Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums: England, China und die Welt in der Frühen Neuzeit 9783666310478, 9783525310472, 9783647310473

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Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums: England, China und die Welt in der Frühen Neuzeit
 9783666310478, 9783525310472, 9783647310473

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Schriftenreihe der FRIAS School of History Herausgegeben von Ulrich Herbert und Jörn Leonhard Band 8

www.frias.uni-freiburg.de

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Peer Vries

Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums England, China und die Welt in der Frühen Neuzeit

Aus dem Englischen von Felix Kurz

Vandenhoeck & Ruprecht

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Mit 13 Grafiken und 55 Tabellen

Umschlagabbildung: Maudslay marine engine, International Exhibition, London 1862 © Science Museum / Science & Society Picture Library

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-31047-2 ISBN 978-3-647-31047-3 (E-Book)

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages – Printed in Germany. Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Redaktionsassistenz: Madeleine Therstappen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Die Debatte über die Great Divergence . . . . . . . . . . . . . .

14

2. Die Entstehung und das Ausbleiben des modernen Wirtschaftswachstums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

3. Take-offs und (wachsende) Rückstände: Die Fallstudien Großbritannien und China im sehr langen 18. Jahrhundert . . .

34

4. Kontinuität und Wandel; Zwangsläufigkeit und Zufall . . . . . .

45

5. Alte Klischees über Asiens Wirtschaftsgeschichte . . . . . . . . .

60

6. Einkommen, Reichtum und Entwicklung: Probleme der Messung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

7. Industrielle Revolution und Great Divergence . . . . . . . . . . .

68

8. Malthusianische Schranken, vormodernes und modernes Wachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 1: Moderne Wirtschaftswissenschaft und Theorien des Wachstums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

1. Boden, Ressourcen, Geografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

2. Die Auswirkungen der Größe des Arbeitskräfteangebots . . . . . 102 3. Die Qualität der Arbeitskräfte: Humankapital . . . . . . . . . . 108 4. Konsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 5. Kapital und Kapitalakkumulation . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 6. Spezialisierung und Tausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 7. Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 8. Institutionen: Eigentumsrechte, Märkte und Staaten . . . . . . . 132 9. Die Rolle der Kultur für das Wirtschaftswachstum . . . . . . . . 152

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Inhalt

Teil 2: Erklärungen der Great Divergence . . . . . . . . . . . . . .

165

1. Die Great Divergence und die Geografie . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Geografie, Faktorausstattung und Institutionen . . . . . . . . . . 176 3. Geografie und Institutionen: Großbritannien und China, Weizen versus Reis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 4. Stadt versus Land: die britische Urbanisierung und das ländliche China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 5. Arbeitskräfte: Knappheit und Überfluss . . . . . . . . . . . . . . 205 6. Faktorausstattung: Einsparung von Arbeit in Großbritannien, Bindung von Arbeit in China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 7. Hohe und niedrige Löhne: Anreize und Fallen? . . . . . . . . . . 224 8. Arbeitsextensive und -intensive Pfade zum Wachstum? . . . . . . 232 9. Humankapital: Arbeitskraft und Qualifikation . . . . . . . . . . 241 10. Humankapital: Arbeitskraft und Disziplin . . . . . . . . . . . . . 247 11. Konsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 12. Akkumulation, Einkommen und Wohlstand . . . . . . . . . . . 256 13. Ursprüngliche Akkumulation: Edelmetalle und Sklaven . . . . . 268 14. Interkontinentaler Handel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 15. Globalisierung und Great Divergence: Wie die Dritte Welt entstand und in den Rückstand geriet . . . . . . . . . . . . . . . 295 16. Fiktive Nutzflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 17. Innovation (statt Akkumulation) und fiktive Nutzflächen . . . . 323 18. Innovation: Technik und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . 331 19. Produktivitätssteigerungen durch institutionelle und organisatorische Innovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 20. Letztgültige Ursachen: Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . 345 21. Märkte und Eigentumsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 22. Institutionen: Märkte und Varianten des vorindustriellen Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 23. Lohnarbeit und Weltsystem: Warum das China der Qing nicht als kapitalistisch bezeichnet werden kann und die Ursprünge des Kapitalismus ausschließlich im Westen liegen . . . . . . . . . 365

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Inhalt

24. Märkte: Größen und Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . 378 25. Die Institution der Institutionen: Zur Rolle des Staates . . . . . . 386 26. Der britische und der chinesische Staat . . . . . . . . . . . . . . 389 27. War Großbritannien während der Industrialisierung ein Entwicklungsstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 28. Das europäische Staatensystem und die Entwicklung der Zivilgesellschaft: Zur Nicht-Monopolisierung der Quellen gesellschaftlicher Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 29. Kultur und Wachstum: Die kulturelle Einzigartigkeit des Westens – ob und wie sie sich messen lässt . . . . . . . . . . . . 410 30. Kultur spielt eine Rolle – doch wie lässt sich das überzeugend nachweisen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Teil 3: Warum nicht China? Eine Welt überraschender Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 1. Geografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 2. Arbeit(-skraft) und Konsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 3. Akkumulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 4. Spezialisierung und Tausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 5. Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 6. Institutionen: Märkte, Eigentumsrechte und Staaten . . . . . . . 465 7. Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 8. Schlussbemerkung über Großbritannien und China . . . . . . . 474 Verzeichnis der Grafiken und Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532

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Inhalt

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Einleitung

Einleitung

Warum wurden manche Länder reich und blieben viele andere arm? Die Debatte über die sogenannte Great Divergence – den wirtschaftlichen Aufschwung des Westens bei gleichzeitiger Stagnation der restlichen Welt – betrifft eine der zentralen Fragen der Geschichts- und Sozialwissenschaften und ist so alt wie diese Disziplinen selbst: Was sind die Gründe für Wohlstand? Diese Frage, die Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftshistoriker nicht selten sehr unterschiedlich beantworten, hat vor dem Hintergrund der Finanzkrise im Westen und dem Aufschwung des »Ostens«, namentlich Chinas und Indiens, eine aktuelle Aufladung erhalten. Die Ursache der Great Divergence war, dass manche Regionen einen wirtschaftlichen Aufstieg, andere dagegen Stagnation und mitunter sogar einen Niedergang erlebten. Genauer gesagt: Es entstand eine Kluft, weil die Ökonomien eines Teils der Welt in ein anhaltendes Wachstum eintraten, was vollkommen unnormal war, während dies im Rest der Welt nicht geschah, was vollkommen normal war. Das grundlegende Faktum, das es zu erklären gilt, ist der Beginn oder Ursprung eines historisch neuartigen Wachstums, das Ökonomen meist als »modernes Wirtschaftswachstum« bezeichnen; das vorliegende Buch befasst sich damit, »wie alles anfing«. Und damit, dass das Wesen modernen Wachstums und moderner Entwicklung in ihrem anhaltenden, besser noch: selbsttragenden Charakter besteht. Die Great Divergence war weder Schicksal noch Zufall. Das Wirtschaftswachstum im Westen hatte Voraussetzungen, die dieses dort wahrscheinlicher machten und die im Rest der Welt fehlten. Die Great Divergence zu erklären, heißt letztlich die Entstehung von Gesellschaften zu erklären, in denen Innovationen der Ressourcennutzung, der Anwendung von Technik sowie des institutionellen Rahmens normal und selbsttragend wurden. Dieses Buch stellt in historisch-empirischer Perspektive einerseits zentrale Annahmen der Wirtschaftswissenschaften infrage, zum Beispiel, dass demokratische und liberale Gesellschaften wirtschaftlich erfolgreicher seien als autoritäre, nationalistische oder militaristische. Andererseits teilt es nicht die modische Annahme, dass die Gesellschaften Europas und Asiens sich vor der Great Divergence auf Augenhöhe befunden hätten oder dass der Aufstieg des Westens auf einer Verarmung der übrigen Welt beruhe. Ebensowenig unterstützt es Analysen, die nun eine schnelle Aufhebung der großen Unter-

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Einleitung

schiede in der Weltwirtschaft vorhersagen. Das Buch vertritt die These, dass Institutionen und Kultur von fundamentaler Bedeutung für das große Auseinanderdriften waren. Die für den Take-off Westeuropas entscheidenden Institutionen waren allerdings keineswegs der freie Markt und ein Nachtwächterstaat, sondern eine einzigartige kapitalistische Produktionsweise, in der Macht und Profit zusammenwirkten, sowie ein starker, interventionistischer Staat, der das Wachstum aktiv förderte. Kultur war insoweit von Bedeutung, wie sie Innovationen förderte. Die große Kluft zwischen Arm und Reich auf der Welt stellt Ökonomen und Wirtschaftshistoriker vor eine große Herausforderung. Innerhalb von Ländern mag eine solche Kluft nicht besonders überraschend sein, aber dass sich der Reichtum nicht gleichmäßig oder beliebig über die Welt verteilt, sondern erhebliche Differenzen zwischen Ländern bestehen, ist durchaus bemerkenswert. Die meisten Armen in reichen Ländern leben immer noch unter besseren Bedingungen als die Masse der Bevölkerung in armen Ländern.1 Eine so ungleiche internationale Verteilung von Reichtum ist nicht selbstverständlich. Es ist sogar recht ungewöhnlich, dass es überhaupt reiche Länder gibt: In der Weltgeschichte stellte Armut für menschliche Gesellschaften meistens die Normalität dar. Die wirkliche intellektuelle Herausforderung besteht darin zu erklären, wie einige – mit Ausnahme Japans lange Zeit ausschließlich westliche – Länder der Armut zu entfliehen vermochten. Sie taten dies im 19. und 20. Jahrhundert in einem Prozess, der im Großbritannien des 18. Jahrhunderts begann und oft als Industrialisierung bezeichnet wird, sich aber treffender als Take-off zum modernen Wirtschaftswachstum charakterisieren lässt, und mit dem eine gewaltige Kluft zwischen den von ihm erfassten Ländern einerseits und Ländern ohne solches Wachstum andererseits entstand. Die Länder, in denen modernes, das heißt substanzielles und anhaltendes Wachstum einsetzte, wurden deutlich reicher als die anderen. Für die Entstehung dieser Kluft hat sich die Bezeichnung Great Divergence eingebürgert, seit der amerikanische Wirtschaftshistoriker Kenneth Pomeranz sein so betiteltes Buch veröffentlichte, aber gemeint ist derselbe Prozess, den Eric Jones bereits 1981 als »Das Wunder Europa« beschrieb – der Aufstieg des Westens.2 Vor diesem Prozess war das reale Pro-Kopf-Einkommen in den reichsten Ländern der vorindustriellen Welt, in Großbritannien und den Niederlanden des 18. Jahrhunderts, allenfalls fünfmal so hoch wie in den ärmsten. Was das Einkommen und Wachstum zugrundeliegende Entwicklungsniveau betrifft, verstanden als »Handlungsfähigkeit von Gesellschaften«,3 bestanden zwischen den entwickeltsten Gesellschaften der 1 Milanovic, The Haves and the Have-nots, vignette 2.2. 2 Jones, Wunder Europa. Vgl. Vries, »Global Economic History«. 3 Morris, Wer regiert die Welt?, 33.

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Einleitung

vorindustriellen Welt, etwa dem Römischen Reich, dem China der Song, den Niederlande im 17. Jahrhundert oder Großbritannien vor der Industrialisierung, nur geringe Differenzen, die jedenfalls keine substanzielle Einkommenskluft hervorriefen. Heute bestehen, wie Tabelle 1 über Realeinkommen zeigt, deutlich größere Unterschiede. Tab. 1: Regionale Kaufkraft in prozentualen Anteilen an der weltweiten Kaufkraft Regionale Kaufkraft des BIP, % der Gesamtsumme, 2011

Regionale Kaufkraft in $ pro Kopf, 2011

Weltweit

100,0

Weltweit

11.480

Industrienationen

51,1

Industrienationen

39.320

G7

38,5

G7

40.890

Eurozone (17)

14,3

Eurozone (17)

33.790

Asien*

25,1

Asien*

5.510

Lateinamerika

8,7

Lateinamerika

11.860

Zentral- u. Osteuropa**

7,8

Zentral-u. Osteuropa**

13.280

Naher Osten u. Nordafrika

4,9

Naher Osten u. Nordafrika

9.900

Afrika südlich der Sahara

2,5

Afrika südlich der Sahara

2.380

* ausgenommen Hong Kong, Japan, Singapur, Südkorea und Taiwan ** einschließlich Türkei Quelle: The Economist. Pocket World in Figures, 2013 Edition, 25.

Doch nicht nur in der Einkommenshöhe entstand eine immense globale Kluft, sondern auch im Niveau des akkumulierten Reichtums und der Entwicklung, ablesbar etwa an der Energienutzung, dem Transportwesen und der Telekommunikation, dem Niveau von Technik, Wissenschaft und Bildung sowie vielen anderen Aspekten. Diese Kluft zwischen »dem Westen« und dem »Rest der Welt« bildete sich im 19. und 20. Jahrhundert vor allem infolge der industriellen Revolution heraus. Sie besteht in vieler Hinsicht bis heute. Der Westen erfährt gegenwärtig zwar eine nicht zu übersehende Veränderung seines globalen Status: Sein Anteil an der Weltbevölkerung geht zurück, er ist keine Kolonialmacht mehr, und während sich mehrere westliche Regionen in einer immer tieferen Krise befinden, weisen andere Weltregionen eine erstaunliche Dynamik und hohe Wachstumsraten auf. In diesem Sinn hat der Westen eindeutig seinen Zenit überschritten. Wir sollten seinen »Niedergang« allerdings nicht übertreiben. Im realen Pro-Kopf-Einkommen – und darauf kommt es für die meisten Menschen wirklich an – liegt »der Rest der Welt«, einschließlich der vielzitierten BRIC-

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Einleitung

Quelle: The Economist, 6.8.2011.

Staaten, noch immer weit zurück. Setzt man es für die USA des Jahres 2010 gleich 100, dann ergibt sich für Brasilien der Wert 23,8, für Russland 42,2, für Indien 7,3 und für China 16,1. Für das Vereinigte Königreich, das in diesem Buch eine herausragende Rolle spielt, lautet die Zahl 75,7.4 Wichtiger noch: Die Schwellenländer entwickeln sich deshalb so dynamisch, weil sie den Westen allmählich auf dessen eigenem Terrain schlagen – sie vergrößern ihren Reichtum, indem sie sich Mechanismen des modernen Wirtschaftswachstums wie etwa Investitionssteigerungen, Innovationen, Verbesserung des Humankapitals und Ausweitung des Handels genauso zunutze machen, wie es der Westen tat, und so ihre Leistungsfähigkeit gegenwärtig schneller als dieser steigern. Die Frage, was die Entstehung und das Anhalten von Wachstum verursacht, hat somit nichts an Bedeutung eingebüßt, im Gegenteil. Die meisten Ökonomen und Wirtschaftshistoriker stimmen darin überein, dass Armut und Stagnation in der globalen Wirtschaftsgeschichte durchgängig normal waren. Die hier behandelte Frage, wie und warum einige westliche Länder, insbesondere in Nordwesteuropa und die Vereinigten Staaten, dieser Normalität entflohen sind, ist folglich für beide Disziplinen eine der zentralen Fragen. Wie gelang diesen Gesellschaften nach Jahrhunderten relativer Stagnation und Beständigkeit der Take-off in ein bis heute andauerndes Wachstum? Wie konnten sie die bis dahin geltenden Wachstumsschranken durchbrechen und Wachstum zu einer systemischen 4 The Economist. Pocket World in Figures 2013 Edition (London 2012). Die These, dass die globale Angleichung ein Mythos ist, vertritt u.a. Sharma, »Broken BRICs«.

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Einleitung

Eigenschaft machen? Warum fand der Take-off in Nordwesteuropa, namentlich in Großbritannien statt, einer während des Großteils der Geschichte eher unbedeutenden Region, wenn man sie an den großen Zivilisationen etwa des Mittelmeerraums, des Nahen und des Fernen Ostens misst? Wie und wann konnte sie sich dem eisernen Griff der Armut entwinden, und worin bestand die Triebkraft bzw. bestanden die Triebkräfte des Anhaltens von Entwicklung und Wachstum?

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Einleitung

1. Die Debatte über die Great Divergence

Es war vor allem das Buch The Great Divergence von Kenneth Pomeranz aus dem Jahr 2000, das eine der großen historischen Debatten auslöste, die in der Geschichtswissenschaft Weichen stellen.1 Pomeranz stand für die sogenannte California School – eine Gruppe von Wissenschaftlern, die mehrheitlich in Kalifornien angesiedelt sind oder waren. Viele der kalifonischen Thesen sind heftig umstritten.2 Dass ökonomische Divergenz und Konvergenz, und vor allem die kalifornischen Auffassungen darüber, neuerdings ein ausgesprochen beliebtes Forschungsthema sind, passt gut zur wichtigsten Tendenz der gegenwärtigen Wirtschaftsentwicklung: dem Aufstieg des Ostens, der mit einem relativen Niedergang des Westens einhergeht. Zudem experimentieren die Kalifornier mit einer neuen Art von komparativer reziproker Geschichtsschreibung, die für Wissenschaftler, denen es um Verknüpfungen und nicht bloß um Gegenüberstellungen geht, attraktiv ist.3 Ausgangspunkt unserer Analyse wird der revisionistische Ansatz von Wissenschaftlern der kalifornischen Schule sein, demzufolge die wirtschaftlich fortgeschrittensten Teile Asiens in der frühen Neuzeit mindestens genauso reich und entwickelt waren wie Westeuropa am Vorabend der In1 Pomeranz, Great Divergence. 2 Zu dieser Schule und ihren Positionen, vgl. Vries, »California School«. Zum kalifornischen Kern der Gruppe zählen Kenneth Pomeranz (momentan an der Universität Chicago), Roy Bin Wong – der kürzlich mit dem ebenfalls in Kalifornien tätigen Jan-Laurent Rosenthal ein Buch über die Great Divergence veröffentlicht hat –, Jack Goldstone, Dennis Flynn und Arturo Giráldez, Richard von Glahn, James Lee und Wang Feng sowie Robert Marks. Recht ähnliche Auffassungen sind von André Gunder Frank, Jim Blaut, John A. Hobson, Jack Goody, Peter Perdue und dem in Peking tätigen Li Bozhong vertreten worden, die weitgehend außerhalb Kaliforniens beheimatet sind. Auch viele andere Wissenschaftler mit ganz unterschiedlichen Hintergründen haben in den letzten 15 bis 20 Jahren die Debatte in sehr lebendiger und innovativer Weise neu entfacht. Zu nennen sind hier beispielsweise, in alphabetischer Reihenfolge, Robert Allen, Paul Bairoch, Gregory Clark, Jared Diamond, Ricardo Duchesne, Niall Ferguson, Eric Jones, David Landes, Timur Kuran, Alan Macfarlane, Deirdre McCloskey, Ian Morris, Prasannan Parthasarathi, Matt Ridley, Erik Ringmar, Jeffrey Williamson, Robert Wright, Jan Luiten van Zanden sowie sämtliche Mitglieder des Global Economic History Network. Zum GEHN, vgl. http://www2.lse.ac.uk/economicHistory/Research/GEHN/Home.aspx. Das Netzwerk wurde von Patrick O’Brien, Kenneth Pomeranz, Kaoru Sugihara und mir gegründet. 3 Vgl. de Vries in »Assessing Kenneth Pomeranz’s Great Divergence«, 13.

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Die Debatte über die Great Divergence

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dustrialisierung. Sollte dies tatsächlich zutreffen, wäre die Grundlage der meisten traditionellen Geschichten vom Aufstieg des Westens, die fast ausnahmslos von einem europäischen Sonderweg ausgegangen sind, in jedem Fall aber annahmen, das frühneuzeitliche Europa sei andersartig und wirtschaftlich entwickelter gewesen oder habe sich zumindest schneller entwickelt, ernsthaft infrage gestellt. Am besten verdeutlichen lässt sich die revisionistische These der Kalifornier anhand der Rede von »überraschenden Ähnlichkeiten« und »eurasischer Gemeinsamkeit«. Die erste Formulierung stammt aus dem ersten Teil von Pomeranz’ bahnbrechendem Buch, in dem er Teile Westeuropas und Ostasiens in der frühen Neuzeit als »eine Welt überraschender Ähnlichkeiten« beschreibt.4 Peter Perdue vertritt mit der These »eurasischer Gemeinsamkeit« im Kern denselben Gedanken, der über Ost-West-Dichotomien hinausführen soll.5 Die anfangs – und im Kern weiterhin – auf Westeuropa und Ostasien fokussierte Debatte über die Great Divergence berücksichtigt mittlerweile (Latein-) Amerika und Afrika und entwickelt sich so zu einer tatsächlich globalen Wirtschaftsgeschichte. Einige Wissenschaftler bezeichnen das frühneuzeitliche Europa dabei sogar ausdrücklich als »rückständig«. André Gunder Frank zum Beispiel vertritt in seiner bekannten Studie ReOrient. Global Economy in the Asian Age – gemeint ist der Zeitraum von 1400 bis 1800 – systematisch eine einzige Botschaft: Wirtschaftshistoriker müssen in der frühen Neuzeit den Osten, vor allem China, die damals entwickeltste Ökonomie der Welt, ins Zentrum rücken. Der Fokus auf das aufsteigende Europa sei ein eurozentristischer Fehler: Bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts blieb Europa »ein marginaler Akteur in der Weltwirtschaft und verzeichnete ein permanentes Defizit [im Handel mit Asien, PV], obwohl es relativ leicht und günstig Zugang zu amerikanischem Geld hatte, ohne das es nahezu gar keine Rolle in der Weltwirtschaft gespielt hätte.«6 Laut Frank »erreichten die Europäer aus eigener Kraft 4 Pomeranz, Great Divergence. Zu meinen Ansichten über dieses Buch vgl. Vries, »Are Coal and Colonies Really Crucial?«. 5 Perdue, China Marches West, 536–542. Ähnlich argumentieren beispielsweise John Darwin, Jack Goody, Victor Lieberman und Prasannan Parthasarathi (in alphabetischer Reihenfolge), die zeigen, dass es immer verbreiteter wird, beim Vergleich unterschiedlicher Teile Eurasiens Ähnlichkeiten statt Differenzen zu betonen. Vgl. Lieberman (Hg.), Beyond Binary Histories, 1–18, 19–102; ders., Strange Parallels, Bd. 1 und 2; Goody, Capitalism and Modernity; Theft of History; Eurasian Miracle; Renaissances; Darwin, Der imperiale Traum, bspw. 10, 24f. 6 Frank, ReOrient, 75. Diese Behauptung ist natürlich absurd. Lieberman bemerkt treffend: »Man darf wohl die Frage stellen, wie eine Region, die umfangreichen Binnenhandel trieb und im Jahr 1750 den Handel mit Westafrika, der gesamten Neuen Welt sowie großen Teilen des maritimen Südostasien und der indischen Küstenregionen dominierte, eine marginale Rolle in der Weltwirtschaft gespielt haben soll.« Lieberman, Strange Parallels, Bd. 1, 74, Anm. 109.

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Einleitung

gar nichts – schon gar keine Modernisierung«.7 Ihr Aufstieg sei »auf asiatischen Schultern« und mit Geld erfolgt, das sie irgendwie gefunden, gestohlen oder erpresst hätten.8 Robert Marks sieht das ähnlich: Europa sei am Rande der Weltwirtschaft stehend »verzweifelt bemüht« gewesen, »zu den in Asien erzeugten Reichtümern vorzudringen«.9 Felipe Fernandez-Armesto bezeichnet die Europäer in Pathfinders. A Global History of Exploration als »Bodensatz der Geschichte«.10 John Hobson wiederholt in The Eastern Origins of Western Civilisation unablässig, der Westen sei – abgesehen von den letzten 200 Jahren – immer rückständig gewesen und nur durch viel Glück, Rassismus, Krieg und Imperialismus reich geworden.11 Natürlich müssen selbst kalifornische Revisionisten einräumen, dass es eine Phase in der Geschichte gab, in der der Westen der mit Abstand reichste und mächtigste Teil der Welt war. Ausschlaggebend dafür war ihnen zufolge die industrielle Revolution. Das ist nicht gerade ein neuer Gedanke. Allerdings bedarf die industrielle Revolution, die sie meist umstandslos als Kern der Great Divergence betrachten, ihnen zufolge einer weitreichenden Neuinterpretation. Zur Illustration lassen sich zwei Zitate anführen, das erste von Peter Perdue, das zweite von Jack Goldstone: Im Licht der neueren Forschung stellt sich die industrielle Revolution nicht als eine aus tiefen Ursachen entstehende, langsame Evolution dar, die im Lauf von Jahrhunderten aus allein im frühneuzeitlichen Europa gegebenen Bedingungen hervorging. Vielmehr war sie das späte, plötzliche und unvorhergesehene Ergebnis eines glücklichen Zusammentreffens von Umständen im späten 18. Jahrhundert. […] akzeptable Erklärungen müssen einer globalen Perspektive folgen und kurzfristigen Veränderungen erheblichen Raum gewähren.12 Anstatt den Aufstieg des Westens als einen langen Prozess gradueller Fortschritte in Europa zu sehen, während dessen der Rest der Welt in Stillstand verharrte, haben sie [Historiker der kalifornischen Schule] diese Geschichte umgedreht. Sie behaupten, dass Gesellschaften in Asien und dem Mittleren Osten bis etwa 1500 auf den Gebieten Wirtschaft, Wissenschaft und Technik sowie Schifffahrt, Handel und Entdeckungsreisen weltweit führend gewesen seien. Beim Übergang vom Mittelalter zur Renaissance lag Europa demnach weit hinter den fortgeschrittenen Gesellschaften in anderen Weltregionen zurück und konnte die führenden asiatischen Gesellschaften erst um 1800 ein- und überholen. Der Aufstieg des Westens erfolgte somit relativ spät und plötzlich und beruhte in hohem Maß auf den Errungenschaften anderer Zivilisationen, nicht allein auf europäischen Entwicklungen. Einige dieser Wissenschaftler behaupten sogar, es könnte ein recht kurzlebi-

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Frank, ReOrient, 259. Ebd., 277. Marks, Ursprünge der modernen Welt, 55. Fernandez-Armesto, Pathfinders, 19. Vgl. Hobson, Eastern Origins, bezeichnend 218. Perdue, China Marches West, 537.

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Die Debatte über die Great Divergence

17

ges, temporäres Phänomen gewesen sein, da andere Gesellschaften den Westen im Wachstum nun ein- oder gar überholten.13

Um Scheingefechte zu vermeiden, muss allerdings hinzugefügt werden, dass der wichtigste Vertreter der kalifornischen Schule, Kenneth Pomeranz, kürzlich eingeräumt hat, die Great Divergence vermutlich zu spät angesetzt und ihre Plötzlichkeit überzeichnet zu haben, da die wirtschaftliche Parität zwischen den beiden Extremen Eurasiens wahrscheinlich schon 1750 oder sogar 1700 geendet habe. Statt eines plötzlichen Bruchs, so schreibt er nun, sei sie möglicherweise eher ein langfristiger Prozess gewesen.14 An der Vorstellung, dass die entwickeltsten Ökonomien der Welt lange Zeit gleichauf gelegen und sich bis weit in die Frühe Neuzeit hinein durch überraschende Ähnlichkeiten ausgezeichnet hätten, hält Pomeranz jedoch fest.

13 Goldstone, Why Europe?, VIII. 14 Vgl. de Vries und Pomeranz in »Assessing Kenneth Pomeranz’s Great Divergence«.

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18

Einleitung

2. Die Entstehung und das Ausbleiben des modernen Wirtschaftswachstums

Die Frage nach den Gründen des modernen Wirtschaftswachstums ist überaus kompliziert und facettenreich. Viele Debatten darüber erweisen sich als recht fruchtlos, weil die Teilnehmer in Wirklichkeit über unterschiedliche Dinge reden. Deshalb ist es wichtig, genau anzugeben, was man erklären will und von welchen Annahmen und Fakten man dabei ausgeht. Um zu verdeutlichen, welche Phänomene wir überhaupt erklären wollen, sind zunächst einige empirische Daten angebracht, wobei betont werden muss, dass nur die ökonomische Seite des Aufstiegs des Westens Thema sein wird, also die Frage, wie und warum er so viel reicher wurde als der Rest, nicht aber die politisch-militärische Seite, also die Frage, wie und warum er zur Herrschaft über so große Teile der Welt gelangte – ein verwandtes, aber gewiss nicht dasselbe Thema. Im Mittelpunkt werden Reichtum, Entwicklung und Wachstum stehen. Die Grafiken und Tabellen auf den folgenden Seiten sollten die notwendigen Informationen aufbereiten. Die Great Divergence entstand, indem die Ökonomien eines Teils der Welt in ein anhaltendes Wachstum eintraten, was vollkommen unnormal war, während dies im Rest der Welt nicht geschah, was vollkommen normal war. Das grundlegende Faktum, das es zu erklären gilt, ist der Beginn oder Ursprung eines historisch neuartigen Wachstums, das Ökonomen meist als »modernes Wirtschaftswachstum« bezeichnen. Modernes Wirtschaftswachstum bewirkt einen Anstieg des realen Pro-Kopf-Einkommens.1 Es wird als substanziell definiert, eine Einschränkung, die natürlich unterschiedlich ausgelegt werden kann, vor allem aber als anhaltend. Die Great Divergence wird hier als Folge des Umstands betrachtet, dass ein solches Wachstum in manchen Weltregionen entstand, in den meisten anderen dagegen ausblieb oder erst wesentlich später aufkam.2 Es ist sehr unwahrscheinlich, dass so anhaltende und wachsende Differenzen wie in den Tabellen 2–11 und in Grafik 3 dargestellt, durch einen punktuellen Bruch, einen plötzlichen Zufall oder Glücksfall, dessen Auswirkungen fortdauerten und im

1 In Unterscheidung zu extensivem Wachstum, das sich auf das Gesamteinkommen bezieht, wird es gewöhnlich als intensives Wachstum bezeichnet. 2 Morris, Wer regiert die Welt?, 33.

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19

Die Entstehung und das Ausbleiben des modernen Wirtschaftswachstums

Tab. 2: Anteil der europäischen Bevölkerung (ohne Russland) an der Weltbevölkerung Jahr

Welt (Mio.)

Europa (Mio.)

Europa (%)

1000

267

31

12

1500

438

71

16

1820

1042

170

16

1913

1791

341

19

2003

6279

561

8

Quelle: Maddison, Contours of the World Economy, 376 und 378. Die Angaben wurden gerundet.

Tab. 3: Anteil Europas (ohne Russland) am weltweiten BIP Jahr

Prozent

1000

11

1500

20

1820

26

1913

38

2003

21

Quelle: Maddison, Contours of the World Economy, 381. Die Angaben wurden gerundet.

