird  in  eine  zirkuläre  Bewegung  zwi‐ schen den folgenden zwei Polen überführt:                                               Herrschaftszugewinn      De‐Zentrierung durch                                          Zentrierung durch  Ohnmachtserfahrung                                           eschatologische Zusage  und Leiden                                                            der Mitherrschaft                                                 Herrschaftsverzicht    Schema 2: De‐Zentrierung und Zentrierung des politischen Subjekts 

 

 

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Dieser  Sachverhalt  lässt  sich  in  erster  Linie  für  den  1.  Korintherbrief  plausibilisieren,  in  dem  der  soziale  Status  der  Christen  im  Gegenüber  zur  Welt  als  höherrangig  eingestuft  wird:  Die  Aussicht  auf  das  Mitrichten  mit  Christus  eröffnet  den  Mitgliedern  der  christlichen  Ge‐ meinde bereits aktuell einen Statuswechsel von der Untergebenen‐ zur  Herrscherrolle. Diese Aussicht wird verstärkt durch die im Neuen Tes‐ tament konkret geschilderten Vorstellungen des Mitherrschens als Sit‐ zen  auf  dem  Thron,  als  Richten  oder  als  Kämpfen  im  Heiligen  Krieg.  Die  Vorstellung  der  Mitherrschaft  erweist  sich  in  den  neutestamentli‐ chen  Texten  also  als  Kompensationsmittel  für  politische  Einflusslosig‐ keit. Sie erlaubt es, den Traum von einem Herrschaftswechsel imaginär  zu realisieren, während er faktisch nicht stattfindet. Eine Befreiung des  Subjekts  von  seinen  Phantasmen  vollzieht  sich  durch  sie  jedoch  nicht.  Diese  dürfte  nicht  durch  einen  bloßen  Herrschafts‐,  sondern  im  oben  beschriebenen Sinne durch einen Machtwechsel des Subjekts eingeleitet  werden. Die dazu erforderliche Wende von der Autorisierung zur sub‐ versiven  Intervention  gegen  eine  Herrschaftsordnung  erfordert  jedoch  eine  Kritik  der  Verheißung  eschatologischer  Mitherrschaft  selbst.  Im  letzten  Abschnitt  soll  daher  gefragt  werden,  inwiefern  die  neutesta‐ mentlichen Texte auch Potentiale für eine solche subversive Positionie‐ rung des Subjekts bieten. 

4. Herrschaftskritik im Motivkomplex der Mitherrschaft?  Wie  wir  gesehen  haben,  ermöglicht  das  Phantasma  der  eschatologi‐ schen  Herrschaftsteilhabe  dem  Subjekt,  das  faktische  Scheitern  seines  gegenwärtigen Herrschaftsbegehrens zu verdrängen. Zugleich wird die  Struktur  autoritärer  Macht  jedoch  nicht  in  Frage  gestellt.  Dagegen  könnte die Konstitution eines ohnmächtigen und politisch bedeutungs‐ losen  Subjekts,  das  vom  Scheitern  seines  Herrschaftsbegehrens  ge‐ zeichnet ist, zur Subversion der bestehenden Herrschaftsordnung und  ihrer  Machtverhältnisse  als  Ganzes  beitragen.  Während  die  imaginäre  Verdopplung  also  lediglich  auf  eine  Stabilisierung  der  bestehenden  Herrschaftsverhältnisse  oder  ihre  apokalyptische  Umkehr  und  Erset‐ zung  durch  neue  Herrschaftsverhältnisse  (Eschaton  als  Gegenwelt)  zielt,  könnte  die  subversive  Intervention  einen  Zusammenbruch  der  Herrschaftsordnung  als  Ganzes  herbeiführen.  Sie  würde  nicht  etwa  eine Ordnung durch eine andere Ordnung ersetzen, sondern die beste‐ hende Ordnung durch die Konstitution eines außerordentlichen politi‐ schen  Subjekts,  das  in  Bezug  zum  ‚Realen‘  steht,  unterbrechen  und  damit den phantasmatischen Charakter des ‚Objekt klein a‘ aufdecken. 

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Doch  geben  die  neutestamentlichen  Texte  Zeugnis  von  einem  solchen  außerordentlichen  Subjekt,  das  die  phantasmatische  Realität  der  Mit‐ herrschaft  suspendiert  und  sich  der  Totalisierung  seiner  konkreten  Existenz  durch  diese  ideologische  Identifikation  entzieht?  Inwiefern  wird also mit der Rede von der Mitherrschaft nicht nur „eine eminent  herrschaftskritische  Funktion  gegenüber  allen  Formen  weltlicher  Machtausübung“,22 sondern auch gegenüber Formen religiöser Macht‐ ausübung in Anschlag gebracht?  Dazu müsste gezeigt werden können, inwiefern die Differenz zwi‐ schen  der  faktisch  bestehenden  und  der  imaginären  Herrschaftsord‐ nung in den neutestamentlichen Texten selbst aufgedeckt und präsent  gehalten wird. Dies könnte beispielsweise dadurch geschehen, dass die  Abschließung  der  eschatologischen  Herrschaftsideologie  gegen  ihr  eigenes Scheitern durch ein imaginäres ‚Objekt klein a‘ offen gelegt und  der leere Fleck, um den sie kreist, als ein solcher identifiziert wird. Dies  hätte  den  Effekt,  dass  die  Totalisierung  der  Wirklichkeit  durch  das  ‚Objekt  klein  a‘  und  die  mit  ihr  vorgenommene  Entsubjektivierung  unterbrochen werden. Möglich wäre dies, sofern das Subjekt selbst mit  einem subversiven Potential versehen ist. Denn nach Lacan ist es dieje‐ nige Instanz, die stets in Kontakt mit dem Realen steht und den politi‐ schen  Herrschaftsordnungen  damit  immer  ein  Moment  ihrer  Kontin‐ genz  und  Unmöglichkeit  einschreibt.  Slavoj  Žižek  spitzt  dies  folgendermaßen  zu:  „[T]he  subject  is  nothing  but  the  failure  point  of  the  process  of  his  symbolic  representation.“23  Übertragen  auf  die  neu‐ testamentlichen Texte ließe sich also danach fragen, ob sich im Umkreis  des Motivs der Mitherrschaft auch Hinweise auf ein subversives politi‐ sches  Subjekt  finden  lassen,  welches  die  Grenze  der  Vorstellung  der  Mitherrschaft offen legt.  Nach  Hanna  Roose  wird  eine  Infragestellung  oder  Relativierung  des Motivs der Mitherrschaft im Neuen Testament nur im Kontext des  1. Korintherbriefs diskutiert. Roose sieht in 1. Korinther 3,23 eine Über‐ bietung der eschatologischen Herrschaftszusagen durch das Motiv der  Zugehörigkeit  zu  Christus  angelegt.24  Diese  Relativierung  der  Herr‐ schaftszusage  wird  in  1.  Korinther  15,23–28  vorgenommen,  indem  die  Herrschaft Christi und das Mitherrschen mit ihm nur als ein unvollende‐ tes  Eschaton  dargestellt  werden,  das  durch  das  vollendete  Eschaton  abgelöst  wird,  in  dem  Gott  alles  in  allem  ist  und  alle  Gewalt,  Macht                                 22   Schwindt, Die Erwartung eschatologischer Mitherrschaft, 41.  23   Žižek, Ideology, 195.  24   Vgl. Roose, Mitherrschaft, 276f.281. 

 

Mitherrschaft als politisches Phantasma 

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und  Kraft  zunichte  gemacht  werden.25  Nach  Roose  wird  damit  die  Herrschaftsmetaphorik  innerhalb  der  paulinischen  Theologie  auf  die  Beschreibung  eines  vorläufigen  eschatologischen  Zustands  begrenzt  und durch die Vorstellung einer Auflösung aller Differenzen und einer  Integration  bzw.  Unterwerfung  aller  Instanzen  von  Leben  und  Tod  unter die Allmacht Gottes (1Kor 15,28) abgelöst. Diese Überbietung gibt  nun  aber  keine  Einsicht  in  den  blinden  Fleck  des  ideologischen  Phantasmas  der  Mitherrschaft,  sondern  überhöht  diesen  sogar  noch,  indem  die  Vernichtung  des  fundamentalen  Antagonismus  von  Leben  und Tod angekündigt wird.26  Auch eine Auslegung der Eingangspassagen des 1. Korintherbriefs  vermag hier keine weiteren Anhaltspunkte zu geben. Es werden zwar  subversive  Interventionen  eines  ohnmächtigen  und  schwachen  Sub‐ jekts  gegen  die  geltende  politische  und  philosophische  Weltordnung  beschrieben, allerdings wird auch in diesen Passagen des Paulusbriefs  nicht direkt das Motiv der Mitherrschaft dekonstruiert. Dies gilt eben‐ falls für 1. Korinther 6,7 und Markus 10,42–45, in denen die Erfahrung  des Scheiterns von weltlichen Herrschaftsansprüchen thematisiert und  dazu  aufgefordert  wird,  das  Herrschaftsbegehren  unter  Christen  ganz  aufzugeben.  Auch  in  diesen  Texten  wird  jedoch  nicht  die  eschatologi‐ sche  Zusage  der  Mitherrschaft  kritisch  beleuchtet,  sondern  lediglich  das Herrschaftsbegehren des Menschen im Allgemeinen.   In  diesem  Sinne  lässt  sich  wohl  kein  Umgang  mit  dem  Motiv  der  Mitherrschaft  in  den  Texten  des  Neuen  Testaments  ausmachen,  wel‐ cher ideologiekritisch das Phantasma entlarvt. Die verdeckten Spaltun‐ gen  des  politischen  Subjekts  können  vielmehr  erst  durch  eine  post‐ strukturalistische  Lektüre  der  Texte  offen  gelegt  werden.  Die  Präsenz  des  Motivs  der  Mitherrschaft  zeigt,  dass  die  Autoren  des  Neuen  Tes‐ taments zwar ausgehend von der Figur des auferstandenen Gekreuzig‐ ten  viele  herrschafts‐  und  machtkritische  Impulse  entwickelten,  im  Hinblick auf ihre eigenen religiösen Machtphantasien aber nicht selbst‐ kritisch genug waren. 

                               25   Vgl. ebd., 280.  26   Bei der frühchristlichen  Auferstehungshoffnung  handelt es sich trotz ihrer eminent  sozialen und diesseitigen Bedeutung nicht um eine Dekonstruktion der Metaphysik  göttlicher Macht. Vgl. dazu Eichhorn, Paulus und die imperiale Theologie, 149. 

Eschatologische Mitherrschaft      Die transformative Kraft im politischen Diskurs  der ersten Christen   

STEFAN SCHREIBER 

  Es  kann  heute  als  weithin  anerkannt  gelten,  dass  unter  den  Christus‐ Anhänger/innen der ersten drei oder vier Generationen (nahezu) keine  Mitglieder  der  gesellschaftlichen  Elite  anzutreffen  waren.1  Zur  Elite  zählten  im  römischen  Prinzipat  das  Kaiserhaus,  Senatoren,  Ritter  und  Dekurionen  in  Rom  sowie  die  herrschenden  Aristokratenfamilien  in  den Städten der Klientelstaaten und Provinzen, die die politischen Ge‐ schicke  lenkten  und  über  den  größten  Teil  der  wirtschaftlichen  Res‐ sourcen  verfügten.  Nur  eine  schmale  Elite  war  im  Rom  des  frühen  Prinzipats  wie  in  antiken  Gesellschaften  überhaupt  an  der  Ausübung  politischer Macht beteiligt. Weder die urchristlichen noch die hellenis‐ tisch‐römischen Quellen aus dieser Zeit enthalten Hinweise auf Chris‐ ten aus der Oberschicht.2 Bestenfalls einige Reiche aus der lokalen Elite,  v. a.  Frauen,  könnten  Mitglieder  einer  Christus‐Gemeinde  gewesen  sein.  Die ersten Christen konnten angesichts dieser sozialen Konstellati‐ on nicht als Akteure auf der politischen Bühne tätig werden. Sie besa‐ ßen  keine  Möglichkeit  zur  aktiven  Mitgestaltung  politischer  Prozesse,  denn politisches Handeln lag exklusiv in den Händen der Elite, die ein  Monopol  auf  Grundbesitz  und  Arbeitskräfte  besaß,  von  der  ökonomi‐                                1  

2  

Zum  antiken  Gesellschaftsmodell  und  dem  sozialen  Ort  der  ersten  Christen  vgl.  E.W. Stegemann/W. Stegemann,  Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Ju‐ dentum  und  die  Christusgemeinden  in  der  mediterranen  Welt,  Stuttgart  21997,  70– 80.249–271;  zur  neuesten  Forschung  T.  Schmeller,  Der  erste  Korintherbrief,  in:  M.  Ebner/S. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2008,  303–325, hier 318.  Die  Hinrichtung  des  Konsuls  T.  Flavius  Clemens  und  die  Verbannung  seiner  Frau  Flavia  Domitilla  im  Jahr  95  n. Chr.,  die  Suet.  Dom.  15,1  erwähnt,  resultieren  kaum  aus einer Hinwendung zum Christsein. Die bei Cass. Dio 67,14 genannten Vorwürfe  der „Gottlosigkeit“ und der Verbindung mit Sympathisanten des Judentums bleiben  für eine Identifizierung als Christen zu unspezifisch. Dazu W. Eck, Art. Domitianus  [1], in: DNP 3 (1997), 746–750, hier 747; A. Heinze, Johannesapokalypse und johan‐ neische  Schriften.  Forschungs‐  und  traditionsgeschichtliche  Untersuchungen  (BWANT 142), Stuttgart 1998, 228–230. 

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Stefan Schreiber 

schen  Potenz  der  kaiserlichen  Regierung  (Steuern,  Rohstoffe,  Kriegs‐ beute)  profitierte,3  den  Handel  dominierte  und  eine  eigene  kulturelle  Identität entwickelt hatte. Diese Elite war der Staat, wie Michael Mann  aus  einer  sozialgeschichtlichen  Perspektive  auf  die  historischen  Ver‐ hältnisse  untersucht  und  dargelegt  hat.4  Es  wäre  nicht  verwunderlich,  wenn der strukturell verwehrte Zugang zur politischen Herrschaft bei  den  ersten  Christen  das  Gefühl  der  Machtlosigkeit  und  Resignation  wachrufen  würde.  Umso  erstaunlicher  sind  die  Antworten  der  ur‐ christlichen Autoren.  Die Frage nach politischen Äußerungen der ersten Christen und ei‐ ner kritischen Haltung gegenüber dem römischen Imperium tritt erst in  der  neueren  Exegese  verstärkt  in  den  Blick.5  Mein  Beitrag  greift  diese  Frage am Beispiel der Denkfigur vom eschatologischen Herrschen bzw.  Richten der Christen zusammen mit Christus auf, die sich in verschie‐ denen  Schriften  der  ersten  Christen  findet.  Auf  den  ersten  Blick  er‐ scheint diese Denkfigur als simple apokalyptische Umkehrung der ge‐ genwärtigen  Herrschaftsverhältnisse:  Wenn  Gott  seine  Endzeit  durch‐ setzt,  werden  die  Christen,  die  in  der  Gegenwart  von  der  politischen  Herrschaft ausgeschlossen sind und vielleicht sogar unter ihr zu leiden  haben,  in  höchste  Herrschaftspositionen  eingesetzt  und  können  dann  „den  Spieß  umdrehen“  –  eine  Projektion  der  Machtphantasien  von  Ohnmächtigen? Mit dieser Vorstellung sind aber – so will mein Beitrag  zeigen  –  Transformationsprozesse  verbunden,  die  sowohl  die  Selbst‐ wahrnehmung des Einzelnen als auch das soziale Gefüge der Gemein‐ den  betreffen.  In  die  Sprache  eines  philosophischen  Diskurses  über‐ setzt,  ließen  sich  diese  Transformationen  als  Elemente  von  Subjekt‐                                3  

4  

5  

Die immensen staatlichen Einnahmen und Ausgaben bedingten ein wirtschaftliches  Verteilungs‐  und  Austauschsystem;  dazu  H.  Kloft,  Die  Wirtschaft  des  Imperium  Romanum, Mainz 2006, 15–18.85f.  M.  Mann,  Geschichte  der  Macht.  Zweiter  Band:  Vom  Römischen  Reich  bis  zum  Vorabend der Industrialisierung (Theorie und Gesellschaft 20), Frankfurt/New York  1994,  24–45,  bes.  38.44.  Auch  wenn  sich  Mann  zum  Teil  auf  älteres  Datenmaterial  stützt,  scheinen  mir  seine  Beobachtungen  zur  Gesellschaftsstruktur  des  römischen  Reiches grundsätzlich weiterhin gültig und aufschlussreich.  Gute  Forschungsüberblicke  bieten  C.  Strecker,  Taktiken  der  Aneignung.  Politische  Implikationen  der  paulinischen  Botschaft  im  Kontext  der  römischen  imperialen  Wirklichkeit, in: E. Reinmuth (Hg.), Neues Testament und Politische Theorie. Inter‐ disziplinäre  Beiträge  zur  Zukunft  des  Politischen  (ReligionsKulturen  9),  Stuttgart  2011, 114–161; H. Omerzu, Das Imperium schlägt zurück. Die Apologetik der Apos‐ telgeschichte auf dem Prüfstand, ZNT 9 (2006) 26–36; Dies., Paulus als Politiker? Das  paulinische  Evangelium  zwischen  Ekklesia  und  Imperium  Romanum,  in:  Logos  –  Logik  –  Lyrik  (FS  K.  Haacker)  (ABG  27),  Leipzig  2007,  267–287.  Vgl.  S.  Schreiber,  Paulus als Kritiker Roms? Politische Herrschaftsdiskurse in den Paulusbriefen, ThGl  101 (2011) 338–359. 

 

Eschatotologische Mitherrschaft 

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konstitution verstehen. Mein Beitrag folgt dieser Spur mit den Mitteln  des Exegeten. 

1. Die Fragestellung  Die Vorstellung von der Mitherrschaft bzw. dem Mitrichten der Chris‐ ten bei der endgültigen Durchsetzung Gottes spiegelt, so meine These,  an  einigen  Stellen  urchristliche  Wahrnehmungen  der  politischen  Machtverhältnisse  ihrer  Zeit.6  Durch  deren  Brechung  im  Prisma  einer  eschatologischen Perspektive vollziehen sich Mechanismen ihrer Bear‐ beitung.  Dabei  werden  sich  Christen  ihrer  gesellschaftlich‐politischen  Position  bewusst  und  entwickeln  Strategien,  unter  den  konkreten  Be‐ dingungen  der  von  Machthierarchien  geprägten  antiken  Lebenswelt  damit produktiv umzugehen. Dieser Prozess lässt sich an drei neutes‐ tamentlichen Texten oder Textgruppen gut beobachten, die ich im Fol‐ genden bespreche.  Dass  diese  Denkfigur  in  einem  politischen  Diskurs  einsetzbar  ist,  wird  schon  aus  dem  religionsgeschichtlichen  Umfeld  des  Frühjuden‐ tums deutlich, aus dem die urchristlichen Autoren die Figur produktiv  entlehnt haben dürften. Die Verheißung einer eschatologischen Richter‐  und  Herrscherfunktion  findet  sich  bereits  in  Dan  7,18.22.27  (LXX  und  Theodotion):  Die  „Heiligen  des  Höchsten“  werden  die  „Königsherr‐ schaft“ (βασιλεία) übernehmen (7,18), ihnen wird das „Gericht(surteil)“  (κρίσις  LXX,  κρίμα  Theod.)  übergeben  sowie  die  „Königsherrschaft“  (7,22), ihrer Königsherrschaft werden alle anderen Herrschaften unter‐ geordnet sein (7,27). Der Kontext ist eminent politisch, denn die Herr‐ schaft der Heiligen fungiert als Überwindung der Königreiche der Er‐ de, die Israel feindlich gegenüber stehen. Die Deutung der Nachtvision  Daniels  verheißt  also  nichts  weniger  als  eine  totale  Umkehrung  der  politischen  Verhältnisse  (7,17–27),  was  sich  als  visionäre  Verarbeitung  bedrängender  Erfahrungen  von  kultureller  Aushöhlung  und  politi‐ scher Ohnmacht interpretieren lässt. – Nach Weish 3,8 werden die Ge‐                                6  

Macht  lässt  sich  als  die  Fähigkeit  zur  Durchsetzung  bestimmter  Interessen  um‐ schreiben, soziale Macht als die Fähigkeit zu gesellschaftlich intentionalem Handeln;  politische Macht kann man dann als soziale Macht,  die besonders auf Rechtsmacht  basiert, weiter spezifizieren; vgl. R. Zimmerling, Macht, in: Evangelisches Staatslexi‐ kon.  Neuausgabe,  Stuttgart  2006,  1474–1480.  Auf  den  Einfluss  kollektiver  gesell‐ schaftlicher  Prozesse,  d. h.  Formen  sozialer  Normierung,  die  in  sozialen  Interakti‐ onsgefügen  oft  diffus  wirksam  werden,  hat  grundlegend  M.  Foucault,  Die  „Gouvernementalität“ (1978), in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Bd. 3,  hg. von D. Defert/F. Ewald, Frankfurt a. M. 2003, 796–823, aufmerksam gemacht. 

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rechten,  auch  wenn  sie  im  irdischen  Leben  Unbill  erfuhren  (3,1–6),  „Völker richten und über Nationen herrschen“. Diese Herrscherfunkti‐ on  zielt  pragmatisch auf  eine  Rehabilitation  der  Gerechten,  die  in  den  Augen  ihrer  Umwelt  eher  von  Gott  verlassen  scheinen;  sie  bleibt  frei‐ lich  eingebunden  in  Gottes  Herrschaft: „und  über  sie  wird  König  sein  der Herr in alle Ewigkeit“ (3,8).  Zur  Verbreitung  der  Vorstellung  kann  noch  auf  die  vernichtende  Macht  der  „Gerechten  und  Heiligen“  bzw.  der  „Auserwählten“  über  die Machthaber der Welt beim eschatologischen Gericht in äthHen 38,5  bzw. 48,9 verwiesen werden; das Gericht der Gerechten über die Sün‐ der kennt äthHen 91,12; 95,3; 98,10–12. Eine vorangehende Bedrängnis  der Gerechten durch die Machthaber oder Sünder wird an einigen Stel‐ len  sichtbar,  so  dass  die  Umkehrung  der  politischen  Verhältnisse  pragmatisch leitend bleibt. 4QpHab 5,3–6 stellt das Gericht der Erwähl‐ ten über die Völker und die Frevler im eigenen Volk in Aussicht.7  Gegenüber  der  apokalyptischen  Imagination,  die  die  zukünftige  Umkehrung  der  Machtverhältnisse  in  den  Vordergrund  rückt,  setzen  die urchristlichen Texte einen neuen Akzent: Sie bedenken die pragma‐ tischen Konsequenzen der Vorstellung für die Gestaltung des Gemein‐ delebens. 

2. Transformationen des Richtens bei Paulus: 1 Kor 6,2f.  Die  Denkfigur  einer  eschatologischen  Richterfunktion  der  Christen  bemüht  Paulus  in  1 Kor  6,2f.8  Das  Thema  des  Abschnitts  1 Kor  6,1–11  bilden  Streitfälle  unter  Mitgliedern  der  Gemeinde,  die  die  Streitenden  paganen  Gerichten  zur  rechtlichen  Regelung  vorlegen  wollen.  Wenn  Paulus  in  Bezug  auf  die  städtischen  Gerichtsorgane  in  Korinth  von  „Ungerechten“,  denen,  „die  in  der  Ekklesia  nichts  gelten“,  und  „Un‐ gläubigen“  spricht  (6,1.4.6),  baut  er  ein  distanziertes  Verhältnis  zwi‐ schen  der  Gemeinde  und  ihrer  Umwelt  auf.  Bereits  die  semantische  Opposition von „Ungerechten“ und „Heiligen“ in 6,1 signalisiert diese  grundlegende Distanz. Im Hintergrund stehen weniger Anfeindungen  seitens  der  städtischen  Bevölkerung  oder  Behörden  als  vielmehr  das                                 7   8  

4Q521 Fr. 2, 2,7 weiß von Gott, dass er „Fromme ehrt auf einem Thron ewiger Herr‐ schaft“.  An  zwei  weiteren  Stellen  greift  Paulus  die  Vorstellung  vom  eschatologischen  Mitherrschen/‐richten auf: In 1 Kor 4,8 zur Begründung eines eschatologischen Vor‐ behalts  gegenüber  dem  Vollendungsbewusstsein  einer  bestimmten  Gemeindegrup‐ pe; in Röm 5,17 als Herrschen speziell über den Tod. Dazu R. Schwindt, Die Erwar‐ tung eschatologischer Mitherrschaft der Erlösten bei Paulus, EThL 85 (2009) 23–45. 

 

Eschatotologische Mitherrschaft 

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Bemühen  des  Paulus  um  eine  theologisch  fundierte  Abgrenzung  des  Gemeinde‐Ethos.9  Genau  diese  Abgrenzung  steht  hier  in  Frage.  Sie  wird  besonders  für  wohlhabendere  Gemeindeglieder  problematisch  gewesen sein, die einen gewissen Status in der städtischen Gesellschaft  besaßen und die ihre alten Gewohnheiten weiter pflegten. Nur für sol‐ che  Gemeindeglieder  wird  der  Gang  vor  ein  städtisches  Gericht  über‐ haupt möglich und aussichtsreich gewesen sein.10 Wenn Paulus in 6,3f.  den  Streitgegenstand  als  βιωτικά und  damit  als  alltägliche  Angelegen‐ heiten im Bereich von Vermögen und Erwerb qualifiziert,11 setzt er ein  gewisses Vermögen der Prozessierenden voraus.  Ein erster Argumentationsgang in 1 Kor 6,1–6 spricht das Problem  an  und  zielt  darauf  ab,  dass  die  Gemeinde  Rechtsstreitigkeiten  zwi‐ schen „Brüdern“ im gemeindlichen Binnenraum selbst entscheidet. Die  weitere  Argumentation  überhöht  diesen  Gedanken,  indem  Paulus  ei‐ nerseits dazu auffordert, Rechtsverzicht zu üben und lieber Unrecht zu  ertragen  (6,7),  andererseits  die  Übervorteilung  anderer  Gemeindeglie‐ der  scharf  angreift  (6,8–10)  –  nur  so  wird  die  Gemeinde,  die  ἐκκλησία,  ihrer besonderen geistlichen Qualität gerecht (6,11).  Den  entscheidenden  Begründungszusammenhang  des  ersten  Ar‐ gumentationsgangs  stellen  zwei  rhetorische  Fragen  her:  „Wisst  ihr  nicht, dass die Heiligen (sc. die Gemeinde) die Welt richten werden?“  (6,2),  und  zuspitzend:  „Wisst  ihr  nicht,  dass  wir  Engel  richten  wer‐ den?“ (6,3). Die Bezeichnung „Heilige“ in 1 Kor 6,2 weist besonders auf  Dan 7 und äthHen 38,5 als intertextuelle Bezüge hin, wobei der Fokus  auf dem Aspekt des Richtens kontextbedingt ist. Das Gericht über die                                 9  

Vgl. auch den Fall des Blutschänders (1 Kor 5,1–13), Besuche bei Prostituierten (6,12– 20) und die Frage nach der Abgrenzung gegenüber heidnischem Kult (Götzenopfer‐ fleisch,  8,1–11,1).  Dazu  T.  Schmeller,  Korintherbrief  315f.  M.  Konradt,  Gericht  und  Gemeinde. Eine Studie zur Bedeutung und Funktion von Gerichtsaussagen im Rah‐ men  der  paulinischen  Ekklesiologie  und  Ethik  im  1  Thess  und  1  Kor  (BZNW  117),  Berlin/New York 2003, 333f. betont den Unterschied zwischen den apokalyptischen  Vorstellungen und 1 Kor 6,2f.: Nicht der Bedrängnisgedanke, sondern „ein (zu) ho‐ hes Maß an Integration zumindest einer bedeutsamen Gruppe der Gemeinde in die  Gesellschaft“ bilde die Problemsituation.  10   Auf  Eigentumsfragen  als  Streitsache  deutet  auch  das  „Berauben“  in  6,7f.  Vgl.  G.  Theißen,  Soziale  Schichtung  in  der  korinthischen  Gemeinde,  in:  Ders.,  Studien  zur  Soziologie  des  Urchristentums  (WUNT  19),  Tübingen  31989,  230–271,  hier  258;  M.  Konradt, Gericht 337f. Ob bei den Rechtsstreitigkeiten gesellschaftliche Statusunter‐ schiede  eine  Rolle  spielten  (also  Wohlhabendere  gegen  Ärmere  prozessierten),  gibt  der Text nicht zu erkennen.  11   Vgl. G. Theißen, Schichtung 258; B.W. Winter, Civil Litigation in Secular Corinth and  the Church. The Forensic Background to 1 Corinthians 6.1–8, NTS 37 (1991) 559–572;  E. Ebel, Die Attraktivität früher christlicher Gemeinden. Die Gemeinde von Korinth  im Spiegel griechisch‐römischer Vereine (WUNT II/178), Tübingen 2004, 197. 

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Engel ist hingegen in dieser kollektiven Form sonst nicht bezeugt,12 lässt  sich aber als paulinische Innovation aus bekannten frühjüdischen Vor‐ stellungen  erklären.  Darf  man  die  Engel  dabei  als  himmlische  Reprä‐ sentanten der irdischen Machthaber verstehen, wie dies bei der apoka‐ lyptischen Idee der Völkerengel der Fall ist,13 tritt der schon im Richten  der Welt hörbare Kontrast zwischen Gemeinde und politischen Autori‐ täten noch stärker hervor.  Bedenkt  man,  dass  Paulus  sonst  das  Gericht  als  Funktion  Gottes  bzw. Christi beschreibt (1 Kor 4,4f.; 2 Kor 5,10; Röm 14,10) und dass die  Adressaten  zu  einem  großen  Teil  aus  der  paganen  Kultur  in  Korinth  stammen,  scheint  es  fraglich,  ob  die  Gemeinde  die  Denkfigur  vom  eschatologischen  Richten  der  „Heiligen“  wirklich  bereits  kannte,  wie  die wiederholte rhetorische Frage „wisst ihr nicht“ insinuiert. Es genü‐ gen  freilich  grundlegende  Kenntnisse  über  apokalyptisch  geprägte  Endzeiterwartungen, wie sie den Adressaten allein schon aus der Ver‐ kündigung  des  erweckten  Christus  vertraut  sein  mussten,  um  diese  besondere  Verheißung  einordnen  zu  können.14  Sie  wird  daher  in  der  Gemeinde  zustimmungsfähig  gewesen  sein.  Mit  einem  intendierten  Überraschungseffekt könnte Paulus die Adressaten zur Reflexion anre‐ gen.  Die  eschatologische  Perspektive  impliziert  eine  auffällige  Distanz  der  Christus‐Gemeinden  zur  Stadtgesellschaft  in  Korinth.  Diese  Dis‐ tanz  findet  eine  theologische  Begründung  in  der  neuen  Qualität  der  christlichen  Existenz.15  Mit  der  Erweckung  Jesu  Christi  ist  die  Endzeit                                 12   In Jes 24,21f.; äthHen 19,1f.; 21; 68,2.5; 90,24f.; 91,15; Jud 6; 2 Petr 2,4 führt Gott selbst  das  Gericht  über  die  Engel  durch;  an  anderen  Stellen  dienen  Engel  als  gerichtliche  Vollzugsorgane,  z. B.  äthHen  53,3–5;  54,1–6;  56,1–4;  AssMos  10,2.  Dazu  H.  Roose,  Eschatologische  Mitherrschaft.  Entwicklungslinien  einer  urchristlichen  Erwartung  (NTOA 54), Göttingen 2004, 266.  13   Semantisch  könnte  die  paradigmatische  Relation  von  „Welt“  in  6,2  und  „Engel“  in  6,3 darauf hindeuten. Das Gericht über die Völkerengel kennt z. B. äthHen 90,22–25;  91,15;  in  55,4  ist  der  messianische  Erwählte  das  ausführende  Organ.  Zum  Hinter‐ grund  der Völkerengel H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kap. 5,1–11,1  (ÖTK  7/2),  Gütersloh/Würzburg  2000,  57;  positiv  aufgenommen  bei  R.  Schwindt,  Erwartung 31.42. M. Konradt, Gericht 332f. will hingegen auch das Gericht über die  gefallenen  Engel  von  Gen  6,1–4  einbeziehen  (vgl.  äthHen  10,12f.).  –  Zum  Hinter‐ grund  auch  P.M.  Hoskins,  The  Use  of  Biblical  and  Extrabiblical  Parallels  in  the  In‐ terpretation of First Corinthians 6:2–3, CBQ 63 (2001) 287–297.  14   Einen  Zusammenhang  mit  der  eschatologischen  Richterfunktion  Christi  macht  Paulus hier nicht explizit.  15   In 1 Kor 1,18–2,16 stellt Paulus die Weisheit der Welt der Weisheit Gottes diametral  gegenüber und zeigt anhand der  „Torheit“ des Kreuzes, wie in der durch  Christus  initiierten  neuen  Wirklichkeit  eine  radikale  Umwertung  der  Maßstäbe  und  Werte  der Gesellschaft stattfindet. Dazu H. Roose, Mitherrschaft 265f. 

 

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Gottes  bereits  angebrochen,  und  die  Gemeinde  lebt  in  dieser  neuen  Wirklichkeit.16  In  spezifischer  Metaphorik  sagt  dies  1 Kor  6,11:  „Doch  ihr  wurdet  abgewaschen,  doch  ihr  wurdet  geheiligt,  doch  ihr  wurdet  gerecht gesprochen im Namen des Herrn Jesus Christus und im Geist  unseres  Gottes.“17  Diese  neue  Existenz  bedeutet  tatsächlich  eine  Ab‐ wendung  vom  üblichen  gesellschaftlichen  Leben,  das  Paulus  in  6,9f.  durch  eine  Aufzählung  negativ  besetzter  sozialer  Rollen  deutlich  ab‐ wertet.  Wer  in  die  eschatologische  Christus‐Gemeinde  hineingenom‐ men wurde, hat Anteil an ihrer besonderen eschatologischen Qualität,  besitzt  einen  neuen  Status  vor  Gott  und  innerhalb  der  Gemeinde.  Da‐ her  gilt  die  Verheißung  des  eschatologischen  Richtens  auch  allen  Ge‐ meindegliedern  ohne  Bevorzugung  besonders  Begabter,  Eifriger  oder  Hingebungsbereiter.  Die Reaktion auf die politischen Verhältnisse in der Stadt Korinth,  die  Paulus  hier  als  Folge  der  neuen  eschatologischen  Existenz  an‐ spricht, hat eine doppelte Dimension: (1) Im Blick auf die Beziehungen  der  Gemeinde  nach  außen  soll  eine  klare  Distanz  zu  den  politischen  Institutionen – hier konkret zu den städtischen Gerichten – durch weit‐ gehendes Ignorieren gelebt werden; (2) im Binnenraum der Gemeinde  soll  darüber  hinaus  eine  grundlegende  Transformation  des  üblichen  sozialen Verhaltens stattfinden.  (1)  Der  neue  Status  der  Gemeinde  als  endzeitlich  Erwählte  kulmi‐ niert  in  der  Verheißung  eines  eschatologischen  Rollenwechsels:  ihres  zukünftigen  Richtens  der  Welt  und  sogar  der  Engel.  Die  angewandte  Argumentationsfigur eines Schlusses a maiore ad minus macht klar, dass  die  Gemeinde  umso  eher  ihre  eigenen,  vergleichsweise  geringfügigen  Streitigkeiten  (βιωτικά/Alltägliches)  zu  schlichten  vermag  (6,2f.).  Dies  impliziert eine weitergehende politische Haltung: Wenn in der Vollen‐ dung  die  politischen  Verhältnisse  umgekehrt  werden,  d. h.  die  jetzt  politisch  völlig  bedeutungslose  Christus‐Gruppe  dann  kosmologische  Entscheidungsgewalt besitzen wird,18 hat sie allen Grund, bereits in der  Gegenwart die politischen Instanzen, konkret die städtischen Rechtsin‐                                16   Im Hintergrund steht ein apokalyptisches Denkmodell: Die Endzeit beginnt mit der  Erweckung  der  Toten.  Wenn  Jesus  erweckt  wurde,  bedeutet  dies  den  Anbruch  der  Endzeit.  An  Jesus  als  dem  „Erstling  der  Entschlafenen“  (1 Kor  15,20)  haben  seine  Anhänger/innen bereits jetzt Anteil – auch wenn die Verwirklichung der eschatolo‐ gischen  Vollendung  der  Zukunft  vorbehalten  bleibt.  Vgl.  1 Kor  1,26–31;  15,20–28;  Röm 8,12–30.  17   Zur Begrifflichkeit und einem möglichen Sitz im Leben bei der Taufe vgl. D. Zeller,  Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010, 218f.  18   In der Gegenwart ist das Richten über die außerhalb der Gemeinde Stehenden frei‐ lich allein die Angelegenheit Gottes, vgl. 5,12f. 

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stitutionen, zu ignorieren. „Wer die Welt richten wird, kann sich nicht  durch die Welt richten lassen.“19  Als  Modell  für  die  Regelung  von  Rechtsstreitigkeiten  im  Binnen‐ raum  einer  Gruppe  könnte  Paulus  die  Praxis  in  jüdischen  Synagogen  und  manchen  paganen  Vereinen  gedient  haben.20  Er  greift  solche  Mo‐ delle  aber  nirgends  direkt  auf,  sondern  erinnert  stattdessen  die  Strei‐ tenden wiederholt daran, dass sie innerhalb der Ekklesia „Brüder“ sind  (1 Kor 6,5.6.8). Damit spielt er auf das Modell einer Familien‐Beziehung  an – und Streitfälle unter Geschwistern werden in der Antike innerhalb  der  Familie  ausgetragen.21  Das  Familien‐Modell  entspricht  dem  neuen  Status  der  Christen.  Indem  die  Gemeinde  nicht  vor  pagane  Gerichte  zieht, sondern deren Rechtsmacht ignoriert, bildet sie ein Gegenüber zu  den politischen Strukturen der Stadtgesellschaft. Sie etabliert quasi ein  eigenes „Rechtssystem“  in  ihrem Binnenraum  und wird so zur Träge‐ rin politischer Macht.  (2) Dieses „Rechtssystem“ besteht – zumindest in der Idealvorstel‐ lung – paradoxerweise gerade im Verzicht auf die Durchsetzung eines  vermeintlichen Rechtsanspruchs (6,7). Und umgekehrt wird auch jedes  Unrecht,  jede  „Beraubung“  des  „Bruders“  als  völlig  unvereinbar  mit  der neuen Existenz der Christen gebrandmarkt (6,8–11). Damit wird ein  Gang  vor  Gericht  nicht  nur  überflüssig,  sondern  als  Versuch,  Macht  über  den  anderen  auszuüben,  auch  kontraproduktiv.  Dies  bedeutet  pragmatisch  eine  Transformation  der  üblichen  gesellschaftlichen  Ver‐ hältnisse  in  dem  Bewusstsein,  in  der  Gemeinde  Christi  einen  neuen  Status  vor  Gott  zu  besitzen.  Die  Denkfigur  des  eschatologischen  Rich‐ tens  unterstützt  diesen  Transformationsprozess,  indem  die  Funktion22                                 19   W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. Bd. 1: 1 Kor 1,1–6,11 (EKK VII/1), Zü‐ rich/Neukirchen‐Vluyn 1991, 410.  20   Nach  Jos.  ant.  14,235  gesteht  Lucius  Antonius  Marcus,  50/49  v. Chr.  Proprätor  der  Asia, der jüdischen Gemeinde in Sardes eigene Versammlungen und eine eigene Ge‐ richtsbarkeit  zu  und  beruft  sich  dabei  auf  eine  Gewohnheit;  dies  impliziert  wohl  auch  der  Beschluss  des  Stadtrats  von  Sardes  in  ant.  14,259–261.  Näheres  über  zu‐ ständige  Instanzen  erfahren  wir  nicht.  –  Die  häufig  angeführten  Statuten  der  Iobakchen in Athen im 2. Jh. n. Chr. (SIG3 1109; deutsch UUC II 86–88) beziehen ihre  Strafregelungen nur auf Vergehen in Fragen der Vereinsdisziplin; interessant ist frei‐ lich der Hinweis auf die Bestrafung eines Geschädigten, der öffentlich geklagt hat (Z.  90–94  SIG  bzw.  Z.  43–45  UUC).  Zuständige  Instanzen  sind  hier  der  Priester,  der  Archibakchos  und  die  Vereinsversammlung.  Insgesamt  fließen  die  Quellen  eher  spärlich; weiteres Material bei D. Zeller, Brief 212 Anm. 97.98; W. Schrage, Brief 408f.  21   Dazu B.W. Winter, After Paul left Corinth. The Influence of Secular Ethics and Social  Change, Grand Rapids/Cambridge 2001, 71. Nach Philostr. soph. 1,25,3 z. B. soll man  Streitfälle des Alltags nicht vor den Richter tragen, sondern zu Hause ausgleichen.  22   Zwischen Status und Machtausübung unterscheidet H. Roose, Mitherrschaft 293. 

 

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des  Richtens  über  die  Welt  dem  zukünftigen  Eschaton  vorbehalten  bleibt  und  dann  von  allen  Christen  in  gleicher  Weise  ausgeübt  wird.  Damit wird jedes Richten über den anderen in der Gegenwart der Ge‐ meinde  in  Frage  gestellt.  Dass  so  auch  die  gesellschaftlich  tragenden  Statusunterschiede  (Jude/Grieche,  Sklave/Freier)  in  der  Gemeinde  als  irrelevant gelten müssen, wird Paulus später ausführen (12,13; vgl. Gal  3,28).  Wenn jemand aus der Gemeinde die Kompetenz und Autorität zur  Schlichtung  von  Streitigkeiten  besitzt,  kann  auf  diese  Instanz  zurück‐ gegriffen werden. Daher fragt Paulus nach einem „Weisen“ in der Ge‐ meinde,23  der  zur  differenzierten  Beurteilung  in  Streitfällen  fähig  ist  (1 Kor  6,5).  Die  Leitlinie  bleibt  jedoch  der  Verzicht  auf  die  Ausübung  von  Rechtsmacht,  die  gegenseitige  Annahme  und  Akzeptanz,  selbst  noch  angesichts  erlittenen  Unrechts.  Wenn  die  Außenwirkung  dieser  Lebensform auf die städtische Umwelt hier überhaupt eine Rolle spielt,  dann liegt sie in der innergemeindlichen Transformation der in Korinth  selbstverständlichen  Statushierarchien,  die  sich  nach  politischem  Ein‐ fluss  in  der  Stadt  und  ökonomischen  Möglichkeiten  bemessen  –  und  faktisch wohl auch häufig für die gerichtliche Entscheidung von Streit‐ fällen ausschlaggebend waren.  Transformation  bedeutet  dabei  konkret,  dass  in  bewusster  Vor‐ wegnahme  der  totalen  Verwandlung  der  politischen  Verhältnisse  in  der Zukunft bereits in der Gegenwart erste Schritte in dieser Richtung  im  Zusammenleben  der  Gemeinde  gegangen  werden.  Dies  ist  dann  möglich, wenn sie sich ihrer neuen Identität und ihres besonderen Sta‐ tus vor Gott bewusst ist. 

3. Alternative Herrschaftskonstellationen in Lk 22,24–30  Die  Verheißung  an  Jesu  Schüler,  dass  sie  auf  Thronen  sitzen  und  die  zwölf  Stämme  Israels  richten  werden  (Lk  22,30),  steht  in  einem  politi‐ schen  Kontext.24  Das  semantische  Feld  der  „Herrschaft“,  das  in  Lk  22,24–30  kohärenzbildend  wirkt,25  verleiht  dem  Text  eine  politische  Tönung und macht ihn so für unseren Zusammenhang interessant. 

                               23   Zum  „Weisen“  als  Richter  vgl.  Dtn  1,9–18:  Mose  setzte  in  Israel  weise  Männer  für  jeden Stamm ein, um Streitfälle zu entscheiden. Dazu D. Zeller, Brief 214.  24   Synoptische  Parallele:  Mt  19,28.  Einen  weitreichenden  traditionsgeschichtlichen  Versuch zum Logion Mt 19,28/Lk 22,30 unternimmt H. Roose, Mitherrschaft 30–95.  25   M. Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 710f. 

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Lk  22,24–30  steht  im  Kontext  der  Passionsgeschichte,26  genauer  beim  letzten Mahl Jesu mit seinen Schülern in Jerusalem. Nach dem Deipnon,  dem abendlichen Mahl (22,14–23), findet das durchaus übliche Sympo‐ sion mit Tischgesprächen statt (22,24–38) – für Lukas der geeignete Ort  für  Abschiedsworte  Jesu  an  die  Apostel.  Damit  gewinnen  Jesu  Worte  über  das  Verhältnis  der  Gemeinde  zu  ihrer  politischen  Umwelt  und  über  ihren  spezifischen  Charakter  testamentarische  Bedeutung.27  Die  Texteinheit ist stringent strukturiert: Nach der Aufforderung, innerhalb  der  Gemeinde  ein  Alternativmodell  zu  den  Herrschaftsverhältnissen  auf  der  politischen  Bühne  zu  etablieren  (22,24–26),  folgt  unmittelbar  eine Begründung mit dem Beispiel Jesu selbst (22,27); dann ergeht die  Verheißung,  nach  bestandenen  Prüfungen  Anteil  an  der  eschatologi‐ schen  Herrschaft  Jesu  zu  erhalten  (22,28–30).  Wie  die  eschatologische  Verheißung mit der politischen Kritik zusammenhängt, wird zu fragen  sein.  Der  erste  Teil  Lk  22,24–26  nimmt  auf  die  geltenden  Statusverhält‐ nisse der hellenistischen bzw. römischen Welt Bezug. Am Anfang steht  die  Frage  nach  dem  höchsten  Status  in  der  Gemeinde:  der  Streit  (φιλονεικία) darüber, wer unter den anwesenden Schülern der Größte28  sei (22,24). Noch ehe Jesus tot ist, drohen die Schüler bereits die gesell‐ schaftlich  gültigen  und  attraktiven  Status‐Strukturen  innerhalb  der  Gemeinde (wieder) einzuführen. Auf der Diskursebene wird damit ein  sozialer  Assimilationssog  angesprochen,  der  eine  christliche  Gruppe  der  dritten  Generation  wohl  unbewusst  oder  vielleicht  in  der  Hoff‐ nung,  damit  Reibungsflächen  nach  außen  zu  minimieren,  erfassen  konnte.  Dass es sich um Status‐Strukturen der Umwelt handelt, macht Jesu  Antwort in 22,25 bewusst, indem sie den Schülern die „Normalgestalt  politischer  Herrschaft“29  in  der  Zeit  des  Lukas  vor  Augen  stellt:  Die  „Könige der Völker, die über sie herrschen“, lassen sich unschwer mit  den  römischen  Kaisern  identifizieren,  und  die  „Machthaber  über  sie,  die  man  Wohltäter  nennt“, können auf  die  politische  Elite  in  den  gro‐                                26   Formgeschichtlich  liegt  ein  Apophthegma  (oder  Chrie)  vor:  Die  einleitende  Situati‐ onsschilderung bleibt allgemein und dient dazu, die Ausführungen Jesu in Szene zu  setzen.  –  Wesentliche  Elemente  des  Jesuslogions  nimmt  Lukas  wohl  aus  seinen  Quellen: Lk 22,25f. aus Mk 10,42–45, Lk 22,30 aus Q (Mt 19,28).  27   Zu  Gattungselementen  der  Vermächtnisrede  und  des  literarischen  Symposions  M.  Winter,  Präsent  trotz  Trennung.  Das  Abschiedsmahl  Jesu  (Lk  22,14–38)  als  Ver‐ mächtnisrede und Symposion, WuD 29 (2007) 71–99.  28   Der  Komparativ  μείζων  kann  superlativisch  übersetzt  werden;  vgl.  auch  Lk  9,46.  Dazu BDR § 60.244.  29   M. Wolter, Lukasevangelium 711. 

 

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ßen Städten des Imperiums bezogen werden, die als „Wohltäter“ durch  Stiftungen  von  Bauten,  Schulen,  Getreide  u. a.  öffentliche  Ehrungen  und damit eine Statussteigerung erlangte.30 Dagegen setzt der Sprecher  Jesus in 22,26 mit einem prägnanten „Ihr aber nicht so!“ ein Gegenmo‐ dell,  das  im  Binnenraum  der  Gemeinde  Verwirklichung  finden  soll:  Wenn sich der „Größte“ wie der „Jüngste“ verhält und der „Anführer“  wie  der  „Diener“,  bedeutet  das  einen  radikalen  Rollenwechsel  –  die  Übernahme  von  Rollen  mit  niedrigem  sozialen  Status  (Jüngere,  Die‐ ner).31  Durch  diesen  Rollenwechsel  wird  Status  innergemeindlich  neu  definiert,  indem  die  in  der  Stadtgesellschaft  geltenden  Status‐ Hierarchien umgekehrt werden. Dies fordert konkret einen alternativen  Führungsstil  in  der  Gemeinde.32  Die  Neudefinition  von  Status  und  Leitungsfunktion wird zum politischen Programm der Gemeinde. Das  von Lukas skizzierte Gegenmodell stellt einen wesentlichen Faktor für  das  Selbstverständnis  der  Gemeinde  dar  und  impliziert  m. E.  –  gegen  die  verbreitete  Ansicht  der  Lukasforschung,  Lukas  sei  um  Ausgleich  mit  den  römischen  Behörden  bemüht  –  eine  deutliche  Kritik  an  den  politischen Verhältnissen.33  Das Scharnier  zum  zweiten  Textteil  bildet  in  Lk 22,27  das  Beispiel  Jesu selbst, der für sich nicht die Rolle des zu Tisch Liegenden, sondern  des Dienenden beansprucht und so die in 22,25f. geforderte Neudefini‐ tion von Status exemplifiziert. In der erzählten Welt ist dabei vorausge‐ setzt, dass Jesus als Repräsentant Gottes höchsten Status besitzt. Es fällt  freilich auf, dass von einer dienenden Funktion Jesu beim Abendmahl  zuvor  keine  Rede  war,  sondern  Jesus  die  Rolle  des  Hausvaters  einge‐ nommen  hatte.  Damit  enthält  die  Aussage  im  Kontext  einen  semioti‐                                30   Der  Titel  „Euergetes“  findet  sich  auf  zahlreichen  Ehreninschriften.  Zur  sozialen  Institution des Wohltäters vgl. M. Meier, Art. Euergetes, in: DNP 4 (1998), 228; Bele‐ ge  bei  M.  Wolter,  Lukasevangelium  712;  ergänzen  ließen  sich  Inschrift  von  Priene  18.35.39f. (Augustus) und Jos. bell. 7,71 (Vespasian).  31   Die Differenzierung zwischen Status und Rolle begründet M. Wolter, Lukasevange‐ lium 712. – Unklar bleibt für mich die Deutung von A. Hentschel, Diakonia im Neu‐ en  Testament.  Studien  zur  Semantik  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Rolle  von Frauen (WUNT II/226), Tübingen 2007, 284f., die nicht das Aufgeben der Positi‐ on  bzw.  des  Status,  sondern  den  Verzicht  auf  das  Streben  nach  besonderen  Ehren  gefordert sieht. Ehre ist aber gerade ein Statusmerkmal, und wer auf Ehre verzichtet,  verzichtet auf Statusgewinn.  32   Vgl.  G.  Guttenberger  Ortwein,  Status  und  Statusverzicht  im  Neuen  Testament  und  seiner  Umwelt  (NTOA  39),  Freiburg/Schw.  1999,  308;  A.  Hentschel,  Diakonia  285.293f.,  die  einerseits  das  veränderte  Bewusstsein  der  Leitenden,  selbst  (nur)  Be‐ auftragte zu sein, andererseits einen hierarchischen Akzent in der Autorität der Be‐ auftragten festhält.  33   Zur Diskussion um die politische Haltung des Lukas vgl. S. Schreiber, Weihnachts‐ politik. Lukas 1–2 und das Goldene Zeitalter (NTOA 82), Göttingen 2009, 84–102. 

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schen  Mehrwert.34  Jesu  Worte  über  Becher  und  Brot  beim  Abendmahl  (22,15–20)  werden  zum  Ausdruck  seines  Dienens,  das  die  Leser/innen  im  Kontext  der  Passionsgeschichte  wohl  auf  das  bevorstehende  Ge‐ schehen  der  Verhaftung,  Folterung  und  Ermordung  Jesu  am  Kreuz  beziehen dürften. Der Dienst Jesu besteht in der Hingabe seines Lebens  bis  zum  Tod,35  was  eine  pointierte  Neudefinition  von  Status‐Kriterien  impliziert. In der Erzählkonzeption des Lukas stehen Jesu Neudefiniti‐ on von Status und seine Konfrontation mit den politisch Mächtigen in  engem Zusammenhang.  Im zweiten Textteil Lk 22,28–30 wird wieder die Rolle der Schüler  in  den  Blick  genommen,  nun  freilich  in  eschatologischer  Perspektive.  Die Verheißung eschatologischer Mitherrschaft spricht Jesus denen zu,  „die  dabeigeblieben  sind  mit  mir  in  meinen  πειρασμοί“  (22,28).  Lukas  setzt  bei  seinen  Leser/innen  wohl  das  christologische  Wissen  um  die  Herrscherfunktion  des  erweckten  Christus  voraus (z. B.  Lk 24,26;  Apg  1,6; 2,33–36; 7,56). Daran erhalten alle Schüler Anteil, wenn sie „dabei‐ bleiben“. Der Begriff πειρασμοί lässt sich auf dem Hintergrund der Prü‐ fungen  oder  Erprobungen  verstehen,  mit  denen  Gott  die  Bewährung  seiner Erwählten in Konfliktsituationen testet; prominente Beispiele aus  der Tradition Israels sind die Prüfungen Abrahams oder Israels.36 Theo‐ logisch gedacht geht die Erwählung durch Gott solchen Prüfungen also  voraus.  Dass  Lukas  gerade  hier  von  Prüfungen  spricht,  nimmt  den  unmittelbaren  Kontext  als  Deutehorizont  auf:  Vor  und  während  des  Abendmahles tritt Judas als Gegenfigur hervor, wenn er die Übergabe  Jesu  an  die  jüdischen  Behörden  ansteuert  (22,3–6.21–23);  noch  beim  Symposion wird Jesus die Verleugnung durch Petrus voraussagen, die  angesichts des drohenden Zugriffs der Behörden und damit der Gefahr                                 34   Forschungspositionen  dazu  nennt  P.K.  Nelson,  Leadership  and  Discipleship.  A  Study of Luke 22:24–30 (SBL.DS 138), Atlanta 1994, 161–171. – Der „eschatologische“  Hausherr in der Parabel Lk 12,35–40 übernimmt ebenfalls den Tischdienst und kehrt  damit die geltende Gesellschaftsordnung um.  35   Vgl. M. Stare, „Ich aber bin in eurer Mitte wie der Dienende“ (Lk 22,27). Der Aufruf  Jesu  zum  Dienen  beim  letzten  Abendmahl  in  Lk  22,7–38,  in:  J.  Hartenstein  u. a.  (Hg.), „Eine gewöhnliche und harmlose Speise“? Von den Entwicklungen frühchrist‐ licher Abendmahlstraditionen, Gütersloh 2008, 222–238, hier 230; H. Klein, Das Lu‐ kasevangelium (KEK I/3), Göttingen 2006, 671. Gegen diese Verbindung H. Baarlink,  Jesus als Diener oder als Versöhner? Lukas 22,27 oder Markus 10,45?, in: Ders., Ver‐ kündigtes  Heil.  Studien  zu  den  synoptischen  Evangelien  (WUNT  168),  Tübingen  2004,  209–229,  hier  227.  A.  Hentschel,  Diakonia  286–289  bezieht  den  διακονῶν  auf  den Tischdienst Jesu und damit auf seine radikal niedrige gesellschaftliche Position.  36   Zu Abraham vgl. Gen 22,1; 1 Makk 2,52; Sir 44,20; Hebr 11,17; Jub 17,17f., zu Israel  während des Wüstenzugs Ex 15,25; 16,4; 20,20; Dtn 8,2.16; Weish 11,9. Dazu M. Wol‐ ter, Lukasevangelium 713, mit weiteren Beispielen ebd. 178f.185. 

 

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für  seine  Freiheit  erfolgen  wird  (22,31–34);  und  schließlich  wird  Jesus  bei  seinem  Gebet  am  Ölberg  kurz  vor  seiner  Verhaftung  die  Schüler  zweimal  auffordern,  darum  zu  beten,  nicht  in  πειρασμός  zu  geraten  (22,40.46). Die Krise der Schüler besteht jeweils darin, angesichts politi‐ scher Konflikte um Jesus an ihm irre zu werden oder die Zugehörigkeit  nicht durchzuhalten. Damit sind auf der Diskursebene konkrete Krisen  der impliziten Leser angedeutet, die das Bleiben bei der Jesus‐Gruppe  angesichts gesellschaftlicher Erfahrungen von Ablehnung, Demütigung  und  Marginalisierung  in  Frage  stellen.  Dass  Lukas  den  Begriff  so  ver‐ stehen kann, zeigt die Verwendung in Apg 20,19, wo der erzählte Pau‐ lus  seine  „Demütigungen  und  Tränen  und  πειρασμοί“  auf  die  „Nach‐ stellungen  der  Judaier“  zurückführt  (vgl.  noch  Lk  8,13).  Eine  Ein‐ schränkung  der  „Prüfungen“  auf  einen  „Märtyrerkontext“  würde  zu  kurz greifen.37  Vielleicht darf man sogar in der Frage nach dem „Größten“ inner‐ halb der Gemeinde (22,24) die ekklesiologische Kehrseite der Erfahrung  gesellschaftlicher  Einflusslosigkeit  und  Marginalisierung  sehen:  We‐ nigstens  in  der  Gemeinde  wollen  manche  Christen  etwas  gelten.  Dass  sie aber bereits höchsten Status besitzen und darin die Basis finden, die  Prüfungen  der  Gegenwart  zu  bestehen,  verdeutlicht  die  eschatologi‐ sche Verheißung: Jesus verleiht den Schülern die Königsherrschaft, die  er selbst von seinem Vater erhalten hat (22,29). Diese in der Gegenwart  „testamentarisch“,  d. h.  verbindlich,  für  die  Zukunft  zugesagte38  Ver‐ leihung  begründet  den  besonderen  Status  der  Schüler  bereits  in  der  Gegenwart, und sie gipfelt in der Verheißung einer zukünftigen Herr‐ schaftsstellung in der Bildwelt von 22,30.  Das  Essen  und  Trinken  am  Tisch  Jesu  in  seiner  Königsherrschaft  nimmt die Vorstellung vom eschatologischen Mahl39 als Ausdruck der  vollendeten Heilszeit auf, spricht den Teilnehmenden aber eine beson‐ ders ehrenvolle Position zu: Sie werden am Tisch des Herrschers spei‐ sen. „Bei dieser Ehre handelt es sich um ein in allen Kulturen der Welt  nachweisbares Statussymbol, das immer nur den höchsten Würdenträ‐                                37   So aber H. Roose, Mitherrschaft 153f. – Allgemeiner an „Bedrängnisse und Konflik‐ te“ denkt P. Hoffmann, Herrscher in oder Richter über Israel? Mt 19,18/Lk 22,28–30  in der synoptischen Überlieferung, in: Ja und Nein. Christliche Theologie im Ange‐ sicht Israels (FS W. Schrage), Neukirchen‐Vluyn 1998, 253–264, hier 258; ferner P.K.  Nelson, Leadership 192–196.  38   Dazu P.K. Nelson, Luke 22:29–30 and the Time Frame for Dining and Ruling, TynB  44 (1993) 351–361; M. Winter, Präsent 83 mit Anm. 41; M. Wolter, Lukasevangelium  714.  39   Jes 25,6–8; äthHen 62,14; 1QSa 2,11–22. Auch in Lk 13,29; vgl. 14,15–24. 

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gern oder den engsten Vertrauten des Herrschers gewährt wird“.40 Die  enge Teilhabe der treuen Anhänger/innen Jesu an der Königsherrschaft  wird  noch  verstärkt  durch  die  Zusage,  dass  sie  auf  Thronen41  sitzen  werden, um über die zwölf Stämme Israels Recht zu sprechen.  Die  Übersetzung  des  Verbs  κρίνω  mit  „Recht  sprechen“  vermeidet  die Vorstellung eines „Richtens“ im Sinne von „verurteilen“ und „ver‐ nichten“ – als ob die zwölf Stämme Israels dem endzeitlichen Vernich‐ tungsgericht  unterworfen  würden  –,  und  bringt  stärker  die  Funktion  des  Unterscheidens  zum  Tragen.  Denn  die  Rede  von  den  zwölf  Stäm‐ men deutet ja im Gegenteil auf die Restitution Israels in JHWHs Endzeit  hin.42  „Israel“  meint  hier  im  Zusammenhang  mit  Jesu  basileia  das  Zwölf‐Stämme‐Volk,  das  für  Lukas  die  heilsgeschichtliche  Basisgröße  bleibt, in endzeitlicher Öffnung für die Völker. Das wird auch aus Apg  1,6 deutlich, wo die Schüler den Erweckten nach der baldigen Wieder‐ errichtung  der  Königsherrschaft  für  Israel  fragen.  Wenn  die  Antwort  Jesu  dort  jede  Zeitspekulation  ablehnt  und  den  Schülern  stattdessen  den  universalen  Zeugenauftrag  überträgt  (Apg  1,7f.),  wird  deutlich,  dass die Völker, sofern sie sich zu Christus bekennen, in das eschatolo‐ gische Heil Israels einbezogen sind. Damit ist das endzeitliche Israel für  Lukas  das  aus  Juden  und  Heiden  konstituierte  Gottesvolk;43  genauer  gesagt – um den Irrtum zu vermeiden, Lukas spreche dem sich nicht zu  Christus  zählenden  Israel  die  Erwählung  ab:  Es  handelt  sich  um  eine  eschatologische  Gruppe  innerhalb  Israels,  zu  der  Menschen  aus  den  Nationen gehören und die so einen Teil des Gottesvolkes bildet.44 Wie                                 40   So M. Wolter, Lukasevangelium 714 mit Verweis auf 2 Sam 9,7.10; 19,29; 1 Kön 2,7;  2 Kön 25,29; Jer 52,33; Jub 31,16; Hdt. 3,132; Xen. an. 1,8,25; Cass. Dio 78,7,2.  41   Anders  als  Mt  19,28  spricht  Lk  22,30  nicht  von  zwölf  Thronen.  Entweder  fehlte  die  Zahl in der Vorlage, oder Lukas strich sie, weil Judas seine Zugehörigkeit zur Jesus‐ Gruppe  bereits  aufgekündigt  hat  (Lk  22,3–6.21–23).  –  Die  Kombination  von  Mahl‐ gemeinschaft  und  Herrscher‐/Richterfunktion  verdankt  sich  wohl  lukanischer  Re‐ daktion;  vgl.  P.‐B.  Smit,  Problematic  Parallels.  A  Note  on  Some  Proposed  Literary  Parallels to the Imagery of Lk 22:30, BN 133 (2007) 57–61.  42   Dazu M. Roose, Mitherrschaft 158.  43   Vgl. M. Wolter, Das lukanische Doppelwerk als Epochengeschichte (2004), in: Ders.,  Theologie und Ethos im frühen Christentum (WUNT 236), Tübingen 2009, 261–289,  hier 287–289; H.‐J. Sellner, Das Heil Gottes. Studien zur Soteriologie des lukanischen  Doppelwerks (BZNW 152), Berlin/New York 2007, 379–402 (zur Semantik von λαός).  In diesem Zusammenhang ist noch Apg 26,6f.17f. interessant.  44   Die  bleibende  Erwählung  Israels  bei  Lukas  betont  M.  Neubrand,  „Ein  Volk  aus  Nichtjuden“  (Apg  15,14).  Die  bleibende  Erwählung  Israels  und  die  Erwählung  aus  den  Völkern  im  lukanischen  Doppelwerk,  in:  H.  Frankemölle/J.  Wohlmuth  (Hg.),  Das  Heil  der  anderen.  Problemfeld:  „Judenmission“  (QD  238),  Freiburg  i. Br.  2010,  289–310,  die  freilich  von  zwei  λαοί  ausgeht:  „Aus  jüdischer  Perspektive  wird  eine  gleichberechtigte Erwählung von Nichtjuden als λαός an der Seite (nicht an der Stel‐

 

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eng  „Herrschen“  und  „Rechtsprechen“  zusammen  gehören,  zeigt  z. B.  die Schilderung der messianischen Herrschaft in PsSal 17,21–29: Wenn  der  Messias  Recht  spricht,  bewirkt  er  die  Vernichtung  von  Ungerech‐ tigkeit  und  allem  Bösen  und  sichert  so  seine  heilvolle  Herrschaft  für  das  gesammelte  Israel.  Rechtsprechen  als  Herrschaftsvollzug  dürfte  auch in Lk 22,30 gemeint sein;45 die Inthronisationszusage unterstreicht  diese Semantik. Halten wir fest: Der Zusammenhang des Textes Lk 22,24–30 bindet  die  eschatologische  Herrschaftsverheißung  in  eine  kritische  Haltung  gegenüber  den  politischen  und  gesellschaftlichen  Herrschaftsverhält‐ nissen ein. Dabei erfolgt aber nicht einfach eine ins Eschaton projizierte  Umkehrung dieser Herrschaftsverhältnisse, sondern (1) höchste Status‐ zuschreibung  an  die  gegenwärtige  Gemeinde  durch  die  Metaphorik  der königlichen Mahlgemeinschaft mit Christus, und (2) die Legitima‐ tion  des  gruppenspezifischen  Ethos,  das  die  Gemeinde  gegen  die  kul‐ turelle  Übermacht  der  Gesellschaft  zu  bewahren  hat,  durch  die  Erhe‐ bung  zur  endzeitlichen  Gerichtsinstanz.  Sowohl  in  ihrem  Status,  als  auch in ihrem zentralen Werte‐System erfährt die Gemeinde durch die  Verheißung in Lk 22,30 höchste Aufwertung.  Dreh‐  und  Angelpunkt  dieser  Überzeugung  ist  das  Vorbild  des  Christus  selbst  (22,27),  der  am  Kreuz  vordergründig  den  politischen  Machthabern unterlag, in Gottes Wirklichkeit jedoch mit Ostern umfas‐ sende  Herrschergewalt  besitzt.  Christus  dient  und  wird  herrschen.  In  diesem Spannungsfeld kann die Gemeinde die Gestaltung ihrer inner‐ gemeindlichen  Strukturen  durch  Status‐Transformation  zugleich  als  kritische  Haltung  gegenüber  den  politischen  Herrschaftsverhältnissen  ihrer  Lebenswelt  verstehen.  Teilhabe  an  der  Ausübung  politischer  Macht, wie sie nach den Mustern der gesellschaftlichen Konventionen  im  Imperium  Romanum  verteilt  ist,  ist  für  die  Gemeinden,  die  keine  Mitglieder  der  gesellschaftlichen  Elite  umfassen,  grundsätzlich  nicht  möglich. Sie leben freilich – zumindest im textinternen Idealbild – pro‐ grammatisch  im  Binnenraum  eine  alternative  Sozialform,  die  die  kon‐                                le!) des ersterwählten Volkes Israel anerkannt“ (310; kursiv i. O.); das Zitat aus Am  19,11f.LXX  in  Apg  15,16f.  deutet  sie  auf  die  zukünftige  messianische  Herrschaft  Christi. Die Pfingstpredigt des Petrus in Apg 2,15–21 zeigt aber m. E. den eschatolo‐ gischen Charakter der Jesus‐Gruppe in der Erfüllung der Prophetie von Joel 3,1–5 in  der Gegenwart.  45   Vgl.  P.  Hoffmann,  Herrscher  260f.;  M.  Wolter,  Lukasevangelium  714f.;  auch  P.K.  Nelson,  Leadership  219–221;  C.A.  Evans,  The  Twelve  Thrones  of  Israel.  Scripture  and  Politics in Luke 22:24–30, in: Ders./J.A. Sanders (Hg.),  Luke and Scripture. The  Function of Sacred Tradition in Luke‐Acts, Minneapolis 1993, 154–170, hier 167. Zur  Semantik von κρίνω auch H. Roose, Mitherrschaft 53–57. 