Tab. 4: Durchschnittliches reales Pro-Kopf-Einkommen in internationalen Dollar (1990) in den Jahren 1820 und 1913 1820

1913

Westeuropa

1232

3473

Osteuropa

636

1527

1201

5257

Lateinamerika

665

1511

Asien ohne Japan

575

640

Japan

669

1387

Afrika

418

585

Westliche Ableger

Quelle: Maddison, World Economy, 264.

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20

Einleitung

Quelle: Maddison, World Economy.

Tab. 5: Die Kolonien westeuropäischer Länder, der Vereinigten Staaten und Japans Jahr

Anteil der kolonisierten Landfläche an der weltweiten Gesamtfläche (in %)

Anteil der kolonisierten Bevölkerung an der Weltbevölkerung (in %)

1760

18

3

1830

6

18

1880

18

22

1913

39

31

1938

42

32

Quelle: Burbank/Cooper, Empires in World History, 288.

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21

Die Entstehung und das Ausbleiben des modernen Wirtschaftswachstums

Tab. 6: Anteile an der Weltproduktion von Industriegütern, 1750–1900 (%) Region / Land

1750

1800

1830

1860

1880

1900

Gesamteuropa

23,2

28,1

34,2

53,2

61,3

62,0

Vereinigtes Königreich

1,9

4,3

9,5

19,9

22,9

18,5

Habsburger Reich

2,9

3,2

3,2

4,2

4,4

4,7

Frankreich

4,0

4,2

5,2

7,9

7,8

6,8

Deutsche Staaten / Deutschland

2,9

3,5

3,5

4,9

8,5

13,2

Italienische Staaten / Italien

2,4

2,5

2,3

2,5

2,5

2,5

Russland

5,0

5,6

5.6

7,0

7,6

8,8

Vereinigte Staaten

0,1

0.8

2,4

7,2

14,7

23,6

Japan

3,8

3,5

2,8

2.6

2,4

2,4

Dritte Welt

73,0

67,7

60,5

36.6

20,9

11,0

China

32,8

33,3

29,8

19,7

12,5

6,2

Indien / Pakistan

24,5

19,7

17,6

8,6

2,8

1,7

Quelle: Freeman/Louçã, As Time Goes by, 183.

Tab. 7: Industrialisierungsgrad, 1750–1900 (gemessen am Vereinigten Königreich im Jahr 1900 = 100) Region / Land

1750

1800

1830

1860

1880

1900

Gesamteuropa

8

8

11

16

24

35

10

16

25

64

87

[100]

Habsburger Reich

7

7

8

11

15

23

Frankreich

9

9

12

20

28

39

Deutsche Staaten / Deutschland

8

8

9

15

25

52

Italienische Staaten / Italien

8

8

8

10

12

17

Russland

6

6

7

8

10

15

Vereinigte Staaten

4

9

14

21

38

69

Japan

7

7

7

7

9

12

Dritte Welt

7

6

6

4

3

2

China

8

6

6

4

4

3

Indien / Pakistan

7

6

6

3

2

1

Vereinigtes Königreich

Quelle: Freeman/Louçã, As Time Goes By, 183.

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22

Einleitung

Tab. 8: Dampfkraft (in tausend PS) Land

1840

1850

1860

1870

1880

1888

1896

620

1.290

2.450

4.040

7.600

9.200

13.700

Deutschland

40

260

850

2.480

5.120

6.200

8.080

Frankreich

90

370

1.120

1.850

3.070

4.520

5.920

Österreich

20

100

330

800

1.560

2.150

2.520

Belgien

40

70

160

350

610

810

1.180

Russland

20

70

200

920

1.740

2.240

3.100

Italien

10

40

50

330

500

830

1.520

Spanien

10

20

100

210

470

740

1.180

Schweden

-

-

20

100

220

300

510

Niederlande

-

10

30

130

250

340

600

Europa

860

2.240

5.540

11.570

22.000

28.630

40.300

USA

760

1.680

3.470

5.590

9.110

14.400

18.060

1.650

3.990

9.380

18.460

34.150

50.150

66.100

Großbritannien

Weltweit

Quelle: Landes, Unbound Prometheus, 221.

Tab. 9: Regionale Verteilung des Welthandels, 1876–1913 (in %) Region

1876–80

1913

Exporte

Importe

Handel insgesamt

Exporte

Importe

Handel insgesamt

Europa

64,2

69,6

66,9

58,9

65,1

62,0

Nordamerika

11,7

7,4

9,5

14,8

11,5

13,2

Lateinamerika

6,2

4,6

5,4

8,3

7,0

7,6

Asien

12,4

13,4

12,9

11,8

10,4

11,1

Afrika

2,2

1,5

1,9

3,7

3,6

3,7

Ozeanien

3,3

3,5

3,4

2,5

2,4

2,4

Quelle: Kenwood/Lougheed, Growth of the International Economy, 93.

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23

Die Entstehung und das Ausbleiben des modernen Wirtschaftswachstums

854

1.357

620

6.112

6.429

28

501

14.400

37.600

Europa

Russland

Spanien

Italien

Habsburger Reich

Deutschland

Belgien

2.915

Weltweit

9.757

Frankreich

5.856

1870 (20.000) 15.544 2.897 18.876

USA

1850

Großbritannien

Jahr

Tab. 10: Ausbau des Schienennetzes (in km)

23.100

5.454 10.731 101.300

85.400 205.200

1890

27.820 33.280 4.526 42.869 15.523 13.629 10.163 30.595 208.000 249.700 566.900

1913

32.623 40.770 4.776 63.378 44.800 18.873 15.351 70.156 321.600 400.197 925.300

Quelle: Di Vittorio (Hg.), Historia económica de Europa, 271.

Tab. 11: Erfindungen und Innovationen pro Land von 1750–1950 (% an der Gesamtzahl) Zeitraum

Gesamt

Großbritannien

Frankreich

Deutschland

USA

Andere

1750–1775

30

46.7

16.7

3.3

10.0

23.3

1776–1800

68

42.6

32.4

5.9

13.2

5.9

1801–1825

95

44.2

22.1

10.5

12.6

10.5

1826–1850

129

28.7

22.5

17.8

22.5

8.5

1851–1875

163

17.8

20.9

23.9

25.2

12.3

1876–1900

204

14.2

17.2

19.1

37.7

11.8

1901–1914

87

16.1

8.0

17.2

46.0

12.7

1915–1939

146

13.0

4.1

13.0

58.6

11.3

1940–1950

34

2.9

0.0

6.7

82.4

8.0

Quelle: Gozzini, Un’idea di giustizia, 25.

Lauf der Zeit sogar noch stärker wurden, hinreichend zu erklären sind. Genau dies aber glauben einige Wissenschaftler leisten zu können. Auf die unterschiedlichen Auffassungen darüber, was als adäquate Erklärung gelten kann, komme ich später zurück. Zunächst ist das Explanandum der Analyse näher zu bestimmen: die Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums, das hier – was nicht unumstritten ist – von traditionellen Formen des Wachstums grundsätzlich unterschieden wird. Nicht alle Wissenschaftler treffen eine solche scharfe Unterscheidung. Zumindest auf analytischer Ebene ist sie meines Erachtens aber klar: Als das moderne Wirtschaftswachstum aufkam, stützte es sich im Gegensatz zu Wachstum in allen früheren organischen, »malthusianischen« Ökonomien auf eine zuvor ungekannte massive Nutzung von Rohstoffen und Energiequellen sowie auf neue Technologien und

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24

Einleitung

Institutionen.3 Verstetigen konnte es sich, weil Innovationen in der Produktion nun zu einem ununterbrochenen Vorgang wurden. Genauer: Mit der britischen Industrialisierung entstand eine Ökonomie, die sich auf mineralische und fossile Brennstoffe, die nun auch als Triebkraft genutzt wurden, sowie auf ständige technische und institutionelle Neuerungen stützte. Gerade was die Nutzung von Brennstoffen und technologische Innovationen betrifft, unterschied sie sich meines Erachtens selbst von den fortgeschrittensten organischen Ökonomien fundamental.4 In der Realität – besonders in der ersten Übergangsphase der Industrialisierung – sehen wir natürlich Kontinuität und Wandel, eine Mischung des Alten und Neuen, doch mit dem massiven Einsatz von fossilen und mineralischen Brennstoffen wurde aus meiner Sicht eine vollkommen neue Wirtschaft möglich. Jan de Vries und Ad van der Woude würden dem nicht zustimmen. In ihrem magnum opus behaupten sie, dass die Niederlande bereits vor der britischen Industrialisierung als erste Ökonomie der Welt eine Phase modernen Wirtschaftswachstums durchliefen (der Untertitel der niederländischen Ausgabe lautet »Die erste Runde modernen Wirtschaftswachstums«).5 De Vries hat diese These und ihre Implikationen in mehreren Aufsätzen weiterentwickelt.6 Demnach industrialisierten sich die Niederlande relativ spät, weil ihre Ökonomie bereits sehr modern war.7 Betrachtet man Indikatoren wie Urbanisierung, Bildung, Mobilität, Finanzwesen, Politik, Rechtssystem oder das Verhalten ökonomischer Akteure – vollendeter homines oeconomici –, dann existierte dort tatsächlich bereits ein modernes institutionelles Umfeld. De Vries und van de Woude bestreiten nicht, dass das Wachstum in den Niederlanden allmählich

3 Ich möchte betonen, dass ich den Begriff »malthusianisch« hier eher in einem »lockeren« Sinn verwende, nämlich als Bezeichnung für die Grenzen des Wachstums in vorindustriellen Gesellschaften und das allgemeine Spannungsverhältnis zwischen Bevölkerungsgröße und Reichtum, nicht aber in jenem stärker technischen, demographischen Sinn, in dem er sehr spezifische Korrelationen zwischen Einkommen, Sterbe- und Geburtenrate postuliert. Eine kurze Einführung und eine Überprüfung dieses Modells bieten Crafts/Mills, »From Malthus to Solow« und Craig, »Comment on ›From Malthus to Solow« sowie die dort angegebene Literatur. Das malthusianische demographische Modell umfasst drei Variablen: die Geburtenrate, die bei wachsendem Mangel sinken und bei nachlassendem Mangel steigen soll, die sich gegenteilig verhaltende Sterberate und das als langfristig recht stabil angenommene Einkommen aus Arbeit. 4 Vgl. Wrigley, Continuity, Chance and Change. 5 de Vries/Woude, The First Modern Economy, Epilog. 6 Vgl. zu dieser These de Vries, »Industrial Revolution and Industrious Revolution«; »Economic Growth before and after the Industrial Revolution«; »Industrious Revolution and Economic Growth«; The Industrious Revolution; »Industrious Peasants in East and West«. Letzterer Text ist ein Kommentar zu Saito, »An Industrious Revolution in an East Asian Market Economy?«. 7 So argumentiert bspw. Mokyr, Enlightened Economy, 169.

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Die Entstehung und das Ausbleiben des modernen Wirtschaftswachstums

25

auslief. Grund dafür war ihnen zufolge keine malthusianische Schranke,8 etwa ein Mangel an modernen Energiequellen. De Vries und van de Woude verstehen die Industrialisierung senso stricto, im Sinne von Dampfkraft und Fabriken, als nur einen – zudem entbehrlichen – Teil eines wesentlich breiteren Prozesses modernen Wirtschaftswachstums, und eben dieser hatte ihnen zufolge in den Niederlanden bereits eingesetzt. Zudem stellen sie die Frage, ob das anhaltende Wachstum der industriellen Welt tatsächlich nachhaltig ist. Befindet sich die heutige postindustrielle moderne Welt nicht in einer ähnlichen Situation wie die Niederlande im Jahr 1700? Im Kern geht es in dieser Debatte um die relative Bedeutung verschiedener Wachstumsmotoren. Meines Erachtens ging Großbritannien mit Kohle und vor allem Dampfkraft zu einem neuen Wirtschaftssystem mit unerhörtem Wachstumspotenzial über, während die Niederlande trotz aller institutionellen Modernität »nur« das höchste, aber begrenzte Stadium traditionellen Wirtschaftswachstums darstellten. In der Realität sind natürlich alle Unterscheidungen fließend und unscharf, aber analytisch betrachtet bildete sich mit der Dampfkraft eine neue Ökonomie heraus. Jedenfalls hoffe ich in diesem Buch zu zeigen, dass im Großbritannien des 18. Jahrhunderts etwas tatsächlich Neuartiges entstand, das weltweit immense Folgen hatte. Die Great Divergence mit der Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums zu identifizieren, hat einige wichtige Implikationen. Es bedeutet, dass ihre Erklärung nicht mit der des Kapitalismus – hier der Einfachheit halber und nicht ganz zutreffend als Marktwirtschaft definiert – identisch ist, wie in Texten über den »Aufstieg des Westens« oft umstandslos unterstellt wird.9 Nicht nur, weil modernes Wirtschaftswachstum und Kapitalismus, wenngleich in der Wirklichkeit oft verbunden, begrifflich zu unterscheidende Phänomene sind, sondern auch, weil sie in der Wirklichkeit nicht immer miteinander einhergehen. Es gibt mehrere Beispiele für kapitalistische Gesellschaften – ein ohnehin sehr komplexer, facettenreicher und umstrittener Begriff –, die nicht automatisch zu modernem Wirtschaftswachstum übergingen. Adam Smith (1723–1790) befasste sich nie mit dem Übergang vom Handels- zum Industriekapitalismus und zum modernen Wirtschaftswachstum, weil er ein wirklich substanzielles und über einen 8 Vgl. zu diesem Begriff Kap. 8 der Einleitung. Tatsächlich kann man behaupten, dass das Land den Übergang zum neuesten Energiesystem versäumte. Dampfmaschinen wurden in der Produktion lange Zeit kaum eingesetzt. Die anfangs begrenzte Nutzung von Kohle hatte jedoch gute wirtschaftliche Gründe, und als diese einige Jahrzehnte später nicht mehr gegeben waren, holte das Land bei den avanciertesten Technologien rasch auf. 9 Vgl. zu diesem Begriff Teil 2, Kap. 22–23. Aus meiner Sicht ist der Kapitalismus nicht, wie oft unpräzise behauptet wird, dasselbe wie Marktwirtschaft, denn im Kapitalismus werden alle Güter und Dienstleistungen, nicht nur die für den Verbrauch bestimmten, zu Waren.

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26

Einleitung

längeren Zeitraum anhaltendes Wachstum nicht für möglich hielt. Die meisten an Smith orientierten modernen Ökonomen hielten diesen Übergang kaum für problematisch, da die Marktkonkurrenz früher oder später zwangsläufig technische Innovation hervorbringe. Auch die meisten Anhänger Max Webers (1864–1920) tendierten dazu, den Aufstieg des Westens durch den des Kapitalismus zu erklären und die Industrialisierung lediglich als eine Phase darin zu betrachten. Dasselbe gilt, wenn auch aus ganz anderen Gründen, für Wissenschaftler wie Fernand Braudel (1902–1985) und Immanuel Wallerstein. An Karl Marx (1818–1883) orientierte Autoren wiederum sind bis heute geteilter Meinung darüber, wie der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus und danach zum Industriekapitalismus genau vonstattenging.10 Zwar erkennen sie fundamentale Unterschiede zwischen Handelsund Industriekapitalismus, behaupten aber meistens, der Erstere habe auf irgendeine Art den Letzteren hervorgebracht. Marx selbst unterschied zwei Übergange zur modernen Industrie: einen wirklich revolutionären, bei dem der Produzent Kaufmann wird, und einen zweiten, bei dem sich der Kaufmann der Produktion bemächtigt.11 Obwohl sich der vorindustrielle Kapitalismus vom Industriekapitalismus grundlegend unterscheide, enthalte er diesen bereits gleichsam. E. A. Wrigleys Bemerkung, die Beziehung zwischen Kapitalismus und Industrialisierung (sowie modernem Wirtschaftswachstum) sei eher eine zufällige als kausale, scheint mir zwar übertrieben – die Logik eines Kapitalismus à la Marx tendiert deutlich zur Erzeugung modernen Wirtschaftswachstums –, ist aber eine willkommene Erinnerung daran, dass Industrialisierung und modernes Wirtschaftswachstum keine notwendigen Folgen des Kapitalismus sind.12 Nicht zufällig wird das Thema in heutigen Debatten meist in anderen Begriffen, nämlich als Übergang von »Smithschem« zu »Schumpeterschem« Wachstum verhandelt.13 Identifiziert man die Great Divergence mit dem ersten Auftreten des modernen Wirtschaftswachstums, dann bedeutet dies ferner, dass ihre Erklärung auch nicht, wie Marx, Weber und viele andere behaupten, mit jener der Industrialisierung identisch ist, zumindest wenn man darunter ausschließlich die Durchsetzung mechanisierter Fabrikproduktion versteht. C. Knick Harley bemerkt zurecht, dass »wir den Begriff ›Industrialisierung‹ häufig locker, aber fälschlicherweise [meine Hervorhebung, PV] als Synonym für 10 Vgl. bspw. die etwas älteren Bücher von Holton, Transition from Feudalism to Capitalism, und Hilton (Hg.), Transition from Feudalism to Capitalism, sowie die neueren Publikationen von Wood, Origin of Capitalism, und Epstein, »Rodney Hilton, Marxism and the Transition from Feudalism to Capitalism«. 11 Marx, MEW, 25, 347. 12 Wrigley, Continuity, Chance and Change, 115. Dies gilt für »Smithschen« wie »Marxschen« Kapitalismus. Vgl. zu diesen Begriffen Teil 2, Kap. 22. 13 S. Register unter Schumpeter und Smith.

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Die Entstehung und das Ausbleiben des modernen Wirtschaftswachstums

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modernes Wirtschaftswachstum verwenden«.14 Auch wenn die Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums in Großbritannien zeitlich weitgehend mit der Durchsetzung von Fabrik und Maschine zusammenfiel und sich durch diese vermutlich am besten symbolisieren lässt, war sie nicht damit identisch, wie etwa Prasannan Parthasarathi in seinem neuen Buch annimmt, in dem er sogar so weit geht, die industrielle Revolution auf die Entwicklungen in der Baumwoll- und Eisenproduktion zu reduzieren.15 In der Phase von 1750 bis 1850 erfolgte ein ganz erheblicher Teil des Wachstums in Großbritannien in anderen Zweigen der Produktion, außerhalb von Fabriken, und – nicht zu vergessen – in anderen Wirtschaftssektoren wie Landwirtschaft und Dienstleistungen einschließlich des Transportwesens.16 Gerade die Bedeutung des Dienstleistungssektors für die damalige britische Wirtschaft ist kaum zu überschätzen und nahm im Lauf der Zeit sogar noch zu.17 Das war auch in Ländern der Fall, die sich später industrialisierten. Viele Länder entwickelten eine moderne Wirtschaft mit modernem Wachstum, ohne eine Phase massiver Industrialisierung zu durchlaufen.18 Manche Sektoren wiesen mehr Wachstum und Dynamik als andere auf, aber ein Wachstum und Wandel in der Größenordnung, wie wir sie im Großbritannien des langen 19. Jahrhunderts sehen, hatte Innovationen der Technologie und Produktionsorganisation auf breiter Front zur Voraussetzung.19 Im herstellenden Gewerbe erzeugte modernes Wachstum zudem mindestens ebenso oft zunehmende Produktivität wie umgekehrt. Und vor der Annahme, dass sich die unterschiedlichen Sektoren einer sich modernisierenden Ökonomie als »moderne« und »nichtmoderne« voneinander trennen und gegenüberstellen lassen, sollte man sich ohnehin hüten. Viele oder sogar die meisten Entwicklungen im Dienstleistungssektor, insbesondere seine weitere sogenannte Globalisierung, waren nur dank technologischer Durchbrüche wie Eisenbahn, Dampfschiff, Telegraf und Telefon möglich. Dasselbe gilt für die Landwirtschaft, bei der man nicht vergessen darf, wie wichtig unterschiedlichste Arten von Maschinerie und der Kunstdünger für ihre Entwicklung waren. Wie irreführend es ist, das moderne Wirtschaftswachstum aus14 Harley, »Trade«, 195. 15 Parthasarathi, Why Europe Grew Rich, bspw. 12. 16 Vgl. etwa Harley, »Reassessing the Industrial Revolution«; Griffin, British Industrial Revolution, Kap. 6. 17 Vgl. bspw. Cain/Hopkins, British Imperialism, Kap. 3; Chapman, Merchant Enterprise in Britain, passim. Zum Anteil des Dienstleistungssektors an Beschäftigung und BIP in Großbritannien: Tab. 19. 18 Beispiele dafür wären die Niederlande, die skandinavischen Länder und in gewissem Maß Frankreich. 19 Bruland, »Industrialization and Technological Change«, insbesondere 146; Mokyr, Enlightened Economy, Kap. 7.

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28

Einleitung

schließlich mit der Industrie zu assoziieren, zeigt sich natürlich auch an der Tatsache, dass die reiche und entwickelte Welt heute eine postindustrielle ist, in der das Gros der Wertschöpfung auf den Dienstleistungssektor entfällt.20 Wie erwähnt, wurde die hier zu erörternde Frage bislang meistens als Aufstieg des Westens oder wenigstens Westeuropas diskutiert. Noch heute stellen viele Autoren »den Westen« oder (das westliche) Europa schlicht dem »Rest« gegenüber. Dass die Kategorie »Rest« recht eigenartig ist, sollte sich von selbst verstehen. Doch wenn es um die Wirtschaftsgeschichte des frühneuzeitlichen Europa geht, gibt es auch kein »(westliches) Europa«. Zwischen den europäischen Regionen bestanden fundamentale Unterschiede. »Westeuropa«, also etwa die Region westlich einer imaginären Linie von St. Petersburg nach Triest, unterschied sich in fast allen wichtigen Aspekten seiner Entwicklung – Landwirtschaft, Verstädterung, Entstehung der freien Arbeit und des Bürgertums, Gewicht des interkontinentalen Handels – deutlich von Mittel- und Osteuropa.21 Doch selbst wenn wir Mittel- und Osteuropa ausklammern und uns auf das westliche Europa der frühen Neuzeit beschränken, sind die Unterschiede in Reichtum und Entwicklung so immens, dass Robert Allen von einer weiteren Great Divergence spricht.22 Der Süden, also ungefähr der Mittelmeerraum, wurde in dieser Phase vom Nordwesten, den Regionen an der Nordseeküste, hinsichtlich Dynamik, Entwicklung und Reichtum immer deutlicher überholt. Er verzeichnete einen substanziellen Rückgang der Reallöhne und wies klare Anzeichen von Stagnation und Verarmung auf. Was in Erzählungen über den Aufstieg des Westens meist ebenfalls übergangen wird, ist die Tatsache, dass die ökonomische Entwicklung im Westen und selbst in Westeuropa, soweit sie sich in Wirtschaftswachstum ausdrückte, vor der ersten industriellen Revolution keineswegs linear verlief. Nicht einmal in Westeuropa – wo das Pro-Kopf-Einkommen qualifizierter wie unqualifizierter Arbeiter damals ohnehin kaum stieg – wuchs die Wirtschaft ununterbrochen. Wachstum vollzog sich vielmehr durch Auf- und Abschwünge, Stagnationsphasen und unterschiedliche Entwicklungswege. Die Frühe Neuzeit von 1500 bis 1800 war mit Sicherheit keine Phase eines

20 Vgl. etwa The Economist. Pocket World in Figures 2013 Edition, 47 (sofern nicht anders angegeben, beziehen sich die Daten auf das Jahr 2010). Ha-joon Chang warnt indessen, man solle die Bedeutung der Industrie selbst in sogenannten postindustriellen Ökonomien nicht unterschätzen (23 Lügen, Kap. 9). 21 Vgl. bspw. Aston/Philpin (Hg.), Brenner Debate; Chirot (Hg.), Origins of Backwardness in Eastern Europe. 22 Allen, »The Great Divergence in European Wages and Prices«.

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Die Entstehung und das Ausbleiben des modernen Wirtschaftswachstums

29

Quelle: Allen, »Great Divergence in European Wages and Prices from the Middle Ages to the First World War«, 428.

ständigen beispiellosen Aufstiegs des Westens.23 Auch wenn sich die europäischen Ökonomien zweifellos bereits vor dem Durchbruch in Großbritannien entwickelten, führte dies noch zu keinem substanziellen Wachstum oder einer wirklichen Kluft im Reichtumsniveau. 23 Das behaupten Acemoglu/Johnson/Robinson, »Rise of Europe«, 546.

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30

Einleitung

Tab. 12: Reales BIP pro Kopf (gemessen am Vereinigten Königreich im Jahr 1820 = 100) Land

ca. 1500

ca. 1700

ca. 1750

1820

1870

Vereinigtes Königreich

57

73

87

100

187

Niederlande

67

109

109

107

162

Belgien

58

69

76

77

158

Frankreich

n.v.

n.v.

n.v.

72

110

Italien

83

71

76

65

88

Spanien

63

61

58

62

71

Schweden

64

66

67

70

97

50–54

38–42

34–37

41

55

Russland

n.v.

n.v.

n.v.

40

55

Türkei

n.v.

35

38

40

52

Polen

Quelle: Broadberry/O’Rourke, »Introduction to Volume 1«, in: dies., Cambridge Economic History of Modern Europe, 2.

Tab. 13: Wachstumsraten des realen BIP pro Person (% pro Jahr) in europäischen Ländern, 1500–1870 Land

1500–1700

1700–1750

1750–1820

1820–1870

Vereinigtes Königreich

0,12

0,35

0,20

1,25

Niederlande

0,24

0,00

-0,02

0,83

Belgien

0,09

0,19

0,02

1,44

Frankreich

n.v.

n.v.

n.v.

0,85

Italien

-0,08

0,14

-0,22

0,61

Spanien

-0,02

-0,10

0,10

0,27

0,02

0,03

0,06

0,65

-0,13

-0,24

0,21

0,59

Russland

n.v.

n.v.

n.v.

0,64

Türkei

n.v.

0,16

0,07

0,52

Schweden Polen

Quelle: Broadberry/O’Rourke, »Introduction to Volume 1«, in: dies., Cambridge Economic History of Modern Europe, 2.

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Die Entstehung und das Ausbleiben des modernen Wirtschaftswachstums

31

Diese Anmerkungen zeigen, dass es wichtig ist, präzise anzugeben, wer mit der durch das moderne Wirtschaftswachstum verursachten Great Divergence auseinanderdriftete: Sie markierte in erster Linie eine Gabelung der Wirtschaftsentwicklung unterschiedlicher Teile der Welt, nämlich Westeuropas und seiner Ableger einerseits und dem Rest der Welt andererseits, mit Ausnahme – allerdings nur in gewissem Maß und erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts – Japans. Es ist folglich sinnlos, Goodys Rat zu folgen und »statt eines europäischen Wunders ein eurasisches in den Blick zu nehmen«.24 Dafür wurden die Reichtums- und Entwicklungsunterschiede zwischen den verschiedenen Teilen Eurasiens schlichtweg zu groß. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde Asien insgesamt zu einem ausgesprochen armen Kontinent. Ein eurasisches Wunder hat es somit nicht gegeben. Dieser Einwand gilt auch für Jared Diamonds Buch Arm und Reich, das in Debatten über die Great Divergence häufig angeführt wird, die wesentliche Kluft zwischen Arm und Reich auf der Welt aber überhaupt nicht erklärt, da es fast ausschließlich die Gemeinsamkeiten Eurasiens gegenüber dem Rest der Welt behandelt und nur ganz am Rande – und sehr oberflächlich – auf mögliche Ursachen für die gewaltigen Reichtumsunterschiede innerhalb Eurasiens eingeht, wo rund zwei Drittel der Weltbevölkerung lebten. Das heißt allerdings nicht, dass man den Westen als ein homogenes Gebilde behandeln könnte. Befasst man sich mit den dortigen Ursachen der Great Divergence, sollte man eine ausschließlich britische mit einer panoder westeuropäischen Perspektive verbinden. Großbritannien war das erste und – mehrere Jahrzehnte lang in vieler Hinsicht – einzige Industrieland von Bedeutung. Angesichts der Tatsache, dass sich die britische, oder zumindest die englische Wirtschaft, bereits vorher deutlich vom Rest Westeuropas unterschieden hatte, sollte dies nicht wirklich überraschen.25 Das Aufkommen des modernen Wirtschaftswachsums in Großbritannien – und dies muss klar betont werden – manifestierte sich keineswegs nur in der Industrieproduktion. Selbst zu der Zeit, als Großbritannien die »Werkstatt der Welt« war, fiel seine Warenhandelsbilanz in der Regel negativ aus. Mehr als ausgeglichen wurde dies allerdings durch einen Überschuss in der Bilanz des unsichtbaren Handels (Einkommen aus Geschäftsdienstleistungen, Transport und Auslandsinvestitionen).26 Anfang des 20. Jahrhunderts entfiel die Hälfte der Tonnage der weltweiten Schiffsflotte auf 24 Goody, Eurasian Miracle, Klappentext. 25 Einige hervorstechende Charakteristika des vorindustriellen England erörtern Wrigley, »Divergence of England«, und Macfarlane, Invention of the Modern World (http://fortnightlyreview.co.uk). Im vorliegenden Text beziehe ich mich bei Vergleichen mit China und anderen Ländern oder Weltregionen in der Regel auf Großbritannien, bestehend aus England, Wales und Schottland. 26 Zur Periode 1850–1911: Cain/Hopkins, British Imperialism, 158.

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32

Einleitung

Tab. 14: Indikatoren für den Vorsprung Großbritanniens Mitte des 19. Jahrhunderts Großbritannien

Frankreich

Deutschland

Bevölkerung (in Mio.)

21

35

33

Kohleverbrauch (in Mio. Tonnen)

49

4,4

6,7

Eisenverbrauch (in Tonnen)

1.970.000

600.000

420.000

Dampfkraft, in PS

1.290.000

370.000

260.000

10.000

6.600

3.200

2.300.000

610.000

410.000

Prozentualer Anteil am Welthandel von 1850–1860

23

11

9

Industrialisierungsgrad (gemessen am Vereinigtem Königreich im Jahr 1900 = 100)

64

20

15

Eisenbahnnetz (in km) Baumwollverbrauch in den 1840er Jahren (Gesamtwert in Tonnen)

Quelle: Mokyr, Enlightened Economy, 476.

Tab. 15: Reales Pro-Kopf-Einkommen in internationalen Dollar von 1990 Jahr

Vereinigtes Königreich

Frankreich

Deutschland

1820

1706

1135

1077

1870

3190

1876

1839

Quelle: Maddison, Contours of the World Economy, 382.

Großbritannien. 1913 machten unsichtbare Ausfuhren (Transport, Bank-, Versicherungs- und Finanzwesen) rund 22 Prozent der Exporte des Vereinigten Königreichs aus. Von dort stammten zu dieser Zeit nicht weniger als 50 Prozent aller ausländischen Direktinvestitionen auf der Welt.27 Bereits nach wenigen Dekaden industrieller Vorherrschaft war Großbritannien eher das Dienstleistungszentrum der Welt als ihre Werkstatt. Es ist somit durchaus berechtigt, dass das Land im vorliegenden Buch im Mittelpunkt stehen wird. Aber eine breitere europäische Perspektive ist 27 Zwei ganz unterschiedliche Ansätze, um die Bedeutung dieses Sektors aufzuzeigen, verfolgen Cain/Hopkins, British Imperialism, und Wrigley, Energy and the English Industrial Revolution, Kap. 5.

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Die Entstehung und das Ausbleiben des modernen Wirtschaftswachstums

33

ebenfalls wichtig, da sich viele Entwicklungen in Großbritannien nur vor dem Hintergrund einer gemeinsamen westeuropäischen Geschichte begreifen lassen, wie die relative Leichtigkeit, mit der der Großteil Westeuropas aufholte, deutlich macht, die natürlich für sich genommen ein weiterer Grund dafür ist, nicht nur Großbritannien zu betrachten. Offenbar gab es starke westeuropäische Gemeinsamkeiten. Das heißt nicht, dass industrielle Nachzügler einfach das britische Vorbild kopiert hätten. Es gab nicht nur ein einziges Modell der Industrialisierung im 19. Jahrhundert.28 Eine Ökonomie mit modernem Wirtschaftswachstum konnte auf ganz unterschiedlichen Wegen aufgebaut werden, auch wenn sich bestimmte Grundzutaten im Lauf der Zeit als unverzichtbar erwiesen. Ich verweise nur auf die folgende disparate Liste: Verfügbarkeit anorganischer Energieressourcen in großem Umfang (Kohle, Naturgas, Öl, Atomkraft, moderne Wind-, Wasser- und Solarenergie oder eine Kombination daraus zur Erzeugung von Wärme, Strom und Licht); künstliche Düngemittel; Synthetikfasern und Kunststoffe; chemische Farbstoffe und Medikamente; permanente technische Innovation, was die Institutionalisierung von wissenschaftlicher Forschung und technologischer Entwicklung, eine ständige Verbesserung des Humankapitals, institutionelle Flexibilität und eine effiziente staatliche Infrastruktur erfordert. Debatten über die Great Divergence fokussieren meistens die Take-offPhase modernen Wirtschaftswachstums, also den Moment seines Einsetzens. Dieser Begriff wurde bekanntlich von Walt Rostow eingeführt.29 Von der Art und Weise, wie er in Rostows Stufentheorie verwendet wurde, hat die Wissenschaft inzwischen Abstand genommen. Dennoch scheint mir das Bild des Abhebens weiterhin hilfreich, zumal ich den Begriff wie Eric Hobsbawm in einem lockeren Sinn verwende, nämlich als den Prozess, in dem die »Produktivkräfte menschlicher Gesellschaften entfesselt wurden, deren Entwicklung von nun an eine konstante, schnelle und bis zur Gegenwart uneingeschränkte Vermehrung von Menschen, Sachgütern und Diensten ermöglichte«.30 Dieser Moment, in dem wir heute den Beginn einer neuen Phase der Wirtschaft erkennen können, wird auch in der vorliegenden Analyse im Zentrum stehen, aber es sei nochmals wiederholt, dass das Wesen modernen Wachstums und moderner Entwicklung in ihrem anhaltenden, besser noch: selbsttragenden Charakter besteht, weshalb nicht nur die Faktoren des Takeoff der britischen Wirtschaft zu erklären sind, sondern auch die Tatsache, dass sie sich – um bei der Metapher des Flugzeugs zu bleiben – in der Luft hielt und sogar noch höher stieg. 28 Vgl. O’Brien, »European Industrialization«; Verley, L’échelle du monde, Kap. 3. 29 Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Anm. d. Übers.: »Take-off« ist dort mit »Aufstieg« übersetzt. 30 Hobsbawm, Europäische Revolutionen, 60.

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34

Einleitung

3. Take-offs und (wachsende) Rückstände: Die Fallstudien Großbritannien und China im sehr langen 18. Jahrhundert

Im Mittelpunkt des Buches stehen Großbritannien und China. Als erstes Land, das den Take-off vollzog, ist Großbritannien eine ebenso naheliegende Wahl wie der Zeitraum von 1688 bis 1849, in dem der Durchbruch stattfand – von der Glorreichen Revolution bis zum offiziellen Ende des Merkantilismus. Bei der Analyse der wirtschaftlich abgehängten Weltregionen muss man dagegen eine Auswahl treffen. Ein allgemeiner Überblick, der »dem Westen« einen homogenen »Rest der Welt« gegenüberstellt, wäre analytisch nicht sinnvoll, im Gegenteil. Nicht erörtern werden wir hier die Situation in Mittel-, Ost- und Südeuropa, Regionen, die die Folgen des wirtschaftlichen Wandels in Westeuropa natürlich deutlich spürten und auch gewisse Anfänge einer industriellen Entwicklung verzeichneten, aber nicht wirklich aufholten.1 Japan ist ein viel studierter und durchaus eigentümlicher Fall. Hier begann die Industrialisierung recht früh, und bereits bei Beginn des Ersten Weltkriegs war das Land klar auf dem Weg zur Industrienation. In den explizit der Great Divergence gewidmeten Debatten kommt es dennoch bislang kaum vor. Wäre es eine weithergeholte Vermutung, dass die kalifornische Schule Japan deshalb auszublenden neigt, weil ihre bevorzugte Erklärung durch »Kohle und Kolonien« hier ins Leere läuft? Schließlich hatte Japan kaum Kohle und keine Kolonien und schaffte dennoch in einer Situation, die stärker noch als die des damaligen China Anzeichen einer malthusianischen Falle aufwies, den Take-off. Seine Industrialisierung ist meines Erachtens ein Musterbeispiel dafür, wie wichtig Institutionen für die Erklärung von Reichtum und Armut der Nationen sind.2 Indien war besonders 1 Die Literatur zum Thema ist schier unbegrenzt. Für die vorindustrielle Phase Ostund Mitteleuropas verweise ich auf Anm. 21, 328 und Cerman, Villagers and Lords in Eastern Europe sowie für Südeuropa (insbesondere Portugal, Spanien und Italien) auf Malarima, Europäische Wirtschaftsgeschichte, Kap. 5.2 und auf den Registereintrag »Mittelmeer«. Einen guten Überblick über sämtliche Regionen im 19. Jahrhundert bieten Teich/ Porter (Hg.), eds., The Industrial Revolution in National Context und vor allem Berend, An Economic History of Nineteenth-Century Europe. 2 Inwieweit die Auffassungen der kalifornischen Schule auf den Fall Japan bezogen werden können, analysiert Gruber, At the Edges of the Pacific. Diese unveröffentlichte Master-Arbeit kann auf Nachfrage ([email protected]) heruntergeladen werden. Aufschlussreiche Daten bietet Sugihara, »State and Industrious Revolution in Tokugawa Japan«, Schaubild 1 und 2. Zu Literatur, die den japanischen Fall direkt oder indirekt in

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Take-offs und (wachsende) Rückstände

35

im produzierenden Gewerbe eine in vieler Hinsicht fortgeschrittene Ökonomie, aber dass es die erste Industrienation der Welt hätte werden können, hat meines Wissens noch niemand behauptet.3 Dass eine industrielle Revolution in (Teilen von) Afrika vor oder etwa zeitgleich mit Großbritannien möglich gewesen wäre, ist meines Wissens ebenfalls noch nie behauptet worden. Robert Allen verneint dies sogar ausdrücklich.4 Daron Acemoglu und James Robinson kommen in Warum Nationen scheitern zu demselben Ergebnis: »Afrikas Institutionen eigneten sich am wenigsten dazu, die Chancen der Industriellen Revolution zu nutzen. Seit mindestens tausend Jahren hinkt Afrika, abgesehen von kleinen, isolierten Gebieten und begrenzten Zeiträumen, dem Rest der Welt in Technologie, politischer Entwicklung und Wohlstand hinterher.«5 Gareth Austin, zweifellos einer der führenden Experten für afrikanische Wirtschaftsgeschichte, sieht dies offenbar genauso und macht folgende interessante Bemerkung: Ich würde nicht behaupten, dass die afrikanischen Wirtschaften – im Durchschnitt betrachtet – auf einem Wachstumspfad vergleichbar jenem waren, der in den Tiefebenen des Jangtse oder in Westeuropa eingeschlagen worden war […] Ein solcher Pfad war ihnen aufgrund von Umweltbedingungen versperrt […] Die wirtschaftliche Voraussetzung des Sklavenhandels bestand gerade darin, dass afrikanische Arbeitskräfte auf den Zielkontinenten produktiver (für den Markt) waren als in ihrer Heimat. Das impliziert, dass der Sklavenhandel – selbst der atlantische – Afrikas verglichen mit Westeuropa (und Teilen Asiens) schwache wirtschaftliche Position eher verfestigte als verursachte.6 die Debatte einführt, vgl. Anm. 22, S. 41 (zum Lebensstandard), Teil 2, Kap. 8 (zum ostasiatischen Entwicklungspfad und der »Revolution des Fleißes«), sowie Osama Saito, »All Poor But No Paupers. A Japanese Perspective on the Great Divergence«, in: Economic and Social History at Cambridge. The Leverhulme Lectures Podcast. Der Umfang der Literatur über Japans beginnende Industrialisierung nach der Meiji-Restauration ist selbstverständlich immens. 3 Parthasarathi hat den Fall Indien allerdings kürzlich mit einer umfassenden Monografie in die aktuelle Debatte über die Great Divergence eingeführt: Parthasarathi, Why Europe Grew Rich. Zuvor gab es bereits mehrere relevante Artikel, zum Beispiel: Washbrook, »India in the Early Modern World Economy« und Roy, »Knowledge and Divergence from the Perspective of Early Modern India«. Unveröffentlicht, aber recht interessant ist die Dissertation von Yazdani, »Modernity and the ›Decline of the East‹«. 4 Allen, Global Economic History, 92. In Kap. 7 bietet Allen eine sehr kompakte Analyse der wirtschaftlichen Notlage Afrikas. 5 Acemoglu/Robinson, Warum Nationen scheitern, 152. 6 Austin, »›Reversal of Fortune‹ Thesis«, 1019. Vgl. auch ders., »Resources, Techniques and Strategies South of the Sahara«. Ich kann diesen Wissenschaftlern nur zustimmen und auf ihre Arbeiten sowie die darin verwendete Literatur verweisen: Analysen der langfristigen wirtschaftlichen (Nicht-)Entwicklung Afrikas bieten Bertocchi/Canova, »Did Colonization Matter for Growth?«; James Fenske, »The Causal History of Africa. A Response to Hopkins«, http://mpra.ub.uni-muenchen.de/24458/; Englebert, »Economic Development in Tropical Africa«; Fielding/Torres, »Cows and Conquistadors«; Hopkins, »New Economic History of Africa«, sowie mehrere Publikationen von Nathan Nunn

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Einleitung

Viele Teile des afrikanischen Kontinents litten unter einem komplexen Bündel von Teufelskreisen, die durch ungünstige geografische Gegebenheiten, die negativen Auswirkungen von Sklavenhandel, Sklaverei, Kolonialismus und Imperialismus, eine riskante Spezialisierung auf Primärprodukte und Rohstoffe mit schwankenden und häufig fallenden Preisen sowie durch mangelhafte Institutionen, etwa schwache und häufig sogar ›gescheiterte‹ Staaten, verursacht wurden. Allerdings sollten wir uns davor hüten, unterschiedliche Zeitpunkte und Orte gleichzusetzen oder kurzerhand einen ganzen Kontinent abzuschreiben, dessen Länder zurzeit teilweise überraschend hohe Wachstumsraten und mehr Dynamik als die westeuropäischen Ökonomien aufweisen. In der frühen Neuzeit war ein afrikanischer Take-off jedoch viel zu unwahrscheinlich, um diesen Fall hier ausgiebig zu erörtern. Auch über die islamische Welt behauptet niemand, dass sie als erste den Take-off hätte vollziehen können. Die wenigen Studien über die Phasen ihrer Wirtschaftsgeschichte, die aus komparativer Perspektive für unser Thema relevant sind, etwa die Arbeiten von Sevket ¸ Pamuk und zuletzt von Timur Kuran, behandeln vor allem die Frage, warum sich der Kapitalismus im Osmanischen Reich nicht oder nur langsam entwickelte. Die These jedoch, dass das moderne Wirtschaftswachstum dort früher als in Westeuropa hätte auftreten können, wird nirgends vertreten.7 Ganz anders ist die Situation im Fall Nordamerikas. Dass es zügig aufholte, gilt offenbar als beinahe selbstverständlich; zumindest wird dieses schnelle Wachstum in allgemeinen Debatten über die Great Divergence fast nie problematisiert. Zum Zeitpunkt der britischen Industrialisierung war Nordamerika bereits ein hochentwickelter Teil des Westens. Laut Paul Bairoch übertraf das reale Pro-Kopf-Einkommen in den Vereinigten Staaten in den 1890er Jahren das britische und waren die Reallöhne schon im 18. Jahrhundert in Teilen ihres späteren Staatsgebiets sogar höher als in London.8

(s. seine Webseite bei der Harvard University). Zu Literatur speziell zum Sklavenhandel und seinen Folgen, vgl. Teil 2, Kap. 13. Stärker auf die heutige Situation konzentrieren sich, wenn auch teilweise mit historischen Hintergrundinformationen, Easterly/Levine, »Africa’s Growth Tragedy«; Keefer/Knack, »Why don’t Poor Countries Catch Up?«; Mills, Why Africa is Poor; Sachs/Warner, »Slow Growth in African Economies«; Veen, What Went Wrong with Africa?. 7 Publikationslisten von Pamuk und Kuran finden sich unter www.ata.boun.edu.tr/ sevket.pamuk.htm und http://econ.duke.edu/people/kuran. Donald Quataert hat einige interessante Texte über die Wirtschaftsgeschichte, insbesondere die industrielle Entwicklung, des Osmanischen Reichs geschrieben, die aber nie durch eine explizit komparative Grundlage einen Zusammenhang zur Debatte über die Great Divergence herzustellen versuchen. Zu seinen Arbeiten, vgl. http://www2.binghamton.edu/history/people/faculty/ donald.html. 8 Vgl. Bairoch, Victoires et déboires, 252–253, und Allen, Global Economic History, 69.

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Take-offs und (wachsende) Rückstände

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Ihre Industrieproduktion überholte in den 1880er Jahren die britische.9 Natürlich gibt es sehr umfangreiche Literatur über die Wirtschaftsgeschichte der Vereinigten Staaten und Kanadas, doch in der Great-Divergence-Debatte sind die dortigen Entwicklungen kaum oder gar nicht berücksichtigt worden. Auf die wirtschaftliche Entwicklung Mittel- und Südamerikas wird in den Debatten über die Great Divergence zwar ebenfalls nur selten explizit Bezug genommen, aber sie ist schon immer ausgiebig mit derjenigen Nordamerikas verglichen worden. Da solche Vergleiche für die zentralen Fragen dieses Buchs zweifellos aufschlussreich sind, werde ich mich immer wieder auf sie beziehen.10 Problematisch ist dabei allerdings, dass sie bis vor Kurzem fast ausnahmslos von einigen Grundannahmen ausgingen, die immer weniger haltbar sind. Praktisch alle Wissenschaftler, die die Debatten über das immense Wohlstandsgefälle zwischen Nord- und Lateinamerika geprägt haben – einigen von ihnen werden wir in diesem Buch noch begegnen –, betrachteten die folgenden Behauptungen als Tatsachen: Lateinamerika sei erstens kurz nach seiner Eroberung stark verarmt,11 habe sich zweitens durch ein krasses Einkommens- und Wohlstandsgefälle sowie drittens durch repressive und extraktive Institutionen zur Aufrechterhaltung dieser Ungleichheiten ausgezeichnet, und obendrein sei viertens ein erheblicher Teil seines Reichtums nach Spanien und Portugal abgeflossen. Für den Norden der späteren Vereinigten Staaten und für Kanada wurden beinahe gegenteilige Wachstumsvoraussetzungen unterstellt: Einkommen und Wohlstand waren demnach weniger ungleich verteilt, die Masse der Bevölkerung verfügte über eine relativ hohe Kaufkraft, freie Arbeit war vorherrschend, und der Reichtum wurde nicht von wenigen abgeschöpft. Dem Süden der Vereinigten Staaten wurde dabei – nicht nur, aber vor allem für den Zeitraum bis zur Abschaffung der Sklaverei in den 1860er Jahren – ein Sonderstatus zwischen diesen Extremen beigemessen. Diese Annahmen wurden in allen maßgeblichen Erklärungen für das Reichtumsgefälle in der Neuen Welt des 19. und 20. Jahrhunderts im Kern geteilt. Inzwischen sind sie jedoch durch einige Aufsätze zur Wirtschaftsgeschichte insbesondere Spanisch-Amerikas stark in Zweifel gezogen worden. Treffen diese Einwände zu – was bereits vehement bestritten worden ist12 –, dann muss die Frage, was es zu erklären gilt und was als adäquate Erklärung 9 Vittorio, Historia económica de Europa, 253. 10 Einen neueren Überblick über die Positionen in dieser Debatte bietet Engerman/ Sokoloff, Economic Development in the Americas since 1500, insbesondere Kap. 1: »Entwicklungspfade: Ein Überblick«. 11 Wie reich und bevölkert Nord- und Südamerika »vor Kolumbus« waren, ist umstritten. Ein sehr positives Gesamtbild von Reichtum und Entwicklung dort zeichnet Mann, 1491. 12 Vgl. Allen/Murphy/Schneider, »The Colonial Origins«.

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38

Einleitung

gelten kann, gründlich überdacht werden. Am einfachsten lassen sich die neueren revisionistischen Auffassungen durch einige längere Zitate verdeutlichen. Zunächst das Abstract eines Aufsatzes von Wissenschaftlern, die ausdrücklich das Ziel verfolgen, das spanische Lateinamerika durch einen Einkommensvergleich mit Westeuropa und anderen Regionen in die Debatte über die Great Divergence einzuführen: Wir zeigen, dass die Nominallöhne und Preise durchschnittlich viel höher als in Westeuropa oder Asien waren, worin sich der niedrige Wert des Silbers ausdrückte, der Konsequenzen für die Wettbewerbsfähigkeit der lateinamerikanischen Wirtschaften gehabt haben muss. Das zweite auffällige Merkmal des spanischen Lateinamerika war ein Arbeitskräftemangel, der Reallöhne weit über dem Existenzminimum und in manchen Fällen (Mexiko, Bolivien, Argentinien) auf einem mit Nordwesteuropa vergleichbaren Niveau zur Folge hatte. In Mexiko war dies die Folge eines dramatischen Bevölkerungsrückgangs nach der Eroberung, in Bolivien eines Booms des Silberbergbaus in Potosí, der eine gewaltige Nachfrage nach Arbeit erzeugte, während Argentinien bereits in der vorkolonialen Zeit eine niedrige Bevölkerungsdichte aufwies. Dass die Reallöhne in anderen Regionen (Peru, Kolumbien und Chile) deutlich niedriger waren und erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Existenzminimum überschritten, könnte auf ein anderes Muster der Entvölkerung zurückzuführen sein.13

Das Abstract eines anderen revisionistischen Artikels lautet: Gemessen an den damaligen internationalen Standards kann weder von niedrigen Löhnen noch von einer geringen Körpergröße der Menschen gesprochen werden. SpanischAmerika schneidet im Vergleich des Lebensstandards mit anderen Weltregionen, einschließlich Westeuropa, somit gut ab. Gegen Ende der Periode ist wie in vielen Teilen des Westens ein Trend zum Rückgang der Reallöhne zu beobachten. Unsere Befunde deuten darauf hin, dass die Great Divergence zwischen dem Lebensstandard in Spanisch-Amerika und den entwickelten westlichen Ländern vor allem nach der Unabhängigkeit aufgetreten sein könnte.14

Laut der weiterhin vertretenen Sichtweise war freie Lohnarbeit nicht nur schlecht bezahlt, sondern auch untypisch, da unterschiedlichste Arten unfreier Arbeit die Regel waren. Mehrere Autoren behaupten nun jedoch, dass die Hervorhebung von unfreier Arbeit und extraktiven Institutionen ungerechtfertigt sei, da beides im Lauf der Zeit stark an Bedeutung verloren habe.15 Auch die klassische Erzählung über hartnäckige Wohlstands- und Einkommensunterschiede ist unter Beschuss geraten. Jeffrey Williamson bezeichnet diese pessimistische Auffassung in einem seiner vielen ikonoklastischen Aufsätze als Mythos. Zumindest, so Williamson, werde sie nicht durch 13 Arroyo Abad/Davies/van Zanden, »Between Conquest and Independence«. 14 Rafael Dobado-González/Héctor García-Montero, »Neither so Low nor so Short: Wages and Heights in Bourbon Spanish America from an International Comparative Perspective«, EHES Working Papers in Economic History 14, 2012, http://ehes.org/ EHES_No14.pdf. 15 Vgl. etwa ebd., 1–4.

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Take-offs und (wachsende) Rückstände

39

die – zugegebenermaßen schmale – Quellenbasis gestützt. Anhand von Quellen zu Lateinamerika in der Periode von 1790 bis 1870 sowie zu England, Holland und Frankreich zu unterschiedlichen Zeitpunkten des 18. Jahrhunderts kommt er zu dem Ergebnis, dass die Ungleichheit in der vorindustriellen Ära in Lateinamerika insgesamt nicht unbedingt größer gewesen sei als in Nordwesteuropa. Allerdings fügt er hinzu – was sich mit den Behauptungen der eben zitierten Autoren nicht ganz deckt –, dass Lateinamerika ärmer als Nordwesteuropa gewesen sei und ärmere Gesellschaften ein geringeres Mehrprodukt hervorbrächten, das die Eliten sich aneignen können. Die Ausbeutungsrate, also der von der Elite angeeignete Teil des verfügbaren gesellschaftlichen Mehrprodukts, sei in Lateinamerika entsprechend höher gewesen.16 Auch das Bild einer Auspressung der Kolonien in Spanisch-Amerika durch ihr Mutterland wird inzwischen insbesondere von Regina Grafe und Alejandra Irigoin angefochten. Das Abstract eines ihrer Artikel lautet: Der Artikel revidiert das traditionelle Bild Spaniens als eines plündernden Kolonialstaats, der aus den Naturressourcen und Bevölkerungen Amerikas ohne nennenswerte Gegenleistung Revenue zog. Anhand von Bilanzen spanisch-amerikanischer Schatzämter zeigen wir, dass lokale Eliten nicht nur […] auf die Erhebung der Einnahmen beträchtlichen Einfluss hatten, sondern auch auf ihre Verwendung. Der spanische Kolonialstaat entwickelte sich zu einem Teilhabermodell, in dessen Rahmen lokale Gruppen ein starkes Interesse an Überleben und Expansion des Kolonialreichs hatten. Als Kooptationsmittel dienten intrakoloniale Transfers sowie Kreditbeziehungen zwischen Staat und kolonialen Einzelpersonen und Unternehmen, die sicherstellten, dass ein großer Teil der kolonialen Revenue sofort in die lokale Wirtschaft zurückfloss, und zugleich die Kosten ihrer Erhebung minimierten.17

Laut diesem Artikel wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts nur etwa 5 Prozent der in Spanisch-Amerika erhobenen Steuern in die Metropole transferiert – die übrigen 95 Prozent blieben vor Ort. Da die Wissenschaft diese revisionistischen Auffassungen noch nicht wirklich verarbeitet hat, sind sie schwer zu beurteilen. Bislang haben sie in den Diskussionen über Lateinamerikas »Rückständigkeit« wenig Spuren hinterlassen – vermutlich werden sie dies aber tun. Im Mittelpunkt der Debatte über die Great Divergence, wie sie in den letzten 15 Jahren geführt wurde, steht der Vergleich zwischen Großbritannien und Qing-China in der frühen Neuzeit. Das wird auch in diesem Buch nicht 16 Jeffrey G. Williamson, »History without Evidence: Latin American Inequality since 1491«, NBER Working Paper 14777, Cambridge 2009, http://www.nber.org/papers/ w14766. Vgl. auch Bértola/Prados de la Escosura/Williamson, »Latin American Inequality«. 17 Grafe/Irigoin, »A Stakeholder Empire«. Vgl. auch dies., »Spanish Empire and its Legacy«.

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40

Einleitung

anders sein. Bei der Betrachtung Großbritanniens werde ich mich, wo hilfreich, auch auf andere Teile Westeuropas beziehen. Was »den Rest« betrifft, steht China im Zentrum, aber das übrige Asien, Nord- und Südamerika sowie Afrika werden ebenfalls berücksichtigt. Das Buch erhebt nicht den Anspruch einer umfassenden Darstellung, die einen Überblick über die konkreten Entwicklungen der britischen und chinesischen Geschichte oder gar der Weltgeschichte im sehr langen 18. Jahrhundert geben würde. In diesem Sinn ist es kein Geschichtsbuch. Vielmehr erörtert es zentrale Fragen und Positionen zu den Ursprüngen des modernen Wirtschaftswachstums im 18. und 19. Jahrhundert, wobei Großbritannien und China als Fallbeispiele zur Untermauerung analytischer Thesen dienen. Bei China wird der Fokus auf der Phase von 1683 bis 1842 liegen, also vom effektiven Beginn der Qing-Herrschaft bis zum Ende des ersten Opiumkriegs, als nach der Blütezeit unter den Kaisern Kangxi (1661–1722), Yongzheng (1723–1735) und Qianlong (1736–1795) deutlich geworden war, dass das Land nicht länger eine herausragende politische und wirtschaftliche Macht darstellte.18 Die Entscheidung für die Qing-Ära ist nicht selbstverständlich. Aller Wahrscheinlichkeit nach erreichten Entwicklung und Reichtum Chinas, abgesehen vom 20. Jahrhundert, unter der SongDynastie (907–1276) ihren Höhepunkt; es war damals in vieler Hinsicht entwickelter und dynamischer als unter den Qing. Mark Elvin kontrastiert in seiner bahnbrechenden Studie The Pattern of the Chinese Past die Dynamik unter den Song und teilweise noch den Yuan (1215/1276–1368) mit dem 14. Jahrhundert, in dem seines Erachtens bereits eine Stagnation der Technik einsetzte und die Dynamik nachzulassen begann.19 Noch deutlicher ist Eric Jones’ Behauptung, »nur um Haaresbreite« hätte China im 14. Jahrhundert den Übergang zur Industrialisierung verpasst.20 Die Frage, warum unter den Song kein Durchbruch stattfand und ihre Leistungen später (vermutlich) nicht mehr erreicht wurden, wird erstaunlicherweise fast völlig ignoriert – auch von den Kaliforniern. Die Debatten über die Great Divergence befassen sich nahezu ausschließlich mit dem Ausbleiben eines Take-offs unter den Qing. Da ich mich hier auf die Auswertung und Synthese vorliegender Arbeiten beschränke, beziehe ich mich ebenfalls primär auf die Qing-Ära, auch wenn es sehr gute Gründe dafür gibt, die Song-Peri-

18 Zum Begriff der Blütezeit, der im vorliegenden Text häufiger vorkommen wird, vgl. Goldstone, »Efflorescences and Economic Growth«. Die Qing-Herrschaft dauerte von 1644/1683 bis 1912. 19 Elvin, Pattern of the Chinese Past, Kap. 2 und 3; ders., Another History, Kap. 2 und 3. 20 Jones, Wunder Europa, 185. Vgl. auch ders., Growth Recurring, und »The Real Question about China«. Meines Erachtens lief die wirkliche mittelalterliche Blütezeit Chinas bereits im 14. Jahrhundert aus.

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Take-offs und (wachsende) Rückstände

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ode künftig wesentlich stärker zu berücksichtigen, was natürlich zusätzliche Forschung erfordert. Wann die Great Divergence meines Erachtens stattfand, habe ich mit dem Vergleich zwischen Großbritannien und China in der Phase, die man das sehr lange 18. Jahrhundert nennen könnte, bereits angedeutet. In den Texten der Kalifornier gilt das Einsetzen der britischen Industrialisierung ohne nähere Begründung durchweg als Beginn der Great Divergence. Auch wenn ich dies im Prinzip für zutreffend halte, sind einige Anmerkungen dazu angebracht. Wie Pomeranz inzwischen selbst einräumt, war Großbritannien höchstwahrscheinlich schon vor dem industriellen Take-off reicher als die reichsten Teile Chinas.21 Obwohl klar ist, wie gewagt verbindliche Aussagen zu dieser Frage sind, scheint sich ein neuer Konsens durchzusetzen, wonach die reichsten Teile Chinas am Ende des 18. Jahrhunderts wohl doch nicht – wie die Kalifornier überschwänglich behauptet hatten – so reich waren wie Großbritannien, die Niederlande oder die Vereinigten Staaten – es sich aber verglichen mit der im langen 19. Jahrhundert entstehenden Kluft eher um kleine Differenzen handelte. Laut den neuesten zuverlässigen Schätzungen waren Großbritannien und die Niederlande am Vorabend der Great Divergence offenbar reicher als alle Teile Asiens.22 Doch wenn auch klein im Vergleich zu späteren Zeitpunkten, waren die Differenzen nicht unerheblich. Sie könnten den reicheren Regionen durchaus einen Vorsprung verschafft haben, denn bei derart niedrigen Einkommensniveaus zählt jeder Pfennig. 21 Pomeranz in »Assessing Kenneth Pomeranz’s Great Divergence«, 24. 22 Das positive Bild Chinas wurde etwas gedämpft durch Allen u.a., »Wages, Prices, and Living Standards in China«, und Li/ Van Zanden, »Before the Great Divergence?«. Vgl. auch Allen, Global Economic History, 3–14. Dasselbe gilt für Indien, vgl. Broadberry/ Gupta, »Early Modern Great Divergence«; dies., »Indian GDP, 1600–1871. Some Preliminary Estimates and a Comparison with Britain«, Beitrag zur »Asian Historical Economics Conference«, Peking 19.–21. 5. 2011; Gupta/Ma, »Europe in an Asian Mirror«. Beispiele für ein wesentlich positiveres Bild Indiens sind Parthasarathi, »Rethinking Wages and Competitiveness in the Eighteenth Century«; ders., »Agriculture, Labour, and the Standard of Living in Eighteenth-Century India«; Sivramkrishna, »Living Standards in erstwhile Mysore, Southern India«. Ein sehr positives Bild der Wirtschaft TokugawaJapans zeichnet Hanley, Everyday Things in Premodern Japan. Etwas gedämpft wurde dies durch Jean-Pascal Bassino/Debin Ma, »Japanese Wages and Living Standards in 1720–1913: An International Comparison«, Beitrag zur Konferenz »Towards a Global History of Prices and Wages«, Utrecht 19.–21. 8. 2004; Jean-Pascal Bassino u.a., »Japan and the Great Divergence 730–1872«, Beitrag zum »Third European Congress on World and Global History«, London 14.–17. 4. 2011; Osamu Saito, »Wages, Inequality and Premodern Growth«, Working Paper Hitotsubashi University Research Unit for Statistical Analysis in Social Sciences. Die Forschung über das Osmanische Reich hat weniger dessen positives Bild angezweifelt als gezeigt, dass Nordwesteuropa im 18. Jahrhundert auch im Vergleich zu dieser Region reicher war. Vgl. Pamuk/Ozmucur, »Real Wages and Standards of Living in the Ottoman Empire, 1489–1914«.