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ventionellen Strukturen von Status und Herrschaftsausübung in Frage  stellt.46  Der  Text  Lk  22,24–30  bringt  Status‐Transformation,  flache  Ge‐ meindehierarchien  und  eschatologische  Herrschaftsverheißung  in  ei‐ nen  untrennbaren  Zusammenhang,  der  Gemeinde  als  solche  erst  aus‐ macht. 

4. Eschatologische Herrschaft der Sieger  in der Offenbarung des Johannes  Eine  eindeutig  politische  Stoßrichtung  verfolgt  die  Offenbarung  des  Johannes. In ihren apokalyptischen Bildwelten steht die Wahrnehmung  von Herrschaftsstrukturen zur Debatte: die Herrschaft Satans, der sich  die politischen Instanzen des römischen Reiches zu Werkzeugen macht  und  damit  die  Erde  beherrscht;  die  überlegene  Herrschaft  Gottes  und  seines himmlischen Heeres, die den Satan und seine Anhänger schluss‐ endlich  überwindet.  Die  Dämonisierung  der  politischen  und  kulturel‐ len  Instanzen  wird  in  Offb  13  (zwei  monströse  Tiere)  und  Offb  17–18  (die  Hure  Babylon)  besonders  deutlich.47  So  führt  die  Offenbarung  in  ihrem  gesellschaftlichen  Kontext  einen  Diskurs  über  die  gefährliche  Macht  der  römischen  Kultur,  die  auch  auf  die  Christen  in  Kleinasien  attraktiv  wirkt  und  zur  Assimilation  geradezu  einlädt.  Im  Kaiserkult,  auf  den  die  Offenbarung  immer  wieder  anspielt,  findet  die  Loyalität  gegenüber dem politischen Herrschaftssystem sozialen Ausdruck.48  Die  Meta‐Struktur  der  Erzählung  besteht  im  unversöhnlichen  Kampf zweier Herrschaften, der zur endgültigen Entscheidung drängt.  Dabei  spiegelt  die  harte,  gewalttätige  Sprache  des  Krieges  die  Schärfe  des kulturellen  Konflikts, wie ihn Johannes  wahrnimmt.49  In  zeitlicher  Perspektive setzt sich die Herrschaft Gottes nach seinem Plan sukzessi‐                                46   Anders  versteht  H.  Roose,  Mitherrschaft  156–161.168f.  die  Frage  eschatologischer  Machtausübung  bei  Lukas  nicht  im  Kontext  einer  aktuellen  Gemeindesituation,  sondern der lukanischen heilsgeschichtlichen Konzeption.  47   Dazu  S.  Schreiber,  Die  Offenbarung  des  Johannes,  in:  M.  Ebner/Ders.  (Hg.),  Einlei‐ tung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2008, 559–585, hier 582f.; Ders., At‐ traktivität und Widerspruch. Die Dämonisierung der römischen Kultur als narrative  Strategie  in  der  Offenbarung  des  Johannes,  in:  Th.  Schmeller/M.  Ebner/R.  Hoppe  (Hg.),  Die  Offenbarung  des  Johannes.  Kommunikation  im  Konflikt  (QD  253),  Frei‐ burg i.Br. 2013, 74–106.  48   Zu diesen gesellschaftlichen Hintergründen vgl. S. Schreiber, Offenbarung 572–576;  Ders., Die Sternenfrau und ihre Kinder (Offb 12). Zur Wiederentdeckung eines My‐ thos, NTS 53 (2007) 436–457.  49   Vgl. S. Schreiber, Offenbarung 562.579. 

 

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ve  durch.  In  lokaler  Perspektive  stehen  sich  Ereignisse  „im  Himmel“  und  „auf  der  Erde“  gegenüber,  wobei  die  himmlischen  die  irdischen  antizipieren: Im Himmel ist der Satan schon überwunden, so dass die  Christen bereits in der Gegenwart grundsätzlich in der Zeit des begin‐ nenden Eschaton leben; auf Erden ist der Satan aber noch um so mäch‐ tiger und vernichtender am Werk (vgl. Offb 12,7–12). In diesen großen  Erzählrahmen ist das Motiv des Mitherrschens einer bestimmten Chris‐ tengruppe an einigen Stellen eingebunden, und zwar sowohl als bereits  für  die  Gegenwart  gültiger  Zuspruch (Offb  1,6;  5,10)  als  auch als  Ver‐ heißung für die Zukunft (2,26–28; 3,21; 20,4.6; 22,5). Für das politische  Selbstverständnis  der  Adressaten  enthält  das  Motiv  wesentliche  Ele‐ mente.  (1)  Das  Motiv  des  eschatologischen  Mitherrschens  dient  dem  Auf‐ ruf zum Widerstand gegen den überwältigenden Einfluss der paganen  Kultur in den Gemeinden, indem es die eschatologische Überlegenheit  der Christen vor Augen stellt. Besonders deutlich wird dies in den sie‐ ben  Sendschreiben.  Dabei geht  den sogenannten  Überwindersprüchen  in  Offb  2,26–28  und  3,21  eine  kritische  Situationsanalyse  voraus,  die  den  Einfluss  der  paganen  Kultur  metaphorisch  brandmarkt  (2,19–25;  3,15–20). Die prophetische Situationskritik will die Gefahr der drohen‐ den  Assimilation  von  Christen  an  die  hellenistische  Gesellschaft  und  damit  den  Verlust  der  eigenen  Identität  aufdecken.  Die  als  „Nikola‐ iten“  bezeichnete  Christengruppe,  die  mit  der  „Prophetin  Isebel“  im  Sendschreiben  nach  Thyatira  (2,20–24)  identisch  ist,  verkörpert  für  Jo‐ hannes  eine  solche  Praxis  der  Assimilation.50  Er  hingegen  fordert  die  Adressaten  zum  „Siegen“  auf.  Dieser  Leitbegriff51  der  Offenbarung  verdankt seine martialische Konnotation der genannten Meta‐Struktur  des  Buches,  die  im  kosmischen  Kampf  zweier  Herrschaften  besteht.  „Siegen“  bedeutet  in  diesem  Kontext  das  standhafte  Durchhalten  der  eigenen  Überzeugung  gegenüber  gesellschaftlichem  Gegenwind,  apo‐ kalyptisch gesprochen: das Überstehen der endzeitlichen Bedrängnisse  (vgl.  auch  4 Esr  7,127f.).  Offb  2,19  nennt  in  diesem  Zusammenhang                                 50   Zu den Nikolaiten S. Schreiber, Offenbarung 576–579; H.‐J. Klauck, Das Sendschrei‐ ben  nach  Pergamon  und  der  Kaiserkult  in  der  Johannesoffenbarung,  Bib.  73  (1992)  153–182; U.B. Müller, „Die Tiefen des Satans erkennen ...“. Überlegungen zur theo‐ logiegeschichtlichen  Einordnung  der  Gegner  in  der  Offenbarung  des  Johannes,  in:  W.  Kraus  (Hg.),  Beiträge  zur  urchristlichen  Theologiegeschichte  (BZNW  163),  Ber‐ lin/New York 2009, 465–478.  51   So J. Roloff, Die Offenbarung des Johannes (ZBK 18), Zürich  32001, 50; J.‐W. Taeger,  „Gesiegt! O himmlische Musik des Wortes!“ Zur Entfaltung des Siegesmotivs in den  johanneischen Schriften, ZNW 85 (1994) 23–46, hier 33. Vgl. H. Roose, „Das Zeugnis  Jesu“.  Seine  Bedeutung  für  die  Christologie,  Eschatologie  und  Prophetie  in  der  Of‐ fenbarung des Johannes (TANZ 32), Tübingen 2000, 58–65. 

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unter  anderem  „Beziehungstreue“  (πίστις)  und  „Durchhalten“  (ὑπομονή).  Dem  Siegenden  verheißt  der  diktierende  Christus  im  Sendschrei‐ ben nach Thyatira (2,26–28)  Vollmacht über die Völker, und weiden wird er sie mit eisernem Stab, wie  die Tongefäße zerbrochen werden, wie auch ich empfangen habe von mei‐ nem Vater, und geben werde ich ihm den Morgenstern. 

Die  Metaphorik  vom  Weiden  mit  eisernem  Stab  und  Zerschlagen  wie  Töpfergeschirr nimmt ein königstheologisches Motiv aus Ps 2,9 LXX auf,  wie es z. B. auch in PsSal 17,23f. für die Herrschaft des erhofften Messi‐ as aufgegriffen ist. In Offb 2,26–28 wird Ps 2,9 aber nicht auf eine ein‐ zelne Messiasgestalt, sondern auf alle (standhaften) Christen bezogen;52  ermächtigt werden sie vom herrschenden Christus. Das Motiv bezeich‐ net die machtvolle Durchsetzung des Heils für Israel bzw. die Christen  auch gegen den Widerstand der Völker.53 Die Verleihung des „Morgen‐ sterns“  –  der  Venus,  in  der  Antike  das  Sternsymbol  für  Herrschaft54  –  bedeutet  umfassenden  eschatologischen  Machtgewinn  der  „Sieger“.  Die  hier  evozierte  Denkfigur  stellt  die  totale  Umkehrung  der  gesell‐ schaftlich‐politischen  Bedingungen  für  die  eschatologische  Zukunft  in  Aussicht.  Uneingeschränkte,  souveräne  Herrschaftsmacht  wird  nun  den  konsequenten  Christen  zugesprochen,  eine  Macht,  wie  sie  in  der  Gegenwart  exklusiv  die  politische  Elite  Roms  ausübt.  Die  Herrschaft  der Christen über die Nationen überwindet schließlich die gegenwärti‐ gen Machtstrukturen Roms, die narrativ als vom Satan getragen quali‐ fiziert werden (Offb 12–13). Ein scharfer Kontrast entsteht, der pragma‐ tisch  die  kritische  Wahrnehmung  der  politischen  Lebenswirklichkeit  und die Treue zum eigenen christlichen Ethos unterstützt.  Unter  Verwendung  der  Metaphorik  vom  Sitzen  auf  dem  Thron  Christi  bzw.  Gottes  wird  diese  rhetorische  Strategie  auch  im  Über‐ winderspruch Offb 3,21 – im Sendschreiben nach Laodizäa – wirksam:  Der Siegende, geben werde ich ihm, zu sitzen mit mir auf meinem Thron,  wie  auch  ich  gesiegt  und  mich  gesetzt  habe  mit  meinem  Vater  auf  seinen  Thron. 

                               52   Zur Rezeption von Ps 2,9 in Offb 2,26–28 vgl. K. Huber, Psalm 2 in der Offenbarung  des  Johannes,  in:  Horizonte  biblischer  Texte  (FS  J.M.  Oesch)  (OBO  196),  Göttingen  2003,  247–273,  bes.  261–264;  T.‐M.  Quek,  „I  will  give  Authority  over  the  Nations“.  Psalm 2.8–9 in Revelation 2.26–27, in: C.A. Evans/H.D. Zacharias (Hg.), Early Chris‐ tian  Literature  and  Intertextuality.  Bd.  2:  Exegetical  Studies  (LNTS  392),  London  2009, 175–187.  53   Vgl. J. Roloff, Offenbarung 58; H. Roose, Mitherrschaft 183 Anm. 333.  54   U.B.  Müller,  Die  Offenbarung  des  Johannes  (ÖTK  19),  Gütersloh/Würzburg  21995,  121; H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes (RNT), Regensburg 1997, 123. 

 

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(2)  Die  Verheißung  eschatologischer  Mitherrschaft  ist  christologisch  begründet. Eschatologische Mitherrschaft wird als Partizipation an der  Herrschaft  des  Christus  profiliert,  wie  aus  den  zitierten  Überwinder‐ sprüchen  hervorgeht:55  In  der  Metaphorik  von  Offb  2,27  werden  die  Christen  die  Völker  „weiden  mit  eisernem  Stab“,  was  intratextuell  an  12,5  und  19,15  anklingt,  wo  Christus  selbst  die  Völker  „mit  eisernem  Stab weidet“ – die eschatologische Herrschaft der Christen erscheint als  Anteil an der Regierung Christi. Im Bild des Thrones in 3,21 geschieht  darüber hinaus eine theozentrische Rückbindung der Verheißung: Der  Thron  ist  letztlich  Gottes  Thron,  so  dass  alle  Herrschaft,  auch  die  des  Christus, in Gott ihren Ursprung und Grund besitzt.  (3) Die Verheißung eschatologischer Mitherrschaft bleibt keine Zu‐ kunftsvision, sondern gründet in der Statusaufwertung der Erwählten  in der Gegenwart. Bereits bei der Anrede der Adressaten in Offb 1,4–8  –  sieben  Christus‐Gemeinden  in  der  römischen  Provinz  Asia  –  fallen  ekklesiologische  Entscheidungen,  wenn  ihnen  ein  besonderer  Status  zugesprochen wird: Christus hat die Christen „zu einem Königreich, zu  Priestern für seinen Gott und Vater“ gemacht (Offb 1,6). Der Zuspruch  wiederholt sich in dem „neuen Lied“, das der Chor der 24 Ältesten in  5,9f.  dem  Lamm,  das  im  himmlischen  Thronrat  das  Buch  mit  den  sie‐ ben Siegeln und damit Gottes Vollmacht zum Vollzug der Endereignis‐ se empfängt, singt:  Würdig  bist  du,  zu  empfangen  das  Buch  und  zu  öffnen  seine  Siegel,  weil  du  geschlachtet  wurdest  und  für  Gott  durch  dein  Blut  Menschen  gekauft  hast aus jedem Stamm und Sprache und Volk und Nation und hast sie ge‐ macht  für  unseren  Gott  zu  einem  Königreich  und  zu  Priestern,  und  sie  werden herrschen auf der Erde. 

Der  metaphorisch  gedeutete  Tod  Jesu56  bewirkt  in  der  Bildwelt  eine  immense  Statusaufwertung  der aus allen  Völkern  gesammelten  Chris‐ tus‐Gemeinde:  von  Unfreien,  die  man  kaufen  kann,  hin  zu  Priestern  und königlichen Gestalten. Als „Priester“ sind alle Christus‐Anhänger/  –innen in ihrer Unmittelbarkeit zu Gott angesprochen.57 Häufig ist auf                                 55   Dazu H. Roose, Zeugnis 47f.; N.P. Friedrich, Adapt or Resist? A Socio‐Political Read‐ ing of Revelation 2.18–29, JSNT 25 (2002) 185–211, hier 208–210.  56   Die  Metapher  des  „Loskaufs“  (5,9)  greift  auf  die  antike  Praxis  des  Freikaufs  von  Kriegsgefangenen bzw. Sklaven zurück. Jesu Blut, das den gewaltsamen Tod symbo‐ lisiert,  dient  als  Kaufpreis,  das  Geschäft  geschieht  „für  Gott“,  d. h.  im  Auftrag  und  Dienst Gottes. Das Bild umschreibt den Loskauf aus der Versklavung der Menschen  unter böse Mächte wie den Satan, die Sünde und das römische Imperium.  57   Sie bedürfen nicht mehr der Vermittlung durch Priester. Nach Offb 21,22 existiert im  endzeitlichen  Jerusalem  kein  Tempel  mehr,  da  Gottes  Thron  unmittelbar  im  Zen‐ trum der Stadt steht. Vgl. auch M. Hasitschka, Die Priestermetaphorik der Apoklyp‐

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Ex 19,6a LXX als traditionsgeschichtlichen Hintergrund aufmerksam ge‐ macht worden; nach der Befreiung aus Ägypten erhält Israel die göttli‐ che Zusage: „Ihr aber sollt für mich ein königliches Priestergemeinwe‐ sen und ein heiliger Volksstamm sein“.58 Während in Ex 19,6 die Zeit‐ form des Futurs steht, benutzt Offb 1,6; 5,10 den Aorist und signalisiert  damit  die  bereits  umgesetzte  Status‐Transformation,  die  auf  der  Basis  der Erwählungszusage an Israel erfolgt.59 Es fällt auf, dass nicht – paral‐ lel zu den „Priestern“ – personal von „Königen“ die Rede ist, sondern  von  einem  „Königreich“.  Das  Substantiv  βασιλεία  bezeichnet  hier  den  Bereich, in dem Christus seine Herrschaft ausübt.60 Die Christen leben  in seinem Herrschaftsbereich, wo sie sind, hat jetzt schon die endzeitli‐ che Herrschaft und Neuschöpfung Gottes begonnen. Das Futur in Offb  5,10b  leistet  dabei  eine  Differenzierung  zwischen  dem  gegenwärtigen  königlich‐priesterlichen  Status  der  Christen  und  ihrer  zukünftigen  Herrschaftsfunktion  in  der  eschatologischen  Vollendung.  Die  spezifi‐ sche Existenz der Christen jetzt bildet so gleichsam einen Brückenkopf  der vollendeten Herrschaft Gottes, die schon in die Gegenwart hinein‐ reicht – und einen Kontrast zur herrschenden politischen, wirtschaftli‐ chen und kulturellen Macht des römischen Imperiums darstellt.  (4) Die Vollendung des Eschaton in den Visionen ab Offb 19,11 be‐ deutet zugleich die Vorläufigkeit des Imperium Romanum. Was bleibt,  ist allein Gottes Herrschaft, und daran haben die standhaften Christen  besonderen  Anteil.  Die  lange  oder  sogar  ewige  Dauer  der  römischen  Herrschaft  (Roma  aeterna)  wird  im  frühen  Prinzipat  zu  einem  Element  der Kaiserpanegyrik und politischen Rhetorik.61 Johannes markiert hier  Grenzen, indem er das Ende aller politischen Herrschaft schildert.                                

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se  als  Ausdruck  der  Verbundenheit  der  auf  Erden  lebenden  mit  den  zur  Auferste‐ hung  gelangten  Christen,  SNTU  29  (2004)  179–192.  –  B.  Kowalski,  „...  sie  werden  Priester Gottes und des Messias sein; und sie werden König sein mit ihm – tausend  Jahre lang.“ (Offb 20,6). Martyrium und Auferstehung in der Offenbarung, SNTU 26  (2001) 139–163, hier 160 betont die kultische Bedeutung des Priesterseins.  Übersetzung:  Septuaginta  Deutsch.  Das  griechische  Alte  Testament  in  deutscher  Übersetzung, hg. W. Kraus/M. Karrer, Stuttgart 2009, 75.  Vorsicht  gilt  gegenüber  der  Annahme  von  U.B.  Müller,  Offenbarung  76,  die  Pries‐ terwürde, die „einst  den  Juden galt“, komme „nun den Christen zu“. Eher handelt  es  sich  um  eine  eschatologische  Fokussierung  des  Erwählungsgedankens,  dessen  Basis aber Israel bleibt.  Vgl.  M.  Karrer,  Die  Johannesoffenbarung  als  Brief.  Studien  zu  ihrem  literarischen,  historischen und theologischen Ort (FRLANT 140), Göttingen 1986, 115f.; H. Roose,  Mitherrschaft 174.  Vgl.  Hor.  carm.  1,2,45f.;  Sen.  apocol.  4,1,19–21;  Calp.  ecl.  1,87f.;  4,144f.;  Vell.  hist.  2,103,4; CIL XI 4170. Dazu S. Schreiber, Weihnachtspolitik 59. 

 

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Auf den Sieg Christi über das Tier von Offb 13 (19,11–21) folgt die Auf‐ richtung  des  tausendjährigen  Reiches  in  Offb  20,1–6.  Es  handelt  sich  um eine befristete Heilszeit, weil der Satan für tausend Jahre gebunden  und  damit  unschädlich  gemacht  wird.  In  einer  Thronrats‐Szene  wird  das  göttliche  Gerichtsurteil62  übergeben  (20,4),  und  dann  sieht  der  Se‐ her  die Seelen derer, die wegen des Zeugnisses von Jesus und wegen des Wor‐ tes  Gottes  geköpft  worden  sind,  und  diejenigen  (καὶ οἵτινες),  die  nicht das  Tier  verehrten  noch  sein  Bild  und  nicht  das  Prägezeichen  empfingen  auf  der Stirn und auf ihrer Hand. Und sie wurden lebendig und herrschten mit  Christus eintausend Jahre. 

Die abschließende Aussage wird in 20,6 erweitert wiederholt: „sie wer‐ den Priester Gottes und des Christus sein und sie werden herrschen mit  ihm [die] eintausend Jahre.“ In der erzählten Welt ist damit die Erfül‐ lung  der  Mitherrschafts‐Verheißung  eingetreten.  Umstritten  ist,  ob  in  20,4 nur eine Personengruppe, nämlich die Märtyrer,63 oder zwei unter‐ scheidbare  Gruppen,  die  Märtyrer  und  die  Verweigerer  des  Kaiser‐ kults,64  die  Mitherrschaft  erhalten.  Das  Relativpronomen  οἵτινες,  das  hier  mit  καί  angeschlossen  wird,  kann  demonstrativ  gebraucht  sein65  und  bezeichnet  dann  eine  zweite  Personengruppe;  eine  solche  Kon‐ struktion  liegt  auch  in  Offb  1,7  vor.  Gott  verschafft  denen  Recht,  die  unterdrückt  oder  gar  ermordet  wurden  wegen  ihrer  konsequenten  Christus‐Zugehörigkeit.  Die tausendjährige Herrschaft Christi, an der die standhaften Chris‐ ten  Anteil  erhalten,  findet  noch  vor  der  kosmischen  Neuschöpfung                                 62   Mit κρίμα ist in  Offb 20,4 die richterliche  Entscheidung, das Gerichtsurteil gemeint.  Die Schilderung erinnert an die Thronrats‐Szene in Dan 7,9f.22 LXX/Theodotion, wo  ein Gerichtshof auftritt und das Urteil den „Heiligen des Höchsten“ übergeben wird.  Strukturell ähnelt der Szene in Offb 20,4 die Gerichtsszene in 20,11f. – Zu Dan 7 als  Hintergrund vgl. H. Roose, Mitherrschaft 188f.; die Thronrats‐Szene in Offb 20,4 ist  nicht mit der tausendjährigen Herrschaft der Standhaften nach 20,4.6 zu identifizie‐ ren (ebd. 187f.). Vgl. auch T.J. Bauer, Das tausendjährige Messiasreich der Johannes‐ offenbarung. Eine literarkritische Studie zu Offb 19,11–21,8 (BZNW 148), Berlin/New  York 2007, 179.190–192.  63   So  für  viele  T.J.  Bauer,  Messiasreich  168.275f.;  H.  Roose,  Mitherrschaft  187f.  mit  Verweis auf die gerichtliche Differenzierung der Erweckten in 20,11–15, die voraus‐ setze, dass die standhaften, aber nicht ermordeten Christen noch ohne Urteil geblie‐ ben sind. Doch da in 20,4 offen bleibt, was mit den „lauen“ Christen geschieht, kön‐ nen  diese  nach  einer  erneuten  Zeit  der  Bedrängnis  und  der  Bewährung  dann  in  20,11–15 ihr Urteil empfangen.  64   So mit anderen H. Giesen, Offenbarung 433f.; J. Roloff, Offenbarung 193 (die gesam‐ te  Heilsgemeinde);  B.  Kowalski,  Priester  156.  Vielleicht  steht  hinter  den  Märtyrern  die Erinnerung an die Opfer der neronischen Verfolgung in Rom im Jahr 64.  65   Vgl. BDR § 293,3c. 

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(21,1) und damit noch im Bereich der politischen Verhältnisse der Welt  statt.66  So  kann  sie  als  direktes  Gegenbild  zur  aktuellen  politischen  Macht fungieren, die durch intertextuelle Referenzen auf das monströ‐ se  Tier  von  Offb  13,  dessen  Verehrung  und  Prägezeichen  präsent  ist.  Die Verweigerung des Kaiserkults konnte nicht nur im Extremfall des  Martyriums  enden,  sondern  führte  im  gesellschaftlichen  Alltag  zu  er‐ heblichen  ökonomischen  Nachteilen.  Ohne  das  Prägezeichen  kann  nämlich  kein  Handel,  kein  Kaufen  und  Verkaufen,  stattfinden,  wie  13,15–17 beschreibt.67 Die Mitherrschaft im tausendjährigen Reich kehrt  diese Verhältnisse total um und privilegiert nun die Christen, die auf‐ grund  ihrer  konsequenten  Verweigerung  des  Kaiserkults  politische  und  soziale  Nachteile  erfahren  mussten.68  Ihre  konsequente  Haltung  erweist sich längerfristig als gewinnbringend.  Mit der kosmischen Neuschöpfung eines „neuen Himmels“ und ei‐ ner „neuen Erde“ und der Errichtung des neuen Jerusalem ist ab Offb  21,1f. die Vollendung des Eschaton erreicht. Der Thron Gottes und des  Lammes steht im Zentrum der Stadt (22,3f.) – alles Leben geht von Gott  aus. Seine Herrschaft umgreift alle Wirklichkeit, und nach 22,3–5 wer‐ den nur noch δοῦλοι, Untertanen Gottes, die ihm dienen, im neuen Je‐ rusalem  leben.  Sie  sind  ganz  und  gar  von  Gottes  Nähe  geprägt:  Sie  sehen  sein  Angesicht,  tragen  seinen  Namen  auf  der  Stirn  (im  Unter‐ schied zum Zeichen des Tieres in 20,4), sind allein von Gott erleuchtet.  Ganz  am  Ende  der  Visionen  –  als  deren  Ziel‐  und  Höhepunkt  –  steht  das  Bild  des  ewigen  Herrschens  in  22,5:  „sie  werden  herrschen  in  die  Äonen  der  Äonen“.69  Die  Untertanen  Gottes  sind  selbst  Herrscher,                                 66   Religionsgeschichtlich betrachtet, integriert die Vorstellung einer zeitlich begrenzten  messianischen Herrschaft vor der endgültigen Vollendung des Eschaton durch Gott  die  national‐messianische  Eschatologie  (z. B.  PsSal  17)  in  die  apokalyptische  Kon‐ zeption; vgl. diesen Prozess etwa gleichzeitig mit der Offb auch in 4 Esr 7,28f.; 12,34;  syrBar  29,2–30,1;  40,2;  71,1.  Vgl.  S.  Schreiber,  Gesalbter  und  König.  Titel  und  Kon‐ zeptionen  der  königlichen  Gesalbtenerwartung  in  frühjüdischen  und  urchristlichen  Schriften (BZNW 105), Berlin/New York 2000, 383–385. Die Erzählstruktur in Ez 37– 48  kennt  die  Reihenfolge  Auferstehung  (37,1–14),  heilvolles  Königreich  (37,22–28),  neues  Jerusalem  (40–48);  dazu  A.  Satake,  Die  Offenbarung  des  Johannes  (KEK  16),  Göttingen 2008, 384f.  67   Zur Verbindung von Kaiserverehrung und Wirtschaft im römischen Prinzipat vgl. S.  Schreiber,  Attraktivität  95–98;  J.N.  Kraybill,  Imperial  Cult  and  Commerce  in  John’s  Apocalypse (JSNT.S 132), Sheffield 1996, 58–86.  68   Insofern  bleibt  das  Millennium  gerade  nicht  „inhaltlich  leer  und  unbestimmt“,  wie  T.J. Bauer, Messiasreich 254 meint.  69   Die priesterliche Funktion fehlt hier wohl wegen der nun gegebenen Gott‐Unmittel‐ barkeit. T. Holtz, Die Offenbarung des Johannes (NTD 11), Göttingen 2008, 141: „sie  sind keiner Herrschaft mehr unterworfen, sie leben als Souveräne ihres Seins“. 

 

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womit  die  politischen  Herrschaftsstrukturen  Roms  endgültig  über‐ wunden sind.  Fassen wir zusammen. Johannes blickt auf eine totale Transforma‐ tion der politischen Machtverhältnisse in Gottes Eschaton aus. An der  Herrschaft  des  Christus  haben  die  Christen,  die  sich  dem  Assimilati‐ onsdruck der hellenistisch‐römischen Kultur entgegenstemmen, bereits  jetzt und mehr noch in der Zukunft Anteil. Nächste Nähe zu Gott und  Teilhabe an seiner Herrschaft sind eigentlich Statusmerkmale, die allein  einem König zukommen. Hier werden sie allen Geretteten zugewiesen,  die  dadurch  höchste  Statusaufwertung erfahren  und  eschatologisch  in  Gottes  Herrschaftsfunktion  eintreten.  Dies  ist  umso  bemerkenswerter,  als Johannes alle Gemeindeämter, die zu seiner Zeit in Kleinasien sicher  schon  existierten,  völlig  ignoriert.70  Sein  Bild  einer  Christus‐Gemeinde  ist gerade von einer Überwindung der geltenden Statushierarchien der  römischen  Gesellschaft  geprägt. Seine strikt  theozentrische  Denkweise  wirkt  sich  darin  aus,  dass  Statusgewinn  nur  durch  die  vollständige  Bindung  an  den  Gott  Israels  und  seinen  Repräsentanten  möglich  ist.  Diese  Einsicht  soll  die  politische  Selbstwahrnehmung  der  kleinasiati‐ schen  Christen  transformieren:  Sie  sollen  sich  als  profilierte  eschatolo‐ gische  Statusgruppe  verstehen,  die  ihr  Ethos  mit  voller  Überzeugung  dem politisch‐kulturellen Mainstream entgegenstellen kann. Alles läuft  darauf  hinaus,  die  tieferen  Strukturen  der  Wirklichkeit  zu  begreifen:  Dass  über  allen  politischen  und  gesellschaftlichen  Mächten  die  Macht  Gottes  herrscht,  die  in (naher)  Zukunft  eine  totale  Transformation  der  bestehenden  Herrschaftsverhältnisse  bringt,  und  dass  daher  der  enga‐ gierte Anschluss an Gottes Macht die einzig sinnvolle Lebensoption für  die Gegenwart darstellt. 

5. Die politische Tragweite eines theologischen Motivs  Am Beispiel der Denkfigur des eschatologischen Herrschens bzw. Rich‐ tens mit Christus haben wir gesehen, dass die Überzeugung der ersten  Christen  politische  Implikationen  mit  immenser  Reichweite  enthielt.  Die Denkfigur eignet sich erstens zur Bewusstmachung des eschatolo‐ gischen Status  der  Christen.  Sie  leistet  so  einen  Beitrag  zu  dem neuen  Selbstwertgefühl,  das  die  Christen  als  die  Gruppe,  die  bereits  jetzt  in  einem  neuen  Zeitalter  lebt,71  auszeichnet  –  und  das  wohl  einen  ent‐                                70   Zur Distanz der Offb zu Leitungsämtern in Zusammenhang mit ihrer prophetischen  Perspektive vgl. H. Roose, Mitherrschaft 197f.  71   Vgl. S. Schreiber, Weihnachtspolitik 76. 

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scheidenden Faktor für die Ausbreitung des Christentums im 1. Jh. und  darüber hinaus darstellt. „Das Bewusstsein, an der Schwelle einer neu‐ en  Welt  zu  stehen,  verlieh  ihnen  ein  hohes  Selbstwertgefühl“  –  so  be‐ schreibt  Gerd  Theißen  die  urchristliche  Motivation,  Biographien  über  die  Gründergestalt  und  andere  Schriften  zu  verfassen.72  Christen  wer‐ den sozusagen mit königlichem Status geadelt.  Die  Denkfigur  eignet  sich  zweitens  zur  Vergewisserung  des  eige‐ nen  Bleibens  bei  der  Christus‐Gemeinde,  obwohl  dies  mit  politischer  Einflusslosigkeit verbunden ist. Ihre Erfahrung politischer Machtlosig‐ keit innerhalb der sozialen Hierarchien ihrer Umwelt konnten die ers‐ ten  Christen  mit  Hilfe  der  Denkfigur  der  eschatologischen  Mitherr‐ schaft in ein umfassendes Weltbild einordnen und mit Sinn füllen. Eine  theologische  Bearbeitung  dieser  Erfahrung  erblickt  hinter  allen  politi‐ schen Machtstrukturen der Welt die überlegene Macht Gottes. Die Mit‐ herrschaft  vermittelt  den  Christen  das  Bewusstsein,  Einfluss  auf  das  politische  Geschehen  zu  haben,  indem  sie  der  göttlichen  Wirklichkeit  zugehören, die letztlich das politische Geschehen dauerhaft bestimmen  wird. Daher können sie sich als politische Subjekte verstehen, die selbst  Herrschaft ausüben.  Die  Denkfigur  eignet  sich  schließlich  dazu,  sozio‐politische  Trans‐ formationen  nicht  ins  Eschaton  auszulagern.  Gelten  in  der  Christus‐ Gemeinde neue Status‐Kriterien, so verwirklicht sie in ihrem Miteinan‐ der  eine  soziale  Lebensform,  die  als  Kontrast  zum  üblichen  Gesell‐ schaftsmodell  erscheint.  Der  bewusste  Verzicht  auf  höheren  Status  durch die Übernahme entsprechender Rollen in der Gemeinde wird zu  einem  wesentlichen  und  unterscheidenden  Bestandteil  des  Gemeinde‐ ethos.  Obwohl  die  ersten  Christen  kaum  mit  Blick  auf  explizit  politische  Leitvorstellungen handelten, barg die in ihrem Christusbild verankerte  eschatologische  Identität  weitreichende  politische  Konsequenzen,  die  ihre  Selbstwahrnehmung  und  Selbstorganisation  im  sozio‐politischen  Gefüge der römischen Gesellschaft betrafen – auch wenn ihnen politi‐ sche  Artikulationen  zeitgeschichtlich  nicht  möglich  waren.  Einmal  mehr  wird  dabei  deutlich,  dass  das  Politische  und  das  Religiöse,  die  wir  heute  üblicherweise  verschiedenen  gesellschaftlichen  Bereichen  zuweisen, in der Antike untrennbar verbunden waren.  Die  fehlende  Differenzierung  in  der  Beobachtung  der  politischen  Wirklichkeit, die mit der Denkfigur eschatologischer Mitherrschaft ein‐                                72   G.  Theißen,  Die  Entstehung  des  Neuen  Testaments  als  literaturgeschichtliches  Pro‐ blem  (Schriften  der  Philosophisch‐historischen  Klasse  der  Heidelberger  Akademie  der Wissenschaften 40), Heidelberg 2007, 31. 

 

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hergeht, entspricht der eigenen Rolle der ersten Christus‐Gemeinden in  den politischen Prozessen ihrer Zeit, in denen sie eben keine Rolle spiel‐ ten.  Damit  eignet  sich  die  Denkfigur  nicht  zur  differenzierten  Wahr‐ nehmung  der  politischen  Gegebenheiten,  wie  sie  von  Christen  heute  angesichts der ihnen möglichen Rollen innerhalb des Politischen gefor‐ dert  ist.  Daraus  eine  politiktheoretische  Aussage  zu  stricken,  etwa  im  Sinne einer Zwei‐Reiche‐Lehre, verkennt den Sitz im Leben der Denk‐ figur  im  Raum  einer  sozio‐politischen  Struktur,  die  keinen  Raum  für  Einflussnahmen  der  Christus‐Gruppe  kennt  und  ihren  gesellschaftli‐ chen Ort potentiell bedroht. Eine Übertragung auf heutige Verhältnisse  im Schnittfeld von Kirche und Staat ist so nicht möglich und kann die  Intention  sogar  in  ihr  Gegenteil  verkehren,  wenn  z. B.  in  der  rezenten  Debatte  um  Fälle  sexuellen  Missbrauchs  in  der  katholischen  Kirche  unter Berufung auf 1 Kor 6,1–11 die Position vertreten wird, die Kirche  sei  allein  für  die  Regelung  ihrer  Angelegenheiten  zuständig.  Denn  so  würde  die  Kirche  hinter  den  Maßstäben  der  Gesellschaft  für  ein sittli‐ ches Leben zurückbleiben, und sie würde die transformative Kraft ver‐ kennen, die das Ethos der ersten Gemeinden über das der Gesellschaft  ihrer Zeit hinausführen will. 

„Ich verstand, was es heißt, dass der Glaube den Menschen selig macht, d.h. von der  Furcht vor Menschen frei macht, indem er ihn unmittelbar unter Gott stellt. Er wird  sozusagen reichsunmittelbar.“  „Das Christentum sagt eigentlich: lass alle Klugheit fahren.“  Ludwig Wittgenstein 

 

      Verrat und Umkehr – Selbstverrat und   korrumpierte Vernunft  

 

BRIGITTE BOOTHE1    Im Glauben fest und entschieden im Bekenntnis zu Jesus von Nazareth  sollten die Jünger sein, alle Kleingläubigkeit, alle Menschenfurcht soll‐ ten sie ablegen. In der Krise sollte ihr Glaube sie nicht verlassen. Jesus  unterrichtet sie sorgfältig, eindringlich und ausführlich im Vorfeld. Sie  sind vorbereitet. Sie könnten sich rüsten. Sie könnten sich beraten und  planen.  Die  Verfolgung  Jesu  durch  die  Justiz  trifft  sie  nicht  überra‐ schend. Doch als Jesus gefangen genommen wird, fliehen alle.  Das Leben der Jünger sollte sich in der Gemeinschaft mit Jesus er‐ füllen. Er hat sie als Auserwählte privilegiert. Er hat sie in den engsten  Kreis  gerufen.  Sie  waren  Zeugen  seiner  Wunder  und  hatten  Teil  an  seinem  Ruhm.  Sie  waren  die  auserwählten  Gäste  des  letzten  Mahles.  Sie waren Auserwählte in der Krise. Jesus droht das Gericht, die Verur‐ teilung und der Tod. Er weiß es, er sagt es, er lässt es die Jünger wissen,  er gerät in Angst und Seelennot und erbittet den Beistand der Jünger in  Gethsemane. Doch sie schlafen.          1   Besonders herzlich danke ich der engagierten und kreativen  Textredaktion von Frau  Dragica Stojkovic und Lea Richter. Eine erste Fassung des 7. Abschnitts „Die Dyna‐ mik  körperlicher,  psychischer  und  relationaler  Regulierung“  findet  sich  auch  in  B.  Boothe, Trieb, Wunsch und Beziehung. Psychoanalyse als Wissenschaft vom Leben,  in:  S.  Schaede,  G.  Hartung,  T.  Kleffmann  (Hrsg.),  Das  Leben.  Historisch‐systema‐ tische Studien zur Geschichte eines Begriffs. Band 2., Tübingen 2002, 145–183. 

172                                                               Brigitte Boothe 

1. Auszeichnung und Freundschaft als tödliches Risiko    Der Bund ist geschlossen, der Wein ist getrunken, die politische Situa‐ tion  und  der  Plan,  Jesus  den  Prozess  zu  machen  und  die  Anhänger‐ schaft zu zerschlagen, steht allen vor Augen. Es könnten Vorbereitun‐ gen getroffen werden, die Jünger sollten sich wappnen, eine realistische  Einschätzung der eigenen psychischen Ressourcen und Schwächen, das  Kalkül der Handlungsspielräume und Überlebensstrategien wären an‐ gezeigt.  Es  würde  darum  gehen,  auszuloten,  wie  man  der  gemeinsa‐ men  Sache  künftig  dienen,  sie  nach  Jesu  Tod  vorantreiben,  der  Regie‐ rungsmacht,  den  Hohepriestern,  Schriftgelehrten  und  Ältesten  des  Volkes entgegentreten kann. Doch so lange Jesus beim Abendmahl mit  ihnen  ist,  sind  sie  bedenkenlos  von  der  eigenen  Treue  und  Courage  überzeugt.   Die  Jünger  standen  an  Jesu  Seite,  sie  waren  zwar  nicht  unerschüt‐ terlich standhaft, aber doch halbwegs verlässlich, solange er stark war.  Als ihm gerichtliche Verfolgung droht, stehen sie nicht an seiner Seite.  Sie  leisten  keinen  solidarischen  Beistand.  Die  Ehrenstellung  Auser‐ wählter  verlangt  Loyalität,  und  der  Freundschaftsbund  verlangt  Soli‐ darität.  Doch  in  der  Krise  werden  Auszeichnung  und  Freundschaft  zum tödlichen Risiko. Petrus hat Angst um die eigene Haut und leug‐ net  seine  Jüngerschaft.  Judas  verwendet  seinen  privilegierten  Insider‐ status planvoll‐intrigant, um Verrat zu üben, mit der Regierungsmacht  zu  paktieren  und  sich  materiellen  Vorteil  zu  sichern.  Ergriffen  von  Furcht  vor  den  Menschen,  um  Wittgensteins  Formulierung  aufzugrei‐ fen,  wird  Petrus  zum  Verräter.  Judas,  korrumpierbar,  bereit,  sich  vor  der  Staatsmacht  zu  prostituieren,  handelt  in  der  Klugheit  des  Berech‐ nenden, der aus der Krise Profit schlägt.   Dann aber sehen sie beim gefangenen Jesus, dem einst Wundertäti‐ gen, dass ihm die Aussicht aufs himmlische Reich keine Leidersparnis  im Diesseits bringt. Neben Verhör, Folter und Hinrichtung ist er mas‐ sivster Demütigung und Verhöhnung ausgesetzt. Sie sehen, dass er vor  Gericht  keine  Maßnahmen  der  Defensive  oder  Offensive  ergreift, dass  er  den  ihm  zugedachten  Part  im  kommunikativen  Spiel  des  Gerichts‐ verfahrens verweigert. Er verteidigt sich nicht, er geht nicht in die Of‐ fensive,  er  schweigt  und  lässt  geschehen,  was  über  ihn  verhängt  ist.  Das  ist  Wehrlosigkeit,  es  ist  hier  aber  auch  die  Macht  der  Wehrlosig‐ keit,  die  Selbstentmächtigung  vor  der  Gerichtsinstanz,  zugleich  die  Selbstermächtigung  als  Repräsentant  einer  Ordnung,  auf  die  Pilatus  und  die  Hohepriester  keinen  Zugriff  haben.  Die  Passivität  des  Ange‐ klagten bedeutet: Diese Ordnung kann nicht zerschlagen werden, wenn 

Verrat und Umkehr – Selbstverrat und korrumpierte Vernunft              173 

man  Jesus  vernichtet.  Sie  kann  auch  nicht  zerschlagen  werden,  wenn  die Jünger als politische Subjekte versagen.    Zu  spät  konfrontiert  Judas  sich  in  Reue  mit  den  tödlichen  Konse‐ quenzen. Zu spät, denn seine Reue interessiert die Verfolger nicht: Der  Verrat  hat  den  intendierten  Erfolg  gehabt,  das  zurückgegebene  Geld  wird  zweckbezogen  investiert.  Achtung  vor  den  Menschen  hat  Judas  verloren,  Achtung  vor  sich  selbst  auch.  Petrus  weint  bitterlich.  Judas  hängt sich auf. Lüge und Intrige dienten zunächst dem eigenen Vorteil.  Beim  dritten  Hahnenschrei  erinnert  sich  Petrus  an  seine  vollmundige  Beteuerung, die Jesus nicht überzeugt hatte, und er muss sich mit der  Diskrepanz zwischen Erwartung und Wirklichkeit konfrontieren. Judas  konfrontiert sich mit dem Ausmaß der irreparablen Schädigungsfolgen  seines Handelns und verwirft sich selbst in aller Radikalität.     

 

2. Flüchten oder Standhalten 

Flucht, Lüge, Wechsel der Fronten – drei Maßnahmen der Selbstrettung  auf  Kosten  der  Loyalität  zum  primus  inter  pares,  dem  man  Gefolg‐ schaft  zugesichert,  für  den  man  das  eigene  Leben  geändert  hat.  Die  Jünger  folgten  Jesus,  dem  Redner,  dem  Wundertätigen,  dem  Wirk‐ mächtigen, dem Anführer. Als seine Gefolgsleute standen sie im öffent‐ lichen Raum, sie übten öffentlichen Einfluss und partizipierten an Jesu  Bereitschaft zur politischen Konfrontation. Worte und Taten hatten Au‐ ßenwirkung. Nun wird die Jesusgruppe seitens der Staatsmacht massiv  bedroht,  Jesus  gerät  in  Isolation,  er  verzichtet  völlig  auf  Beredsamkeit  und Wundermacht zu eigenen Gunsten.   Die Jünger sind zur politischen Stellungnahme und zur Bezeugung  ihrer  Anhängerschaft    herausgefordert,  sie  kapitulieren  aber  vor  der  Staatsmacht, auch wenn sie, noch beim Abendmahl, an die eigene Cou‐ rage  glauben.  Nun  konstelliert  sich  die  Beziehung  neu:  Vor  der  Justiz  ist  Jesus  kein  mächtiger  Antagonist,  sondern  in  der  Kontrolle  der  Machtinstanz. Seine Sympathisanten müssen die neue Lage in eigener  Verantwortung einschätzen. Flüchten oder Standhalten, das ist die Fra‐ ge.  Standhalten  würde  heißen,  in  eigener  Verantwortung  eine  Gegen‐ macht  aufzubauen,  beispielsweise  strategisch  und  listenreich  zu  pla‐ nen,  das  noch  für Jesus eingenommene  Volk  zu  mobilisieren,  eine  Be‐ freiung  aus  dem  Gefängnis  einzufädeln.  Flüchten  kann  nützlich  sein,  wenn  die  vorübergehende  Selbstsicherung  ein  künftiges  Engagement  nicht verhindert. Dann wird die vorübergehende Evasion zum Teil der  strategischen Planung, Teil des Aufbaus einer Gegenmacht.   

174                                                               Brigitte Boothe      3. Leidvolle Selbstkonfrontation im Nachhinein 

 

Doch  wird  Evasion  zum  Problem,  wenn  sie  zentrale  Präferenzen  und  Relevanzen der Person preisgibt. Das ist in der Darstellung des Verrats  durch  Petrus  und  durch  Judas  von  zentralem  Interesse.  Der  Lebens‐ entwurf des Petrus war in seiner Neuorientierung auf die Gemeinschaft  mit Jesus gestellt, und so verhielt es sich auch mit Judas. Angst bei Pe‐ trus,  Berechnung  bei  Judas  begünstigen  ein  Handeln,  das  diesem  Le‐ bensentwurf,  diesen  Präferenzen  und  Relevanzen,  Hohn  spricht.  Die  eigene Haut scheint zwar zunächst gerettet, der eigene Vorteil im Pakt  mit  der  Macht  gesichert,  Matthäus  aber  thematisiert  die  leidvolle  Selbstkonfrontation im Nachhinein. Er tut das in lakonischer Prägnanz.  Beide,  Petrus  und  Judas,  werden  als  Protagonisten  dargestellt,  die  Er‐ schütterung durchleben, angesichts ihres Handelns von Schmerz erfüllt  sind  und  nicht  weiter  wissen.  Judas  sieht  keinen  Ausweg.  Beide  ver‐ harren  im  Schmerz,  bis  Judas  sich  schließlich  auslöscht.  Petrus  hinge‐ gen findet dereinst Mut und Kraft, sich neu zu bekennen.       4. Der Schmerz und die Abwehr    Im Neuen Testament gibt es Lüge, Verrat und Intrige, auch Täuschung  und Selbsttäuschung, jedoch keine Praktiken der psychischen Manipu‐ lation im Dienst der Selbstbefriedung. Petrus und Judas leiden Schmerz  über  sich  selbst.  Sie  handeln  in  der  Krise  zugunsten  der  Selbsterhal‐ tung, nicht zugunsten der guten Sache. Petrus zeigt als Person, die ei‐ nem  hohen  Risiko  für  Leib  und  Leben  in  einer  Situation  politischer  Verfolgung  ausgesetzt  ist,  einst  und  heute  erwartbares  menschliches  Verhalten: Er schützt die eigene Haut. Judas agiert sogar als Überläufer  und  Geschäftemacher.  Petrus  und  Judas  unterscheiden  sich  aber  klar  von  uns  Heutigen,  was  den  nachträglichen  Umgang  mit  dem  Verrat  angeht. Sie setzen keine Psychodynamik der Abwehr ein: Sie verdrän‐ gen nicht, sie verleugnen nicht, es kommt nicht zu Verschiebung, Pro‐ jektion oder Rationalisierung.              

Verrat und Umkehr – Selbstverrat und korrumpierte Vernunft              175 

 

5. Psychodynamik der Abwehr 

„‚Das  habe  ich  gethan‘  sagt  mein  Gedächtniss.  Das  kann  ich  nicht  gethan  haben  —  sagt  mein  Stolz  und  bleibt  unerbittlich.  Endlich  —  giebt  das  Gedächtniss  nach.“2  So  lautet  ein  prominentes  Bonmot  von  Nietzsche.  Es  thematisiert  ironisch  die  Gedächtnismanipulation  der  Verdrängung.  Der  Psychoanalyse  blieb  es  vorbehalten,  die  Psychody‐ namik  der  Abwehr  systematisch  zu  untersuchen  und  theoriegeleitet  darzustellen.   Als Freud in den neunziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts be‐ gann, seine klinischen Erfahrungen zu systematisieren und seine Theo‐ rie des Seelenlebens zu entwickeln, war der Ausdruck „unbewusst“ als  Attribut für das Handeln, Denken und Fühlen, vor allem in der Schö‐ nen Literatur, in der Philosophie und den Geisteswissenschaften durch‐ aus geläufig.   Man verwendete es im beschreibenden und erläuternden Sinn. Man  gebrauchte  es  allgemein  für  das  Nicht‐Eingestandene.3  Das  „Unbe‐ wusste“,  mit  Carl  Gustav  Carus  in  der  Romantik  als  Wesenszug  des  lebensvollen  Kosmos  generell  beschrieben,  wurde  in  der  Philosophie  mit  Schopenhauer  und  Nietzsche  und  in  der  naturwissenschaftlichen  Psychologie  mit  Gustav  Theodor  Fechner  zum  eigenständigen  Unter‐ suchungsgegenstand des menschlichen Geisteslebens.  Freud unternimmt  etwas Neues. In der Beobachtung psychisch er‐ krankter, zumeist als Hysterisch diagnostizierter Personen, bemerkt er  ein  Auftreten  und  Gebaren,  das  enthüllt  und  verbirgt.4  Die  Patientin‐ nen  und  Patienten  befinden  sich  beispielsweise  in  Episoden  agitierter  Bewusstseinstrübung  und  im  konvulsivischen  Anfall.  Sie  stellen  sich  im  Symptomgeschehen  so  dar,  als  erlebten  sie  eine  erregende  Szene,  deren  Bedeutung  ihnen  fremd  ist.  Dieser  Eindruck  vermittelt  sich,  wenn  der  Untersucher  in  emotionaler  Beteiligung  das  Dargestellte  als  Mitteilung auffasst. In dieser Perspektive nimmt er teil an einer enthül‐ lenden  Inszenierung  besonderer  Art:  Er  ist  emotional  engagierter  Zu‐ schauer  bei  einer  Szene,  die  dem  Betrachter  etwas  Bedeutungsvolles  mitteilt, für den Produzenten aber nur Ausdruck von Störung und Lei‐ den ist. Störung und Leiden sind in dieser Sicht inszenierte Deklaratio‐ nen. Patienten führen sich dem Gegenüber als krank und leidend vor. 

2     F.  Nietzsche,  Jenseits  von  Gut  und  Böse  (1886),  in:  ders.  Kritische  Studienausgabe,  hg. v. G. Colli/M. Montinari, München 2005, Bd. 5, 86.  3   B.  Nitzschke,  Aufbruch  nach  Inner‐Afrika.  Essays  über  Sigmund  Freud  und  die  Wurzeln der Psychoanalyse, Göttingen 1998.  4   S. Freud, Die Traumdeutung (1900), in: GW, Frankfurt a. M. 1976, Bd. 2/3, 1–642. 

176                                                               Brigitte Boothe  Die  Kommunikation  des  Patienten  vermittelt  sich  dem  Arzt  systema‐ tisch  als  Mitteilung  auf,  die  auf  seiten  des  Kommunikators  eine  be‐ stimmte Ebene der Bedeutungsgebung unterschlägt. Die Patienten ver‐ bergen  vor  sich  selbst,  was  sie  szenisch  zur  Darstellung  bringen  und  suchen es darüber hinaus als Krankheit zu tarnen.  Freud nimmt an, dass die Betroffenen Grund haben, vor sich selbst  zu verbergen, was sie vor den Augen des Arztes enthüllen: Sie zeigen  etwas, das sie vormals heftig in Anspruch nahm, und verbergen es vor  sich  selbst,  weil  die  Anerkennung  dessen  für  sie  mit  Angst  und  Schmerz  verbunden  wäre.  In  systematisierender  Absicht  geht  Freud  –  wie  Schopenhauer  und  Nietzsche  –  davon  aus,  dass  Nicht‐Wissen  als  Ergebnis motivierter Aktivität zustande kommt.   Demnach  ist  es  möglich,  dass  eine  Person  im  Zustand  geistiger  Wachheit  etwas  Wichtiges  tut,  erleidet  oder  erfährt,  das  sie  im  Nach‐ hinein  nicht  mehr  vergegenwärtigt.  Diese  Unterlassung  ist  motiviert.  Das  heißt,  die  betroffene  Person  genießt  im  Vergessen  einen  Vorteil.  Mit Nietzsche gesprochen besteht dieser in der Aufrechterhaltung ihres  Selbstgefühls. Mit Freud und allgemeiner formuliert: Sie profitiert von  einer Unlustvermeidung.5  

6. Listen korrumpierter Vernunft  Eine  Person  macht  strategisch  wichtige  Begebenheiten  ihres  Lebens  nicht  abrufbar  und  nimmt  von  diesen  Listen  korrumpierter  Vernunft  nicht  Kenntnis.  Freud  vertieft  die  Beschreibung  und  Erklärung  moti‐ vierten  Nicht‐Wissens  als  psychische  Leistung:  Er  geht  auf  jedes  der  drei erklärungsbedürftigen Elemente des Sachverhalts ein. Darauf, dass  (1)  motiviertes  Nicht‐Wissen  und  Vergessen  nicht  nach  dem  Muster  des gewöhnlichen Nicht‐Wissens und Vergessens beschreibbar ist;  (2) die Herstellung von Nicht‐Wissen als Aufwand bemerkbar wird;  (3) die Person, die enthüllt und verbirgt, aktiv auf ihre Lebenswelt ein‐ zuwirken sucht.  Zu  (1):  Motiviertes  Nicht‐Wissen  ist  umgangene  Vergegenwärti‐ gung im Nachhinein. Es zeichnet sich dadurch aus, dass die Person das  Nicht‐Wissen im Anschluss an das involvierende Ereignis nachträglich  aktiv herstellt. Sie stellt das Verhalten eines Individuums dar, das von  der  betreffenden  Sache  nichts  weiß.  Sie  weiß  nicht  einfach  nicht,  son‐ dern führt die Haltung des Nicht‐Wissens vor und umgeht nach Kräf‐

5  

S. Freud, Die Verdrängung (1915), in: GW, Frankfurt a. M. 1981, Bd. 10, 247–262. 

Verrat und Umkehr – Selbstverrat und korrumpierte Vernunft              177 

ten die Berührung mit dem fraglichen Inhalt.6 Diese Inhalte sind für die  betroffene Person nicht harmlos. Ihr Interesse ist es, zu leben, als sei das  Fragliche  nicht  Teil  ihrer  Biografie.  Motiviertes  Nicht‐Wissen  richtet  sich auf tabuierte und aversive Bestandteile gelebten Lebens.  Zu  (2):  Die  tabuierten  Elemente  bleiben  Bestandteile  gelebten  Le‐ bens.  Sie  bleiben  es,  weil  das  Individuum  weiterhin  involviert  ist,  in‐ dem es das Vergessene vorführt und dadurch agiert. Daher ist es mög‐ lich, dass sich dem Betrachter etwas enthüllt, was der Betroffene selbst  zu  verbergen  sucht.  Der  Prozess  der  Herstellung  von  Nicht‐Wissen  richtet  sich  auf  suggestive  und  selbstsuggestive  Maßnahmen  des  Ver‐ bergens, der Entstellung, der Bekämpfung; auf Abwehr und Gegenbe‐ setzung, in Freuds Diktion.7   Zu (3): Motiviertes Nicht‐Wissen schafft der Person bedingte Ruhe,  bedingte  Entlastung,  bedingte  Meidung  von  Unlust.  Die  Person  profi‐ tiert  von  einer  Kompromissbildung  mit  Destabilisierungstendenz.8  Sie  muss  Ambivalenz  in  Kauf  nehmen.  Sie  muss  das  motivierte  Nicht‐ Wissen sinnvoll in ihr Leben einbauen und sich so einrichten, dass die  inszenierte  Ahnungslosigkeit  ihren  glaubwürdigen  Platz  findet.  Das  hat  einen  Preis:  den  partiellen  Verzicht  auf  Wahrheitssuche,  den  Griff  zu  regressivem  Rückzug  sowie  die  Schutzsuche  in  der  privaten  Le‐ benswelt.  Inszenierte  Ahnungslosigkeit  nötigt  dazu,  ein  illusionäres  Netz selbstsuggestiven Für‐Wahr‐Haltens auszuspinnen. 

7. Die Dynamik körperlicher, psychischer und                   relationaler Regulierung  Die Psychoanalyse leistet als Wissenschaft der Einheit von Körper und  Geist einen wichtigen Beitrag zur Entstehung und der Arbeitsweise des  psychischen  Lebens  und  der  menschlichen  Beziehungen.  Sie  geht  von  einer vielfachen Dynamik der Lebensprozesse aus.        

6   7   8  

B.  Boothe,  Über  Psychoanalyse  und  wahrhaftiges  Sprechen,  in:  Psychoanalyse  und  Philosophie: Eine Begegnung, hg. v. W. Tress/S. Nagel, Heidelberg 1993, 39–57. S. Freud, Die Verdrängung (1915), in: GW, Frankfurt a. M. 1981, Bd. 10, 247–262.  S. Freud, „Psychoanalyse“ und „Libidotheorie“ (1923), in: GW, Frankfurt a. M. 1976,  Bd. 13, 222. 