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Einleitung

In jedem Fall zeigen sie, dass die Rede von einer Rückständigkeit Europas zu dieser Zeit nichts weiter als ein modisches Abkanzeln Europas ist. Der Subsistenzquotient von Arbeitern in unterschiedlichen Teilen der Welt wurde von Robert Allen in Tabelle 16 verglichen. Der Quotient gibt an, wie viele Male ein erwachsener männlicher Arbeiter das Geld für das Existenzminimum einer vierköpfigen Familie verdiente, das Allen mit 365 US-Dollar von 1990 veranschlagt.23 Tab. 16: Subsistenzquotient ungelernter Arbeiter in Europa, Amerika und Asien, der das Verhältnis von Einkommen und Lebenshaltungsskosten auf dem Existenzminimum anzeigt. 1500– 1550– 1600– 1650– 1700– 1750– 1800– 49 99 49 99 49 99 49 Nordamerika Boston

1,44

2,32

3,00

4,17

4,84

5,40

3,67

3,35

4,18

Potosí

1,83

1,82

1,75

1,71

Bogota

1,28

2,14

2,15

2,05

2,54

2,37

1,53

Philadelphia Maryland Lateinamerika

Mexico (Städte) Mexico (ländl. Regionen)

0,18

0,61

0,91

1,27

1,5

1,44

0,93

3,73

2,96

2,83

3,49

4,16

3,51

3,77

Nordwesteuropa London Südenglische Städte

2,89

2,21

1,65

2,03

2,79

2,52

3,15

Antwerpen

2,88

2,87

2,98

2,48

2,75

2,48

2,32

Amsterdam

3,80

3,64

3,84

4,33

4,20

3,77

2,89

23 Allen, Global Economic History, 12. Laut Maddison, World Economy, war das Realeinkommen einiger afrikanischer Länder deutlich niedriger als 365 US-Dollar von 1990. Für Zaire im Jahr 1998 beziffert er es sogar auf nur 220 (S. 224). Das ist schlichtweg nicht plausibel. Eine Kritik an Maddisons Ansatz, die sich teilweise auf andere Daten stützt, bietet Jerven, »National Income Estimates«. Vgl. auch J. Bradford DeLong, »Estimating World GDP, One Million B.C. – Present«, auf seiner Webseite an der Universität Berkeley unter econ161. Seine Schätzungen des durchschnittlichen globalen Prokopfeinkommens in der vorindustriellen Ära – bspw. 178 Internationale Dollar von 1990 im Jahr 1750 – halte ich für sehr unrealistisch.

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Take-offs und (wachsende) Rückstände

1500– 1550– 1600– 1650– 1700– 1750– 1800– 49 99 49 99 49 99 49 Süd- und Zentraleuropa Valencia

2,46

1,65

1,7

1,87

1,82

1,35

Madrid

1,99

1,77

1,71

1,65

1,39

0,99

0,73

1,29

1,52

2,35

1,92

1,64

1,82

Milan

3,28

2,07

1,82

1,99

1,77

1,35

Neapel

2,46

1,65

1,70

1,87

1,82

1,35

Leipzig

1,99

1,77

1,71

1,65

1,39

0,99

0,73

1,29

1,52

2,35

1,92

1,64

1,82

1,25

1,04

0,79

1,79

1,15

0,78

Florenz

Wien Asien Peking Unterlauf des Jangtsekiang

0,78

2,17

Delhi

2,96

2,99

Bengalen

1,30 1,39

0,83

0,84

Quelle: Allen/Murphy/Schneider, »The Colonial Origins of the Divergence in the Americas: A Labour Market Approach«, Online Appendix, 3, Tabelle 4.

Bestimmte Kostenpunkte wie etwa Unterkunft bleiben dabei unberücksichtigt. Allens Berechnung ist nicht unproblematisch. Ein grundsätzliches Problem besteht darin, dass die meisten Menschen auf der Welt keine Lohnarbeiter waren, schon gar nicht in Vollzeit. Andererseits verfügten sehr viele Familien von Lohnarbeitern über mehr als ein Einkommen. Im Zeitraum von den 1780er bis zu den 1860er Jahre machte der Beitrag anderer Familienmitglieder je nach Zeitpunkt und Art der Beschäftigung zwischen 10 und 40 Prozent des Einkommens britischer Haushalte aus.24 Zumindest in diesen Berechnungen sind Allen und andere, die die Thesen der kalifornischen Schule statistisch sehen, wahrscheinlich etwas zu skeptisch; der Unterschied zwischen Großbritannien und China dürfte insgesamt kleiner gewesen sein, als ihre Zahlen nahelegen. In Großbritannien war Lohnarbeit durchaus normal und relativ gut bezahlt, in China dagegen sehr ungewöhnlich und relativ schlecht bezahlt. Die Zahlen für China setzen die Einkommen deshalb vermutlich zu niedrig an. Aber dass Großbritannien wohlhabender war, steht nunmehr außer Zweifel. Entscheidend ist somit die Frage, wie wichtig diese Differenzen im Einkommensniveau für die wirt24 Humphries, »Household Economy«, 259.

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Einleitung

schaftliche Entwicklung waren. Allen betont, dass höhere Einkommen mehr und bessere Bildung ermöglichten und die Erwerbsbevölkerung folglich bessere Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen sowie andere Fertigkeiten erwerben konnte. Er betrachtet massenhafte Bildung als eine notwendige Voraussetzung wirtschaftlicher Entwicklung.25 Höhere Einkommen dürften auch gesündere und kräftigere Arbeiter hervorgebracht haben. Und sie ermöglichten natürlich mehr Konsum. Unter Wirtschaftshistorikern setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass Veränderungen des Konsumverhaltens – nicht nur und nicht einmal primär ein größerer Gesamtkonsum, sondern oft bereits eine Verschiebung zu bestimmten Produkten – eine bedeutende Rolle für den Prozess gespielt haben könnten, den wir heute Industrialisierung nennen. Für Ersparnisse und Investitionen war die Höhe gewöhnlicher Löhne dagegen offenbar weniger erheblich. Wie wir noch erörtern werden, waren die Finanzmittel für die in den ersten Phasen der Industrialisierung noch recht bescheidenen Investitionen in allen fortgeschrittenen vorindustriellen Ökonomien grundsätzlich vorhanden.

25 Allen, Global Economic History, 26, 15.

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Kontinuität und Wandel; Zwangsläufigkeit und Zufall

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4. Kontinuität und Wandel; Zwangsläufigkeit und Zufall

Entgegen der oft wiederholten Behauptung, dass die Great Divergence recht spät und plötzlich – und ohne historischen Präzedenzfall – erfolgt sei, hatte sie sehr wohl eine Vorgeschichte. Auch das Neue muss in irgendeiner Weise aus dem Alten hervorgehen. Die Great Divergence geschah nicht aus heiterem Himmel – wie selbst Pomeranz entgegen seiner Absicht andeutet, wenn er die britische Industrialisierung auf Kohle und Kolonien zurückführt, denn beides spielte in der britischen Geschichte schließlich schon Jahrzehnte vor den Anfängen der Industrialisierung eine wichtige Rolle.1 Kohle war nicht der Auslöser der Industrialisierung, zumindest nicht im Fall der Baumwollindustrie, sondern ermöglichte es, dass der Prozess anhielt und aus einer wirtschaftlichen Blütezeit ein wirklicher Durchbruch wurde. Erst in den 1830er Jahren wurde sie tatsächlich eine wichtige Energiequelle für die Textilproduktion. Auch der Aufbau des Empires war bereits Jahrzehnte vor Beginn der Industrialisierung im Gang und die wichtigsten britischen Kolonien – die in den heutigen Vereinigten Staaten gelegenen – wurden genau zu dem Zeitpunkt unabhängig, an dem der industrielle Take-off verortet wird. Zuzugeben ist allerdings – und hier liegen die Kalifornier durchaus richtig –, dass die Unterschiede zwischen Großbritannien und China bis etwa 1700 oder 1750 kein großes Wohlstandsgefälle bewirkten. Ebenso wenig deuteten sie auf grundverschiedene Potenziale der beiden Ökonomien hin. Beide Länder mögen zwar fortgeschrittene organische Wirtschaften gewesen sein, unterlagen aber weiterhin malthusianischen Schranken. Erst mit dem Industrialisierungsprozess und der Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums beschleunigte sich die Entwicklung Großbritanniens erheblich, wodurch sich die Kluft zwischen den beiden Ländern deutlich vertiefte. Es ist von wesentlicher Bedeutung für meine Argumentation, sich Dimensionen und Charakter dieses Prozesses zu vergegenwärtigen: Es gilt den Takeoff Großbritanniens und Westeuropas zu einer Reichtumssteigerung zu erklären, die von 1820 bis 2003 nicht weniger als 1500 Prozent betrug, in einem nahezu ununterbrochenen Prozess über viele Jahrzehnte stattfand und mit strukturellen Veränderungen der westeuropäischen Wirtschaft und Ge1 Vgl. Teil 2, Kap. 16.

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Einleitung

sellschaft einherging. 1820 verzeichneten die westeuropäischen Länder durchschnittlich ein reales Pro-Kopf-Einkommen von 1202 sogenannten internationalen Dollar von 1990; 2003 betrug dieser Wert 19.912.2 Was immer ihre Ursachen gewesen sein mögen und wie dauerhaft diese waren, die Great Divergence bedeutete in der Tat einen Aufstieg des Westens. Es ist wichtig zu begreifen, dass sie nicht durch eine 1750 einsetzende Verarmung der Länder entstand, die später zu den armen zählten, sondern durch den wachsenden Reichtum jener, die später zu den reichen gehörten. Die Fälle China und Großbritannien, die im Zentrum dieses Buches stehen werden, illustrieren dies eindrücklich. Auch wenn die wirtschaftliche Situation in China von 1820 bis 1950 oft trostlos war und sein reales BIP pro Kopf mitunter sogar leicht sank, entstand die zunehmende Kluft zu Großbritannien fast nur durch das dortige Wachstum des realen BIP pro Kopf.3 Eine letzte Anmerkung zur Chronologie, die nicht den Beginn, sondern das Ende der Great Divergence betrifft. Es ist heute Mode geworden zu behaupten, dass die große Kluft inzwischen an ihr Ende gelangt sei. Laut Frank

Quelle: Maddison, Contours of the World Economy, 158.

2 Maddison, Contours of the World Economy, 382. 3 Ebd., 380.

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Kontinuität und Wandel; Zwangsläufigkeit und Zufall

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zum Beispiel war der Aufstieg des Westens »nur ein kurzlebiges Phänomen in einer Welt, deren Zentrum Asien war und heute wieder wird«.4 Doch die Great Divergence ist noch nicht vorbei, was sie umso bedeutender macht. Es ist nicht einmal sicher, dass wir gegenwärtig eine erneute Verschiebung zum Osten erleben, wie Goody meint.5 Vor allem die Aussichten für Westeuropa, das zu einer überalterten, müden, verwöhnten und verschuldeten Region geworden ist, sind düster. Doch im realen Pro-Kopf-Einkommen – und darauf kommt es an, wenn man über Reichtum spricht – besteht zwischen dem Westen und dem Großteil der übrigen Welt weiter eine große Kluft. Im Jahr 2010 war das reale BIP pro Kopf in Großbritannien noch immer fast fünfmal so hoch wie in China – ein größerer Unterschied als zu Beginn der Great Divergence.6 1820 betrug Chinas BIP in Kaufkraft gemessen 32,9 Prozent, 1952 nur 4,6 Prozent des weltweiten BIP.7 2013 wird es über 15 Prozent liegen. Gemessen am realen Pro-Kopf-Einkommen steht China heute dort, wo Großbritannien vor mehr als siebzig Jahren stand; 1989 war es etwa so reich wie Großbritannien im Jahr 1830.8 Die Great Divergence ist keineswegs nur eine weitere Phase in einem ständigen historischen Auf und Ab, die ihren Ausnahmecharakter und auch einen Großteil ihrer historischen Relevanz allein schon dadurch verlieren würde, dass nun der Westen absteigt. So zu argumentieren, heißt die Größenordnungen völlig aus dem Blick zu verlieren. Es ist ahistorisch und anachronistisch, wenn Goody die Geschichte als einen »langfristigen Informationsaustausch zwischen Ost und West« beschreibt, »wobei auf die Dominanz der einen Seite die Dominanz der anderen folgt – mit anderen Worten: Es geht um Wechsel, nicht Vorherrschaft«.9 Dasselbe gilt für seine folgende Behauptung: »Wenn China und Indien heute einen so erheblichen Beitrag zur Weltwirtschaft leisten, dann ist dies also nichts Neues, sondern eine Wiederkehr der Vergangenheit, ein Wechsel.«10 Was im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung und dem Imperialismus des Westens passierte, war mitnichten nur ein Wachwechsel. Was damals entstand, war eine welthistorisch beispiellose Kluft zwischen reichen und armen, mächtigen und schwachen Nationen. Sie ging nicht nur viel tiefer, sondern hatte auch weitaus stärkere globale Folgen als jemals zuvor, weil die Welt durch die Intensität, das Ausmaß, die Geschwindigkeit und die Auswirkungen interkontinentaler Kontakte zu einer Einheit geworden war. Jede Analyse, die die mit der 4 5 6 7 8 9 10

Frank, ReOrient, Klappentext. Goody, Eurasian Miracle, 2. The Economist. Pocket World in Figures 2013 Edition, 132 und 234. Maddison, Contours of the World Economy, 381. Allen, Global Economic History, 12, 4–5. Goody, Eurasian Miracle, Klappentext. Ebd. 95.

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Einleitung

Great Divergence entstehende ungekannte Dimension und Reichweite der westlichen globalen Vorherrschaft ignoriert, verfehlt das Entscheidende. Es muss von vornherein klar sein – und vielen Wissenschaftlern ist dies offenbar nicht klar –, dass ein so außerordentliches Wachstum auch eine außerordentliche Erklärung erfordert. Auch wenn es im Prinzip durch den Mechanismus des Zinseszins erklärbar wäre, würde dies in zweierlei Hinsicht an der Sache vorbeigehen. Warum sollte das Wachstum plötzlich in der globalen Geschichte einfach andauern? Wenn es sich im Kern auf einen so einfachen Mechanismus zurückführen lässt, wieso ist es dann nicht viel früher aufgetreten? Und zweitens erlebten die Länder, in denen das moderne Wirtschaftswachstum auftrat, nicht Jahr für Jahr etwas mehr vom Selben (was der Logik des Zinseszins entspräche), sondern eine anhaltende Effizienzsteigerung und einen strukturellen Wandel in sämtlichen Aspekten des Wirtschaftslebens. Die Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums war nicht eine normale Fortsetzung der vorherigen Wirtschaftsgeschichte, wenn auch in größerem Maßstab, sondern durchaus unnormal. Sie war nicht etwas, das zwangsläufig eintreten musste, sobald nur bestimmte Blockaden verschwunden waren, sondern etwas wirklich Neues, eine »Transzendierung« des Alten.11 Dies führt uns zu einem immerwährenden Streitpunkt in historischen Debatten: dem Verhältnis von Kontinuität und Wandel, sowie von Zwangsläufigkeit und Zufall. Geht man von den Daten aus, die sich aus der neueren Forschung von Wirtschaftshistorikern herausdestillieren lassen, dann erscheint die Great Divergence als relativ schnelle Entstehung eines immensen und wachsenden Wohlstandsgefälles zwischen Ländern, nachdem über einen wesentlich längeren Zeitraum viel kleinere Differenzen bestanden hatten. Angesichts dessen bin ich kaum geneigt, sehr langfristigen und konstanten Hintergrundfaktoren wie der Geografie, dem europäischen Staatensystem oder Europas Kultur und Religion in meiner Erklärung eine bedeutende und vor allem eigenständige und bestimmende Rolle zuzuweisen. Man sollte generell vorsichtig mit Erklärungen sein, die auf eine extreme longue durée abstellen; sie neigen meines Erachtens zu einer »Stillstellung« von Geschichte und zum Fatalismus. Pfadabhängigkeit gibt es durchaus, und die Vergangenheit spielt eine Rolle, aber Veränderung ist möglich, genauer gesagt: Manchmal können Menschen etwas verändern.12 Ich muss zugeben, dass ich etwas unruhig werde, wenn ich Oded Galors Behauptung lese, »prähistorische biogeografische Bedingungen« hätten »im gesamten Verlauf der Menschheitsge11 Vgl. Dengjian Jins Beitrag in der Princeton Economic History of the Western World (im Erscheinen). 12 Vgl. den sehr interessanten Überblick von Nunn, »Importance of History for Economic Development«.

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Kontinuität und Wandel; Zwangsläufigkeit und Zufall

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schichte«, also »vom Anbruch der menschlichen Zivilisation bis in die Moderne«, eine »anhaltende direkte Auswirkung […] auf den Entwicklungsprozess« gehabt. Selbst wenn seine Korrelationen statistisch solide sind, stellt sich mir als Historiker unweigerlich die Frage: Wieso hat jahrtausendelang niemand etwas dagegen getan?13 Auch Jared Diamond schreckt nicht vor einem sehr langfristigen Determinismus zurück: »Diese technischen und politischen Unterschiede, die schon um 1500 n. Chr. existierten, waren gewiss der unmittelbare Grund [sic! PV] für die Ungleichheiten in der heutigen Welt. […] Wie aber kam es, dass die Welt um 1500 n. Chr. so und nicht anders aussah?«14 Er geht sogar so weit zu behaupten, dass »die Entwicklungen, die sich vor 10.000 Jahren abspielten, […] tiefe Spuren in der Gegenwart hinterlassen« hätten.15 Robert Allen hält es offenbar für eine unbedenkliche Behauptung, dass wir, »um zu verstehen, warum Afrika heute arm ist, verstehen müssen, warum es 1500 arm war«.16 Und liest man schließlich, wie Nathan Nunn die Langzeitfolgen der Sklaverei für die Herkunftsregionen der Sklaven analysiert, fragt man sich unwillkürlich, warum diese Folgen angehalten haben.17 Wenn der Sklavenhandel ein bis heute andauerndes Misstrauen unter Afrikanern erzeugt haben soll, wie ist es dann möglich, dass Deutsche und Franzosen heute recht gute Nachbarn sind?18 Ob Kontinuität oder Wandel – beides muss erklärt werden. Und es hat durchaus Veränderungen, ja sogar klare »Schicksalswenden« gegeben. Acemoglu, Johnson und Robinson meinen mit dem Begriff der Schicksalswende, dass die reichsten der von den westlichen Mächten kolonisierten Regionen arm wurden, während es den ursprünglich weniger reichen deutlich besser erging.19 Aber sogar sie tendieren eindeutig dazu, die Vergangenheit zum unverrückbaren Schicksal zu machen. Man gewinnt unweigerlich den Eindruck, dass für sie das Schicksal der kolonisierten Regionen in jenem kritischen Augenblick kurz nach der Entdeckung besiegelt worden sei, in dem unterschiedliche Systeme des Eigentumsrechts eingeführt wurden. Wissenschaftler wie Acemoglu und seine Kollegen sowie Engerman und Sokoloff tendieren zudem zu einer gewissen Unterschätzung mensch13 Vgl. bspw. Galor, Unified Growth Theory, Kap. 6.4, Zitate auf 208. Einen Ansatz, der ebenfalls eine sehr lange longue durée im Auge hat, bieten Olsson/Hibbs, »Biogeography and Long-run Economic Development«; Comin/Easterly/Gong, »Was the Wealth of Nations Determined in 1000 BC?« und Jones, Wunder Europa, 15. 14 Diamond, Arm und Reich, 18. 15 Ebd., 517. 16 Allen, Global Economic History, 92. 17 Vgl. etwa Nunn, »Long-term Effects of Africa’s Slave Trades«. 18 Vgl. Nunn/Wantchekon, »Slave Trade and Origins of Mistrust in Africa«. Warum sollten manche Gesellschaften »an die Vergangenheit gefesselt« bleiben, wie es im Titel eines anderen Aufsatzes von Nunn über die langfristigen Folgen der Sklaverei heißt? 19 Acemoglu/Johnson/Robinson, »Colonial Origins«; dies., »Reversal of Fortune«.

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licher Handlungsfähigkeit, in diesem Fall der Bewohner der Regionen, wo Europäer eingriffen und ihren Willen durchsetzten (oder dies versuchten). Die Einwohner Afrikas und Lateinamerikas werden in ihren Analysen weitgehend auf passive Objekte einer Geschichte reduziert, die von Europäern und/oder kollaborierenden Eliten gemacht wird. Das erweist sich oft als starke Übertreibung der Macht von Europäern, während die Handlungsspielräume und Eigeninteressen der Bewohner der betroffenen Regionen unterschätzt werden. Noch verstärkt wird diese Tendenz zur Ausblendung menschlicher Handlungsfähigkeit durch die besonders unter Ökonomen verbreitete Neigung zu einer Komprimierung der Geschichte, bei der zwei Zeitpunkte verglichen werden, der Zeitraum zwischen ihnen jedoch vollkommen ausgespart bleibt. Da die Auswahl der Zeitpunkte erhebliche Konsequenzen dafür haben kann, was es zu erklären gilt und was als Erklärung gelten kann, sind die Ergebnisse eines solchen Vergleichs zudem oft irreführend. Gewiss gibt es positive Zirkel sowie Teufelskreise, denen schwer zu entkommen ist. Aber sie können durchbrochen werden und wurden dies mitunter auch, weshalb Pfadabhängigkeit stets zu erklären und nicht bloß zu unterstellen ist.20 Andernfalls macht man die Geschichte zu einem durch Geografie oder Institutionen bestimmten Schicksal und reinigt sie von aller folgenreichen menschlichen Handlungsfähigkeit, wie es etwa Ian Morris ausdrücklich tut, indem er historische Akteure auf »vertrottelte Stümper« reduziert und allenthalben erklärt, »Landkarten und nicht irgendwelche Männer« seien es, die Geschichte machten.21 Das scheint stark übertrieben, wie Acemoglu und Robinson in ihrem neuesten Buch zeigen: Indem sie ihre Institutionen ändern, können Menschen mit der Tradition brechen – sei sie ein Teufels- oder »Tugendkreis« – und ihren wirtschaftlichen Entwicklungspfad ändern. Veränderung ist möglich. Warum sollte etwas Jahrhunderte lang fortdauern, wenn sich die Dinge ganz offensichtlich über Nacht ändern können? 1950 entsprach das BIP pro Kopf in der Zentralafrikanischen Republik 772 internationalen Dollar von 1990; 1998 waren es 653. Für Haiti, lauten die Zahlen 1051 und 816 Dollar. Für Südkorea hingegen 777 und 12.152 Dollar.22 Überdies können selbst Länder mit den »falschen« Institutionen Wachstumsphasen erleben. Haiti – heute eines der ärmsten Länder der Welt – war 1790, am Vorabend seiner Revolution, als Kolonie mit einer 20 Einige Bemerkungen dazu bietet Peer Vries, »Does Wealth Entirely Depend on Inclusive Institutions and Pluralist Politics? A Review of Daron Acemoglu and James A. Robinson, Why Nations Fail. The Origins of Power, Prosperity and Poverty«, http://technology governance.eu/eng/the_core_faculty/working_papers/. 21 Morris, Wer regiert die Welt?, 541, 412. Vgl. dazu Vries, »Review Article: Morris, Why the West Rules«. 22 Maddison, World Economy, 323, 289, 304.

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extrem ausbeuterischen, auf Sklaverei basierenden Plantagenwirtschaft möglicherweise der reichste Teil Amerikas, wenn nicht gar der Welt. Die argentinische Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist eine Geschichte von Boom und Krise.23 Julian Simons Gedanke, die Great Divergence könne durch »zusammengenommen große zufällige Prozesse, die möglicherweise mit einem kleinen ›Zufall‹ anfingen«, verursacht worden sein, ist angesichts ihrer Geschwindigkeit nach Jahrhunderten relativen Stillstands ebenfalls fragwürdig.24 Sie war zudem so einschneidend und folgenreich – und die mit ihr entstehende Kluft so schwierig zu schließen –, dass die Annahme »überraschender Ähnlichkeiten« und einer »eurasischen Gemeinsamkeit« kaum plausibel ist. Joseph M. Bryants Kritik, dass der neuere ausschließliche Fokus auf Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten und die damit verbundene These, Europas Aufstieg zu wirtschaftlicher Vorherrschaft sei »spät und durch Glück« erfolgt, »alle potenziell unliebsamen Unterscheidungen zwischen West und Ost« beseitige, scheint mir ebenso begründet wie seine Zurückweisung der These Goodys, dass »die klare qualitative Differenz zwischen Ost und West erst mit der Industrialisierung entstanden« sei. Bryant bemerkt zurecht, dass »die Nivellierung bestimmender sozialer Differenzen auf der Welt jegliches Auftreten von etwas Neuem an einem bestimmten Ort strukturell unerklärbar« mache beziehungsweise mögliche Erklärungen auf »das Zufällige und Ereignishafte« beschränke.25 Landes’ »goldene Regel historischer Analyse«, derzufolge »gewichtige Prozesse gewichtige Ursachen« erfordern, scheint mir einleuchtend.26 Angesichts des Charakters des Explanandums sind Erklärungen, die Kontingenz, Glück, Zufall, Schicksal, glückliche Umstände und dergleichen ins Spiel bringen, nicht plausibel. Selbst wenn am Anfang etwas Glück im Spiel gewesen sein sollte, dürfte es schwierig sein, in einer Region mit mehreren Millionen und später hunderten Millionen Menschen über Jahrzehnte hinweg eine anhaltende Produktionssteigerung allein durch 23 Zahlen zu Haiti bietet Engerman/Sokoloff, Economic Development in the Americas since 1500, 11. Zu den von extraktiven Institutionen verursachten Auf- und insbesondere Abschwüngen, vgl. die Stichworte ›Haiti‹ und ›Argentinien‹ in Acemoglu/Robinson, Warum Nationen scheitern. 24 Simon, Great Breakthrough, 174. Diese Vorstellung einer schlichten Steigerung ist unter Vertretern der sogenannten Unified Growth Theory sehr verbreitet. 25 Bryant, »The West and the Rest Revisited«, 410, 417f. Dieser Text löste eine Debatte im Canadian Journal of Sociology/Cahiers Canadiens de Sociologie 33 (2008) 1 aus, an der sich Jack Goldstone, Rosaire Langlois, Joseph M. Bryant und Mark Elvin beteiligten. Vgl. auch Coclanis in »Assessing Kenneth Pomeranz’s Great Divergence«: »Letztendlich aber enthält Pomeranz’ Argumentation selbst zu viele ›schwarze Schwäne‹, um – wenigstens aus meiner Sicht – überzeugend oder theoretisch befriedigend zu sein.« Eine Einführung in die Theorie der Schwarzer-Schwan-Phänomene bietet Taleb, Der schwarze Schwan. 26 Landes, »Accident in History«, 653.

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ständiges Glück zu erreichen. Dennoch sind solche Erklärungen erstaunlich oft anzutreffen, etwa in John Hobsons The Eastern Origins of Western Civilisation.27 Auch Frank spricht dem Westen insofern jegliche Handlungsfähigkeit ab, als er die Great Divergence restlos in subjektlosen, abstrakten globalen Zyklen und kondratieffschen Wellen aufgehen lässt.28 Welche deprimierenden Implikationen es für die Armen hat, dass die bislang wichtigsten Fälle von Gesellschaften, die der Armut entkommen sind, auf schieres Glück zurückzuführen sein sollen, entgeht diesen Gegnern des Eurozentrismus offenbar. Und wenn Wohlstand einfach Glück ist, ist Armut dann einfach Pech? Erstaunlicherweise betonen auch Acemoglu und Robinson, die sich in Warum Nationen scheitern nirgends auf Arbeiten der Kalifornier beziehen, dass »sowohl kleine Unterschiede als auch der Zufall [contingency] Schlüsselrollen« in ihrer Erklärung spielen.29 Im strengen technischen Sinn des Wortes war es natürlich kontingent, dass die Industrialisierung zuerst in Großbritannien einsetzte, ja dass sie überhaupt irgendwo auftrat. In der Logik bezeichnet der Begriff »Kontingenz« ein Ereignis (oder eine Situation) in der Zukunft, das möglich, aber nicht besonders wahrscheinlich ist. In diesem Sinn waren die Industrialisierung Großbritanniens und der Aufstieg des Westens eindeutig kontingent. Aber das bedeutet nicht, dass sie auch im landläufigen Sinn des Wortes kontingent, also rein zufällig gewesen wären. Das unbestreitbare Auseinanderdriften Großbritanniens und der entwickeltsten Regionen Chinas war nicht bloß historischer Zufall. Die Chancen, dass sich im 18. Jahrhundert statt Großbritannien zuerst Qing-China hätte industrialisieren können, waren meines Erachtens gleich null. Die Wahrscheinlichkeit einer Industrialisierung Großbritanniens war angesichts seiner vorherigen Entwicklung keineswegs unerheblich und in jedem Fall höher als für jede Region außerhalb Westeuropas oder auch – wenn auch mit geringerem Abstand – für die Niederlande und Frankreich. Die gewaltige, anhaltende und viele Dekaden hintereinander wachsende Differenz, die wir als Great Divergence bezeichnen, kann nicht lediglich das Ergebnis von etwas Glück oder zufälliger Vorteile sein. Selbst wenn man – zurecht – einräumt, dass die Industrialisierung und der Imperialismus des Westens ein neues Umfeld schufen, das nichtwest27 Hobson, Eastern Origins, 313–316. Ebenso Langlois, »Closing of the Sociological Mind?«, 141; Marks, Ursprünge der modernen Welt (s. im Index »Konjunktur« und »Kontingenz«); Perdue, China Marches West, 536–539; Pomeranz, Great Divergence, Klappentext und 12, 16, 68, 241; Wong, China Transformed, 278f.; Rosenthal/Wong, Before and Beyond Divergence, 127. 28 Vgl. etwa Frank, ReOrient, 248–267. 29 Acemoglu/Robinson, Warum Nationen scheitern, 510. »Kleine Unterschiede und Unwägbarkeiten sind nicht bloß Teil unserer Theorie, sondern auch der geschichtlichen Entwicklung.« (511)

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lichen Ländern das Aufholen erschwerte, hätte dieses wesentlich leichter sein müssen, wenn die anfänglichen Differenzen tatsächlich so unerheblich gewesen wären, wie die Kalifornier gerne behaupten. Und warum sollten die Befürworter eines solchen Aufholens ihre Gesellschaften ständig zu radikalem Wandel, also zu Modernisierung, auffordern, wenn diese im Grunde bereits westlichen Gesellschaften ähnelten? Ein Wachstum, wie es seit der Industrialisierung im Westen aufgetreten ist, kann nicht durch (momentane) zufällige Vorteile erklärt werden. Es erfordert einen kontinuierlichen Prozess struktureller und umfassender Innovationen der Ressourcennutzung, der Technologien und des institutionellen Gefüges. Doch wenn ich somit bestreite, dass die Great Divergence kontingent im Sinne reinen Zufalls war, bedeutet das nicht, dass ich in das andere Extrem verfallen und die Entstehung modernen Wirtschaftswachstums während der industriellen Revolution für zwangsläufig halten würde. Auch wenn dies »Eurozentristen« – und als einen solchen wird man mich vermutlich betrachten – häufig unterstellt wird, denkt in Wirklichkeit kein seriöser Wissenschaftler so. John Hobson attackiert Eurozentristen für die Ansicht, dass sich »Europa durch eine eherne Logik der Immanenz eigenständig entwickelt« habe und »allein der Westen in der Lage gewesen sei, unabhängig einer progressiven Entwicklung den Weg zu bahnen«.30 Sie vertreten seines Erachtens eine »triumphalistische Teleologie, derzufolge die gesamte Menschheitsgeschichte zwangsläufig zum westlichen Endpunkt der kapitalistischen Moderne hinführen musste«.31 Die Eurozentristen würden »dem Aufstieg des Westens und der Stagnation des Ostens Zwangsläufigkeit beimessen«32 und behaupten, dass er »nur durch strikt innereuropäische Faktoren zu erklären« sei.33 Über Max Weber, eines der vielen schwarzen Schafe in seinem Buch, heißt es: »Webers gesamter Ansatz baut auf zutiefst orientalistischen Fragen auf: Welche Eigenschaften des Westens machten seinen Weg zum modernen Kapitalismus zwangsläufig? Und warum war der Osten zu wirtschaftlicher Rückständigkeit vorherbestimmt?«34 Ähnliche Vorwürfe erhebt Robert Marks: »Obwohl dies selten so deutlich formuliert wird, impliziert das Modell vom Aufstieg des Westens, dass sich die Entstehungsgeschichte der neuzeitlichen Welt so vollziehen musste, wie sie sich vollzog« – der Aufstieg des Westens sei demnach »unvermeidlich gewesen«.35 Auch Ian Morris behauptet, es habe eine theoretische Schule der »langfristigen Determiniertheit« gegeben, derzufolge »ein gravierender und unabänderlicher Unter30 31 32 33 34 35

Hobson, Eastern Origins, 2, 9. Ebd., 10. Ebd., bspw. 18, 295, 312. Ebd., 306. Ebd., 14f. Marks, Ursprünge, 23.