178                                                               Brigitte Boothe  a. Dynamik der Bedarfsregulierung  Lebendige Organismen gleichen kontinuierlich physiologische Mangel‐ lagen  aus.  Körperliche  Bedarfsregulierung  macht  sich  dranghaft  be‐ merkbar, und das Individuum muss Motorik und Aktion einsetzen, um  Mangellagen auszugleichen.9  Dann ist  es  von  physiologischen Bedürf‐ nisregungen  wie  Hunger,  Frieren,  Entleerungsdrang,  genitaler  Erre‐ gung  erfasst.  Es  sucht  Entspannung,  beispielsweis  durch  Einverlei‐ bung, Aufsuchen wärmender Nischen, Defäkation, Masturbation. Kör‐ perliche  Bedarfsregulierung  ist  oft  an  Mittel  gebunden.  Zum  einen  braucht  es  gezielte  Operationen  wie  zum  Beispiel  Nahrungsbeschaf‐ fung oder Wärmezufuhr. Zum andern braucht es Helfer, die tätig wer‐ den, wenn das Individuum nicht über Handlungsressourcen verfügt. 

b. Dynamik der Handlungsintentionalität  Aus  der  Notwendigkeit  bedarfsgerechten  Handelns  entsteht  eine  Dy‐ namik  der  Handlungsintentionalität.  Lebendige  Organismen  nutzen  Orientierungsvermögen  und  Handlungskompetenz,  um  ihren  Bedarf  an Nahrung, Entleerung, Wärme, Ruhe, Kontakt und Separation, Fort‐ pflanzung und Pflege, Bewegung, Spiel und Kampf durch gezielte Ak‐ tion oder durch Hilfesuche bei anderen zu decken. Aus der elementa‐ ren Handlungsintentionalität – der Vogel braucht Zweige, um ein Nest  zu bauen, er sucht sie an geeigneten Orten und platziert sie am Zielort  stabil  –  entwickeln  sich  bei  den  Menschen  hochdifferenzierte  Tätig‐ keitsfelder und Institutionen.  

c. Dynamik der Beziehungen  Aus der elementaren Abhängigkeit von Helfern – die insbesondere für  menschliche  Säuglinge  gilt  –  entsteht  eine  Dynamik  der  Beziehungen.  Aus dem Zusammenspiel von basaler kindlicher Expressivität – Mimik,  Stimme,  körperliche  Verfassung  –  und  elterlicher  Pflege  entsteht  das  weit verzweigte Spiel des Forderns und Gebens, von Resonanz, Unter‐ stützung und Verstehen.10 

9   S. Freud, Die Verdrängung (1915), in: GW, Frankfurt a. M. 1981, Bd. 10, 247–262.  10   Vgl.  dazu  T.  B.  Brazelton/B.  G.  Cramer,  Die  frühe  Bindung,  Stuttgart  1990.;  P.  M.  Brinich,  Rituals  and  meanings:  The  emergence  of  mother‐child  communication,  in:  Psychoanalytic  Study  of  the  Child  37  (1982),  3–15.;  B.  Boothe/A.  Heigl‐Evers,  Die 

Verrat und Umkehr – Selbstverrat und korrumpierte Vernunft              179 

Psychoanalyse unterscheidet  also zunächst eine Dynamik der  Bedarfs‐ regulierung,  der  Handlungsintentionalität  und  der  Ausrichtung  auf  Beziehung. 

d. Lebensvollzüge in der Dynamik von Appetenz und Aversion  Die Lebenserfahrung des Kindes ist primär eine Geschichte der Sinnes‐ eindrücke, Empfindungen und Befindlichkeiten. Das Leben des Kindes  vollzieht sich in Zuständen der Spannung und Entspannung, Vigilanz  und  Schläfrigkeit,  Bedürftigkeit  und  Sattheit.  Das  sind  Zustände,  die  als  angenehm  oder  unangenehm,  tolerabel  oder  irritierend,  komforta‐ bel oder unbekömmlich erlebt werden. Dabei kommt es zu zahlreichen  kommunikativen Ereignissen wie Begrüßung, Spiel und Abschied, Pfle‐ ge, Liebkosung, Untersuchung und Beruhigung. Diese Ereignisse – die  sich  variantenreich  und  stetig  wiederholen  –  erlebt  das  Kind  lustvoll  oder  aversiv.  Die  Geschichte  der  Bedarfsregulierung  und  der  vitalen  Zustände ist damit zugleich eine Geschichte der Lust. Das Kind entwi‐ ckelt  Präferenzen.  Es  wählt  das  Annehmliche,  meidet  das  Aversive.  Das ist die Geburt des Willens aus dem Geist der Lust.   Freud gab dieser elementaren Einstellung den Namen Lustprinzip.11  Es  steht  dem  Realitätsprinzip  gegenüber  und  ist  lebenslang  wirksam.  Die  Ordnung  der  Erfahrung  nach  ihrer  Lustgratifikation  schafft  eine  selbstzentrierte sinnhafte Daseinsaneignung: Das Leben ist gut, soweit  bekömmlich. Leben bietet in dieser Perspektive Bedingungen und Aus‐ sichten  der  Erfüllung  und  der  Misere.12  Die  Ordnung  der  Erfahrung  nach  ihrer Lustgratifikation  ist  narrativ.13  Erfüllungsbedingungen  sind  sprachliche  Erwartungsformulierungen,  an  eine  Plotdynamik  –  eine  Fabel,  eine  Intrige  –  gebunden  und  in  narrativen  Spannungsbögen  strukturiert.14  Die  Ordnung  der  Erfahrung  nach  ihrem  Orientierungs‐

11   12   13   14  

Psychoanalyse der frühen weiblichen Entwicklung, München 1996.; A. Fogel, Deve‐ loping through relationships, Hertfordshire 1993.; H.‐J. Lang, Die ersten Lebensjah‐ re.  Psychoanalytische  Entwicklungspsychologie  und  empirische  Forschungsergeb‐ nisse, München 1988.; D. Stern, The interpersonal world of the infant. A view from  psychoanalysis and developmetnal psychology, New York 1985.  S.  Freud,  Vorlesungen  zur  Einführung  in  die  Psychoanalyse  (1916–17),  in:  GW,  Frankfurt a. M. 1978, Bd. 11, 369.  S. Freud, Der Dichter und das Phantasieren (1908), in: GW, Frankfurt a. M. 1976, Bd.  7, 213–226.  B. Boothe, Der Patient als Erzähler in der Psychotherapie, Göttingen 2004.   Vgl. dazu B. Boothe, Die Dynamik des Erlebens in der Patientenerzählung, in: Empi‐ rische  Forschung  in  der  Psychoanalyse,  hg.  v.  G.  Poscheschnik,  Giessen  2005,  273– 292.;  B.  Boothe,  Narrative  Intelligenz  und  Konfliktdynamik,  in:  Beschreiben  –  Er‐

180                                                               Brigitte Boothe  wert hingegen – das dezentrierte Realitätsprinzip – folgt der Logik von  Beobachtung,  Beschreibung,  Vermutung  und  Erklärung.  Bruner15  kennzeichnet,  im  Unterschied  zur  narrativen,  die  explorative  Haltung  zum Gegebenen als paradigmatische Perspektive. 

e. Dynamik der Ermächtigung  Das menschliche Neugeborene kann nur in Abhängigkeit von parenta‐ len Agenten überleben. Diese grundlegende Abhängigkeit hat enormen  Einfluss  auf  die  Konstitution  des  kindlichen  Seelenlebens  als  geprägt  und  durchdrungen  von  den  Erwartungen,  Befürchtungen,  Phantasien  und die unbewussten sexuellen Bereitschaften und Abwehrformen des  Erwachsenen.16 Für das Kind gilt es, im Sozialisationsprozess im primä‐ ren  Heimatort  des  fremden  Gemütslebens  einerseits  Halt  zu  finden,  andererseits  Öffnung  und  Abgrenzung  zu  erreichen.  Es  geht  um  Ver‐ selbständigung,  Abgrenzung,  Separierung  und  Positionierung  im  Ei‐ genbezirk. Dabei erprobt man eigene Stärke und geht in die Defensive  und in die Offensive, man erwirbt ein Repertoire der Attacke, Bemäch‐ tigung und der Gegenwehr. Die Verfügung über aggressive Ressourcen  schafft  Wirksamkeit  und  auch  eine  Selbsteinschätzung  der  eigenen  Wirksamkeit  und  Einflussmacht.  Von  der  Verfügung  über  aggressive  Ressourcen ist diejenige über destruktives Potential zu unterscheiden.17  Destruktion  ist  Schädigung,  um  den  Geschädigten  zu  schwächen,  zu  minimieren, zu vernichten. Der Einsatz destruktiver Maßnahmen dient  nicht  der  Optimierung  von  Selbstwirksamkeit,  sondern  der  Optimie‐ rung der Selbstzentrierung. Minimiert oder vernichtet werden soll, was  den eigenen Anspruch an Bedeutung, Geltung, Beachtung, Wichtigkeit,  Selbstwert in Frage stellt. Ein einzelner fühlt sich wichtig und mächtig,  schliessen – Erläutern. Psychotherapieforschung als qualitative Wissenschaft, hg. v.  V.  Luif/G.  Thoma/B.  Boothe,  Berlin  2005,  17–38.;  P.  Ricoeur,  Zeit  und  Erzählung,  München 1988.; T. R. Sarbin, Emotional life, rhetoric, and roles, in: Journal of Narra‐ tive and Life History 5/3 (1995), 213–220.; T. R. Sarbin, Worldmaking, self and identi‐ ty, in: Culture & Psychology 6 (2000), 253–258.  15   J. Bruner, Acts of meaning, Cambridge 1990. 16   Vgl. dazu J. Laplanche, Die rätselhafte Botschaft des Anderen. Zur Metapsychologie  von  Sexualität  und  Bindung,  in:  Die  vernetzte  Seele.  Die  intersubjektive  Wende  in  der  Psychoanalyse,  M.  Altmeyer/H.  Thomä,  Stuttgart  2006,  259–281.;  H.  Müller‐ Pozzi, Psychoanalytisches Denken. Eine Einführung, Bern 2002.; K. v. Klitzing, Frü‐ he  Entwicklung  im  Längsschnitt:  Von  der  Beziehungswelt  der  Eltern  zur  Vorstel‐ lungswelt des Kindes, in: Psyche 9 (2002), 863–887.  17   B.  Boothe,  Psychoanalyse,  in:  Psychologie  in  der  Praxis,  hg.  v.  J.  Straub/A.  Kochinka/H. Werbik, München 2000, 147–169. 

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weil  er  andere  zu  schwächen  oder  zu  vernichten  in  der  Lage  ist.  Das  kann  unwiderstehliches  Vergnügen  bereiten.18  Auslachen,  Hänseln,  Bloßstellen, Quälen, Demütigen sind bisher unausgerottete Freuden im  Klassenzimmer.  Auslachen,  Hänseln,  Bloßstellen,  Quälen,  Demütigen,  gewaltsam  und  möglichst  lächerlich  zu  Tode  bringen  sind  das  unbe‐ streitbare schadenfrohe Schau‐ und Lesevergnügen eines großen Klas‐ sikers der Weltliteratur, der Bildergeschichten des Wilhelm Busch.      f. Dynamik des Todestriebs    Freud geht in seinem umstrittenen Werk über den Todestrieb von einer  basalen  Feindschaft  aus,  die  der  einzelne  von  Anfang  an  gegen  sich  richte, einer Neigung, das eigene Werden rückgängig zu machen, einen  Zustand  des  Nicht‐Seins  herbeizusehnen,  aber  auch,  gegen  sich  selbst  zu  wüten,  die  eigenen  Lebensregungen  zu  verwerfen.19  Selbstzweifel,  Scham und Schuldgefühl haben in dieser Sicht nur scheinbar ihre Ver‐ anlassung  in  der  Lebenswirklichkeit,  sind  aber  tatsächlich  Ausdruck  einer  basalen  Selbstdestruktion.  Selbstdestruktion  aber  verhindert  In‐ dividuation.  Unter  bestimmten  Umständen  siegt  die  lebensfeindliche  Tendenz,  unter  anderen  verschafft  sich  die  Intentionalität  der  Indivi‐ duation Geltung. Personen wollen in Erscheinung treten, zur Wirkung  gelangen. Sie wollen sich aber auch lösen, zurücknehmen, Willensbin‐ dungen und Widerstände aufgeben, abtreten.   Das  ist  ein  Jenseits  der    Individuation:  Es  gibt  eine  Intentionalität,  die  nicht  auf  Macht  zielt,  nicht  auf  Selbstzentrierung,  nicht  auf  Lust,  nicht  auf  Beziehungen  und  die  sogar  den  Ausgleich  des  Mangels  ver‐ nachlässigt. Diese Dynamik des Rückzugs ist außerordentlich vieldeu‐ tig, kann selbst als lebensdienlich reformuliert werden.20 Sie kann bio‐ logisch motiviert sein – der schwache und alte oder kranke und sieche  18   Vgl. M. Walter, Über Machtstrukturen, aus denen Kriminalität entsteht. Folgerungen  aus  dem  Stanford‐Prison‐Experiment  für  Kriminologie  und  Kriminalpolitik,  in:  So‐ zialpsychologische  Experimente  in  der  Kriminologie.  Milgram,  Zimbardo  und  Rosenhan kriminologisch gedeutet, mit einem Seitenblick auf Dürrenmatt, hg. v. F.  Neubacher/M. Walter, Münster 2002, 93–102.; P. Zimbardo, Das Stanford Gefängnis  Experiment. Eine Simulationsstudie über die Sozialpsychologie der Haft, Goch 2005.  19   S. Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920), in: GW, Frankfurt a. M. 1976, Bd. 13, 1–70. 20   Vgl.  dazu  beispielsweise  J.  Laplanche,  Der  (sogenannte)  Todestrieb:  ein  sexueller  Trieb, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 11 (1996), 10–26.; eine  intensive  Rekonstruktion  und  ein  theoretisches  Modell  von  C.  Schmidt‐Hellerau,  Lebenstrieb  und  Todestrieb.  Libido  und  Lethe,  Frankfurt  a.  M.  1995.;  C.  Schmidt‐ Hellerau, Surviving in absence – on the preservative and death drives and their clin‐ ical utility, in: Psychoanalytic Quarterly (2006), 1001–1039. 

182                                                               Brigitte Boothe  Körper – und/oder als Zurücknahme von emotionalen Bindungen auf‐ treten,  in  die  nun  nicht  mehr  investiert  wird.  Freud  konzipierte  eine  Intentionalität  der  Abwendung  vom  Handeln,  sich  Engagieren,  vom  Feld  der  Beziehungen,  gar  vom  Leben  in  seiner  Schrift  vom  Todes‐ trieb21. Auch wenn Freud bei den Tendenzen zur Lösung Regungen des  Destruktiven wirksam sah, war er in dieser Annahme schwankend. Sei‐ ne  Formulierungen  sind  zu  allgemein,  zu  global,  zu  abstrakt.  Er  mag  dazu eingeladen haben, eine Freiheit zum Tode, eine geistige Haltung,  die  der  eigenen  Vergänglichkeit  Rechnung  trägt,  eine  Heiterkeit  des  Schwindens und Vergehens, eines besonderen humanen Lebensgefühls  der Todesnähe zu denken.  

8. Die leibliche Expressivität des Kindes –   das elterliche Kommunikationsangebot   Leben als biologischer Prozess und Leben als biographische Gestaltung  wirken zusammen. Es geht um: Bedarfsregulierung, Handlungsorgani‐ sation,  Beziehungsorganisation,  Willenssteuerung,  Selbst‐Artikula‐ tion/Selbstbehauptung  und  Selbstzurücknahme.  Die  Bedarfsregulie‐ rung  verbindet  sich  mit  dem  Triebvergnügen,  und  beides  organisiert  und kultiviert sich im Raum der primären Beziehungen. Leben ist Be‐ ziehungsregulierung.  Leben  ist  Personalisierung  inmitten  des  Kollek‐ tivs.  Personalisierung  ist  eine  Bewegung  der  Verbindung  mit  und  der  Abgrenzung  vom  Kollektiv.  Die  Sprache  und  die  Expressivität  des  Persönlichen  bedienen  sich  der  Sprache  des  Kollektivs  und  machen  sich  in  ihm  geltend.22  Die  leibliche  Expressivität  des  Kindes  wird  im  Dialog mit den parentalen Agenten in das Vokabular der Empfindun‐ gen und Gemütsbewegungen überführt.23 Es ist das Ersetzen der leibli‐ chen,  mimischen,  lautlichen  Expressivität  des  Kindes,  das  –  Wittgens‐ tein  bezeichnete  es  als  Vorgang  des  Abrichtens24  –  durch  verbale  Ex‐ pressivität ersetzt wird. Die Elementarereignisse der kindlichen Erfah‐ rungswelt – zum Beispiel das Bad, das Essen, das Spiel auf dem mütter‐ lichen  Schoss,  die  nächtliche  Tröstung  –  werden  dramaturgisch  insze‐ 21   S. Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920), in: GW, Frankfurt a. M. 1976, Bd. 13, 1–70.  22   Vgl. dazu T. R. Sarbin, Worldmaking, self and identity, in: Culture & Psychology 6  (2000), 253–258.; D. N. Stern, Das narrative Selbst, in: Das Narrativ – aus dem Leben  Erzähltes, hg. v. P. Buchheim/M. Cierpka/Th. Seifert, Heidelberg 1998, 1–13.  23   P. Fonagy/G. Gergely/E. L. Jurist/M. Target, Affektregulierung, Mentalisierung und  die Entwicklung des Selbst, Stuttgart 2004.  24   L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Kritisch‐genetische Edition, hg.  v. J. Schulte, Frankfurt a. M. 2001.

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niert  und  narrativ  dargestellt.  Die  Daseinsaneignung  im  Spiegel  des  Wünschbaren und des Aversiven, im Spiegel von Erfüllung und Misere  nimmt hier ihren Anfang. In der hedonischen oder Wunschregulierung  wird  das  Leben  bekömmlich.  Andererseits  gewinnt  man  nur  durch  Exploration  und  Lernen  Welt‐  und  Lebenserfahrung.  Die  Erprobung  der eigenen Kräfte zwischen Versuch und Irrtum, Probieren und Üben,  Zuschauen und Mitmachen schafft Stand und Wirksamkeit in der Welt,  man  beginnt  sich  auszukennen,  lebenspraktische  Kompetenzen  zu  erwerben. 

9. Scheinbare Selbst‐ und Fremdbefriedung                            im Kontext des Politischen  Abwehrstrategien sind Maßnahmen, die psychisches Befinden regulie‐ ren, günstige Resonanz im Feld der Beziehungen bewirken, vorüberge‐ hend Spannung abbauen, das Sicherheitsgefühl fördern und das Selbst‐ gefühl  kurzfristig  verbessern.  Sehr  früh  im  kindlichen  Leben  werden  Abwehrstrategien wirksam. Die Psychoanalyse ist eine gute Mentorin,  Listen  korrumpierter  Vernunft,  Abwehrstrategien  zugunsten  vorüber‐ gehender scheinbarer Selbst‐ und Fremdbefriedung aufzudecken. Eini‐ ge Beispiele seien angeführt25:  Die moralische  Aufladung oder,  allgemeiner  formuliert,  die  Ratio‐ nalisierung:    Die  wahren  Motive  einer  Regung  oder  Handlung  bleiben  verdeckt und werden durch den Schein der Rationalität und Moralität  schöngeredet. Vorteil: Selbstentlastung und Freundschaftsbeschwichti‐ gung. Beispiel: Mitarbeiter in Vertrauensstellung geben seit Jahren me‐ dizinische  Produkte  nach  Kaschierung  der  Verfallsdaten  an  Entwick‐ lungsorganisationen  weiter  und  berufen  sich  dabei  auf  humanitäre  Gesichtspunkte, während sie die potenzielle Schädigung herunterspie‐ len.  Die  Unterdrückung:  Eine  Handlung,  aber  auch  eine  seelische  Re‐ gung werden unterdrückt, weil sie ein Fehlverhalten oder eine unlieb‐ same seelische Regung offenlegen könnten. Vorteil: Die Sache gerät in  Vergessenheit.  Beispiel  für  die  Unterdrückung  und  moralische  Aufla‐ dung: Ein hochrangiger Politiker verhindert durch Berufung auf seine  Immunität  ein  Gerichtsverfahren,  das  eine  gegen  ihn  gerichtete  Be‐ schuldigung  untersuchen  sollte.  Sein  Argument:  Schutz  der  Familie  und der Privatsphäre. 

25   Vgl. B. Boothe, Frohsinn als Panzer, in: Abstrakt 7 (2012), 20–27. 

184                                                               Brigitte Boothe  Die Bagatellisierung: Eine Handlung, ein  Vorfall, eine  seelische Re‐ gung, die vorausgehen und für den Betroffenen nachteilig oder bedroh‐ lich sind, werden nicht geleugnet, aber heruntergespielt, als ungefähr‐ lich oder belanglos dargestellt. Vorteil: Weniger Stress durch scheinba‐ re Sicherheit. Beispiel: Ein Student, der kurz vor dem Abschluss seines  Studiums  steht,  kann  sich  nicht  konzentrieren,  so  dass  seine  Arbeit  stark  darunter  leidet  und  im  Anfangsstadium  hängen  bleibt.  Dagegen  unternimmt er nichts, schließlich – und das sagt er sich täglich – haben  auch  alle  seine  Freunde  Mühe  damit,  die  Abschlussarbeit  zu  Ende  zu  bringen.   Die  Identifikation:  Im  inneren  oder  äußeren  Interessenwider‐ streit stellt sich der Betroffene ganz und rückhaltlos auf eine Seite, und  zwar auf diejenige mit der größten Stärke und Macht.  Vorteil:  Selbst‐Stärkung  durch  Versicherung  mit  der  Position  der  Stärke. Beispiel: Ein Abteilungsleiter erhält den diskreten Auftrag, der  Firmenleitung  Personen  zu  benennen,  denen  bei  einer  nächsten  Ar‐ beitsplatzreduktion  gekündigt  werden  soll.  Er  identifiziert  sich  mit  dem  Anspruch  der  Firma  auf  Personalverschlankung  im  Dienst  des  Überlebens am Standort.  Die  Selbst‐Privilegierung:  Angesichts  einer  nicht  legitimierten  eige‐ nen  Vorteilsnahme  deklariert  man  sich  selber  als  berechtigt  und  auf‐ grund diverser, scheinbar passender Verdienste ausersehen, einen An‐ spruch  wahrzunehmen  und  für  sich  zu  nutzen.  Das  entspricht  einer  Selbstidealisierung  als  Favorit  und  Kronprinz.  Vorteil:  Zugewinn  an  Selbstliebe, Ausschaltung selbst‐ und situationskritischer Urteilsfunkti‐ onen.  Hierzu  zwei  Beispiele:  Ein  Mitarbeiter  eines  Universitätsinstitu‐ tes  unterschlägt  einem  Vorgesetzten  gegenüber  die  Verdienste  eines  jungen Kollegen bei der Bearbeitung und Dokumentation einer Unter‐ suchung,  erhält  eine  Beförderung,  wird  dem  jungen  Kollegen  vorge‐ setzt  und  legitimiert  den  eigenen  Machterfolg  durch  Herausstreichen  der eigenen geistigen Führungsrolle und der Schwächung von Fremd‐ verdiensten. Ein Mitarbeiter streut im Zweiergespräch mit dem Vorge‐ setzten negative Andeutungen über die zweifelhafte Qualifikation sei‐ ner  Kollegen  ein,  erreicht  dadurch  eine  strategische  Schlüsselstellung  und deklariert sein Handeln vor sich selbst als Geradlinigkeit, Aufrich‐ tigkeit und Engagement für die Sache des Teams.  Die Dramatisierung: Ein Fehler, Fehlverhalten, ein Versäumnis, eine  unannehmbare  seelische  Regung  werden  als  Potenzial,  dem  man  sich  verantwortlich  zu  stellen  hätte,  dadurch  außer  Kraft  gesetzt,  dass  der  Sachbezug  zum  Verschwinden  gebracht  wird  und  die  ganze  Situation  ins  Tränenvoll‐Inszenierte,  zugleich  Kindlich‐Rührende  gewandelt  wird.  Vorteil:  Selbstentlastung  und  phantasierte  Selbsterhöhung.  Bei‐

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spiel: Ein deutscher Ministerpräsident fordert für eine dunkle Finanzaf‐ färe  „brutalstmögliche  Aufklärung“,  tut  aber  gleichzeitig  alles  zur  Si‐ cherung der eigenen Machtposition.  Die  Emotionalisierung: Sie ist der  Dramatisierung in allen Punkten  eng verwandt. Hier geht es indessen noch im Besonderen darum, sich  selbstsuggestiv  der  eigenen  tiefen  Betroffenheit  zu  versichern  und  die  potenziell  kritische  Umgebung  ebenfalls  in  eine  tatenlose  Betroffen‐ heitsattitüde  hineinzulocken.  Vorteil:  Selbstbeschwichtigung  durch  Selbstsuggestion, Fremdbeschwichtigung durch Vernebelung. Beispiel:  Ein  früherer  deutscher  Bundeskanzler  gibt  sein  „Ehrenwort“  und  will  damit vorenthaltene Informationen legitimieren.  Die Selbstbezichtigung: Auch  sie ist der  Dramatisierung  und Emo‐ tionalisierung  nah  verwandt  und  bedient  sich  gewöhnlich  beider  im  Dienst  der  Effektverstärkung.  Wer  sich  einer  üblen  Handlung,  eines  Vergehens, dessen man schon überführt ist, oder einer Neigung, die für  einen  selbst  unannehmbar  ist,  bezichtigt,  setzt  sich  einem  grausamen  Gericht aus, um die phantasierten und die wirklichen Richter milde zu  stimmen  durch  das  extreme  Ausmaß  der  Selbstanklage,  der  starken  Übertreibung des Vergehens und/oder eindrucksvoller Zerknirschung,  die unter Tränen und Kniefall an den Tag gelegt wird. Vorteil: Schutz  vor  Fremdattacke  durch  Selbstanklage,  Unterlaufen  und  Entmächti‐ gung  des  inneren  oder  äußeren  Opponenten,  gerade  weil  und  indem  dieser  scheinbar  in  seiner  Machtfülle  und  seinem  Anspruch  bestätigt  wird. Beispiel: Ein junger Kellner wird dabei erwischt, wie er Trinkgeld  seiner  Arbeitskollegen  stiehlt.  Noch  ehe  die  Mitarbeitenden  reagieren  können,  beschimpft  er  sich  als  die  widerlichste  Person  der  Welt,  die  diese wunderbare Stelle nicht verdient hat und auch sonst nichts Schö‐ nes auf der Welt. Er verausgabt sich emotional und fällt in Ohnmacht.   Die  Idealisierung:  Die  egozentrische  Vorteilsnahme  wird  dadurch  vor sich selbst wie vor anderen verdeckt gehalten und gleichwohl stra‐ tegisch  weiterverfolgt,  dass  die  Verschmelzung  mit  dem  Inhaber  der  Machtposition gesucht wird. Das gelingt durch Schmeichelei, Hingabe,  Glorifizierung, Dienstbarkeit, Geschmeidigkeit und Anpassung.  Vorteil: Komfortabler Verzicht auf Selbstpositionierung, Aufwand‐ ersparnis,  Liebesprämien.  Beispiel:  Ein  Mitarbeiter  steigt  trotz  kaum  erkennbaren  Sach‐  und  Fachkompetenzen  rasch  auf  und  befindet  sich  in  engem  Kontakt  mit  hochrangigen  Personen,  erfährt  von  dort  auch  zwanglos  zahlreiche  Begünstigungen.  Er  verfügt  über  ausgeprägtes  positives Denken, eloquentes Bewunderungstalent, Charme, Schönheit,  Talent und Liebenswürdigkeit.  Die Inszenierung von Gefügigkeit:  Ähnlich wie bei der Idealisierung   verbirgt    der  Gefügige  sich  selbst  und  anderen  den  Impuls  und  das 

186                                                               Brigitte Boothe  Motiv  egozentrischer  Vorteilsnahme  durch  den  Schein  der  Dienstbe‐ reitschaft  am  Gegenüber.  Hier  jedoch  stehen  nicht  Liebenswürdigkeit,  Charme  und  Gefälligkeit  im  Vordergrund,  sondern  Fleiß,  Ordentlich‐ keit,  Pflichterfüllung,  Eifer,  Expertise,  Kompetenz  und  Pünktlichkeit  –  lauter  Tugenden,  die  in  jedem  Unternehmen,  jeder Behörde und  jeder  Schule gern gesehen werden. Diese Tugenden werden dann zu Schein‐ Tugenden, wenn sie sich in den Dienst der Suspendierung des eigenen  kritischen  und  selbstverantwortlichen  Urteils  stellen.  Vorteil:  Stiller  Mitgenuss der Macht, bei Verzicht auf das Autonomierisiko. Selbstsug‐ gestion  der  Wohlanständigkeit  und  Verantwortungsentlastung.  Bei‐ spiel: Wie man ein scheinbar gutes Gewissen kritiklos gefügig im Kon‐ text  des  nationalsozialistischen  deutschen  Vernichtungsregimes  bei  Suspension der Eigenverantwortung wahren kann, ist bekannt, intensiv  dokumentiert und wird seit Goldhagens verstörender Publikation Hit‐ lers willige Vollstrecker26 nochmals kontrovers auf historischer, soziologi‐ scher und politischer Ebene diskutiert.  Die  Konformität:  Hier  befindet  sich  ein  Einzelner  in  der  Situation,  ein eigenes Urteil, das er frei und unabhängig gewonnen hat, vor einem  mit  Macht  ausgestatteten  Gegenüber  zu  vertreten,  und  zwar  mit  dem  Risiko und dann auch der Erfahrung des Widerspruchs. Dieser Einzel‐ ne ist mit der bedrohlichen – inneren oder äußeren – Situation konfron‐ tiert, in Isolation zu geraten, wenn er sein unabhängiges Urteil vor sich  selbst  und  den  anderen  weiter  vertritt.  Die  eigene  Urteilsverwerfung  zugunsten der Übereinstimmung mit der Macht entlastet. Vorteil: Sozi‐ ale  Übereinstimmung,  Entlastung  vom  Risiko  der  Selbst‐Positionie‐ rung,  Verantwortungsentlastung.  Beispiel:  Ein  Mitarbeiter  im  Kern‐ kraftwerk macht eine Störungsmeldung, findet aber im Team keinerlei  Bestätigung. Schließlich verwirft er die eigene Beobachtung.  Das  Charisma  einer  Führerfigur:  Ein  einzelner  will  seine  gehemmte  Expressivität,  gehemmte  Initiative  und  gehemmtes  Engagement  über‐ winden, sieht sich aber mit der Barriere rationaler und moralischer Be‐ denken konfrontiert. Die liebende Verschmelzung mit einem Anführer,  dem  es  gelingt,  die  Barriere  suggestiv  in  Luft  aufzulösen  und  im  ero‐ tisch‐aggressiv  erregten  einzelnen  die  Phantasie  gemeinsamer  Kräfte  zu  mobilisieren,  überwindet  Hemmungen  und  macht  den  Weg  nach  vorne frei. Bei diesem Weg nach vorne werden Hindernisse gnadenlos  überrollt.  Vorteil:  Enthemmung,  Befreiung,  Ressourcenmobilisierung,  Entlastung  von  Verantwortung  und  kritischen  Urteilsfunktionen.  Bei‐ spiel: Ein kreatives Team in der Werbebranche schließt sich enthusias‐ tisch dem jungen neuen Team‐Manager an und bringt in kürzester Zeit  26   D. J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, Berlin 1996. 

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eine  aufsehenerregende  Produktwerbung  ins  Fernsehen,  deren  Erfolg  in  der  offensiven  Verachtung  und  Entblößung  von  Gebrechen  liegt.  Kunst ist frei, Kunst bricht Tabus, Werbung ist Kunst, Kunst rüttelt auf,  heißt es zur Verteidigung.  Die  Ablenkung:  Ein  eigenes  Fehlverhalten  oder  eine  eigene  unan‐ nehmbare  seelische  Regung  werden  dadurch  in  ihrem  Bedrohungs‐  und Unlustpotenzial ausgeschaltet, dass der Schauplatz vom Zentrum  auf eine andere Stelle verlagert wird, die nun die ganze Aufmerksam‐ keit  beanspruchen  soll.  Vorteil:  Das  Fehlverhalten  gerät  in  Vergessen‐ heit.  Beispiel:  Eine  junge  Frau  hat  das  kummervolle  Geheimnis  einer  Freundin  ausgeplaudert.  Sie  bringt  ein  vages  Gefühl  von  Unbehagen  zum  Verschwinden,  indem  sie  anfängt,  gründlich  ihr  Zimmer  aufzu‐ räumen.  Die Fremdbezichtigung: Sie funktioniert ganz ähnlich wie die Ablen‐ kung.  Sie  verlagert    jedoch  den  thematischen  Fokus  nicht.  Es  geht  im  Bewältigungsmanöver weiterhin um Fehlverhalten. Es wird jedoch von  der  eigenen  Person  weg  auf  ein  anderes  Objekt  der  Anklage  verscho‐ ben. Vorteil: Selbstentlastung zugunsten Fremdattacke; Genuss aggres‐ siver Angriffslust, fremdgerichtet. Beispiel: Ein Mitarbeiter erfüllt Auf‐ träge nicht termingerecht und verweist, zur Rede gestellt, notorisch auf  Defizite der Informationsvermittlung und Absprache.  Die  Opferstrategie:  Die  Auseinandersetzung  mit  Impulsen,  Regun‐ gen, Handlungen, Motiven, die eine Mobilisierung von Selbstkritik und  verantwortlicher Auseinandersetzung mit sich selbst fordern, wird da‐ durch verhindert, dass eine Selbstinszenierung als Opfer fremder Um‐ stände  stattfindet.  Diese  Opferpräsentation  bedient  sich  zahlreicher  Strategien der Anschuldigung, Anklage und Bezichtigung, und mobili‐ siert  das  Gegenüber  zur  Täterattacke  und  Täterbekämpfung.  Vorteil:  Selbstentlastung  zugunsten  Fremdattacke,  Befriedigung  von  Entschä‐ digungs‐  und  Kompensationsansprüchen,  Verzicht  auf  Selbstpositio‐ nierung  und  Selbstverantwortung.  Beispiel:  Ein  Mitarbeiter  steht  im  Verdacht, das Arbeitsklima durch manipulatives Konkurrieren und ge‐ zieltes Diffamieren ruiniert zu haben. Zur Rede gestellt entzieht er sich  durch Verweis auf eigene Arglosigkeit, die guten Absichten und durch  das Bekenntnis, das willenlose Opfer übler Intrigen geworden zu sein;  auch  verlangt  er  Mitleid  für  sich  selbst  als  einen  vom  Leben  immer  schon Gebeutelten und Benachteiligten.     

188                                                               Brigitte Boothe 

10. Abwehrmanöver als psychosoziale und psychische   Regulative im Dienst von Sicherheit und Wohlbefinden  Es ist im Allgemeinen gut möglich, die Rhetorik und Beziehungsgestal‐ tung im Kontext von Abwehr dingfest zu machen, denn sie offenbart in  der  Kommunikation  oft  Auffälligkeiten  und  Besonderheiten,  etwa:  übertriebene  Emotionalität,  informative  Unschärfe,  erregtes  Dramati‐ sieren,  Beschwichtigen,  langfädiges  Sprechen  bei  Festhalten  am  Rede‐ recht,  gewichtiges  Sprechen  bei  minimaler  Sachsubstanz,  Persönliches  statt  Sachliches  in  den  Vordergrund  stellen,  Unruhe  und  Unsicherheit  schüren,  einen  kritischen  Sprecher  durch  Blamieren  und  Bloßstellen  unter  Verzicht  auf  Sachargumente  disqualifizieren,  kritische  Nachfra‐ gen  mit  Pauschalsätzen  und  summarischen  entwertenden  Statements  abspeisen  und  abwürgen,  Schmeicheln,  um  den  Bart  gehen,  Meidung  von  Verantwortungsübernahme,  Moralisieren,  Spalten,  selektiv  Infor‐ mieren, flammende Reden halten und vieles mehr.  Gehorsam  und  Idealisierung,  Opferstrategie  und  Bagatellisierung,  Dramatisierung  und  Ablenkung  wie  auch  die  übrigen  Beispiele  für  Fremd‐ und Selbstmanipulation finden lebhafte Anwendung im priva‐ ten und im öffentlichen Raum. Die Beispiele zeigen, dass der manipula‐ tive Umgang mit Sachverhalten und deren Entstellung nicht nur ande‐ re, sondern auch uns selbst trifft. Besonders effizient sind dabei solche  Strategien, die möglichst wenig Entstellungsaufwand benötigen (Ener‐ gieersparnis),  einen  Plausibilitätseffekt  haben  (so  dass  man  selbst  all‐ mählich glaubt, was man sagt oder tut), eine Situation schwacher oder  geringer oder diffuser Überprüfbarkeit herstellen (so dass eine Inspek‐ tion  der  Datenlage  schwierig  ist  und  möglichst  viel  in  der  Schwebe  bleibt), eine Gefälligkeitsprämie anbieten (das heisst, eine Glaubensnei‐ gung ansprechen und unser Wunschdenken bedienen). Auf diese Wie‐ se  wird  verständlich,  dass  wir  uns  durchaus  gern  belügen  lassen  und  auch selbst mit uns nicht immer ehrlich verfahren. Denn die genannten  Abwehrmanöver  stellen  psychosoziale  und  psychische  Regulative  im  Dienst  von  Sicherheit  und  Wohlbefinden  dar.  Wir  halten  dadurch  die  Bedrohung  in  Schach,  die  durch  einen  fremden  Bemächtigungsan‐ spruch  entstehen  könnte.  Wir  halten  Beschämungsgefahren  in  Schach  und wahren das Gesicht. Wir beschwichtigen Gewissensregungen und  fühlen  uns,  wenigstens  vorübergehend,  vor  Tadel  und  Strafe  sicher.  Wir stabilisieren Machtverhältnisse, wo es dem eigenen Zweck dienlich  erscheint.  Wir  tun  etwas  für  unser  Wohlbefinden  und  ersparen  Denk‐ arbeit. 

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Auseinandersetzungen im Feld der Macht verlangen stets die Regulie‐ rung  der  genannten  psychosozialen  und  psychischen  Funktionen:  Si‐ cherheit,  Selbstachtung  und  Respekt,  Gewissen,  Wohlbefinden,  Ver‐ antwortung.  Bei  den  genannten  manipulativen  und  selbstmanipulati‐ ven  Manövern  sind  die  gezeigten  Ergebnisse  keineswegs  annehmbar  und  empfehlenswert,  weil  jeweils  mindestens  eine  Bedingung  verletzt  ist, gewöhnlich aber sind es gleich mehrere. So nimmt der Bagatellisie‐ rende sich selbst und andere nicht ernst und bedient das Sicherheitsbe‐ dürfnis nicht adäquat. Und wer die Opferstrategie verwendet, wird der  eigenen Verantwortung nicht gerecht. Jener, der dramatisiert und emo‐ tionalisiert, zollt dem kritischen Denkvermögen keinen Respekt, weder  dem eigenen noch dem fremden. Wer immer nur gefügig ist und nicht  prüft, ob der Auftrag, den er erfüllt, in Ordnung ist, tut seinem Gewis‐ sen  einen  Bärendienst.  Wer  einer  autoritären  Forderung  immer  nur  nachgibt,  handelt  kurzfristig  im  Dienst  der  eigenen  Sicherheit,  unter‐ höhlt aber die eigene Selbstachtung und schürt Misstrauen und Feind‐ seligkeit.  Abwehr  ist  komfortabel,  aber  teuer.  Der  seelische  Haushalt  profi‐ tiert  vielfach  stärker  von  der  Bildung  derjenigen  Kompetenzen,  die  fruchtbare  Partizipation  im  Raum  der  Beziehungen  fördern,  dazu  ge‐ hört  die  Herausforderung  zur  Selbstkonfrontation,  der  Petrus  immer‐ hin  standzuhalten  vermochte.  Abwehr  ist  komfortabel,  aber  teuer.      Sie  ist  teuer,  was  gute  politische  und  gesellschaftliche  Praxis  angeht.  Vertuschte Korruption, Manipulationen der Vorteilsnahme, Konformi‐ tät,  Identifikation  mit  dem  Aggressor,  destruktives  Agieren,  Entwer‐ tung und Verachtung unterlaufen die Fähigkeit und den Mut, Verant‐ wortung  zu  tragen,  Dienst  am  Allgemeinwohl  zu  leisten,  Schaden  ab‐ zuwenden und Vertrauen zu stiften.   Das geht einher mit dem Verlust an Ansehen, pauschaler und pla‐ kativer  Verdächtigung  von  Personen  mit  politischer  Entscheidungs‐ macht  und  Machtinstanzen27  und  der  erregten  Lust  am  Skandal,  der  sich jederzeit medial inszenieren lässt. 

11. Was hilft, wenn ich mir fragwürdig geworden bin?  Wer in Bezug auf die eigene Person erschüttert ist, das eigene Handeln  unannehmbar  findet  und  sich  dieser  gewaltigen  Beunruhigung  über  sich selbst stellt, wie kann er damit leben in säkularisierten Zeiten und 

27   M. Schmitz, Psychologie der Macht. Kriegen, was wir wollen, Wien 2012. 

190                                                               Brigitte Boothe  nachdem  das  Programm  der  Aufklärung  die  Zuversicht  der  Anfänge  verloren hat?  Kann Philosophie – als Utopie des bis in die europäische Moderne  einflussreichen  sokratischen  Denkens  –  ein  Leben  in  Wahrheit  beför‐ dern?  Das  philosophische  Programm  eines  Lebens  in  Erkenntnis  und  Selbsterkenntnis  verstand  sich  nach  Bruder  und  Vosskühler28  nie  nur  als  akademische  Empfehlung,  sondern  sollte  politisch  und  gesell‐ schaftsbildend wirksam werden. Gute Staatlichkeit und Interessen der  Erkenntnis  sollten  zusammenwirken.  Der  Staat  wird  zum  gerechten  Staat,  ein  Verlangen  nach  Erkenntnis  sei  im  menschlichen  Geist  ange‐ legt,  die  Hoffnung  auf  Erfüllung  darin  begründet,  dass  eine  Ordnung  des  Gegebenen  wahrhaft  erschließbar  sei.  Durchaus  ist  dieses  Pro‐ gramm auch heute, in trivialisierten und im Anspruch reduzierten For‐ men  attraktiv.  Dass  es  bis  zur  Marxschen  Umkehrung,  dass  eben  das  Sein das Bewusstsein bestimme, der Natur des geistigen Lebens illusi‐ onäre Kräfte, illusionäre Beständigkeit, illusionäre Freiheit und illusio‐ näre  Universalität  zuschrieb,  arbeiten  Bruder  und  Vosskühler  heraus.  Vor  allem  aber  Nietzsche  verwirft  das  ganze  Programm  der  „Wahr‐ heitsproduktion“29 als „Inszenierung des Scheins“30. Es sei gerade nicht  so,  dass  die  methodische,  logische  und  disziplinierte  Reflexion  den  Schein entlarve und zum Wesentlichen komme. Im Gegenteil, der Ver‐ standes‐ und Vernunfteifer ist blind für das ‚ungeheure Grausen‘31, das  die  in  Begriffen  nicht  zu  bannenden  Erscheinungen  des  Lebens  offen‐ baren,  wenn  man  sich  ihrer  Präsenz  aussetzt.32  Die  „Inszenierung  des  Scheins“ als „Wahrheitsproduktion“ ist nichts weiter als ein Tranquili‐ zer,  ein  Beruhigungsmittel,  das  die  Täuschung  befördert,  Leben  sei  beherrschbar und die eigene geistige Konstitution sei als schönes Maß  erkennbar  und  ethisch  dauerhaft  kultivierbar.  Der  Alltag  der  Lüge,  Täuschung  und  Selbsttäuschung  scheint  zu  triumphieren.  Aber  nicht  ganz. Es ist möglich, prätendierten Herrschaftsansprüchen auf die Spur  zu kommen, Selbstmanipulation und Selbstsabotage zu durchleuchten,  eigene Unterwerfungsneigungen zu entdecken. Und was sind die Kräf‐ te  des  Geistes,  die  solches  Unternehmen  aussichtsreich  machen  kön‐ nen? Vorstellen, Nachdenken, Schlussfolgern, Urteilen. Nicht das geis‐ 28   K.‐J. Bruder/F. Vosskühler, Lüge und Selbsttäuschung, in: Philosophie und Psycho‐ logie im Dialog, hg. v. C. Hubig/G. Jüttemann, Göttingen 2009, Bd. 7, 69.  29   F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (1872), in: ders. Kritische Studienausgabe, hg.  v. G. Colli/M. Montinari, München 2005, Bd. 1, 77.  30   Ebd., 78.  31   Ebd., 24.  32    K.‐J. Bruder/F. Vosskühler, Lüge und Selbsttäuschung, in: Philosophie und Psycho‐ logie im Dialog, hg. v. C. Hubig/G. Jüttemann, Göttingen 2009, Bd. 7, 77.

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tige  Leben  steht  unter  Verdacht,  nur  der  einseitige  Blick  auf  das,  was  geistiges  Leben  ausmacht.  Lass  alle  Klugheit  fahren:  Die  Einsicht  in  die  unbewusste  Organisation  des  mentalen  Lebens  fordert  zum  einen  die  massive Relativierung der Idee der Vernunft, zum andern aber erwei‐ terte Konzepte des Vernünftigen und Moralischen. Der Mut zur Wahr‐ heit, die Vermehrung von Urteilsfähigkeit, von Selbst‐ und Weltkennt‐ nis ist auch in der heutigen Psychologie und Psychoanalyse ein hoher  Wert.  Personen  erreichen  keine  mentale  Autonomie,  sie  bleiben  in  strukturellen Abhängigkeiten physischer, psychischer und sozialer Na‐ tur  gebunden.  Aber  sie  können  lernen,  Täuschung  und  Selbsttäu‐ schung,  Abwehr  und  Illusionsbildung  zu  analysieren.  Sie  können  ler‐ nen, unangemessene Passivierung und Eskapismus zu überwinden.   Manchmal.  Nicht  immer.  Vom  eigenen  prekären  Handeln  kann  man  –  wie  Petrus  und  Judas  –  schwer  getroffen  und  erschüttert  sein.  Keine  Psychoanalyse,  kein  Kompetenztraining,  kein  Neuro‐Enhance‐ ment,  keine  Klugheit  des  modernen  Lebens  hilft.  Es  geht  um  eine  be‐ stürzende  Konfrontation  mit  den  eigenen  Grenzen,  so  dass  es  einem  Einzelnen widerfährt, dass er heraustritt aus dem Selbst‐ und Weltver‐ trauen  und  jenseits  dieser  Sicherheiten  denkt  und  empfindet.  Das  bringt die Lebensführung ins Wanken, und eben das kann sich als ret‐ tend erweisen. 

12. Die Fragwürdigkeit des Heldentums  Wer  hält  schon  Wort,  wie  Jesus  Wort  hielt?  Wer  hält  schon  aus,  was  Jesus aushielt? Die Jünger hätten Helden sein müssen, um sich in pre‐ kärer  Lage  als  Freunde  und  Weggefährten  zu  bekennen.  Ehrlichkeit  und  Positionsbezug  sind  aber  –  die  Beispiele  zur  Psychodynamik  der  Abwehr zeigen das – bereits im gewöhnlichen Alltag leicht zu sabotie‐ ren.  Die  evolutionäre  Verhaltensbiologie  traut  strengen  religiösen  Ge‐ meinschaften  Mut,  Loyalitätsbereitschaft  und  Bekenntnisstärke  zu.  Gemäß der Theorie der teuren Rituale33 verfügen erfolgreiche und langle‐ bige religiöse Gemeinschaften über anspruchsvolle verbindlichkeitsstif‐ tende Rituale und strenge Lebens‐ und Verhaltensregeln. Je anspruchs‐ voller  und  strenger,  umso  nachhaltiger  und  wirkungsvoller.  Dieser  scheinbar nutzlose und ressourcenvergeudende Aufwand sei in Wahr‐ heit  hoch  effizient:  Er  schaffe  Zusammenhalt,  Vertrauen  nach  innen  und  nach  außen,  die  für  die  Prosperität  von  Gemeinschaften  überaus  wichtige  Bereitschaft,  die  Maxime  egoistischer  Konkurrenz  und  Pro‐ 33   R. Sosis, Teure Rituale, in: Gehirn & Geist 1–2 (2005), 44–50.  

192                                                               Brigitte Boothe  fitmehrung  zu  überwinden.  Das  aber  wirke  als  außerordentlicher  An‐ reiz, alle Kräfte zu mobilisieren, um sich Herausforderungen zu stellen  und über sich selbst hinauszuwachsen.   Die  Theorie  der  teuren  Rituale  scheint  in  verhaltensbiologischer  Per‐ spektive  aufzugreifen,  was  Freud  1921  in  Massenpsychologie  und  Ich‐ Analyse34,  bereichert  um  eine  Erörterung  psychodynamischer  Prozesse  und  mit  kritischem  Blick,  ausgeführt  hatte.  Freud  beschrieb  die  Er‐ scheinungen  der  Gruppenkohäsion  auf  der  Basis  der  Verschmelzung  mit  dem  charismatischen  Führer.  Diese  bewirkt  die  euphorisierte  Ent‐ hemmung  im  Dienst  der  kultischen  Gemeinschaft.  Sie  drückt  sich  aus  als Opfer‐ und Dienstbereitschaft innerhalb der Grenzen des Stammes,  des Clans, der Gemeinde. Freud sparte in seiner Charakterisierung aber  weder die destruktiven Begleiterscheinungen noch die notorischen Ein‐ schränkungen  des  Urteils,  des  Gewissens  und  der  Kritik  aus.  Gerade  fundamentalistische  Gemeinschaften  und  freikirchliche  Bewegungen  sind  anspruchsvoll  und  streng.  Sie  pflegen  die  Psyche  ihrer  Jünger  massiv  zu  kontrollieren.  Viele  unter  ihnen  mögen  unter  bestimmten  Umständen  zu  einer  heroischen  Haltung  im  Dienst ihrer  Glaubensori‐ entierung bereit sein. Wie aber steht es mit dem Raum für couragierte  Kontroverse und kritischen Positionsbezug nach innen? Man stelle sich  –  in  der  Rolle  des  Patienten  –  den  Anfang  einer  therapeutischen  Sit‐ zung  vor.  Die  Regel  lautet:  Sagen  Sie,  was  Ihnen  in  den  Sinn  kommt.  Und tatsächlich wird man von Gedanken heimgesucht, vielleicht sogar  intensiver, als gewünscht. Hier in der Praxis muffelt es. Und sein Pul‐ lover … grässlich! Wie viele von uns würden die Regel der „freien As‐ soziation“  befolgen,  deren  Grundbedingung  Ehrlichkeit  ist,  und  die  Aussprache  potenziell  kränkender  Gedanken  wagen,  die  zudem  un‐ liebsames Licht auf die eigene Person werfen? Bereits in solch harmlo‐ sen  Fällen  zieht  man  (scheinbaren?)  Respekt  vor  dem  Gegenüber  der  Ehrlichkeit vor und schweigt. Es kann häufig nur vom Subjekt im Sinn  der Unterwerfung die Rede sein.   Was  ermöglicht  authentische  Selbstpositionierung  und  politischen  Positionsbezug  in  einer  psychologisierten  demokratischen  Gesell‐ schaft? Es gilt, Anerkennung für Aufrichtigkeit, Respekt vor Ehrlichkeit  –  eben  nicht  im  chronologischen  Sinne  –  zu  praktizieren.  Die  Person‐ werdung  im  relationalen  Feld  soll  ein  wahrheitsfreundliches  Klima  schaffen.  Sanktionen  dürfen  die  Risikobereitschaft,  sich  couragiert  zu  zeigen,  nicht  ersticken.  Beziehungen  sollen  so  tragfähig  sein,  dass  die  Auseinandersetzung  mit  Schuld,  Scham  und  Verstrickung  dort  pro‐ 34    S. Freud, Massenpsychologie und Ich‐Analyse (1921), in: GW, Frankfurt a. M. 1976,  Bd. 13, 71–162. 

Verrat und Umkehr – Selbstverrat und korrumpierte Vernunft              193 

duktiv werden kann. Weg mit der moralischen Keule, hin zu einer Kul‐ tur der moralischen und politischen Intelligenz. 

13. Eine literarische Vignette zur Risikobereitschaft, sich   couragiert zu zeigen  Zur politischen Alltagspraxis im menschlichen Diesseits.35 In dem 1862  erschienenen Roman Die Elenden von Victor Hugo wird nach 19 Jahren  Haft der Galeerensträfling Jean Valjean freigelassen. Das Vergehen des  bitterarmen Jugendlichen von damals war äußerst geringfügig; Mund‐ raub  hatte  er  angesichts  der  Not  seiner  Familie  begangen;  doch  ein  gnadenloses Polizei‐ und Justizsystem hatte ihn zum Frondienstverur‐ teilt.  Überall  wird  der  Freigelassene  verjagt.  Dann  aber  findet  er  Auf‐ nahme  beim  Bischof  von  Digne,  wird  sein  Gast  und  nimmt  teil  am  Abendessen.  Der  Bischof  von  Digne  bewirtet  ihn  liebenswürdig  und  bereitet  ihm  ein  Zimmer  zum  Übernachten.  So  sehr  den  ehemaligen  Sträfling die Gastfreundschaft des Hausherrn bewegt, er stiehlt das Sil‐ ber  aus  dem  unverschlossenen  Schrank  und  verlässt  das  Haus  als  ein  Dieb.  Die  Polizei  greift  ihn  auf  und  stellt  ihn  dem  Bischof  gegenüber.  Dieser  erklärt,  er  habe  seinem  Gast  das  Silber  geschenkt.  So  skeptisch  die Polizei ist, die List des Bischofs schützt den Dieb, und Jean Valjean  bleibt auf freiem Fuß. Die alte Schwester des Bischofs macht ihm Vor‐ haltungen:  der  unerhörte  Missbrauch  der  Gastfreundschaft  verdient  keine Nachsicht. Der Bischof aber hält ihr entgegen, er habe keinen An‐ spruch auf das Silber, das bloß ererbt, nicht erworben sei. Der Rechts‐ schutz  des  Besitzes  gilt  dem  Bischof,  der  dem  Besitzlosen  beistand,  nicht  als  teures  Gut.  Eine  Klugheit  der  Vorteilsnahme  ist  ihm  fremd.  Jean Valjean, der Gast, hatte Teil an den Gütern des Hauses, der Gast‐ geber ehrte ihn mit einem Vertrauenskredit. Die Praxis der Gastlichkeit  vollendet  sich  vorbildhaft,  denn  dem  Armen  wird  weder  die  Tür  ge‐ wiesen,  noch  wird  er  von  oben  herab  als  armer  Schlucker  behandelt.  Die Praxis der Gastlichkeit verlangt aber auch, dass der Gast die Habe  des  Gastgebers  nicht  antastet.  Jean  Valjean  aber  haut  grußlos  ab  mit  dem  Silber.  Der  Bischof  gibt  seinem  Gast  außergewöhnlichen  Kredit.  Beschenkt  zieht  Valjean  davon  und  mit  bischöflichem  Segen.  Der  Bi‐ schof  von  Digne  schränkt  Valjeans  Freiheit  nicht  ein.  Doch  geht  er  als  ein  Gesegneter,  anders  formuliert,  als  einer,  der  mit  dem  Vertrauens‐ kredit eines Mannes ausgestattet ist, der durch die Tat bereits bewiesen  35   Vgl. dazu B. Boothe, Urvertrauen und elterliche Praxis, in: I. Dalferth, S. Peng‐Keller  (Hrsg.), Grundvertrauen. Hermeneutik eines Grenzphänomens, Leipzig 2013, 67–86. 

194                                                               Brigitte Boothe  hat, dass er der Not des Mannes vor dem geltenden Recht auf polizeili‐ chen Zugriff den Vorrang gibt. Der Bischof wird zum geistigen Mentor  und  Begleiter  des  Mannes,  auch  wenn  es  nie  mehr  zu  einer  persönli‐ chen Begegnung kommt. Valjean stiehlt erst einmal weiter. Aber nicht  mehr lange. Der Galeerensträfling, bleibt sozial randständig ein Leben  lang.  Aber  er  wird  dem  Vertrauensvorschuss  des  Bischofs  gerecht.  Er  nimmt  ein  dem  Elend  preisgegebenes  kleines  Mädchen  auf  und  wird  zur  vertrauenswürdigen väterlichen  Instanz.  Sein Handlungsraum  ge‐ staltet sich in vielfältigen Risikosituationen als couragierte Verantwor‐ tung; zugleich weigert er sich, die ihm einst zugewiesene Marginalisie‐ rung  durch  ein  Justizsystem  des  Unrechts  zugunsten  gesellschaftliche  Reintegration oder gar Rehabilitation aufzugeben.     

„Ihr seid Zeugen“ (Joh 15,27). Die johanneische  Figur des Zeugen in subjekttheoretischer Sicht      KRISTINA DRONSCH    1. Vorbemerkungen    Die Figur des Zeugen ist eine Schlüsselfigur unserer Kultur‐ und Wis‐ senspraxis. Doch damit geht nicht gleichzeitig eine Wertschätzung der  Figur  des  Zeugen  einher.  So  ist  in  unserer  westlichen  Tradition  vor  allem die Zeugenschaft eine Wissenspraxis, die nicht selbstverständlich  ist. Der Zeuge erscheint als eine Figur fremdbestimmter Unmündigkeit,  der  lediglich  die  Worte  und  Gedanken  anderer  übernommen  hat.  Mit  der  Abwertung  dieser  Wissenspraxis  einher  geht  eine  Subjekttheorie,  die vom Gedanken der Autonomie geprägt ist. Als Subjekt erweist man  sich nicht in der Heteronomie, sondern in der Autonomie. Wer sich auf  das einlässt, was er selbst nicht zu überprüfen vermag, überlässt immer  schon einen Teil seiner Autonomie an eine fremde Instanz. Erst in jün‐ gerer  Zeit  mehren  sich  die  Arbeiten,  die  dem  Phänomen  der  Zeugen‐ schaft als einer genuinen gleichwertigen Wissenspraxis neben anderen  Erkenntnisformen  Aufmerksamkeit  schenken.1  Einher  geht  mit  diesen  neuen Ansätzen auch ein veränderter Subjektbegriff, in der das Subjekt  nicht  mehr,  wie  noch  in  den  klassischen  Subjekttheorien,  als  Ort  der  Selbstsetzung  erscheint,  sondern  als  Ort  an  dem  sich  die  Subjektivie‐ rung und Entsubjektivierung, die Entmachtung des Subjektes gleichzei‐ tig  finden  lässt.2  Im  Zuge  dieses  neu  justierten  Subjektbegriffs  wird  deutlich, dass wir notwendigerweise auf das Wissen anderer angewie‐ sen sind; ganz gleich, ob im Alltag, in der Wissenschaft oder in unseren  religiösen  Überzeugungen.  „Sich  auf  Informationen  zu  verlassen,  die  nicht  von  uns  ermittelt,  sondern  uns  übermittelt  wurden,  bildet  die  Grundlage unserer praktischen wie theoretischen Weltorientierung.“3                                  1  

2   3  

Für einen luziden Überblick zur Diskussion sei auf O.R. Scholz, Art. „Zeuge/ Zeug‐ nis“,  in:  Historisches  Wörterbuch  der  Philosophie,  hg.  v.  J.  Ritter  u.a.,  Bd.  12,  Dar‐ mstadt 2004, 1317–1324, verwiesen.  Mit Blick auf die Figur des Zeugen hat dies am nachdrücklichsten G. Agamben, Was  von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt/M. 2003, aufgezeigt.  S. Krämer, Medium,  Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität,  Frankfurt/M.  2008, 224. (Kursivierung im Original). 

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Kristina Dronsch 

Es geht deshalb in diesem Aufsatz um nicht weniger als einen Beitrag  zu der Frage zu leisten, inwiefern die Schriften des Neuen Testaments  grundlegende  Elemente  gegenwärtiger  Subjekttheorien  in  den  jeweili‐ gen Textwelten zur Sprache bringen, die nachhaltig den gegenwärtigen  Theorien  des  politischen  Subjektes  Diskursschärfe  verleihen  können.  Dieser  Frage  möchte  ich  anhand  des  Johannesevangeliums  nachkom‐ men, indem ich im Folgenden das Lexem μαρτυρεῖν im Johannesevan‐ gelium  untersuche.  Wenn  seit  einem  Jahrhundert  kontrovers  darüber  diskutiert  wird,  weshalb  die  Christen  ihre  „Märtyrer“  ausgerechnet  „Zeugen“ μάρτυρας nannten, wobei nicht nur strittig ist, wo und wann  der „Märtyrer“ im Sinne von „Blutzeuge“ verstanden wurde, sondern  auch  die  Frage,  warum  in  den  christlichen  Schriften  seit  dem  2.  Jahr‐ hundert „etwas bezeugen“ (gr. μαρτυρεῖν) auch das „Martyrium erlei‐ den“ bedeuten kann, dann schimmert schon in der frühen christlichen  Rezeption  dieses  Begriffs  aus  den  neutestamentlichen  Schriften  die  diesem  Wort  angängige  Tragweite  für  Fragen  durch,  die  den  Bereich  des  politischen  Subjekts  begleiten;  und  setzt  zugleich  die  Notwendig‐ keit, der „gewollt polyvalente(n) terminologische(n) Unschärfe“4 dieses  Begriffs, wie Wolfgang Wischmeyer in seinem RGG‐Artikel betont, eine  narrative  Schärfe  anhand  der  Textwelt  des  Johannesevangeliums  zu  geben.   Ich  gehe  im  Folgenden  davon  aus,  dass  eine  subjekttheoretische  Profilierung des Wortes μαρτυρεῖν in der Lage sein sollte, der diesem  Begriff  unterstellten  Unschärfe  dahingehend  Profil  zu  verleihen,  dass  erkennbar wird, warum in der christlichen Rezeption des Begriffs μαρ‐ τυρεῖν dieser Begriff sowohl „etwas bezeugen“ als auch das „Martyri‐ um  erleiden“  bedeuten  kann.  Denn,  so  ist  die  Vermutung,  dass  der  Begriff  des  Märtyrers  sich  dem  Wortfeld  für  Zeugnis  und  Zeuge  ver‐ dankt, dürfte nicht belanglos sein. In der Person des Märtyrers sind die  Aspekte von Fremd‐ und Selbstbestimmung des Subjektes im Akt des  Bezeugens  „Tat“‐sächlich  geworden.  Es  ist  also  keine  geringe  Erklä‐ rungs‐ und Begründungslast, die mit der Entfaltung einer subjekttheo‐ retischen Zeugenperspektive im Johannesevangelium verbunden ist.  Nicht von ungefähr fällt die Wahl dabei auf das Johannesevangeli‐ um;  es  ist  das  Evangelium,  das  den  Riss  um  die  Wertigkeit  des  Zeu‐ genwissens  selbst  zum  Thema  hat.  Ist  es  doch  die  johanneische  Figur  des  Thomas,  die  nach  der  Auferstehung  Jesu  dem  ihm  übermittelten  Zeugenwissen  der  anderen  Jünger  kein  Vertrauen  schenkt,  sondern  ihnen entgegnet, dass er nur glaubt, wenn er seine Finger in die Wund‐ male legen kann (Joh 20,5). Der johanneische Thomas steht hier augen‐                                4  

W. Wischmeyer, Art. „Märtyrer: Alte Kirche“, in: RGG4, Bd. 5, 2002, Sp. 862–865: 862. 

 

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„Ihr seid Zeugen.“ (Joh 15,27) 

scheinlich  für  ein  Wissensverständnis,  demzufolge  echtes  Wissen  nur  selbsterfahrenes Wissen sein. Diesem Befund gegenüber steht, dass der  Hauptanteil  aller  neutestamentlichen  Belege  der  Wurzel  μαρτυρ‐  sich  im Johannesevangelium finden lässt. Von den 151 Belegen zu der Wur‐ zel  μαρτυρ‐  stammen  allein  68  aus  den  johanneischen  Schriften  (ein‐ schließlich  der  Offenbarung).  Wobei  bemerkenswert  ist,  dass  der  Hauptanteil  der  Vorkommen  des  Verbs  μαρτυρεῖν  mit  33  Belegen  im  Johannesevangelium zu finden ist.  So  scheint  es  allemal  lohnend,  das  Johannesevangelium  zum  Aus‐ gangspunkt  einer  näheren  Untersuchung  zum  Zeugenverständnis  zu  machen.  

2. Ein postalischer Blick auf das Johannesevangelium  Um meine grundlegende These für die Verwendung von μαρτυρεῖν im  Johannesevangelium  sogleich  vorwegzuschicken:  Die  Figur  dessen  bzw.  die  Figuren  derer,  der/die  Zeugnis  gibt/geben,  forciert  einen  As‐ pekt  der  Subjektkonstitution,  der  das  Subjekt  nicht  mehr  in  demiurgi‐ scher, sondern in postalischer Perspektive konzipiert sein lässt. Es ist in  dieser  postalischen  Perspektive  gerade  nicht  der  konstruktivistisch‐ demiurgische  Gestus,  der  das  Subjekt  konstituiert  sein  lässt,  und  es  darin gerade als kreativ poietisch erfährt, sondern es ist in postalischer  Perspektive  der  Gedanke  der  Übertragung  und  Vermittlung,  dem  die  Kreativität  und  poietische  Kraft  nach  dem  Johannesevangelium  anzu‐ rechnen ist.   Mit dieser Rede von der postalischen Perspektive greife ich Überle‐ gungen  auf,  die  maßgeblich  in  einem  kommunikationswissenschaftli‐ chen  und  medienwissenschaftlichen  Diskurs  wurzeln,  der  mit  den  Namen  von  Raffael  Capurro5,  John  Durham  Peters6  und  Sybille  Krä‐ mer7  verbunden  ist.  Ihr  verbindender  Kerngedanke  ist,  dass  Kommu‐ nikation  zum  Großteil  nicht  dialogisch  ist  und  der  Reziprozität  ent‐ behrt.  Damit  stellen  die  Genannten  vertraute  kommunikations‐theo‐ retische Kerngedanken auf den Kopf, die – grob gesagt – da sind, dass  Kommunikation als jener Basisvorgang zu verstehen ist, der als rezip‐ roker Prozess soziale Interaktion eröffnet und Gemeinschaft stiftet und                                 5   6   7  

Vgl. R. Capurro, „Theorie der Botschaft”, zu finden unter: http://www. capurro.de/  botschaft.htm (accessed 13.2.2013).  Vgl.  J.  Durham  Peters,  Speaking  into  the  Air.  A  History  of  the  Idea  of  Communication,  Chicago, London 1999.  Vgl.  S.  Krämer,  Medium,  Bote,  Übertragung.  Kleine  Metaphysik  der  Medialität,  Frank‐ furt/M. 2008. 

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Kristina Dronsch 

Intersubjektivität und Subjektivität verbunden sieht durch den Dialog –  mit dem erklärten Ziel, Verständigung zu erreichen. Dieses Kommuni‐ kationsmodell  hat  auch  eine  politische  Tragweite,  denn  die  Keimzelle  aller  Sozialität  ist  nach  diesem  Kommunikationsmodell  das  Bild  der  Vereinigung,  welche  zwar  Differenz  voraussetzt,  aber  mit  dem  Ziel  diese zu überwinden, um zur Identität zu gelangen.  Mit  Blick  auf  die  neutestamentlichen  Evangelien  zeigt  sich,  dass  diese  kommunikationstheoretischen  Parameter  des  Dialogischen  und  der Reziprozität die Ausgangslage der neutestamentlichen Narrationen  gerade  verfehlen:  Es  ist  eine  Situation  vorherrschend,  die  durch  Tod  und Auferstehung Jesu Christi gekennzeichnet ist, und die für die Ad‐ ressaten  die  Entzogenheit  des  irdischen  Jesus  mit  sich  bringt.  Alle  Evangelien des Neuen Testaments beschreiben deshalb diese Situation  als  eine  durch  die  Abwesenheit  von  Jesus  Christus  gekennzeichnete.8  Von Jesus gilt: οὐκ ἔστιν ὧδε – er ist nicht mehr hier (Mk 16,6b; vgl. Lk  24,6; Mt 28,6; Joh 20,2). Jesus ist nicht mehr da, er ist abwesend. Damit  steht  das  evidente  Problem  zur  Disposition,  „wie  ...  die  an  Christus  Glaubenden  in  der  von  Christus  verlassenen  Welt“9  als  eine  Gemein‐ schaft zu existieren vermögen. Oder um es mit Joh 15 zu formulieren:  Wie kann derjenige, der die Seinen verlässt, unter ihnen bleiben und sie  in  ihm?  Konkret  stand  somit  im  Zentrum  der  Erfahrung  der  frühen  Christen die Abwesenheit Jesu Christi. Distanz und Differenz gehören  zu  den  Grundkonstituenten  dieser  Gemeinschaft.  Eine  reziproke  Kommunikationssituation ist gerade nicht gegeben, da der auferweckte  Gekreuzigte  bleibend  entzogen  ist.  Für  diese  Gemeinschaft  gilt  also,  dass  sie  sich  fortan  als  eine  Gemeinschaft  zu  konstituieren  hat  unter  den  Bedingungen  der  Abwesenheit  Jesu  Christi,  die  als  Differenz  zu  beschreiben ist.  Das  postalische  Prinzip  entwirft  Kommunikation  nun  gerade  als  das  Herstellen  von  Verbindungen  zwischen  räumlich  entfernten  In‐ stanzen. Distanz und Differenz sind in dieser Perspektive geradezu die  Voraussetzung  für  Kommunikation.  Da  aber  die  direkte  dialogische  Kommunikation  zwischen  „Sender“  und  „Empfänger“  unter  den  Be‐ dingungen  der  Abwesenheit  nicht  gegeben  ist,  sind  die  Figuren  bzw.  Instanzen  von  größtem  Interesse,  die  Verbindungen  trotz  und  in  der                                 8  

9  

Dass die Abwesenheit nicht nur eine grundlegende Erfahrung des frühen Christen‐ tums war, äußert Nehemia Polen mit Blick auf das Judentum des Zweiten Tempels.  Dieses  war  nach  seiner  Meinung  „consciously  constructed  as  a  religion  of  absence  [...]“. (N. Polen, “God’s Memory”, in: Obliged by Memory. Literature, Religion, Ethics. A  Collection  of  Essays  Honoring  Elie  Wiesel’s  Seventieth  Birthday,  hg.  v.  St.  T.  Katz,  A.  Rosen, New York 2006, 139–153: 145).  C. Dietzfelbinger, „Die größeren Werke (Joh 14,12f.)“, in: NTS 35 (1989), 27–47: 34. 

 

„Ihr seid Zeugen.“ (Joh 15,27) 

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Distanz ermöglichen. An die Stelle der Unmittelbarkeit tritt die Mittel‐ barkeit.  Eine  Mittelbarkeit,  die  Kommunikation  der  voneinander  ent‐ fernt Seienden möglich macht. 

3. Zeugenschaft als Mittlerschaft im Johannesevangelium  Auf John Durham Peters geht die Idee zurück, diese Mittelbarkeit mit  der Figur des Zeugen in Verbindung zu bringen. Er charakterisiert den  Zeugen als „the paradigm case of a medium: that means by which ex‐ perience is supplied to others who lack the original“.10 D.h. der Zeuge  überbrückt  Abstände  für  die  anderen,  denen  –  wie  Peters  es  nennt  –  das Original fehlt. Der Zeuge übermittelt in den Fällen ein Wissen, wo  Wissen  nicht  einfach  ermittelt  werden  kann.  Zeugenwissen  hebt  den  Abstand zwischen  dem  Original  und  denen,  denen das  Original fehlt,  nicht  auf,  sondern  schafft  eine  Verbindung  trotz  der  Ferne  voneinan‐ der. Notwendig wird Zeugenschaft also immer dort, wo also Abstand  und  Differenz  vorherrscht.  Alexander  García  Düttmann  hält  deshalb  fest:  „Man  wird  nur  dort  zum  Zeugen,  wo  man  sich  auf  kein  Wissen  mehr verlassen kann (…) und man sich dennoch zu einem Geschehen  verhalten muß, das in sich un‐eins ist.“11  

3.1  Johannes der Täufer  Das Johannesevangelium ist durchzogen von einem Netz von Figuren,  die  durch  eben  diese  Aufgabe  des  Zeugnisgebens  charakterisiert  sind.  Schon  gleich  bei  dem  das  Johannesevangelium  eröffnenden  Prolog  wird  das  Motiv  vom  Zeugnisgeben  greifbar  und  paradigmatisch  mit  der johanneischen Figur Johannes verbunden:  „Es  war  ein  Mensch,  von  Gott  gesandt,  sein  Name  Johannes.  Dieser  kam  zum Zeugnis, dass er zeuge von dem Licht, damit alle glaubten durch ihn.  Nicht jener war das Licht, sondern damit er über das Licht Zeugnis ablegt.“  (Joh 1,6–8) 

Zur  „Grammatik  der  johanneischen  Zeugenschaft“  gehört  als  erstes,  dass Johannes in seiner Zeugenfunktion eingeführt wird als einer, der  gesandt ist. Und zwar gesandt von Gott. Als von Gott Gesandter ist es  seine  Aufgabe,  vom  Licht  zu  zeugen.  Als  Gesandter  ist  er  nicht  auto‐                                10   J. Durham Peters, “Witnessing”, in: Media, Culture and Society 23 (2001), 707–723: 709.  11   A.G.  Düttmann,  Uneins  mit  Aids.  Wie  über  einen  Virus  nachgedacht  und  geredet  wird,  Frankfurt/M. 1993, 99. 

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Kristina Dronsch 

nom,  sondern  heteronom.  Jemand,  der  gesandt  ist,  untersteht  nicht  seinem  eigenen  „Gesetz“,  sondern  –  wenn  man  so  will  –  dem  Gesetz  eines anderen. Johannes der Zeuge handelt im Auftrag eines anderen.  Er spricht mit fremder Stimme, wie es in Joh 1,23 heißt:   „’Ich bin die Stimme eines Rufenden in der Wüste: Macht gerade den Weg  des Herrn’, wie Jesaja der Prophet gesagt hat“.  

Die Aufgabe von Johannes ist es, Zeugnis zu geben über das Licht mit  dem Ziel, dass „alle“ (πάντες) durch sein Zeugnis glauben. Als Zeuge  ist es die Funktion von Johannes, sein Wissen von dem Licht zu über‐ mitteln  an  die  Adressaten.  Der  mit  ἵνα  eingeleitete  Satzteil  gibt  Ziel  und Zweck des Zeugnisgebens von Johannes an: „damit alle durch ihn  glauben“. Verallgemeinernd kann gesagt werden: Zeugenschaft schafft  eine soziale Beziehung zwischen dem, der zeugt, und vor denen bzw.  für die bezeugt wird. Diese soziale Beziehung ist a.) nicht begrenzt, sie  gilt „allen“ und b.) sie wird benannt als „glauben“ (Aor. πιστεύωσιν).  Das  soziale  Band  zwischen  dem,  der  bezeugt,  und  den  Adressaten  funktioniert also nur, wenn durch den Zeugen vermittelt, Glauben der  Adressaten möglich ist. Das heißt aber auch, dass das durch den Zeu‐ gen Johannes übermittelte Wissen vom Licht, welches den Adressaten  übertragen  werden  soll,  zugleich  eine  kreative  Seite  hat:  Der  Zeuge  Johannes, der in der Heteronomie seines Gesandtseins den Adressaten  das  Wissen  über  das  Licht  übermittelt,  bringt  zugleich  Neues  hervor  bei  den  Adressaten.  Dieses  Neue  wird  im  Johannesevangelium  durch  Glauben zum Ausdruck gebracht.   Dass  übertragenes,  übermitteltes  Wissen  in  der  Erzählung  des  Jo‐ hannesevangeliums  nichts  Defizitäres  ist,  wird  auch  in  der  Geistbega‐ bung  Jesu  mit  Beginn  der  Erzählung  des  Johannesevangeliums  deut‐ lich. So heißt es in Joh 1,32–34:   „Und Johannes legte Zeugnis ab und sagte: Ich sah den Geist wie eine Tau‐ be vom Himmel herabschweben und auf ihm bleiben. Und auch ich kannte  ihn ja nicht, aber der mich dazu gesandt hat, mit Wasser zu taufen, der hat‐ te  zu  mir  gesagt:  Der,  auf  den  du  den  Geist  herabkommen  und  auf  ihm  bleiben siehst, der ist es, der mit dem Heiligen Geist taufen wird. Und eben  das habe ich gesehen und habe Zeugnis abgelegt: Dieser ist Gottes Sohn.“ 

Ganz  im  Gegensatz  zu  der  synoptischen  Darstellung  findet  sich  im  Johannesevangelium kein Hinweis auf die Taufe Jesu, vielmehr wird –  wie Stefan Alkier formuliert ‐ die „Geistbegabung Jesu (…) retrospektiv  aus  der  Sicht  des  Täufers  geschildert  und  als  gültige  und  beständige  Markierung benutzt, die die Identifikation Jesu als des erwarteten Mes‐ sias  und  als  ‚Sohn  Gottes’  (1,34b)  durch  Johannes  den  Täufer  begrün‐

 

„Ihr seid Zeugen.“ (Joh 15,27) 

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det“.12  Dies  impliziert,  dass  nach  der  johanneischen  Konzeption  der  Geistempfang  nicht  im  Sinne  eines  „christologischen  Gründungsge‐ schehen[s]“13 zu begreifen ist, sondern ausschließlich als ein Identifizie‐ rungszeichen  gelten  kann.  Der  Geist  hat  die  Funktion  eines  identity  markers, der von Gott kommt und der es dem Täufer ermöglicht, Jesus  als den Geistträger und Geistspender erst zu identifizieren. Hier ist nun  von  Interesse,  dass  dieses  Wissen  um  Jesus  ein  auf  Vermittlung  und  Zeugenschaft  gründendes  Wissen  ist.  Die  Erzählung  bestätigt,  dass  Johannes  Jesus  nicht  kannte  (v.  33  bestätigt  dieses  Nichtwissen  durch  die  Worte  „Und  auch  ich  kannte  ihn  ja  nicht…“,  siehe  auch  v.  31).  In  der  johanneischen  Erzählung  wird  also  gerade  hervorgehoben,  dass  Johannes  nicht  das  Wissen  über  Jesus  selbstständig  ermittelt  hat,  dass  er  der  mit  heiligem  Geist  taufende  Sohn  Gottes  ist,  sondern  es  wurde  ihm – durch den, der ihn gesandt hat – übermittelt. Als Zeuge, der das  Wissen  von  Jesus als  dem  Sohn  Gottes  übermittelt, ist  Johannes selbst  schon  eingebunden  in  die  sein  Zeugnisgeben  erst  ermöglichenden  Übertragungs‐ und Vermittlungsprozesse.  

3.2  Der johanneische Paraklet  Wenden  wir  uns  einer  anderen  johanneischen  Figur  zu,  die  Zeugnis  gibt: dem Parakleten.   In  einer  gegenüber  den  übrigen  Evangelien  sehr  eigenständigen  Weise legt das Evangelium über die Problematik der Abwesenheit Jesu  Rechenschaft ab in den Abschiedsreden (vgl. Joh 13,31–16,33).14 Es sind  die Abschiedsworte des scheidenden Jesus, wobei zu betonen ist, dass  das  hier  dominierende  Zeitverhältnis  ein  paradoxes  ist.  Denn  es  han‐ delt  sich  um  eine  „als  prospektive  Verhältnisgabe  Jesu  erzählte  retro‐ spektive Verhältnisnahme“15 der durch das Evangelium Angesproche‐ nen.  Was  auf  der  textinternen  Ebene  als  zukünftig  angekündigt  wird,  ist für den Adressatenkreis – also auf textexterner Ebene – bereits ein‐                                12   S.  Alkier,  Realität  der  Auferweckung  in,  nach  und  mit  den  Schriften  Neuen  Testaments  (NET 12), Tübingen 2009, 152.  13   So H.‐Chr. Kammler, „Jesus Christus und der Geistparaklet. Eine Studie zur johan‐ neischen  Verhältnisbestimmung  von  Pneumatologie  und  Christologie“,  in:  O.  Ho‐ fius, H.‐Chr. Kammler, Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evan‐ geliums (WUNT 88), Tübingen 1996, 87–190: 156.   14   Vgl. A. Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johannei‐ schen  Abschiedsreden  (Joh  13,31–16,33)  (FRLANT  169),  Göttingen  1995,  299:  Die  Grundfrage der johanneischen Abschiedsreden ist „die nach der Abwesenheit Jesu“.  15   J.  Rahner,  „Vergegenwärtigende  Erinnerung.  Die  Abschiedsreden,  der  Geist‐Para‐ klet und die Retrospektive des Johannesevangeliums“, in: ZNW 91 (2000), 72–90: 74. 

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getreten.  Innerhalb  der  Abschiedsreden  kommt  der  Figur  des  Para‐ kleten eine zentrale Rolle zu und an dieser johanneischen Figur konkre‐ tisiert sich einmal mehr, was das kreative und poietische Potential von  Vermittlung und Übertragung nach dem Johannesevangelium ist.  In  nur  fünf  knappen  Textstellen  weisen  die  Abschiedsreden  auf  diese Gestalt hin: Joh 14,16; 14,26; 15,26; 16,7b–11; 16,16f.16 Der Paraklet,  von  dem  es  ausdrücklich  heißt,  dass  er  nicht  kommen  könne,  wenn  Jesus noch anwesend ist (vgl. Joh 16,7), übernimmt seine Funktion erst  mit der Abwesenheit Jesu. Seine Aktivität beginnt erst, wenn es für die  Angesprochenen  keine  Möglichkeit  mehr  gibt  „auf  das  Original  zu‐ rückzugreifen“. Trotz der überaus komplexen Begriffsbestimmung des  Lexems παράκλητος, lässt sich dennoch eine Grundfunktion herausar‐ beiten. Etymologisch ist παράκλητος ein aus dem Passiv παρακαλεῖσ‐ θαι gebildetes Verbaladjektiv, „das einen als Beistand oder Zeugen zur  Hilfe  Herbeigerufenen  bezeichnet.“17  Der  Parakletbegriff  erschließt  sich  dementsprechend  über  seine  Funktion,  die  er  ausübt.  Sehr  allgemein  kann  man  den  Parakleten  als  den  zugunsten  eines  anderen  Tätigen  verstehen.18  Seine  Funktion  ist  es  deshalb,  zugunsten  des  abwesenden  Jesus tätig zu sein, indem er zwischen dem abwesenden Jesus und den  angesprochenen  Adressaten  vermittelt.  Seine  Funktion  ist  die  eines  Mittlers.  Damit  finden  wir  auch  die  schon  bei  Johannes  dem  Täufer  festge‐ stellte Heteronomie als Kennzeichen der Zeugenschaft des Parakleten.  Er ist der Gesandte des abwesenden Jesus („ich werde ihn zu euch sen‐ den“  in  Joh  16,7  bzw.  der  Paraklet  wird  „gesendet  vom  Vater  in  Jesu  Namen“ in Joh 14,26). Als derjenige, der von Jesus zeugen wird – wie  es in 15,27 heißt – spricht auch der Paraklet nicht mit eigener Stimme,  sondern  spricht  für  den  abwesenden  Jesus.  Der  Paraklet  verbürgt  in  vollkommener Transparenz den Sinn, die Qualität des von ihm Bezeug‐ ten  (vgl.  Joh  16,13–15).  In  seiner  Bezogenheit  auf  Jesus  wird  er  nichts  anderes lehren als das, „was Jesus gesagt hat“ (Joh 14,26), und er wird  „nicht aus sich selbst reden, sondern was er hören wird, wird er reden“  (Joh  16,13).  Auch  der  johanneische  Paraklet  ist  eine  Figur,  für  die  die  Prozesse der Vermittlung und Übertragung grundlegend sind.                                  16   Darüber hinaus ist im Neuen Testament nur noch in 1 Joh 2,1 die Rede vom Parakle‐ ten.  17   H.  Thyen,  „Der  Heilige  Geist  als  παράκλητος“,  in:  H.  Thyen,  Studien  zum  Corpus  Iohanneum (WUNT 214), Tübingen 2007, 663–688: 664.  18   Mit Thyen, Geist, 668f. (Anm. 17), ist die Rede vom „anderen Parakleten“ in Joh 14,16  so zu verstehen, dass der scheidende Jesus in der Welt selbst als Paraklet gewirkt hat  und dass Jesu Abwesenheit die Bedingung für die Möglichkeit für das Kommen des  anderen Parakleten ist.  

 

„Ihr seid Zeugen.“ (Joh 15,27) 

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Wenn  in  Joh  14,16  festgehalten  wird,  dass  das  Wirken  des  Parakleten  nicht  zeitlich  –  bzw.  lebenszeitlich  –  determiniert,  sondern  –  ganz  im  Duktus biblischen Sprache – „bis in Ewigkeit“ (gr. εἰς τὸν αἰῶνα in Joh  14,16)  zeitlich  entfristet,  wird  einmal  mehr  unterstrichen,  dass  es  kein  Wissen  jenseits  von  Übermittlung  gibt  und  dass  dieses  Wissen  ein  durch  Übertragung  und  Übermittlung  gesichertes  ist  und  als  solches  qualifiziert auch Wissen bleibt.   Durch das Zeugnisgeben überträgt der Paraklet sein Wissen für die  Adressaten. Der Paraklet übermittelt Wissen, das die Adressaten nicht  selbst  ermittelt  haben.  Auch  hier  stellt  sich  wieder  die  Frage,  ob  auch  bei  der  Figur  des  Parakleten  sich  die  „Kreativität  des  Bezeugens“  so  spezifizieren  lässt,  dass  der  Übertragungscharakter  des  durch  den  Parakleten  geleisteten  Bezeugens  in  seiner  kreativen  und  poietischen  Qualität nicht negiert werden muss. Auch hier kommen wir der Krea‐ tivität  der  Übertragung  wieder  auf  die  Spur,  wenn  wir  die  Beziehung  zwischen  dem  Parakleten  und  den  Adressaten  untersuchen.  In  Joh  14,27  heißt  es:  der  Paraklet  „wird  euch  alles  lehren  und  euch  an  alles  erinnern, was ich euch gesagt habe“.  Vor  dem  Hintergrund  seines  für den abwesenden Jesus  Tätigseins  erschließt sich die erinnernde Funktion des Parakleten für die Adressa‐ ten  des  Evangeliums.  Der  Paraklet  ist  somit  der  Ermöglichungsgrund  für  den  Prozess  der  Erinnerung  an  den  abwesenden  Jesus,  er  ist  die  „Kraft  der  Erinnerung“  für  die  Adressaten.19  Deshalb  ist  dieses  „Erin‐ nern“  keineswegs  ein  rein  passives  Tradieren  oder  Archivieren,  son‐ dern  entspricht  einem  eminent  kreativen  Erkenntnisvorgang,  der  auf  Übermittlung  und  Übertragung  gründet.  Dieses  durch  den  Parakleten  übermittelte Wissen an die Adressaten ist zu beschreiben als erinnern‐ de Vergegenwärtigung.20 Der Paraklet verbürgt nicht die faktische Wahr‐ heit  von  archivierbaren  Aussagen,  sondern  deren  Unarchivierbarkeit,  die auf Seiten der Rezipienten im Prozess der Erinnerung eingebunden  ist.  Erinnerung  meint  nicht  die  faktische  Vergegenwärtigung  des  Ver‐ gangenen,  sondern  das  Lehren  und  Erinnern  des  Parakleten  weisen  darauf hin, dass es um „alles“ geht (vgl. das zweimalige πάντα in Joh  14,26;21  siehe  auch  Joh  16,13).  Dieses  „alles“  bezieht  sich  keineswegs                                 19   H. Weder, „Evangelische Erinnerung. Neutestamentliche Überlegungen zur Gegen‐ wart  des  Vergangenen“,  in:  Ders.,  Einblicke  in  das  Evangelium,  Göttingen  1992,  183– 200: 196f.  20   Dieses  aktive  Erinnerungsverständnis  wird  in  der  gegenwärtigen  Johannes‐For‐ schung von vielen betont.   21   Nicht nur das erinnernde Wirken des Parakleten, sondern auch das lehrende Wirken  sind  auf  „alles“  bezogen,  was  Jesus  sagte.  Zur  Argumentation  vgl.  Ch.  Hoegen‐

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nur auf die im Johannesevangelium gesprochenen Jesusworte, sondern  ist deutlich entgrenzter zu verstehen und somit eine Größe, die jenseits  von der Tradierung und Archivierung einsetzt. Durch das betonte „al‐ les“  wird  im  Johannesevangelium  klargestellt,  dass  sich  Erinnerung  nicht  auf  mitgeteilte  Botschaften  beschränken  lässt,  die  durch  die  so  Erinnerten bewahrt werden.  Dass das kreative Potential der Erinnerung gerade die Abwesenheit  von  Jesu  voraussetzt,  zeigen  auch  die  signifikanten  „Erinnerungsstel‐ len“ bezüglich der Jünger in Joh 2,17.22 und 12,16. Beide Stellen beto‐ nen, dass die Jünger nach der Auferweckung Jesu (also mit Beginn seiner  Abwesenheit)  erinnert  wurden.22  Die  im  griechischen  Text  zu  findende  Formulierung ἐμνήσθησαν ist zu lesen als ein Aorist Passiv des Verbs  μιμνήσκω.23  Das  Passiv  weist  darauf  hin,  dass  die  Erinnerung  ihnen  übermittelt wurde.   Damit sind alle Leserinnen und Leser des Evangeliums in der glei‐ chen Situation, da auch sie sich unter den Bedingungen der Abwesen‐ heit  Jesu  erinnern  können,  wenn  ihnen  das  zu  Erinnernde  übermittelt  wird.  

3.3  Der johanneische Lieblingsjünger  Als  nächstes  möchte  ich  mich  der  Figur  des  Lieblingsjüngers  zuwen‐ den. Auch wieder eine Figur, die nur im Johannesevangelium anzutref‐ fen ist. Während ein Großteil der Forschung damit beschäftigt ist, das  Inkognito  dieses  rätselhaften  Anonymus  zu  lüften,  wenden  wir  uns  seiner Funktion als Zeuge zu. So wie Johannes zu Beginn des Johannes‐ evangeliums in seiner Mittlerstellung als Zeuge des mit Geist begabten  Sohn  Gottes  eingeführt  wird,  zeugt  die  Figur  des  Lieblingsjüngers  als  Mittler  zwischen  dem  abwesenden  Jesus  und  der  Gemeinschaft  am 

                               Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum  vierten Evangelium (WUNT II/84), Tübingen 1996, 115.  22   Die im griechischen Text zu findende Formulierung ἐμνήσθησαν ist zu lesen als ein  Aorist Passiv des Verbums μιμνήσκω. Vgl. zu dieser Möglichkeit: O. Schwankl, Re‐ cordati  sunt.  Erinnerungsarbeit  in  den  Evangelien“,  in:  „Für  alle  Zeiten  zur  Erinne‐ rung“  (Jos  4,7).  Beiträge  zu  einer  biblischen  Gedächtniskultur  (FS  F.  Mußner),  hg.  v.  M.  Theobald, R. Hoppe, SBS 209, Stuttgart 2006, 5–394: 84.  23   Vgl. zu dieser Möglichkeit: Schwankl, Recordati sunt, 84 (Anm. 22). 

 

„Ihr seid Zeugen.“ (Joh 15,27) 

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Schluss der Erzählung. Thyen24 hat dies in einem vortrefflichen Aufsatz  folgendermaßen zusammengefasst:   „Erkennt man das ganze Evangelium (…) als das wahre und übereinstim‐ mende Zeugnis dieser beiden Zeugen, nämlich zunächst des ‚von Gott ge‐ sandten  Mannes,  mit  Namen  Johannes’,  wie  er  bereits  im  Prolog  feierlich  eingeführt  wird,  und  danach  des  ‚Jüngers,  den  Jesus  liebte’,  der  als  der  einstige Schüler und als erster Namensvertreter des ersten sozusagen, oder  vielmehr: ‚so zu raten’ der zweite Johannes ist, so zeigt sich bald, dass die‐ se  beiden  Figuren  nicht  nur  ‚im  Kopf  des  Evangelisten’,  sondern  in  dem  auf  der  Textebene  manifesten  Spiel  zwischen  dem  omniszienten  Erzähler  und seinen idealen Zuhörern miteinander zu kommunizieren beginnen.“  

Thyen geht in diesem Aufsatz auf die wichtigsten Stellungnahmen zur  Verfasserfrage  des  Johannesevangeliums  ein  und  weist  eindrucksvoll  die Unhaltbarkeit all jener Versuche nach, die ohne eine explizite Tren‐ nung zwischen der Textwelt des Johannesevangeliums und der außer‐ textlichen  Welt  die  Verfasserfrage  auf  der  Grundlage  historischer  Hy‐ pothesen zu klären versuchen. Die Analysen von Thyen überführen die  Autorfrage in eine Zeugenfrage. Eine Zeugenfrage, die auch zum Ende  des Johannesevangeliums noch einmal mit Blick auf den Lieblingsjün‐ ger  virulent  wird.  So  endet  das  Evangelium  nicht  umsonst  mit  einer  Fokussierung  auf  den  Akt  des  Zeugnisgebens  des  so  genannten  Lieb‐ lingsjünger.  „Das ist der Jünger, der von diesen Dingen zeugt und der dies geschrieben  hat, und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist. Es gibt aber auch viele an‐ dere Dinge, die Jesus getan hat, wenn diese alle einzeln niedergeschrieben  würden,  so  würde,  scheint  mir,  selbst  die  Welt  die  geschriebenen  Bücher  nicht fassen.“ (Joh 21,24–25) 

Die  Funktion  des  Lieblingsjüngers  wird  in  Vers  24  dargestellt:  Er  ist  derjenige,  der  Zeugnis  gibt  über  „diese  Dinge“.  Es  ist  hervorzuheben,  dass  auch  der  Lieblingsjünger  erst  mit  der  Abwesenheit  Jesu  Zeugnis  gibt. Seine Funktion als Zeuge wird erst virulent, als Jesus nicht mehr  anwesend ist. Dies gilt umso mehr als beachtenswert, da in der johan‐ neischen Erzählung gerade betont wird, dass das Verhältnis von Jesus  und dem Lieblingsjünger zur Zeit der Anwesenheit gerade durch kör‐ perliche  Nähe  gekennzeichnet  ist.  Besonders  betont  durch  das  Liegen  des  Lieblingsjüngers  an  der  Brust/im  Schoß  von  Jesus  (vgl.  z.B.  Joh  13,23).  Der  Lieblingsjünger  ist  somit  ein  Paradigma  dafür,  dass  eine  Kommunikationssituation,  die  im  Naheverhältnis,  im  Dialog  situiert  ist,  keinen  Vorrang  genießt  vor  einer  Kommunikationssituation,  die                                 24   H. Thyen, „Noch einmal: Johannes 21 und der Jünger ‚den Jesus liebte‘“, in: T. Forn‐ berg/D.  Hellholm  (Hgg.),  Texts  and  Contexts.  Biblical  Texts  in  their  Textual  and  Situa‐ tional Contexts (FS L. Hartman), Oslo u.a. 1995, 147–189: 184. 

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durch Distanz und Differenz gekennzeichnet ist. Ist es doch gerade die  Distanz  und  die  Differenz,  die  eine  Voraussetzung  dafür  bildet,  dass  der Lieblingsjünger als Zeuge auftreten kann. Dass der Lieblingsjünger  der  Zeuge  par  excellence  sein  kann,  liegt  daran,  dass  er  stets  an  Orten  anwesend ist, die den Adressaten des Evangeliums bleibend entzogen  sind: beim letzten Mahl, beim Kreuz, beim leeren Grab. Das Nahever‐ hältnis  von  dem  Lieblingsjünger  und  Jesus  legitimiert  das  asymmetri‐ sche  Verhältnis  zwischen  dem  Lieblingsjünger  als  Zeugen  und  den  Adressaten: Der Lieblingsjünger hat als Zeuge an einem Ereignis parti‐ zipiert,  das  den  Rezipienten  gerade  entzogen  bleibt. Deshalb  zeigt  die  Figur des Lieblingsjüngers ebenso wie Johannes und der Paraklet, wie  Kommunikation  unter  den  Bedingungen  der  Distanz  und  Nichtrezi‐ prozität möglich ist: nämlich durch Zeugnisgeben. Auch der Lieblings‐ jünger ist nicht Ursprung und Anfang von dem, was er tut. Er ist kein  Subjekt  im  demiurgischen  Sinn.  Er  empfängt  und  gibt  „diese  Dinge“  weiter, die nicht von ihm selbst erzeugt worden sind. Auch er ist somit  eine  Figur,  die  nicht  nach  den  Gesetzen  der  Autonomie  handelt,  son‐ dern die heteronom ist.  Neben  das  Bezeugen  tritt  das  Niederschreiben  des  Lieblingsjün‐ gers.  Während  der  Textpassus  Joh  21,24–25  immer  wieder  die  Verfas‐ serfrage  des  Evangeliums  angeheizt  hat,  geht  unsere  Aufmerksamkeit  in unserer Zeugenperspektive – wenn man so will – in die völlig entge‐ gen  gesetzte  Richtung:  Weg  von  der  auctoritas  im  Rahmen  der  Autor‐ frage hin zum Gedanken der Vermittlung durch Zeugenschaft.   Der  Jünger,  der  bezeugt  und  der  niederschreibt,  bringt  in  aller  Deutlichkeit  zum  Ausdruck,  warum  in  postalischer  Perspektive  dem  Gedanke der Übertragung und Vermittlung Kreativität und poietische  Produktivität zuzuschreiben ist. Die in Joh 21,24f. angesprochene Ver‐ mittlung  und  Übertragung  durch  den  Lieblingsjünger  ist  nicht  anders  zu  verstehen  als  Materialisierung.25  Indem  der  Lieblingsjünger  „diese  Dinge“  bezeugt  und  niederschreibt,  materialisiert  er  sie.  Unkörperli‐ ches wird im Akt des Bezeugens und des Niederschreibens verkörpert.   Für  gewöhnlich  assoziieren  wir  unsere  kulturelle  Sphäre  damit,  dass  in  ihr  Materielles  als  Verkörperung  von  Ideen,  Sinn  und  Bedeu‐ tung erscheint, so dass das Interpretieren das Materielle verflüssigt und  durchsichtig macht für das ihm jeweils inkorporierte Immaterielle. Das  Johannesevangelium  geht  von  Anfang  einen  anderen  Weg  und  dies                                 25   Auf  die  kulturstiftende  Produktivität  der  Materialisierungen  hat  R.  Debray,  Trans‐ mitting Culture, New York 2000, hingewiesen. Entscheidend nach Debray ist unsere  Fähigkeit  zur  Materialisierung  dessen,  was  immateriell  ist  und  abstrakt.  Kulturelle  Produktivität  und  Kreativität  zeigt  sich  gerade  darin,  dass  wir  Ideelles  verkörpern  können, wir den Sinn somatisieren können. 

 

„Ihr seid Zeugen.“ (Joh 15,27) 

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zeigt sich auch in einem der zentralen Verse des Evangeliums, über die  viel  und  ausdauernd  gestritten  wird  und  wurde  (vgl.  die  bekannte  Kontroverse  zwischen  Bultmann  vs.  Käsemann)  –  nämlich  Joh  1,14.  „Das  Wort  ward  Fleisch  und  wohnte  unter  uns,  und  wir  sahen  seine  Herrlichkeit  als  des  eingeborenen  Sohnes  vom  Vater,  voll  Gnade  und  Wahrheit.“  Nach dem Johannesevangelium ist nicht die Immaterialisierung des  Materiellen  der  springende  Punkt,  damit  Neues  entstehen  kann,  son‐ dern  die  Materialisierung  des  Immateriellen  ist  der  springende  Punkt  für die kreative Kraft des Evangeliums. Die Figur des Lieblingsjüngers  zeugt nicht nur in seiner Person von diesen Dingen, sondern er hat dies  ihm Bedeutsame nochmals neu verkörpert, indem er es aufgeschrieben  hat.  Gerade  der  Körperlichkeit  des  Geschriebenen  nun  kommt  es  zu,  dass sie Botschaften übertragen kann, denen Bedeutung zukommt.   Durch  das  „wir  wissen“  in  Joh  21,24  wird  das  soziale  Band  zwi‐ schen Zeuge und Adressaten hergestellt, indem das Zeugnis zum Wis‐ sensgut der dieses Zeugnis Rezipierenden erhoben wird. „Wir wissen“  erhebt  das  durch  den  Lieblingsjünger  Vermittelte  zu  ihrem  gemein‐ schaftlichen Wissensgut,  dem  Wahrheit  zugeschrieben  wird.  Das  Wis‐ sen,  das  bei  den  Adressaten  geschaffen  wird,  ist  also  ein  Wissen,  das  auf der Interaktion von Zeuge und Zuhörern beruht und im Zwischen‐ raum dieser Interaktion auch erst entsteht und somit angewiesen ist auf  die  Übertragung  der  Wahrnehmung  bzw.  das  vermittelte  Wissen  des  Lieblingsjüngers.   Nach  diesem  knappen  Durchgang  zu  Akten  des  Zeugnisgebens  von  narrativen  Akteuren  in  der  Welt  des  Evangeliums  lässt  sich  als  erstes Ergebnis festhalten: Das Johannesevangelium ist durchzogen von  Figuren, die Zeugnis geben. Alle Figuren, die Zeugnis geben, übermit‐ teln  etwas  an  jemanden.  Deshalb  ist  derjenige,  der  zeugt,  weniger  als  ein Mittel zu verstehen ist, sondern vielmehr als ein Mittler. Die darge‐ stellten Zeugen des Johannesevangeliums erzeugen nichts, sondern sie  vermitteln. In dieser Eigenschaft übermitteln die johanneischen Zeugen  Wissen, das nicht ermittelt werden kann. Das Wissen durch Zeugnis ist  in  der  narrativen  Welt  des  Johannesevangeliums  kein  minderwertiges  Wissen,  sondern  in  der  Welt  des  Johannesevangeliums  wird  vor‐ ausgesetzt,  dass  wir  in  unserem  Wissen  unentrinnbar  auf  andere  an‐ gewiesen  sind  (vgl.  „wir  wissen,  dass  sein  Zeugnis  wahr  ist!“  in  Joh  21,24). Zeugenwissen, also Wissen, welches uns übermittelt wird, hat in  der  narrativen  Welt  des  Johannesevangeliums  eine  eminent  kreative  Seite.  Gegenüber einem epistemologischen Individualismus lenkt das Jo‐ hannesevangelium den Blick auf eine soziale Epistemologie, in der den 

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materialisierten  Übertragungsvorgängen  von  Wissen  größte  Relevanz  zugemessen  wird.  Nur  mit  Hilfe  eines  sozialen  Bandes,  das  zwischen  den  Adressaten  und  dem  Zeugnisgeber  existiert,  ist  eine  Übertragung  von  Wissen  möglich,  die  es  den  an  Christus  Glaubenden  unter  den  Bedingung  der  Abwesenheit  von  Jesus  Christus  erlaubt,  sich  als  Ge‐ meinschaft  zu  konstituieren.  Dieses  soziale  Band  konkretisiert  sich  im  Johannesevangelium als „Glauben“, „Erinnerung“ und „wahrhaftigem  Wissen“.  Zugleich  zeigt  sich  in  der  Beziehung  zwischen  Zeuge  und  Adressaten  die  diesen  Übertragungsvorgängen  zuzusprechende  Krea‐ tivität in Form von „Glauben“, „Erinnerung“ und „Wissen“.  

4. Triadische Relationen  Doch das Zeugnisgeben im Johannesevangelium lenkt in dieser postali‐ schen Perspektive nicht nur unseren Blick auf eine soziale Epistemolo‐ gie, sondern auf Sozialität allgemein. Die Figur des Zeugen hat sich als  eine  relationale  Figur  erwiesen.  Der  Zeuge  ist  der  Mittler  zwischen  einer  abwesenden  Instanz  und  den  Adressaten  –  wie  eingangs  ausge‐ führt  wurde.  Die  damit  ausgedrückte  Relation ist  eine  triadische. D.h.  mit  der  Figur  des  Zeugen  kommt  die  Konstellation  einer  Drittheit  ins  Spiel.   Der von Gott gesandte Johannes zeugte vom Licht, damit alle durch  ihn glauben. Der Paraklet wird gegeben und zeugt, damit die Seinen an  alles erinnert werden, was der johanneische Jesus gesagt hat. Der Lieb‐ lingsjünger,  der  an  Jesus  Brust  bzw.  in  seinem  Schoß  lag,  zeugt  „von  diesen Dingen“ für die Adressaten des Evangeliums.  Wir sehen: Die Figur dessen, der Zeugnis gibt, stiftet eine Relation.  Der  Zeuge  ist  nicht  nur  gesandt,  sondern  auch  auf  jemanden  hin  ge‐ richtet, dem er etwas zu übermitteln hat. Dies gilt auch für andere Zeu‐ gen im Johannesevangelium. Als die Samaritanerin in Joh 4 nach dem  Gespräch mit Jesus am Brunnen in ihre Stadt zurückkehrt, heißt es: „Es  glaubten  viele  von  den  Samaritanern  an  ihn,  um  des  Wortes  der  Frau  willen,  die  zeugte“  (Joh  4,39).  Die  Samaritanerin  stiftet  eine  Relation  zwischen  dem  nicht  anwesenden  Jesus  und  den  Samaritanern.  Wir  sehen,  die  Figur  dessen,  der  Zeugnis  gibt,  stiftet  immer  eine  Relation.  Die  Figur  des  Zeugen,  als  das  subjekttheoretisch  relevante  Phänomen  in der Textwelt des Johannesevangeliums – ist sozialtheoretisch ein Fall  triadischer Kommunikation.  

 

„Ihr seid Zeugen.“ (Joh 15,27) 

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5. Die Ambivalenz der Zeugenfigur  Deutlich dürfte auch geworden sein, dass diese triadische Kommunika‐ tion sich nicht einem unbeteiligten Beobachterstatus verdankt. Joachim  Fischer schreibt: „Intersubjektivitätstheoretisch ist der Dritte“ eine wer‐ tungsambivalente Figur, „abwesend und anwesend zugleich, die Ord‐ nung  durch  Exklusion  und  Inklusion  haltend  und  unterlaufend“.26  So  ist  die  erste  Frage,  die  an  Johannes  den  Täufer  aufgrund  seines  Zeug‐ nisgebens  gestellt  wird:  „Wer  bist  du?“  (Joh  1,19).  Im  Verlauf  der  Be‐ fragung  durch  die  Priester  und  Leviten  zeigt  sich,  dass  der  zeugende  Johannes eine für die Befragenden wertungsambivalente Figur ist und  bleibt. Auch der Paraklet erweist sich als eine solche wertungsambiva‐ lente  Figur.  Für  die  „Seinen“  wird  der  Paraklet  gegeben.  „Ihr  kennt  ihn“ heißt es in Joh 14,17 – „denn er bleibt bei Euch und wird in Euch  sein“.  Im  gleichen  Vers  heißt  es,  dass  die  Welt  den  Parakleten  nicht  empfangen kann, weil sie „ihn nicht sieht, noch ihn kennt“. Der Para‐ klet ist anwesend und abwesend zugleich, er steht mit „den Seinen“ in  einem  Inklusionsverhältnis  und  mit  „der  Welt“  in  einem  Exklusions‐ verhältnis. „Der Dritte ist Bedingung der Exklusions‐ und Einsamkeits‐ erfahrung,  des  Inklusions‐  und  Zugehörigkeitsbegehrens“.27  Diese  knappen  Skizzen  zu  Johannes  dem  Täufer  und  dem  Parakleten  lassen  die  Ambivalenz  der  Zeugenfunktion  in  den  Blick  geraten.  Der  Zeuge  verbindet  nicht  nur,  sondern  er  distanziert  im  selben  Zug.  Diese  gilt  auch für das Zeugnisgeben des johanneischen Jesus. Der johanneische  Jesus  ist  die  Figur  par  excellence,  an  der  die  Ambivalenz  der  Zeugen‐ funktion in den Blick gerät. Schon im Zeugnis von Johannes dem Täu‐ fer  über  Jesus  Zeugnisgeben  wird  die  Ambivalenz  seines  Zeugeseins  deutlich: „… Der vom Himmel kommt, der ist über allen und bezeugt,  was er gesehen und gehört hat; und sein Zeugnis nimmt niemand an.  Wer sein Zeugnis angenommen hat, der hat besiegelt, dass Gott wahr‐ haftig  ist“  (Joh  3,32–33).  Der  johanneische  Jesus  als  Zeuge  verbindet  nicht nur, sondern er distanziert im selben Zuge, dies wird immer wie‐ der  thematisch  im  Johannesevangelium  aufgegriffen.  Der  Vorwurf  an  Jesus “Du – ein Mensch, der du bist – machst dich selbst zu Gott“ (vgl.  Joh 5,18; 19,7) ist die Aberkenntnis der durch den Zeugen Jesus geleis‐ teten Vermittlung. Als Figuration des Dritten ist Jesus nicht nur derje‐                                26   J. Fischer, „Figuren und Funktionen der Tertiarität. Zur Sozialtheorie der Medien“,  in:  Massenmedien  und  Alterität,  hrsg.  v.  J.  Michael/M.  K.  Schäffauer,  Frankfurt/M.  2004, 78–86: 80.  27   Ebd., 78–86: 82. 

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nige, der Zeugnis gibt, sondern schafft durch sein Zeugnisgeben immer  auch Unterbrechung von etwas.  Während  in  den  klassischen  Theorien  der  Intersubjektivität  eine  duale Struktur als Keimzelle der Sozialität privilegiert wurde (Ich/Du;  Herr/Knecht; Sender/Empfänger; Sprecher/Hörer) zeichnet sich gegen‐ wärtig  ein  Umdenken  ab,  welches  erst  mit  der  Figur  des  Dritten  eine  institutionentheoretisch fundierte Theorie von Gesellschaft gewährleis‐ tet  sieht.  Zu  dieser  Neubewertung  von  Intersubjektivität  gehört  die  Überzeugung,  dass  die  Eigendynamik  von  Kulturen  sich  auch  immer  den  Mediatoren  verdankt,  die  das  Eigene  und  das  Fremde,  das  also,  was inhomogen ist, miteinander in Beziehung setzen. Mit der Figur des  Zeugen  im  Johannesevangelium  lässt  sich  eine  solche  triadische  Per‐ spektivierung  im  Johannesevangelium  ausweisen.  Signifikant  für  die  Figur  des  Zeugen  ist  jedoch  nicht  nur  der  Gedanke,  dass  wir  ihn  als  Keimzelle von Gemeinschaft verstehen können, sondern dass der Zeu‐ ge  als  eine  Umkippfigur  thematisch  wird.  Der  Zeuge  verbindet  nicht  nur, sondern er distanziert im gleichen Zug. Als Figuration des Dritten  ist derjenige, der Zeugnis gibt, immer auch Unterbrechung von etwas.  Die  durch  den  Zeugen  geleistete  Vermittlung  hat  also  ein  Doppelge‐ sicht: sie kann immer ein sym‐bolischer Akt – also zusammenwerfend  sein  –,  aber  auch  als  dia‐bolischer  Eingriff  –  also  auseinander‐divi‐ dierend sein.  Damit erweist sich die Figur des Zeugen selbst als eine soziale Rol‐ le, die von ethisch‐politischen Bedingungen und Anerkennungsmecha‐ nismen  geprägt  ist.  Die  spezifische  Ambivalenz  des  Zeugen  ist  nicht  aufzulösen,  sondern  gehört  konstitutiv  dazu.  Das  Zeugnis  steht  im  Spannungsfeld  von  „bloßer“  Wissensvermittlung  und  persönlicher  Verantwortung und Machtfragen, und beide Seiten sind konstitutiv für  das  Bezeugen.  „Einem,  Chiasmus  gleich  verschränken  sich  Episteme  und Ethik der Zeugenschaft. (…) So wichtig es ist, die Zeugenschaft als  positiven Testfall für eine Soziale Epistemologie zu behandeln, so not‐ wendig ist es, diese Art epistemologischer Sozialität in einer ethischen  Einstellung zum anderen zu verorten.“28  Ich  bin  am  Ende  meiner  Ausführungen  angelangt.  E.  Levinas  schreibt:  „Der  Dritte  führt  einen  Widerspruch  in  das  Sagen  ein,  dessen  Bedeutung  bis dahin nur in eine einzige Richtung ging. Von selbst findet nun die Ver‐ antwortung eine Grenze, entsteht die Frage: ‚Was habe ich gerechterweise  zu tun’“ (Levinas, Jenseits des Seins“, 343).  

                               28   S.  Krämer,  „Vertrauen  schenken“,  in:  S.  Schmidt  u.a.  (Hgg.),  Politik  der  Zeugen‐ schaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis, Bielefeld 2011, 117–139: 138f. 

 

„Ihr seid Zeugen.“ (Joh 15,27) 

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Die  diesen  Beitrag  zu  Grunde  liegende  Frage,  mit  welchem  Recht  wir  biblische  Texte  für  politische  Subjekttheorien  heranziehen,  lässt  sich  aus der hier dargelegten postalischen Perspektive so beantworten: Weil  sie  als  Vermitteltes  –  als  Figuration  des  Dritten  –  eben  diesen  Wider‐ spruch in unser Sagen einführen.  

„Keiner sagte vor ihm   auf eine derart emphatische Weise ‚Ich‘ wie er.“    Eugen Biser über Paulus    „But why was I bored? Partly because of the dominance of the letter  ‘I’ and the aridity, which, like the giant beech tree, it casts within  its shade. Nothing will grow there.”    Virginia Woolf über das „Ich“ in der Literatur 

       

Das autobiographische „Ich“ des Paulus               und das politische Subjekt     

 

LUKAS BORMANN       1. Autobiographie  1.1 Autobiographisches Schreiben und Subjekt 

Das Thema „Autobiographie“ hat Konjunktur. Die Autobiographiefor‐ schung  ist  breit  gefächert  und  in  vielen  Wissenschaftsdisziplinen  zu‐ hause.  Die  Relevanz  des  Autobiographischen  wird  in  Philosophie,  Theologie,  Geschichtswissenschaft,  Literaturwissenschaft  und  in  den  neuen kulturalistischen Theorieentwürfen, wie etwa der postkolonialen  Theorie,  diskutiert.  Ist  die  Autobiographie  nicht  auch  das  Medium,  in  dem  sich  die  Aporien  des  Subjektbegriffs  besonders  deutlich  vermit‐ teln,  etwa  die  unaufhebbare  Spannung  zwischen  Authentizität  und  Selbst‐Inszenierung, die den Subjektbegriff prägt?  Am Anfang der kritischen Autobiographieforschung steht der 1907  erschienene,  erste  Band  der  „Geschichte  der  Autobiographie“  von  Georg Misch (1878–1965).1 Fest verankert in der Hermeneutik Diltheys  entwickelt  Misch  in  seiner  Geschichte  der  Autobiographie  eine  Art  Universalgeschichte des menschlichen Selbstverständnisses. Gerade die  scheinbare  Partikularität  und  die  unverwechselbare  Besonderheit  des  Autobiographischen  lässt  die  Autobiographie  als  eine  der  „menschli‐

                          1  

G. Misch, Geschichte der Autobiographie, 4 Bd. Frankfurt 1907–1969. 

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Lukas Bormann 

chen  Lebensäußerungen“  (Dilthey)  erscheinen,  die  es  in  besonderer  Weise  ermöglichen,  die  kulturelle  Verfasstheit  des  Menschen  und  seiner  Welt  zu  erklären  und  zu  verstehen.2  Bis  heute  folgt  man  der  Definition der Autobiographie, die Misch mit einer geradezu aristoteli‐ schen Einfachheit formuliert hat:  „Sie [die Autobiographie, M.H.] läßt sich kaum näher bestimmen als durch  Erläuterung dessen, was der Ausdruck besagt: die Beschreibung (graphia)  des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto).“3 

In  dieser  Definition  ist  das  Grundlegende  des  autobiographischen  Schreibens  festgehalten.  Das  schreibende  „Ich“  verhält  sich  zu  seinem  Leben  (bios)  und  damit  zu  sich  selbst  („Mir“,  „Mich“).  Durch  diese  enge  Bindung  an  die  in  der  Phänomenologie  und  in  der  Existential‐ philosophie entwickelte Vorstellung der Selbstauslegung der menschli‐ chen  Existenz  gewinnt  die  Autobiographie  eine  Anmutung  des  Au‐ thentischen, von der eine besondere Faszination ausgeht. Dieser Faszi‐ nation steht die Geringschätzung gegenüber, die der Gattung Autobio‐ graphie  im  Vergleich  zu  anderen  Literaturgattungen  wie  dem  Drama,  dem  Roman  oder  dem  Epos  anhaftet.4  Die  Autobiographie  gibt  nicht  wie  das  Drama  einem  grundlegenden  Konflikt  menschlicher  Existenz  eine  Form  und  sie  entwirft  auch  keine  vielschichtige  und  mehrper‐ spektivische  Welt  wie  der  Roman.  Sie  hat  einen  scheinbar  formlosen  Stoff, das Leben, und erzählt von einer Welt, die durch die enge Bezie‐ hung des erzählenden zu dem erzählten Ich eine Ich‐zentrierte ist.  Immerhin hat die Autobiographie dadurch Anteil an den Möglich‐ keiten  des  narrativen  Schreibens.  Im  narrativen  Schreiben  ordnet  der  Autor die Welt der Objekte zu einer „erzählten Welt“ und setzt so die  Spannung  zwischen  der  intersubjektiv  zugänglichen  Wirklichkeit  und  dem perspektivisch subjektiven Zugriff des Erzählers auf diese Objekte  eindrucksvoll  und  sinnbildend  in  Szene.5  Dieses  Paradox  des  Erzäh‐ lens, des „How to make world with words“ erzeugt alleine schon eine  besondere  Spannung.6  Diese  Spannung  wird  nun  in  der  Autobiogra‐

                          2  

3   4   5   6  

W. Dilthey, Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen, in: ders.  Gesammelte  Schriften  7,  Stuttgart/Göttingen  81992,  205–220;  ders.,  Die  Entstehung  der Hermeneutik, in: ders., Gesammelte Schriften 5, 81990, 317–338, hier 318.  M. Holdenried, Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 21; Zitat nach Misch, Geschichte 1,  31950, S. 7.  P. de Man, Autobiography as de‐facement, in: Trev Lynn Broughton (Hg.), Autobio‐ graphy, 4 Bde., London 2007, Bd. 1, 264–274, hier S. 264.  M. Bal, Kulturanalyse, Frankfurt 2002, 118f.   W. H. Gass, Wie man aus Wörtern eine Welt macht. Essays, hg. von Heide Ziegler,  Salzburg 1995, S. 91. 

Das autobiographische „Ich“ des Paulus 

 

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phie noch dadurch gesteigert, dass dem Autobiographen sein Leben in  einer  besonderen  Weise  faktisch  und  objektiv  gegeben  scheint  und  gleichzeitig sein Zugriff auf dieses Leben, seine Perspektive, durch die  gesteigerte Subjektivität des „Ich“ bestimmt ist. Der „Pakt der Autobio‐ graphie“7 (Lejeune) besteht darin, dass der Leser mit der Identität von  Autor,  Erzähler  und  dem  Protagonisten  rechnet.8  Der  Autobiograph  nimmt  eine  Perspektive  ein,  die  durch  keinen  anderen  Erzähler  zu  vertreten ist als durch ihn selbst, er spricht aber über sein Leben als ein  Leben  in  einer  Welt,  die  auch  anderen  vor  Augen  steht  und  somit  intersubjektiv  zugänglich  ist.  Die  Autobiographie  ist  an  diese  Bezie‐ hung  zur  lesenden  Gemeinschaft  gebunden  und  hat  auch  von  dem  auszugehen,  was  das  Leben  des  Autors  mit  dem  der  anderen  verbin‐ det.9 Vor dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit vermittelt die Auto‐ biographie nun aber den Eindruck, das „Ich“ gebe Einsichten preis, die  nur  ihm  vorbehalten  seien.  Ruth  Klüger  betont  diesen  Gesichtspunkt  und leitet aus ihm einen hohen normativen Anspruch ab. Insbesondere  in  Hinsicht  auf  die  Mitteilung  erlittenen  Unrechts,  aber  nicht  nur  in  dieser Hinsicht sei der unbedingte Wirklichkeitsbezug der Autobiogra‐ phie einzufordern: „Autobiographie ist eine Art Zeugenaussage.“10  Gerade hier setzt dann die Kritik ein. Die Liste mit den Destruktio‐ nen  prominenter  und  weniger  prominenter  Autobiographien  ist  lang  und reicht mindestens von Josephus bis Edward Said.11 Die historische  Forschung  urteilt  inzwischen  über  den  Wert  der  Autobiographie  als  Quelle  recht  kühl:  „Die  Wahrheit  der  Autobiographie  ist  immer  nur 

                          7   8   9  

Ph. Lejeune, Le pacte autobiographique, Paris 1975.  Lejeune, Le pacte, S. 15.  E.  DeMijolla,  Autobiographical  Quests,  Charlottesville  1994,  S.  13:  „Autobiography  begins  in  community,  emphasizing  less  what  is  singular  in  a  life  than  what  a  life  holds in common with other lives.“  10   R.  Klüger,  Zum  Wahrheitsbegriff  in  der  Autobiographie,  in:  Autobiographie  von  Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte, hg. M. Heuser, Tübingen 1996, S. 405–411, hier  S. 409.  11   Josephus´ Schrifttum enthält unauflösliche biographische Widersprüche. Said wird –  wohl zu Unrecht – auf der Basis von Ungenauigkeiten seiner Erinnerungen über die  Verhältnisse  in  Jerusalem  vor  1948  das  Recht  abgesprochen,  eine  palästinensische  Herkunft  für  sich  in  Anspruch  zu  nehmen.  Die  Autobiographie  Saids  wurde  zum  Gegenstand  politisierter  Machtdiskurse.  J.  Weiner,  Edward  Saidʹs  Fabrications,  in:  commentarymagazin.com, January 2000; ders. The False Prophet of Palestine. In the  Wake  of  Edward  Said  revelations,  in:  Jerusalem  Letter  No.  422  (16.  Jan  2000).  Vgl.  Huddart, Theory, S. 20f. 

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eine Wahrheit für ihren Autor.“12 Der eigenwillige Wirklichkeitsbezug  der Autobiographie zeigt sich, wenn man die Tatsachenbehauptungen  der  Autobiographie  am  intersubjektiv  zugänglichen  Weltwissen  über‐ prüft.  Der  Historiker  wird  dann  zu  entscheiden  haben,  in  welchem  Ausmaß  die  Wahrheit  einer  Autobiographie  nur  die  Wahrheit  des  Autors  ist  und  wie  sie  vor  dem  Hintergrund  dieser  kritischen  Bewer‐ tung  als  Quelle  verwendet  werden  kann.  Jenseits  dieser  historischen  Detailarbeit  befasst  sich  auch  die  Literaturwissenschaft  mit  diesem  grundlegenden  Mangel  im  autobiographischen  Schreiben.  Peter  Härt‐ ling nennt die Autobiographie eine „phantastische Lüge“.13 Roy Pascal  formuliert noch deutlicher:   „Die  Verfälschung  der  Wahrheit  durch  den  Akt  der  erinnernden  Besin‐ nung  ist  ein  so  grundlegendes  Wesensmerkmal  der  Autobiographie,  dass  man sie als deren notwendige Bedingung bezeichnen muss.“14 

Diese Verfälschung oder Verzerrung ist zunächst darin begründet, dass  sich  das  autobiographische  Ich  in  das  Zentrum  von  Geschehnissen  stellt,  und  durch  diese  Zentrierung  eine  Perspektive  wählt,  die  die  Gestalt  der  Geschehnisse  und  Sachverhalte  notwendig  verzerrt,  denn  kein  „Ich“  steht  tatsächlich  im  Mittelpunkt  des  Geschehens  der  Welt,  an dem es Anteil hat.15  Eine  weitere  Einschränkung  der  Autobiographie  ist  durch  den  Zeitpunkt  gegeben,  zu  dem  sie  erstellt  wird.  William  Gass  beschreibt  die mentale Disposition, mit der die Autobiographie beginnt:  

                          12   H. Winter, Der Aussagewert von Selbstbiographien. Zum Status autobiographischer  Urteile, Heidelberg 1985, S. 78.  13   Zitiert nach W. Sparn, Einführung in die Thematik: „Biographie und Persönlichkeit  des Paulus“, in: E.‐M. Becker / P. Pilhofer, Biographie und Persönlichkeit des Paulus,  (WUNT 187), Tübingen 2005, S. 9–28, hier S. 22.  14   R.  Pascal,  Die  Autobiographie.  Gehalt  u.  Gestalt,  (Sprache  und  Literatur  19),  Stutt‐ gart 1965, S. 90.  15   Diese bereits genannte Ich‐zentrierte Welt wird besonders deutlich in den berühm‐ ten  ersten  Sätzen  der  confessions  Rousseaus:  Jean‐Jacques  Rousseau,  Bekenntnisse,  übers.  W.  Krauss,  Frankfurt  o.  J.,  S.  37:  „(Je  veux  montrer  à  mes  semblables  un  homme  dans  toute  la  vérité  de  la  nature;  et  cet  homme,  ce  sera  moi.)  Ich  will  vor  meinesgleichen  einen  Menschen  in  aller  Wahrheit  der  Natur  zeigen,  und  dieser  Mensch werde ich sein. Einzig und allein ich. Ich fühle mein Herz – und ich kenne  die Menschen. Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von denen, die ich bisher sah,  und ich wage zu glauben, dass ich auch nicht gemacht bin wie irgendeiner von allen,  die leben. Wenn ich nicht besser bin, so bin ich doch wenigstens anders.“. 

Das autobiographische „Ich“ des Paulus 

 

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„How does autobiography begin? With memory. And the consequent divi‐ sion of the self into the‐one‐who‐was and the‐one‐who is.”16 

Im  Moment  des  Erinnerns  treten  das  schreibende  Ich  der  Gegenwart  und  das  beschriebene  Ich  der  Vergangenheit  auseinander.  Der  Zeit‐ punkt  des  Erinnerns  bestimmt  aber  wesentlich  die  Perspektive,  in  die  das Erinnerte  gestellt  wird,  und  damit den  Grad und  die  Qualität  der  Verzerrung.17  Diese  Eigenschaften  der  Autobiographie  sind  es,  die  Paul  de  Man  zu  der  Einschätzung  führten,  die  Autobiographie  sei  de‐facement „Ent‐ gesichtlichung“, „Unkenntlichmachung“, „Entstellung“ oder gar „Mas‐ kerade“.18  Die  für  die  Autobiographie  charakteristische  Referenz  auf  sich  selbst  zu  einem  bestimmten  Zeitpunkt  ist  die  Produktionsbe‐ dingung  solcher  Texte.  Mit  ihr  ist  nach  de  Man  die  Nötigung  zum 

                          16   W. Gass, The Art of Self. Autobiography in an Age of Narcissism, Harper’s Magazi‐ ne Bd. 288, Heft 1728 (1994), S. 43–52, hier S. 45.  17   Das  mag  mancher  Autor  reflektieren  oder  gar  literarisch  umsetzen,  indem  er  den  autobiographischen  Erzähler  auftreten  lässt,  die  meisten  tun  das  aber  nicht,  und  wenn sie es tun, lohnt sich die Frage nach der Intention. G. Grass, Beim Häuten der  Zwiebel,  Göttingen  2006,  schreibt  über  sich  selbst  als  siebzehnjährigen  SS‐Frei‐ willigen  (S.  165):  „So  beschwert  sehe  ich  aus  sechzig  Jahren  zeitlicher  Distanz,  wie  ein  Siebzehnjähriger  mit  zweckentfremdeter  Gasmaskentrommel  und  einer  wie  neugeschneiderten  Uniformjacke  bemüht  bleibt,  …  Anschluß  an  zurückflutende  Truppenteile  zu  finden.“  Die  hier  explizit  durchgeführte  Trennung  zwischen  dem  One‐who‐was und dem One‐who‐is ermöglicht eine Distanzierung, an der es Grass  hier  gelegen  zu  sein  scheint.  Er  wechselt  mehrfach  zwischen  dem  autobiographi‐ schen  „Ich“  und  der  Erzählperspektive  der  dritten  Person.  Er  nennt  den  Siebzehn‐ jährigen SS‐Angehörigen, der er selbst war „den Jungen meines Namens“. Erst mit  dem  Fortgang  der  Biographie  überwindet  er  die  Bedenken,  „Ich“  zu  sagen.  Er  nimmt nach und nach eine neue Erzählhaltung ein (S. 183.): „Sobald ich, mittlerweile  geübt,  über  alle Bedenken  hinweg  Ich  sage,  also meinen  Zustand  vor rund  sechzig  Jahren  nachzuzeichnen  versuche,  ist  mir  mein  damaliges  Ich  zwar  nicht  ganz  und  gar  fremd,  doch  abhanden  gekommen  und  entrückt  wie  ein  ferner  Verwandter.“  Dieser Wechsel vom distanzierenden Erzähler zum autobiographischen Ich fällt mit  dem Kriegsende und mit dem Ende der NS‐Herrschaft zusammen. Grass lässt also  gerade  seine  Zeit  in  der  Waffen‐SS  durch  diesen  Kunstgriff  als  fremd  und  fern  er‐ scheinen.  18   So  wie  die  geschilderte  literarische  Durchführung  des  „Maskenspiels“  bei  Grass  durch das jahrzehntelange Verschweigen eines explosiven Details seiner Biographie  bedingt gewesen sein mag, scheint auch de Mans Theorie der Autobiographie durch  biographische  Erfahrungen  beeinflusst  zu  sein.  Man  verfasste  zwischen  1940  und  1942  170  Artikel  in  einer  französischen  und  einer  belgischen  Kollaborationszeit‐ schrift,  die  meisten  mit  kulturellen,  einige  wenige  mit  politischen  Themen,  schließ‐ lich aber auch einen antisemitischen Text im März 1941: „Les Juifs dans la littérature  actuelle“.  Siehe  dazu  Ch.  Menke  (Hg.),  Die  Ideologie  des  Ästhetischen,  Frankfurt  1993, S. 266–270. 

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„Maskenspiel“  –  und  sei  es  die  Maske  des  Zeugen19  –  unumgänglich  gegeben. Die Autobiographie bleibe letztlich auf beredte Weise stumm,  sie „beraubt und entstellt“, sie „verschleiert und maskiert“.20  Die narratologischen und autorenbezogenen Überlegungen zur Au‐ tobiographie  weisen  darauf  hin,  dass  die  Faszination,  die  von  der  Autobiographie  ausgeht,  und  die  Kritik,  die  dieser  Gestus  des  Schrei‐ bens anzieht, gleichermaßen auf der Ambivalenz beruhen, die mit den  gegensätzlichen  Polen  Zeugenaussage  und  Maskenspiel  am  besten  beschrieben ist.  Die politische Kritik an einer solchen Literaturgattung liegt auf der  Hand.  Die  Autobiographie  wählt  einen  bürgerlichen  Zugang  zur  Welt.21 Der Autor wirft sich in die Pose des Bedeutsamen und tritt gera‐ dezu als Angeber und Wichtigtuer auf. Er muss einen „Helden“ kreie‐ ren,  selbst  wenn  es  ein  Anti‐Held  ist,  um  diesem  Gestus  gerecht  zu  werden.  Die  Autobiographie  rückt  zudem  die  Welt  in  die  Sichtweise  des  Individuums  und  lässt  den  Leser  die  Welt  mit  individualisierten  Augen  sehen.  Die  Autobiographie  enthüllt  und  verhüllt  persönliche  Wahrheiten und wird gerade so zum Maskenspiel, das verschleiert und  entstellt,  sie  lässt  aber  die  Welt  wie  sie  ist  unangetastet.  Die  Autobio‐ graphie als Forum selbstreflexiver Weltbetrachtung rückt die Kausalitä‐ ten  der  Welt,  die  auf  überpersönlichen  Interessen  und  struktureller  Gewalt  beruhen,  in  den  Hintergrund  und  konzentriert  sich  auf  den  Reflex, den das Weltgeschehen im individuellen Handeln und im per‐ sönlichen Erleben des autobiographischen Ichs auslöst.22 

                          19   Vgl.  die  Debatte  um  Primo  Levi´s,  Ecce  homo:  H.  White,  Historical  Discourse  and  Literary Writing, in: K. Korhonen (Hg.), Tropes for the Past. Hayden White and the  History/Literature  Debate,  (Internationale  Forschungen  zur  allgemeinen  und  ver‐ gleichenden Literaturwissenschaft 96), Amsterdam 2006, S. 25–33, hier S. 26–31; Ph.  Mesnard (Hg.), Levi, Primo. Bericht über Auschwitz, (Pamphlete 15), Berlin 2006, S.  33: „Pathos der Zeugenschaft“.  20   De Man, Autobiography, S. 264.  21   In  ihrer  europäischen  Variante  ist  die  Autobiographie  ein  Produkt,  das  von  der  Verbindung  aus  städtischem  Leben  und  entstehendem  Bürgertum  in  der  frühen  Neuzeit hervorgebracht wurde (W. Schulze (Hg.), Ego‐Dokumente. Annäherung an  den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 17). In dem radikal subjektiven Ver‐ ständnis Rousseaus hat sie ihre Wurzeln in der Romantik (De Man, Autobiography,  S. 264).  22   A.  Federlein,  Autobiographien  von  Arbeitern  1890–1914,  Marburg  1987:  Allerdings  scheinen  die  politischen  Differenzen,  die  im  realen  Leben  als  ernste  Feindschaften  ausgetragen  wurden, in  der autobiographischen  Perspektive zu verschwimmen. So  unterscheidet Federlein in ihrer Arbeit über Arbeiterbiographien zwar zunächst jene  mit Klassenbewusstsein von solchen aus der national‐liberalen und der christlichen  Arbeiterbewegung,  konstatiert  aber  dann,  dass  „zumindest  einige  von  ihnen  [von 

 

Das autobiographische „Ich“ des Paulus 

 

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Diese  Kritik  greift  aber  zu  kurz.  Auch  wenn  die  Autobiographie  nur  eine Inszenierung des Subjekts, nicht aber die Gestalt seiner Authentizi‐ tät darstellt, bleibt dennoch die Möglichkeit, dass im Gestus des Auto‐ biographischen  das  Subjekt  in  einer  Perspektive  zugänglich  wird,  die  gerade  für  eine  auf  Alterität  und  Differenz  ausgerichtete  kultura‐ listische  Zugangsweise  von  hoher  Bedeutung  ist.  David  Huddart,  ein  Schüler des Derridabiographen Geoffrey Bennington,23 hat eine postko‐ loniale  Theorie  der  Autobiographie  oder  besser  des  Autobiographi‐ schen  vorgelegt.24  Diese  ermöglicht  es  nach  Huddart,  Aussagen  von  ihrer  spezifischen  Kontextbindung  als  singuläre  und  partikulare  zu  interpretieren.  Gerade  dieser  Gestus  des  Autobiographischen  kommt  dem kulturalistischen und nicht universalistischen Zugang postkoloni‐ aler Theorie entgegen.25 Über das Autobiographische werde es möglich,  das (unbegriffene) Singuläre zu übersetzen und es in das (erschlossene)  Spezifische  zu  transformieren,  ohne  dass  diese  Differenz  zwischen  Singulärem und Spezifischem aufgehoben wird. So können Identitäten  in Relation zum Zeitpunkt und zum Kontext ihres Sprechens übersetzt  werden,  bleiben  aber  auf  ihren  bestimmten  Kontext  und  ihren  be‐ stimmten historischen Ort bezogen. Auf der Ebene der Theorie bleiben  diese Annahmen allerdings gleichfalls prekär, denn sie erfordern nach  Huddart  die  Einnahme  eines  „quasi‐transzendentalen“  Standpunkts,  der  aber  wiederum  nur  die  (schwache)  theoretische  Behauptung  auf‐ stelle,  dass  Theorien  und  Argumente  von  ihrer  autobiographischen  Situation  und  Position  bestimmt  seien  („that  theories  are  absolutely  determined by autobiographical situation or position.“).26 So erfährt die  Frage  nach  dem  Subjekt  in  der  Autobiographie  eine  relationale  Ant‐ wort.  Sie  wird  zur  Frage  nach  dem  Standpunkt  des  Sprechens  („situated“),  nach  dem  Referenzrahmen  des  Deutungsanspruchs  („context“)  und  nach  der  Konstitution  der  Gemeinschaft  („communi‐ ty“), die diese – je nach Gestus des autobiographischen Schreibens oder  Sprechens  –  subjektiven  Wahrheiten  oder  inszenierten  Maskeraden 

                         

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denen  ohne  Klassenbewusstsein,  LB]  –  bei  anderen  persönlichen  Konstellationen  –  geradezu  auch  in  der  sozialistischen  Arbeiterbewegung  hätten  ihren  Platz  finden  können“  (415).  Die  Autobiographie  in  diesem  bürgerlichen  Sinne  erscheint  als  eine  entpolitisierende Literaturgattung.  J.  Derrida.  Ein  Portrait  von  Geoffrey  Bennington  und  Jacques  Derrida,  Frankfurt  1994.  D.  Huddart,  Postcolonial  Theory  and  Autobiography,  (Routledge  research  in  postcolonial literatures 20), London 2008.  Huddart, Theory, S. 170f.  Huddart, Theory, S. 171. 