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schied zwischen Westen und Osten existiert und (…) die industrielle Revolution nur im Westen stattfinden konnte« – und dies zwangsläufig musste.36 Pankaj Mishra schreibt in einer Rezension von Fergusons Der Westen und der Rest der Welt: »Wie Ferguson die Frage zu stellen, warum der Westen den Durchbruch zur kapitalistischen Moderne schaffte und zum Urheber der Globalisierung wurde, heißt anzunehmen, dies sei zwangsläufig gewesen und wesentlich ein Ergebnis der Großartigkeit des Westens, von der Hoffnungslosigkeit des Ostens ganz zu schweigen.«37 Selbst differenzierte Wissenschaftler wie Parthasarathi lassen sich offenbar zu Attacken auf deterministische Pappkameraden hinreißen.38 Die Behauptung, Eurozentristen postulierten eine Zwangsläufigkeit des Aufstiegs des Westens, entbehrt jeder Grundlage. Das zeigt bereits ein Blick auf die Arbeiten von Wissenschaftlern wie (in alphabetischer Reihenfolge) Paul Bairoch (1930–1990),39 Ernest Gellner (1925–1995),40 John Hall,41 Eric Jones,42 Alan Macfarlane,43 Michael Mann,44 Joel Mokyr45 und selbst David

36 Morris, Wer regiert die Welt?, 21f., Zitat 22. 37 London Review of Books 33, 21. November (2011) 3, 10–12. 38 Parthasarathi, Why Europe Grew Rich, 8–14. 39 In Victoires et déboires (267–269) hält Bairoch ausdrücklich fest, dass die industrielle Revolution in Großbritannien nicht unausweichlich und nicht einmal besonders wahrscheinlich gewesen sei. 40 Vgl. etwa Gellner, Pflug, Schwert und Buch: »Wir haben uns bemüht zu erklären, wie eine bestimmte Gesellschaft, und nur diese, dank einer Reihe von ans Wunderbare grenzenden Zufällen jene neuartige Welt [die moderne industrielle Welt, PV] ins Leben rief«. (232) Eine genauere Analyse von Gellners Position, bietet Macfarlane, »Gellner and the Escape to Modernity«. Darin wird auch seine eigene Position deutlich. 41 Hall beschreibt den Aufstieg Europas in Powers and Liberties als »eine merkwürdige Verkettung von Umständen« und als »wundersam« (111). 42 Jones, Wunder Europa, 272. 43 Macfarlane, Riddle of the Modern World. In Kap. 14 (Das aufgelöste Rätsel) wendet er sich ausdrücklich gegen ein Denken, das von Zwangsläufigkeiten ausgeht (289). Vgl. auch ders., The Invention of the Modern World, Kap. 1. 44 Vgl. Mann, Geschichte der Macht, Bd. 1: Es ist »schwer, den Schluss zu vermeiden, die Quellen des europäischen Wunders lägen in einer gigantischen Kette von Zufällen. Ein Schluss, den zu ziehen deshalb falsch wäre, weil es eine Vielzahl von kausalen Wegen war – einige davon sehr lang und stetig, andere kurz und abrupt endend, wieder andere uralt, aber in ihrem historischen Verlauf vielfach unterbrochen (wie im Falle der Schriftkundigkeit, des Alphabetismus) – die, von den Zivilisationen Europas, des Nahen Ostens und sogar Zentralasiens ausgehend, in einem bestimmten Moment an einem bestimmten Ort aufeinandertrafen, um etwas Außergewöhnliches entstehen zu lassen.« (406, Hvhbg. i. Orig.). 45 Mokyr, Enlightened Economy: Es »ist wichtig, nicht der ›Befangenheit des Rückblicks‹ zu erliegen. Will sagen: Wenn wir wissen, dass ein bestimmtes Ereignis eintrat, neigen wir dazu, es als mehr oder weniger zwangsläufig und alle vorherigen Zustände als dem Ergebnis förderlich zu betrachten« (12). Eines »der unwillkürlichen Gefühle des Wirt-

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Landes.46 Keiner von ihnen argumentiert je mit einer »Zwangsläufigkeit«. Und wenn sie keine Eurozentristen sind, wer dann? Wie Hobson zu behaupten, Weber betrachte den »Aufstieg des Westens« als »zwangsläufig« und die ökonomische Rückständigkeit des Ostens als »vorherbestimmt«, ist sehr sonderbar.47 Wallerstein, dem ebenfalls oft Eurozentrismus vorgeworfen wird, schreibt ausdrücklich, das europäische, kapitalistische Weltsystem sei durch »ein glückliches Zusammentreffen von Ereignissen« entstanden, nämlich durch »die unwahrscheinliche Gleichzeitigkeit von vier Zusammenbrüchen – der Grundherrschaft, des Staates, der Kirche und der Mongolen«. »Europa«, so Wallerstein, »ist eine historische Anomalie.« Und er fügt hinzu: »In gewisser Weise war dies ein historischer Unfall und nicht allein Europas Schuld.«48 Auch Fernand Braudel, ein weiterer berühmter »Eurozentrist«, sah nirgends eine Zwangsläufigkeit am Werk und räumte umstandslos ein, dass Westeuropa um 1800 nicht reicher als Indien oder China gewesen sei.49 Sicherlich könnte man einige Ökonomen und andere Wissenschaftler anführen, denen zufolge irgendeine Art von industrieller Revolution an irgendeinem Ort letztlich unausweichlich war, da die Zunahme des kollektiven Wissens der Menschheit sowie der Wettbewerbsdruck, es so effizient wie möglich einzusetzen, wirtschaftlichen Fortschritt zum logischen Ergebnis eines Darwinschen Prozesses natürlicher Auslese gemacht hätten. Oded Galor zum Beispiel meint: »Der Übergang von Stagnation zu Wachstum ist ein

schaftshistorikers, der die industrielle Revolution erforscht, ist das Erstaunen darüber, dass sie überhaupt stattfand« (487; Hvhbg. i. Orig.). 46 Landes macht deutlich, dass er nichts davon hält, den Aufstieg des Westens als etwas rein Kontingentes zu fassen. Nirgends behauptet er jedoch, dass er zwangsläufig gewesen sei. So eröffnet er ein Kapitel in Wohlstand und Armut der Nationen über die europäische Ausnahmestellung mit der Bemerkung: »Europa hatte Glück«, und behauptet, die Wahrscheinlichkeit, dass Europa einmal eine weltweite Vorherrschaft erringen würde, habe »irgendwo in der Nähe von Null« gelegen (44). 47 Vgl. etwa Käsler, Einführung in das Studium Max Webers: »Eine ›Evolutionstheorie‹, nach der die Weltgeschichte sich als steter Aufstieg zur Vollkommenheit rationaler Weltbeherrschung darstellen würde, wäre ein groteskes Missverständnis des Weberschen Werkes. Gerade das unglaubliche, ›zufällige‹ an jenem Prozess, den er Rationalisierung nannte, und zugleich dessen konstante Unterbrechung durch ›nichtrationale‹ Entwicklungen war es, was Weber zeit seines Lebens faszinierte und ihn die Fragestellung auf immer neue Gebiete anwenden ließ.« (172, Hvhbg. i. Orig.) Vgl. auch Kalberg, Soziologie Max Webers. 48 Wallerstein, »World System versus World-Systems«, 295, 293, 295. Wie Europa aus seinen spätmittelalterlichen Krisen als eine Anomalie hervorging, erklärt Wallerstein in »The West, Capitalism, and the Modern World-System«. 49 Braudel, Sozialgeschichte, Bd. 3. Vgl. auch Bd. 2: »Die Kluft zwischen dem Westen und den übrigen Erdteilen hat sich erst spät aufgetan«. (138, Hvhbg. i. Orig.)

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zwangsläufiges Nebenprodukt des Entwicklungsprozesses.«50 Doch selbst wenn man dieser Überlegung folgt, was ich mit Dengjian Jin eher nicht tun würde, wäre dies selbstredend weit von der Behauptung entfernt, die industrielle Revolution habe sich zwangsläufig genauso vollziehen müssen, wie sie es in Großbritannien tat.51 Selbst in den 1750er Jahren ahnte noch niemand in Großbritannien, wie viele grundlegende technologische Durchbrüche bevorstanden. Der klügste britische Ökonom des 18. Jahrhunderts, Adam Smith, erklärte anhaltendes Wirtschaftswachstum für unmöglich und konnte sich eine nicht-malthusianische Ökonomie nicht vorstellen. Noch in den 1780er Jahren wäre der Gedanke, dass Großbritannien in wenigen Dekaden die größte Macht auf der Welt sein würde, einem Briten merkwürdig erschienen. Die industrielle Revolution und das moderne Wirtschaftswachstum wurden weder vorhergesehen noch geplant. Es wäre ein gravierender Fehler, die Geschichte vor der Great Divergence als einen Wettlauf zur Industrialisierung zu betrachten,52 auch wenn man die Bedeutung von internationaler wirtschaftlicher Konkurrenz und den Impuls zur Nachahmung besonders für europäische Länder bereits in der frühen Neuzeit nicht unterschätzen sollte – sie war erheblich und meines Erachtens eine, wenn nicht gar die entscheidende, Triebkraft ökonomischer Entwicklung. Zwischenstaatliche Konkurrenz und Nachahmung bildeten zweifellos das Wesen des Merkantilismus.53 Dennoch änderte sich die Lage deutlich, als man bemerkte, dass die Veränderungen, die wir mit der Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums assoziieren, den betreffenden Ländern Reichtum und Macht bescherten. Wirtschaftliche Entwicklung und Industrialisierung wurden nun rasch ein nationales Projekt, etwas, das Herrschende und Beherrschte aus eigenem wie nationalem Interesse wollten – und angesichts der internationalen Konkurrenz auch brauchten. Sie wurden feste Bestandteile aller Modernisierungspläne, wie etwa den ansonsten so unterschiedlichen Ökonomen 50 Oded Galor, »From Stagnation to Growth; Unified Growth Theory«, in: Aghion/ Durlauf, Handbook of Economic Growth, 1A, 171–293, 178. 51 Zu Jin, vgl. Anm. 11, S. 48. Siehe in alphabetischer Reihenfolge: Christian, Maps of Time; Galor, Unified Growth Theory und »Towards a Unified Theory of Economic Growth«; Jones, »Was an Industrial Revolution Inevitable?«; Kremer, »Population Growth and Technological Change«; Ridley, Wenn Ideen Sex haben; Simon, Great Breakthrough; Wright, Nonzero. Auch Gregory Clark beginnt nun, in solchen Begriffen zu denken. Vgl. etwa Farewell to Alms, 8–12. Zu der verbreiteten unsinnigen Gegenüberstellung von Kontingenz und Zwangsläufigkeit des modernen Wirtschaftswachstums und einem Kompromissvorschlag, vgl. White, Understanding Economic Development, Kap. 14. 52 Parthasarathi suggeriert in Why Europe Grew Rich, dass Eurozentristen von all diesen falschen Annahmen ausgehen (z.B. 7–14). 53 Vgl. etwa Hont, Jealousy of Trade, Reinert, How Rich Countries Got Rich, und Reinert, Translating Empire.

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Walt Rostow (1916–2003), Alexander Gerschenkron (1904–1978) und Simon Kuznets (1901–1985) bewusst war.54 Zur Verdeutlichung nur ein Zitat von Gerschenkron: Um in einem rückständigen Land die Stagnation bewirkenden Barrieren zu durchbrechen, die Fantasie der Menschen zu entfachen und ihre Energien in den Dienst der wirtschaftlichen Entwicklung zu stellen, bedarf es einer stärkeren Medizin als des Versprechens besserer Ressourcenallokation oder selbst eines niedrigeren Brotpreises. Unter solchen Umständen braucht sogar der Geschäftsmann, sogar der klassische wagemutige und innovative Unternehmer einen stärkeren Anreiz als die Aussicht auf hohe Profite. Was es benötigt, um die Berge der Routine und gewohnheitsmäßigen Anschauungen zu versetzen, ist Glaube.55

Wirtschaftliche Modernisierungspläne konnten umso leichter realisiert werden, je stärker soziale Kohäsion und politischer Konsens im jeweiligen Staat waren. In diesem Sinn konnte der Nationalismus oder zumindest ein starkes nationales Zusammengehörigkeitsgefühl eine sehr wichtige und positive Rolle für die Wirtschaftsentwicklung und die Erzeugung und Verstetigung von Wachstum spielen.56 Wachstum allein durch nackte Gewalt aufrechtzuerhalten ist langfristig kaum möglich. In dieser Hinsicht hat David Landes eindeutig recht, wenn er betont, dass Großbritannien als erstes sich industrialisierendes Land »schon früh den Vorteil hatte, eine Nation zu sein«.57 Nach den Ursachen der Great Divergence zu suchen impliziert auch nicht, dass Europa von jeher grundlegend anders und überlegen gewesen sei, wie beispielsweise Jim Blaut (1927–2000) in seiner Attacke auf das eurozentristische »Weltbild des Kolonisatoren« behauptet: Ziel dieses Buches ist es, einer der wirkungsmächtigsten Vorstellungen unserer Zeit über die Weltgeschichte und die globale Geografie entgegenzutreten: der Vorstellung, die europäische Zivilisation – ›Der Westen‹ – habe seit jeher einen einzigartigen historischen Vorteil genossen, eine besondere Eigenschaft der Rasse, Kultur, Umwelt, Denkweise oder des Geistes habe dieser menschlichen Gemeinschaft eine dauerhafte Überlegenheit über alle anderen Gemeinschaften verschafft, und zwar zu jedem Zeitpunkt der Geschichte bis in die Gegenwart.58

54 Vgl. etwa Rostow, Stadien, Kap. 3, Gerschenkron, Economic Backwardness, 22–26, und Simon Kuznets, www.nap.edu/html/biomems/skuznets.pdf. 55 Gerschenkron, Economic Backwardness, 24. 56 Vgl. Greenfeld, Spirit of Capitalism; Magnusson, Nation, State and the Industrial Revolution; Moe, Governance, Growth and Leadership; Sen, Military Origins of Industrialisation. Eine detailliertere vergleichende empirische Studie ist David, Nationalisme économique. Rostow betonte in Stadien des wirtschaftlichen Wachstums übrigens die Bedeutung des Nationalismus für eine nachholende Entwicklung sehr nachdrücklich. 57 Landes, Wohlstand und Armut, 234. Zur Entstehung des britischen Nationalismus, vgl. Colley, Britons, und Greenfeld, Nationalism. 58 Blaut, Coloniser’s Model of the World, 1 (Hvhbg. vom Verf.).

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Wenn Goody erklärt, wir sollten »die Vorstellung einer dauerhaften Vorherrschaft der einen oder der anderen Seite« ebenso aufgeben wie den »verbreiteten westlichen Gedanken einer permanenten oder sogar langfristigen Dominanz oder Überlegenheit Europas auf seinem Weg zu Modernisierung und Kapitalismus«, kann man sich nur fragen, wer solche Vorstellungen jemals vertreten hätte.59 Welchen seriösen Historiker hat er nur im Sinn, wenn er schreibt: »Die Geschichte folgte und folgt nicht den in essentialistischen Darstellungen unterstellten geraden Linien?«60 In Goodys neueren Büchern ist unablässig von Eurozentristen die Rede, die einen immerwährenden oder wenigstens uralten Vorsprung des Westens, eine wesenhafte westliche Dominanz und ein westliches Wesen im Gegensatz zu einem östlichen behaupteten, und wiederholt attackiert er Weber für die Auffassung, dass der Westen schon immer im Vorteil gewesen sei. Aber behauptet zum Beispiel tatsächlich jemand, dass Westeuropa um das Jahr 1000 weiter entwickelt gewesen sei als Song-China oder unterschiedliche Teile der islamischen Welt? Die Tatsache schließlich, dass in einer Analyse wie der vorliegenden die Entwicklungen im Westen mit denen in anderen Teilen der Welt verglichen werden, bedeutet nicht, die verschiedenartigen Formen von Austausch zu leugnen, die es im Lauf der Zeit zwischen Weltregionen gab. In diesem Kontext kämpft Goody – aber nicht nur er – in seinen neueren Publikationen gegen Pappkameraden, wenn er Wissenschaftler dafür kritisiert, »die Beiträge anderer Gesellschaften zu den Errungenschaften der industriellen Revolution« vernachlässigt und »insbesondere den Beitrag des Ostens zu Modernisierung, Mechanisierung und Industrialisierung übersehen« zu haben.61 Wiederum kenne ich gegenwärtig keinen Wissenschaftler, der diese Beiträge bestreiten würde. Die Great Divergence war meines Erachtens weder aufgrund fundamentaler und dauerhafter Differenzen seit jeher vorbestimmt noch das »späte, plötzliche und unvorhergesehene Ergebnis eines glücklichen Zusammentreffens von Umständen im späten 18. Jahrhundert«, wie uns Perdue und viele Kalifornier glauben machen wollen.62 Ihre Erklärung sollte weder aus einer Perspektive der »langfristigen Determiniertheit« erfolgen, wonach der Westen seit jeher eine »Ausnahme« war und die Industrialisierung nur dort stattfinden konnte – und es zwangsläufig musste –, noch als »Produkt kurzfristiger Zufallsereignisse«, als »bloß ein unverhoffter verrückter Zufall« ver-

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Goody, Eurasian Miracle, 105f. Ebd., 105. Ebd., 2. Vgl. S. 16–17.

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standen werden.63 Die Entstehung von modernem Wirtschaftswachstum und Industrie in der westlichen Welt war nicht zwangsläufig – was immer das genau heißen würde –, aber sie hatte eine relevante Vorgeschichte, und diese Vorgeschichte reicht weiter in die Vergangenheit zurück als bis ins späte 18. Jahrhundert. Sie war das pfadabhängige Ergebnis einer spezifischen Entwicklungskurve, die sie im Großbritannien (und Westeuropa) des 18. Jahrhunderts weniger unwahrscheinlich machte als im damaligen QingChina (und jeder anderen Region außerhalb des Westens). Historische Entwicklungen und Resultate lassen sich nur in Begriffen von Wahrscheinlichkeit erklären und vergleichen. Die hier behandelten Phänomene sind so bedeutend, dass es vollkommen legitim und überaus wichtig ist, wenn sich die Forschung gänzlich auf ihre Voraussetzungen konzentriert, auch wenn wir uns natürlich davor hüten müssen, alle vorherige Geschichte zu ihrer Vorgeschichte zu machen oder, sofern sie nicht zu modernem Wirtschaftswachstum führte, als irrelevant oder gescheitert zu betrachten.64 Wie diese ausführlichen Bemerkungen hoffentlich gezeigt haben, ist es überaus wichtig, sich um größtmögliche Klarheit zu bemühen und wo immer möglich auf konkrete Verbindungen und konkrete Mechanismen zu beziehen, die einen nachweisbaren Zusammenhang zwischen dem explanandum (der zu erklärenden Situation) und den explanantia (den zu ihrer Erklärung herangezogenen Faktoren) herstellen. Was wir erklären wollen, ist die Entstehung dauerhaften, nachhaltigen und substanziellen Wachstums in einem Teil der Welt und sein Ausbleiben im Rest der damaligen Welt, wobei wir den Beginn des Prozesses fokussieren, der die Schranken der alten Wirtschaft durchbrach.

63 Zu diesen Begriffen, vgl. Morris, Wer regiert die Welt?, 22ff.; 29. 64 Pomeranz, »Ten Years after«, 22.

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5. Alte Klischees über Asiens Wirtschaftsgeschichte

Die unmittelbaren Gründe dafür, dass die Debatte über die Entstehung großer Reichtumsunterschiede zwischen den Nationen neuerdings wieder so stark entflammt ist, sind zum einen die Herausbildung einer neuen Wirtschaftsordnung, gekennzeichnet vor allem durch einen »Aufstieg des Ostens«, und zum anderen weitreichende Revisionen in der Historiografie der frühneuzeitlichen asiatischen und insbesondere chinesischen Wirtschaft. Der gegenwärtige Niedergang des Westens und Aufstieg des Ostens bieten reichlich Grund, die Phänomene Wachstum und Entwicklung neu zu betrachten. Offenbar muss dieser Osten keineswegs in einer histoire immobile feststecken, und immer mehr Historiker entdecken nun, dass dies auch früher nicht der Fall war.1 Nur wenige Wissenschaftler würden heute noch das klassische düstere Bild des frühneuzeitlichen Asien verteidigen, dessen Wirtschaft als das nahezu vollendete Gegenteil Europas galt. Die meisten klassischen Geschichten des Aufstiegs des Westens waren zu geradlinig, selbstgewiss und auf einen Sonderweg fixiert. Mit Blick auf »den Rest« – eine ohnehin merkwürdige Kategorie – waren sie in der Regel zu düster, zeitlos und undifferenziert. Die nichtwestliche Geschichte wird heute wesentlich stärker als etwas Eigenständiges und im Licht der damaligen Zeit gesehen, nicht im Licht des Westens und in einem Rückblick, der den sehr zweifelhaften Vorzug bietet, zu »wissen«, welche Region »Erfolg haben« und welche »scheitern« wird. Natürlich hat nicht jeder alle Klischees aufgegeben, und nicht alle Klischees entbehren eines wahren Kerns. Als neuere Beispiele dafür, wie man den Aufstieg des Westens nicht diskutieren sollte, seien kurz Jones, Landes sowie Acemoglu und Robinson zitiert, deren Publikationen zum Thema – vor allem die der drei letztgenannten – viel Resonanz gefunden haben. Ich beschränke mich auf ihre Aussagen über Asien. Jones weist in seinem Buch über das europäische Wunder immer wieder auf die Bevölkerungsdichte der asiatischen Reiche hin und meint, »dass das vorkoloniale Asien auf eine demografische Sackgasse zusteuerte«. »Offenbar zog man den Geschlechtsverkehr dem Warenverkehr vor«, heißt es über China und Indien; die Menschen dort hätten sich einer »unverständigen Ver1 Eine Anspielung auf Peyrefitte, L’empire immobile, ein Buch über China im 18. Jahrhundert.

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Alte Klischees über Asiens Wirtschaftsgeschichte

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vielfältigung des Lebens« hingegeben. In Europa dagegen sei der Bevölkerungsdruck dank des spezifisch (west-)europäischen Heiratsmusters begrenzt gewesen.2 Über das Eigentumsrecht im frühneuzeitlichen Asien schrieb Jones noch 1981 in der altehrwürdigen Tradition der Theorie des »orientalischen Despotismus«: »›Das Eigentum ist unsicher.‹ In diesem einen Satz ist die ganze Geschichte Asiens enthalten.« Ferner heißt es: »Die Systeme der Osmanen, der Moguln und Mandschu waren jeweils fremde, von außen aufgezwungene Militärdespotien: Einnahmepumpen. Sie trugen die Hauptschuld daran, dass die Entwicklungsaussichten ihrer Untertanen zunichte wurden.«3 Landes bezeichnete Qing-China noch 1998 als ein System »totalitärer Herrschaft« und ein Reich von »Stagnation und Rückzug«, während das Kapitel über die Geschichte der islamischen Nationen den Titel trägt: »Ist die Geschichte falsch gelaufen?«.4 Europa entging laut Jones im Gegensatz zu Asien einer »systematischen Ausplünderung«. Selbst im sogenannten Absolutismus sei Herrschaft dort stets eingeschränkt gewesen. Ihm zufolge war Europa »selten so unsicher wie Morelands Indien« und erlebte ein Verschwinden »von Willkür, Gewalt, Traditionen und althergebrachten gesellschaftlichen Kontrollmechanismen«.5 Besonders in Westeuropa habe der Staat in gewissem Maß Sicherheit, Ordnung und öffentliche Dienste gewährt. Acemoglu und Robinson befassen sich fast ausschließlich mit Institutionen und reproduzieren dabei alle diesbezüglichen Klischees über Asien. Indien findet kaum Erwähnung, und was sie über das Osmanische Reich und Qing-China schreiben, steht ebenfalls in der besten Tradition der Theorie des orientalischen Despotismus: Beide seien vollständig von extraktiven Regierungen beherrscht worden, die keinerlei Eigentumsrechte respektierten, sich systematisch jeder Innovation widersetzten und die Bevölkerung in Armut hielten.6 Viele weitere Fälle von krassem Eurozentrismus findet der interessierte Leser in den Zusammenstellungen von Jim Blaut – sie bieten einige treffende Beispiele für absurde Behauptungen über »den Rest«, die kein seriöser Wissenschaftler je hätte vertreten dürfen – sowie in einigen drastischen Passagen von Fergusons Der Westen und der Rest der Welt, dessen englischer Titel Civilization bereits für sich spricht.7 Angesichts neuerer Forschungen kann man Peter Coclanis nur zustimmen: »Wer sich ernsthaft mit vormoderner Geschichte befasst, kann heute Größe, Entwicklungsgrad und Reich2 Jones, Wunder Europa, 265, 17, 3. Zum europäischen Heiratsmuster, vgl. beispielsweise 16–18, 22–24. 3 Ebd., 190, 261. Im ersten Zitat bezieht sich Jones auf ein 1925 veröffentlichtes Buch von Winwood Reade. 4 Landes, Wohlstand und Armut, 73, sowie Kap. 21 und 24. 5 Jones, Wunder Europa, 266, 265, 269. 6 Vgl. die Stichworte »Osmanisches Reich« und »China« in Warum Nationen scheitern. 7 Blaut, Eight Eurocentric Historians.

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Einleitung

tum der wichtigen Wirtschaftszentren Asiens nicht mehr übersehen oder auch nur untertreiben.«8 Sie waren nicht nur entwickelt und wohlhabend, sondern auch weitaus weniger ausbeuterisch als behauptet, häufig sogar deutlich weniger als westliche Staaten.9 Zwar war die Gewaltenteilung in den großen asiatischen Reichen viel schwächer ausgebildet als in Westeuropa, aber Begriffe wie »totalitär«, »despotisch« und »absolutistisch« übertreiben eindeutig das Ausmaß von Unfreiheit und Zwang in Asien und umgekehrt der Freiheiten im Westen. Auf die alten negativen Stereotypen über Qing-China werden wir später genauer eingehen und dabei feststellen, dass sie mittlerweile fast alle von Experten zurückgewiesen oder zumindest korrigiert wurden.10 Diese Revision war überfällig. Qing-China war während seiner Blütezeit von circa 1700 bis 1780 ein in vieler Hinsicht hochentwickeltes Land. Gebildete Europäer betrachteten es damals mehrheitlich nicht als unterentwickelt oder arm und beschrieben es auch nicht mit Kategorien wie orientalischer Despotismus und Korruption. Vielmehr sahen sie es (optimistisch, wie ich sagen würde!) als ein gütig und gut regiertes Land, das sogar eine Form von Laissez-faire praktiziere. China galt damals auch nicht als ein übervölkertes Land der Hungersnöte oder als militärischer Schwächling. Dass die Zukunft dem Westen gehören würde, war Mitte des 18. Jahrhunderts keineswegs offensichtlich. Die Reiche der Osmanen und Moguln hatten zweifellos bessere Tage gekannt, und in Indien konnten die Briten 1757 mit der Schlacht bei Plassey deutlich Fuß fassen. Betrachtet man jedoch, wie Europäer in China, Japan oder Korea behandelt wurden, dann ist klar, dass sie in Asien nicht den Ton angaben, sondern im Gegenteil noch völlig unbedeutend waren. In den letzten zwei Dekaden des 18. Jahrhunderts stand China zwar vor – damals noch überwiegend hausgemachten – Problemen. Niemand hätte jedoch vorhersagen können, dass diese Probleme der Beginn einer rund 150-jährigen Phase gewaltiger Schwierigkeiten sein würden. Es gab Reichtums- und Entwicklungsdifferenzen zwischen West und Ost, aber es war gewiss nicht immer der Osten im Rückstand. Die Frage, warum China nicht als erstes Land zu modernem Wirtschaftswachstum überging, ist nicht von vornherein so unsinnig, wie sie es im Falle eines auch nur partiellen Zutreffens der alten Klischees wäre.

8 Coclanis in »Assessing Kenneth Pomeranz’s Great Divergence«, 11. Einen guten Überblick über den Wandel des Bildes Chinas in der frühen Neuzeit bietet Deng, »Chinese Economic History«. 9 Vgl. etwa Vries, »Governing Growth«, und O’Brien/Yun-Casalilla (Hg.), Rise of Fiscal States. 10 Einen kurzen Überblick darüber, wie China im Westen dargestellt wurde, bieten Blue, »China and Western Social Thought«, und Hung, »Orientalist Knowledge«.

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Einkommen, Reichtum und Entwicklung: Probleme der Messung

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6. Einkommen, Reichtum und Entwicklung: Probleme der Messung

Um das moderne Wirtschaftswachstum und seine Entstehung zu erörtern, muss man es messen können. Ökonomen berechnen zu diesem Zweck heute in der Regel das Wachstum des realen BIP pro Kopf. Auch meine Analyse und Daten beziehen sich häufig auf die verschiedenen Varianten des BIP, die eine wichtige Rolle für die hier entfaltete Argumentation spielen. Das BIP ist bekanntlich weder in der Theorie noch in der Praxis ein unproblematisches Konzept. Noch problematischer wird es, wenn man es auf eine Periode anwendet, in der es noch kaum Statistiken gab und die Preise oft oder sogar meistens durch Tradition und Behörden bestimmt, zumindest aber vielfältig manipuliert wurden, anstatt relative Knappheit auszudrücken. Außerdem hatten viele Güter und Dienstleistungen überhaupt keinen Preis. Der Vergleich von Realeinkommen an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten ist folglich alles andere als einfach.1 Das gilt besonders für Phasen schnellen ökonomischen Wandels – und eine solche behandeln wir hier –, in denen nicht nur mehr, sondern vor allem mehr neue Dinge produziert werden. Ihr Wert lässt sich oft nicht (ohne Weiteres) in Bezug auf ältere Produkte ausdrücken und wird in der Regel unterschätzt. Viele heutige Produkte gab es bei Beginn der britischen Industrialisierung noch gar nicht. Insofern war das Wachstum, verstanden als zunehmendes Potenzial zur Bedürfnisbefriedigung, sicher wesentlich stärker, als unsere BIP-Daten anzeigen. Existierende Preisindexe tendieren ihrem Wesen nach dazu, die wichtigsten technologischen Revolutionen zu unterschlagen. Selbst wenn neue Produkte oder Dienste alte Bedürfnisse befriedigten, waren sie qualitativ anders und änderten – oftmals durch Erzeugung neuer Bedürfnisse – die Art der Bedürfnisbefriedigung vollständig. Licht wurde ein vollständig neues Produkt, dessen Kosten sich mit der Durchsetzung der Gasbeleuchtung drastisch verringerten. Ähnlich revolutionär verlief die Geschichte von Transport, Wärmeerzeugung und vielen anderen Dingen. (Grafik 6) Gemessen in Arbeitsstunden sanken die Preise enorm und die Eigenschaften der Produkte änderten sich fundamental. Ein Auto mit zehn PS ist eben nicht dasselbe wie zehn Pferde. 1 Eine für die Debatten in der globalen Wirtschaftsgeschichte besonders relevante Analyse einiger der darin implizierten Probleme bietet Jerven, »Unlevel Playing Field«.

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Einleitung

Quelle: Nordhaus, »Do Real Wage and Output Series Capture Reality?« , 54.

Die Menge der neuen Produkte, die in sich »modernisierenden« Ökonomien auf den Markt kamen, war enorm. Im Handel existiert eine Maßeinheit, Stock Keeping Unit genannt, die die Zahl lieferbarer Produkttypen angibt. Für das New York des frühen 21. Jahrhunderts wurde sie auf zehn Milliarden geschätzt; in primitiven Jäger-und-Sammler-Ökonomien betrug sie allenfalls ein paar Tausend.2 Es verwundert daher nicht, dass sich die Definitionen von Reichtum und Armut im Lauf der Zeit gewandelt haben: »Von den in den Vereinigten Staaten als ›arm‹ eingestuften Bürgern haben 99 Prozent Elektrizität, fließendes Wasser, eine Wassertoilette und einen Kühlschrank, 95 Prozent ein Fernsehgerät, 88 Prozent ein Telefon, 71 Prozent ein Auto und 70 Prozent eine Klimaanlage. Dem ›Schiffs- und Eisenbahnkönig‹ Cornelius Vanderbilt [Mitte des 19. Jahrhunderts der reichste Mann der Welt, PV] stand nichts dergleichen zur Verfügung.«3 2 Beinhocker, Entstehung des Wohlstands, 34. 3 Ridley, Wenn Ideen Sex haben, 33.

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Einkommen, Reichtum und Entwicklung: Probleme der Messung

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Andererseits darf man mit Grund bezweifeln, dass die gestiegenen Ausgaben für staatliche Dienstleistungen – also für das, was Regierungen jenseits von Umverteilung tatsächlich tun – und im Gesundheits- und Bildungswesen wirklich mehr Leistung und nicht einfach höhere Kosten ausdrücken.4 Werden wir so viel besser regiert, sind unsere Gesundheitsversorgung und unser Bildungssystem so viel besser, wie die Kostenexplosion der letzten anderthalb Jahrhunderte suggeriert? Das BIP bezieht sich auf Einkommen und nicht auf Vermögen, also auf das, was ein Land in einem Jahr verdient, nicht auf das, was es besitzt. Im Mittelpunkt meiner Analyse wird das Wachstum im Sinne von Einkommenssteigerung stehen, was natürlich durchaus irreführend sein kann, wenn es nicht nachhaltig ist, also auf Kosten bestehenden Vermögens erzeugt wird. Wie und wodurch ein Land sein Einkommen gewinnt und was dies für seine zukünftigen Einkünfte bedeutet, ist keineswegs irrelevant. Noch komplizierter als die Messung ihres Einkommens ist die des Reichtums der Nationen. Es überrascht nicht, dass bis heute kaum systematische Versuche dazu unternommen wurden. In einer neuen Studie wird das Nationalvermögen von rund zwanzig Ländern – meines Erachtens zu Recht – durch die Schätzung dreier »Vermögensposten« ihrer Ökonomien gemessen: »produziertes« oder »Sachkapital« (Maschinerie, Gebäude, Infrastruktur etc.), »Humankapital« (Bildung und Qualifikation der Bevölkerung) sowie »natürliches Kapital« (Land, Wälder, fossile Brennstoffe und Mineralstoffe). Mit Ausnahme von Nigeria, Russland und Saudi-Arabien ergab sich für alle Länder, dass ihr größter Vermögensposten die Bevölkerung ist. In den Vereinigten Staaten macht sie 75, in Großbritannien 88 Prozent des Nationalreichtums aus. Gemessen wird der Wert dieses Humankapitals durch die Ausbildungszeit der Erwerbsbevölkerung, die Löhne der Arbeiter und die Zahl der Jahre, die sie bis zur Rente oder ihrem Tod voraussichtlich arbeiten werden.5 Um die Zahlen des BIP verständlicher zu machen, werden sie in der folgenden Tabelle verglichen mit Zahlen über den Human Development Index (Index für menschliche Entwicklung), die das BIP pro Kopf, die durchschnittliche Ausbildungszeit und die Lebenserwartung miteinander verbinden. So entsteht eine Zahl zwischen 0 und 100, die (in Tab. 17) den nationalen Reichtum im Sinne des nationalen Wohlstands ausdrücken soll. In Grafik 7 werden Nationen hinsichtlich ihres Vermögens verglichen.

4 Einige sehr interessante und nicht gerade beruhigende Bemerkungen dazu macht Cowen, Great Stagnation, Kap. 2. 5 Vgl. UNU-IHDP/UNEP, Inclusive Wealth Report 2012.

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Einleitung

Tab. 17: Reales BIP pro Kopf und »Human Development Index« unterschiedlicher Länder BIP 2010

HDI 2011

Norwegen

126,7

94,3

Vereinigte Staaten

100

91

Kanada

84,3

90,8

Australien

83,7

92,3

Großbritannien

76,5

86,3

Deutschland

76,3

90,5

Japan

73,6

90,1

Frankreich

71,3

88,4

Saudi-Arabien

51,8

77

Venezuela

27,7

73,5

Quelle: The Economist. Pocket World in Figures, 2013 Edition, 25. (Die Zahlen stammen von Ende 2010).

Quelle: The Economist. Pocket World in Figures, 2013 Edition, 25.

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Einkommen, Reichtum und Entwicklung: Probleme der Messung

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Eine letzte, aber sehr wichtige Bemerkung: Ich werde mich ausdrücklich auf das Bruttoinlandsprodukt beziehen. Die Frage der Verteilung ist aus sozialer Perspektive betrachtet sehr wichtig, aber im Folgenden geht es um (die Steigerung der) Produktion und Produktivität und vor allem darum, weshalb manche Gesellschaften so viel produktiver wurden als andere. Wer davon profitierte, ist eine überaus wichtige, aber andere Frage.

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Einleitung

7. Industrielle Revolution und Great Divergence

Die Great Divergence begann zur Zeit der industriellen Revolution in Großbritannien und wird in den meisten Büchern – vorschnell – vollständig mit ihr gleichgesetzt. In den Diskussionen global orientierter Historiker über die Great Divergence gilt die industrielle Revolution meist als ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung, als Wendepunkt der globalen Wirtschaftsgeschichte. Historiker, die sich auf Großbritannien konzentrieren, haben dagegen bemerkenswerterweise eine lange und heftige Debatte darüber geführt, ob von einer Revolution überhaupt die Rede sein kann. Das Bild der Entwicklung Großbritanniens im sehr langen 18. Jahrhundert hat sich substanziell verändert. Skeptiker haben angemerkt, dass das Wachstum in der Phase von 1750 bis 1850 zu langsam und stockend verlaufen sei, um die Bezeichnung »Revolution« zu verdienen. Insgesamt trifft dies zu, was jedoch nicht überrascht: In dieser Phase fanden bis 1815 zahlreiche große Kriege statt. Die Napoleonischen Kriege, in die Großbritannien direkt und indirekt verstrickt war, forderten als globale Konflikte gewaltige Mengen an Energie, Menschenleben, Geld und Ressourcen. Zudem wurde die landwirtschaftliche Produktion immer wieder von schlechtem Wetter und Missernten heimgesucht. Wahrscheinlich am wichtigsten war jedoch, dass sich die britische Bevölkerung von 1750 bis 1850 verdreifachte. Ohne neue Produktionsmethoden wäre die Lage vermutlich katastrophal gewesen. Skeptiker verweisen außerdem darauf, dass der strukturelle Wandel ziemlich langsam voranging und in vielen makroökonomischen Daten noch nicht klar sichtbar wurde. Auch das ist richtig, muss uns aber ebenfalls nicht überraschen. Einige neue Sektoren wuchsen zwar schnell, doch um die gesamte britische Ökonomie grundlegend zu transformieren und auf Touren zu bringen brauchte es selbstverständlich Zeit. Innovationen dürften anfangs auch zu Anpassungsproblemen, Stagnation und mitunter einem Rückgang der Produktivität geführt haben. Die Expansion neuer Sektoren ließ ferner bestimmte alte Sektoren wachsen, und so weiter und so fort.1 Die neue Communis Opinio dürfte folgende Behauptung von Nicolas Crafts und Knick 1 Man sollte im Übrigen auch den Effekt eines nur langsamen Wachstums nicht unterschätzen: 2,5 Prozent Wachstum pro Jahr bewirken binnen 29 Jahren eine Verdoppelung des BIP.

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Industrielle Revolution und Great Divergence

Harley zusammenfassen: »Das Wachstum hatte sich wahrscheinlich schon im frühen 18. Jahrhundert beschleunigt, aber das moderne Wirtschaftswachstum setzte sich in Großbritannien erst im Eisenbahnzeitalter vollständig durch.«2 Pioniere verzeichnen meist niedrigere Wachstumsraten als erfolgreiche Nachzügler. Doch trotz aller Einschränkungen gilt: Was in der britischen Ökonomie vor sich ging, war – wenn nicht im Tempo, dann in seinen Folgen – zweifellos revolutionär. Die Vielzahl von Innovationen kündigte eine neue Ära in der Wirtschaftsgeschichte an und eröffnete ungeahnte Möglichkeiten; eine vollkommen transformierte Ökonomie war im Entstehen.3 Die Phase, die in diesem Buch im Zentrum steht, ist deshalb die des Take-offs der britischen Wirtschaft. Tab. 18: Produktionsleistung verschiedener Bereiche der britischen Wirtschaft, 1750–1900 (bezogen auf 1750 oder 1800 = 1) und die Bevölkerung Großbritanniens Jahr 1750

Baum- Kohle Roh- Dampf- Schienen Dampf- Wasser- Woll- Leinen Bevölwolle eisen schiffe maschinen räder sachen kerung 1,0

1,0

1,0

-

-

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1800

24

2,1

6,7

1,0

1,0

7,0

1,71

1,4

3,0

1,5

1850

267

10,6

83,3

56,0

62,4

114,8

2,79

2,2

7,3

3,1

1900

788

53,2

337,2 2402,7

191,6

1,931,8

2,54

7,2

5,4

5,6

Quelle: Goldstone, Why Europe?, 127.

Tab. 19: Zusammensetzung des BIP und der erwerbsaktiven Bevölkerung je Wirtschaftssektor in Großbritannien BIP (%)

Aktive Bevölkerung (%)

Primär

Sekundär

Tertiär

Primär

Sekundär

Tertiär

1788

40,0

21,0

39,0

-

-

-

1841

22,0

35,0

43,0

22,3

44,3

33,4

1871

15,0

40,0

45,0

15,3

47,1

37,6

Quelle: Di Vittorio (Hg.), Historia económica de Europa. 190. Die Tabelle stammt aus dem Beitrag zum 19. Jahrhundert von Giovanni Luigi.

2 Crafts/Harley, »Output Growth«, 705. 3 Treffende Darstellungen bieten Griffin, British Industrial Revolution, besonders Kap. 1 und 2, und Mokyr, »Accounting for the Industrial Revolution«.

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Einleitung

8. Malthusianische Schranken, vormodernes und modernes Wachstum

Wir studieren die Ursprünge modernen Wirtschaftswachstums wegen seiner gesellschaftlichen Relevanz: Es hat eine globale Reichtumskluft mit erheblichen Implikationen für alle betroffenen Gesellschaften erzeugt. Unsere Untersuchung hat aber auch ein strikt wissenschaftliches Motiv: Während uns Wachstum heute vollkommen normal erscheint, ist es in Wirklichkeit höchst anormal und erklärungsbedürftig. Charakter und Bedeutung des modernen Wirtschaftswachstums sind wahrscheinlich am einfachsten und klarsten zu begreifen, wenn wir die westliche Welt der Gegenwart mit der vormodernen Welt vergleichen, in der Armut, Stillstand und Stagnation die Regel, ja nach Auffassung mancher Autoren sogar unvermeidbar waren.1 Für den relativen Mangel an Wachstum, Wohlstand und Entwicklung in Westeuropa am Ende des 18. Jahrhunderts gibt es einige Indikatoren (Tab. 20 u. 21, Grafik 8 u. 9). Unterernährung und Hunger waren selbst in entwickelteren Teilen Westeuropas nicht ungewöhnlich. Robert Fogel schätzt, dass 20 Prozent der Erwachsenen im Frankreich des 18. Jahrhunderts aufgrund von Mangelernährung maximal drei Stunden leichte Arbeit am Tag verrichten konnten.2 Das Leben eines durchschnittlichen französischen Familienvaters am Ende des 17. Jahrhunderts, der Ära von Louis XIV., in der Frankreich als reiches Land galt, wurde so beschrieben: »Er stammt aus einer Familie mit fünf Kindern, von denen nur die Hälfte das 15. Lebensjahr erreicht. Er selbst hat ebenfalls fünf Kinder, von denen bei seinem Tod nur noch zwei oder drei am Leben sind. Im Durchschnitt wird er 52 Jahre alt. Im Lauf seines Lebens erlebt er zwei bis drei Hungersnöte, zwei bis drei Phasen des Mangels und zwei bis drei Epidemien.«3 Warum waren Armut und Stagnation so normal? Am besten lässt sich das erklären, wenn man den Grundgedanken von Reverend Thomas Malthus (1766–1834) folgt, die erheblichen Einfluss in der Wirtschaftsgeschichte

1 Vgl. etwa Wrigley, Poverty, Kap. 7: »Warum Armut in traditionellen Gesellschaften unvermeidlich war«. 2 Fogel, »Conquest of High Mortality«, 47. 3 Fourastié, »De la vie traditionnelle«.

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Malthusianische Schranken, vormodernes und modernes Wachstum

Tab. 20: Die europäischen Bevölkerungszahlen von 1300–1870 (in Tsd.) Land

1300

1400

1500

Skandinavien

2.500

1.400

1.500

2.400

2.900

2.600

5.250

9.550

England (und Wales)

4.500

2.700

3.500

4.450

5.450

6.300

9.250

23.000

Schottland

1.000

700

800

1.000

1.200

1.260

1.630

3.420

Irland

1.400

700

800

1.000

1.900

3.120

5.200

5.800

Niederlande

1600

1700

1750

1800

1870

800

600

950

1.500

1.950

1.950

2.100

3.650

1.400

1.200

1.300

1.300

1.900

2.300

2.900

4.900

Frankreich

16.000

12.000

15.000

18.500

21.500

24.600

29.000

38.000

Italien

12.500

8.000

9.000

13.300

13.500

15.500

18.100

28.000

Spanien

5.500

4.500

5.000

6.800

7.400

9.300

10.500

16.200

Portugal

1.300

1.050

1.200

1.300

2.000

2.600

2.900

4.300

Schweiz

800

500

800

1.000

1.200

1.300

1.700

2.700

Österreich*

10.000

9.000

11.500

12.800

15.500

18.300

24.300

35.700

Deutschland

13.000

8.000

11.000

16.200

14.100

17.500

24.500

41.000

2.000

1.500

2.000

2.500

2.800

3.700

4.300

7.400

Belgien

Polen Balkan

6.000

5.000

5.500

7.000

8.550

9.900

12.000

23.700

Russland (europäisch)

15.000

11.000

15.000

16.000

13.000

22.000

35.000

63.000

Europa

93.700

67.850

84.500

107.050

114.850

143.230

188.630

310.320

Europa (ohne Russland)

78.700

56.850

69.850

91.050

101.850

121.230

153.630

247.320

* Zu Österreich zählen hier Ungarn, Böhmen, Kroatien, Slawonien und Transsylvanien. Quelle: Malanima, Pre-Modern European Economy, 9.

hatten und den Kern einer »malthusianischen« Sichtweise ausmachen.4 Malthus war mit seinem Pessimismus allerdings keine Ausnahme unter den damaligen Ökonomen. Sein Freund David Ricardo (1772–1823) meinte, dass sich die Löhne mit wachsender Bevölkerung dem Existenzminimum näherten – also nur zum Kauf der »lebensnotwendigen Dinge«5 reichten –, wäh-

4 Eine bündige Erklärung bietet Wrigley, Poverty, Teil 1, insbesondere Kapitel 6. 5 Wenn Smith, Ricardo und Marx von Löhnen auf Existenzniveau sprechen, meinen sie ein gesellschaftliches, nicht ein nacktes biologisches Existenzminimum. Vgl. Schlefer, Economists, 39–41.

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Einleitung

Tab. 21: Lebenserwartung in Europa und Ostasien bis zum 19. Jahrhundert Land

Lebenserwartung bei Geburt

Westeuropa Deutschland vor 1800

35

England 1550–1599

38

England 1650–1699

35

Frankreich vor 1750

25

Frankreich 1750–1799

28–30

England 1750–1799

38

London 1750–1799

23

Ostasien China (Anhui) 1300–1880

28

China (Peking) 1644–1739

26

China (Liaoning) 1793–1867

26–35

Japan, ländlich 1776–1815

33

In der Spanne von 1750 bis 1800 erreichten in Frankreich von allen tausend geborenen Kindern nur 491 ihr 15. Lebensjahr. In England lag die Zahl bei 736, in Schweden bei 612 und in Dänemark bei 641. Quellen: Clark, A Farewell to Alms, 94; Livi-Bacci, Population of Europe, 113 und 135, und Wong, China transformed, 28.

rend steigende Nahrungsmittelpreise die Arbeitskraft verteuerten und so einen Rückgang der Profite bewirkten. Von einer solchen Situation könnten allein Angehörige der Grundbesitzerklasse profitieren, deren Renten stiegen. Karl Marx betrachtete Ricardos »ehernes Lohngesetz« später als gültig. Selbst Adam Smith neigte schlussendlich zum Pessimismus: Er ließ nirgends erkennen, dass er das, was wir heute modernes Wirtschaftswachstum nennen, für möglich hielt. Nicht von ungefähr galt Ökonomie im 19. Jahrhundert weithin als »trostlose Wissenschaft«.6 Alle sogenannten klassischen Ökonomen erkannten in der begrenzten Verfügbarkeit von Ressourcen, insbesondere bei zunehmender Bevölkerung, Grenzen des Wachstums. Die

6 Einführende Informationen zum Leben und (pessimistischen) Denken dieser Gelehrten bieten Heilbroner, Denker der Wirtschaft, Milgate/Stimson, After Adam Smith, sowie – für unser Thema besonders wichtig – Wrigley, »Classical Economists«.

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Malthusianische Schranken, vormodernes und modernes Wachstum

Quelle: Malanima, Pre-Modern European Economy, 287.

Quelle: Malanima, Pre-Modern European Economy, 287.

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73

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Einleitung

meisten von ihnen tendierten zu der Erwartung sinkender Gewinne und einer zwangsläufigen Verlangsamung des Wachstums. Smith vertrat hier keine konsistente Position. Er ging zwar von zunehmenden Gewinnen infolge weiterer Arbeitsteilung aus, rechnete aber nicht mit der Bildung großer Monopole, da der Wettbewerb die Gewinne beständig auf ein »normales« Niveau herabdrücken würde. Zudem sah er praktische Grenzen der Teilung der Arbeit sowie der Ausweitung von Märkten. Transport und Kommunikation waren so langsam und kostspielig, dass es ihm zufolge für die meisten Güter keine ausgedehnten Märkte geben konnte. Schlussendlich sah Smith deshalb eine Grenze des Wachstums, an der die Ökonomien ihren stationären Zustand erreichen würden.7 Dass derart viele gebildete Ökonomen im Großbritannien des 18. und 19. Jahrhunderts – dem reichsten Land der Welt und der ersten Industrienation – derart pessimistisch waren, ist ein deutliches Indiz dafür, wie ungewöhnlich Wachstum war – und wie selbstverständlich, dass die Masse der Bevölkerung, also die arbeitende Klasse, in Armut lebte.8 Marx stellte in dieser Hinsicht eine klare Ausnahme dar, insofern er Technologie, Innovation und steigende Gewinne hervorhob. Er sah die Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung grundsätzlich sehr optimistisch, wenn auch nicht die Zukunft des kapitalistischen Systems, das sie hervorgebracht hatte. Malthus wiederum ging von dem fundamentalen Problem aus, dass die Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse in hohem Maß von der (begrenzten) Verfügbarkeit (guten) Bodens abhänge – entweder vollständig, wie im Fall von Nahrung, Kleidung und Behausung, oder doch weitgehend, so im Fall von Energie, die auch durch Wind- und Wasserkraft sowie in manchen Regionen durch Kohle und/oder Torf erzeugt werden konnte. Dasselbe galt für sämtliche Stoffe, die etwa für Düngemittel, Beleuchtung, Färben oder Medikamente benötigt wurden. In »organischen« Ökonomien konnte der Wohlstand, insbesondere bei gleichzeitig wachsender Bevölkerung, nicht substanziell über einen längeren Zeitraum gesteigert werden.9 Dies hätte schlicht zu viele konkurrierende Ansprüche auf eine weitgehend unveränderliche Bodengröße erzeugt. Solche Ökonomien stießen an malthusianische Schranken, hatten eine malthusianische Grenze und konnten sogar in eine malthusianische Falle geraten. Mit der Industrialisierung entstand in Großbritannien die erste Wirtschaft der Welt, die sich nicht mehr

7 Smith, Reichtum der Völker, Buch I, Kapitel VIII und IX. 8 Vgl. Lis/Soly, Worthy Efforts, Kap. 7, 478–494. 9 Zu den Begriffen »organische Ökonomie«, »fortgeschrittene organische Ökonomie« und der damit kontrastierenden »auf Mineralien und Fossilbrenstoffen basierenden Ökonomie«, vgl. Wrigley, Continuity, Chance and Change.

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überwiegend auf organische Ressourcen stützte.10 Entscheidend dafür war die gewaltige Steigerung der Nutzung von Kohle als Brennstoff und, was noch folgenreicher war, als Energiequelle. Fernand Braudel formulierte es so: Bis zur industriellen Revolution scheitert jeder Wachstumsvorstoß an […] [der] »Grenze des Möglichen« […], das heißt an der oberen Grenze der landwirtschaftlichen Produktion oder des Transportwesens oder der Energieversorgung oder der Nachfrage auf dem Markt […] Das moderne Wachstum setzt just zu dem Zeitpunkt ein, in dem diese Grenze sich unaufhörlich weiter nach oben bzw. nach außen verschiebt. Was freilich nicht heißen soll, dass sich nicht womöglich eines schönen Tages doch wieder eine oberste Grenze abzeichnen wird.11

In malthusianischen Erzählungen über Naturabhängigkeit geht es gewöhnlich um Verfügbarkeit und Gesamtmengen. Dies waren gewiss bedeutende, aber nicht die einzigen Schranken für Entwicklung und Wachstum, vor allem – aber nicht nur – in der Energieerzeugung. Wie Douglas Allen treffend bemerkt, war diese bis zur Revolution der Dampfkraft »nicht nur begrenzt und schwach, sondern auch schwankend und unzuverlässig. […] Die Dampfkraft eröffnete eine Ära zuverlässiger Energie.«12 Die unbeständige Energieversorgung unter dem Ancien Regime war teils saison-, vielfach aber zufallsbedingt. Bei Wind und Wasser ist dies offensichtlich – Wind- und Wassermühlen waren sehr unzuverlässige Energiequellen. Die mangelnde Verlässlichkeit von Wind und Wasser hatte auch erhebliche Folgen für den Transport: Segelschiffe waren vom Wind abhängig und auf See stark durch Strömungen und Gezeiten eingeschränkt, während der Transport auf Flüssen und Kanälen durch einen zu hohen oder zu niedrigen Wasserstand erheblich beeinträchtigt werden konnte. »Die britische Marine«, so Allen, »war zu dieser Zeit [im 18. Jahrhundert, PV] das vielleicht größte Unternehmen der Welt, aber zugleich vollständig auf die Gnade von Wind und Wellen angewiesen.«13 Veränderungen der Nahrungsmittelversorgung sowie Krankheiten, oftmals durch natürliche Bedingungen verursacht, hatten immensen Einfluss auf die Quantität und Qualität der verfügbaren Arbeitskraft von Menschen und Tieren sowie im Fall der Letzteren auf die Versorgung mit Düngemitteln. Landwirtschaft und Transport waren stark vom Wetter abhängig. 10 Man muss sich allerdings vergegenwärtigen, dass das Land bereits im Jahr 1700 die Hälfte seiner Energie durch Kohle erzeugte und der zunehmende Rückgriff auf die »fiktiven Nutzflächen«, der als Abhilfe gegen die Bodenknappheit sehr wichtig war, natürlich keine wirkliche Lösung des Problems bot, das vielmehr einfach umgangen wurde, indem man irgendwo anders Land nutzte. 11 Braudel, Sozialgeschichte, Bd. 3, 662. 12 Allen, Institutional Revolution, 26 (Hvhbg. i. Orig.). 13 Ebd., 25.

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Somit gab es, um nochmals Allen zu zitieren, in der vorindustriellen Welt eine »Allgegenwart der Unbeständigkeit«.14 Sie machte wirtschaftliche Tätigkeiten schwer planbar, undurchsichtig, riskant und folglich kostspielig. Die Einführung der Dampfkraft war ein wesentliches Moment jenes umfassenden Prozesses, der diese Unbeständigkeit überwand und sich überaus positiv auf die Produktivität auswirkte. Unabhängig von den Launen der Natur und im Prinzip kontinuierlich verfügbar, bot sie eine zuverlässige Energiequelle. Zudem konnte sie standardisiert und gemessen werden – kein Mann und kein Pferd gleicht dem anderen, aber PS ist PS – und trug so dazu bei, Produktion und Produktivität zu standardisieren und zu messen. Außerdem schuf sie ungeahnte Möglichkeiten zur Akkumulation und Konzentration von Energie.15 Von zuverlässiger und kontinuierlicher Energie getriebene Maschinen standardisierten ihrerseits die Produktion, indem sie identische Produkte in der identischen Weise herstellten; sie waren nicht die einzige, aber eine sehr wichtige Triebkraft der Standardisierung. Die Macht der unbeständigen Natur wurde auch dadurch eingeschränkt, dass man Messmethoden und Maße standardisierte und in abstrakte, formale, wissenschaftlich fundierte Konzepte verwandelte. Die Maße von Zeit, Distanz, Temperatur etc. wurden aus ihrem Kontext (der Natur) gelöst und mechanisch bestimmt. Die Gasbeleuchtung, um nur eine weitere wichtige Innovation zu nennen, machte den Unterschied von Tag und Nacht nahezu irrelevant für die Produktion. Allgemein wurde das Leben berechenbarer; größere Berechenbarkeit ermöglichte eine bessere, realistischere Planung und sinkende Transaktionskosten. Weniger Unterbrechungen und Störungen dank neuer Energiequellen hatten zur Folge, dass deutlich weniger Zeit verloren oder vergeudet wurde. Das verringerte wiederum das Risiko großer Investitionen und der Spezialisierung auf bestimmte Produkte: Ihre Kosten sanken, weil moderne Energiequellen Kapitalgüter wie Eisen, Stahl, Glas und Gebäude verbilligten. Das Wesen modernen Wirtschaftswachstums besteht in ständiger Produktivitätssteigerung. Das erfordert Zuverlässigkeit, Kontinuität und Berechenbarkeit – nicht nur, um sie zu erreichen, sondern auch, um sie überhaupt messen zu können. Die allgegenwärtige Unbeständigkeit in der vorindustriellen Welt machte es beinahe unmöglich, die tatsächliche Effizienz der Produktion zu ermitteln, was ein weiteres Hindernis für ihre Steigerung gewesen sein dürfte. Die langfristige Logik vorindustrieller Ökonomien wird von Malthusianern richtig beschrieben. Wachstum blieb eine Ausnahme, war häufig allenfalls extensiv, fragil und unbeständig und ließ meistens wieder nach. Mal14 Ebd., Kap. 2. 15 Zur Konzentration und Akkumulation von Energie: Goldstone, »Efflorescences and Economic Growth«.