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aufzunehmen  gewillt  ist.  Diese  relationale  und  dezentrierende  Frage‐ stellung  ermöglicht  es,  autobiographische  Texte  transepochal  und  transkulturell  zu  untersuchen,  weil  sie  den  Blick  dafür  schärft,  dass  Selbstzeugnisse  den  Horizont  des  Individuellen  überschreiten  und  neue Sichtweisen auf die Gesellschaft, aus der sie stammen und auf die  sie sich beziehen, eröffnen.27 

1.2  Die religiöse Autobiographie  In der gegenwärtigen Debatte hat die religiöse Autobiographie keinen  leichten Stand. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive steht religi‐ öses  Schreiben  unter  einem  schlechten  Stern.  Gass  formuliert  das  pointiert:   „Sacred books are as dangerous as snakes, but what makes them particu‐ larly poisonous is their sophisticated methods of argument and consequent  abandonment of reason, their rejection of testing and debate, and their im‐ plicit disparagement of experience, since they, not life as lived, contain all  that really needs to be known. … And so it came to pass that poets, play‐ wrights, and novelists became the enemies of God because they had their  genius,  were  inspired,  revealed  the  truth  in  rhymes  and  stories,  and  in‐ vented icons, like Hamlet and Madame Bovary, around whom thought re‐ volved as around a complex living being.“28 

Die  Feindseligkeit  gegenüber  literarischen  Werken,  in  denen  die  Religion  zu  dominieren  beginnt  und  „heilige  Bücher“  hervorbringt,  wird  selten  so  deutlich  ausgesprochen.  Die  von  Gass  genannten  Vor‐ behalte  betreffen  auch  die  religiöse  Autobiographie.  Für  Misch  waren  die  confessiones  des  Augustinus  noch  die  erste  Autobiographie  über‐ haupt.  Die  Literaturwissenschaft  der  Gegenwart  hingegen  folgt  eher 

                          27   C. Ulbrich / H. Medick / A. Schaser (Hg.), Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle  Perspektiven, (Selbstzeugnisse der Neuzeit 20), Köln/Weimar/Wien 2012, S. 5.  28   W. H. Gass, Sacred Texts, in: ders., The Writer and Religion, Carbondale 2000, S. 1– 10,  hier  S.  9f.  Übers.  L.B.:  „Heilige  Bücher  sind  so  gefährlich  wie  Schlangen,  aber,  was  sie  speziell  vergiftet,  sind  ihre  ausgefeilten  Methoden  der  Argumentation  und  der konsequenten Abwendung von der Vernunft, ihre Ablehnung von Überprüfung  und Diskussion, schließlich ihre implizite Geringschätzung der Erfahrung, denn sie  geben  vor,  im  Gegensatz  zum  wirklichen  Leben  alles  das  bereits  zu  enthalten,  was  man  wirklich  wissen  sollte  …    Und  so  kam  es,  dass  Dichter,  Dramatiker  und  Ro‐ manciers  die  Feinde  Gottes  wurden,  denn  sie  hatten  ihren  eigenen  Genius,  waren  inspiriert, entdeckten die Wahrheit in Reimen und Geschichten, sie entwickelten pa‐ radigmatische  Ikonen,  wie  „Hamlet“  und  „Madame  Bovary“,  um  die  das  Denken  kreiste wie um ein vielschichtiges Lebewesen.“ 

Das autobiographische „Ich“ des Paulus 

 

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den  Überlegungen  von  Gass.  So  unterscheidet  Holdenried  zwischen  der  religiösen  Konversionsliteratur  und  der  Autobiographie.29  Die  Konversionsliteratur  sei  durch  eine  teleologische  Ausrichtung  be‐ stimmt,  lasse  das  authentisch  und  autonom  Individuelle,  das  für  die  Autobiographie  charakteristisch  sei,  zurücktreten  und  unterwerfe  sich  einer  heteronomen  Orientierung  an  den  Forderungen  religiöser  Dog‐ men.  Noch  kritischer  urteilt  Kulenkampff  über  religiöse  Elemente  in  der  Autobiographie.30  Sie  fordert,  dass  sich  wirkliches  autobiogra‐ phisches  Schreiben  von  „außerliterarischen,  dogmatisierenden  und  monologisierenden  Diskursen,  wie  sie  das  Schreiben  etwa  Augustins  determinierten“,  lösen  müsse,  um  in  einem  autonomen  Schreiben  das  „Streben  zu  Unabhängigkeit  auch  von  sich  selbst  und  dem  eigenen  Diskurs“ zu verwirklichen.  „Eine solche Unabhängigkeit schließt freilich den Besitz einer jeglichen Of‐ fenbarung aus, jedoch nicht das transitive Glück des augenblicklichen, un‐ darstellbaren und zutiefst intimen Erlebens.“31 

Diese Kritik wird durch die Arbeiten zur Autobiographie im Pietismus  gestützt.  Diese  Literatur  erweise  sich  als  konventionell,  schematisch  und  uninspiriert,32  was  für  Biographien  von  Männern  und  Frauen  gleichermaßen gelte.33  In  der  Theologie  gibt  es  ein  gewisses  Bemühen,  die  christliche   (Auto‐)biographik vor diesen Vorwürfen in Schutz zu nehmen. Walter  Sparn  entwickelte  eine  theologische  Theorie  des  Biographischen.  Die 

                          29   Holdenried,  Autobiographie,  S.  90:  „Von  der  neuzeitlichen  Autobiographik  unter‐ scheidet  sich  das  religiöse  Bekenntnis,  weil  es  wesentlich  auf  die  Gottesschau  zen‐ triert  ist  und  damit  zusammenhängend  die  Seelengeschichte  nicht  als  Entwick‐ lungsprozess auffasst,  sondern als Entelechie. Wo individuelles Erleben geschildert  wird,  steht  dies  funktional  im  Begründungszusammenhang  einer  Bekehrungsge‐ schichte.“ Holdenried (Autobiographie, S. 93) räumt den confessiones des Augustinus  immerhin  eine  Sonderstellung  ein.  Die  christliche  Autobiographik  sei  aber  diesem  Vorbild nicht gefolgt.  30   S. Kulenkampff, Schreiben nach Damaskus. Darstellung und Funktion von Ad‐hoc‐ Offenbarungen  in  autobiographischer  Prosa  von  Aurelius  Augustinus,  August  Hermann Francke, Jean Paul und Robert Musil, Krakow 1999, S. 308.  31   Ebd.  32   U.  Gleixner,  Pietismus  und  Bürgertum.  Eine  historische  Anthropologie  der  Fröm‐ migkeit. Württemberg 17.–19. Jahrhundert, (Bürgertum Neue Folge. Studien zur Zi‐ vilgesellschaft 2), Göttingen 2005; B. Mecking, Christliche Biographien. Beobachtun‐ gen zur Trivialisierung in der Erbauungsliteratur, (EHS 23;197), Frankfurt am Main  [u.a.] 1983.  33   E.  Kormann,  Ich,  Welt  und  Gott:  Autobiographik  im  17.  Jahrhundert,  Köln  2004  (Selbstzeugnisse der Neuzeit 13), S. 300. 

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christliche  Biographie  weite  die  für  die  Autobiographie  konstitutive  Selbstbeziehung  des  Autors  um  die  Gottesbeziehung  zu  einer  Triade  aus. Ähnlich hatte schon Misch zu Paulus´ autobiographischen Schrei‐ ben notiert, dass die Christusmystik des Apostels „in die Einzelexistenz  eine  jenseitige  Struktur“  brachte.34  Die  christliche  Biographie  ist  nach  Sparn  also  dadurch  bestimmt,  dass  sie  das  Selbstverhältnis  zwischen  „Ich“  und  „Mich“  um  das  Gottesverhältnis  ausweitet  und  so  eine  „dreistellige  Relation“  erreicht.35  Das  Weltverhältnis  der  christlichen  Biographie sei aufgrund dieses Gottesverhältnisses durch eine „ontolo‐ gische  Instabilität“  gekennzeichnet,  die  es  unmöglich  mache,  eine  starke Identität auszubilden und einen „Helden“ zu kreieren. So werde  die  Nicht‐Identität  zwischen  „Ich“  und  „Mich“,  die  für  das  Selbstver‐ hältnis der Biographie charakteristisch sei, einerseits durch das Gottes‐ verhältnis  potenziert,  andererseits  aber  dadurch  reduziert,  dass  man  die  Frömmigkeit  als  den  Ort,  an  dem  sich  die  genannte  dreistellige  Relation von Ich, Mich und Gott ereigne, in den Mittelpunkt rücke. Die  christliche Biographie nehme damit die Identität, die durch das Selbst‐ verhältnis  des  Christen  gegeben  ist,  und  die  Alterität,  die  durch  die  durch Christus vermittelte Gottesbeziehung bestimmt ist, zugleich auf:   „Ein  Christ  ist  er  [d.i.  das  durch  „Frömmigkeit“  charakterisierte  Indivi‐ duum,  L.B.]  selbst  gerade  in  der  Differenz  zu  sich  selbst,  nämlich  durch  sein Sein in Christo.“36 

Für  das  fragmentarische  autobiographische  Schreiben  des  Paulus  bedeute  das,  dass  das  paulinische  ὡς  μή  „Als‐ob‐nicht“  (1  Kor  7,29f;   2 Kor 6,9) als Ausdruck der ontologischen Instabilität der paulinischen  Identität anthropologisch und hermeneutisch leitend sein solle. Paulus  habe  sich  in  seinen  autobiographischen  Passagen  nicht  als  „Held“  vorgestellt,  er  habe  sich  keinen  „Namen“  gemacht.  Vielmehr  habe  er  auf  die  Kraft  Gottes  verwiesen,  die  in  ihm  als  dem  „Schwachen“  und  „Nicht‐Held“ wirksam sei, und habe seinen „Namen“ in der Gottesbe‐ ziehung empfangen. Nach diesem Vorbild habe die christliche Biogra‐ phie von der Kraft Gottes zu berichten, die in den Schwachen mächtig  werde (2 Kor 12,9).  In  einer  theologischen  Perspektive  leuchtet  die  Ausweitung  des  Selbstverhältnisses  durch  das  Gottesverhältnis  ein.  In  einer  nichttheo‐ logischen  Perspektive  erscheint  die  von  Sparn  behauptete  „ontologi‐

                          34   G.  Misch,  Geschichte  der  Autobiographie  1.  Das  Altertum,  Leipzig/Berlin  1907,  S.  331.  35   Sparn, Einführung, S. 25–27.  36   Sparn, Einführung, S. 27. 

Das autobiographische „Ich“ des Paulus 

 

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sche Instabilität“ der christlichen Identität aber gerade als dogmatische  Fixierung  und  als  „heterologe  Selbstkonstitution“.  Die  christliche  Biographie  gilt  als uninspiriert,  weil  sich  allzu  oft  in  ihrer  Explikation  des  Gottesverhältnisses  weniger  eine  authentische  und  autonom  auf‐ tretende  Individualität  als  vielmehr  eine  schematisierte  und  hetero‐ nome Persönlichkeit spiegelt. Allzu selten setze sie sich den Erfahrun‐ gen  aus,  die  mit  dem  gelebten  Leben  gegeben  sind,  und  nur  selten  vermag  sie  paradigmatische  Persönlichkeiten  zu  entwickeln,  um  die  das Denken zu kreisen beginnt.37  Es  gibt  zahlreiche  Beispiele  christlicher  Biographien,  die  diesen  Vorwurf  bestätigen.38  Die  solchermaßen  christliche  Biographie  erweist  sich als affirmativ und findet nur bei denen Aufmerksamkeit, die diese  Affirmation  suchen.  Erst  der  Verstoß  gegen  die  genannte  Erwartung  führt  dazu,  dass  die  Biographie  auch  außerhalb  des  Kreises  der  Affir‐ mation  suchenden  Anhänger  interessant  wird.  Während  Demut,  Hin‐ gabe  und  Gehorsam  als  heteronome  Vereinnahmung  empfunden  werden,  gelten  Zweifel,  Widerspruch  und  Protest  als  Ausdruck  von  Authentizität  und  Autonomie.  Die  christliche  Biographie  löst  diese  Autonomie‐Heteronomie  Spannung  nur  für  sich,  nicht  aber  für  den  nichttheologischen  oder  nichtreligiösen  Betrachter.  Sie  sitzt  dadurch  fest in der Heteronomie / Autonomiefalle. Das gilt nebenbei erwähnt in  ähnlicher Weise für die jüdische wie für die islamische und letztlich für  jede religiöse (Auto‐)biographie.39  Die  von  Sparn  für  die  christliche  Biographie  und  Autobiographie  postulierte  „potenzierte“  ontologische  Instabilität  und  Nicht‐Identität,  die er als Eigenschaften einer christlichen Biographie ansieht, überzeu‐ gen  auch  deswegen  nicht,  weil  die  Anschauung  fehlt.  Die  christliche  (Auto‐)biographie  tritt  doch  ganz  überwiegend  als  ein  „Hineinschrei‐ ben“  in  ein  Schema  christlicher  Existenz  auf,  in  dessen  Vollzug  die  Verschmelzung zwischen dem der Erlösung bedürftigen Ich mit der die  Erlösung gewährenden himmlischen Ökonomie zu einer Vergleichgül‐ tigung,  ja  geradezu  Auslöschung  der  individuellen  Existenz  führt.  Dieser Sachverhalt wird von der Literaturwissenschaft als heteronome  Dogmatisierung wahrgenommen. Der Ausweg, den Sparn hier im Sinn 

                          37   Gass, Sacred Texts, S. 10.  38   Vgl. die angeführten Beispiele bei: Mecking, Christliche Biographien.  39   M. Stanislawski, Autobiographical Jews. Essays in Jewish Self‐Fashioning, Washing‐ ton 2004, S. 31: Das Grundproblem jüdischer Existenz („constituent dilemma“) sei es,  zu  entscheiden,  in  welcher  Weise  man  den  Forderungen  der  Welt  und  den  Forde‐ rungen Gottes folge. 

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zu haben scheint, ist die Explikation der Frömmigkeit, unter der er so  etwas  wie  das  Erleben  und  Gestalten  der  religiösen  Subjektivität  ver‐ steht,  die  sich  im  Gebet  oder  in  der  Beichte  vollziehen.  Damit  spricht  Sparn  neben  der  durch  die  christliche/religiöse  (Auto‐)biographie  uneingelösten  Erwartung  an  Nicht‐Identität  und  Instabilität  des  Ichs  eine weitere Forderung aus, die in eine Sackgasse führt. Die so verstan‐ dene Frömmigkeit ist doch eine dominant individuelle, subjektive und  letztlich  bürgerliche  Frömmigkeit.  Sie  bleibt  unanschaulich,  weil  ihr  Weltbezug reduziert wird auf religiöse Praktiken im engeren Sinn. Eine  christliche  (Auto‐)biographie,  die  die  Humanität  zu  kommunizieren  vermag,  die  mit  der  Gottesbeziehung  und  der  Gottesebenbildlichkeit  des Menschen zum Ausdruck gebracht wird, sollte den Weltbezug, die  Sozialität  und  die  ethisch‐politische  Verantwortung  in  gleicher  Weise  thematisieren  und  die  von  Sparn  zu  Recht  hervorgehobenen  Sachver‐ halte  der  Nicht‐Identität  und  Instabilität  des  Ichs  in  diesen  Bezügen  von  Situation  („situated“),  Kontext  („context“)  und  Gemeinschaft  („community“)  explizieren,  und  das  heißt  erzählen.  Die  ontologische  Instabilität  der  christlichen  oder  religiösen  (Auto‐)biographie  hat  sich  nicht  nur  in  der  subjektiv  selbstreflexiven  Frömmigkeitsgeschichte  zu  erweisen, sondern mit gleicher Intensität im Weltverhältnis und in der  Politisierung  eines  durch  die  Gottesbeziehung  an  Autonomie  und  Humanität  gewinnenden  Subjekts.  Die  Geschichte  der  christlichen  (Auto‐)biographie  bietet  zwei  Beispiele,  in  denen  sich  so  etwas  im  Ansatz  verwirklicht  findet:  die  confessiones  des  Augustinus  und  die  autobiographischen Passagen des Paulus.40     

 

2. Autobiographische Passagen in den Paulusbriefen  2.1 Das „Ich“ des Paulus und die antike Briefliteratur 

Die  erhaltene  antike  Briefliteratur  lässt  sich  mit  White  grob  in  drei  Gruppen  einteilen:  1.  die  dokumentarischen  Briefe  mit  urkundlichem  Charakter („royal [diplomatic] letters“), 2. die literarischen Briefe („lite‐ rary  letters“)  und  3.  die  nicht‐literarischen  Briefe  („non‐literary  let‐

                          40   L.  Bormann,  Augustinus.  Bekenntnisse,  in:  Weltliteratur  –  Eine  Braunschweiger  Vorlesung, (Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur 7), hg. v.  R. Stauf u. C.‐F. Berghahn, Bielefeld 2004, S. 25–41; ders., Autobiographische Fiktio‐ nalität  bei  Paulus,  in:  E.‐M.  Becker  /  P.  Pilhofer,  Biographie  und  Persönlichkeit  des  Paulus, Tübingen 2005 (WUNT 187), S. 106–124. 

Das autobiographische „Ich“ des Paulus 

 

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ters“).41  Die  erste  Gruppe,  die  dokumentarischen  Briefe,  umfasst  zum  einen die Dekrete und Edikte von Königen, Statthaltern und Caesaren,  die  in  Briefform  abgefasst  wurden,  und  in  ihrer  inschriftlichen  Form  erhalten  geblieben  sind.  Diese  Rechtstexte  wurden  in  Stein  gehauen  oder  in  Bronze  gegossen  und  an  den  zentralen  Orten  der  jeweiligen  Rechtsgemeinschaft, in der Regel an einem Tempel oder an einer Stätte  für die Ratsversammlung (curia; βουλή) angebracht. Viele dieser Texte  sind dann in die Literatur eingegangen und so überliefert worden, etwa  bei Josephus, der im 14. Buch seiner Antiquitates derartige Inschriften  mit Rechtsprivilegien jüdischer Bürger in der Diaspora zitiert.42  Neben  diesen  offiziellen  Rechtsdokumenten,  die  als  Urkunden  in  Briefform  zu  verstehen  sind,  sind  uns  die  literarischen  Briefwechsel  insbesondere der Angehörigen der römischen Elite erhalten geblieben,  zu nennen sind hier Cicero, Seneca und Plinius. Diese Briefe sind eine  Form  literarischen  Schreibens,  da  sie  überwiegend  für  die  Veröffentli‐ chung vorgesehen waren.43  Schließlich gibt es die Flut der auf Papyrus erhaltenen Alltags‐ und  Gelegenheitsschreiben der einfachen Bevölkerung, die meist nicht von  den  Absendern  selbst,  sondern  von  professionellen  Schreibern  verfer‐ tigt  worden  sind.  Nur  selten  sind  kleinere  Briefarchive  von  Schrift‐ wechseln erhalten, die einen Sachverhalt und die mit ihm verbundenen  Persönlichkeiten etwas plastischer hervortreten lassen.44 Kuhlmann hat  sich  jüngst  mit  den  autobiographischen  Passagen  in  den  privaten  Papyrusbriefen,  die  er  „antike  Ego‐Dokumente  auf  Papyri“  nennt,  befasst.45 Im Privatbrief fehle die „retrospektive Gesamtschau“ (109), es  dominiere  die  „Formelhaftigkeit“  (118–120),  die  Masse  der  Briefe  be‐ sitze  nur  relativ  wenig  „nennenswerten  individuellen  Informationsge‐ halt“  (119)  und  schließlich  seien  diese  Briefe  Zeugnisse  einer  durch  Konventionen und Rituale bestimmten Gesellschaft (120).  

                          41   J. L. White, Light from Ancient Letters, Philadelphia 1986, S. 3.  42   Z.B.  Jos  AJ  XII  148–153,  XIV  186ff.,  XVI  174ff.  Das  Verhältnis  von  Faktualität  und  Fiktionalität  der  Texte,  die  Josephus  überliefert,  ist  Gegenstand  wissenschaftlicher  Debatten:  U.  Baumann,  Rom  und  die  Juden,  Frankfurt  u.a.O.  21986,  S.  69–87;  J.  D.  Gauger,  Beiträge  zur  jüdischen  Apologetik,  (BBB  49),  Köln/Bonn  1977,  S.  3,  11  u.  329–334.  43   Plin. Ep. 1,1.  44   U.  und  D.  Hagedorn  /  L.  C.  und  H.  C.  Youtie,  Das  Archiv  des  Petaus  (P.  Petaus),  Köln 1969 (PapyCol IV).  45   P.  Kuhlmann,  Autobiographische  Zeugnisse  auf  Papyri.  Einblicke  in  die  antike  Alltagskultur,  in:  M.  Reichel  (Hg.),  Antike  Autobiographien.  Werke  –  Epochen  –  Gattungen, (Europäische Geschichtsdarstellungen 5), Köln 2005, S. 109–121. 

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Vor  dieser  nüchternen  Skizze  der  antiken  Briefliteratur  erscheinen  die  Briefe  des  Paulus  als  einzigartige  Dokumente.  Sie  haben  eine  ge‐ wisse  Nähe  zum  antiken  Privatbrief,  Formelhaftigkeit  und  Konventio‐ nen  begegnen  in  ihnen  auch,  aber  die  negativen  Zuschreibungen,  fehlende  retrospektive  Gesamtschau  und  fehlender  individueller  Informationsgehalt,  treffen  auf  die  Briefe  des  Paulus  kaum  zu.  Als  authentische  Dokumente  eines  antiken  Menschen,  der  weder  als  Mit‐ glied der Elite schreibt noch Alltagsangelegenheiten verarbeitet, stehen  die  Briefe  des  Paulus  recht  alleine  da.  Es  sind  Schreiben  eines  Men‐ schen,  der  durch  drei  Handlungsweisen  charakterisiert  ist:  Er  tritt  als  aktiver  Vertreter  einer  religiösen  Gemeinschaft  auf,  er  erläutert  den  Kern  seines  religiösen  Anliegens  und  thematisiert  die  Konflikte  einfa‐ cher  Männer  und  Frauen  dieser  Gemeinschaft.  Aufgrund  dieser  hier  nur knapp umrissenen Originalität und Singularität stellen die Paulus‐ briefe eine Besonderheit antiken Schreibens dar. Sie geben uns Einblick  in  die  Welt  einfacher  Männer  und  Frauen.  Neben  dieser  sozialen  und  historischen Besonderheit fällt weiterhin auf, dass uns in diesen Texten  ein „Ich“ entgegentritt, das sich selbst zum Gegenstand des Schreibens  macht.  Eugen  Biser  urteilt:  „Keiner  sagte  vor  ihm  auf  eine  derart  em‐ phatische Weise ‚Ich‘ wie er.“46 Mit einem gewissen Überschwang führt  Biser weiter aus, mit Paulus beginne „lange vor Descartes und Augus‐ tin, den Harnack ‚den ersten modernen Menschen‘ nannte, das Zeital‐ ter der Subjektivität.“47     

2.2 Das „Ich“ des Paulus und das Politische  Im  „Ich“  der  Paulusbriefe  begegnet  uns  das  „Ich“  eines  Angehörigen  einer  sozialen,  religiösen  und  kulturellen  Klasse,  von  der  uns  sonst  keine Stimme erhalten geblieben ist. Mit dem „Ich“ des Paulus ist noch  dazu  eine  Stimme  erhalten,  die  sowohl  kraftvoll  als  auch  sensibel  zu  erklingen  vermag,  die  poetisch,48  narrativ,  autobiographisch  und  ge‐ schäftlich verbindlich sprechen kann, die den Fluch wie den Segen be‐ herrscht,  und  die  schließlich  immer  wieder  auf  die  magisch‐symbo‐ lische  Visualität  der  Schrift  aufmerksam  macht:  „Seht,  mit  welch  gro‐ ßen Buchstaben ich euch mit eigener Hand schreibe!“49 oder „Wer hat 

                          46   47   48   49  

E. Biser, Paulus. Zeuge, Mystiker, Vordenker, München 1992, S. 168.  Biser, Paulus, S. 85.  1 Kor 13; Röm 8,31f.35.37ff; 2 Kor 6,3–10; 1 Kor 11,23–31.  Gal 6,11; vgl. 1 Kor 16,21 (=Kol 4,18); Phlm 19. 

Das autobiographische „Ich“ des Paulus 

 

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euch verhext, euch, vor deren Augen ich Jesus Christus als Gekreuzig‐ ten hingemalt habe?“50  Trotz  dieser  unverwechselbaren  Individualität  des  Ausdrucks  ist  das „Ich“ der Paulusbriefe kein neuzeitliches „Ich“ im Sinne Descartes.  Das „Ich“ ist nicht der archimedische Punkt, von dem her die Möglich‐ keit  von  Erkenntnis  überhaupt  abgeleitet  wird.  Subjektivität  und  Selbstbewusstsein  sind  zwar  längst  bei  Platon  und  Aristoteles  Gegen‐ stand  des  philosophischen  Begreifens,51  das  „Ich“  wird  aber  in  der  „Seele“ verortet. Diese „Seele“ wurde durch die Mischung der vier Ur‐ Elemente  gebildet,  die  selbst  wiederum  die  („ontische“)  Grundlage  allen Seins sind.52 Die Seele und damit das Ich sind demnach wesenhaft  mit der Welt verbunden und werden nicht wie seit der Neuzeit als „das  ganz  Andere“  verstanden,  das  „in  kritischer  Zurückgezogenheit  der  Welt gegenübersteht“.53  Inwieweit  Paulus  dieses  „essentialistische“  Denken  der  hellenistischen  Philosophie  teilte,  nach  dem  Seele  und  Kosmos  wesenhaft  materiell  miteinander  verbunden  sind,  ist  nicht  einfach  zu  beantworten.  Sicher  ist  aber,  dass  Schöpfungsgedanke  und  Elementenlehre  im  ersten  Jahrhundert  nicht  als  Gegensätze  aufgefasst  wurden.  Die  jüdische  Religionsphilosophie  hatte  längst  die  Überzeu‐ gung entwickelt, dass die Annahmen des Pythagoras und Platons über  die Entstehung der Welt mit den Angaben der Mosetora übereinstimm‐ ten,  ja  ihnen  entnommen  seien.54  So  gelten  Philo  von  Alexandrien  der  Schöpfungsbericht  der  Genesis  und  die  platonisch‐neupythagoreische  Schöpfungslehre als weitgehend identisch.55 Hellenistische Philosophie 

                          50   Gal 3,1.  51   K. Oehler, Subjektivität und Selbstbewusstsein in der Antike, Würzburg 1996, S. 11  u. 15f.  52   Plat. Tim.  53   Oehler, Subjektivität, S. 29f: „Der soeben berührte Punkt, daß das Selbstbewußtsein  des  Menschen  für  Platon  und  Aristoteles  noch  nicht  als  das  ganz  Andere  in  kriti‐ scher  Zurückgezogenheit  der  Welt  gegenübersteht,  sondern  als  inmitten  der  Welt  sich ereignend gedacht wird und die Seele als das belebende Prinzip des Körpers in  bestimmtem Betracht selber als ein Element der Natur gesehen wird, mit dem man  das  Phänomen  des  Organischen,  des  Lebens  und  aller  seiner  Ausdrucksformen  zu  erklären  versucht,  war  für  den  Aspekt,  unter  dem  man  auch  die  Bewußtseinsvor‐ gänge untersuchte, von ganz entscheidender Bedeutung und erklärt am besten den  für den modernen Betrachter so auffälligen Außenaspekt der Betrachtungsweise der  klassischen griechischen Erkenntnistheorie.“  54   Aristobul, F 3, 1 (Euseb. praep. XIII 12,1).  55   D.  T.  Runia,  Philo  of  Alexandria  and  the  „Timaeus”  of  Plato,  (Philosophia  antiqua  44),  Leiden  1986,  S.  524:  Für  Philo  und  die  Kirchenväter  galt  der  Timaeus  als  „a  trump card for the view that scripture and Greek philosophy were not in irreconcil‐

 

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und jüdische Religionsphilosophie stimmen in dem Gedanken überein,  dass  die  Verbindung  zwischen  Individuum  und  Welt  durch  eine  we‐ senhafte  Gemeinsamkeit  gegeben  ist,  die  es  erlaubt,  von  der  Beschaf‐ fenheit der Welt auf die des Individuums zu schließen.   Auch das „Ich“ des Paulus sieht sich auf eine grundsätzliche Weise  mit der Welt verbunden. Paulus betont allerdings nicht wie die antike  Philosophie,  dass  Seele  und  Welt  über  die  gemeinsame  materielle  Beschaffenheit  aus  den  Urelementen  miteinander  verbunden  seien,56  sondern  er  greift,  um  das  Verhältnis  von  Welt  und  Individuum  zum  Ausdruck  zu  bringen,  den  Schöpfungsgedanken  auf.  Als  Geschöpf  Gottes, dessen Existenz auf die gleiche Schöpferkraft Gottes zurückgeht  wie  die  Welt  als  Schöpfung,  steht  das  „Ich“  des  Paulus  in  Beziehung  zur Welt und zu Gott. Es ist der kreative Schöpfungsakt, der der Welt  und  dem  „Ich“  in  differenzierter  Weise  das  Sein  zuspricht  (creatio  prima)  und  es  beständig  sichert  (creatio  continua).  Paulus  schließt  etwa  in  Röm  1–3  von  der  Verfasstheit  der  Welt  als  Schöpfung  auf  die  Ver‐ fasstheit des Individuums als Geschöpf. Wie der Beter, der sich durch  den Gebetsruf „Abba“, „Vater“ als ein Kind Gottes erweist, das aus der  Sklaverei  in  die  Freiheit  getreten  ist  (Röm  8,15),  so  seufzt  mit  diesen  betenden  und  seufzenden  Kindern  Gottes  auch  die  Schöpfung,  wenn  auch  unartikuliert  (Röm  8,19–22).  Diese  sachliche  Gemeinsamkeit  zwischen  „Ich“,  „Wir“  und  Schöpfung  schließt  Autonomie,  Freiheit  und  Selbstreflexivität  des  „Ich“  als  Subjekt  nicht  aus,  diese  sind  aber  nicht  der  isolierte  Ausgangspunkt  von  Erkenntnis  überhaupt.  Erst  Descartes  bringt  die  Wende  zu  jener  Form  neuzeitlicher  Subjektivität.  Diese wird für das moderne Verständnis der Autobiographie grundle‐ gend.  In  der  Autobiographie  erzählt  das  autonome  Ich  und  durch  dessen  subjektive  Wahrnehmung  erschließt  sich  die  Welt  überhaupt  erst.  Ein  solches  individuell‐autonomes  Ich  kennt  Paulus  nicht.  Er  selbst stellt sich in die Reihe der Kinder Gottes („wir“) und lässt deren  Gebetsruf  „Abba“,  „Vater“  gemeinsam  mit  und  in  Analogie  zum  Seufzen der Schöpfung erklingen.   Röm 8,21f: „Auch die Schöpfung selbst wird von der zerstörerischen Skla‐ verei  befreit  werden  hin  zur  herrlichen  Freiheit  der  Kinder  Gottes.  Denn  wir wissen wohl, dass die ganze Schöpfung stöhnt und Schmerzen erleidet  wie unter Wehen bis heute.“ 

                          able conflict.” Vgl. J. Pelikan, What has Athens to do with Jerusalem? Timaeus and  Genesis in Counterpoint, (Jerome Lectures 21), Michigan 1997, S. 67–87.  56   Siehe die paulinische Kritik an der Orientierung nach den Elementen (στοιχεῖα τοῦ  κόσμου) in Gal 4,3.9; vgl. Kol 2,8. 

Das autobiographische „Ich“ des Paulus 

 

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Vor dem Hintergrund dieser Verbindung von Ich, Wir und Schöpfung  erklingt  ein  deutlich  vernehmbares  autobiographisches  „Ich“  des  Paulus.  Die  autobiographisch  relevanten  Stellen  in  den  Paulusbriefen  sind  mehrfach,  weitgehend  übereinstimmend,  zusammengestellt  wor‐ den.57  Die  theologisch  orientierte  Exegese  neigt  zu  der  Ansicht,  dass  sich  das  paulinische  „Ich“  durch  die  Christusbeziehung  konstituiere.58  Diese  Identifikation  werde  von  Paulus  als  μίμησις,  Nachahmung  bezeichnet.59  In der Interpretation der paulinischen Mimesis gibt es nun aber un‐ terschiedliche  Positionen.  Michaelis  sieht  in  der  paulinischen  Mimesis  einen  Akt  des  „Gehorsams“.60  Betz  stellt  heraus,  dass  mit  Hilfe  der  Mimesis‐Begrifflichkeit  die  Nachfolgeforderung  Jesu,  wie  sie  die  Sy‐ noptiker  überliefern,  durch  eine  Nachahmungsforderung  ersetzt  wer‐ de.61  Diese  leite  sich  wesentlich aus  den Mysterienreligionen ab,  über‐ schreite aber deren Begrenzung auf das Nacherleben des Mythos in der  Initiation.  Die  paulinische  Mimesis  betone  das  extra  nos  des  Glaubens  und  ermögliche  die  eschatologische  Existenz.  Ähnlich  sieht  es  Otto  Merk,  der  zwar  die  ethische  Komponente  zumindest  mit  einbezieht,  aber doch letztlich ebenfalls in der Mimesis die Begründung der durch  das  Kerygma  ins  Leben  gerufenen  eschatologischen  Existenz  sieht.62  Die  ethische  Komponente  rückt  dann  bei  Thomas  Söding  in  den  Vor‐ dergrund. Für ihn ist die paulinische Mimesis ein „hingegebenes Sich‐

                          57   E.‐M.  Becker,  Autobiographisches  bei  Paulus.  Aspekte  und  Aufgaben,  in:  E.‐M.  Becker / P. Pilhofer, Biographie und Persönlichkeit des Paulus, (WUNT 187), Tübin‐ gen 2005, S. 67–87, hier S. 81–85; O. Wischmeyer, Paulus als Ich‐Erzähler. Ein Beitrag  zu  seiner  Person,  seiner  Biographie  und  seiner  Theologie,  in:  Becker  /  Pilhofer,  a.a.O.,  S.  88‐105,  hier  S.  94–102;  L.  Bormann,  Autobiographische  Fiktionalität  bei  Paulus, in: Becker / Pilhofer, a.a.O., S. 106–124, hier S. 109–113.  58   Bormann, Fiktionalität, S. 123.  59   Zur  Terminologie:  μίμησις  selbst  fehlt,  aber  (συμ‐)μιμητής  in  1  Thess  1,6:  ὑμεῖς  μιμηταὶ  ἡμῶν  ἐγενήθητε  καὶ  τοῦ  κυρίου;  2,14:  ὑμεῖς  γὰρ  μιμηταὶ  ἐγενήθητε,  ἀδελφοί,  τῶν  ἐκκλησιῶν  τοῦ  ϑεοῦ  τῶν  οὐσῶν  ἐν  τῇ  ᾿Ιουδαίᾳ  ἐν  Χριστῷ  ᾿Ιησοῦ;  Phil 3,17: συμμιμηταί; 1 Kor 4,16: μιμηταί μου γίνεσθε; 11,1: μιμηταί μου γίνεσθε  καθὼς κἀγὼ Χριστοῦ; vgl. Eph 5,1.  60   Michaelis, Art. μιμέομαι, in: ThWNT IV (1942), S. 661–678, hier S. 670.  61   H.  D.  Betz,  Nachfolge  und  Nachahmung  Jesu  Christi  im  Neuen  Testament,  Tübin‐ gen 1967, S. 186f.  62   O.  Merk,  Nachahmung  Christi.  Zu  ethischen  Perspektiven  in  der  paulinischen  Theologie, in: Wissenschaftsgeschichte und Exegese, R. Gebauer (Hg.), Berlin / New  York 1998, S. 302–336, hier S. 333–336. 

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Bestimmen‐Lassen  vom  auferweckten  Kyrios“.63  Mimesis  meine  den  ethischen  Vollzug  christlichen  Lebens.64  Castelli  wiederum  analysiert  die  Mimesis‐Terminologie  auf  der  Basis  der  Machttheorie  Foucaults.65  Paulus  führe  einen  Machtdiskurs  („strategy  of  power“).  Die  paulini‐ sche  Mimesisvorstellung  verweise  nicht  direkt  auf  die  imitatio  Christi,  sondern sei vielmehr an die autoritativ geforderte imitatio Pauli gebun‐ den.  Die  paulinische  Aufforderung  der  Mimesis  richte  sich  an  die  Gemeinde, die ihn, Paulus, nachahmen sollten, wie er wiederum Chris‐ tus  nachahme.  Paulus  insistiere  darauf,  dass  er  allein  das  Vorbild  sei,  zu dem man nicht in Differenz treten dürfe und das es vielmehr nach‐ zuahmen gelte.66 So produziere er dominant Identität („sameness“), die  es ihm erlaube in der Kirche die Macht inne zu haben.67   Castellis  Position  steht  im  Ergebnis  der  Sichtweise  Klaus  Bergers  nahe. Nach Berger regierte Paulus seine Gemeinden wie ein „antike(r)  Zentralherrscher“.68  Wie  so  oft  in  der  Paulusforschung  bestätigen  sich  radikal  kritische  und  pointiert  konservative  Deutungen  gegenseitig.  Beide stilisieren gerne einen autoritären Paulus, die einen um kritisch,  die  anderen  um  affirmativ  argumentieren  zu  können.  Beide  Zugangs‐ weisen verfehlen allerdings das Politische, das sich in den Schriften des  Paulus zeigt. Sie richten ihre Kritik auf den falschen Gegenstand, wenn  sie den dominanten Gestus des Paulus als solchen in den Mittelpunkt  rücken, ohne die politische Qualität dieser Pose zu reflektieren.69  Die drei genannten Interpretationen der Mimesis‐Terminologie bei  Paulus, die religionsgeschichtliche, die ethische und die autoritäre, be‐ wegen  sich  weitgehend  in  einem  begriffsgeschichtlichen  oder  theorie‐

                          63   T.  Söding,  Das  Liebesgebot  bei  Paulus.  Die  Mahnung  zur  Agape  im  Rahmen  der  paulinischen Ethik, Münster 1995, S. 123.  64   Ähnlich J. Ringleben, Mimesis und Agape. Imitatio Christi als die christliche Kunst  der Liebe, in: G. Koch (Hg.) Die Mimesis und ihre Künste, München 2010, S. 77–90,  hier S. 89: „Die Kunst der imitatio Christi – das ist die christlich verfasste ars armandi.“  65   E. A. Castelli, Imitating Paul. A Discourse of Power, Louisville 1991, S. 15.   66   Castelli, Imitating, S. 15.  67   Castelli, Imitating, S. 119: „The erasure of difference through the call to imitation is,  as we have seen, a pragmatic and conceptual part of Paul´s consolidation of his ap‐ ostolic authority. By promoting the value of sameness he is also shaping relations of  power.”  68   K.  Berger,  Hellenistische  Gattungen  im  NT,  in:  ANRW  II  25,2  (1984),  S.  1031–1432,  hier S. 1334.  69   Wie  Affirmation  und  Kritik  sich  gegenseitig  bestätigen  und  paralysieren  können,  wenn sie sich auf den falschen politischen Gegenstand richten, zeigt z.B. E. Vollrath,  Was  ist  das  Politische?  Eine  Theorie  des  Politischen  und  seiner  Wahrnehmung,  Würzburg 2003, S. 195. 

Das autobiographische „Ich“ des Paulus 

 

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geleiteten Kontext, der die sozial‐ und kulturgeschichtliche Dimension  der paulinischen Mimesis nur wenig beachtet und der zudem die Situ‐ ation,  den  Kontext  und  die  Gemeinschaft,  welche  die  besondere  Sprechsituation  des  Paulus  bestimmen,  weitgehend  ignoriert.  Wenn  autobiographisches  Sprechen  durch  Situation,  Kontext  und  Gemein‐ schaft  determiniert  ist,  dann  ist  nicht  der  Gestus  als  solcher,  die  Pose  des  „Ichs“,  der  Gegenstand  der  Kritik  und  der  Analyse.  Vielmehr  gilt  es die Qualität des Politischen freizulegen, die der Gestus des Autobio‐ graphischen  in  der  Konstellation  aus  Situation,  Kontext  und  Gemein‐ schaft hervorbringt.  Hinsichtlich  der  Mimesis‐Terminologie  hat  Hans  Windisch  wich‐ tige Überlegungen angestoßen,70 denen andere, etwa Dieter Georgi und  Lawrence Welborn, gefolgt sind.71 Die paulinische Mimesis sei in Bezie‐ hung zum zeitgenössischen Mimus zu interpretieren, dessen Populari‐ tät  gerade  auch  auf  der  durch  ihn  möglichen  Herrschaftskritik  be‐ ruhte.72 Der Mimus verstand sich als Nachahmung des Lebens, wie es  wirklich ist:  Μῖμός  ἐστιν  μίμησις  βίου  τὰ  τε  συγκεχωρημένα  καὶ  ἄσυγχώρητα  περιέχων.  („Der  Mimos  ist  die  Nachahmung  des  Lebens,  das  moralisch  Zulässige wie das Anstößige umfassend.“)73 

Dazu  gehörte  dann  natürlich  die  Überzeichnung  und  Zuspitzung,  die  dann eben das  „Staunen“ und „Lachen“ hervorbringen sollte (θαυμα‐ τοποιοί, γελωτοποιοί).74 Mimesis meint also nicht einfach die Kopie im  Sinne  einer  wiederholenden  Abbildung,  sondern  einen  kreativen  Pro‐ zess  der  Nachahmung,  eine  Neuinszenierung.  Ebenso  wenig  wird  bei  der  μίμησις  Χριστοῦ  an  die  abbildliche  Wiederholung  gedacht,  son‐ dern an einen kreativen und authentischen Lebensvollzug im Horizont  des  Christusschicksals.  Die  Mimesis  richtet  sich  nicht  wie  das  Drama 

                          70   H. Windisch, Der zweite Korintherbrief, (KEK 6), Göttingen 1924, S. 350.  71   D. Georgi, The Opponents of Paul of Second Corinthians, Philadelphia 1986, S. 287,  Anm.  44:  „Paul  is  playing  the  role  of  the  bragging  mimus“.  Vgl.  H.  D.  Betz,  Der  Apostel  Paulus  und  die  sokratische  Tradition.  Eine  exegetische  Untersuchung  zu  seiner Apologie 2 Korinther 10–13, (Beiträge zur  historischen Theologie 45), Tübin‐ gen 1972, S. 79–83; L. L. Welborn, The Runaway Paul, in: HTR 92 (1999), S. 115–163.  72   W.  A.  Krenkel,  Caesar  und  der  Mimus  des  Laberius,  (Joachim‐Jungius‐Gesellschaft  der Wissenschaften Jg. 12, 1994, H.1), Hamburg 1994, S. 3f.  73   Diomedes, Artis Grammaticae Libri III, in: Grammatici Latini I, hg. H. Keil, S. 491; H.  Wiemken,  Der  griechische  Mimus.  Dokumente  zur  Geschichte  des  antiken  Volks‐ theaters, Bremen 1972, S. 14.  74   H. Reich, Der Mimus. Ein litterar‐entwickelungsgeschichtlicher Versuch, Hildesheim  1974 [= Berlin 1903], S. 14. 

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auf  das  Ideal  menschlicher  Existenz,  sondern  auf  ihre  Realität  und  schließt  alles  Anstößige  und  Abstoßende  mit  ein,  im  Falle  Christi  ist  das der von Paulus immer wieder betonte Kreuzestod als schändlicher  Sklaventod.75 Der Apostel selbst lebt und fordert die Christusinszenie‐ rung  als  einen  authentischen  und  autonomen  Lebensvollzug,  der  sich  ebenfalls jenseits der gesellschaftlichen Elite vollzieht.  Nur in diesem Sinne der Verfremdung und Neuinszenierung kann  man  davon  sprechen,  dass  die  „Auto‐Biographie”  des  Paulus  zur  „Christus‐Biographie”  werde.76  Hier  ist  aber  auch  eine  theologisch‐ frömmigkeitsgeschichtliche  Überinterpretation  zurückzuweisen,  wie  sie  sich  gelegentlich  findet.  Demnach  lösche  Paulus  seine  eigene  Bio‐ graphie zugunsten der Christusmimesis aus. Wischmeyer etwa urteilt,  Paulus enthalte seine Biographie den Lesern geradezu vor, es handele  sich  bei  diesen  Texten  um  eine  „autobiographische  Theologie  mit  Christus  als  erstem  und  Paulus  als  zweitem  Subjekt”.77  Dem  steht  der  Textbefund eines Autors entgegen, der permanent sein „Ich“ ins Spiel  bringt,78  oft  auch  noch  gesteigert  durch  die  rhetorische  Gestaltung,  etwa  in  Phrasen  wie  „Ich  selbst  aber,  Paulus“  (ἐγὼ  μὲν  Παῦλος).79  Aber  was  geschieht  mit  diesem  „Ich“?  Als  wollte  Paulus  de  Mans  Theorie vom Autobiographischen als Entstellung oder Maskerade („de‐ facement“)  bestätigen,  zieht  er  sich  in  2  Kor  11,17  die  Narrenkappe  über  und  spricht  „wie  verrückt“  (ὡς  ἐν  ἀϕροσύνῃ),  trägt  im  Gestus  des Tatenberichts des Augustus seine Misserfolge vor (11,23b–27) und  schließt  den  Abschnitt  im  Stil  eines  Veterans,  der  auf  seinen  ersten  Feindkontakt zurückblickt (11,32f.).80 Zu dieser Maskerade wird Paulus 

                          75   Z.B. Tac Hist IV 3,2 und 11,3.  76   O.  Wischmeyer,  2  Korinther  12,1–10.  Ein  autobiographischer  Text  des  Paulus,  in:  dies. / E.‐M. Becker, Was ist ein Text? Tübingen 2001, (Neutestamentliche Entwürfe  zur Theologie), S. 29–41, hier S. 39f.  77   Wischmeyer, Korinther, S. 40.  78   Man  beachte  das  explizite  ἐγώ  in  Röm  7,9f.14.17.20.24f;  11,1.13;  15,14;  16,4;  1  Kor  3,16; 4,15; 9,6.15.26; 15,10f; 2 Kor 2,2; 11,29; 12,11.13.15f.; Gal 1,12; 2,19f.; 5,2.10f.; 6,17;  Phil  3,4–6;  4,11;  Phlm  13.19.  E.  Bornemann,  Griechische  Grammatik,  Braunschweig  2008,  S.  59,  §  64:  „Die  Nominative  ἐγώ,  σύ,  ἡμεῖς,  ὑμεῖς  sind  stets  betont.  Zu  dem  finiten Verb werden sie daher […] nur dann hinzugesetzt, wenn sie die Person her‐ vorheben sollen“. Das ist deutlich zu sehen an dem berühmten und exklusiven „Ich  aber sage euch“ in den sechs Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,22.28.32.34.39.44: ἐγὼ  δὲ λέγω ὑμῖν). Außerhalb der Antithesen wird das Pronomen nicht hinzugesetzt. Es  genügt das einfache „Ich sage euch“ (Mt 5,18.20: λέγω ὑμῖν).  79   1 Thess 2,18; 2 Kor 10,1; Gal 5,2; Phlm 19.  80   A. Fridrichsen, Peristasenkatalog und res gestae, SO 8 (1929) S. 78–82; L. L. Welborn,  Primum tirocinium Pauli (2 Cor 11,32–33), in: BZ 43 (1999), S. 49–71. 

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nun  aber  nicht  dadurch  gedrängt,  dass  er  in  inneren  Selbstzweifeln  über  sein authentisches  Ich  hin  und  her  geworfen  ist,  sondern  weil  es  ihm  darum  geht,  in  einem  geradezu  exhibitionistischen  Gestus  die  Show  der  Macht  zu  persiflieren,  wie  sie  seine  Gegner,  die  „Super‐ Apostel“  (11,5;  12,11:  ὑπερλίαν  ἀπόστολοι)  aufführen.  Die  Super‐ Apostel  haben  eine  Machtstruktur  aufgerichtet,  die  es  ihnen  erlaubt,  Gemeindegliedern  ins  Gesicht  zu  schlagen  (2  Kor  11,20).  Sie  sind  fal‐ sche Apostel, die sich hinter Masken verstecken:   2  Kor  11,13–15:  „Denn  diese  falschen  Apostel,  diese  listigen  Arbeiter,  sie  haben  sich  verwandelt  in  Beauftragte  Christi.  Und  ich  staune  nicht  darüber,  denn  auch  der  Satan  verwandelt  sich  in  einen  Engel  des  Lichts.  Da ist es doch nichts besonderes, wenn auch seine Diener sich verwandeln  in Diener der Gerechtigkeit.“ 

Paulus  bringt  die  Verlogenheit  ihrer  verborgenen  und  unehrlichen  Maskerade  ans  Licht,  indem  er  eine  offensichtliche  und  selbstentblö‐ ßende  Maskerade  aufführt.  Hier  weist  de  Mans  Metapher  vom  Auto‐ biographischen  als  „Maskerade“  in  die  richtige  Richtung.  Der  antike  Schauspieler  spielt  bekanntlich  mit  Maske.  In  den  Pausen  treten  dann  Figuren auf, die gerade nicht maskiert sind, die Mimen, deren Aufgabe  es nun ist, das Leben, wie es wirklich ist, zu inszenieren.81 Sie tun das,  indem  sie  die  Rolle  des  Hanswurst  übernehmen,  desjenigen  nämlich,  der  ungeschminkt,  uninterpretiert  und  auf  der  Basis  elementarer  Wahrnehmungen  die  Welt  schildert,  wie  sie  „wirklich“  ist.  Der  Mime  zeigt im Gegensatz zu den Schauspielern sein Gesicht und das tut auch  Paulus im Gegensatz zu den Dienern des Satans, die sich in Engel des  Lichts  verwandelt  haben.  Diese  Neuinszenierung  des  Christusschick‐ sals  findet  also  nicht  im  luftleeren  Raum  statt.  Sie  ist  nicht  Teil  einer  subjektiven Frömmigkeitsgeschichte, in der die ontologische Instabilität  des  frommen  Bewusstseins  expliziert  wird.  Sie  ist  vielmehr  Teil  einer  kontroversen Auseinandersetzung, in der die Frage zu beantworten ist,  ob  die Aktivitäten  des „schwachen“  (10,10:  ἀσϑενής)  Apostels  Paulus  oder  die  der  Super‐Apostel  Christus  angemessen  repräsentieren.82  Die  Qualität  des  Politischen,  die  der  paulinischen  Christus‐Mimesis  in          2 Kor 11,23–33 innewohnt, besteht nun darin, dass Paulus das von den  Super‐Aposteln  behauptete  Recht  auf  Herrschaft  in  einer  bestimmten  Weise  in  Frage  stellt.  Die  Argumente,  die  er  im  Gestus  des  Mimus  vorbringt, thematisieren den Zusammenhang von Recht (im Sinne von 

                          81   H.  Reich,  Die  ältesten  berufsmäßigen  Darsteller  des  griechisch‐italischen  Mimus,  Königsberg 1892, S. 30f.  82   Georgi, Opponents, S. 279. 

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Herrschaftsgewalt) und Leben.83 Wenn dieser fiktiv ist, wie Agamben,  aber  auch  Montaigne,  Pascal,  Hobbes,  Schmitt,  Derrida  und  andere  meinen, dann liegt in der Thematisierung dieser fiktiven Beziehung die  politische Dimension.84 Paulus führt dies durch, indem er in der Tradi‐ tion des Mimus (μῖμός ἐστιν μίμησις βίου) auf eine explizit theatrali‐ sche  Weise  den  Zusammenhang  von  Apostolat  und  Leben,  von  Herr‐ schaft und Leben, inszeniert. Er ruft Staunen, Lachen und Verwirrung  hervor  und  stellt  durch  die  Theatralisierung  die  Fiktion  des  Zusam‐ menhangs von Apostolat und Leben als Fiktion vor Augen, etwa wenn  er  z.B.  berichtet,  dass  er,  obwohl  er  als  Apostel  Jesu  Christi  und  als  Beauftragter Gottes das rettende Evangelium bis an die Enden der Erde  tragen  sollte,  dreimal  Schiffbruch  erlitt  und  Tag  und  Nacht  im  Meer  trieb  (2  Kor  11,25).  Eine  solche  Argumentation  ist  kein  Herrschaft  begründender  Machtdiskurs  (Castelli),  sondern  die  Entzauberung  der  Legitimität  apostolischer  Herrschaft  überhaupt  durch  die  Thematisie‐ rung des fiktionalen Zusammenhangs von apostolischem Auftrag und  apostolischer Existenz, von Recht (auf Herrschaftsgewalt) und Leben.  Ist 2 Kor 11,22b–33 eine Ausnahme? Wie geht Paulus sonst mit sei‐ nem  apostolischen  „Ich“  um?  Abschließend  skizziere  ich  die  autobio‐ graphischen  Passagen  bei  Paulus  und  rufe  noch  einmal  die  tiefen  Vorbehalte  der  literaturwissenschaftlichen  Kritik  in  Erinnerung.  Sind  die  autobiographischen  Passagen  der  Paulusbriefe  heteronom?  Ver‐ zichten sie auf die Transzendierung des eigenen Diskurses? Lassen sie  das  literarisch‐autobiographische  Ich  des  Paulus  in  einer  Weise  domi‐ nieren, dass in seinem Schatten alles andere verdorrt?85  Blickt man auf die autobiographischen Texte des Paulus, dann fällt  auf,  dass  in  ihnen  eine  Vielzahl  konflikthaltiger  Sachverhalte  geschil‐ dert wird. Sie berichten, dass er die Gemeinde verfolgte (Gal 1,13; Phil  3,6), dass ihn die Galater wie einen Engel des Herrn empfangen hatten  (Gal 4,14), wie er gefoltert wurde (1 Thess 2,2; 2 Kor 11,23–25), Schiff‐ bruch erlitt, Tag und Nacht auf dem Meer trieb (2 Kor 11,25), in einem  Korb von der Stadtmauer von Damaskus herabgelassen wurde, um zu  fliehen  (2  Kor  11,32f),  dass  er  das  Evangelium  von  Jerusalem  bis  Illy‐ rien verkündigt habe (Röm 15,19) und dass er im Gefängnis sitze (Phil 

                          83   G. Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt 2004, S. 103: „… die vom Ausnahmezu‐ stand geschaffene Verbindung zwischen Leben und Recht, Anomie und nómos (ist)  wirksam, aber fiktiv“.  84   L.  Bormann,  Der  ‚mystische  Grund´  des  Rechts  und  die  Schrift,  in:  Auf  Leben  und  Tod oder völlig egal, (bft 3), hg. J. Kügler u. W. H. Ritter, Münster 2005, S. 68–84.  85   V. Woolf, A Room of One’s Own, London 1974 [1929], S. 150: „The worst of it is that  in the shadow of the letter ‘I’ all is shapeless as mist.“ 

Das autobiographische „Ich“ des Paulus 

 

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1,7.13  u.ö.;  Phlm  1.9.13).  Hier  folgt  Paulus  keiner  Gesetzlichkeit  und  keinem Schematismus, sondern schildert sein individuelles Ergehen als  unverwechselbares  Schicksal  eines  Individuums,  das  er  selbstbewusst  im  Horizont  des  Christusschicksals  und  der  Evangeliumsverkün‐ digung interpretiert. Im Mittelpunkt des Interesses und der Kritik steht  meist  die  Konversion  des  Paulus,  die  radikale  Umkehr  vom  Zerstörer  der Jesusgemeinden zum Verkünder der Jesusbotschaft, wie sie Paulus  in Gal 1,13‐16 und Phil 3,4‐8 schildert. Aber selbst aus diesem Gesche‐ hen  geht  Paulus  nicht  als  vollidentischer  „Held“  hervor.  Mehrfach  verweist  er  darauf,  dass  er  die  Zeichen  Christi  an  seinem  Leib  trage  (Gal 6,17). Er sei „schwach“ (1 Kor 4,10; 2 Kor 10,10), sein Aposteldienst  erscheine der Welt wie das Schauspiel eines zum Tode Verurteilten (1  Kor  4,9),  wie  „Abschaum“  (1  Kor  4,13),  er  trage  den  „Tod  Jesu“  an  seinem  Leib  (2  Kor  4,10)  und  sei  für  die  Welt  gekreuzigt  (Gal  6,14).  Paulus  ist  gezeichnet.  Seine  Selbstdarstellung  orientiert  sich  kaum  an  Vorgaben,  wie  sie  etwa  die  Prophetenberufungen  oder  die  Konversi‐ onsberichte  zum  Judentum  bieten.86  Die  autobiographischen  Berichte  schildern  sein  unverwechselbares  Schicksal,  ohne  darin  dogmatische  oder normative Vorgaben zu erfüllen.  John L. Gager erläutert seine Paulusinterpretation, indem er darauf  verweist,  dass  es  bei  einem  so  vielfältigen  Sachverhalt  wesentlich  darauf ankomme, wo man beginne:  „It  is  apparent  here  that  the  beginning  point  has  determined  the  final  re‐ sult.  The  truth  is  a  simple  one  and  does  not  require  elaborate  exposition:  The end depends on the beginning“.87 

Boyarin  greift  diese  Überlegung  auf  und  hebt  zusätzlich  hervor,  dass  die Entscheidung über den Anfang einer Paulusdarstellung eine politi‐ sche  sei  und  sich  nicht  aus  dem  Gegenstand  selbst  ergebe.88  Boyarin  eröffnet  deswegen  sein  Buch  über  Paulus,  den  radikalen  Juden,  mit   Gal 3,26–28, dem emphatischen Bekenntnis zur Statusaufhebung in der  Gemeinde.  Er  nutzt  das  gleiche  theoretische  Instrumentarium  wie  Castelli,  um  die  Haltung  des  Paulus  zum  Judentum  zu  kritisieren.  Paulus habe Freiheit und Universalität eingefordert, dabei aber „equa‐ lity“  mit  „sameness“  gleichgesetzt  und  dadurch  auf  rücksichtslose 

                          86   Jes 6; Jer 1; Ez 13; Jdt 14; ApkAbr 7f.; JosAs.  87   J. G. Gager, The Origins of Anti‐Semitism. Attitudes Toward Judaism in Pagan and  Christian Antiquity, Oxford 1983, S. 205.  88   D.  Boyarin,  A  Radical  Jew.  Paul  and  the  Politics  of  Identity,  (Contraversions  1),  Berkeley  1994,  S.  7:  „The  choice  of  starting  point  is  primarily  a  theological,  ethical,  political decision, not a ‚scientific‘ one.” 

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Weise  Unterschiede  für  irrelevant  erklärt,  die  aber  eben  aus  jüdischer  Perspektive durchaus relevant seien.89  Ich würde ein Paulusbuch hingegen mit 2 Kor 11 beginnen lassen.  Hier  tritt  das  autobiographische  Ich  des  Paulus  in  Beziehung  zum  er‐ zählenden Ich, das aus diesem Wechselspiel eine fröhlich‐bissige Mas‐ kerade macht. Durch diese Maskerade wird der fiktive Zusammenhang  von  Recht  (auf  Herrschaftsgewalt)  und  Leben  entzaubert,  in  ihr  wird  die  christliche  Existenz  als  kreative  und  performative  Christusnach‐ folge  inszeniert,  und  letztlich  bringt  das  autobiographische  Schreiben  des  maskenlosen  Mimus  Paulus  die  Leser  zum  „Lachen“  und  zum  „Staunen“. Damit sind die drei Elemente genannt, die in einer postko‐ lonialen  Autobiographietheorie  bedeutsam  sind  und  die  gleichzeitig  zum Politischen als Qualität des Handelns in der Theologie des Paulus  führen.  Die  autobiographische  Maskerade  des  Paulus  ist  im  Konflikt  um  die  Macht  in  der  Gemeinde  situiert  und  kein  ästhetisches  Spiel  („situated“). Sie versteht Erlösung als die Befreiung aus den Zwängen  der  Macht,  die  dem  Einzelnen  und  der  Schöpfung  „Geburtswehen“  (Röm  8,22)  bereitet  („context“).  Diese  Erlösung  ist  eine  Befreiung  aus  der Sklaverei, die bereits jetzt in der Abwehr des fiktiven Zusammen‐ hangs  von  Recht  (auf  Herrschaftsgewalt)  und  Leben  in  der  Gemeinde  verwirklicht werden kann („community“). 

                          89   Boyarin, Jew, S. 8f. 

Die Bergpredigt als ermutigende Anweisung zur  prekären Selbst‐Bezeugung der Kinder Gottes     

STEFAN ALKIER    1. Die Vernachlässigung der Frage nach der Bildung der  Rezipienten in der Auslegung der Bergpredigt    In der Auslegung der Makarismen der Bergpredigt stehen sich idealty‐ pisch  formuliert  zwei  Auffassungen  entgegen.  Die  eine  Position  be‐ greift sie wie bereits Hans Windisch formuliert hat als „von Gott gefüg‐ te[.] Einlaßbedingungen“ zum Königreich der Himmel bzw. zum Reich  Gottes.  Die  andere  Auffassung  versteht  sie  hingegen  als  unbedingten  „Heilszuspruch“.1  Die  erste  Position  steht  im  Zeichen  einer  ethischen  Auslegung  der  Bergpredigt.  Ihr  Interesse  besteht  darin,  die  Hand‐ lungsanweisungen  der  Bergpredigt  als  ethischen  Anspruch  zu  hören,  der  im  je  eigenen  Leben, aber auch in der  Gemeinschaft  der  Glauben‐ den und damit auch in der je eigenen Kirche als unbedingter Anspruch  gehört und umgesetzt werden soll, um christliche Glaubensäußerungen  davor  zu  bewahren,  bloßes  Gerede  zu  sein.  Die  zweite  Auffassung  wird im Rahmen einer Zwei‐Bereiche‐Lehre von mindestens zwei Mo‐ tivationen  geleitet:  Theologisch  möchte  sie  einer  wie  auch  immer  ge‐ stalteten  Werkgerechtigkeit  den  Indikativ  der  Heilszusage  entgegen‐ stellen.  Politisch  möchte  sie  den  christlichen  Glauben  davor  schützen,  als weltfremde Träumerei aufzutreten, die ohne Augenmaß den Reali‐ tätsbezug  verliert  und  damit  nur  noch  größeres  Unheil  stiftet,  wie  es  etwa Martin Luther den Täufern und Helmut Schmidt der Friedensbe‐ wegung der 80er Jahre vorwarf.  Beide  Positionen  treffen  sich  darin,  die  Bergpredigt  als  Programm  zu lesen, das entweder auf das konkrete Verhalten im privaten, sozia‐ len und  politischen  Alltag  zielt,  oder  aber  begrenzt ist auf  eine  Gesin‐ nung, eine Haltung, die zwar den Gehalt der Bergpredigt als Ideal an‐ erkennt,  das  aber  eben  erst  im  Reich  Gottes  und  nicht  für  den  politischen Alltag in dieser Welt gilt.                                 1 

Diese  idealtypische  Unterscheidung  übernehme  ich  von  Martin  Hengel,  Zur  matthäischen  Bergpredigt  und  ihrem  jüdischen  Hintergrund,  ThR  N.F.  52  (1987),  327–340, hier: 331. 