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thus und von ihm geprägte Theoretiker erklären dies in der Regel durch die begrenzte Verfügbarkeit und die spezifischen Eigenschaften von Ressourcen. Deren tatsächliche Knappheit und Grenzen waren jedoch in hohem Maß eine Folge des Ausbleibens technischer Innovationen (das sich aus Schranken des Wissens erklärt, denn das praktische Know-how war nur ungenügend oder gar nicht theoretisch fundiert), und dies war wiederum eng mit institutionellen und kulturellen Grenzen verbunden, insbesondere mit einer verbreiteten Rentenabschöpfung und Innovationsfeindlichkeit.16 Diese werden von Malthusianern traditionell als mehr oder weniger selbstverständlich oder unbedeutend betrachtet. Das bedeutet, dass in vielen Fällen eine »malthusianische Überbevölkerung« auf technologische oder institutionelle Hemmnisse zurückgeführt werden könnte. Malthus zog zwar die Möglichkeit technischer Innovationen in Betracht, hielt sie aber für grundsätzlich weniger wirkungsmächtig als die von ihm angeführten positiven und negativen Faktoren. Anhaltendes Wachstum ist nur bei kontinuierlicher Verbesserung auf allen drei Feldern (Ressourcen, Institutionen und Technologie) möglich. Unter Bedingungen technischen Wandels, aber unflexibler Institutionen wird es wieder nachlassen, und, wie immer mehr Wirtschaftswissenschaftler realisieren, selbst permanente technische und institutionelle Innovationen sind keine Gewähr für Wachstum, wenn schließlich die Ressourcen knapp werden. Seit der ersten industriellen Revolution haben die meisten Menschen, auch die Ökonomen, in der Alltagspraxis so gehandelt und argumentiert, als seien die Probleme, über die Malthus nachgedacht hatte, gelöst worden. Natürlich wusste man, dass Ressourcen nicht prinzipiell unbegrenzt sind, was aber zunächst, mit Ausnahme des Ökonomen William Stanley Jevons (1835–1882), der bereits 1865 über die Gefahren einer allmählichen Erschöpfung der britischen Kohlereserven schrieb, niemanden kümmerte.17 Viele Ressourcen wie etwa Kohle wurden während des Takeoffs sogar billiger. Im 21. Jahrhundert aber ist der Gedanke, dass die Ressourcenknappheit dem Wachstum Grenzen setzen könnte, angesichts einer starken Zunahme von Konsumenten, Konsum und Konsumhunger wieder ein wichtiges Thema in den Debatten von Ökonomen geworden. Eine Ökonomie kann nur dann modernes Wachstum entwickeln, wenn sämtliche durch Ressourcen, Technologie und Institutionen gesetzten Grenzen in einem ständigen Innovationsprozess immer weiter hinausgeschoben werden. Die Great Divergence zu erklären, heißt letztlich die Entstehung von Gesellschaften zu erklären, in denen Innovationen in allen drei Bereichen normal und selbsttragend wurden.

16 Vgl. Mokyr, »Why was the Industrial Revolution a European Phenomenon?«. 17 Jevons, Coal Question.

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Die malthusianischen Schranken und die durch sie gesetzten Obergrenzen der Entwicklung waren strukturelle und globale Phänomene, auch wenn viel Regionen nie so überbevölkert waren, dass sie tatsächlich eine malthusianische Obergrenze erreichten. Sie blieben während der gesamten vorindustriellen Ära auf der gesamten Welt allgegenwärtig. Im Westen zum Beispiel lassen sich zwischen dem Römischen Reich auf seinem Zenit und Großbritannien am Vorabend der Industrialisierung nur geringe Reichtums- und Entwicklungsdifferenzen feststellen. Allen schreibt über das Römische Reich: »Indizien über die Reallöhne stützen ein eher positives Bild des römischen Lebensstandards. Dem römischen Arbeiter ging es zweifellos annähernd so gut wie den meisten Arbeitern in Europa und Asien im 18. Jahrhundert.«18 Weder das Römische Reich noch – zumindest bis zu diesem Zeitpunkt – das britische Empire kannten modernes Wirtschaftswachstum. Bis zu dessen Entstehung blieben auch die Reichtums- und Entwicklungsdifferenzen zwischen zeitgenössischen Gesellschaften relativ gering. Am Vorabend der britischen Industrialisierung dürften sie sich maximal in einer Größenordnung von fünf zu eins bewegt haben, während sie heute mehrere Hundert zu eins betragen. Zwischen den reichsten Teilen Westeuropas und Chinas lagen sie damals allenfalls bei zwei oder drei zu eins. Dabei ist zu bedenken, dass die Realeinkommen in Nordwesteuropa, also in Großbritannien und Holland, deutlich höher waren als im übrigen Europa. Tab. 22: Geschätztes BIP pro Kopf in internationalen Dollar von 1990 Land Römisches Reich England und Wales Holland, Provinz der Niederländischen Republik England und Wales China

Jahr

BIP

14

844

1688

1418

1732

2035

1801–1803

2006

1880

540

Quelle: Milanovic/Lindert/Williamson, »Measuring Ancient Inequality«, The World Bank, Policy Research Papers, WPS 4412. 2007–11/1.

Das Spannungsverhältnis zwischen Bevölkerungsgröße und Wohlstand zeigte sich sogar in den wirtschaftlich fortgeschrittensten Ländern; auch im frühneuzeitlichen Großbritannien setzte anhaltendes Bevölkerungswachstum gewöhnlich die Realeinkommen unter Druck, weil sich die Lebensmit18 Robert Allen, »How Prosperous were the Romans? Evidence from Diocletian’s Price Edict A.D. 301«, http://economics.ouls.ox.ac.uk/12121/1/paper363.pdf. Vgl. auch Manning/Morris, Ancient Economy, und Temin, »Economy of the Early Roman Empire«.

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Quelle: Malanima, Pre-Modern European Economy, 275.

telpreise erhöhten.19 Mit der Zeit verhielten sich Bevölkerungsgröße und Wohlstand tendenziell umgekehrt proportional zueinander. Wie erwähnt, waren viele – auch britische – Ökonomen überaus pessimistisch, was die Möglichkeit anhaltenden Wachstums bei zunehmender Bevölkerung betraf. Durchaus unterschiedlich beurteilen Wissenschaftler dagegen, ob vorindustrielle Ökonomien zumindest etwas Wachstum und Entwicklung aufwiesen, auch wenn letztlich eine malthusianische Logik vorherrschend blieb. Das hat natürlich auch Implikationen für die Deutung und Erklärung der Great Divergence. Strikte Malthusianer wie Gregory Clark und Oded Galor behaupten, dass es überhaupt kein reales Wachstum gegeben habe. Sie sehen lediglich ein Auf und Ab von Einkommen, die sich durchschnittlich immer um das Existenzminimum bewegt hätten. Sehr deutlich formuliert dies Clark in A Farewell to Alms. Er eröffnet das Buch mit der Behauptung, dass »kurzfristige Einkommenssteigerungen dank technischer Fortschritte zwangsläufig [sic! PV] wieder durch das Bevölkerungswachstum zunichtegemacht wurden« und es »der durchschnittlichen Person um 1800 nicht besser ging als im Jahr 100.000 v. Chr.«. Laut Clark verschlechterte sich die Lage sogar: Um 1800 »war die Masse der Weltbevölkerung ärmer als ihre entfernten Vorfahren. Die glücklichen Einwohner reicher Gesellschaften wie England oder Holland im 18. Jahrhundert erreichten einen materiellen Lebensstandard, der dem der Steinzeit entsprach.« »In der vorindustriellen Welt«, so Clark, »vergrößerten sporadische 19 Vgl. Wrigley, Continuity, Chance and Change, 60–67.

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technische Fortschritte die Bevölkerung, nicht den Reichtum.« Im Hinblick auf Lebensstandard und technischen Wandel sei »die malthusianische Ära eine Ära bemerkenswerten Stillstands« gewesen.20 Clark würde vermutlich auch dem ersten Teil der folgenden Behauptung von Beinhocker zustimmen: »Fassen wir zweieinhalb Millionen Jahre Wirtschaftsgeschichte zusammen: Sehr, sehr lange passierte kaum etwas; dann aber [mit der Industrialisierung, PV] ging plötzlich alles ganz schnell.«21 In der Literatur über die Geschichte Europas existiert eine altehrwürdige Tradition von Malthusianern, der Historiker der Annales-Schule wie Fernand Braudel und Emmanuel Le Roy Ladurie, der sogar von einer histoire immobile sprach, aber auch beispielsweise Wilhelm Abel (1904–1985) und Michael Postan (1899–1981) zuzurechnen sind. Ein hervorragendes neueres Beispiel für diese Tradition bietet das Lehrbuch des italienischen Historikers Paolo Malanima.22 Andere Wissenschaftler meinen, malthusianische Ökonomien seien nicht völlig statisch gewesen und hätten in manchen Phasen ein begrenztes Wachstum und Entwicklung verzeichnen können. Ihre These ist die überzeugendere. Sogenannte »fortgeschrittene organische Ökonomien« wie die Wirtschaften Nordwesteuropas, Qing-China, das indische Mogulreich (1526–1858) und das Japan der Tokugawa (1601–1868) erlebten Blütephasen vor dem britischen Take-off. Dies war beispielsweise im Hochmittelalter in Nordwesteuropa der Fall, zudem im Goldenen Zeitalter Hollands und während der Wachstumsphase Großbritanniens im 18. Jahrhundert, bevor die Dampfkraft mit der industriellen Revolution zu einer wichtigen Energiequelle wurde. China erreichte sein höchstes Wohlstands- und Entwicklungsniveau vermutlich unter der Song-Dynastie (907–1276), doch auch die Hochphase der Qing bis in die letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts gilt weithin als Blütezeit. Wirtschaftswachstum war in der vorindustriellen Welt gewiss nicht vollkommen unbekannt. Auch wenn sich dies nie wird statistisch hart belegen lassen, gibt es einige klare Indizien dafür. Mit Ausnahme Amerikas, das infolge der Einschleppung eurasischer Krankheiten eine verheerende Sterberate verzeichnete, war die Bevölkerung am Vorabend der ersten industriellen Revolution in Großbritannien in den meisten Teilen der Welt größer als je zuvor. Das spricht zumindest für ein gewisses extensives Wachstum. Meine weiteren Beispiele beschränken sich der Einfachheit halber auf die Situation in Westeuropa. Angesichts des dortigen Bevölkerungswachstums fragt man

20 Clark, Farewell to Alms, 1, 32, 166. Auch nach den scharfen Kritiken an diesem Buch hielt Clark an seiner Position fest. Vgl. ders., »Defence of the Malthusian Interpretation«. 21 Beinhocker, Entstehung des Wohlstands, 36. 22 Malanima, Europäische Wirtschaftsgeschichte.

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sich, wann genau, wenn überhaupt, die Erträge pro Kopf zu sinken begannen. Zwischen 1000 und 1800 waren die malthusianischen Grenzen dort offenbar recht elastisch. Auch die Urbanisierung nahm zu. In den reicheren Regionen Westeuropas, die in der Regel auch die dichter bevölkerten waren, lebten zudem viele Menschen dauerhaft klar über dem Existenzminimum. In Großbritannien und den Niederlanden galt dies im 17. und 18. Jahrhundert selbst für die arbeitenden Armen. Ihr Einkommen ließ ihnen genügend Spielraum, um neue Produkte wie Tee, Zucker, Kaffee, Tabak und alkoholische Getränke zu kaufen.23 Allerdings muss man bedenken, dass dies die damals reichsten Länder Europas waren. Die Sterberate war zwar mitunter hoch, allerdings häufig aufgrund von Krankheiten, die nur indirekt oder gar nicht auf Hunger und Nahrungsmittelknappheit zurückzuführen waren. Wo Hungersnöte tatsächlich auftraten, waren sie oft durch Distributionsprobleme oder politische Faktoren wie Krieg verursacht. Auch die Beziehung zwischen der Fruchtbarkeit des Bodens und der Verfügbarkeit von Ressourcen war häufig viel schwächer, als ein strikter Malthusianismus nahelegen würde. Umfang und Qualität des urbaren Landes konnten offenbar in Grenzen gesteigert werden, und auch Technik und Institutionen wandelten sich in Maßen.24 Bedenkt man jedoch, wie arm und unterentwickelt selbst die reichsten und entwickeltsten Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, unmittelbar vor Beginn der Industrialisierung in Großbritannien, noch waren, dann ist klar, dass die Geschichte der vorindustriellen Welt gewiss nicht von substanziellem und anhaltendem Wachstum und starker Entwicklung geprägt war. Wodurch entstand das geringe vormoderne Wachstum, das es gleichwohl gab? Sehr wichtig war die Rentenabschöpfung, ein Sammelbegriff für unterschiedlichste Arten außerökonomischer Reichtumsaneignung, die weniger auf die Erzeugung von Wachstum als auf die Aneignung eines möglichst großen Stücks vom gegebenen Kuchen abzielen. Beispiele dafür sind Krieg, Plünderung, Zwang, Erpressung, Manipulation und Monopole. So herrschte die Auffassung vor, dass der Reichtum einer Nation am besten auf Kosten anderer Nationen gesteigert werden könne, was implizieren würde,

23 Das wurde in vielen Publikationen gezeigt. Ich verweise nur auf Hans-Joachim Voths Rezension von Clarks Buch in European Review of Economic History 12 (2008) 2, 152–153. 24 Vgl. bspw. die kritischen Anmerkungen zu Clarks Buch von Hans-Joachim Voth, George Grantham und Karl Gunnar Persson in European Review of Economic History 12 (2008) 2, 149–173, Karl Gunnar Persson, »The End of the Malthusian Stagnation Thesis«, http://www.econ.ku.dk/europe/early-growth.htm, und Allen, »Review of Clark’s A Farewell to Alms«, eine sehr systematische und meines Erachtens vernichtende Kritik.

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dass die Grenzen des Wachstums bis zur industriellen Revolution »geopolitisch bestimmt waren«.25 Eine weitere Wachstumsstrategie bestand in der intensiveren Nutzung bereits verfügbarer Ressourcen, vor allem des Bodens, und – was sehr wichtig war – in der Vergrößerung ihres Bestands durch Einverleibung stets neuer Ressourcen, zunächst in Europa,26 an seinen Grenzen, den frontiers, und im Lauf der Zeit zunehmend auch auf anderen Kontinenten. Daneben wurde die Produktion und im Idealfall auch die Produktivität schon immer durch den Ausbau des Kapitalgüterbestands gesteigert. Dafür finden sich in der vorindustriellen Welt viele Beispiele, etwa der zunehmende Einsatz von Tieren und Werkzeugen und der Bau zusätzlicher Wind- und Wassermühlen, »Maschinerie«, Manufakturen und Häfen. In einem malthusianischen Kontext ist diese Strategie allerdings nicht unproblematisch, da sie wachsende Ansprüche auf Boden erzeugt, etwa zur Fütterung von Tieren oder Anpflanzung von Bäumen, um Holz für den Bau, die Herstellung von Werkzeugen oder als Brennstoff für die Produktion von Kapitalgütern aus Eisen oder Stein zu gewinnen. Viele »fixe« Kapitalgüter waren zudem so verschleißanfällig, dass sie kaum von flüssigem Kapital unterscheidbar waren. Ferner konnte Kapital, sei es materielles, menschliches oder soziales, verbessert werden. Technische Entwicklung blieb nicht aus: Es gab einige wichtige Innovationen, die im kleinen Maßstab vielfältige Anwendung fanden. Allerdings muss man den Malthusianern rechtgeben, dass wirkliche Durchbrüche mangels wissenschaftlicher Fundierung der Technik nicht stattfanden. Es blieb bei zeitweiligen und unverbundenen Ad-hoc-Innovationen. Aufseiten des Humankapitals waren langfristig zweifellos Fortschritte im Lesen, Schreiben und Rechnen zu verzeichnen, deren Auswirkungen auf die Produktion allerdings schwer messbar sind. Es wurde nun länger und härter gearbeitet, der Anteil der Erwerbs- an der Gesamtbevölkerung stieg, und der Fleiß nahm sehr wahrscheinlich (weltweit) zu. Dies hatte natürlich Grenzen, zumal viele Menschen aufgrund von Armut, Krankheit und Mangelernährung nicht lange und hart arbeiten konnten und es fraglich ist, ob all die zusätzliche Schinderei tatsächlich Wachstum im Sinne steigender Produktivität erzeugte oder nicht viel eher nur ein mageres Zusatzeinkommen. Dem sozialen Kapital schließlich könnte es zugutegekommen sein, dass das Vertrauen zunahm und mehr Menschen in größeren Zusammenhängen arbeiteten, in denen es stärker formalisiert werden konnte.27 25 Mokyr, Enlightened Economy, 156. Mokyr selbst teilt diese merkantilistische Sichtweise nicht, die er David Ormrod zuschreibt. Vgl. Ormrod, Commercial Empires. 26 Bartlett, Geburt Europas. 27 Vgl. hierzu die Anmerkungen zu sozialem Kapital in Tine de Moor, ERC Starting Grant Project, »›United we stand‹. The Dynamics and Consequences of Institutions for

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Daneben fand insbesondere unter Bedingungen freien und fairen Wettbewerbs ein »Smithsches« Wachstum durch Spezialisierung, also Arbeitsteilung, statt. Doch wie erwähnt meinte selbst Smith, der über diese Quelle des »Reichtums der Nationen« ausgiebig nachgedacht hatte, dass diese Strategie nicht nachhaltig sei und recht bald ihre Grenzen, ihren »stationären Zustand«, wie er formulierte, erreichen würde.28 Selbst bei freien Märkten wurden die Transportkosten des Fernhandels schnell untragbar. Oftmals konnte von freien Märkten und fairem Wettbewerb zudem keine Rede sein, und nicht wenige wollten, dass dies so bleibt. Eine substanzielle Markterweiterung blieb ferner ohnehin illusorisch, solange viele Menschen zu arm waren, um sich Güter aus der Ferne überhaupt leisten zu können. In jedem Fall gilt: Keine dieser Strategien bewirkte in der vorindustriellen Ära irgendwo auf der Welt einen Durchbruch. Die Begrenztheit von Ressourcen, Wissen und Institutionen ließ dies nicht zu. Wie entstand dann das moderne Wirtschaftswachstum? Und was wäre naheliegender, als die Ökonomen darüber zu befragen?

Collective Action in Preindustrial Europe«, http://vkc.library.uu.nl/vkc/seh/research/ Lists/Projects /DispForm.aspx?ID=19. 28 Vgl. die Hinweise zu Smiths Werk in Anm. 6, S. 72 sowie Kelly, »Smithian Growth«.

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Teil 1: Moderne Wirtschaftswissenschaft und Theorien des Wachstums

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Teil 1: Moderne Wirtschaftswissenschaft und Theorien des Wachstums

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Die Wirtschaftswissenschaft als seriöse Disziplin entstand etwa zur selben Zeit wie das moderne Wirtschaftswachstum. Dieses ist eines ihrer zentralen Themen oder sollte es wenigstens sein. Es wäre daher eigenartig, nicht kurz einen Blick darauf zu werfen, was sie über Wachstum im Allgemeinen und modernes Wirtschaftswachstum im Besonderen zu sagen hat. Ich werde die aus meiner Sicht wichtigsten Erklärungen für Wachstum, die Ökonomen im Sinne unmittelbarer wie letzter Ursachen1 im Lauf der Zeit entwickelt haben, durchgehen, sie mit den geläufigen Erklärungen für die Great Divergence vergleichen und im Zuge dessen meine eigenen Auffassungen darlegen. Die Struktur meiner Analyse folgt dabei weder unterschiedlichen Schulen oder Ansätzen in der globalen Wirtschaftsgeschichte noch der zeitlichen Abfolge, in der die Ansätze entwickelt wurden. Anzumerken ist allerdings, dass es weitaus schwieriger ist, als es klingen mag, eine Bilanz der wichtigsten wirtschaftswissenschaftlichen Erklärungen für (modernes) Wachstum zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen. Denn über kaum etwas von Belang sind sich die Ökonomen einig, und für jeden Ökonomen, der eine bestimmte These vertritt, findet sich einer, der das genaue Gegenteil behauptet. Klar ist lediglich, dass die Wirtschaftswissenschaft ihre wichtigste Frage bis heute nicht beantwortet hat, oder in den Worten von Elhanan Helpman: »Seit Jahrhunderten beschäftigen sich Ökonomen mit dem Wachstum von Nationen – ein Thema, das sie seit den Tagen Adam Smiths ständig untersucht haben. Diese Bemühungen haben zwar zu einem besseren Verständnis der Quellen von Wirtschaftswachstum geführt, aber das Thema hat sich als schwer fassbar erwiesen und viele Rätsel bleiben ungelöst.«2 Noch deutlicher, und negativer, formuliert es Gregory Clark: »Seit der industriellen Revolution befinden wir uns in einer merkwürdigen neuen Welt, in der die rokokohaften Verzierungen der wirtschaftlichen Theorie wenig zum Verständnis der drängenden Fragen beigetragen haben, die gewöhnliche Menschen an die Wirtschaftswissenschaft richten: Warum sind 1 Zur näheren Erläuterung dieser zwei Begriffe, s. die Stichworte »Causation«, »Proximate« und »Ultimate«, in White, Understanding Economic Development. 2 Helpman, Mystery of Economic Growth, IX. Ebenso White, Understanding Economic Development, VII.

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Teil 1: Moderne Wirtschaftswissenschaft und Theorien des Wachstums

manche reich und andere arm?« Er spricht von einer »Flut« wirtschaftswissenschaftlicher Publikationen, die »mehr verdunkeln als erhellen«, und behauptet: »Die Geschichte zeigt, […] dass der Westen den weiterhin armen Ländern der Welt kein Modell für wirtschaftliche Entwicklung anzubieten hat. Ein einfaches ökonomisches Rezept, das Wachstum garantieren würde, gibt es nicht.«3 Es gibt aber viele positive Zeichen, und die Auffassungen von Ökonomen zu ignorieren, wäre natürlich sehr kontraproduktiv und überheblich, zumal viele durchaus einräumen, kein einfaches Rezept zu haben. Dani Rodrik schreibt zurecht, dass den Ökonomen deutlich mehr Bescheidenheit und Bewusstsein ihrer Defizite guttäte. Ohne die Prinzipien der neoklassischen Analyse aufzugeben, stimmt er einen Lobgesang auf die Wirtschaftswissenschaften als eine Disziplin an, die die Bedeutung sorgfältiger empirischer Analysen betont, Staatseingriffen in die Wirtschaft positive Wirkungen zugesteht und stets Kontexte und lokale Realitäten mit ihren je eigenen Grenzen und Möglichkeiten berücksichtigt – ein Lobgesang, der für mich beinahe wie ein Plädoyer dafür klingt, die Disziplin in eine historische Wirtschaftswissenschaft zu verwandeln, in deren Rahmen Ökonomen ebenso viel von Historikern lernen können wie umgekehrt.4 Bislang nämlich ist es auffällig, dass Historiker in Publikationen über die Great Divergence bedauerlicherweise kaum theoretische Überlegungen von Ökonomen aufgreifen. Viele oder sogar die meisten Historiker scheinen ernsthafte Zweifel daran zu haben, dass ihnen die Wirtschaftswissenschaft als Disziplin mit eigener Denkweise weiterhelfen könnte. Nicht ohne Grund: Die meisten Ökonomen befassen sich mit Wachstum in der Regel tatsächlich bis heute auf einer so abstrakten und vor allem allgemeinen Ebene, dass man sich schwer vorstellen kann, wie sie ein konkretes historisches Phänomen wie die Great Divergence erklären könnten. Die gründliche Analyse eines einzigartigen Phänomens in der Vergangenheit, auch wenn es noch so bedeutend sein mag, ist nicht wirklich ihr Metier. Letztendlich ist aber niemandem damit gedient, wenn sich Historiker und Ökonomen gegenseitig ignorieren. Dieser Essay befasst sich in einer recht eigensinnigen, persönlichen und gewiss nicht erschöpfenden Weise damit, ob und wie die Wirtschaftswissenschaft zur Beantwortung der möglicherweise wichtigsten Frage der Wirtschaftsgeschichte beitragen kann und was Ökonomen ihrerseits von (globalen) Wirtschaftshistorikern lernen könnten. Was mich bei der Lektüre für dieses Buch verblüfft hat, ist, wie sehr sich die Herangehensweisen an das Thema und – überraschender noch – auch die Akzentsetzungen von Ökonomen einerseits und den meisten globalen 3 Clark, Farewell to Alms, 372–373. 4 Rodrik, One Economics, 3–6.

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(Wirtschafts-)Historikern andererseits unterscheiden. Oftmals scheinen sie geradezu Paralleluniversen zu entstammen, treffen Annahmen, die Vertreter der jeweils anderen Disziplin niemals treffen würden, und verfügen über ein Wissen, das der anderen Seite schlicht fehlt. Es soll in diesem Buch keine eigenständige These in Form einer definitiven monokausalen Erklärung oder einer Auswahl weniger Schlüsselvariablen vorgelegt werden. So etwas ist meines Erachtens gar nicht möglich. Selbst wenn es allgemeingültige Theorien gäbe, würden sie insofern nie uneingeschränkt auf besondere Fälle zutreffen, als sie sie niemals vollständig erfassen könnten. Das bedeutet, dass allgemeine Theorien des Wirtschaftswachstums – wenn es sie gäbe – die Great Divergence, so wie sie tatsächlich stattfand, nie vollständig erklären könnten. Bei historischen Erklärungen geht es immer um Logik im Kontext, also darum, Theorien auf spezifische Konstellationen anzuwenden und dann ihre Gültigkeit für diesen Kontext zu prüfen. Eine bestimmte Logik kann in unterschiedlichen Kontexten zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen. Eine gute historische Erklärung ist eine, die den besonderen Fall besser erfasst als andere Erklärungen. Eine gute sozialwissenschaftliche Theorie ist eine, die keine formalen Mängel aufweist und in der Praxis so viele idealtypische Fälle wie möglich abdeckt. Die Gegenüberstellung der Entwicklungen in diesen zwei lebendigen Wissenschaftszweigen – Wirtschaftswissenschaft und Globalgeschichte – wird für beide Seiten fruchtbar sein. Setzt man sich mit den Auffassungen von Ökonomen über die Ursachen von Wirtschaftswachstum auseinander, dann ist es naheliegend, sich zunächst ihre diesbezüglichen Aussagen über die klassischen Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital anzusehen. Das genügt jedoch nicht: Langfristig wird die bloße Addition von Inputs, gleich in welcher Kombination, zu sinkenden Erträgen führen. Anhaltendes Wachstum erfordert Veränderungen im Produktionsprozess, die ihn produktiver machen. Ein unter Ökonomen seit Langem bekanntes und im Werk von Smith zentrales Mittel zur Produktivitätssteigerung besteht darin, den Produktionsprozess in kleinere Teile zu zerlegen (Spezialisierung) und zugleich den Markt auszuweiten. Veränderungen in der Produktion werden heute weitgehend mit technologischem Wandel oder dem umfassenderen Konzept der Innovation gleichgesetzt. Innovation und selbst Wandel können aber nur dann zu strukturellen Charakteristika von Wirtschaft und Gesellschaft werden, wenn diese zugleich bestimmte institutionelle Eigenschaften aufweisen. Und diese werden wiederum vermutlich stark von der vorherrschenden Kultur der jeweiligen Gesellschaft geprägt sein. Wir werden deshalb kurz bilanzieren, wie Ökonomen den Beitrag der unterschiedlichen Produktionsfaktoren sowie von Innovation, Institutionen und Kultur zum modernen Wirtschaftswachstum gewichtet haben und welche Rolle Historiker ihnen für die Erklärung der Great Divergence beimessen.

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1. Boden, Ressourcen, Geografie

Beginnen wir unseren Überblick mit dem, was die klassische Ökonomie zusammenfassend für natürliche Bedingungen wie Lage oder Klima »Boden« nannte und was im Folgenden im weitesten Sinne des Wortes als »Geografie« bezeichnet wird. Ihre Bedeutung scheint auf der Hand zu liegen, doch in Wirklichkeit ist der Zusammenhang von Geografie und Reichtum keineswegs klar. In den Debatten von Ökonomen – und überraschenderweise auch Geografen – über wirtschaftliche Entwicklung sind Verweise auf die Geografie eher unpopulär, da man befürchtet, sich den Vorwurf des geografischen Determinismus einzuhandeln – ein Determinismus, der tatsächlich einige zu simple Erklärungen hervorgebracht hat.1 Geografische Faktoren zu berücksichtigen, muss jedoch nicht in Determinismus münden, und es wäre töricht, sie kurzerhand auszublenden.2 Geografie befasst sich unter anderem mit der Frage, warum etwas an einem bestimmten Ort geschieht. Wie wichtig dies ist, zeigt das Beispiel der Weltsystemtheorie, die sich ausschließlich auf die Mechanismen ihres Systems konzentriert, aber nicht erklären kann, warum Kern und Peripherie an ihrem jeweiligen Ort entstanden. Geografische Bedingungen können bestimmte Entwicklungen auslösen oder verstärken, Pfadabhängigkeit erzeugen sowie Konzentrations- und Agglomerationsprozesse und ihre Folgen erhellen. Besonders in der sogenannten neuen Wirtschaftsgeografie sind dies Themen lebhafter Debatten.3 Wenn Geografie in allgemeinen Debatten über wirtschaftliche Entwicklung auftaucht, dann meist in negativer Weise: als Erklärung dafür, warum kein Wachstum stattfand. »Schlechte« geografische Bedingungen wie mangelhafter Boden, ungünstige Lage (zum Beispiel kein Zugang zum Meer), nachteiliges Klima, Naturkatastrophen und Krankheiten, die allesamt die 1 So haben zum Beispiel der Ökonom Daron Acemoglu und der Politologe James Robinson geografische Erklärungen der Great Divergence kürzlich explizit zurückgewiesen. Warum Nationen scheitern, Kap. 2, 75–84. 2 Das sehen auch Acemoglu, Robinson und ihr Kollege Simon Johnson so. Clint Ballingers Ansicht, dass Entwicklungsstudien geografische Faktoren einbeziehen müssen, kann man nur beipflichten. Clint Ballinger, »Why Geographic Factors are Necessary in Development Studies«, http://philosophyofscience.webstarts.com/working_papers.html. 3 Eine sehr nützliche allgemeine Einführung bietet Braun/Schulz, Wirtschaftsgeographie.