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Stefan Alkier 

Die Positionen treffen sich aber noch in einem weiteren Punkt, der für  das hier verhandelte Thema von großer Bedeutung ist. Sie lassen näm‐ lich  in  aller  Regel  die  textpragmatische  Frage  nach  den  intendierten  Rezipienten  aus  und  rechnen  ohne  weitere  Erläuterung  mit  Lesern,  deren  Bildungsprozesse  abgeschlossen  sind.  Diese  „fertigen“  und  au‐ tonom vorgestellten Subjekte sollen sich lediglich so oder so gegenüber  den Vorschriften der Bergpredigt positionieren, sich ihnen also entwe‐ der  unterwerfen  oder  sie  relativieren.  Ein  Bildungsimpuls  wird  in  der  Regel  nicht  erwartet.  Wir  treffen  in  beiden  idealtypisch  bestimmten  Positionen  auf  ein  eher  statisch‐dogmatisches  Verständnis  der  Berg‐ predigt  und  auf  ein  ebenso  statisches  Verständnis  der  Rezipienten  als  Subjekte, deren Bildungsgeschichte im Wesentlichen abgeschlossen ist.  Es ist aber zu fragen, ob die Auslegungsalternative „ethische Wei‐ sung“  versus  „politisch  irrelevante  sündentheologische  Heilszusage“  erst  entsteht,  wenn  mit  starren  Subjektvorstellungen  gearbeitet  wird,  die mit einem „konstanten Kern der Person“2 zumindest im Erwachse‐ nenalter rechnen. Wenn man aber mit der neueren Identitätsforschung3  nicht  mehr  von  einem  „Selbst“  ausgeht,  das  „wegen  irgendwelcher  eventueller  Konstanzen  von  ‚etwas‘  das  ‚gleiche‘  bleibt,  sondern  auf‐ grund der aktiven Konstituierungsleistungen eines um sich selbst sor‐ genden Subjekts“4 in ständigen Bildungsprozessen befindlich begriffen  werden muss, dann ergibt sich auch ein anderer Blick auf die Bildungs‐ funktion der Bergpredigt. Denken wir die Rezipienten der Bergpredigt  prozesshaft  als  Personen,  deren  Identität  nicht  vorgegeben,  sondern                                 2 





Jürgen  Straub,  Art.  5.1.  Identität,  in:  Handbuch  der  Kulturwissenschaften.  Band  1.  Grundlagen  und  Schlüsselbegriffe,  hg.  v.  Friedrich  Jaeger  und  Burkhard  Liebsch,  Sonderausgabe, Stuttgart 2011, 277–303, hier: 285.  Diese  Sicht  der  Dinge  hat  bereits  Erhardt  Güttgemanns  in  Anschluss  an  Jacques  Lacans Freud‐Interpretation in die exegetische Debatte eingebracht, jedoch wurde er  diesbezüglich  kaum  in  der  deutschsprachigen  neutestamentlichen  Wissenschaft  rezipiert,  vgl.  Erhardt  Güttgemanns,  fragmenta  semiotico‐hermeneutica.  Eine  Text‐ hermeneutik  für  den  Umgang  mit  der  Heiligen  Schrift,  Forum  Theologiae  Linguisticae 9, Bonn 1983, 6. Kapitel: Sigmund Freud: „Authentisches“ Sprechen im  Feld  von  Verdrängung,  Verschiebung,  Verdichtung  und  Verneinung  –  Die  psycho‐ semiotische Anfrage an die Identitäts‐Anthropologie, 263–312. In der gegenwärtigen  neutestamentlichen  Forschung  wird  die  Abkehr  von  einem  substanztheologischen  Identitätsmodell  eindrücklich  im  Durchgang  aller  neutestamentlicher  Schriften  vertreten  von  Eckart  Reinmuth,  Anthropologie  im  Neuen  Testament,  UTB  2768,  Tübingen  2006.  Vgl.  zur  neueren  Identitätsforschung  die  sehr  informativen  Artikel  dazu  in:  Handbuch  der  Kulturwissenschaften.  Band  1.  Grundlagen  und  Schlüssel‐ begriffe,  hg,.  v.  Friedrich  Jaeger  und  Burkhard  Liebsch,  Sonderausgabe,  Stuttgart  2011,  5.  Identität,  277–363.  Vgl.  zu  diesem  Handbuch  die  Rezension  von  Eckart  Reinmuth in ThLZ 130 (2005), 913–915.  Straub, a.a.O., 285. 

 

Die Bergpredigt 

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dauerhaft  aufgegeben  ist,  um  nicht  in  zerstörender  Weise  in  verschie‐ dene  Selbste  zu zerfallen,  dann  wird  die  Bergpredigt  als  Ganze lesbar  als  ermutigende  Anweisung,  sich  selbst  als  Kind  Gottes  zu  bezeugen.  „Identität  lässt  sich  treffend  als  paradoxe  Ambition  der  ‚Einheit  ihrer  Differenzen‘ konzeptualisieren, wobei keine aktive ‚Synthesis des Hete‐ rogenen‘  zur  Aufhebung  oder  Eliminierung  dieser  Differenzen  führen  kann.“5  Dieser  „Identitätsbegriff  kreist  um  das  dauerhafte  ‚Paradox‘  einer  Einheit,  die  unabschließbar,  entzweit,  ungreifbar  und  vor  allem  zugleich dauerhaft angestrebt und fortwährend unerreicht bleibt.“6 

2. Die paradoxe Identität des Sprechers der Bergpredigt  Was für die Rezipienten gilt, trifft in dramatischer Weise auch für den  Sprecher  der  Bergpredigt  zu.  Das  Matthäusevangelium  eröffnet  seine  Erzählung mit einer zwiefältigen „Erzeugung“ (genesis, Mt 1,1.18) des  Protagonisten,  deren  Pointe  darin  besteht,  dass  Jesus  zwei  Herkünfte  zugeschrieben  werden.  Er  stammt  aus  der  Familie  Davids,  in  deren  Sündengeschichte  er  mit  der  Genealogie  verstrickt  wird  (vgl.  Mt  1,1– 17).7 Zugleich aber durchbricht die Zeugung durch den Heiligen Geist  diese  Herkunft  auf  paradoxe,  wunderbare  Weise  und  ermöglicht  ihm  durch  den  damit  erweiterten  Handlungsspielraum  den  Auftrag,  die  Verfehlungen seiner Familie in der Autorität des Immanuel, des „Gott  mit uns“ zu heilen (vgl. Mt 1,18–25). Dennoch wird Jesus gerade nicht  auf  schizophrene  Weise  in  einen  menschlichen  und  einen  göttlichen  Part aufgeteilt. Vielmehr wird die für Jesu „personale Identität konsti‐ tutive  Differentialität“8  in  der  Darstellung  des  Matthäusevangeliums  konsequent durchgehalten. Das Menschliche verdrängt nicht das Gött‐ liche  und  das  Göttliche  nicht  das  Menschliche.  Jesus  bezeugt  seine  spannungsreiche  Identität  durch  seinen  Weg,  der  ihn  an  das  Kreuz  führt, obwohl er die göttliche Macht besitzt, seine Feinde zu vernichten.  Nicht  die  Ohnmacht  eines  Opfers,  sondern  barmherziger  Machtver‐ zicht  und  Annahme  seines  daraus  resultierenden  Leidenswegs  zeich‐ nen ihn aus.                                 5  6  7 



Straub, ebd., 281.  Straub, ebd., 280.  Vgl. zur Funktion und Bedeutungsvielfalt der Genealogie Stefan Alkier, Zeichen der  Erinnerung – Die Genealogie in Mt 1 als intertextuelle Disposition, in: Klaus Michael  Bull, Eckart Reinmuth (Hg.), Bekenntnis und Erinnerung, FS zum 75. Geburtstag von  Hans‐Friedrich Weiß, RTS 16, Münster 2004, 108–128.  Straub, ebd., 281. Vgl. Reinmuth, Anthropologie, 32f. 

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Stefan Alkier 

Dem  Matthäusevangelium  zufolge  wurde  Jesus  von  Geburt  an  von  Feindschaft  und  Verfolgung  bedroht:  „Herodes  hat  vor,  das  Kindlein  zu suchen, um es umzubringen“ (Mt 2,13c). Die Familie Jesu flieht des‐ halb nach Ägypten. Erst nach dem Tod des Herodes kehrt sie zurück,  aber aus Furcht vor dem Herodessohn Archelaus nicht in die Heimat‐ stadt  Bethlehem,  die  im  Herrschaftsbereich  des  Archelaus  liegt,  son‐ dern  ins  galiläische  Nazareth  (Mt  2,23).  Von  der  Kindheit  Jesu  erzählt  das  Matthäusevangelium  weiter  nichts.  Der  Eindruck  des  verfolgten  und  bedrohten  Menschenkindes  bleibt den  Lesenden  umso  stärker  im  Gedächtnis haften.  Bereits  vor  Jesu  öffentlicher  Wirksamkeit,  an  deren  Beginn  die  Bergpredigt  steht,  also  nach  der  Kraftbegabung  durch  die  Taufe  und  der  bestandenen  Kraftprobe  mit  dem  kosmischen  Feind  werden  die  verschiedenen  Gruppen  der  jüdischen  Führungsschicht  als  Opponen‐ ten Jesu Christi gekennzeichnet. Bei ihrem ersten Auftritt im Matthäus‐ evangelium  finden  wir  die  „Hohenpriester  und  Schriftgelehrten“  an  der Seite des Herodes (2,4a). Ihre zukünftige Feindschaft gegen Jesus ist  hier noch kein explizites Thema. Herodes teilt ihnen nicht mit, warum  er wissen will, „wo der Christus geboren werden sollte“ (Mt 2,4b). Da‐ mit werden diese aber als unwissend dargestellt. Die religiösen Führer  Israels  haben  nicht  erkannt,  dass  der  von  den  Propheten  verheißene  Messias geboren worden ist. Sie sind nicht mit ihm verbunden, sondern  mit  Herodes.  Auch  die  Sadduzäer  und  Schriftgelehrten  werden  bei  ihrer  ersten  Erwähnung  als  Opponenten  des  angekommenen  Messias  vorgezeichnet,  indem  sein  prophetischer  Wegbereiter  Johannes  sie  als  „Schlangenbrut“ (3,7) bezeichnet.9                                 9 

Vgl.  Stefan  Alkier,  Jesus  und  seine  Feinde,  in:  Michael  Moxter,  Markus  Firchow  (Hg.),  Feindschaft.  Theologische  und  philosophische  Perspektiven,  MThSt  117,  Leipzig  2013,  41–60,  hier:  49:  „Dennoch  bleiben  auch  in  diesem  so  polarisierenden  Evangelium die Grenzen zwischen Jesus und seinen Jüngern auf der einen und den  jüdischen  Führungsgruppen,  die  ihn  anfeinden,  durchlässig.  Mehrfach  betont  etwa  Jesus,  dass  die  Lehre  der  Pharisäer  und  Schriftgelehrten  zu  befolgen  sei  (vgl.  23,3).  Auch  die  in  der  Bergpredigt  von  den  Nachfolgenden  Jesu  verlangte  Gerechtigkeit  steht  nicht  in  Opposition  dazu.  Die  Lehre  der  Pharisäer  und  Schriftgelehrten  soll  daher  nicht  falsifiziert  und  abgeschafft,  sondern  zugespitzt  und  vervollkommnet  werden!  (vgl.  5,20).  Jesus  rechnet  sogar  ausdrücklich  damit,  dass  Schriftgelehrte  „Jünger  des  Himmelreiches“  werden  können.  Mit  dieser  Überzeugung  schließt  er  seine Gleichnisrede in Kapitel 13, die ganz durchzogen vom Thema der Feindschaft  (vgl. 13,28.39) ist: „Da sprach er: Darum gleicht jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger  des Himmelreichs geworden ist, einem Hausvater, der aus seinem Schatz Neues und  Altes  hervorholt.“  (13,52).  Vor  allem  aber  dient  die  verschärfte  Negativzeichnung  der  Gegner  und  die  Abschwächung  der  Jüngerkritik  nicht  dazu,  ein  harmonisches,  friedliches, freundschaftliches Innen der Jesusgruppe zu zeichnen. Einer von ihnen,  ja sogar einer aus der engsten Gruppe um Jesus herum, einer der Zwölf, verrät ihn: 

Die Bergpredigt  241    Mit der Bußpredigt des Täufers Johannes wird das Kommen des Prota‐ gonisten  konfliktträchtig  angekündigt  (vgl.  3,1–12).  Nach  der  Wasser‐ taufe durch Johannes wird er mit dem Geist Gottes begabt und durch  die Himmelsstimme als Sohn Gottes ausgewiesen (vgl. 3,16f.). Seine so  empfangenen göttlichen Kräfte werden sogleich von seinem mächtigs‐ ten  Feind  auf  die  Probe  gestellt.  Jesus  hat  es  schon  zu  Beginn  seines  Wirkens  mit  einem  kosmischen  Gegner  zu  tun.  Der  Diabolos  –  seiner  Wortbedeutung  des  Durcheinanderwerfers  entsprechend  –  will  Jesus,  den  Sohn  Gottes,  zu  seinem  eigenen  Untertanen  machen,  der  durch  seine Unterwerfung die Macht des Teufels bezeugen soll. Im Mund des  Durcheinanderwerfers werden sogar Worte aus den Heiligen Schriften  Israels  zu  diabolischen  Waffen,  die  Jesus  aber  in  ihrer  strategischen  Funktion erkennt und nicht nur abwehren, sondern sogar selbst nutzen  kann. Mit den Waffen des Wortes Gottes bezeugt er Gott und weist sich  so  selbst  gegenüber  dem  mächtigsten  Feind  als  vollmächtiger  Zeuge  Gottes aus, dessen unbeirrte Zeugenschaft den Versucher in die Flucht  schlägt (vgl. Mt 4,1–11).  Der Sprecher der Bergpredigt hat seine paradoxe Identität den Le‐ senden  gegenüber  bereits  bezeugt,  bevor  er  auch  nur  den  ersten  Satz  seiner Lehre in der Bergpredigt geäußert hat. Er tritt mit der Vollmacht  des  mit  Heiligem  Geist  gezeugten  und  begabten  Sohnes  Gottes  und  gleichermaßen  mit  der  Vollmacht  menschlicher  Authentizität  dessen  auf, der am eigenen Leibe erfahren hat und erfahren wird, was Feind‐ schaft und Verfolgung bedeuten. „Der hier redet, definiert sich mit all  diesen  Sätzen  als  eine  charismatische  Autorität,  die  das  Überlieferte,  Geltende, allgemein anerkannte gründlich in Frage stellt.“10   

                               ‚Judas  Iskariot’  wird  schon  in  der  Jüngerliste  in  10,4,  markiert  als  der,  ‚der  ihn  verriet.’  Er  sucht  den  Kontakt  zu  den  ‚Hohenpriestern’  und  verrät  ihn  für  30  Silberlinge  (vgl.  26,14ff.).  Jesus  weiß  darum  (vgl.  26,25).  Trotzdem  verstößt  er  ihn  nicht  aus  der  Mahlgemeinschaft.  Er  weiß  auch  um  den  bevorstehenden  Verrat  des  Petrus und der anderen Jünger, die mit ihm zu Tisch sitzen. Alle werden sie Anstoß  an  Jesus  nehmen  und  trotzdem  schickt  Jesus  niemanden  fort  (vgl.  26,30–35).  Feindschaft vermag Jesus nicht zum Abbruch von Beziehungen zu bewegen. Es gibt  für Jesus kein Schutz und Geborgenheit bietendes Innen. Jesus verlässt sich nicht auf  seine  Familie  (vgl.  12,46ff).  Er  erfährt  Ablehnung  in  seiner  Heimatstadt  Nazareth  (13,53–58):  ‚Und  sie  ärgerten  sich  an  ihm.’  (13,57a).  Das  Volk  Israel,  sein  Volk,  schlägt  ihn,  den  Immanuel  ans  Kreuz.  Seine  Jünger  verraten  und  verleumden  ihn.  Feindschaft durchzieht Außen und Innen.“  10  Manfred  Josuttis,  Predigen  mit  der  Autorität  der  Bergpredigt,  Ev  Theol  57  (1997),  445–458, hier: 451. 

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Stefan Alkier 

3. Makarios? Makarios!  Um  die  Ent‐Täuschung  für  die  Verfechter  eines  Schulfaches  „Glück“,  wie es in Baden‐Württemberg versuchsweise eingeführt wurde, gleich  vorauszuschicken:  Die  Bergpredigt  ist  kein  Leitfaden  für  ein  glückli‐ ches  Leben.  Sie  ist  keine  Lebensberatung  zur  Optimierung der  Endor‐ phinausschüttung.  Sie  ist  kein  Lifestyle‐Programm,  das  in  letztlich   kapitalistischer  Logik  alles  Glück  aus  dem  je  eigenen  Leben  heraus‐ pressen will und zugleich vor den Ungerechtigkeit generierenden wirt‐ schaflichen  und  politischen  Sachzwängen  kapituliert.  Wenn  schon,  so  ist  sie  eher  eine  Anleitung  dazu,  in  Schwierigkeiten  und  Konflikte  zu  geraten,  die  keineswegs  immer  gut  ausgehen.  Sie  ruft  nämlich  in  die  Nachfolge  eines  bedrohten  und  dann  tatsächlich  mit  tödlicher  Gewalt  abgebrochenen  Lebensweges.  Sie  ruft  in  die  Nachfolge  Jesu  Christi,  dessen Lebensweg in seinem verletzlichen, schmerzempfindlichen Kör‐ per aus Fleisch und Blut – Körper, wie sie Menschen und Tiere sind –  als Opfer individueller und institutioneller Schuld und Gewalt grauen‐ voll und fremdbestimmt beendet wurde.  Wenn Jesus in den Makarismen der Bergpredigt von denen spricht,  die  arm  im  Geiste,  also  demütig  sind,  Leid  tragen,  sanftmütig  sind,  nach  Gerechtigkeit  hungern  und  dürsten,  barmherzig  sind,  ein  reines  Herz  haben,  sich  für  den  Frieden  einsetzen  und  um  der  Gerechtigkeit  willen verfolgt werden, dann weiß er, wovon er spricht, denn alles das  trifft auf ihn zu, so wie er in den Evangelien dargestellt wird. Jesus ist  keiner,  der  davon  kommt  und  dann  sagen  kann:  nochmal  Glück  ge‐ habt. Er ist kein Glückspilz und hat nicht mehr Glück als Verstand. Er  sucht  nicht  das  private  Glück  und  hofft  auch  nicht  auf  eine  Glücks‐ strähne im Spiel oder im Beruf. Er erweist sich in allen Situationen als  Kind  Gottes,  als  jemand,  der  seinen  Lebensweg  konsequent  mit  Gott  geht und das macht eben nicht immer glücklich.  Inwiefern können sich dann aber die in den Makarismen (Mt 5, 3– 12)  Angesprochenen  glücklich  schätzen?  Unter  welchen  Bedingungen  können Arme bzw. Arme im Geiste, Entrechtete, Verfolgte, Hungernde  und  Dürstende  den  Zuspruch  der  Makarismen  nicht  als  diabolischen  Zynismus  hören,  sondern  als  wirkmächtige  Selbstbestimmung  anneh‐ men  und  von  sich  selbst  jetzt  und  angesichts  der  leibhaften  Erfahrun‐ gen  von  Hunger,  Unrecht  und  Gewalt  von  und  zu  sich  selbst  sagen:  „Reichlich Glück gehabt“?  Makarismen  finden  wir  nicht  nur  in  der  Bergpredigt,  sondern  in  vielfältiger  Gestalt  im  antiken  Judentum  und  ebenso  außerhalb  des  jüdisch‐christlichen  Schrifttums.  Mit  Goldberg  kann  man  idealtypisch  zwei Typen von Makarismen unterscheiden: „1. Den ethischen Verhal‐

 

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tensmakarismus.  Dieser  preist  die  Menschen  wegen  ihres  Verhaltens  oder  Tuns,  wobei  der  Makarismus  mit  der  Folge  dieses  Tuns  (Lohns)  begründet  wird.  2.  Den  persönlichen  Makarismus,  die  Preisung  des  Menschen wegen des Glückes, das ihm zu Teil wird, wobei die Ursache  dieses  Glückes  (gerechtes  Tun)  impliziert  wird.“11  Hans‐Dieter  Betz  unterscheidet religiöse, weltliche und satirische Makarismen. Ein welt‐ licher Makarismus etwa findet sich in Jesus Sirach 25,8.: „makarios ist  der Mann, der mit einer intelligenten Frau zusammenlebt“. Ein religiö‐ ser Makarismus eröffnet das Buch der Psalmen: „Wohl dem, der nicht  wandelt im Rat der Gottlosen, noch tritt auf den Weg der Sünder, noch  sitzt, wo die Spötter sitzen, sondern hat Lust am Gesetz des Herrn und  sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht“ (Ps 1,1). Als Beispiel für ei‐ nen ironischen Makarimus führt Betz äth Hen 103, 5–6 an: „Selig sind  die Sünder, sie haben all ihr Leben lang Gutes gesehen. Nun sind sie in  Glück und Reichtum gestorben.“12   Der  Makarismus  und  seine  Begründung  sind  in  all  diesen  Maka‐ rismen aufeinander abgestimmt. Besonders deutlich wird das an Psalm  1,  der  dem  über  Gottes  Gesetz  Sinnenden  zuspricht:  „Der  ist  wie  ein  Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu sei‐ ner  Zeit,  und  seine  Blätter  verwelken  nicht.  Und  was  er  macht,  das  gerät wohl.“  Gerade diese Stimmigkeit trifft für die Makarismen der Bergpredigt  kaum  zu.  Sie  sind  eher  paradox  formuliert,  denn  warum  sollte  man  jemanden  glücklich  schätzen,  der  verfolgt  wird?  Eine  ironische  Inter‐ pretation  wie  bei  dem  Beispiel  des  Henochzitats  ist  hier  ausgeschlos‐ sen.  Eher  verdanken  sie  sich  der  sich  den  erfahrenen  Sachzwängen  entgegenstellenden  Autorität  ihres  Sprechers:  „Wenn  Jesus  zu  Beginn  der Bergpredigt die geistlich Armen, die Leidtragenden, die Sanftmüti‐ gen  und  viele  andere  selig  preist,  dann  widerspricht  er  damit  allen  Erfahrungen, die etwas anderes besagen. Explizit könnte man die anti‐ thetische  Struktur  der  Seligpreisungen  so  formulieren:  Alle  Erfahrung  lehrt, daß Menschen vergeblich nach Gerechtigkeit hungern und dürs‐ ten; ich aber sage euch: ‚Selig sind, die hungern und dürsten nach der  Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden‘.“13  Die  Makarismen  der  Bergpredigt  werden  erst  verständlich,  wenn  man ihre konsequent eschatologische Perspektive einbezieht. Die Berg‐ predigt wäre deshalb als Anleitung zu einem glücklichen Leben miss‐                                11   A.  Goldberg,  zit.  nach  M.  Hengel,  Zur  matthäischen  Bergpredigt  und  ihrem  jüdi‐ schen Hintergrund, ThR 52 (1988), 327–345, hier: 332.  12   H.D.Betz, Die Makarismen der Bergpredigt, ZThK 75 (1978), 3–19, hier: 10.  13   Josuttis, Predigen, a.a.O., 451. 

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verstanden,  weil  sie  nicht  allein  in  den  Grenzen  einer  menschlichen  Lebensspanne  denkt,  sondern  von  der  Überzeugung  geleitet  ist,  dass  der  Weg  der Nachfolge  die  Grenzen  des  in  menschlichen  Körpern  Er‐ lebbaren übersteigt. Die vor‐läufige Perspektive, die das Paradoxe der  Makarismen  denkbar  werden  lässt,  ist  das  Himmelreich,  das  Reich  Gottes, das nicht von Menschen hergestellt wird, dessen Grenzen daher  auch  nicht  durch  das  empirisch  Erwartbare  oder  gar  Machbare  abge‐ steckt werden, sondern von der kreativen Lebenskraft des Schöpfergot‐ tes Israels her gedacht wird. Durch diese Perspektive führt der Weg der  Nachfolge  in  dieselbe  spannungsreiche  Identität,  die  schon  den  kenn‐ zeichnet,  dem  nachgefolgt  wird.  Die  Nachfolgenden  bleiben  ganz  in  der menschlichen Wirklichkeit und verstehen sich zugleich nicht mehr  allein  aus  ihr,  sondern  aus  der  Wirklichkeit  Gottes,  die  sie  als  Kinder  Gottes bezeugen. Was Manfred Josuttis hinsichtlich der Jünger formu‐ lierte, trifft ebenso für alle Leser des Matthäusevangeliums zu, die sich  davon angesprochen fühlen und ihren Lebensweg von diesem Evange‐ lium  bestimmen  lassen:  „Durch  die  Bergpredigt  werden  die  Jünger  selbst auf einen Berg versetzt, der heilsame Wirkungen ausstrahlt.“14  Diese  eschatologische  Perspektive  ist  aber  auch  nicht  einfach  eine  Zukunft,  die  mit  der  Gegenwart  nichts  zu  tun  hätte.  Sie  gilt  vielmehr  als Bestimmung der ganzen Wirklichkeit, also auch der Gegenwart, die  aus der Überzeugung erwächst, dass der von Jesus bezeugte Schöpfer‐ gott Israels den hingerichteten Jesus aus dem Tod auferweckt und ihm  neues,  ewiges  Leben  geschenkt  hat.15  Dieses  eschatologische  Ereignis  von Kreuzigung und Auferweckung ist die Hoffnungsperspektive der  Kinder Gottes, die schon jetzt alles von Gott erbitten können, wie es das  Vater‐Unser  lehrt.  Diese  erbetene  Existenz  hat  eine  Perspektive  über  den Abbruch des Lebens in Fleisch und Blut hinaus. Sie bleibt aber in  diesem Leben in vergänglichen Körpern angefochten, zerbrechlich, auf  Bitten angewiesen, d.h. prekär.  Die Makarismen der Bergpredigt charakterisieren dieses auf inten‐ tionales Bitten, also auf das an Gott gerichtete Gebet und nicht auf den  Zufall des Glücks vertrauende Selbst‐Verständnis. Sie umreißen dieses  Selbst‐Verständnis auf ungefähre, nicht abgeschlossene Art und Weise.  Der  erste  Makarismus  der  Bergpredigt  bringt  die  grundlegende  Haltung  der  Demut  zum  Ausdruck,  die  angesichts  der  eschatologi‐ schen Erwartung des Reichs der Himmel als die der ganzen Wirklich‐ keit angemessene  Grundhaltung  jeder weiteren  Wahrnehmung voran‐                                14   Josuttis, a.a.O., 448.  15   Vgl.  Stefan  Alkier,  Die  Realität  der  Auferweckung  in,  nach  und  mit  den  Schriften  des Neuen Testaments, NET 12, Tübingen und Basel 2009. 

 

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gestellt wird. Arm sein im Geiste meint nicht etwa eine eingeschränkte  Denkkapazität.  Vielmehr  ist  es  die  Haltung,  die  sich  nicht  dazu  ver‐ steigt,  aus  eigenen  Überlegungen  heraus  das  Leben  in  all  seinen  Di‐ mensionen begreifen und organisieren zu können. Es ist die grundsätz‐ liche Absage an die Machbarkeit des Lebens und die demütige Akzep‐ Akzeptanz des auf Bitte und Gabe angewiesenen Lebens der Geschöpfe  Gottes.  Diese demütige Haltung wehrt Leid nicht ab. Die prekäre Selbstbe‐ stimmung  der  Kinder  Gottes  rechnet  nicht  mit  einem  schmerzfreien  Leben ohne Brüche. Das erfahrene Leid wird aber auch nicht erhöht zu  einer  eigenen  Sinndimension.  Erwartet  wird  aber,  dass  der  Gott  des  Trostes  wirksam  das  Leid beenden  wird,  wie  es  bereits  im 40.  Kapitel  des Buches Jesaja angekündigt wird.  Die  Makarismen  für  die  Sanftmütigen  und  Barmherzigen  werden  verschränkt mit denen für die nach Gerechtigkeit Dürstenden und für  diejenigen, die Frieden stiften. Der Verzicht auf Waffengewalt und auf  jegliche Brutalität kann daher nicht missverstanden werden als passive,  unterwürfige  oder  gar  masochistische  Lebenshaltung.  Wie  Jesus,  so  erweisen  sich  auch  die  ihm  Nachfolgenden  als  bewegt  von  der  Sehn‐ sucht  nach  einem  gerechten  Leben  in  der  Solidarität  der  Geschöpfe  Gottes und setzen sich auch dafür ein. Gerade das bringt Leid und so‐ gar Verfolgungen ein. Aber die demütige Haltung der Armen im Geiste  weiß darum, dass nicht sie das Reich Gottes bauen, sondern dieses als  Gabe Gottes kommt, worum alle Nachfolgenden im Vater‐Unser voller  Sehnsucht bitten.  In  diesem  Gedanken  der  göttlichen  Gabe  und  nicht  in  der  Hoff‐ nung auf glückliche Umstände liegen die Makarismen der Bergpredigt  begründet.  Das  Wort  makarios  zielt  auch  nicht  auf  einen  innerlichen  Seelenzustand.  Es  meint  nicht  die  stoische  Unbekümmertheit  eines  ganz auf sich selbst vertrauenden Selbstbewusstseins. Es sind vielmehr  die  mit  den  Gaben  Gottes  Beschenkten,  die  Jesus  mit  seinen  ersten  Worten  beschenkt  und  ihre  auf  Bitten  bleibend  angewiesene  Selbstbe‐ stimmung  anzeigt.  Das  Glück  dieser  Selbstbestimmung  verdankt  sich  dem  Zu‐fall  der  Gabe  Gottes,  dessen  Geist  den  Armen  im  Geiste  ein‐ leuchtet. 

4. Unbegrenzte Liebe  Als  ein  Testfall  des  sich  selbst  und  alle  anderen  von  Gottes  Gabe  her  denkenden Wirklichkeitsverständnisses kann der Umgang mit Feinden  gelten.  Die  Wirklichkeit  von  Feindschaft  wird  im  Neuen  Testament 

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keineswegs in Abrede gestellt oder auch nur verharmlost.16 „Das Gebot  der  Feindesliebe  ist  einer  der  zentralsten  christlichen  Texte.  Es  wird  nicht nur in der frühchristlichen Paränese außerordentlich häufig zitiert  […], sondern gilt seit den Apologeten als das christliche Proprium und  Novum, über das sich die Heiden wundern.“17 Häufig wird das Gebot  der  Feindesliebe  aus  der  Bergpredigt  des  Matthäusevangeliums  so  verstanden, dass es darauf ziele, keine Feinde mehr zu haben.18   „Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Du sollst Deinen Nächsten lieben  und  deinen  Feind  hassen.  Ich  aber  sage  euch:  Liebt  eure  Feinde  und  betet  für  die,  die  euch  verfolgen,  damit  ihr  Söhne  eures  Vaters  im  Himmel seid. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute  und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebt,  die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Und wenn ihr nur zu  euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht das‐ selbe  auch  die  Völker?  Ihr  sollt  nämlich  vollkommen  sein,  wie  euer  Vater im Himmel vollkommen ist.“ (Mt 5,43–48)  Der erste Satz dieses kurzen Textausschnitts eröffnet eine Oppositi‐ on, die von der Überzeugung getragen ist, eine von allen geteilte Eintei‐ lung  der  erfahrbaren  Wirklichkeit  zu  erfassen:  Nächster  versus  Feind.  Diese  Formulierung  problematisiert  nicht  die  Frage  „Wer  ist  mein  Nächster“, wie es Lukas mit der Beispielerzählung vom Barmherzigen  Samariter  (Lk  10,25–37)  einbringen  wird.  Sie  zielt  auch  nicht  auf  eine  Theorie  der  Feindschaft,  sondern  auf  die  schlichte  Erfahrung,  dass  Feinde zu den Realitäten gehören, mit denen man rechnen muss.                                 16   Den  Aspekt  der  Feindesliebe  habe  ich  ausführlicher  dargestellt  in  meinem  Aufsatz  „Jesus und seine Feinde“, a.a.O. Diesem Aufsatz sind die folgenden Ausführungen  zum Konzept der Feindesliebe in der Bergpredigt weitgehend entnommen.  17   Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Zürich u.a., 5. Völlig  neubearb. Aufl. 2002, 403. Luz, ebd., bemerkt dazu: „Die Meinung der Kirchenväter,  daß  das  Feindesliebesgebot  Jesu  ein  Novum  sei,  ist  nur  bedingt  richtig.  Ähnliche  Aussagen  gibt  es  vielerorts,  im  Judentum,  im  griechischen,  vor  allem  im  stoischen  Bereich, in Indien, im Buddhismus, im Taoismus. Die wichtigsten biblischen Belege  sind Ex 23,4f (Hilfe für  das Rind  oder den Esel des Feindes); 1 Sam 24 (David  und  Saul  in  der  Höhle  von  En‐Gedi);  Spr  24,17f  (freue  dich  nicht  über  den  Fall  des  Feindes); 25,21f (gib dem Feind zu essen und zu trinken). In den frühjüdischen Belegen  ist von einzelnen konkreten Verhaltensweisen gegenüber dem Feind die Rede, etwa  Freigiebigkeit  gegenüber  Andersdenkenden  (Ep  Apr  227)  oder  die  Friedfertigkeit  und  Vergebung  gegenüber  Feinden  (Test  G  6,3–7;  vgl.  Test  B  4,2f).  Es  fehlt  das  Stichwort der ´Liebe´ zu den Feinden. Dieser Unterschied wird von Juden selbst für  signifikant  gehalten:  Die  jüdischen  Texte  hüten  sich  vor  überspannten  Formu‐ lierungen und verlangen das, was realistisch möglich ist.“  18   Pinchas  Lapide  spricht  ausdrücklich  von  Jesu  „Entfeindungsliebe“,  vgl.  U.Luz,  a.a.O., Anm. 22. 

 

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Die Aufforderung, die Feinde zu lieben und für die Verfolger zu beten,  wird auch nicht eingeführt, um eine Strategie vorzustellen, wie Feinde  „entfeindet“ und Verfolger  von  ihren Absichten  der  Verfolgung  abge‐ bracht  werden  können.  Feinde  wie  auch  Verfolger  werden  als  Erfah‐ rungstatsache hingenommen. Die hier verordnete Feindesliebe liebt die  Feinde  als  Feinde  und  sie  steht  nicht  unter  der  Kondition,  dass  diese  Freunde  werden.  Ebenso  betet  das  Gebet  für  Verfolger  für  Verfolger,  ohne damit zu rechnen, dass diese dann schon von ihren Verfolgungen  ablassen  werden.  Die  Gefährlichkeit  der  Feinde  und  die  Bedrohung  durch die Verfolger werden nicht verharmlost. Der Weg der Nachfolge  Jesu  wird  nicht  mit  der  Aussicht  auf  ein  Leben  ohne  Feinde  und  Ver‐ folger  verknüpft.  Vielmehr  rechnet  das  Matthäusevangelium  damit,  dass die Nachfolge Jesu dazu führt, verfolgt zu werden und sich Feinde  zu  machen.  Dieser  Weg  weicht  der  Realität  von  Feindschaft  und  Ver‐ folgungen  bzw.  von  Feinden  und  Verfolgern  gerade  nicht  aus,  er  schließt sie vielmehr ein.  Feindesliebe  zielt  im  Matthäusevangelium  nicht  auf  einen  Sinnes‐ wandel der Feinde, sondern auf die Identität derjenigen, die den Weg  der  Nachfolge  Jesu  einschlagen.  Dieser  Weg  fordert    vor  allem  dazu  auf, sich als das zu erweisen, was der schöpfungstheologischen Grund‐ überzeugung des Matthäusevangeliums nach alle Menschen eigentlich  sind: Kinder Gottes. Wer aber die Welt mit den Augen der Kindschaft  Gottes  sieht,  erblickt  auch  in  den  Feinden  und  Verfolgern  Gottes  Ge‐ schöpfe, auch wenn sie sich weiter als Feinde und Verfolger verhalten.  Jede  Verharmlosung  der  Feindschaft  der  Feinde  und  der  Bedrohung  durch die Verfolger würde das eingeforderte Verhalten der Feindeslie‐ be  und  des  Fürbittengebets  für  Verfolger  abschwächen.  Feindschaft  wird  hier  gerade  nicht  verdrängt,  sondern  als  Beziehungsrealität  er‐ fasst.  Sie  wird  durch  die  Feindesliebe  nicht  negiert,  sondern  vielmehr  als  Beziehung  ausgehalten.  Feindschaft  führt  aber  nicht  zum  Abbruch  der Liebesbeziehung, die durch die Selbstbestimmung als Kinder Got‐ tes ermöglicht wird. Wer sich auf dem Weg der Nachfolge Jesu befin‐ det,  bezeugt  seine  Kindschaft  Gottes  durch  den  Blick,  der  selbst  die  eigenen  Feinde  als  Geschöpfe  Gottes  wahrzunehmen  in  der  Lage  ist  und sich deswegen um ihretwillen im Gebet an Gott wendet.  Diese  Selbstbezeugung  ist  aber  keine  dauerhafte  Eigenschaft,  die  man  irgendwann  einmal  gewonnen  hätte  und  die  dann  substanzhaft  zur Verfügung stünde. Sie bleibt prekär, also brüchig, schwierig, heikel,  weil  sie  sich  in  den  konkreten  Situationen  des  Alltags  immer  neu  er‐ weisen  muss  und  vor  immer  neue,  unvorhersehbare  Herausforderun‐ gen  stellt.  Sie  bleibt  prekär  und  das  heißt  wörtlich  „durch  Bitten  er‐ langt“,  wie  sie  im  Vater  unser  formuliert  werden:  „vergib  uns  unsere 

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Schuld  wie  wir  vergeben  unseren  Schuldigern  und  führe  uns  nicht  in  Versuchung,  sondern  erlöse  uns  von  dem  Bösen.“  (Mt  6,12f.)  Die  Selbstbezeugung als Kind Gottes hat aber transformierende Kraft, weil  sie die sich so Bezeugenden auf ihr Zeugnis hin bildet.  Die  Freundlichkeit  des  Schöpfergottes,  seine  Sonne über  Böse  und  Gute aufgehen zu lassen und den Regen über Gerechte und Ungerechte  regnen  zu  lassen,  gilt  als  Maßstab  dieser  prekären  Selbstbestimmung.  Die  zweckfreie  Freundlichkeit  wird  nicht  etwa  als  Mittel  zum  Zweck  der „Entfeindung“ funktionalisiert, vielmehr ahmt sie ohne Kalkül das  liebende Handeln des Schöpfers nach, und weist den so Liebenden als  Geschöpf Gottes aus. Diese Liebe ist nämlich wie die Liebe des Schöp‐ fergottes nicht reaktiv. Daher lässt sie sich auch nicht einfach alles ge‐ fallen.  Sie  hat  keine  Lust  daran,  befeindet  oder  verfolgt  zu  werden.  Gerade darin besteht ihre Besonderheit. Sie erkennt den anderen so an,  wie er sich zeigt. Ein Feind ist ein Feind. Sie ist nicht die Gegenliebe zu  einem  vorausgegangenen  Geliebtwerden.  Sie  erwartet  noch  nicht  ein‐ mal  Gegenliebe.  Der  Feind  bleibt  der  Feind,  und  der  Verfolger  bleibt  der  Verfolger.  Die  Liebe  und  das  Fürbittengebet  entlassen  den  Feind  und den Verfolger aber nicht aus der durch Gottes Schöpfung gesetzten  Beziehung der Geschöpfe Gottes untereinander. Darin besteht die Voll‐ kommenheit  dieser  nicht  reagierenden,  sondern  agierenden  Liebe,  de‐ ren göttlicher Lohn sich bereits zumindest teilweise im Akt dieses Lie‐ bens  erschließt:  Sich  als  Kind  Gottes  zu  erweisen.  Diese  Erfahrung  ist  kein  Zwang  zum  Lieben  oder  Leiden.  Sie  ist  die  Erfahrung  enormen  Zuwachses  an  Freiheit  durch  den  unverstellten,  dankbaren  und  liebe‐ vollen Blick der Kindschaft Gottes. 

5. Betende Existenz  Die  Kraft,  die  die  Selbstbezeugung  der  Kinder  Gottes  ermöglicht,  er‐ wächst aus dem Gebet. Die Kinder Gottes sind auf das Klagen, Danken  und  Bitten  im  Gebet  bezogene  Geschöpfe.  Oda  Wischmeyer  hat  in  ih‐ rem  Aufsatz  zu  der  Spruchreihe  vom  Sorgen  in  Mt  6,25–34  folgende  treffliche These vertreten: „Tragend ist die doppelte Gewißheit, daß der  Schöpfergott  auch  der  Vatergott  ist  und  daß  dieser  Gott  seine  basileia  als  Horizont  der  menschlichen  Existent  bestimmt  hat.  Mensch  zu  sein  heißt, privilegiert und frei zu sein, um auf die basileia hin zu leben. Gott  als  Schöpfer  ermöglicht  die  basileia‐Suche  des  Menschen.“19  Mit  dieser                                 19   Oda  Wischmeyer,  Matthäus  6,25–34.  Die  Spruchreihe  vom  Sorgen,  ZNW  85  (1994),  1–22, hier: 4. 

 

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These  beantwortet  sie  die  Frage,  worauf  Jesu  Aufforderung  in  6,33a  zielt: „Sucht zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit“. Der Weg  der  Nachfolge  ist  eine  Suchbewegung,  deren  begehrtes  Objekt  jeder  Verfügbarkeit  entzogen  bleibt  und  gerade  durch  diese  Nicht‐Verfüg‐ barkeit  offen  für  Gottes  Kommen  bleibt.  Mit  dieser  Suche  nach  dem  entzogenen Grund wird ein Suchen nach der damit verbunden Gerech‐ tigkeit  verknüpft,  dessen  politischer  Sinn  als  „aspirierte,  angestrebte,  imaginierte  Identität“20  der  Kinder  Gottes  erscheint,  die  „als  solche“  „zur Konstitution des Handlungspotentials“21 der sich als Kinder Got‐ tes  angesprochen  Fühlenden  beiträgt.  In  dieser  durch  den  Anspruch  der  Bergpredigt  konstituierten  Identität  als  Kinder  Gottes  liegt  ein  normativer  Sinn,  der  gerade  durch  den  Indikativ  des  Zuspruchs,  Kin‐ der Gottes zu sein, ermöglicht wird. Diese „Identität ist ein normativer,  sozialer  Anspruch,  den  Personen  an  sich  und  andere  stellen  können,  wohl wissend, dass niemand diesen Anspruch jemals zu erfüllen in der  Lage ist. Mit anderen Worten: Es gibt keine Identität ohne Selbstentzug.  Letzterer ist für erstere konstitutiv und nicht ein bloßes Störelement auf  einem  Entwicklungs‐  oder  Bildungsweg,  der  teleologisch  im  Sinne  einer morphologischen Entelechie auf einen fest umrissenen Endpunkt  zuläuft und schließlich ein abgeschlossenes und geschlossenes Sinnge‐ füge umfassen könnte.“22  Die  Identität  der  Kinder  Gottes  wird  bezeugt  durch  ihre  sie  selbst  auf die Werte des Reiches Gottes verpflichtende Suche, deren doppelte  Entzogenheit  und  auch  ihr  wiederholtes  Scheitern  ihrer  Entschieden‐ heit  gerade  nicht  zuwider  läuft.  Vielmehr  kommt  ihr  ein  Freiheitsge‐ winn gerade durch das Gewahrwerden der strukturellen Entzogenheit  zu, das jede Rede von alternativlosen Sachlogiken als ideologische Täu‐ schung enttarnt und dadurch eine evident politische Wirkung entfaltet,  ohne  in  politische  Besserwisserei  abzugleiten.  Deshalb  ist  die  sich  im  Vater‐Unser aussprechende Bitte zentral für christliche Existenz: „Dein  Reich komme“ (Mt 6,10a). Das unsägliche Leid, das Menschen im Na‐ men  ihres  Christentums  über  die  Welt  gebracht  haben  und  bringen,  erwächst aus der Missachtung dieser Bitte als Bitte an den ganz Ande‐ ren.  Die  Hass  und  Gewalt  säenden  und  praktizierenden  Christen  ver‐ drängen  die  demütig  bittende  Kindschaft  Gottes  durch  ihre  Selbster‐ mächtigung, die sagt: „Wir errichten das Reich Gottes!“   Die Kinder Gottes hingegen bezeugen ihre Kindschaft mit dem Va‐ ter‐Unser, das sie beten lehrt.                                  20   Jürgen Straub, a.a.O., 280f.  21  Ebd., 281.  22  Ebd. 

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Zusammenfassung  In der Bergpredigt geht es weder um die Fest‐stellung christlicher Vor‐ schriften, die dann situationsunabhängig in blindem Gehorsam zu be‐ folgen wären, noch um den Erweis der allgemeinen Sündhaftigkeit, der  das  alltägliche  und  politische  Leben  der  Nachfolgenden  von  den  kon‐ kreten Weisungen der Bergpredigt dispensierte, sondern um die ermu‐ tigende  Anweisung zur  prekären  Selbstbestimmung als  Kinder  Gottes  auf dem Weg der Nachfolge im vor‐läufigen Horizont des Reiches Got‐ tes.  Die  Vor‐Schriften  sind  daher  vorläufig  und  beziehungsweise  zu  praktizieren.  Die  nach‐folgende  Selbstbestimmung  ereignet  sich  als  Bezeugung  des Anderen, der seinen Weg der Bezeugung des Gottes Israels konse‐ quent vor‐läufig gegangen ist. Die Bergpredigt verspricht die vollgülti‐ ge Bezeugung der Kinder Gottes als Nachfolgende durch diesen ande‐ ren  Zeugen  Gottes.  Da  die  Nachfolge  mit  diesem  Versprechen  in  eine  eigene prekäre Vor‐läufigkeit führt, spricht sie den sich in ihrer Bezeu‐ gung des Anderen Verstehenden, Empfindenden und Handelnden zu,  schon  jetzt  reichlich  glückselig  zu  sein  (makarios).  In  dieser  kon‐  und  dezentrierten prekären Selbstbestimmung der Kinder Gottes bildet sich  ihr „Selbst als auf den Anderen Antwort Gebendes, das als solche auch  den Sinn politischen Lebens inspiriert.“23  Dieses Antwortgeben praktizieren die Kinder Gottes im Gebet, das  ihnen  wiederum  Kraft  und  Freiheit  gibt,  alternativ  zu  denken  und  zu  handeln  und  sich  von  dem  Weg  der  Nachfolge  auch  nicht  durch  das  eigene Versagen und Scheitern abbringen zu lassen. 

                               23  Burkhard  Liebsch,  Prekäre  Selbst‐Bezeugung.  Die  erschütterte  Wer‐Frage  im  Hori‐ zont der Moderne, Weilerswist 2012, 10. 

 

     

Subjekt werden. Zur Konstruktion narrativer    Identität bei Paulus, Johannes und Matthäus*      ECKART REINMUTH 

  Die Texte des Neuen Testaments zielen darauf, ihre Adressaten auf die  Wirklichkeit  anzusprechen,  die  durch  das  Handeln  Gottes  in  der  Ge‐ schichte  Jesu  Christi  verändert  wurde.  Sie  sprechen  von  der  Macht  Gottes,  die  Menschen  als  seine  unbedingte  Zuwendung  erfahren.  Die  Jesus‐Christus‐Geschichte  macht  sie  zu  Angeredeten  einer  ungeschul‐ deten  und  bedingungslosen  Liebe,  die  sie  dazu  ermächtigt,  sich  als  Subjekte eines neuen Lebens zu begreifen. Diese Geschichte hat für die  Angesprochenen Folgen, die ihr Leben verändern, und die sie in erster  Linie  als  Zuspruch  und  Befreiung  erreichen.  Performative  Strategien  neutestamentlicher Texte zeitigen Effekte von Rettung, neuer Bindung,  eschatologischer  Orientierung.  Mit  ihnen  geraten  Grundfragen  von  Identität  und  Subjektsein  in  den  Blick.  Wo  diese  Fragen  in  den  Blick  kommen,  geht  es  um  die  Reflexion  der  Bedingungen,  unter  denen  Handlungsfähigkeit  und  Selbstbestimmtheit  möglich  werden.  Mit  den  Grundfragen  von  Identität  und  Subjektsein  geht  es  um  die  Reflexion  des  Politischen,  insoweit  mit  dem  Begriff  des  Politischen  das  Frag‐ lichwerden  gesellschaftlicher  Bedingungen  des  Menschseins  themati‐ siert  werden  kann,  das  im  politischen  Handeln  sowohl  aufbricht  als  auch entschieden wird (Nancy, Mouffe, Marchart).   In diesem Aufsatz wird versucht, einen neutestamentlichen Beitrag  zu einer Philosophie des Politischen1 zu leisten, indem exemplarisch an  paulinischen, johanneischen und matthäischen Texten die Konstruktion  narrativer  Identität  und  mit  ihr  Strategien  der  Subjektwerdung  aufge‐ wiesen  werden.  Wo  gegenwärtig  von  der  Problematisierung  des  Sub‐ jektbegriffs die Rede ist, geht es zugleich um die Fraglichkeit von Iden‐                                *  

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Der  vorliegende  Beitrag  erschien  bereits  in:  Eckart  Reinmuth,  Neues  Testament,  Theologie  und  Gesellschaft.  Hermeneutische  und  diskurstheoretische  Reflexionen,  Stuttgart 2012, 331‐358. Ich danke dem Kohlhammer‐Verlag Stuttgart für die freund‐ liche Abdruckgenehmigung.  Zum Begriff vgl. Oliver Marchart, Die politische Differenz. Zum Denken des Politi‐ schen bei Nancy, Lefort, Badiou,  Laclau und  Agamben, stw 1956, Berlin 2010, 245– 288 und pass. 

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Eckart Reinmuth 

tität.  Der  Begriff  des  Subjekts  ist  ohne  Autoreflexivität  und  folglich  ohne die stete Konstruktion narrativer Identität nicht denkbar.2     

1. Subjektivität und Identität    Mit dem Begriff personaler Identität stehen Fragen nach Authentizität  und  Selbigkeit  auf  dem  Plan.3  Mit  Identität  handelt  es  sich  um  eine  Reflexionsfigur,  die  narrative  Kommunikation  erfordert4  und  nur  in  mehrfachen  Relationen  konstruiert  werden  kann.5  Dazu  gehört  die  zeitliche Relation – Identität gibt es nur auf Zeit – und die soziale Rela‐ tion.  Die  Kommunikation  individueller  Identität  erfordert  eine  diffe‐ renzierende  Reflexion  von  Selbst‐  und  Fremdzuschreibungen.6  Der                                 2   3   4  

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Vgl. dazu Peter V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen  Moderne und Postmoderne, UTB 2176, Tübingen/Basel (2000), 32010, 15–25.377–383.  Vgl. dazu Reinmuth, Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johan‐ nesevangelium, ZNT 23 2009, 36–45.  Bereits  1953  prägte  der  Philosoph  Wilhelm  Schapp  den  Begriff  vom  ‚Verstrickt‐ werden in Geschichten‘ (ders., In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und  Ding, {Hamburg 1953} Wiesbaden 1976). Vgl. zur Aktualität seines Entwurfs jetzt die  konstruktiven Überlegungen bei Th. Rolf, ‚Die Geschichte steht für den Mann‘. Ethi‐ sche  Aspekte  der  narrativen  Repräsentation,  in:  K.  Joisten  (Hg.),  Narrative  Ethik.  Das Gute und das Böse erzählen, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband  17, Berlin 2007, 151–167, 160ff; vgl. Th. R. Wolf, Leben in Geschichte(n). Zur Herme‐ neutik des historisch‐narrativen Subjekts, in: S. Deines, S. Jaeger, A. Nünning (Hg.),  Historisierte  Subjekte  –  Subjektivierte  Historie.  Zur  Verfügbarkeit  und  Unver‐ fügbarkeit von Geschichte, Berlin 2003, 47–61, 56ff. Einleitend zu seiner Philosophie  der  Geschichten  (Leer  1959)  hatte  Wilhelm  Schapp  programmatisch  festgestellt:  „Wenn  wir  uns  unserem  Selbst  nähern  wollen,  so  können  wir  das  nicht  über  die  Wissenschaften,  nicht  über  Sachverhalte,  sondern  nur  über  Geschichten.“  (a.a.O.  XIII).   Vgl. W. Kraus, Falsche Freunde. Radikale Pluralisierung und der Ansatz einer narra‐ tiven Identität, in: J. Straub, J. Renn  (Hg.), Transitorische Identität. Der Prozesscha‐ rakter des modernen Selbst, Frankfurt 2002, 159–183, v.a. 178ff.; H. Haker, Narrative  und moralische Identität, in: Dietmar Mieth (Hg.), Erzählen und Moral. Narrativität  im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, Tübingen 2000, 37–65.  George Herbert Mead (1863–1931) hatte die soziale Konstitution des Menschen und  die  Sprachförmigkeit  des  Bewusstseins  herausgearbeitet.  Sein  Hauptwerk  ‚Mind,  Self and Society  from the Standpoint of a social Behaviorist‘ erschien postum 1934.  Der  Mensch  ist  ein  soziales  Wesen,  das  durch  seine  Sprache  sich  selbst  gegenüber‐ treten  und  so  denken  kann.  Die  Gesellschaft  geht  dem  Individuum  voraus,  weil  nach Mead sonst so etwas wie Sozialisation gar nicht möglich wäre. Zugleich konsti‐ tuiert der Mensch durch sein Handeln Gesellschaft – es geht Mead um eine wechsel‐ seitige  Konstitution,  die  die  Offenheit  des  Menschen  nicht  verhindert,  sondern  be‐ gründet.  Mead  unterschied  im  Gefolge  dieser  Voraussetzung  zwischen  I‐  und  Me‐ Perspektive (Selbst‐ und Fremdperspektive auf mich). 

 

Subjekt werden 

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Wunsch  nach  Identität  als  Selbstübereinstimmung  realisiert  sich  als  reflexiver Prozess, der auf Interaktion und Narrativität angewiesen ist.7  Wir  konstruieren  inmitten  von  unkalkulierbaren  Differenzerfah‐ rungen  unsere  personale  Identität,  indem  wir  von  uns  erzählen.8  Die  Tätigkeit  des  Erzählens  ist  ständige  Sinnrezeption  und  ‐produktion.  Diese Tätigkeit hat ihren Ort da, wo wir zwischen unseren Erfahrungen  und ihrer Kommunikation vermitteln müssen. Immer da, wo wir unse‐ re Erfahrungen von Wirklichkeit kommunizieren, verständigen wir uns  über Sinn. Das aber setzt die Fähigkeit zur Selbstdistanz voraus.9 Auch  Judith  Butler  fordert  die  Fähigkeit  zur  Selbstdistanz10  sowie  vor  allem  die Einsicht in die eigene soziale Bedingtheit.11  Wir  erzählen  –  und  wir  erzählen,  weil  wir  nicht  alles  wissen  kön‐ nen.  Wir  können  nicht  nichterzählen.  Mit  der  Narrativität  (etymolo‐ gisch  geht  das  Wort  auf  gnarum  facio  ‚kund  tun,  Kenntnis  geben‘  zu‐ rück)  handelt  es  sich  um  ein  Kenntnis‐Geben  bzw.  Kenntnis‐Erhalten,  um  die  Kommunikation  von  Kenntnissen,  die  wir  auf  keine  andere  Weise  erlangen  oder  gar  produzieren  können.  Diese  Unersetzlichkeit  bedeutet Kenntnisgewährung und ‐entzug in einem.                                  7  

Vgl.  in  diesem  Zusammenhang  die  grundlegenden  Überlegungen  bei  Alessandro  Ferrara, Reflexive Authenticity. Rethinking the Project of Modernity, London 1998.  8   Wolfgang  Kraus  verweist  zu  Recht  darauf,  dass  das  „Erzählen  über  sich  selbst  als  Generalthema  der  Identitätstheorie“  mittlerweise  „beinahe  –  ein  Gemeinplatz“  sei  (a.a.O. {Anm. 5}, 161).  9   Thomas R. Wolf resümiert im Anschluss an die Philosophie Wilhelm Schapps (a.a.O.  {Anm. 4}, 61): Das historisch‐narrative Subjekt findet sich „nicht einfach als Produkt  vergangener Geschichte(n) vor, sondern konstituiert sich im Prozess wechselseitiger  Verständigung.  Die  verschiedenen  Geschichten,  in  die  das  jeweilige  Subjekt  ver‐ strickt  ist,  fungieren  daher  im  Sinne  der  multiperspektivischen  Repräsentation  und  Rekonstruktion  eines  individuellen  Lebenszusammenhangs,  die  in  einen  kulturellen  Rahmen eingelassen ist bzw. diesen zu seiner Verwirklichung verlangt. Die Authen‐ tizität der Person wird damit in ein diskursives und regulatives Projekt transformiert,  da  die  eigenen  mit  den  anderen  Geschichten  in  Einklang  zu  bringen  sind.  ‚Leben‘  und ‚Geschichte‘ fallen dann nicht einfach zusammen, sondern werden als Lebensge‐ schichte zur praktischen Aufgabe, bei der eine theoretische Distanz zu uns selbst ge‐ wahrt werden kann.“ (Kursivierungen in diesem Beitrag im Original).  10   Butler stellt in diesem Sinne fest: „Ein Subjekt zu sein, heißt ..., sich selbst gegenüber  in einer Distanz zu befinden, nicht die Vorrechte der Selbstidentität oder der Selbst‐ gewissheit  genießen  zu  können,  sondern  immer  auch  außerhalb  seiner  selbst,  ein  Anderer  für  sich  selbst  zu  sein.“  (J.  Butler,  Art.  ‚Subjekt‘,  in:  Handbuch  der  Politi‐ schen  Philosophie  und  Sozialphilosophie  {HPPS},  hg.  St.  Gosepath,  W.  Hinsch,  B.  Rössler, Bd. 2, Berlin 2008, 1301–1307, 1304).  11   „Das Subjekt ist ... auf eine Weise in Beziehungen mit dem Anderen verstrickt, dass  es  nicht  es  selbst  sein  kann,  ohne  sich  von  sich  selbst  zu  entfernen,  den  eigenen  Standpunkt  aufzugeben  und  eine  Transformation  zu  durchlaufen,  die  sich  in  und  durch jene Sozialität vollzieht, die zu seiner Substanz geworden ist.“ (a.a.O. 1306). 

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Eckart Reinmuth 

Die  konkrete  Narrativität  personaler  Identität  offenbart  und  verbirgt  zugleich,  u.zw.  jenseits  aller  intendierten  Täuschungsversuche.  Men‐ schen  können  von  sich  in  aller  Offenheit  erzählen  und  dennoch  kei‐ neswegs  beanspruchen,  ‚alles‘  zu  sagen.  Vielmehr  verhält  es  sich  so,  ʺdass jedem Wesen etwas Irreduzibles eignet, das in den verschiedenen  Geschichten deutlich wird, die wir zu erzählen habenʺ,12 dass aber eben  dieses  Irreduzible  als  Ungesagtes  jeder  unserer  Erzählungen  eigen  ist.  Die  Einzigkeit  und  Unersetzbarkeit  jedes  Menschen  geht  in  dem,  was  einander mitgeteilt werden kann, nicht auf. Menschen sind sich in die‐ sem  Sinn  unverfügbar  und  undurchschaubar;  sie  bleiben  einander  in  einem letzten Sinn entzogen.13 Diese anthropologische Komponente der  Selbstentzogenheit  ist  bei  den  folgenden  Überlegungen,  bei  denen  es  um eine erneute Lektüre neutestamentlicher Texte aus der Perspektive  aktueller  politisch‐philosophischer  Problematisierungen  des  Subjekt‐ begriffs geht, im Blick zu behalten.  Zur  Performativität  der  neutestamentlichen  Texte  gehört  ihre  Ad‐ ressierung:14 Menschen werden auf ihr neues Sein angesprochen; dieses  Angesprochensein geht ihrem individuellen und gesellschaftlichen Sein  voraus. Sie erleben, wie ihr gegenwärtig‐bisheriges Leben als ihre Ver‐ gangenheit ausgewiesen wird, wie sie als Geliebte identifiziert werden,  wie  ihre  Gemeinschaft  in  einer  Gleichheit  gründet,  die  jede  bleibende  Unterschiedenheit  überbietet.  Die  Glaubenden  werden  darauf  ange‐ sprochen,  dass  sie  nicht  mehr  Unterworfene  ihres  bisherigen  Lebens  und seiner Bedingungen, sondern befreite Subjekte eines neuen Lebens  sind.   

2. Das Subjekt im Diskurs des Politischen    Die Frage nach den Konstitutionsbedingungen des politischen Subjekts  wird in den Diskursen politischer Philosophie und kulturwissenschaft‐ licher  Theorie  mit  zunehmender  Dringlichkeit  gestellt.15  Tatsächlich                                 12   J. Butler, Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a.M. 2003, 46.   13   Zum  Zusammenhang  vgl.  Eckart  Reinmuth,  Anthropologie  im  Neuen  Testament,  UTB 2768, Tübingen 2006, 22–33.  14   Vgl.  Eckart  Reinmuth,  Performative  Turn  und  Neues  Testament,  in:  ders.,  Neues  Testament,  Theologie  und  Gesellschaft.  Hermeneutische  und  diskurstheoretische  Reflexionen, Stuttgart 2012, 75–98.  15   Vgl.  z.B.  Judith  Butler,  Art.  Subjekt  (Anm.  9);  Andreas  Reckwitz,  Das  hybride  Sub‐ jekt.  Eine  Theorie  der  Subjektkulturen  von  der  bürgerlichen  Moderne  zur  Postmo‐ derne,  Weilerswist  2006;  ders.,  Subjekt,  Bielefeld  2007;  ders.,  Subjekt/Identität.  Die  Produktion  und  Subversion  des  Individuums,  in:  Stephan  Moebius/Andreas  Reckwitz  (Hg.),  Poststrukturalistische  Sozialwissenschaften,  stw  1869,  Frankfurt  a.M. 2008, 75–92; Zima (Anm. 2). 

 

Subjekt werden 

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bildet die Frage nach dem Subjekt politischen Handelns, nach den Be‐ dingungen  seiner  Konstruktion,  seinen  Möglichkeiten  und  Beschrän‐ kungen,  eines  der  aktuellen  Themen  politischer  Philosophie.  Dabei  zeigt sich, dass die Frage nach dem Politischen von der Frage nach dem  politischen Subjekt nicht zu trennen ist.16  Beriefen sich ‚klassische‘ Subjekttheorien vor allem auf Traditionen  der  Bewusstseins‐  und  Sozialphilosophie  sowie  der  Romantik,17  so  gehen  poststrukturalistische  Theorien  von  ihrer  grundsätzlichen  In‐ fragestellung  aus.18  Diese  Infragestellung  zielt  darauf  ab,  die  Voraus‐ setzungen eines traditionellen Subjektbegriffs zu problematisieren und  auf  diese  Weise  Subjektivität  und  Subjekthaftigkeit  als  Projektionen  historischer  Konstellationen  und  Entwicklungen  zu  markieren.  Das  Subjekt – sub‐iectum – erscheint als ein ‚unterworfener Unterwerfer, ein  unterwerfendes  Unterworfenes‘:19  „Indem  sich  der  Einzelne  bestimm‐ ten  kulturellen  Ordnungen  unterwirft,  die  ihm  körperlich  und  psy‐ chisch die Merkmale akzeptabler Subjekthaftigkeit ‚einschreiben‘, kann  er erst jene Kompetenzen von Selbstregierung, Expressivität, rationaler  Wahl etc. ausbilden, die ein Subjekt ausmachen sollen.“20   Für  Ernesto  Laclau  und  Chantal  Mouffe  meint  die  Kategorie  des  ‚Subjekts‘  tatsächlich  „‚Subjektpositionen‘  innerhalb  einer  diskursiven  Struktur“:21  „Subjekte  können  demgemäß  nicht  der  Ursprung  sozialer  Verhältnisse  sein  –  nicht  einmal  in  jenem  beschränkten  Sinn,  dass  sie                                 16   Vgl.  Thomas  Bedorf,  Das  Politische  und  die  Politik.  Konturen  einer  Differenz,  in:  Thomas Bedorf, Kurt Röttgers (Hg.), Das Politische und die Politik, stw 1957, Berlin  2010, 13–37, 34: „Wenn es das Politische gibt oder geben soll, fragt sich, in welcher  Weise und an welchen Orten es sich heute zeigt. Welches sind heute die Ereignisse,  die Subjekte des Politischen generieren? Oder gibt es heute keine Subjekte des Politi‐ schen  (mehr),  weil  die  Diagnose  lautet,  dass  der  Betrieb  des  politischen  Konsenses  und der Sozialtechnologie alles im Griff hat?“  17   Vgl. dazu die umfangreiche Monographie von Reckwitz, Das hybride Subjekt (Anm.  15).  18   Für  den  „Bruch  mit  den  traditionellen  Subjekt‐  und  Identitätssemantiken“  im  Be‐ reich poststrukturalistischer Theorien verweist Reckwitz v.a. auf „Michel Foucaults  Programm der Analyse von Subjektivierungsweisen in der Geschichte der Moderne,  Jacques Lacans kulturtheoretische Psychoanalyse des Subjekts, Ernesto Laclaus The‐ orie  hegemonialer  Identitäten  und  Judith  Butlers  Modell  der  Reproduktion  und  Subversion des Subjekts in seiner Performativität, daneben auch postkoloniale Ana‐ lysen bezüglich Differenz und Identität und poststrukturalistische Medientheorien.“  (ders., Subjekt/Identität {Anm. 15}, 77).  19   Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt (Anm. 15), 9.  20   Reckwitz, a.a.O., 78.  21   Ernesto  Laclau,    Chantal  Mouffe,  Hegemonie  und  radikale  Demokratie.  Zur  De‐ konstruktion  des  Marxismus,  Wien  2000,  167ff:  Die  Kategorie  des  „Subjekts“;  Zitat  168. 

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Eckart Reinmuth 

mit  Fähigkeiten  ausgestattet  sind,  die  eine  Erfahrung  ermöglichen  –,  weil  jegliche  ‚Erfahrung‘  von  präzisen  diskursiven  Bedingungen  ihrer  Möglichkeit abhängt.“ (168).  Der „Status des ‚Menschen‘“ könne nicht als ‚der eines Wesens‘ de‐ finiert  werden.  Vielmehr  handele  es  sich  um  „eine  diskursiv  konstru‐ ierte  Subjektposition“.  Es  komme  darauf  an  „zu  zeigen,  wie  der  ‚Mensch‘ in der Moderne produziert worden ist, wie das ‚menschliche‘  Subjekt – das heißt der Träger unterschiedsloser menschlicher Identität  – in bestimmten religiösen Diskursen auftaucht, in juristischen Praxen  verkörpert und in anderen Bereichen wiederum andersartig konstruiert  ist.“ (169).  Judith  Butler  bezeichnet  den  interdependenten  Prozess  von  Sub‐ jektwerdung  und  Unterwerfung  als  Subjektivation:  „‚Subjektivation‘  bezeichnet  den  Prozess  des  Unterworfenwerdens  durch  Macht  und  zugleich  den  Prozess  der  Subjektwerdung.“22  Butler  verweist  darauf,  dass  dem  Begriff  ‚Subjekt‘  traditionell  –  neben  seiner  Bedeutung  als  ursprünglich „metaphysische und grammatikalische Kategorie“ – „eine  wichtige  politische  Bedeutung  zu(kommt),  die  den  Status  eines  ‚Sub‐ jekts‘  von  Rechten  und  Pflichten  an  einen  Zustand  politischer  Unter‐ ordnung  und  Abhängigkeit  bindet.“23  Das  Subjekt  ist  in  diesem  Sinne  „zugleich ermächtigt und unterworfen.“24 Das bedeutet: „... ohne einen  Souverän  oder  eine  staatliche  Autorität,  der  das  Subjekt  unterworfen  wird, kann es kein Subjekt im rechtlichen oder politischen Sinn geben.  Die  Unterwerfung  muss  dabei  auch  ungewollt  ertragen  werden.  Und  doch führt gerade diese Unterwerfung dazu, dass man einen Anspruch  auf  bestimmte  Rechte  hat,  als  Subjekt  kultureller  und  politischer  Aner‐ kennung in Frage kommt und die Möglichkeit zur Ausübung bestimm‐ ter politisch garantierter Freiheiten erhält. In diesem Sinne ist das politi‐ sche Subjekt eine aktive Instanz, auch wenn sein Status paradoxerweise  von  einer  vorgängigen  und  permanenten  Unterwerfung  abhängig  ist.“25  Der  entscheidend  neue  Gedanke  an  der  Machtkonzeption  Fou‐ caults  war,  Macht  nicht  mehr  als  äußerlich,  gewaltsam  und  unterdrü‐ ckend zu interpretieren, sondern diejenigen Techniken und Mechanis‐ men  zu  untersuchen,  die  zur  „Disziplinierung  und  Produktion  nütz‐

                               22   23   24   25  

J. Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001, 8.   J. Butler, Art. ‚Subjekt‘ (Anm. 15), 1301.  Ebd.  a.a.O. (Anm. 15), 1302. 

 

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licher  Individuen“,  zur  Hervorbringung  ‚normaler‘  Subjekte  führen.26  Michel Foucault stellte dazu fest:   „Dass  die  Macht  Bestand  hat,  dass  man  sie  annimmt,  wird  ganz  einfach dadurch bewirkt, dass sie nicht bloß wie eine Macht lastet, die  Nein  sagt,  sondern  dass  sie  in  Wirklichkeit  die  Dinge  durchläuft  und  hervorbringt, Lust verursacht, Wissen formt und einen Diskurs produ‐ ziert;  man  muss  sie  als  ein  gesellschaftliches  Netz  ansehen,  das  weit  stärker  durch  den  ganzen  Gesellschaftskörper  hindurchgeht  als  eine  negative Instanz, die die Funktion hat zu unterdrücken.“27   Die  so  verstandene  Macht  ist  nicht  nur  in  gesellschaftlichen  Ver‐ hältnissen  und  politischen  Praktiken  präsent,  sondern  sie  bestimmt  auch das individuelle Leben, bringt gesellschaftlich handelnde Subjekte  hervor und prägt die Körper der Individuen und ihr ‚normales‘ Verhal‐ ten. Macht wird auf diese Weise in ihrer Machtförmigkeit verschleiert;  sie ist für die Subjekte, die sie diskursiv hervorbringt, kaum als solche  erfahrbar. In diesem Zusammenhang ergibt sich für die Subjektkonsti‐ tution  wie  für  die  Konstitution  des  Politischen  ein  Zirkelschluss28;  es  handelt sich „um einen eigentümlichen Zirkel von Subjektkonstitution  durch  die  politische  Macht  einerseits  und  der  Konstitution  des  Politi‐ schen durch die Existenz politischer Subjekte andererseits.“29  Die  Frage  jedoch,  wodurch  sich  das  Subjekt  ermächtigt  sieht,  wo‐ von  es  gleichsam  ‚lebt‘,  bleibt  in  poststrukturalistischer  Perspektive  weitgehend offen. Es ist die Frage, wie sich das Subjekt jenseits gängi‐ ger  Eigenschaftszuschreibungen  und  konventioneller  Normierungen,  jenseits  der  stummen  und  kaum  noch  reflektierten  Einverständnisse,  des Sicheinlassens auf eben das, was es hinsichtlich der eigenen Spiel‐ räume  für  konstitutiv  hält,  begründen  kann.  Es  muss  sich  selbst  als  Zugrundeliegendes  voraussetzen,  um  sich  behaupten  zu  können.  Wie  kommt es, dass es nicht in den Mechanismen der von Foucault und in  seinem Gefolge beschriebenen Mächte aufgeht?  

                               26   St. Moebius, Macht und Hegemonie. Grundrisse einer poststrukturalistischen Analy‐ tik  der  Macht,  in:  St.  Moebius,  A.  Reckwitz,  (Hg.),  Poststrukturalistische  Sozialwis‐ senschaften, stw1869, Frankfurt a.M. 2008,158–174, 160.  27    M.  Foucault,  Gespräch  mit  Michel  Foucault,  in:  ders.,  Schriften  in  vier  Bänden,  Bd.  III, Frankfurt a.M. 2003, 186–213, 197; zit. nach Moebius, a.a.O. 161.  28   Hannelore Bublitz stellt dazu fest: „Paradoxerweise konstituiert das Subjekt sich in  der Unterwerfung unter eine soziale Macht, die es als solches allererst hervorbringt,  formt  und  ihm  die  Richtung  seines  Begehrens  vorgibt.“  (Bublitz,  Hannelore,  Dis‐ kurs, Bielefeld 2003, 92).  29   Vgl.  Oliver  Flügel‐Martinsen,  Grundfragen  politischer  Philosophie.  Eine  Untersu‐ chung der Diskurse über das Politische, Baden‐Baden 2008, 232. 

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Eckart Reinmuth 

Auch  mit  Blick  auf  den  Subjektbegriff  Judith  Butlers  ergibt  sich  die  Frage,  wie  das  Subjekt  die  es  normierenden  Größen  übersteigen  soll.  Butler spricht im Anschluss an Foucault von einem „Naturalisierungs‐ diskurs,  der  Subjekteffekte  als  Subjektvoraussetzungen  präjudiziert  und  damit  deren  Kontingenz  unsichtbar  macht.“30  Dabei  geht  es  mit  dem „Subjekt, das in der Verarbeitung einer bestimmten Regulierungs‐ form  entsteht“,  um  eine  ständige  ‚performative  Selbstproduktion‘  (ebd):  Die  Schaffung  des  Subjekts  basiert  auf  der  Iterativität  körperli‐ cher Vollzüge. In den Prozeduren von Variation, ironischer Wiederho‐ lung, Bedeutungsverschiebung usw. vollzieht sich zugleich ständig die  Subversion  scheinbar  definiter  Identität,  ohne  dass  dafür  ein  autono‐ mes Subjekt vorauszusetzen wäre.31 Wenn „die Herausbildung eines in‐ dividuellen  Bewusstseins  selbst  als  politische  Herrschaftstechnik“32  zu  verstehen  ist,  stellt  sich  die  Frage,  woher  das  Subjekt  seine  Impulse,  seine Inspiration und Kraft bezieht – solche Größen also, die es nicht in  den  Machtstrukturen  und  Herrschaftstechniken  aufgehen  lässt,  denen  es sich angeblich verdankt.33 Schließt sich nicht unter dieser Vorausset‐ zung  jede  Opposition  des  Subjekts  gegen  die  es  normierenden  Kräfte  aus? „Eine Opposition gegen die Normierung im Namen der Integrität  der  einzelnen  wird  unmöglich,  weil  sie  die  Grenzen  des  Subjekts  in  seiner  sozialen  Existenz  gefährdet.  In  einer  solchen Opposition  würde  man gerade jene Instanz zerstören, die man zu verteidigen sucht.“34  Damit  steht  zur  Frage,  wie  überhaupt  Widerstand,  Befreiung,  Selbstbestimmtheit  angesichts  hegemonialer  Machtverhältnisse  mög‐ lich  sein  sollen.  Wenn  zutreffend  die  „Macht,  die  Subjekte  in  ihren  Handlungen ausüben, von der vorgängigen Macht der Subjektivation“                                 30   Reckwitz, Das hybride Subjekt (Anm. 15), 85  31   Das  Subjekt  existiert  „nur  innerhalb  eines  durch  politische  Macht  konstituierten  Rahmens.“ J. Butler, Art. ‚Subjekt‘ (Anm. 15), 1302.  32   Ebd.   33   Hans‐Herbert Kögler, Situierte Autonomie. Zur Wiederkehr des Subjekts nach Fou‐ cault in: S. Deines, S. Jaeger, A. Nünning, (Hg.), Historisierte Subjekte – Subjektivier‐ te Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin 2003, 77‐ 91, 83ff stellt fest, Butler mache „die Kritik einer auf dem Subjektbegriff basierenden  ‚Politik  der  Freiheit‘  zu  ihrem  Projekt.“  (83).  Sie  erkläre  „die  Konstitutionsformen  von Selbst‐Identität, also die Konstitution von Handlungsfähigkeit selber, zum poli‐ tischen  Gegenstand“  (84).  Kögler  wirft  Butler  vor,  nicht  zu  sehen,  „dass  gerade  die  sprachliche  Vermittlung  des  subjektiven  Selbstbezuges  das  Subjekt  nicht  unmöglich  macht, sondern vielmehr die Ressourcen für eine hermeneutische Selbstkonstruktion  bereitstellt“ (85); Butler schließe das Subjekt „mit dem von der Substanzmetaphysik  bestimmten  Subjektbegriff  kurz“,  bleibe  also  auf  das  fixiert,  was  sie  überwinden  wolle (84).  34   Moebius (Anm. 26), 172. 

 

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zu unterscheiden ist, „kann Widerstand gegen die Normierung nur von  einer  Macht  ausgehen,  welche  die  Normierungsverhältnisse  selbst  übersteigt.“35   Peter Zima führt in seiner breit angelegten Studie36  vor, wie die ak‐ tuelle  Entwicklung  des  Subjektbegriffs  in  den  maßgeblichen  Diszipli‐ nen und Diskursen bei aller Disparatheit dazu tendiert, das Subjekt als  diskursives Ergebnis bzw. als Produkt performativer Prozesse zu ana‐ lysieren, das entsprechend hinterfragt und zerlegt werden kann und in  den  jeweiligen  Machtstrukturen  und  Dispositiven  letztlich  aufgeht.  Zima  stellt  im  Ergebnis  seiner  Auseinandersetzung  mit  den  Diskussi‐ onsständen  in  Philosophie,  Soziologie,  Psychoanalyse  und  Sozialpsy‐ chologie sowie Sprach‐ und Literaturwissenschaft fest, das individuelle  Subjekt  sei  „weder  etwas  Souverän‐Fundamentales  noch  Unterworfenes,  sondern  eine  sich  wandelnde,  semantisch‐narrative  und  dialogische  Einheit,  die  von  der  Auseinandersetzung  mit  dem  Anderen,  dem  ihr  Fremden,  lebt.“  (88). Alterität ist in dem von Zima vertretenen Subjektmodell eine kon‐ stitutive  Bedingung.  Das  Subjekt  kann  als  „dialogische,  offene  Einheit“  beschrieben werden, insofern es „einerseits von der Alterität lebt, anderer‐ seits  aber  von  ihr  bedroht  wird.“  (376).  An  dieser  Stelle  ergibt  sich  die  Möglichkeit,  bei  der  oben  erwähnten  Selbstentzogenheit  anzuknüpfen  und  das  Sich‐selbst‐Fremdsein  als  ethische  Ressource  zu  verstehen.37  Ich komme darauf gegen Ende meiner Überlegungen zurück.     

3. Subjekt werden in der Perspektive   neutestamentlicher Texte    Blickt man vor dem Hintergrund der skizzierten Problemkonstellation  auf  das  Neue  Testament,  so  erschließt  sich  ein  komplexes  Themen‐ spektrum,  dessen  Bearbeitung  in  den  antiken  Texten  auch  für  gegen‐ wärtige Fragestellungen von Interesse ist. So wird in vielen Texten das  Zusammenspiel  von  Befreiung  und  neuer  Bindung,  von  Rettung  und  Unterwerfung sinnfällig.                                  35   Ebd.  36   s.o. Anm. 2.  37   Peter  Zima  (Anm.  2)  verweist  dazu  auf  Julia  Kristeva,  Fremde  sind  wir  uns  selbst,  Frankfurt a.M. 1990, und zitiert ihre Feststellung: „Fortan wissen wir, dass wir uns  selbst fremd sind, und es ist allein dieser Rückhalt, von dem aus wir versuchen kön‐ nen, mit anderen zu leben.“ (376, a.a.O. 184). Für Kristeva basiert auf dieser Einsicht  ein neues, globales Gesellschaftsmodell: „Eine paradoxe Gemeinschaft ist im Entste‐ hen,  eine  Gemeinschaft  von  Fremden,  die  einander  in  dem  Maße  akzeptieren,  wie  sie sich selbst als Fremde erkennen.“ (Kristeva, a.a.O. 210). 

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Neutestamentliche  Texte  setzen  diesen  Zusammenhang  als  grundle‐ gend  für  die  Subjektwerdung  des  Menschen  voraus.  Sie  setzen  sich  damit in einen untilgbaren Widerspruch zu den bestimmenden Mäch‐ ten,  in  denen  Menschen  ihr  Leben  gedeutet  sehen  und  von  denen  sie  ihr  Subjektsein  beziehen,  und  sie  beanspruchen,  diesen  Mächten  die  Macht einer unbedingten Liebe entgegenzusetzen.  Stellt  sich  aus  der  Sicht  gegenwärtiger  Diskurse  die  Frage,  wie  in  neutestamentlichen  Texten  Prozesse  der  Subjektkonstruktion  sichtbar  werden,  so  werden  die  vielfältigen  Variationen  deutlich,  in  denen  die  neue  Subjektivität,  die  Menschen  mit  ihrem  Glauben  an  Jesus  als  den  Christus Gottes gewonnen haben, reflektiert und problematisiert wird.  Im  Gegensatz  zu  klassischen  Auffassungen  der  Konstitution  des  Sub‐ jekts als selbstidentischer, souveräner und autonomer Größe geht es in  frühchristlichen Texten deutlich um Erfahrungen gebrochener Identität  oder des Identitätsverlusts – und zugleich um emanzipative Erfahrun‐ gen der Befreiung, Anerkennung und Subjektwerdung. Paulus thema‐ tisiert  seine  eigene  Subjektwerdung,  indem  er  an  den  Bruch  und  Ver‐ lust  seiner  einstigen  Identität  erinnert  (vgl.  z.B.  Gal  1,11ff;  Phil  3,4ff).  Gleiches gilt für die Adressaten seiner bzw. deuteropaulinischer Briefe  (vgl.  z.B.  Röm  6,3–11;  7,1–6;  1  Kor  1,26–31;  6,9–11;  Eph  4,17–24;  Kol  2,11–13).  Im  Galater‐  wie  im  Römerbrief  verweist  Paulus  auf  die  got‐ tesdienstliche  Praxis  des  Abba‐Rufes  und  begründet  mit  ihr  den  Soh‐ nesstatus  der  Adressaten  (Gal  4,5f;  Röm  8,14f.).  Sie  sind  nicht  mehr  unmündige  Kinder,  sondern  Söhne  wie  der  ‚Sohn‘,  weil  sie  in  seinem  Geist zum Vater rufen wie er. Deshalb unterliegen sie nicht mehr dem  Geist der Sklaverei (Röm 8,15) oder sind – wie Sklaven – als unmündig  zu behandeln (Gal 4,1ff.7), sondern mündige Erben.   Die  synoptischen  Aufforderungen  zur  Nachfolge  kalkulieren  Ver‐ folgung  und  Tod  ein.  Drastisch  kommt  die  Gebrochenheit  der  adres‐ sierten Identität in Mk 8,35parr zum Ausdruck: Wer sein Leben retten  will,  der  wird  es  verlieren;  und  wer  sein  Leben  um  meinetwillen  und  um  des  Evangeliums  willen  verliert,  der  wird  es  retten.  Besonders  deutlich  weisen  auch  die  Johannesoffenbarung  und  der  Hebräerbrief  auf den Zusammenhang zwischen der emanzipativen Subjektwerdung  der Adressaten und ihren Leidenserfahrungen hin. Dieser Zusammen‐ hang gründet nach der Auffassung der Autoren in der Jesus‐Christus‐ Geschichte. Mit ihr werden in diesen Texten aus anthropologischer und  politisch‐theoretischer  Perspektive  grundsätzliche  Fragen  der  Subjekt‐ werdung thematisiert.  In  1  Kor  9  ist  nun  exemplarisch  näher  zu  beobachten,  wie  Paulus  sein  eigenes  Subjektsein  begründet  und  versteht.  Dieser  Text  ist  inso‐ fern aufschlussreich, als es hier um das Widereinander zweier Begrün‐

 

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dungsdiskurse  geht,  das  abschließend  mit  dem  agonalen  Diskurs  des  sportlichen Wettkampfs überboten wird. Paulus verdeutlicht in 1 Kor 9  an  seiner  eigenen  Praxis,  worum  es  ihm  hinsichtlich  des  empfohlenen  Verhaltens in der Götzenopferfleischfrage geht (1 Kor 8.10). Er verweist  zunächst auf sein Recht, sich hinsichtlich des Unterhalts durch die Ge‐ meinden  in  gleicher  Weise  unterstützen  zu  lassen  wie  andere  Apostel  (vgl.  v5).  Dieses  Recht  entspricht  nicht  nur  der  Alltagslogik  und  dem  intuitiven Rechtsempfinden (v4–7), sondern in gleicher Weise der Tora  (v8–10.13) und sogar der Weisung des Kyrios (v14).38 Das Interesse des  Paulus zielt sichtlich darauf, diesen Diskurs des Gebens und Nehmens  zu  stärken,  um  sein  eigenes  Verhalten  um  so  deutlicher  davon  unter‐ scheiden zu können: Er hat von dieser Logik des Tausches keinen Ge‐ brauch gemacht; er kann es nicht, weil er für sich in Anspruch nimmt,  nicht  aus  freien  Stücken,  sondern  unfreiwillig  für  die  Gemeinden  zu  arbeiten (vv15–18). Paulus zielt damit auf eine Subjektkonstitution, die  einzig  in  seiner  Berufungserfahrung  und  der  in  ihr  gründenden  Bin‐ dung an die Geschichte Jesu Christi gründet. Das zeigt sich zum einen  in  den  Versen  1–2  und  15–18,  zum  anderen  im  Abschnitt  v19–23.  Das  Handeln  des  Paulus  sieht  sich  durch  das  Evangelium  bestimmt  und  zielt  darauf,  an  ihm  zu  partizipieren,  also  sein  Bestandteil,  sein  integ‐ rierendes  Element  zu  werden.  Paulus  versteht  sein  Subjektsein  als  ex‐ klusiv in der Jesus‐Christus‐Geschichte gegründet. Das bedingt für ihn  das  scheinbar  paradoxe  Ineinander  von  Freiheit  und  Unfreiwilligkeit;  es  prägt,  wie  der  genannte  Abschnitt  zeigt,  zugleich  seine  Praxis.39  Auch  der  abschließende  Abschnitt  (v24–27)  lässt  diese  Überzeugung  erkennen. Zunächst (24–26a) sieht Paulus sich mit anderen um die Wet‐ te  laufen.  Alle  Läufer  kennzeichnet,  sich  „aller  Dinge  zu  enthalten“  (25a).  Darin  also  gleicht  Paulus  den  Mitkämpfern.  Ihn  unterscheidet  jedoch  der  angestrebte  Siegespreis;  es  ist  im  Gegensatz  zu  dem  der                                 38   Ein solcher Satz findet sich in den Evangelien nicht. Aber es gibt eine Formulierung,  die  ihm  inhaltlich  entspricht  (Lk  10,7/Mt  10,10).  Ihre  mündliche  Vorform  mag  der  Bezugspunkt dessen sein, woran Paulus in seinem Brief an die Korinther erinnert.  39   Paulus erklärt die Jesus‐Christus‐Geschichte als für seine eigene Praxis verbindlich.  V19  spricht  davon,  wie  er  sich  in  aller  Freiheit  in  den  Sklavendienst  begab,  und  nimmt damit eine narrative Struktur auf, wie sie z.B. in Röm 15,8; 2 Kor 8,9; Gal 4,4  (γενόμενον ὑπὸ νόμον); Phil 2,6ff verwendet wird. Er setzt sichtlich voraus, dass er  zu den „Starken’ gehört, denn diese Kategorie fehlt in der Reihe der Adressaten sei‐ ner  christusförmigen  „Selbstaufgabe‘.  Der  Höhepunkt  der  Reihe,  der  durch  das  ἔννομος Χριστοῦ markiert wird (vgl. Gal 6,2), spricht indessen davon, den „Gesetz‐ losen ein Gesetzloser‘ geworden zu sein, um die Gesetzlosen zu gewinnen. Auch in  dieser Perspektive auf die Mission unter Nichtjuden bildet sich für Paulus die Praxis  Christi ab, der als Gesetzloser unter Gesetzlosen starb (vgl. 2 Kor 5,21; Gal 3,13), weil  er ihnen die Gemeinschaft Gottes gewährte. 

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anderen ein ‚unvergänglicher Kranz‘, die Gemeinde in eschatologischer  Geltung  als  das  ‚Siegel‘  seines  Apostolats  (v2),  als  sein  ‚Werk  (ἔργον)  im Herrn‘ (v1). In v26 geht das Bild über zu dem des Boxers, der nicht  in die Luft schlägt, sondern sich selbst mit dem Ziel, nicht anderen zu  predigen und selbst unfähig zu sein. Die somatische Metaphorik („ich  schlage  meinen  Leib  und  unterwerfe  ihn“)  folgt  dem  Bild  des  Boxers.  Sie ist nicht dualistisch in eine Leib‐Seele‐Polarität zu überführen, son‐ dern  thematisiert  das  Ich‐Verhältnis  als  wesentliche  Komponente  der  Identität  und  Authentizität  des  Subjekts  Paulus.  Er  versteht  seinen  Unterhaltsverzicht  als  unumgängliche  Praxis,  in  der  sich  seine  Glaub‐ würdigkeit  zeigt.  Diese  Glaubwürdigkeit  ist auf  die Identität  und  Au‐ thentizität  seines  Subjektseins  angewiesen.  Dieses  wiederum  gründet  darin, dass Paulus sich den Verkündigungsdienst nicht ausgesucht hat,  sondern sich mit ihm beauftragt sieht (v17). Die Beauftragung mit dem  Dienst  (οἰκονομίαν)  geschah  nicht  aktiv,  sondern  passiv.  Das  paulini‐ sche  Subjekt  entsteht  in  der  Passivität  des  Angeredet‐  und  Betraut‐ werdens  durch  Gott  mit  seinem  Christusevangelium.  Durch  dieses  sieht Paulus sein Leben wie seine Praxis bestimmt und zugleich inter‐ pretiert.  Gegenüber der universalen Geltung, die er der Logik des Tausches,  auf  der  das  Unterhaltsrecht  der  Mitarbeiter  beruht,  zuspricht  (s.o.),  beansprucht Paulus für die eigene Subjektkonstitution eine ihm gelten‐ de  und  ihn  beauftragende  Erwählungsgeschichte.  In  gleicher  Weise  sieht er das je konkrete Subjekt der Glaubenden nicht auf der Regel des  universal  gültigen  Gebens  und  Nehmens,  sondern  im  erwählenden  und berufenden Handeln Gottes gegründet.40 Auf dieser Analogie einer  das Subjekt der Glaubenden je konstituierenden Erwählungsgeschichte  basiert für Paulus die Möglichkeit, sein eigenes Verhalten oder das von  Gemeinden als vorbildlich oder beispielhaft zu kommunizieren.41   Die  Reflexion  des  Subjekts  und  seiner  Konstitutionsbedingungen  prägt  viele  Texte  des  Neuen  Testaments.  Kennzeichnend  ist  stets  die  Adressierung  durch  die  als  Ausdruck  der  unbedingten  Liebe  Gottes42                                 40   Vgl. dazu z.B. 1 Kor 1,26‐31.  41   Vgl.  für  die  Beispielhaftigkeit  gemeindlichen  Verhaltens  z.B.  1  Th  1,7ff;  2  Kor  8,1ff;  9,2.12ff; für die des eigenen Verhaltens vgl. z.B. Phil 3,17; Gal 4,12; 1 Kor 4,16; 11,1; 1  Th 1,6.  42   Die  Un‐Bedingtheit  der  Liebe  Gottes  kommt  z.B.  in  Matthäus  5,43–48  zum  Aus‐ druck: Gegenüber dem bedingten Verhalten von „Zöllnern’ und „Heiden’, die Liebe  als  Tausch  oder  Binnenbeziehung  verstehen,  gilt  Gottes  Zuwendung,  für  die  hier  Regen und Sonne stehen, unbedingt. Die Initiative zur Sendung des Sohnes ist durch  nichts  anderes  veranlasst  als  durch  Gottes  eigene  Initiative  (vgl.  z.B.  Gal  4,4).  Die  bedingungslose  Zuwendung  Jesu  zu  den  Verlorenen  Israels  versteht  sich  als  Ver‐

 

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verstandenen Geschichte Jesu Christi, die Menschen in den Bindungen  und  Bedingtheiten  ihres  Lebens  freispricht  und  ihnen  eine  Freiheit  vermittelt, die sie in der Bindung an diese Geschichte finden.43   In  der  Adressierung  dieser  unbedingten  Liebe  ereignet  sich  die  Subjektwerdung  von  Menschen  unabhängig  von  –  aber  konkret  in  –  den  Bedingtheiten,  Normierungen,  Herrschaftsstrukturen,  Ange‐ passtheiten  ihres  Lebens.  Paulus  betont  mehrfach,  dass  die  Gottesbe‐ ziehung seiner Briefpartner sich nicht ihrer Aktivität verdankt, sondern  als ein von‐Gott‐Erkanntsein zu verstehen ist (vgl. 1 Kor 8,3; 13,12; Gal  4,9).  Diese  Adressierung  durch  Gott  zielt  deshalb  nicht  nur  auf  einen  homo  revelatus  als  ein  aktiv  handelndes,  sich  seiner  selbst  bewusstes  Subjekt, sondern zugleich auf den sich selbst entzogenen, verborgenen  Menschen.  Dieser  wird  nicht  ausgeschlossen,  verdrängt  oder  negiert,  sondern  zum  integrierenden  Element  des  Subjekts,  zum  Bestandteil  seiner Freiheit.   Diese Freiheit bedeutet zugleich Unabhängigkeit in den Bedingthei‐ ten des Lebens einschließlich seiner Brüche, Passionen, Tode. Vor die‐ sem  Hintergrund  bekommen  die  Nachfolgesprüche  Lk  12,4ff  neuen  Klang. Hier wird zur Furchtlosigkeit vor den Verfolgern der Gemeinde  aufgefordert,  „die  den  Leib  töten  und  danach  nichts  mehr  tun  kön‐ nen“.44 Die Integrität der Angeredeten – es handelt sich um die Jünger,  die hier als ‚Freunde Jesu‘ angesprochen werden (vgl. zu ihrer Rolle in  diesem  Kontext  die  vv2–3)  –  ist  hinsichtlich  menschlicher  Möglichkei‐ ten unzerstörbar. Sie ist freilich nicht unzerstörbar hinsichtlich dessen,  der nicht nur die Macht hat zu töten, sondern danach auch „in die Höl‐ le  zu  werfen“  (v5).  Die  befreiende  Partizipation  des  Subjekts  an  der  Unbedingtheit der es adressierenden Liebe impliziert folglich einerseits  seine Unabhängigkeit und Integrität, andererseits setzt sie es einer Ge‐ fährdung  anderer  Art  aus.  Diese  Warnung  in  Vers  5  unterbricht  den  Zuspruch  der  vv4–7,  die  das  Bewahrtsein  der  Angeredeten  trotz  aller  Gefährdung  thematisieren,  und  schärft  die  Ausschließlichkeit  ihrer  Subjektkonstitution in der Bindung an die sie adressierende Liebe ein.45  Mit der Jesus‐Christus‐Geschichte geht es aus der Sicht neutestamentli‐ cher  Texte  um  die  unbedingte  Zuwendung  Gottes,  der  sich  die  Glau‐ benden verschrieben haben. Die narrativen und argumentativen Refle‐ xionen  dieser  Geschichte  akzentuieren  diesen  Umstand  regelmäßig.                                 sinnbildlichung der ungeschuldeten Zuwendung Gottes zu den Menschen (vgl. z.B.  Lk 15).  43   Vgl. z.B. Johannes 3,16; 1 Johannes 4,8–10.16.  44   μὴ  φοβηθῆτε  ἀπὸ  τῶν  ἀποκτεινόντων  τὸ  σῶμα  καὶ  μετὰ  ταῦτα  μὴ  ἐχόντων  περισσότερόν τι ποιῆσαι.  45   Vgl. ähnlich Röm 8,31–39. 

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Die Rede von der Unbedingtheit der Jesus‐Christus‐Geschichte schließt  die  menschliche  Unableitbarkeit  dieser  Zuwendung  und  ihre  Unab‐ hängigkeit  von  individuellen  Qualitäten  oder  Vorbedingungen46  ein.  Die  Frage  nach  den  Konstruktionsbedingungen  des  Subjekts  wird  aus  Sicht  des  Neuen  Testaments  also  mit  Hinweis  auf  die  Unbedingtheit  der Zuwendung Gottes und damit zugleich auf die Liebe (ἀγάπη) als  anthropologische Lebensbedingung beantwortet.  Die sprachliche Verfasstheit von subjektkonstituierender Adressie‐ rung ist, wie wir gesehen haben, in den performativen Strategien neu‐ testamentlicher  Texte  grundgelegt.  Auf  der  Suche  nach  der  Reflexion  von Subjektwerdung werden wir auf die Konstruktion narrativer Iden‐ tität von Erzählfiguren verwiesen. Ich setze narrative Identität als den  diskursiven Reflexionsraum des Subjekts voraus.47  Im  Folgenden  werde  ich  Aspekte  der  Subjektkonstruktion  im  Jo‐ hannes‐  und  Matthäusevangelium  beleuchten.  Für  beide  Evangelien  gilt,  dass  die  narrative  Konstruktion  des  Protagonisten  Jesus  Christus  als Orientierungsgröße für die Subjektwerdungsprozesse der Glauben‐ den vorgestellt wird.     

4. Die Heilung des Blindgeborenen (Johannes 9)    In  der  Geschichte  von  der  Heilung  des  Blindgeborenen  wird  der  Pro‐ zess  des  Zum‐Glauben‐Kommens  als  eine  Subjektwerdung  skizziert.  Für ihn ist seine Heilung die Erfahrung eines Unbedingten, die jegliche  Frage  eigener  Lebensbedingungen  relativiert.  Bereits  das  einleitende                                 46   François  Vouga  weist  eindringlich  auf  die  Bedeutung  der  bedingungslosen  Aner‐ kennung  durch  Gott  für  die  Konstitution  des  Subjekts  und  ihre  Bedeutung  für  das  politische  Denken  des  Paulus  hin;  vgl.  ders.,  Körper  und  Realpräsenz  bei  Paulus,  ZNT 27 2011, 36–44, 36: Das paulinische Verständnis des Körpers verweist „auf eine  Offenbarung, die den Einzelnen in ein Subjekt erster Person verwandelt, das unab‐ hängig von Eigenschaften durch die Verheißung der bedingungslosen Anerkennung  Gottes  definiert  wird.“  vgl.  ders.,  Die  paulinische  Gründung  der  demokratischen  Republik – 1. Korinther 12,1–31, in: E. Reinmuth (Hg.), Neues Testament und Politi‐ sche  Theorie,  Stuttgart  2011,  162–178,  163:  „Jedes  Subjekt  wird  aber  als  Person  be‐ dingungslos,  das  heißt  unabhängig  von  seinen  Eigenschaften  anerkannt.“  Vouga  stellt prägnant fest: „Das politische Denken des Apostels gründet nicht auf dem Ide‐ al  eines  göttlichen  Staates  oder  auf  einer  Utopie,  sondern  auf  der  Entdeckung  der  Subjektivität  der  Person  als  bedingungsloses  Anerkannt‐Sein  und  als  Bewusstsein  seiner selbst.“ (170).  47   Vgl. dazu Peter V. Zima (Anm. 2), 15–25.377–383; vgl. auch Reckwitz, Das hybride  Subjekt (Anm. 15), 140. Identität  und Subjekthaftigkeit sind so wenig identisch wie  Individuum und Subjekt. Reckwitz versteht ebd. die Identität von Subjekten als ‚ihr  subjektives Selbstverstehen‘. 

 

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Gespräch  zwischen  den  Jüngern  und  Jesus  über  die  zu  vermutende  Schuld an der Blindheit des Mannes unterscheidet zwischen den Mög‐ lichkeiten  einer  menschlich  denkbaren  Alternative  (eigene  Schuld  vs.  Schuld  der  Eltern)  und  dem  jenseits  dieser  Möglichkeiten  zu  denken‐ den  unbedingten  Wirken  Gottes,  das  an  diesem  Menschen  sichtbar  werden soll. Das zeigt sich deutlich an dem Heilungsvorgang, bei dem  die Drastik des Breis aus Erde und Speichel mit der Unsichtbarkeit der  Waschung  im  Teich  ‚Gesandter‘  (vgl.  die  Übersetzungsbemerkung  in  v7) kontrastiert wird. Der Heilungsvorgang, der denkbar knapp erzählt  wird (v7c: „...ging fort, wusch sich und kam sehend zurück“), findet in  der  narrativ  konstruierten  Spannung  von  Sicht‐  und  Unsichtbarkeit  statt.  Diese  erzählerische  Strategie  kennzeichnet  die  johanneischen  Visibilisierungen des Unbedingten (vgl. z.B. Johannes 11,40ff).48   Vordergründig handelt es sich um eine Heilung, der Anklage und  Bekenntnis folgen. Hintergründig aber geht es um den Prozess des zum  Glauben  Kommens  eines  Protagonisten,  den  die  Gemeinde  wie  eine  Konfiguration  ihrer  selbst  verstehen  kann.  Dabei  fällt  auf,  dass  der  Blindgeborene an Jesus selbst erinnert: Dafür sprechen seine Identitäts‐ behauptung, für  die  er  dieselben  Worte  wie  Jesus  gebraucht  (v9; s.u.),  die  Feindschaft  gegen  ihn,  sein  Hinauswurf,  die  Distanzierung  seiner  Eltern. Der ehemals blinde Bettler erlebt seine eigene Passionsgeschich‐ te, eine Geschichte des Fraglichwerdens der eigenen Identität (vgl. v8f,  aber auch 18f.), des Verleugnetwerdens (vv20–23), der falschen Ankla‐ ge  (v24),  Schmähung  (λοιδορέω  v28)  und  Ausschließung  (v34;  vgl.  v22).  Und  dennoch  ist  dies  die  Geschichte  seiner  Subjektwerdung.  Er  krönt sie mit seinem Bekenntnis (v38), das durch Jesus deutend bestä‐ tigt wird (v39).   Der  größte  Teil  der  Erzählung  widmet  sich  der  Entwicklung  des  Blindgeborenen. In mehr als einem Viertel der direkten Reden ist er der  Sprecher. Man kann in seinem Reden die Entwicklung dessen ablesen,  wozu er sich bekennt (vgl. vv11.17.25.33.38).  Überdies  wird  die  Haltung  der  Eltern  bestürzend  angstvoll  und  lieblos  gekennzeichnet.  Sie  lassen  ihren  Sohn  im  Regen  stehen,  wo  Freude angesagt wäre. Offenbar geht es dem Erzähler nicht nur um den  Hinweis  auf  die  mögliche  Konsequenz  des  Synagogenausschlusses,  sondern  auch  des  Ausschlusses  aus  der  Familie.  Es  geht  offenbar  um  modellhafte  Jüngerschaft.  9,30–38  zeigt,  dass  aus  dem  Blinden  ein  Be‐ kennender geworden ist.   Der Blindgeborene fungiert auch da als Protagonist der Gemeinde,  wo  Jesus  ihm  erneut  begegnet:  v35.  Er  als  der  nun  Ausgestoßene                                 48   Vgl. dazu den in Anm. 14 genannten Beitrag, speziell 89f. 

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(ἀποσυναγωγός) erfährt neue Annahme, wie Jesus in 6,37 ankündigte:  wer  auch  immer  zu  mir  kommt  –  ich werde  ihn  nicht  hinauswerfen.49  Die Identitätsaussage des geheilten Blindgeborenen (9,9) ist Programm  für  sein  weiteres  erzähltes  Verhalten  und  Ergehen.  Nach  seiner  Hei‐ lung ist der Zweifel der Nachbarn an seiner Identität die erste proble‐ matische  Situation,  die  der  Geheilte  zu  bestehen  hat.  Er  hält  den  aus‐ führlich  geäußerten  Mutmaßungen  sein  ‚ich  bin  ich‘  entgegen  –  eine  Äußerung, mit der er nicht nur seine Identität behauptet, sondern zu‐ gleich seine Geschichte beansprucht: Ich bin der, der dasaß und bettelte  (v8b), und ich bin geheilt von meiner Blindheit. Der Blindgeborene will  nicht  mehr  Objekt  von  Mutmaßungen  sein.  Sie  liegen  bereits  seiner  Heilung  voraus.  Die  Jünger  stellen  Jesus  die  Frage,  wer  die  Blindheit  dieses Bettlers verschuldete: Er selbst oder seine Eltern? Eine Frage, die  ihn  zum  Objekt  macht,  die  der  direkten  Konfrontation  mit  seiner  Not  ausweicht,  und  die  versucht,  seine  Blindheit  über  die  Klärung  der  Schuldfrage  gleichsam  zu  legitimieren.  Die  Schuldfrage  –  so  oder  so  beantwortet  –  wäre  imstande,  diesen  Menschen  als  Objekt  einer  vor‐ ausliegenden Entscheidung zu verstehen; die Strategie der Jünger um‐ geht folglich das Erfordernis, den Blinden als Subjekt anzuerkennen. Er  wird es, wenn das Handeln Gottes an ihm wirksam wird (v3).  Jesu Identität wird indessen selbst zum Gegenstand der Kontrover‐ se.  Er  tritt  als  heilender  Wundertäter in  den  vv1–7 auf; ab  dann dreht  sich der Streit eher mittelbar um ihn ‐ im Zentrum steht der Blindgebo‐ rene.  Erst  ab  v35  tritt  Jesu  wieder  auf.  Seine  Person  ist  freilich  die  ei‐ gentliche Referenz des Textes. Die Abwesenheit Jesu als Bedingung des  Diskurses  über  ihn  bildet  die  Situation  der  Erzählwelt  des  johannei‐ schen Textes ab.  Jesus  wird  zum  Hassobjekt  der  politischen  Mächte.  Gleiches  gilt  denen,  die  ihm  glauben.  Das  wird  exemplarisch  verdeutlicht  am  Ge‐ schick  des  geheilten  Blinden;  es  wird  im  Johannesevangelium  auch  generalisierend  ausgesagt.50  Dieser  Hass  ist  ‚ohne  Grund‘  (Zitat  Ps  35,19 in 15,25); es ist der Hass der ‚Welt‘ auf das ihr nicht Zugehörige.   Die Geschichte erzählt in dramatischen Wendungen, wie der Blinde  vom  Objekt  zum  Subjekt  wird.  Seine  Selbstaussage  ‚ich  bin  ich‘  wird  dafür  zum  Programm.  Von  Station  zu  Station  gewinnt  er  an  Hand‐ lungsfähigkeit,  und  Johannes  korreliert  diesen  Zuwachs  unmissver‐ ständlich mit dem Hineinwachsen in das Bekenntnis zu dem, dem der  Blinde seine Subjektwerdung verdankt.                                 49   έκβάλλω έξω wie in 9,34f.  50   Vgl. 17,14 sowie 15,18f.23–25 und 3,20; 7,7. 

 

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Er hat gelernt, zu sich und seiner Geschichte zu stehen, seine Identität  gegenüber  ihren  Infragestellungen  (v8f.;  vgl.  v18)  zu  behaupten,  und  Überlegenheit gegenüber den immer hilfloseren Versuchen, ihn zu be‐ fragen  und  zu  überführen,  zu  gewinnen.  Seine  Subjektwerdung  ge‐ schieht und wächst mit seinem Bekenntnis; sie gründet folglich in der  Geschichte, also der narrativ konstruierten Identität dessen, zu dem er  sich bekennt.     

5. Die Identität Jesu in der johanneischen                             Passionsgeschichte    Im Johannesevangelium wird die Frage, wer Jesus wirklich ist, intensiv  diskutiert.  Diese  Frage  ist  für  den  Autor  zwar  längst  entschieden;  er  kann und will sie als Frage mit ungewisser Antwort nicht stellen. Aber  seine  Antwort  des  Glaubens  und  des  Bekenntnisses  zu  diesem  Jesus  ereignet  sich  in  Kontexten  der  Bestreitung  und  Bedrohung,  in  immer  neuen Erfahrungen des Durchstreichens und Streitigmachens. Behaup‐ tung  und  Bestreitung  stehen  gegeneinander  –  ein  unlösbarer  Konflikt,  der lediglich in der Gewissheit des Glaubens entschieden ist, nicht aber  auf der Ebene von Wissen und Beweis. Diesem Konflikt sieht Johannes  ins Auge, und deshalb erzählt er eindringlich die Strittigkeit der Identi‐ tät Jesu. Sein Erzählziel geht jedoch weiter.   Ich will das an der johanneischen Passionsgeschichte verdeutlichen.  Dieser  Gedanke  legt  sich  schon  deshalb  nahe,  weil  hier  dreimal  die  Worte  ‚Ich  bin  ich‘  im  Munde  Jesu  erzählt  werden  (18,5.6.8).51  Dass  Johannes jemanden ‚ich bin ich‘ sagen lässt, hatten wir gerade im Mund  des  Blindgeborenen  (9,9)  gehört.  Er  bringt  damit  zum  Ausdruck,  dass  er  ein anderer  geworden  ist,  ein  Geheilter,  der sehenden  Auges zu ei‐ nem Glaubenden wird.   Jesus bekennt im Moment seiner Gefangennahme seine Identität. Er  beantwortet mit den Worten „ich bin es/ich“ die Suchadresse „wir su‐ chen Jesus, den aus Nazareth“.52 Hier stoßen Welten aufeinander. Auf                                 51   Vgl.  dazu  4,26  (ἐγώ  εἰμι,  ὁ  λαλῶν  σοι);  8,58  (πρὶν  Ἀβραὰμ  γενέσθαι  ἐγὼ  εἰμί).  Diese beiden Verwendungen sind von dem absoluten Gebrauch des ἐγὼ εἰμί im Zu‐ sammenhang  der  Passionserzählung  zu  unterscheiden.  Vgl.  noch  6,20  (ich  bin  es,  fürchtet euch nicht); 8,18 (nur Jesus selbst kann sich bezeugen); vgl. 8,23f. (s.u.). Dass  die Wendung ἐγὼ εἰμί in 18,5.6.8 „weit mehr ist als eine Selbstidentifikation Jesu als  des Gesuchten“, wird auch von H. Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübin‐ gen 2005, 709 beobachtet. Zu den absoluten Ich‐bin‐Worten im Johannesevangelium  vgl. ders., Art. „Ich‐Bin‐Worte‘, RAC 17 1996, 147–213, 174–177.  52   Vgl. dazu Thyen HNT 6, 709. 

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der einen Seite Jesus, der im Wissen um seine Zukunft die anrückenden  Soldaten fragt, wen sie suchen – auf der anderen Seite die Häscher, die  zu wissen glauben, wen sie suchen: Einen Verbrecher aus Nazareth mit  dem (häufigen) Namen ‚Jesus‘.   Sie repräsentieren in der Sicht des Johannes überdies – mit Judas an  der  Spitze53  ‐  den  Beherrscher  der  Welt,  der  im  Kommen  begriffen  ist  (14,30),  der  dem  Pilatus  temporär  die  Macht  verleiht  (19,11),  und  der  doch im Passionsgeschehen entmachtet wird.54 Die tatsächliche Identi‐ tät Jesu, so wird im Moment seiner Gefangennahme deutlich, wird vom  „Fürst  dieser  Welt“  und  seinen  Handlangern  nicht  einmal  erkannt.  Dieser  Umstand  wird  dazu  führen,  dass  Jesus  in  Verlauf  der  Passion  zwischen alle Stühle gerät (s.u.).  Die  Wirkung  seiner  Worte  ist  verblüffend.  Das  Kommando  aus  Soldaten  und  Tempelknechten,  das  wohlgerüstet  wie  zur  Ergreifung  eines gefährlichen Gewaltverbrechers55 zu seiner Gefangennahme aus‐ gerückt  war,  fällt  auf  den  Boden.  Zwei  Worte  im  Griechischen,  viel‐ leicht  drei  im  Deutschen,  und  diese  Wirkung?  Johannes  will  damit  verdeutlichen,  um  was  es  mit  diesen  Worten  geht.  Was  das  Zufüh‐ rungskommando  erlebt,  ist  eine  (vorösterliche;  vgl.  20,28)  Epiphanie.  Jesus  wird  nicht  ängstlich  geschildert,  sondern  ruhig  und  überlegen.  Bei ihm liegt die Initiative. Statt geküsst zu werden (wie bei den Synop‐ tikern), sagt er „ich bin es“. Und er redet, als ob Gott selber sagen wür‐ de: Ich bin ich. Diese Worte waren Johannes und seiner Gemeinde be‐ kannt; es sind die Worte Gottes, die er dem Mose aus dem brennenden  Dornbusch  gesagt  hatte  (Ex  3,14):  Ich  bin  der,  der  ich  bin;  ich  werde  sein,  der  ich  sein  werde,  ἐγώ  εἰμι  ό  ὠν.  Darum  also  die  dramatisch  gestaltete  Szene  der  Gefangennahme  18,1ff;  Jesus  wird  nicht  erkannt,  aber seine Selbstidentifikation löst Entsetzen aus.     

6. Passion und Subjektivierung    Hier  fallen  diese  Worte,  am  Anfang  der  Passion,  im  Moment,  als  die  Falle  zuschnappt.  Diese  Geschichte  wird  zeigen,  was  es  heißt,  wenn  Jesus „ich bin ich“ sagt. Sie wird zeigen, dass an ihm und seinem Weg 

                               53   Vgl. 6,70f.; 13,2 – beide Stellen verwenden διάβολος. Vgl. 13,27: σατανᾶς.  54   Vgl. 12,31 (ähnlich 16,11) als unmittelbar vorlaufenden Kontext zu 12,32f. (s.u.): νῦν  κρίσις ἐστὶν τοῦ κόσμου τούτου, νῦν ὁ ἄρχων τοῦ κόσμου τούτου ἐκβληθήσεται  ἔξω∙  55   σπεῖρα ist die Kohorte, als der zehnte Teil einer Legion; das sind ca. 500 Mann. 

 

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Gott  erkennbar  wird  und  wie  Gottes  Glanz  sichtbar  wird.56  Was  das  bedeutet, wird noch zu fragen sein.  Im Gegensatz dazu werden einem der wichtigsten Jünger die Wor‐ te in den Mund gelegt: Ich bin nicht ich. Petrus, gefragt, ob er nicht zu  der  Jesusgruppe  gehöre,  nur  wenige  Verse  nach  der  Schilderung  der  Gefangennahme,  nur  wenige  Verse  nach  seiner  todesmutigen  bewaff‐ neten Gegenwehr (18,10–11), antwortet entsetzt: ich bin es nicht (18,17),  und noch ein zweites Mal (18,25), und ein drittes, bei dem diese Worte  in dem „und er leugnete abermals“ impliziert sind (18,27). Die griechi‐ schen Worte können ebenso gut mit „Ich bin nicht ich“ übersetzt wer‐ den,  eine  Bedeutung,  die  sich  nach  unseren  bisherigen  Überlegungen  nahe legt. Petrus verliert gleichsam seine Identität in dem Moment, in  dem  er  seine  Verbundenheit  mit  Jesus  und  mit  seiner  eigenen  Ge‐ schichte in Abrede stellt. Dem dreimaligen „Ich bin ich“ Jesu steht da‐ mit  die  dreimalige  Leugnung  des  Petrus  gegenüber,  die  zum  Verlust  seiner Identität führt. Er wird zum Objekt einer (ergebnislosen) Befra‐ gung, eines bleibenden Verdachts. Und er verlor offenbar seine Hand‐ lungsfähigkeit  mit  dem  getadelten  Schwertstreich  (18,10f).  Diese  Kon‐ stellation  lädt  dazu  ein,  die  Frage  nach  der  Identität  Jesu,  die  von  Jo‐ hannes  offensichtlich  mit  seiner  Passionserzählung  thematisiert  wird,  genauer zu verfolgen.  Schon  bei  der  Feststellung  der  Personalien  (18,19)  kommt  es  zum  Eklat.  Jesus  lehnt  eine  Antwort  auf  die  Frage  nach  seiner  Identität  ab  und  verweist  stattdessen  auf  die,  die  ihn  haben  reden  hören.  Wenn  jemand  Auskunft  geben  kann,  wer  er  wirklich  ist,  dann  sind  sie  es  (v20f.).  Die  Reaktion  ist  heftig  und  vielsagend.  Jesus  wird  von  einem  der Tempeldiener ins Gesicht geschlagen. Offenbar trifft Jesu Antwort  ins Schwarze. Er verweist die Antwort auf die Frage nach seiner Identi‐ tät an diejenigen, die zu Adressaten seines Redens wurden. Menschen  wie der geheilte Blindgeborene können authentisch Auskunft geben.  Das nächste Verhör findet vor Pilatus statt. Seine Frage, was diesem  Angeklagten  vorgeworfen  wird,  erhält  die  Antwort  „wäre  er  nicht  schuldig,  würden  wir  ihn  Dir  nicht  bringen“,  bleibt  also  in  sachlicher  Hinsicht antwortlos. Damit beginnt ein Gerangel der Zuständigkeiten,  ein  Hin‐  und  Herschieben  der  Verantwortung  (vgl.  v31),  das  erzähle‐ risch  deutlich  macht,  dass  Jesus  als  der  Christus  gleichsam  ohne  Ort,  ohne  Recht  bleibt.  Er  wird  zusehends  zum  Objekt  der  politischen  Mächte, deren Widerstreit zunächst ergebnislos, dann aber tödlich en‐ den wird. So ergibt sich eine politische Perspektive, die sich bereits an  der  Gestalt  des  geheilten  Blinden  (9,1ff.)  abgezeichnet  hatte.  Auch  er                                 56   Vgl. 1,5: Das Licht scheint in der Finsternis. 

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verliert  über  seine  Heilung  gleichsam  seine  angestammte  Identität,  seinen Ort in der Gemeinschaft. An ihm sollen Konsequenzen verdeut‐ licht werden, die sich für diejenigen ergeben, die sich dem neuen Glau‐ ben anschließen und ihr Subjektsein in ihm gegründet sehen.  Jesu Ort‐ und Rechtlosigkeit, wie sie in der Passionserzählung sinn‐ fällig  wird,  hat  also  nicht  nur  eine  klare  ekklesiologische  Perspektive,  sondern  enthält  zugleich  unübersehbar  eine  politische  Botschaft.  Der  Prozess  der  Subjektwerdung  kann  mit  der  Erfahrung  verbunden  sein,  zunehmend  zum  Objekt  der  politischen  Mächte  zu  werden.  Das  aber  muss – selbst wenn die äußere Handlungsfähigkeit eingeschränkt wer‐ den sollte – keineswegs heißen, das eigene Subjektsein zu verlieren. Im  Gegenteil  –  die  Erzähltendenz  läuft  darauf  hinaus,  dass  Jesu  Identität  deutlich zutage tritt, während die der übrigen Akteure zusehends irri‐ tiert und unsicherer wird.  Das  Gespräch  mit  Pilatus  (Johannes  18,28–19,16)  bildet  den  Höhe‐ punkt  des  Prozessgeschehens  in  der  johanneischen  Passionsdarstel‐ lung.  Johannes  schildert  einen  mehrstufigen  Gesprächsgang,  während  Markus nur einen einzigen Wortwechsel bietet (Mk 15,2f.).57  Pilatus  fragt  Jesus  nach  seiner  Identität:  Bist  du  der  König  der  Ju‐ den  (v33)?58  Aber  Jesus  reagiert  mit  einer  Gegenfrage  (v34):  Sagst  du  das  von  dir  aus,  oder  haben  es  andere  über  mich  gesagt?  Auch  diese  Entgegnung  verweist,  ganz  ähnlich  wie  in  v21,  auf  das  Echo  des  Re‐ dens  Jesu,  und  nennt  alternativ  dazu  die  Möglichkeit,  Pilatus  wäre  selbst  auf  seine  Frage  nach  der  königlichen  Identität  Jesu  gekommen.  Der  Dialog zwischen  beiden  endet im Desaster. Pilatus – auch  für  ihn  wird  seine  Identität  fraglich59  –  bleibt  nur  noch  die  Frage  zu  stellen  „was  ist  Wahrheit“.  Hinsichtlich  der  Identität  Jesu  bleibt  alles  offen,  hinsichtlich seiner erzählten Überlegenheit offenbar nicht. Maßt er sich  an,  der  „König  der  Juden“  zu  sein  oder  nicht  (vgl.  18,33.37.39;  19,3.14f.21)? Was sagt er selbst? „Du sagst, ich bin ein König.“ (18,37).60                                 57   Vgl.  dazu  auch  Ruben  Zimmermann,  „‚Deuten‘  heißt  erzählen  und  übertragen.  Narrativität  und  Metaphorik  als  zentrale  Sprachformen  historischer  Sinnbildung  zum  Tod  Jesu,  in:  J.  Frey,  J.  Schröter,  Deutungen  des  Todes  Jesu  im  Neuen  Testa‐ ment, WUNT 181, Tübingen 2005, 315–373, 339–351; vgl. L. Schenke, Johannes, Düs‐ seldorf 1998, 349f.  58   Vgl. 1,49; 6,15; 12,12f. Nirgends im Johannesevangelium bezeichnet Jesus sich selbst  als König. Das gilt auch für 18,37 (s.u. Anm. 60). Eine genaue Anklage gegen Jesus  gibt es nicht (18,30); dennoch setzt Pilatus voraus, es gehe hinsichtlich des Angeklag‐ ten um den Königstitel (18,33b).   59   Vgl. 18,35; der römische Statthalter fragt: Bin ich etwa ein Jude?   60   Das betonte „Du sagst es“ (σὺ λέγεις, vgl. Mk 15,2 sowie die Parallelen Mt 27,11; Lk  23,3) spricht dafür, einerseits die Verantwortung für die Identitätsaussage bei Pilatus  zu verorten, andererseits dessen Vermutung, der vor ihm stehende Gefangene gehö‐

 

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Und  wie  verhält  sich  das  zum  Kaiser  der  Römer  (19,12.15)?  Ist  er   Mensch – oder Sohn Gottes (19,5.7)?61  In  Joh  18,36  stellt  Jesus  fest:  Meine  Königsherrschaft  entstammt  nicht  dieser  Welt.  Wenn  meine  Herrschaft  ihren  Ursprung  in  dieser  Welt  hätte,  würden  meine  Diener  kämpfen,  dass  ich  den  Juden  nicht  ausgeliefert  werde.  Tatsächlich  aber  stammt  meine  Herrschaft  nicht  von hier.62  In  diskurstheoretischer  Perspektive  wirft  diese  Behauptung  ein  Schlaglicht auf den Zusammenhang von Diskurs und Subjektwerdung,  wie  er  anhand  der  johanneischen  Passionsgeschichte  aufgezeigt  wer‐ den  kann.  Denn  offensichtlich  bedeutet  der  Satz  Jesu  eine  Selbstaus‐ schließung  aus  den  ‚in dieser  Welt‘  gültigen  Legitimierungsdiskursen.  Für die Jünger bzw. Anhänger Jesu wäre die Verpflichtung, die Auslie‐ ferung an seinen Todesweg zu verhindern, im Kontext einer politischen  Legitimation  seiner  Herrschaft  unumgänglich.  Aber  Jesus  behauptet,  dass  seine  Herrschaft  „dieser  Welt“  und  damit  den  Diskursen,  die  in  ihr Geltung beanspruchen können, entzogen ist. Statt Fragen zu beant‐ worten, stellt er selbst seinen Richter in Frage (19,11). Trotz Gefangen‐ schaft und Demütigung bleibt er der Souverän. Je mehr Jesus zum Ob‐ jekt gemacht wird, desto deutlicher wird er als Subjekt erkennbar.                                 re in die Kategorie ‚König‘ (v37), nicht verneint zu sehen. Es geht hier nicht um die  Entscheidungsfrage, ob Jesus die Frage des Pilatus bejaht oder verneint. Für eine Be‐ jahung aus dem Munde Jesu plädieren Thyen HNT 6, 720; Udo Schnelle, Das Evan‐ gelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig  32004, 299; Rudolf Bultmann, Das Evangeli‐ um  des  Johannes,  Göttingen  191968,  506  Anm.  7.  Anders  C.K.  Barrett,  Das  Evan‐ gelium  nach  Johannes,  KEK  Sonderband,  Göttingen  1990,  517:  „Jesus  will  sein  Königtum weder bestätigen noch es verleugnen.“  Tatsächlich handelt es sich um die  narrativ  konstruierte  Kollision  zwischen  dem  politischen  Diskurs  des  Pilatus  und  dem Diskurs der Glaubenden, der mit dem betonten ‚ich‘ (v37b) die mit ‚du‘ einset‐ zende  Antwort  Jesu  fortsetzt.  Beide  Diskurse  streiten  um  die  Wahrheit  (vgl.  v37b.38a).  Udo  Schnelles  Kommentar  zur  Stelle,  es  gehe  im  Prozess  gegen  Jesus  „nicht  um  machtpolitische  Fragen“,  Wahrheit  sei  vielmehr  für  Johannes  „allein  ein  theologischer, d.h. christologischer und soteriologischer Begriff“ (a.a.O. 299), ist vor  diesem Hintergrund zurückzuweisen.  61   Ruben Zimmermann (Anm. 57), 344 hat neben den strukturierenden Gegensatzpaa‐ ren ‚König der Juden‘ – ‚Kaiser der Römer‘, ‚Mensch – Sohn Gottes‘, Gesetz der Ju‐ den  –  Gesetz  der  Römer  (letzteres  „als  Rechtsgrundlage  des  römischen  Prozesses  implizit  vorausgesetzt“;  18,31;  19,7)  weitere  „binäre  Oppositionspaare“ zusammen‐ gestellt: „mächtig – ohnmächtig (Joh 19,10f.); politisch – religiös; schuldig – unschul‐ dig  (Joh  18,38;  19,4.6);  ängstlich  –  souverän  (Joh  19,8f.);  frei  –  gefangen  (Joh  18,39;  19,10.12); wahr – unwahr (Joh 18,37f.) etc.“  62   ἡ βασιλεία ἡ ἐμὴ οὐκ ἔστιν ἐκ τοῦ κόσμου τούτου∙ εἰ ἐκ τοῦ κόσμου τούτου ἦν ἡ  βασιλεία  ἡ  ἐμή,  οἱ  ὑπηρέται  οἱ  ἐμοὶ  ἠγωνίζοντο  [ἂν]  ἵνα  μὴ  παραδοθῶ  τοῖς  Ἰουδαίοις∙ νῦν δὲ ἡ βασιλεία ἡ ἐμὴ οὐκ ἔστιν ἐντεῦθεν.  

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Die Antwort Jesu nennt in Abhängigkeit von der denkbaren Herkunft  der  Herrschaft  Jesu  zwei  Handlungsoptionen:  Ist  die  Herrschaft  Jesu  tatsächlich nicht von dieser Welt, also in ihren Augen unableitbar, so ist  damit die Antwortlosigkeit Jesu erklärt. Wäre sie indessen „von dieser  Welt“,  also  ableitbar  aus  den  in  ihr  gültigen  Diskursen  und  in  ihnen  legitimiert, dann wäre Verteidigung und Kampf erforderlich und sinn‐ voll.  Jesu  Auslieferung  ist  nach  diesen  Worten  kein  Zufall,  sondern  offensichtlich an die Weise seiner Herrschaft gebunden.  Der  letzte  Satz  des  Pilatus  in  direkter  Rede  ist  als  irritierte  Frage  und nicht als „Machtwort“ gestaltet:63 Euren König soll ich kreuzigen?  Die Ankläger indessen setzen sich selbst ins Unrecht.64 Ihr Blasphä‐ mievorwurf gegen Jesus (19,7), richtet sich gegen sie selbst, weil sie es  sind,  die  mit  ihrem  Bekenntnis  zum  römischen  Kaiser  als  dem  für  sie  einzigen  König  (19,15c)  Gott  lästern  und  gegen  seinen  königlichen65  Herrschaftsanspruch verstoßen.  Die Frage, wer Jesus wirklich ist, prägt auch die nächste Szene (38b‐ 40).  Das  Volk  entscheidet  zwischen  ‚König‘  und  ‚Straßenräuber‘.  Es  verkennt vollkommen, wen es verwirft,66 und weiß offenbar nicht, wer  Barrabas tatsächlich ist (Erzählerkommentar v40c). Johannes löst erzäh‐ lerisch  die  Feststellung  des  Prologs  ein:  Die  Welt  erkannte  ihn  nicht  (Johannes 1,10).67  Nach  der  Geißelung  Jesu  setzt  sich  das  Spiel  zwischen  Hohen‐ priestern  und  Pilatus,  zwischen  einheimischer  Elite  und  Besatzungs‐ macht  fort.  Pilatus  gerät  in  Angst  und  fragt  Jesus  erneut  nach  seiner  Identität:  Woher  bist  du  (19,9)?  Eine  Antwort  erhält  er  nicht.  Tat‐                                63   Zimmermann, a.a.O. 346. Zimmermann stellt zu Recht fest: „Pilatus agiert nicht wie  der  mächtigste  Mann  in  Palästina,  der  er  als  Stellvertreter  des  Kaisers  faktisch  ist,  sondern  wird  unsicher,  wankelmütig  dargestellt,  wie  es  das  Hin‐  und  Hergehen  zwischen innen und außen auch szenisch demonstriert. Er wird sogar als ‚ängstlich’  beschrieben  (19,8).  Statt  eigenständig  zu  urteilen,  tut  er  am  Ende  das,  was  er  gar  nicht will (vgl. die drei Unschuldserklärungen in 18,38; 19,4.6 bzw. die Freilassungs‐ versuche).“ (347).  64   Vgl. Zimmermann, ebd.  65   Zimmermann verweist ebd. auf Ps 93,1; 96,10; 97,1.  66   Für  Johannes  ist  Jesus  gleichsam  der  König  der  βασιλεία  τοῦ  θεοῦ,  von  der  die  Synoptiker  sprechen  (vgl.  bei  Johannes  nur  3,3.5):  „Jesus  spricht  nicht  etwa  in  Gleichnissen über das Reich Gottes, sondern er spricht u.a. in Gestalt von Selbstprä‐ dikationen über sich.“ (E.E. Popkes, ‚Das Mysterion der Botschaft Jesu‘. Beobachtun‐ gen  zur  synoptischen  Parabeltheorie  und  ihren  Analogien  im  Johannesevangelium  und Thomasevangelium, in: R. Zimmermann {Hg.}, Hermeneutik der Gleichnisse Je‐ su. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte, WUNT 231,  Tübingen 2008, 294–320, 310).  67   Vgl. 1,26; 4,10; 7,28f.; 8,19f.25.54f.; 16,3; 1 Johannes 3,1. 

 

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sächlich  geht  es  immer  dringlicher  um  den  ‚Ort‘  Jesu.  Da  keine  der  beiden  Parteien  Verantwortung  für  das  Schicksal  des  Angeklagten  übernehmen  will,  wird  seine  Identität  sichtlich  ortlos.  Das  zeigt  sich  auch  an  den  Ortswechseln,  die  mit  dem  Angeklagten  vorgenommen  werden (19,5.9.13.16).   Für Johannes  ist  die  Differenzierung  zwischen  Innen‐  und  Außen‐ szenen wichtig.68 ‚Die Juden‘ wollen nicht ins Prätorium, um sich nicht  zu verunreinigen vor dem Passafest (18,28); aber Jesus ist drinnen das  wahre Passalamm (1,29.36; 19,33.36). Pilatus kommt also heraus. Jesus  aber wird hineingeführt zum Verhör.  Vor dem skizzierten Hintergrund wird auch die ‚Logik‘ der Geiße‐ lung  Jesu  deutlich.  Pilatus  lässt  Jesus  geißeln  (19,1),  weil  er  meint,  so  die  Wahrheit  zu  erfahren.69  Folter  war  in  der  römischen  Welt  v.a.  bei  der  Befragung  von  Sklaven  und  anderen  niedrig  gestellten  Menschen  in  Gebrauch.70  Vor  diesem  Hintergrund  müssen  auch  die  Schläge,  die  im  Zentrum  des  Pilatus‐Prozesses  stehen  (19,1–3),  als  Teil  peinlicher  Befragung  verstanden  werden:  Die  Wahrheit  heraus  zu  bekommen,  wozu Jesus in die Welt kam, und seine Identität vor aller Augen gleich‐ sam objektiv feststellen zu können.  Pilatus  führt  den  gefolterten  Jesus  dem  Volk  vor  und  weist  aber‐ mals  auf  seine  Unschuld  hin:  Sie  wird  offensichtlich  am  gefolterten  Körper sichtbar. Die erste ‚Ansicht‘ Jesu, die Johannes seinen Rezipien‐ ten liefert, ist die des gefolterten Jesus.71  Das ecce homo 19,5 verweist in  diesem  Sinne  zurück  auf  1,14:  Am  gefolterten  Körper  Jesu  wird  die  Herrlichkeit  des  unsichtbaren  Gottes  (1,18),  der  Glanz  des  menschge‐ wordenen  Wortes  sichtbar.  Jesu  Worte  an  Pilatus  vor  der  Geißelung  deuten  vorlaufend  dieses  Geschehen:  ich  bin  dazu  geboren  worden  und in die Welt gekommen, damit ich die Wahrheit bezeuge (18,37b).72  Die  Geißelung  als  Wahrheitserkundung  macht  Jesus  zu  diesem  Zeu‐ gen.  Die  Logik  der  Folterer  sagt:  Die  Tortur  ringt  dem  Fleisch  die 

                               68   Vgl. Zimmermann (Anm. 57), 340ff.  69   Vgl.  dazu  Jennifer  A.  Glancy,  Torture:  Flesh,  Truth,  and  the  Fourth  Gospel,  BI  13  2005, 107–136. Die folgenden Überlegungen sind durch diesen Beitrag angeregt.  70   Die  Misshandlung  des  Paulus  in  Act  22,24  hat  ebenfalls  Untersuchungscharakter.  Auch hier wird das Verb μαστίξειν verwendet.  71   Vgl. Glancy, a.a.O. 126.  72   ἐγὼ εἰς τοῦτο γεγέννημαι καὶ εἰς τοῦτο ἐλήλυθα εἰς τὸν κόσμον, ἵνα μαρτυρήσω  τῇ ἀληθείᾳ∙ 

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Wahrheit ab;73 das Johannesevangelium ironisiert diesen Rechtsgrund‐ satz. Jesu gefolterter Leib bezeugt in ganz anderer Weise die Wahrheit.  Um  welche  Wahrheit  geht  es?  Offensichtlich  läuft  die  Erzähllogik  des Johannes mit aller Wucht darauf zu, dass die Identität Jesu in seiner  Passion  paradox,  aber  unmissverständlich  sichtbar  wird.  Auch  Jesu  auferstandener  Leib,  gezeichnet  von  den  Folterspuren,  zeugt  für  die  Wahrheit74  –  eine  Wahrheit,  die  die  Folterer  nicht  kennen,  und  die  sie  dennoch unwissentlich sichtbar machen.  Dieser  Zusammenhang  wird  bereits  in  8,28  formuliert.  Dort  heißt  es:  wenn  ihr  den  Sohn  des  Menschen  erhöhen  werdet,75  dann  werdet  ihr erkennen, dass ich es bin.76 An der Kreuzigung also und dem Weg  zu ihr wird unübersehbar deutlich werden, wer Jesus tatsächlich ist.77   Gleiches  gilt  für  13,19.  Jesus  weist  in  der  Situation  des  letzten  Abendmahls auf die bevorstehende Passion hin, in der seine Jünger ihn  als den erkennen können, der er ist. Sie werden ihn als den erkennen,  der sagt „ich bin ich“ (ἐγώ εἰμι).  In  18,32  begegnet  ein  Erfüllungszitat,  das  als  textinterne  Analepse  gestaltet ist.78  Die Ankläger Jesu dürfen ihn nicht töten. Das müssen sie  den  Besatzungstruppen  überlassen.  Die  Kreuzigung  Jesu,  die  aus‐ schließliches  Recht  der  römischen  Besatzungstruppen  war,  wird,  wie  wir  gesehen  haben,  im  Johannesevangelium  als  Erhöhung  bezeichnet. 

                               73   Vgl. dazu Dig 48.10.15.41: Unter Folter verstehen wir, dass einem Körper Qual und  Schmerz  zugefügt  werden,  um  die  Wahrheit  heraus  zu  bekommen  ad  eruendam  veritatem. Vgl. dazu Glancy (Anm. 69), 119.  74   Vgl. 20,20.25.27.  75   Vgl. 3,14f.; 12,32f.  76   ὅταν ὑψώσητε τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου, τότε γνώσεσθε ὅτι ἐγώ εἰμι.  77   Diese  Logik  wird  vorbereitend  in  8,23f.  unterstrichen:  καὶ  ἔλεγεν  αὐτοῖς∙  ὑμεῖς  ἐκ  τῶν κάτω ἐστέ, ἐγὼ ἐκ τῶν ἄνω εἰμί∙ ὑμεῖς ἐκ τούτου τοῦ κόσμου ἐστέ, ἐγὼ οὐκ  εἰμὶ  ἐκ  τοῦ  κόσμου  τούτου.  8,24  εἶπον  οὖν  ὑμῖν  ὅτι  ἀποθανεῖσθε  ἐν  ταῖς  ἁμαρτίαις  ὑμῶν∙  ἐὰν  γὰρ  μὴ  πιστεύσητε  ὅτι  ἐγώ  εἰμι,  ἀποθανεῖσθε  ἐν  ταῖς  ἁμαρτίαις ὑμῶν. 8,25 Ἔλεγον οὖν αὐτῷ∙ σὺ τίς εἶ... Die Frage „wer bist Du’ wurde  bereits  dem  Täufer  am  Anfang  des  Evangeliums  unmittelbar  nach  dem  Prolog  ge‐ stellt (1,19); sie wird am Ende als nicht geäußerte Frage gegenüber dem Auferstan‐ denen aufgenommen (21,12).  78   Vgl.  ähnlich  18,9  mit  6,39:  Johannes  18,4–9  schildert,  wie  Jesus  die  Jünger  davor  bewahrt,  ebenfalls  in  Gefangenschaft  zu  geraten;  er  erwirkt,  dass  sie  bei  seiner Ge‐ fangennahme unbehelligt bleiben, und er erfüllt damit die in 6,39 getroffene Aussa‐ ge  (Es  ist  aber  der  Wille  dessen,  der  mich  gesandt  hat,  dass  ich  keinen  von  denen,  die  er  mir  gegeben  hat,  verloren  gehen  lasse,  sondern  dass  ich  sie  auferwecke  am  letzten Tage); vgl. dazu auch 10,28f; 17,12. 

 

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Von  dieser  aber  sprach  Jesus  unmissverständlich  in  12,32f.,  indem  er  die ihm bevorstehende Todesart als seine Erhöhung bezeichnet.79  Aus  all  diesen  Verweisen  wird  deutlich:  Die  Wahrheit,  um  die  es  Johannes geht, ist die Identität Jesu, wie sie in seiner ‚Erhöhung‘ deut‐ lich wird. Mit dem Stichwort ‚Erhöhung‘ wird die politische Metapho‐ rik  der  Kreuzigung  angesprochen.80  Joel  Marcus  hat  an  nichtchristli‐ chen  Quellen  eindringlich  gezeigt,  dass  die  antike  Kreuzesstrafe  als  Parodie einer zu ahndenden (Selbst‐)Erhöhung verstanden wurde.81 Die  Kreuzigung symbolisiert in diesem Sinne wie andere römische Strafen82  das  Prinzip  der  Talio.  Vor  diesem  Hintergrund  gewinnt  der  Zusam‐ menhang von Kreuzigung und dem Vorwurf angemaßter Königsherr‐ schaft83  zusätzliche  Brisanz  für  die  johanneische  Passionsgeschichte.  Gleiches gilt für die Verspottung als ‚König‘.84  Die Vorführung Jesu im  ‚Königsornat‘ provoziert unmittelbar die Aufforderung ‚Kreuzige!‘85  Die johanneische Passionsgeschichte treibt die Frage nach der Iden‐ tität  Jesu  auf  die  Spitze.  Sie  bleibt  jedoch  keineswegs  unentschieden.  Das geht u.a. aus dem bestätigenden Bezug des Erzählers auf die bibli‐ schen  Schriften  Israels  hervor  (vgl.  19,24  {vgl.  Ps  22,19}.36f.  {Ex                                 79   Vgl.  ausführlich  J.  Frey,  Die  „theologia  crucifixi“  des  Johannesevangeliums,  in:  A.  Dettwiler,  J.  Zumstein  (Hg.),  Kreuzestheologie  im  Neuen  Testament,  WUNT  151,  Tübingen 2002, 169–238, 187f.228f. Johannes nimmt in 3,14f. Bezug auf Num 21,4–9.  An dieser letzten Stelle wird – anders als z.B. Jes 52,13; 53,8 – das Verb ὑψοῦσθαι je‐ doch nicht verwendet.   80   Vgl.  Joel  Marcus,  Crucifixion  as  parodic  exaltation,  JBL  125  (2006)  73–87.  Marcus  weist nach, „that crucifixion was widely understood as parodic enthronement in the  ancient world.“ (86). Wichtige Aspekte zur sozialen Symbolik der Kreuzesstrafe ein‐ schließlich  ihrer  Beziehungen  zur  Komik  hat  Laurence  Welborn  herausgearbeitet:  Paul,  The  Fool  of  Christ:  A  Study  of  1  Corinthians  1–4  in  the  Comic‐Philosophic  Tradition, London 2005, 129–146.  81   „This  strangely  ‚exalting’  mode  of  execution  was  designed  to  mimic,  parody,  and  puncture the pretensions of insubordinate transgressors by displaying a deliberately  horrible  mirror  of  their  self‐elevation.  For  it  is  revealing  that  the  criminals  so  pun‐ ished  were  often  precisely  people  who  had,  in  the  view  of  their  judges,  gotten  ‚above’ themselves—rebellious slaves, for example, or slaves who had insulted their  masters, or people of any class who had not shown proper deference to the emperor,  not to mention those who had revolted against him or who had, through brigandage  or piracy, demonstrated disdain for imperial rule“ (78).  82   Marcus 80–82.  83   Vgl. Marcus 83–86.  84   Vgl.  dazu  Rita  Amedick,  Hellenistische  Königsikonographie  und  das  Neue  Testa‐ ment,  in:  A.  Weissenrieder/E.  Wendt/P.  von  Gemünden  (Hg.),  Picturing  the  New  Testament.  Studies  in  Ancient  Visual  Images,  WUNT  II/193,  Tübingen  2005,  53–66,  58ff.  85   Marcus  84.  Auch  das  sedile  konnte  als  Parodie  auf  den  erstrebten  Herrscherstuhl  verstanden werden, ebd. 

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12,10.46LXX;  Ps  34,21;  Sach  12,10}).  Vor  allem  aber  wird  das  an  der  symbolischen  Handlung  deutlich,  die  Jesus  unmittelbar  vor  seinem  Tod (19,28‐30) vollzieht. Er, der sich diesem Tod nicht entzogen, wohl  aber  sich  damit  seiner  Pflicht  gegenüber  seiner  Mutter  entzogen  hat,  setzt  den  Lieblingsjünger  als  ihren  Sohn  ein,  und  sie  als  seine  Mutter.  Sein  Wirken  ist  ans  Ziel  gekommen  (v28.30).  Die  abschließende  Notiz  über die ab hier datierende Wohngemeinschaft dieser beiden Menschen  bestätigt, dass mit dieser Zeichenhandlung die Bezeugung der tatsäch‐ lichen  Identität  Jesu  in  die  Hände  der  Zurückbleibenden,  also  der   Menschen gelegt ist, die ihm nach seinem Tod Glauben schenken wer‐ den.  Die  Folterer  erhalten  nicht  die  gesuchte  Wahrheit,  sondern  die  Glaubenden.  Johannes will mit dieser letzten Szene vor dem tödlichen Ende der  Passionsgeschichte  offenbar  zu  erkennen  geben:  Jesu  Leben  zielt  auf  das Leben derer ab, die ihn bekennen und darin seine tatsächliche Iden‐ tität  erkennen.86  In  ihr  gründet  das  Subjektsein  der  Glaubenden.  Jesu  Identität basiert auf der Identität Gottes und ist einzig durch sie legiti‐ miert.87  Menschlichem  Ermessen,  menschlicher  Bestreitung  oder  Ver‐ nichtung  bleibt  sie  verschlossen,  nur  den  Glaubenden  ist  sie  erschlos‐ sen.88  Ihnen  gelten  die  Ich‐bin‐Worte  im  Johannesevangelium.  Jesus  ist  das  Brot  des  Lebens  (6,35.41.48.51),  das  Licht  der  Welt  (8,12),  die  Tür  (10,7.9),  der  gute  Hirte  (10,11.14),  die  Auferstehung  und  das  Leben  (11,25),  der  Weg,  die  Wahrheit  und  das  Leben  (14,6),  der  echte  Wein‐ stock  (15,1.5).  Das  sind  Bildworte,  die  nicht  als  (ontologische)  Sach‐ verhaltsaussagen missverstanden werden dürfen. Wer Jesus tatsächlich  ist, wird hier in Metaphern gesagt, die gleichsam das Wesentliche sei‐ nes „Seins für andere“ zu verstehen geben wollen – was es also für sie  bedeuten kann, wenn Jesus „ich bin ich“ sagt.                                    86   Vgl. dazu in systematischer Perspektive Ingolf U. Dalferth, Selbstaufopferung. Vom  Akt  der  Gewalt  zur  Passion  der  Liebe,  ThLZ  133  (2008),  1155‐1168,  1166:  „Nicht  in  der  Lebensgeschichte  Jesu  und  damit  für  diesen  selbst,  sondern  in  der  Lebensge‐ schichte derer, die an ihn als Christus glauben, wird die Dunkelheit, in die das Got‐ tesverständnis am Kreuz gerät, aufgehoben und beseitigt. ... Das in dieser Geschichte  (sc. der Jesu Christi) erkannte und mit ihr bekannte Handeln Gottes kommt nicht im  Leben, Sterben und Tod Jesu, sondern im Leben derer zum Ziel, die an ihn glauben  (und kein Mensch ist davon ausgeschlossen, zu diesen zu gehören). Die theologische  Pointe der Jesuserzählung liegt daher nicht in dieser selbst, sondern im Leben derer,  die  ihn  als  Christus  bekennen,  und  nur  unter  Einbeziehung  ihres  Lebens  kann  sie  auch dargestellt werden.“  87   Vgl. z.B. 10,30 (ich und der Vater sind eins); dazu 3,35; 5,20; 10,17; 14,8–11; 17,24–26.  88   Vgl. z.B. 5,31–44; 20,31. 

 

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7. Die Jesus‐Christus‐Geschichte des Matthäus und die  Konstruktion des Subjekts Jesus Christus    Entscheidende  Momente  einer  Subjektwerdung  erzählt  Matthäus  mit  seiner  Jesusgeschichte.  Er  setzt  andere  Akzente  als  Johannes,  und  er  thematisiert damit andere Aspekte der narrativ konstruierten Identität  Jesu, an der sich die Subjektwerdung der Glaubenden in seiner Nach‐ folge  orientieren  soll.  Jesu  öffentlicher  Weg,  so  erzählt  Matthäus,  be‐ ginnt mit einer Unterwerfungsszene. Er lässt sich taufen von Johannes,  dem Täufer am Jordan, dessen prophetisches Auftreten ihn in heftigen  und schließlich tödlichen Widerspruch zur dominanten Politik geraten  lässt. Johannes weist den Wunsch Jesu zunächst zurück, weil er ihn als  eine ungerechtfertigte Unterwerfung versteht, die das tatsächliche Ver‐ hältnis  beider  auf  den  Kopf  stellen  würde  (3,14).  Schließlich  hatte  Jo‐ hannes soeben (3,11) gesagt, er sei nicht wert, dem nach ihm Kommen‐ den die Schuhe zu tragen. Nun steht er vor ihm.   Jesus unterzieht sich seiner Taufe mit Hinweis auf die zu erfüllende  ‚Gerechtigkeit‘  (3,15),  also  auf  eine  übergeordnete  Forderung  Gottes,  die diese Subordination verlange. Ihr folgt auf dem Fuß die öffentliche  Audition einer Stimme vom Himmel, die den Getauften zum geliebten  Sohn Gottes erklärt, an dem dieser seine Freude habe.89   Diese himmlische Stimme deklariert Jesus als Protagonisten der er‐ zählten Handlung und damit als Subjekt der matthäischen Erzählung.  Jesus  wird  in  der  Perspektive  des  Matthäus  zum  Subjekt,  weil  er  sich  der Taufe durch Johannes unterzieht und durch die himmlische Anre‐ de  zum  ‚Sohn‘  gemacht  wird.  In  diesem  Akt  der  Unterwerfung  und  Anrufung  gründet  das  Subjekt  des  Protagonisten,  von  dem  Matthäus  erzählt,  und  an  dem  die  Subjektwerdung  der  Glaubenden,  der  Men‐ schen also, die diesem Weg vertrauen, sich orientieren kann.  Die  erste  und  zweite  Anrede  in  der  anschließenden  Versuchungs‐ geschichte  (Matthäus  4,3)  spielt  erneut  auf  diese  Proklamation  an,  in‐ dem  sie  sie  zitiert.  Jesus  wird  im  unmittelbaren  Anschluss  an  seine  Taufe in die Wüste geführt. Ziel dieser Initiative Gottes ist es, ihn durch  den Teufel auf die Probe stellen zu lassen. Jetzt geht es um die Frage,  ob Jesus seine Identität als Sohn Gottes – genau mit diesem „Titel“ wird  er vom Teufel angeredet – wird bewahren können. Jesus ergreift keine                                 89   Diese direkte Rede ist eine deutliche Anspielung an Ps 2,7 („Mein Sohn bist du; ich  habe  dich  heute  gezeugt.“).  Vgl.  Ps  2,7  noch  in  Mk  3,11;  Lk  3,22;  Act  13,33  (Zitat);  Hebr  1,5  und  5,5  (Zitat);  vgl.  auch  Johannes  1,49  (Natanael  sagt:  Du  bist  der  Sohn  Gottes, Du bist der König Israels). 

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der  ihm  gebotenen  Möglichkeiten,  seine  Identität  als  Gottessohn  zu  beweisen.90   Jesu  Weg  beginnt  im  Matthäusevangelium  mit  einer  Trennung: Er  ist der Christus nur, indem er nicht ‚ist‘, der er ist. Das ist für die narra‐ tive Konstruktion des Subjekts Jesus Christus, an der sich die Subjekt‐ werdung der ihm Folgenden und damit der von Matthäus intendierten  Rezipienten orientiert, ausschlaggebend (s.u.).  Matthäus markiert die Entscheidung, um die es hier geht, an zwei  Stellen  als  Bitte  an  Gott,  also  als  Gebetsformulierung:  Dein  Wille  ge‐ schehe  (6,10;  26,42).91  Diese  Bitte  mit  ihrer  grundlegenden  Unterschei‐ dung  zwischen  ‚Mein‘  und  ‚Dein‘  wird  an  beiden  Stellen  als  direkte  Rede Jesu formuliert. An dieser Bitte entscheidet sich in der Perspekti‐ ve des Matthäus alles. Er verdeutlicht diese Entscheidung anhand sei‐ ner Jesusgeschichte; er erzählt von diesem Unterschied zwischen Mein  und Dein, wenn er den betenden Jesus in Gethsemane schildert, unmit‐ telbar  vor  seiner  Verhaftung  (Matthäus  26,39.42.44):  Nicht  mein  Wille  geschehe, sondern Deiner.   Die  drei  Versuchungen  (4,1–11),  in  die  Jesus  zu  Beginn  seines  öf‐ fentlichen Wirkens von Gott (4,1; vgl. 3,16) geführt wird, zielen darauf  ab, der ‚Sohn‘ dieses Gottes möge doch die Probe aufs Exempel machen  und zeigen, dass er ‚der Sohn‘ ist. Er verzichtet – und zeigt gerade da‐ mit,  dass  die  Himmelsstimme  bei  der  Taufe  Recht  hatte.  Der  Beweis  hätte „Mein“ geheißen; der Verzicht hieß „Dein“. Der Beweis hätte ins  Scheitern geführt; der Verzicht bedeutete Leben, das von keinem Schei‐ tern bezwungen wird.  Der  Teufel  argumentiert  mit  der  Schrift,  weil  er  damit  sein  Recht  beansprucht,  die  göttliche  Identität  Jesu  herauszufordern  und  aufzu‐ weisen. Seine Identitätsvorstellung läuft darauf hinaus, dass Jesus ‚bei  sich‘  als  Christus  bleibt  und  als  der  ‚Sohn‘  die  Gemeinschaft  mit  dem  Vater  demonstriert,  indem  er  zeigt:  Was  dein  ist,  ist  auch  mein.  Die  Antworten  Jesu  zeigen,  dass  er  seine  Identität  in  der  Unterwerfung  unter Gott realisiert sieht, mithin also in der Trennung zwischen ‚Dein‘  und ‚Mein‘.  Die  Spuren,  die  diese  Entscheidungsgeschichte  vom  Anfang  ins  Evangelium hinein legt, schließen weiter auf, worum es Matthäus geht:                                 90   Vgl.  Reinmuth,  Ostern  –  Ereignis  und  Erzählung.  Die  jüngste  Diskussion  und  das  Matthäusevangelium, ZNT 19, 10. Jahrgang 2007, 3–14.  91   Wörtlich stimmt „Dein Wille geschehe’ in 26,42 mit der Bitte des VaterUnsers in 6,10  überein; es handelt sich also um einen absichtsvollen intratextuellen Verweis, der ei‐ ner  doppelten  Unterstreichung  seitens  des  Erzählers  gleichkommt.  Vgl.  z.B.  das  doppelte  Hoseazitat  in  Matthäus  9,13;  12,7  (Hos  6,6),  die  doppelte  Speisungsge‐ schichte (14,17–21; 15,32–39). 

 

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Als Jesus zum ersten Mal seinen Jüngern sagt, wohin ihn sein Weg als  der Christus (16,20) führen wird, protestiert sein engster Jünger – der,  den  Jesus  gerade  zum  Grundstein  der  Kirche  gemacht  hatte  (16,18).  Jesus weist Petrus mit denselben Worten zurück, die er dem Versucher  gegenüber  gebraucht  hatte  (16,23;  vgl.  4,10).92  Wieder  eine  doppelte  Unterstreichung (vgl. o. Anm. 91), die eine Spur legt. In der Perspektive  des Autors folgen Strategien der Leidvermeidung einer allzu menschli‐ chen Lebensoption, die explizit als teuflisch, also Gott diametral entge‐ gengesetzt,  ausgeschlossen  wird.  Jesu  Weg,  verstanden  als  Weg  oder  Geschichte Gottes, heißt, dass er in Leid und Ohnmacht geführt wird.   Als  Jesus  gefangen  genommen  wird,  versucht  einer  der  Jünger  es  mit  bewaffneter  Gegenwehr  (26,51).  Jesus  macht  demgegenüber  gel‐ tend,  dass  ihm  ohne  weiteres  eine  Armee  von  Engeln  zur  Verfügung  stünde – wenn er nur wollte (26,53). Er verzichtet darauf, wie einst, als  die Engelscharen seinen Sturz aufhalten sollten (4,6). Es geht um Gott,  nicht um ihn (vgl. v54).  Bis zuletzt  wird  diesem Jesus die Möglichkeit,  den Weg  Gottes  zu  verlassen,  vorgehalten.  Die  Passanten  unterm  Kreuz,  selbst  die  Mitgekreuzigten,  unmittelbar  vor  ihrem  Tod  unter  schwerster  Folter  leidenden,  rufen  es  immer  wieder:  Wenn  Du  tatsächlich  der  „Sohn“  bist,  dann  zeig´s  uns  doch,  indem  Du  Dich  rettest  (27,40‐44).  Dieser  Jesus  verzichtet  auf  jeden  Beweis.  Und  gerade  das  verweist  auf  den  Kern des Glaubens an ihn.  Hätte Jesus an einer der erzählten drei Versuchungen nachgegeben  und  gesagt  „ich  bin  Gottes  Sohn,  mein Wille geschehe“, so  hätte  er  in  matthäischer  Sicht  genau  das  verloren,  was  ihn  zum  ‚Sohn‘  macht,  nämlich  Gott  selbst  unter  die  Menschen  zu  bringen.  Mehr  noch:  zu  zeigen,  wie  Gott  ist,  worauf  er  mit  den  Menschen  hinaus  will,  worin  seine  Macht  besteht.  Dieser  Gott  lässt  sich  in  Leid,  Sterben  und  Ohn‐ macht führen, weil seine Macht so ist, dass sie keine Ohnmacht fürch‐ ten muss – und sein Leben so, dass kein Leid noch Sterben es ausmer‐ zen  kann.  Der  Gott,  um  dessen  Identität  es  mit  der  Jesus‐Christus‐ Geschichte in der Perspektive des Matthäus geht, wird mit einer Identi‐ tätslogik  offensichtlich  verfehlt,  die  ihn  in  den  Erweisen  seiner  Macht  aufsuchen wollte.   Jesu Identität als der ‚uns begleitende Gott‘ (1,23), als der Christus  Gottes (2,4), ist von Beginn an gefährdet (2,16‐18), wird bestritten und  schließlich scheinbar ausgelöscht. Scheinbar gelingt es, diesen Christus                                 92   4,10  Hebe  dich  weg,  Satan  (ὕπαγε,  σατανᾶ);  vgl  das  Wort  an  Petrus  16,23  (ὕπαγε  ὀπίσω μου, σατανᾶ∙) 

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und seinen scheinbar ohnmächtigen Gott zu vertreiben. Scheinbar hatte  der Versucher Recht (4,9).   Stattdessen  darf  dieser  Jesus  am  Ende  sagen:  Mir  ist  gegeben  alle  Macht  im  Himmel  und  auf  der  Erde  (28,18).  Matthäus  sieht  ihn  am  Ende auf ‚dem‘ Berg (vgl. 5,1; 17,1; aber auch 14,23; 15,29 sowie 4,8), als  Inhaber ‚aller Machtbefugnis‘ (ἐξουσία), der die Seinen sendet, zu tau‐ fen  und  zu  lehren.  Es  handelt  sich  um  die  Machtbefugnis  Gottes,  die  Jesus  von  ihm  übergeben  wurde  (ἐδόθη).  Was  den  Menschen  nach  Matthäus  28,19f  aufzutragen  ist,  wird  durch  die  uneingeschränkte  Machtbefugnis des Auferstandenen verbürgt.   Matthäus konstruiert wie Johannes und die übrigen Evangelisten in  seinem  Evangelium  Identitätsfiguren  der  intendierten  Rezipienten.  Es  sind vor allem die Jünger, die als Protagonisten der Adressatengemein‐ de  zu  verstehen  sind.93  In  den  Berufungsgeschichten  macht  Matthäus  deutlich, wie der Ruf in die Nachfolge als ein unbedingter Ruf erfahren  wurde, der aus den Bedingtheiten bisherigen Lebens befreit (vgl. 4,18‐ 22; 9,9). Das Handeln der Jünger soll sich an der Praxis Jesu orientieren  (vgl.  Matthäus  10;  vgl.  12,49f.);  ihre  Verkündigung  gleicht  der  seinen  (10,7).  Sie  partizipieren  wie  er  an  der  Beauftragung  zur  Sündenverge‐ bung  (vgl.  9,8;  18,18).  Sie  werden  mit  Jesus  zusammen  in  eschatologi‐ scher  Richterfunktion  gesehen  (19,28).  Matthäus  thematisiert  jedoch  auch Kleinglauben und Versagen (Matthäus 8,26; 14,31; 16,8; 26,56). Die  angesprochene  Gemeinde  soll  sich  auch  in  dieser  Hinsicht  in  ihnen  erkennen.  Vor allem aber dürfen die Glaubenden sich an einem Subjektmodell  orientieren, das sich im Verzicht auf den Identitätsbeweis realisiert. Vor  diesem  Hintergrund  ist  Matthäus  25,31–46  zu  interpretieren:  Offenbar  verlöre das Handeln an den anonymen Marginalisierten und Bedürfti‐ gen seine Identität, wenn es um ‚eines anderen Willen‘ geschehen wäre  (vgl. Matthäus 6,1–8.16–18): Hier geht es um eine Spiegelung der ‚Iden‐ tität in der Nichtidentität‘. Der Christus wird vielmehr in den Anderen  aufgefunden; die genannte ‚Trennung‘ setzt sich profan konsequent für  die Glaubenden fort.                                             93   Vgl. Udo Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, UTB 2917, Göttingen 2007, 419:  „Christsein heißt für Matthäus Jüngersein, das sich in der Nachfolge Jesu realisiert.“ 

 

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8. Schluss    Johannes  und  Matthäus  verfolgen  unterschiedliche  narrative  Strate‐ gien,  um  die  Identität  Jesu  Christi  so  zu  konstruieren,  dass  die  Sub‐ jektwerdung der Glaubenden in ihr deutlich wird. Beide Texte stimmen  trotz  ihrer  unterschiedlichen  narrativen  Strategien  überein:  Sie  setzen  Christus als eine Erzählfigur voraus, deren Subjekthaftigkeit sie als un‐ bedingt begreifen. Sie gründet jenseits aller menschlichen Ableitbarkeit  einzig in der aktuellen Identifizierung Gottes und befreit Menschen zur  eigenen  Subjektwerdung  jenseits  der  Bedingtheiten  ihres  Lebens.  Ihre  Subjektwerdung befreit sie freilich nicht von diesen Bedingtheiten. Die  narrative  Konstruktion  der  Identität  Christi  zeigt  vielmehr,  wie  diese  Identität gerade in den Brüchen und Unterwerfungen von Anfeindung,  Leiden  und  Tod  nicht  zerbricht,  sondern  deutlicher  und  eindeutig  er‐ kennbar  wird.  Und  das,  wie Matthäus zeigt,  gerade da,  wo sie  darauf  verzichtet, sich als selbig und identisch auszuweisen.  Die  paulinischen,  johanneischen  und  matthäischen  Texte  zeigen  exemplarisch Positionen des frühen Christentums, die einen Beitrag im  gegenwärtigen Diskurs um Begriff und Begründung des Subjekts leis‐ ten können. Geht es hier um die Frage, wie und worin sich das Subjekt  unter den Bedingungen seines Unterworfenseins begründet, so ist den  neutestamentlichen Texten gemeinsam, dass sie es durch die Adressie‐ rung  der  unableitbaren  und  unbedingten  Liebe  Gottes  konstituiert  se‐ hen.  In  dieser  Adressierung  gründet  die  Fähigkeit  des  Subjekts,  die  Entfremdung  von  sich  selbst  als  Lebensform  anzunehmen,  und  zwar  auf  eine  Weise,  die  wiederum  andere  Menschen  zu  Adressaten  einer  unbedingten  und  unableitbaren  Liebe  werden  lässt.  Hier  ergeben  sich  erneut Dialogmöglichkeiten mit einer Philosophie des Politischen.  Oliver Marchart beendet sein Buch „Die politische Differenz“94 mit  dem  Vorschlag,  eine  zu  fordernde  demokratische  Ethik  als  ‚Ethik  der  Selbstentfremdung‘  zu  verstehen  (333).95  Marchart  versteht  darunter  „eine  Ethik  der  Anerkennung  der  Unbedingtheit  des  Bedingten  bzw.                                 94   S. o. Anm. 1.  95   Dieser  Vorschlag  beruht  auf  der  Voraussetzung,  dass  „das  Unpolitische  mit  dem  Unbedingten  einer  Ethik“  zu  identifizieren  sei.  Zum  hier  gebrauchten  Begriff  des   Unpolitischen i.S. Espositos vgl. Eckart Reinmuth, Das Neue Testament und die Zu‐ kunft des Politischen, in: ders. (Hg.), Neues Testament und politische Theorie. Inter‐ disziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen, Stuttgart 2011, 9–25,17. Marchart  stellt  im  Blick  auf  seine  These  (vgl.  v.a.  245–288)  zusammenfassend  fest  (342):  „Es  kann keine Ethik geben, die nicht einen wie auch immer gearteten Kontakt zum Un‐ bedingten hält (etwa im Sinne unbedingten Respekts oder unbedingter Verantwor‐ tung). Damit aber erweist sich Ethik als im Kern unpolitisch, denn sie bringt ein der  Politik – dem Bedingten – gegenläufiges Element ins Spiel.“ 

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demokratietheoretisch:  der  Anerkennung  der  nicht‐selbstidentischen  Natur jeder sozialen Identität“ (333).96   Marchart nähert sich seiner These, indem er den Begriff der Selbst‐ entfremdung  als  entscheidend  für  das  Dispositiv  der  Demokratie  her‐ vorhebt.  Unter  Hinweis  auf  Claude  Lefort97  stellt  er  fest:  „Wurde  mit  der Entleerung des Ortes der Macht die Verbindung zwischen der Ge‐ sellschaft  und  ihrem  transzendenten  Legitimationsgrund  gekappt,  so  kann Gesellschaft nur noch durch Teilung von sich selbst ihre Einheit auf  sich zurückspiegeln. Nur sie selbst kann zu ihrem eigenen Grund wer‐ den. Doch um den zu setzen, muss sie sich spalten und verliert so wie‐ derum die Stabilität, die sie sucht. Das gesamte symbolische Dispositiv  der  Demokratie,  wie  von  Lefort  beschrieben,  wirkt  auf  diesen  Prozess  fortgesetzter  Selbstentfremdung  hin:  auf  die  Entleerung  des  Ortes  der  Macht; die Trennung der Sphären des Rechts, der Macht und des Wis‐ sens; die Abtrennung einer Zivilgesellschaft vom Staat und die Entste‐ hung einer politischen Öffentlichkeit.“ (336).  Positiv gewendet besteht Demokratie folglich „in der Anerkennung  der  fundamental  selbstentfremdeten  Natur  jeder  sozialen  Identität,  einschließlich  jener des  demokratischen  Souveräns.  In  dieser Hinsicht,  so  die  These,  besitzt  das  demokratische  Dispositiv  eine  unpolitische,  nämlich  ethische  Dimension,  in  der  sich  die  entfremdete  Natur  eines  jeden Selbst rückhaltlos bestätigt.“ (341f).98  Marchart  folgert,  „dass  wirklich  demokratische  Verhältnisse  ein  Verhältnis  der  Anerkennung  gegenüber  der  unbedingt  bedingten,  sprich:  notwendig  entfremdeten  Natur  eines  jeden  Selbst  etablieren.“  Sachlich  knüpft  Marchart  hier  an  Judith  Butlers  Kritik  der  ethischen  Gewalt99 und ihre Feststellung an, „dass unsere Undurchsichtigkeit für  uns selbst zur ethischen Ressource werden kann“.100                                  96   Marchart  bringt  nach  einem  Rekurs  auf  Axel  Honneths  Anerkennungstheorie  den  Begriff  der  Solidarität  als  zentral  für  „das  ethische  Moment  der  Demokratie  inner‐ halb des politischen Diskurses“ ein (333).   97   Claude Lefort, Die Frage der Demokratie, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesell‐ schaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, 281–297.  98   Für Marcharts Ethik ist der Rekurs auf die von Lacan beschriebene Mangelstruktur  des Subjekts konstitutiv (vgl. 314ff.343f.351). Er selbst löst damit die ‚Unbedingtheit’  des  ethischen  Einsatzes  ein,  wenn  er  auf  diese  Weise  seine  Voraussetzung  der  ‚Selbstentfremdung des Menschen’ begründet.  99   344; vgl. Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt (Anm. 12).  100   Marchart 345 mit Verweis auf Butler, Kritik 34. Marcharts Folgerung geht indessen  über die ethische Orientierung Butlers hinaus: „Rein ethische Argumente tendieren  dazu,  den  Blick  auf  das  Politische  –  die  symbolisch  instituierten  Bedingungen  des  Ethischen – zu verstellen. Aus der Perspektive einer politischen Ethik ginge es daher  nicht  um  Anerkennungsfragen  zwischen  Subjekten,  sondern  um  die  Konstitution 

 

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Marchart  verkoppelt  sachgemäß  die  Begründung  der  Demokratie  mit  der  Konstitution  des  Subjekts,  die  die  „Anerkennung  der  nicht‐selbst‐ identischen Natur jeder sozialen Identität“ (s.o.) einschließt. Diese An‐ erkennung  ist  Bedingung  und  Bestätigung  der  Dimension  des  Unbe‐ dingten  einer  Ethik,  die  zu  den  unerlässlichen  Konstitutionsbedin‐ gungen der Demokratie gehört.  In der Perspektive der Interpretation der Jesus‐Christus‐Geschichte  durch  Johannes  und  Matthäus  spiegeln  sich  an  der  jeweilig  narrativ  konstruierten  Identität  des  Protagonisten  die  Konstituenten  des  Sub‐ jekts  der  Glaubenden.  Dabei  spielen  Momente  der  Identität  im  Nicht‐ selbst‐identisch‐Sein  eine  bestimmende  Rolle.  Der  vorösterliche  Jesus  des  Matthäusevangeliums  löst  seine  Identität  gleichsam  „nicht  ein“  und ist doch gerade darin und nur auf diese Weise als der „Sohn“ die  Identifikationsfigur Gottes.   Die Passionsgeschichte des Johannes erzählt, wie Jesu Identität für  die  politische  und  religiöse  Administration  unentscheidbar  wird.  Sie  wird  indessen  hier  für  die  Glaubenden  in  unüberbietbarer  Eindeutig‐ keit  erschlossen.  Die  Prozessualität  dieser  Geschichte  vermittelt  einen  doppelten Steigerungseffekt. Die ‚Wahrheit‘ des Subjekts Christus geht  mit seinem Tod scheinbar endgültig verloren und wird doch in seiner  „Erhöhung“ verkörpert. Auch im Johannesevangelium geht es also um  Identität  in  der  Nicht‐Identität  als  Grundbedingung  des  Subjektseins  der Glaubenden. Diese Grundbedingung ermöglicht es, die unbedingte  Adressierung durch die Zuwendung Gottes anthropologisch zu veror‐ ten und so eine ethische Ressource zu erschließen, die nicht aus hege‐ monialen Normierungen und Herrschaftsstrukturen abgeleitet ist, son‐ dern Menschen in ihnen an‐ und freispricht.   Paulus  kommuniziert  im  Philipperbrief  die  Jesus‐Christus‐ Geschichte als die eines „Gott‐gleichen“, also von Gott nicht zu Unter‐ scheidenden,  der  in  seiner  Freiheit  den  Weg  in  eine  Sklavenexistenz  und  einen  entsprechenden  Tod  wählte  (Phil  2,6ff).  Der  Weg  in  diese  äußerste Entfremdung bedeutete jedoch nicht, dass er sich in ihr verlor.  Es  war  vielmehr  der  Weg,  auf  dem  er  seine  Identität  bewahrte  und  verwirklichte.  Das  allein  ist  der  Grund  seiner  Erhöhung  und  kosmi‐ schen Inthronisation (v9ff), die seine tatsächliche Identität bestätigt.  Paulus  definiert  sich  vor  diesem  Hintergrund  als  in  dieser  Ge‐ schichte grundiertes Subjekt besonders eindrücklich in Gal 2,19–20. Er  bezieht die Kreuzigung Jesu als Metapher auf seine eigene Bindung an  diese Geschichte. Das Subjektsein des Paulus basiert auf seiner gleich‐                                des  symbolischen  Dispositivs,  welches  Raum  für  die  Anerkennung  der  Nicht‐ Selbstidentität jeder Identität schafft, sei sie nun individuell oder kollektiv.“ (346). 

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Eckart Reinmuth 

sam  durchkreuzten  Identität:  Ich  bin  mit  Christus gekreuzigt.  Ich lebe  nicht mehr als das einstige Ich, dass sich seines Subjektseins sicher war.  Soweit ich jetzt ‚ich bin ich‘ sagen kann, kann ich das nur, weil Christus  an  meine  Stelle  getreten  ist  –  mich  gleichsam  vor  mir  selbst  vertritt.  Soweit ich jetzt unter den mein Subjektsein normierenden Bedingthei‐ ten lebe, lebe ich es in der Bindung an den, der mich geliebt und sich  statt meiner der äußersten Nicht‐Identität ausgeliefert hat. 

        Autorenregister      Abensour, M.  10, 45, 53   Agamben, G.  19, 44, 114, 115,  121, 195, 234  Alkier, S.  201, 239, 240, 244,  246  Althusser, L.  100, 111   Amedick, R.  275  Angehrn, E.  4, 51  Arendt, H.  59, 62, 65  Aristobul  227  Aristoteles  73  Assmann, A.  11  Assmann, J.  11, 44, 95    Baarlink H.  156  Baas, B.  87  Bal, M.  214  Balzer, N.  7  Barrett, C.K.  271  Barrico, A.  20  Barth, K.  32  Bauer, T.J.  165, 166   Baumann, U.  225  Becker, E.‐M.  229  Bedorf, T.  10, 255  Benjamin, W.  81 

Bennington, G.  219  Benoist, A. de  14  Berger, K.  230  Bergunder, M.  5, 40  Bernet, R.  4, 38  Betz, H.D.  229, 231, 243  Biard, J.  100  Biser, E.  226  Blanchot, M.  2, 4, 35, 37  Blumenberg, H.  44  Böckenförde, E.‐W.  58  Boehm, R.  2  Böhme, G.  101  Böhme, H.  101  Boman, T.  81  Boothby, R.  84, 85  Boothe, B.  171, 177, 178, 179,  180, 183, 193  Borges, J. L.   102  Bormann, L.  224, 229, 234  Bornemann, E.  232  Boyarin, D.  235, 236  Braun, C.  127  Brague, R.  36  Brändl, M.  110  Brazelton, T.B.  178 

286                                                 Autorenregister  Brieskorn, N.  60  Brinich, P.M.  178  Bröckling, U.  IX, 6, 12  Brooks, P.  73  Brown, E.  57  Bruder, K.‐J.  190  Bruner, J.  180  Brunkhorst, H.  VI  Bublitz, H.  257  Bultmann, R.  271  Bürger, C.  1  Bürger, P.  1  Butler, J.  7, 10, 52, 102, 106,  107, 112, 253, 254, 256, 258,  282    Canguilhem, G.  2  Capurro, R.  197  Castelli, E.A.  230  Celikates, R.  V   Cicero, M. T.  58, 59  Cohen, H.  8, 67  Coulmas, P.  59, 60  Cramer, B.G.  178  Cramer, K.   3  Critchley, S.  10    Dalferth, I. U.  4, 8, 276  Debray, R.  206  Delhom, P.  19  DeMijolla, E.  215  Demirovic, A.  IX  Depoortere, F.  90  Derrida, J.  38, 39, 40, 219 

Dettwiler, A.  201  Dewey, J.  29  Dietzfelbinger, C.  198  Dihle, A.  57  Dilthey, W.  214  Diomedes  231  Düttmann, A.G.  199    Eagleton, T.  111  Ebel, E.  149  Ebeling, H.  3  Eck, W.  145  Eco, U.  40   Eichhorn, M.  125, 143  Evans, C.A.  159    Faber, R.  43  Federlein, A.  218  Feldmeier, R.  125  Ferrara, A.  253  Fetz, R. L.  1   Feustel, R.  12  Fidora, A.  60  Figl, J.  40  Fink, B.  76  Finkelde, D.  129  Fischer, J.  209  Flasch, K.  42, 60  Flatscher, M.  10  Flügel‐Martinsen, O.  257  Fogel, A.  179  Fonagy, P.  182  Foucault, M.  7, 52, 101, 103,  104, 105, 106, 147, 257 

 

                                                               Autorenregister                                                      287 

Frankenberg, G.  12  Freud, S.  84, 175, 176, 177,  178, 179, 181, 182, 192  Frevert, U.  37  Frey, Chr.  33  Frey, J.  275  Fridrichsen, A.  232   Friedrich, N.P.  163  Fulda, H. F.  12    Gadamer, H.‐G.  2  Gager, J.G.  235  Gass, W.H.  214, 217, 220, 223  Gauger, J.D.  225  Georgi, D.  231, 233  Gergely, G.  182  Gernhard, R.  97  Giesen, H.  162, 165  Glancy, J.A.  273, 274  Gleixner, U.  221  Goldberg, A.  243  Goldhagen, D.J.  186  Gosepath, S.  V    Grass, G.  217  Grotius, H.  59  Grundmann, T.  3  Guijarro, S.  117  Guttenberger Ortwein, G.  155  Güttgemanns, E.  238    Habermas, J.  12, 41, 44, 49, 50,  55, 62, 67, 106   Hadot, P.  109  Hagedorn, D.  225 

Hagedorn, U.  225  Hagenbüchle, R.  1, 102   Haker, H.  252  Hamacher, W.  18  Hampshire, S.  12  Hartung, G.  18  Hasitschka, M.  163  Hegel, G. W. F.   25, 37, 49, 53  Heidegger, M.  2, 82   Heigl‐Evers, A.  178  Heil, R.  10, 128, 129  Heinze, A.  145  Hengel, M.  237, 243  Hentschel, A.  155, 156   Hetzel, A.  10, 51  Hoddis, J. van  97  Hoegen‐Rohls, Ch.  203f.  Höffe, O.  11, 46  Hoffmann, H.  47  Hoffmann, P.  157, 159  Holdenried, M.  214, 221  Holtz, T.  166  Horkheimer, M.  49  Horn, Chr.  109  Hoskins, P.M.  150  Huber, K.  162  Huddart, D.  219  Hunziker, A.  4  Husserl, E.  38    Irigaray, L.  35  Jaspers, K.  55  Josuttis, M.  241, 243, 244  Jurist, E.L.  182 

288                                                 Autorenregister  Kaindl, C.  IX  Kammler, H.‐Chr.  201  Kampling, R.  117  Kant, I.  21, 23, 25, 51, 60  Karrer, M.  164  Keintzel, B.  18  Keller, R.  101  Kirchschläger, W.  117  Kierkegaard, S.  74  Klauck, H.‐J.  161  Klein, H.  156  Klitzing, K. von  180  Kloft, H.  146  Klüger, R.  215  Kobusch, T.  37, 60  Kögler, H.‐H.  258  Konradt, M.  149, 150  Kormann, E.  221  Kovoza, A.  IX  Kowalski, B.  164, 165  Krämer, S.  195, 197, 210  Kranz, W.  57  Kraus, W.  164, 252, 253  Kraybill, J.N.  166  Krenkel, W.A.  231  Kristeva, J.  259  Küchenhoff, J.  4   Kuhlmann, P.  225  Kulenkampff, S.  221    Lacan, J.  76, 77, 78, 79, 83, 84,  85, 86, 87, 88, 89, 92, 93, 94,  95, 128, 129  Laclau, E.  53, 255 

LaCoque, A.  69  Laertius, D.  57  Landweer, H.  107  Lang, H.‐J.  179  Laplanche, J.  180, 181  Lear, J.  77  Lefort, C.  56, 71  Lejeune, Ph.  215  Lembke, R.  105  Levinas, E.  4, 16, 19, 35, 52, 61,  62, 64, 65, 66, 69, 210  Lichtenberg, G. C.  102  Liebsch, B.  4, 10, 18, 19, 51, 53,  54, 62, 63, 64, 65, 69, 250  Lienemann, W.  60  Loidolt, S.  10  Löwith, K.  38, 44  Luhmann, N.  100  Lukes, S.  62  Lutz‐Bachmann, M.  40   Luz, U.  246  Lyotard, J.‐F.  63    MacIntyre, A.  64  Man, P. de  214, 217, 218  Manemann, J.  44  Mann, M.  146  Marchart, O.  10, 251, 281, 282  Marcus, J.  275  Margalit, A.  10, 11, 13  Martin, L. H.  106  Matzker, R.  IX  Mead, G.H.  252  Medick, H.  220 

 

                                                               Autorenregister                                                      289 

Mecking, B.  221, 223  Meier, J. P.  114, 116  Meier, M.  155  Menke, Ch.  217  Merk, O.  229  Merklein, H.  150  Merz, A.  112  Mesnard, Ph.  218  Meyer‐Drawe, K.  103, 108   Misch, G.  213, 222  Moebius, S.  10, 257, 258  Mouffe, C.   12, 47, 53, 255  Müller, U.B.  161, 162, 164  Müller‐Jung, J.  131  Müller‐Pozzi, H.  180    Nancy, J.‐L.  10, 40  Narr, W.‐D.  49  Nelson, P.K.  156, 157, 159  Neubrand, M.  158  Nietzsche, F.  48, 102, 175, 190  Nitzschke, B.  175  Noor, A.  18  Nussbaum, M.  109  Nützel, J.  112    Oehler, K.  54, 227  Omerzu, H.  146    Pascal, R.  216  Patočka, J.  38  Pelikan, J.  228  Peristiany, J. G.  VI   Peters, J.D.  197, 199 

Pfitzner, V. C.  110  Platon  227  Polen, N.  198  Poplutz, U.  110  Preuß, U. K.  12    Quek, T.‐M.  162    Radermacher, H.  102  Rahner, J.  201  Ranciere, J.  11, 68  Reckwitz, A.  102, 103, 107,  254, 255, 257, 258, 264  Reder, M.  50  Reich, H.  231, 233   Reinhard, K.  93  Reinhard Lupton, J.  93  Reinmuth, E.  VI, 66, 108, 238,  239, 251, 252, 254, 278, 281  Ricken, N.  7  Ricoeur, P.  3, 4, 6, 8, 17, 43, 56,  61, 64, 65, 69, 70, 180  Ringleben, J.  230  Rolf, Th.  252  Roloff, J.  161, 162, 165  Roose, H.  125, 126, 134, 139,  142, 143, 150, 152, 153, 156,  157, 158, 159, 160, 161, 162,  163, 164, 165, 166, 167  Rorty, R.  13  Rousseau, J.‐J.  216  Runia, D.T.  227    Saage, R.  12 

290                                                 Autorenregister  Safranski, R.  9  Sarbin, T.R.  180, 182  Sarrazin, T.  131  Satake, A.  166  Scarry, E.  121, 122  Schapp, W.  252  Schaser, A.  220  Schleiermacher, F.  50  Schmeller, T.  145, 149, 160  Schmidt, A.  99, 101  Schmidt, J.  50  Schmidt‐Hellerau, C.  181  Schmitt, C.  43, 47  Schmitz, M.  189  Schneider, W.  101  Schnelle, U.  271, 280  Scholem, G.  18  Scholz, O.R.  195  Schrage, W.  152, 157  Schreiber, S.  146, 155, 160,  161, 164, 166, 167  Schubert, A.  49  Schulte, M.  77  Schulz, P.  1, 102   Schulze, W.  218  Schüssler, W.  40  Schwankl, O.  204  Schwindt, R.  133, 135, 142,  148, 150  Seibt, F.   37  Sellin, V.  57  Sellner, H.‐J.  158  Sepp, H. R.  10, 51  Shekar Chandra, C.R.  118 

Smit, P.‐B.  158  Söding, T.  230  Sosis, R.  191  Sparn, W.  216, 222  Spanos, N. P.  118  Spengler, O.  46  Spinoza, B. de  67  Stanislawski, M.  223  Stare, M.  156  Stegemann, E.W.  145  Stegemann, W.  123, 145  Steiner, G.  102  Stern, D.N.  179, 182  Sternberger, D.  68  Stoellger, P.  4  Straub, J.  238, 239, 249  Strecker, C.  108, 109, 115, 117,  118, 122, 146  Suarez, F.  58    Taeger, J.‐W.  161  Tanner, J.  121  Target, M.  182  Taubes, J.  74  Taylor, Ch.  31, 101   Theißen, G.  112, 114, 122, 149,  168  Theunissen, M.  61  Thomasius, Chr.  59  Thyen, H.  202, 205, 267, 271  Timm, H.  67  Todorov, T.  61  Toulmin, S.  57  Trunk, D.  117 

 

                                                               Autorenregister                                                      291 

Türcke, C.  45    Ulbrich, C.  220    Valery, P.  37, 38  Viehöver, W.  101  Vollrath, E.  65, 230  Vosskühler, F.  190  Vries, H. de  40    Wacker, B.  44  Waldenfels, B.  1, 6, 64, 100,  108   Walter, M.  181  Ward, C.  118  Weder, H.  203  Weiner, J.  215  Welborn, L.L.  231, 232, 275  Wetzel, D.  10  White, H.  218  White, J.L.  225  Wiemken, H.  231  Windisch, H.  231                       

Winter, B. W.  149, 152  Winter, H.  216  Winter, M.  154, 157  Wischmeyer, O.  229, 232, 248  Wischmeyer, W.  196  Wittgenstein, L.  182  Wolf, Th.R.  252, 253  Wolter, M.  153, 154, 155, 156,  157, 158, 159  Woolf, V.  234    Youtie, H.C.  225  Youtie, L.C.  225    Zeller, D.  151, 152, 153  Zima, P. V.  100, 101, 103, 252,  254, 259, 264  Zimbardo, P.  181  Zimmerling, R.  147  Zimmermann, R.  270, 271,  272, 273  Žižek, S.  78, 79, 91, 127, 128,  130, 142 

 

        Bibelstellenregister     

1. Samuel 

Genesis  3,9     6,1–4    22,1    22,1.7.11  31,11   

6  150  156  6  6 

Exodus  3,14  15,25  16,4  20,20  23,4f. 

         

81, 268  156  156  156  246 

24 

 

246 

2. Samuel  9,7.10    19,29   

158  158 

1. Könige   2,7    19,20f.   

158  113 

2. Könige  25,29 

 

158 

               

243  277  275  276  266  272  272  272 

Exodus LXX  12,10.46   19,6   

277  164 

Levitikus  19,18 

 

VII 

Numeri  21,4–9   

275 

Psalter  1,1  2,7  22,19  34,21  35,19  93,1  96,10  97,1 

Deuteronomium 

Psalter LXX 

1,9–18    8,2.16   

2,9 

153  156 

 

162 

294 

             Bibelstellenregister 

Sprüche Salomos 

Hosea 

24,17f.    25,21f.   

6,6 

246  246 

 

278 

 

159 

Joel  Weisheit Salomos 

3,1–5 

3,8  11,9 

Amos LXX 

   

147  156 

19,11f.   

Jesus Sirach  25,8  44,20 

   

243  156 

           

235  150  157  275  275  VI 

Jesaja  6  24,21f.  25,6–8  52,13  53,8  59,17 

   

235  158 

Ezechiel  13    37–48   

235  166 

Daniel  7    7,18.22.27 

149  147 

Daniel LXX  7,9f.22     

Sacharja  12,10 

 

276 

 

235 

 

119 

Judit  14  Tobias  8,3 

1.  Makkabäer 

Jeremia  1  52,33 

159 

165 

2,52 

 

156 

Matthhäusevangelium  1,1–18    1,18–25   1,23    2,4    2,13    2,16–18   2,23    3,1–12    3,7    3,11.14.15  3,16f.    4,1–11         

239  239, 279  279  240, 279  240  279  240  241  240  277  241  241, 279, 280 

                                                       Bibelstellenregister                                                 295 

4,3    4,18–22   4,24    5,1    5,3–12    5,18    5,20    5,22–44   5,43    5,43–48   6,1–8.16–18  6,10    6,12f.    6,25–34   7,22    8,16    8,19ff.    8,21f.    8,26    8,28–34   9,8    9,9    9,13    9,27    9,32    9,33    10    10,1.8    10,4    10,10    11,18    12,7    12,22f.  12,24–30  12,29    12,43–45  12,46ff.    12,49f.    13    13,53–58  14,17–21 

277  112, 280  116  280  242  232  240  232  VII  246, 262  280  249, 278  248  248  116  116  113  113  280  116  280  112, 280  112, 278  119  116, 120  122, 123  280  116  238, 241  261  117  278   116, 120, 122,  123  116  119  116  241  280  240  241  278 

14,23    14,26.30   14,31    15,21–28  15,29    15,32–39  16,8    16,18    16,20    16,23    17,1    17,14–21  18,18    19    19,19    19,27–30  19,28    20,30f.    22,39    23,3    25,31–46  26,14ff.    26,25    26,30–35  26,39.42.44  26,51.53   26,56    27,11    27,40–44  27,50    28,6    28,18    28,19f.   

280  119  280  116  280  278  280  279  279  279  280  116  280  132  VII  134, 153  153, 154, 280  119  VII  240  280  241  241  241  278  279  280  270  279  119  198  280  280 

Markusevangelium  1,16–20   1,21–28   1,21–39   1,23f.    1,26    1,34   

112, 113  116  113  118, 120  122  116 

296 

             Bibelstellenregister 

Lukasevangelium 

8,2    8,13    8,26–39   9,1    9,37–42   9,46    9,49f.    9,57ff.    10,4    10,7    10,17.20   10,25–37  10,27    10,34f.    10,36    11,14f.17–23  11,14    11,24–26  12,4ff.    12,22b–31  12,35–40  12,53    13,29    13,32    14,15–24  14,26    15,8    16,13    22    22,3–6    22,14–38  22,15–27  22,24–30 

4,31–44   5,1–11    5,27f.    6,18    6,20f.    6,27–38   7,21    7,33   

22,25f.    22,28–30  22,30    22,31–34  22,40.46   23,3    24,6    24,26   

1,39    2,14    2,17    3,11f.    3,15    3,22–30   3,27    5,1–20  5,7    5,18f.    6,7.13    7,24–30   7,26–29   7,30    8,35    9,14–29  9,32    9,38f.    10    10,35–45  10,42–45  10,47f.    11,9    12,31.33   15,2f.    15,39    16,6    16,9    16,17   

116  112  112  116, 120  116  116  119   116, 118, 119,  122  120  123  116  116  121  122  260  116, 118, 120,  121, 122  116  116  132  134, 136, 143  154  119  119  VII  270  119  198  116  116 

113, 116  113  112  116  113  114  116  117 

116, 123  157  116  116  116, 119  154  116  112, 113  113  261  116  246  VII  109  VII  116  120, 122, 123  116  263  113  156  114  157  116  157  114  109  113  132  117, 156, 158  154  156  153, 154, 157,  158, 159, 160  154, 155, 156  136, 156  153, 157  157  157  270  198  156 

                                                       Bibelstellenregister                                                 297 

Johannesevangelium  1,14    1,19    1,23    1,26    1,29.36    1,32–34   1,35–51   1,43    1,49    2,17.22    3,14f.    3,16    3,20    3,32f.    3,35    4,8–10.16  4,10    4,26    4,39    5,18    5,20    5,23–25   5,31–44   6,15    6,20    6,35    6,37    6,39    6,41.48.51  6,70    7,7    7,20    7,28    8,12    8,19f.    8,23f.    8,28    8,44.48.49.52  8,58    9    9,1ff.   

207  209  200  272  273  200  113  112  270, 277  204  275, 277  263  266  209  276  263  272  267  208  209, 266  276  266  276  270  267  276  266  274  276  268  266  117  272  276  272  267  274  117  267  264  269 

9,9    9,34    10,7.9    10,20.21   10,28f.    10,30    11,40ff.    12,12    12,16    12,31    13,2.27    13,19    13,23    13,31–16,33  14,6    14,8–11   14,16    14,17    14,17–21  14,26    14,27    14,30    15    15,25    15,27    15,32–39  16,3    16,7    16,11    16,13    17,14    17,24ff.    18,1ff.    18,4–9    18,5.6.8   18,10–11  18,17.19   18,23f.    18,25.27   18,28    18,28–19,16  18,33.37.39 

266f.  266  276  117  274  276  265  270  204  117, 268  117, 268  274  205  201, 202  276  276  202, 203  209  278  202  203  117, 268  198  266  202  278  272  202  117, 268  202, 203  266  276  268  274  267  269  269  274  269  273  270   270, 273 

298  18,36ff.    19,3.14f.21  19,7    19,11    20,2    20,5    20,28    20,31    21,24f.    25,54   

             Bibelstellenregister  271  270  209  268, 271  198  196  268  276  205, 206, 207  272 

Apostelgeschichte  1,6    1,7f.    2,15‐21    2,33‐36    7,56    13,33    15,14    15,16f.    16,16–18  19,12.13–16  20,24    22,24    24,16    26,6f.    27,3   

156, 158  158  159  156  156  277  158  159  117  117  110  273  109  158  109 

Römerbrief  5,17    6,3–11    7,1–6    7,9–24f.   8,12–30   8,14f.    8,15    8,18    8,19–22   8,22    8,28–30   8,31f.35.37ff. 

148  260  260  232  151  260  228  VII  228  236  114  226, 263 

9,11f.    9,16b    11,1.13    11,28f.    12,19    13,9    13,12    14,10    15,8    15,14    15,19    15,30    16,4    20,19   

114  110  232  114  VII  VII  VI  150  261  232  234  110  232  157 

1.  Korintherbrief  1,18–2,16  1,26–31  3,1  3,16  3,23  4,4f.  4,8  4,9  4,10  4,13  4,15  4,16  6,1–11 

                   

6,7    6,12–20   7,17–24   7,29–31   8,3    8,10    9    9,6.15.26  9,24–27   10,4   

150  114, 151, 260,  262  VIII  232  142  150  148  235  235  235  232  229, 262   135,143, 148,  149,150, 151,  152,160, 169  VI  149  114  114, 115, 222  263  261  260,261  232  110  VI 

                                                       Bibelstellenregister                                                 299 

11,1    11,23–31  12,13    13    13,11    13,12    15,10f.    15,20–28  16,21   

262  226  153  226  VIII  263  232  142, 143, 151  226 

2. Korintherbrief  2,2    4,10    5,10    5,21    6,3–10    6,7    6,9    8,1ff.    8,9    9,2.12ff.   10,1    10,4    10,10    11    11,13–15  11,17    11,20    11,22b–33  12,1‐10    12,9    12,11.13.15f. 

232  VIII, 235  150  261  226  VI  222  262  261  262  232  VI  235  236  233  232  233  232, 233, 234  232  222  232 

Galaterbrief  1,11ff.    1,12    1,13    1,13–16   2,2    2,19–21   3,1   

260  232  234  235  110  VIII, 283  227 

3,13    3,26–28   3,28    4,1–7    4,3.9    4,4    4,5f.    4,12    4,14    5,1    5,2    5,7    5,10f.    5,14    6,2    6,11    6,14    6,17   

261  235  153  VIII  228, 263  261, 262  260  262  234  VIII  232  110  232  VII  261  226  235  232, 235 

Epheserbrief  4,13    4, 17–24   5,1    6,11–17  

VI, VIII  260  229  VI 

Philipperbrief  1,7.13    1,27.30    2,6ff.    2,16    3,4ff.    3,12–16   3,17    4,3    4,11    4,14   

235  110  283  110  232, 235, 260  110  229, 262  110  232  234 

Kolosserbrief  1,29  2,1 

   

110  110 

300 

             Bibelstellenregister 

2,8    2,11–13   4,12    4,18   

228  260  110  226 

1.  Thessalonicherbrief  1,6  1,7ff.  2,2  2,14  2,18  5,8 

           

VIII, 229, 262  262  110, 234  229  232  VI 

1.  Timotheusbrief  3,5    4,7    4,7b–10   4,15f.    6,12   

109  109  110  109  110 

2. Timotheusbrief  1,9  2,5  4,6‐8 

     

114  110  110 

Philemonbrief  1  9  13  19 

       

235  235  232  226, 232 

2. Petrusbrief  2,4  2,14 

   

150   109 

1. Johannesbrief  2,1  3,8 

   

202  117 

Hebräerbrief  1,5    5,5    5,12–14   5,14    10,32    11,17    12,1    12,11   

277  277  VIII  109  110  156  110  109 

Jakobusbrief  2,8  3,2 

   

VII  VI 

Judasbrief  6 

 

150 

Offenbarung des Johannes  1,4–8    1,6    1,7    2,19–28   3,15–21   5,10    12    12,2    12,5    12,7–12   13  13,15–17  17–18    19,11–21,8  19,15    20    20,4    20,1–6  20,11f.    21,1   

163  161, 164  165  161, 163  161,162  161, 164  160, 162  119  163  161   160, 162, 165,  166  165  160  165    163  132  165   136, 160, 164,  165  165  166 

                                                       Bibelstellenregister                                                 301 

21,22    22,3‐5                                                                                   

22,5                 

163  166 

 

 

161