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wirtschaftliche Entwicklung hemmen und Wachstumsschranken darstellen, werden oft angeführt.4 Sie können tatsächlich häufig erklären, warum Nationen arm sind. Jeffrey Sachs zum Beispiel, einer der wichtigsten Ökonomen der Gegenwart, weist darauf hin, dass die große Mehrheit der ärmsten Länder in den Tropen liegt, also dem Gebiet zwischen nördlichem und südlichem Wendekreis. Die reichsten Länder befinden sich dagegen überwiegend in den gemäßigten Zonen. Ein präziseres Bild dieser geografischen Trennlinie ergibt sich, wenn man die tropischen Regionen nicht durch Breitengrade, sondern Klima definiert. Geografie, so Sachs, sei wichtig, weil sie Transportkosten, die Verbreitung von Krankheiten und die landwirtschaftliche Produktivität beeinflusse. Das alles klingt recht überzeugend.5 Man muss sich jedoch vor Determinismus hüten. Es lassen sich nämlich mühelos Gegenbeispiele finden. Die Niederlande waren in ihrem »goldenen« 17. Jahrhundert in vieler Hinsicht nicht gerade von der Natur gesegnet. Ebenso könnte man Japan oder die Schweiz anführen – Länder, die sehr reich wurden, obwohl die Natur prima facie eine Herausforderung und keinen Vorteil für sie darstellte, und denen zum Zeitpunkt des britischen Take-offs Armut und düstere Aussichten bescheinigt wurden. Für Japan galt dies mindestens bis zur Meiji-Restauration; die Schweiz, wenig später eines der reichsten Länder der Welt, wurde noch 1815 von dem schottischen Kaufmann, Statistiker und Politiker Patrick Colquhoun (1745–1820) als ein Land beschrieben, in dem »die starke Bevölkerung, die Unzulänglichkeit der Nahrungsmittel und die wenigen Hilfsquellen zu vorteilhaften Beschäftigungen vieles Elend erzeugen, und man sich nicht anders helfen kann, als dass man in Länder auswandert, die keine helvetischen Kolonien sind, und also die Arbeit der Ausgewanderten dem Mutterlande verloren geht«.6 Dass sich natürliche Reichtümer positiv auf den Wohlstand einer Nation auswirken, scheint selbstverständlich zu sein. So wird in historischen Darstellungen der Industrialisierung stets auf die Bedeutung der Verfügbarkeit von Kohle und Eisenerz verwiesen. Dies bestimmte ohne Zweifel den Ort vieler früher Industrieansiedlungen in Europa.7 Allgemein scheint es auf 4 Vgl. insbesondere Publikationen von Jeffrey Sachs, Andrew D. Mellinger, John L. Gallup und Paul Krugman. Zahlreiche Verweise auf ihre Arbeit und andere relevante Literatur zum Thema finden sich in Ballinger, »Geographic Factors«, White, Understanding Economic Development, Kap. 5 und 6, sowie auf den Webseiten der genannten vier Wissenschaftler. 5 Vgl. Sachs/Mellinger/Gallup, »Geography of Poverty«. Der Titel ist tatsächlich sehr passend: Man erfährt viel über Geografie und Armut, aber kaum etwas über Geografie und Wachstum. 6 Colquhoun, Ueber den Wohlstand. 7 Vgl. bspw. Pollard, Peaceful Conquest, Karten 1 und 2, XIV, XV, und natürlich, wie weiter unten erörtert wird, Pomeranz, Great Divergence.

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der Hand zu liegen, dass Reichtum an Rohstoffen ein Glücksfall ist und ein Land den ihm daraus erwachsenden komparativen Vorteil nutzen kann, indem es exportiert und die Erlöse zur Finanzierung von Entwicklung verwendet. Genau dies besagt die auf den Fall Kanada gestützte staples thesis von Harold Innis (1894–1952), derzufolge Rohstoffexport nachhaltiges Wirtschaftswachstum auslösen kann.8 Die meisten Vertreter der vorherrschenden Wirtschaftslehre sehen seit langer Zeit eine gute Strategie für rohstoffreiche Länder darin, ihre Ressourcen auszubeuten und zu exportieren. Auf diese Weise könnten sie ihren komparativen Vorteil im Handel ausnutzen, eine Win-win-Situation für alle Beteiligten erzeugen und sich die benötigten Investitionsmittel verschaffen. In der staples thesis und ähnlichen Ansätzen gelten Produktion und Export von Primärgütern als eine sinnvolle Option für rohstoffreiche Länder, die namentlich dann als Sprungbrett zu Wohlstand und Wachstum dienen kann, wenn das betreffende Land zugleich über ein großes Arbeitskräfteangebot verfügt, das die Löhne niedrig hält, in Kapitalgüter investiert,9 und, wie viele Ökonomen hinzufügen würden, nicht einen zu großen Teil seiner Exporterlöse auf den Import von Konsumgütern verwendet. Die Alternative dazu bestünde darin, sich auf die Stärkung und Erweiterung des Wachstumspotenzials der Binnenökonomie zu konzentrieren. Doch so widersinnig es scheinen mag, natürliche Reichtümer sind keineswegs eine Gewähr für Wohlstand. Aus einer Reihe von Gründen deuten sie häufig gerade nicht auf künftigen Reichtum hin. In den Worten des Historikers Gavin Wright: »Es gibt kein ehernes Gesetz, wonach Reichtum an natürlichen Ressourcen einer Nation zu industrieller Stärke verhilft.«10 Im Gegenteil: Für die Phase circa seit dem Zweiten Weltkrieg ist statistisch belegt, dass Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen stärker von Ressourcen abhängen als reiche Volkswirtschaften.11 Dies scheint auch für frühere Perioden einschließlich der Zeit der Great Divergence, über die uns natürlich weniger Daten vorliegen, verallgemeinerbar zu sein.12 Derart viele arme und unterentwickelte Länder exportieren vorwiegend Rohstoffe, dass es doch 8 Vgl. den Eintrag »Harold Innis« in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12. 10. 2012]. 9 Vgl. zu dieser These bspw. Findlay/O’Rourke, Power and Plenty, Kap. 7, das auf Gedanken von W.A. Lewis aufbaut, sowie Barbier, Scarcity and Frontiers, Stichworte »Resource-based Development« und »Resource-dependent Development«. Es wird davon ausgegangen, dass Investitionen in Kapitalgüter in armen Ländern, die nur einen relativ kleinen Kapitalstock haben, mehr Wert hinzusetzen als in reichen Ländern mit einem großen Kapitalstock und sie so das wirtschaftliche Aufholen fördern. 10 Wright, »American Industrial Success«, 666. 11 Barbier, Scarcity and Frontiers, 583–585. Ressourcenabhängigkeit bemisst sich am Anteil von Primärgütern am gesamten Warenexport (vgl. ebd., 583). 12 Vgl. Williamson, Trade and Poverty.

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sehr optimistisch wäre, darauf zu vertrauen, langfristig werde auf diese Weise Wohlstand entstehen. Es gibt umfangreiche Wirtschaftsliteratur über den sogenannten »Fluch der Rohstoffe« – als ein Sonderfall gilt dabei die »holländische Krankheit« –, die einen oftmals negativen Zusammenhang zwischen Reichtum an (bestimmten) Naturressourcen und Wachstum behauptet und analysiert.13 Dieser Effekt kann auch beim Import von Ressourcen auftreten. Ein recht eigentümliches Beispiel dafür ist die Iberische Halbinsel: Spanien und Portugal importierten in der Frühen Neuzeit günstig gewaltige Mengen Edelmetalle aus Nord- und Südamerika, was ihnen aber kein substanzielles Wirtschaftswachstum einbrachte, sondern unter anderem durch Inflationseffekte sogar zu einem Wachstumshindernis wurde. Spanier und Portugiesen richteten ihre Aufmerksamkeit auf die (an Edelmetallen) »reichen« Regionen Mittel- und Südamerikas, weil sie ein müheloses Einkommen abwarfen. Das machte sie zwar am Ende nicht reich, hatte aber zusammen mit einer allgemeinen Ausbeutung zur Folge, dass die von ihnen beherrschten rohstoffreichen Regionen verarmten. Auch die karibischen Inseln wurden von westeuropäischen Plantagenbesitzern ausgebeutet, weil sie die Gelegenheit für enorme Gewinne boten. In diesen Fällen erwies sich Rohstoffreichtum als ein Fluch, der erheblich zur Unterentwicklung der betroffenen Regionen beigetragen haben könnte. Ärmere Teile Nord- und Südamerikas hatten dagegen das Glück, dass sie weniger unwillkommene Aufmerksamkeit auf sich zogen.14 In ähnlicher Weise kam bestimmten Teilen Afrikas vermutlich ihre unwirtliche, spröde Natur insofern zugute, als sie Sklavenjäger und Eroberer fernhielt.15 Schon immer eine wichtige Rolle gespielt hat die These vom »Fluch der Rohstoffe« in der Dependenztheorie und später in der Weltsystemanalyse, denen zufolge stark vom Rohstoffexport abhängige Länder meistens verar13 Vgl. bspw. Jeffrey Sachs/Andrew Warner, »Natural Resource Abundance and Economic Growth«, Harvard Institute for International Development, Discussion Paper 517a (Oktober 1995); dies, »Curse of Natural Resources«, und Wick/Bulte, »Curse of Natural Resources«. Viele Literaturhinweise bietet Williamson, Trade and Poverty, 183–184. Der Ausdruck »Fluch der Rohstoffe« entstammt höchstwahrscheinlich Auty, Development in Mineral Economies. In der Wirtschaftswissenschaft bezeichnet der Begriff »holländische Krankheit« die Beziehung zwischen der zunehmenden Ausbeutung natürlicher Ressourcen und dem Niedergang des produzierenden Gewerbes. Der Mechanismus besteht darin, dass die Steigerung der Einnahmen aus natürlichen Ressourcen (oder ein Zustrom ausländischer Hilfsgelder) die Währung einer Nation stärkt (wie sich im Wechselkurs zeigt), wodurch sich ihre anderen Exporte verteuern und das produzierende Gewerbe an Wettbewerbsfähigkeit verliert. Der Begriff wurde 1977 von der Zeitschrift The Economist geprägt. Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Dutch_disease. 14 Diese These einer »Schicksalswende« vertreten zum Beispiel Acemoglu, Johnson und Robertson sowie Engerman und Sokoloff. 15 Nunn/Puga, »Blessing of Bad Geography«.

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men und in eine Entwicklungsfalle geraten. Dies steht aus ihrer Perspektive in direktem Zusammenhang mit der Existenz einer globalen Arbeitsteilung, in der reiche Länder Rohstoffe eher importieren als exportieren, sowie mit spezifischen Machtbeziehungen in den rohstoffexportierenden Ländern selbst und auf internationaler Ebene.16 Auf Rohstoffexporte spezialisierte Länder tendieren laut der Dependenztheorie und verwandten Ansätzen zur Ausbildung einer dualen Ökonomie, da ihr Exportsektor von der übrigen Wirtschaft isoliert bleibe und keine positiven Verkettungseffekte zeitige.17 Anstatt eine integrierte Wirtschaft zu entwickeln, blieben sie daher in puncto Warenabsatz, Finanzwesen und Wissen von ausländischen Märkten abhängig. Die Kontrolle des Exportsektors durch eine kleine reiche Elite, die den Arbeitern niedrige Löhne zahle, behindere die Entstehung eines Binnenmarkts und die technologische Entwicklung. Solche Eliten erzielen den Dependenztheoretikern zufolge immense Renten und stehen sozialem Wandel und Innovation ablehnend gegenüber. Die steigende Nachfrage nach Rohstoffen – zum Beispiel nach Mineralien, deren Abbau wenig Arbeit erfordert und leicht von der übrigen Wirtschaft isoliert werden kann – verschaffe ihnen sehr hohe Einkommen bzw. Renten, mit denen sie wiederum ihre Position und die Rohstoffökonomie festigen können, sodass ein Teufelskreis entstehe – eine »zirkuläre kumulative Verursachung«, die nicht etwa, wie die neoklassische Lehre unterstellt, zu einem Gleichgewicht, sondern zu wachsenden Ungleichheiten und Armut führe.18 Vertreter dieses Ansatzes gehen davon aus, dass ein struktureller Verfall der Terms of Trade für Primärgüter die Ursache für das weit unterdurchschnittliche Gesamteinkommen solcher Länder sei. Dieser Gedanke stützt sich stark auf die Arbeit der Ökonomen Raúl Prebisch (1901–1986) und Hans Wolfgang Singer (1910–2006), die für die Periode 1870–1940, auf die sich ihre empirische Forschung konzentrierte, einen solchen Verfall behaupteten.19 Dieser konkrete Befund wurde jedoch häufig als Illustration eines allgemeinen Mechanismus dargestellt, der alle überwiegend Primärgüter exportierenden Länder treffe. Die Spezialisierung auf Ausbeutung und Export 16 Vgl. den Eintrag »Dependency Theory« in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12. 10. 2012]. 17 Verkettungseffekte geben an, inwieweit sich wirtschaftliche Aktivitäten eines Sektors auf andere Sektoren auswirken. Generell wird unterschieden zwischen Vorwärtsverknüpfungen (forward linkages), die die Effekte der Output-Verwendung aufzeigen und Rückwärtsverknüpfungen (backward linkages), die die Effekte der Input-Beschaffung bezeichnen. 18 Der Begriff »zirkuläre kumulative Verursachung« geht auf den schwedischen Ökonomen Karl Gunnar Myrdal (1898–1987) zurück. Acemoglus und Robinsons »Teufelskreise« (und »Tugendkreise«) erinnern stark an diesen Gedanken. 19 Zu ihrem Leben und Werk, vgl. den Eintrag »Prebisch Thesis« in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12. 10. 2012].

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von Rohstoffen gilt in der Dependenztheorie folglich als eine Sackgasse, deren Ergebnis Unterentwicklung sei. Vertreter beider Thesen – der staples thesis und der Dependenztheorie – können Beispiele anführen, die ihre Position untermauern. Beispiele für reiche und sich entwickelnde Primärgüterexporteure im 19. Jahrhundert sind Kanada, der Norden der Vereinigten Staaten, Neuseeland, Australien und Argentinien.20 Auch Großbritannien, die erste Industrienation der Welt, exportierte lange Zeit Wolle und noch in den 1770er Jahren Weizen. In Lateinamerika, Afrika und Teilen Asiens blieben viele Primärgüterexporteure dagegen arm und unterentwickelt. Wie haltbar oder unhaltbar sie im Einzelnen sein mag, die Dependenztheorie zwang die vorherrschende Wirtschaftslehre zur Auseinandersetzung mit dem bemerkenswerten Phänomen, dass sich in der Weltwirtschaft des 19. und 20. Jahrhunderts bei insgesamt zunehmenden Handelsbeziehungen eine insgesamt zunehmende Kluft auftat. Laut deren Prognose nämlich hätte vielmehr eine Angleichung stattfinden müssen: Die Wachstumsraten entwickelter Länder, die bereits sehr hohe Kapitalinputs haben und folglich mit sinkenden Erträgen konfrontiert sind, verlangsamen sich demnach, während sie in ärmeren Ländern deutlich steigen, da diese ihren noch geringen Kapitalstock mithilfe des Investitionskapitals, das auf der Suche nach höheren Gewinnen aus den reichen Ländern einströmt, auf den neuesten Stand bringen können. Der Gedanke, dass arme Länder hohe Wachstumsraten erzielen und aufholen können, sofern sie über ausreichend Kapital verfügen und eine Reihe weiterer Voraussetzungen erfüllen, ist unter Ökonomen seit Langem und im Kern bis heute verbreitet und klingt durchaus logisch. Das Problem besteht jedoch darin, dass Armutsbekämpfung offenbar mehr erfordert als nur Investitionen. Die Frage, warum derart viele rohstoffabhängige Länder derart arm und unterentwickelt geblieben sind und was dies mit dem Charakter ihrer Exportgüter zu tun haben könnte, hat ihre Dringlichkeit nie verloren; sie wird von Ökonomen bis heute diskutiert. In aktuellen Debatten über den »Fluch der Rohstoffe« und die damit verbundene Frage, welche Vor- und Nachteile eine Spezialisierung gemäß komparativer Vorteile hat, lassen sich zwei Positionen ausmachen. Die erweiterte Prebisch/Singer-These von einem strukturellen Verfall der Terms of Trade aller Primärgüter würde heute kaum noch ein Ökonom verteidigen. Empirische Untersuchungen darüber sind je nach Zeitpunkt, Ort und Produkt zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gelangt.21 Die Deindustrialisierung von Regionen, die zur armen Peripherie 20 Zum Reichtum dieser Länder, vgl. Maddison, World Economy, 185, 195. 21 Dieser Absatz folgt Williamson, Trade and Poverty, 52, 191, 196ff. Dass die Terms of Trade von Primärgüter produzierenden Ländern keinen strukturellen Verfall erlebten, zeigen Allen, Global Economic History, 127–128, und die Zahlen, auf die dort verwiesen

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(und später zur Dritten Welt) wurden, erfolgte überwiegend vor 1870, also in einer Phase, als sich die Terms of Trade für sie verbesserten – von 1800 bis 1860 um jährlich 1,4 Prozent. Für die Phase 1870–1939, die Prebisch und Singer untersucht und ihrer These zugrunde gelegt haben, scheint der viel beklagte Zusammenhang von Primärgüterproduktion und Niedergang der Terms of Trade zweifelhaft. Zumindest ist es voreilig, von einem langfristigen Niedergang der Terms of Trade der Dritten Welt zu sprechen. In Lateinamerika, vor allem in Mexiko und Brasilien, fand vor 1913 eine gewisse industrielle Entwicklung statt. Nicht alle Warenpreise sanken damals. Was zunehmend problematisch wurde, waren ihre erheblichen Schwankungen, die die Exportgüter der Peripherie wesentlich stärker betrafen als die der Kernländer. Vielen peripheren Ökonomien bereitete dies aufgrund ihrer extremen Spezialisierung erhebliche Schwierigkeiten. Im Lauf der Zeit änderte sich die Situation jedoch. Seit dem Koreakrieg (1950–1953) lässt sich bei den Terms of Trade für Primärprodukte überhaupt kein klarer Trend mehr ausmachen. Und seit 1970 ist die Dritte Welt nicht länger eine Region, die nur Primärprodukte erzeugt. 1970 machten Fertigerzeugnisse 17 Prozent der Exporte der Dritte-Welt-Länder aus. 1998 waren es bereits 64 Prozent, und heute liegt dieser Wert noch höher.22 Viele Dritte-Welt-Länder haben in der jüngeren Vergangenheit eine arbeitsintensive Industrialisierung durchlaufen. Der Kontrast zwischen Rohstoff- und Arbeitskräftereichtum verlor erheblich an Bedeutung und der Gegensatz in der globalen Arbeitsteilung zwischen entwickelten Ländern, die Industriegüter exportieren, und Entwicklungs- oder Schwellenländern, die Primärgüter exportieren, erheblich an Trennschärfe. Auf die Bedeutung der Terms of Trade und die Diskussionen darüber werden wir später zurückkommen. Diese Befunde haben eine zentrale Grundannahme der Dependenztheorie und ähnlicher Ansätze widerlegt. Das heißt indessen nicht, dass es für die wirtschaftliche Entwicklung gleichgültig wäre, welche Güter hergestellt werden, und dies bringt uns zur zweiten der beiden hier zu unterscheidenden Positionen. Eine wachsende Zahl von Ökonomen sieht im spezifischen Charakter der von vielen armen Ländern produzierten Güter eine wichtige Ursache ihrer Armut – allerdings nicht wegen ungünstiger Terms of Trade, sondern aufgrund der Tatsache, dass ihre Preise so volatil sind,23 und vor allem, weil ihre Herstellung kaum wachstumsfördernde Effekte hat. Ebenso weisen werden, Bairoch, Myths and Paradoxes, Kap. 10, und Findlay/O’Rourke, Power and Plenty, 424–425. 22 Zu den Zahlen für 1970 und 1998, vgl. Martin, »Developing Countries in World Trade«, und ders., »Outgrowing Resource Dependence«. Der Rest dieses Absatzes folgt Williamson, Trade and Poverty. 23 Zu dieser extremen Volatilität und ihren möglichen Folgen, vgl. Williamson, Trade and Poverty, Kap. 10.

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immer mehr Wissenschaftler die sogenannte Gleichheitsannahme zurück, nach der alle wirtschaftlichen Tätigkeiten qualitativ gleichwertig sind, und behaupten stattdessen, dass es für wirtschaftliche Entwicklung und Wachstum nicht unerheblich sei, was produziert werde: Entwicklung und Wachstum hängen demnach von bestimmten Tätigkeiten ab. Nicht alle Spezialisierungen haben dasselbe Potenzial.24 Wie der Wirtschaftshistoriker David Landes formuliert, sind »manche Tätigkeiten gewinnträchtiger und produktiver als andere […] (Ein Dollar ist kein Dollar ist kein Dollar.) Sie erfordern und bringen größeren Nutzen, binnen- und außenwirtschaftlich.«25 Was damit gemeint ist, zeigt die folgende Rangliste des Wirtschaftswissenschaftlers Erik Reinert (Tab. 23). Tab. 23: Der Qualitätsindex wirtschaftlicher Tätigkeiten Innovationen Neue Technologien

Eigenschaften hochqualitativer Tätigkeiten

Dynamischer, unvollkommener Wettbewerb (hochqualitative Tätigkeit)

Neues Wissen mit hohem Marktwert Steile Lernkurven Hohes Produktionswachstum Schneller technologischer Fortschritt Großer Beitrag von Forschung und Entwicklung Erfordert und erzeugt Lernen durch Praxis Imperfekte Informationen Umfangreiche Investitionen, die man nicht aufteilen kann Unvollkommener, aber dynamischer Wettbewerb Hohes Lohnniveau Chancen auf hohe Skalenerträge und Verbundeffekte Hohe Industrieballung Hohe Einsätze: Hohe Zugangs- und Austrittsbeschränkungen Markenartikel Herstellung von Verknüpfungen und Synergien Produktinnovationen Grundlegende neo-klassische Annahmen sind irrelevant

24 Der Ausdruck »Gleichheitsannahme« geht zurück auf Buchanan, What Should Economists Do?, 231ff. Eine ausführliche Erläuterung bieten Reinert, »Uneven Growth«, und ders., How Rich Countries Got Rich, bspw. Kap. 4. Vgl. auch Landes, Wohlstand und Armut, Stichwort »komparativer Vorteil«. 25 Landes, Wohlstand und Armut, 523.

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Innovationen Neue Technologien

Eigenschaften minderwertiger Aktivitäten

Perfekte Konkurrenz (minderwertige Aktivität)

Altes Wissen mit wenig Marktwert Flache Lernkurven Niedriges Produktionswachstum Geringer technologischer Fortschritt Geringer Beitrag von Forschung und Entwicklung Privates oder institutionelles Lernen kaum nötig Perfekte Informationen Teilbare Investitionen Vollkommener Wettbewerb Niedriges Lohnniveau Niedrige oder keine Skalenerträge / Risiko abnehmender Erträge Verteilte Industrie Niedrige Einsätze: Niedrige Zugangs- und Austrittsbeschränkungen Einfache Gebrauchsgegenstände Wenig Verknüpfungen, Synergien und Verfahrenserneuerungen wenn überhaupt Neo-klassische Annahmen treffen in hohem Maße zu

Quelle: Reinert, How Rich Countries Got Rich, 317.

Bestimmte Bereiche (städtische Industrie und moderner Dienstleistungssektor) haben mehr Potenzial zur Kostensenkung und Produktivitätssteigerung als andere (traditionelle Landwirtschaft und Dienstleistungen). Sie scheinen insgesamt höhere Skalenerträge als traditionelle Sektoren zu erzielen und in der Regel stärker von unterschiedlichen Agglomerationseffekten zu profitieren. Vor allem der Industrie kommt daher eindeutig die Rolle eines Wachstumsmotors zu, insbesondere wenn sie in urbanen Clustern konzentriert ist, die Agglomerationseffekte begünstigen, zunehmende Qualifizierung erfordern und fördern, effizientere Märkte bieten sowie Wissensproduktion und -transfer erleichtern. Städtische Umgebungen sind, um diesen Gedanken und seine Implikationen etwas weiter zu fassen, innovationsfördernder als das Land. Räumliche Nähe und direkte Kontakte steigern die Produktivität offenbar in einem Maß, das die höheren Lebenshaltungskosten in der Stadt mehr als ausgleicht. Insbesondere komplexere und vielfältige Städte können dauerhaft zu wirtschaftlichen Zentren werden.26 Län26 Vgl. zu dieser These Glaeser, Triumph of the City; Hall, Cities in Civilization; Jacobs, Economy of Cities; dies., Cities and the Wealth of Nations; Polèse, Wealth & Poverty of Regions. Unterschiedliche Agglomerationseffekte werden dort auf S. 33–49 kurz erörtert.

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der ohne eine starke und sich entwickelnde Industrie werden tendenziell zurückfallen. Wallerstein bemerkt dazu treffend: »Da eine kapitalistische Weltwirtschaft im Wesentlichen akkumuliertes Kapital, inklusive menschliches Kapital, höher belohnt als ›rohe‹ Arbeitskraft, hat die ungünstige geografische Verteilung der anspruchsvollen Tätigkeiten einen starken Trend, sich selbst zu erhalten. Dies wird von den Kräften eines Marktplatzes eher verstärkt als unterminiert.«27 Welche Ursachen und Folgen es hat, wenn sich ein Land auf Produktion und Export von Primärgütern spezialisiert, wird weiter unten, wenn wir den wachsenden Rückstand der Dritten Welt erklären, eingehender im Hinblick auf die Great Divergence erörtert.28 Worum es dabei geht, lässt sich wiederum durch einen Verweis auf Reinert verdeutlichen (Tab. 24). Tab. 24: Gute und schlechte Exporttätigkeiten Gute Exporttätigkeiten

Schlechte Exporttätigkeiten

Steigende Erträge

Sinkende Erträge

Dynamische unvollkommene Marktbedingungen

Vollkommene Marktbedingungen

Stabile Preise

Extreme Preisschwankungen

Meist qualifizierte Arbeitskräfte

Meist unqualifizierte Arbeitskräfte

Schafft eine Mittelklasse

Schafft eine ›feudale‹ Klassenstruktur

Starre Löhne

Flexible Löhne

Technologischer Wandel führt zu höheren Löhnen für den Hersteller (›Fordistisches Lohnmodell‹)

Technologischer Wandel führt zu niedrigeren Löhnen für den Hersteller

Schaffen große Synergien

Schaffen wenige Synergien

Quelle: Reinert, How Rich Countries Got Rich, 151.

Viele Ökonomen sind heute zwar der Überzeugung, dass die Art der Exportgüter als solche zweifellos starke Auswirkungen auf das Entwicklungspotenzial einer Ökonomie haben kann, doch die meisten von ihnen würden dabei den Gesamtkontext der Exporte und die Entwicklungen außerhalb des Exportsektors berücksichtigen. In jedem Fall würden sie dazu raten, sich nicht weiterhin gemäß statischer, auf der Faktorausstattung beruhender »kompaZu Saskia Sassens bekannter These über die grundlegende Bedeutung von Global Cities für die Wirtschaftsentwicklung, vgl. ihr Buch The Global City. Einige interessante allgemeine Bemerkungen macht Warsh, Knowledge and Wealth, 245–247, 306–308, 318–321. 27 Wallerstein, Das moderne Weltsystem, Bd. 1, 521. 28 Vgl. Teil 2, Kap. 15.

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rativer Vorteile« zu spezialisieren, sondern zu versuchen, dynamische »Wettbewerbsvorteile« wie von Michael E. Porter definiert zu schaffen.29 Geografie gilt hier selten als Schicksal. Institutionen und andere Variablen spielen wie in differenzierteren Spielarten dependenztheoretischen Denkens eine wichtige Rolle. Eine bestimmte Hervorhebung der Geografie lässt sich vielleicht am ehesten als neomalthusianisch bezeichnen. Angesichts des deutlichen Wachstums des weltweiten Konsums fragen sich immer mehr Ökonomen, ob begrenzte Ressourcen nicht erneut, wie von Malthus behauptet, eine Wachstumsschranke werden könnten. Vor diesem Hintergrund sind breit gefächerte und erbitterte Debatten über die Grenzen des Wachstums und Nachhaltigkeit aufgeflammt. Nicht zufällig befasste sich Jared Diamond nach seinem hochgelobten Buch Arm und Reich, das hauptsächlich Wachstum und Entwicklung behandelt, im Folgeband Kollaps damit, wie Ressourcen verschwendet werden und die Umwelt geschädigt oder sogar völlig zerstört wird.30 Diese Debatten über mögliche Grenzen des uns vertrauten Wachstums könnten auch für das Studium seiner Entstehung relevant sein. Das gilt ebenso für neoricardianische Analysen der Rentenabschöpfung durch Ressourceneigentümer. Der allgemeine Zusammenhang zwischen Ressourcen und Wirtschaftswachstum ist offenbar weniger klar, als man meinen könnte. Das ist im Übrigen keine neue Erkenntnis. Bereits in der frühen Neuzeit war der Gedanke, dass Ressourcen leicht zu einem Fluch werden können, zumindest unter europäischen Autoren, die wir heute als Merkantilisten bezeichnen würden – und die es meines Erachtens nur in Europa gab –, weit verbreitet. In ihren Augen, so Reinert, schien der »Reichtum einer Nation – paradoxerweise – in umgekehrtem Verhältnis zu ihren natürlichen Reichtümern zu stehen«. Reinert weist darauf hin, dass sich »in Europa der Gedanke verbreitete, die wirklichen Goldminen seien nicht die handgreiflich gegebenen, sondern die Industrie«.31 In der damaligen Literatur findet man immer wieder Hinweise auf die Armut Spaniens und den Wohlstand von Ländern oder Städten, die über keine Gold- und Silberminen verfügten. Selbst ein englischer Dichter kam bereits 1651 auf den Gedanken, dass die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen wie Kohle mindestens genauso wichtig sein könnte wie die Anhäufung von Edelmetallen: »England’s a perfect world, has Indies too; Correct your maps, Newcastle is Peru.«32 29 Vgl. etwa Porter, Competitive Advantage of Nations. 30 Diamond, Arm und Reich; ders., Kollaps. 31 Reinert, How Rich Countries Got Rich, 77, 86. Eine allgemeine Erörterung unternimmt er in Kap. 3. 32 Cleveland, Poems, 10.

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Was wir im vorliegenden Buch erörtern, ist jedoch nicht die Entstehung von Wirtschaftswachstum schlechthin, sondern von modernem Wirtschaftswachstum. Das hat erhebliche Implikationen für unsere Analysen. Auch wenn die Technik seit der Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums noch immer die Natur bezwingen und Knappheitsprobleme lösen konnte – und selbst wenn sie dies wahrscheinlich auch künftig tun wird33 –, steht außer Frage, dass die Geografie im weitesten Sinn des Wortes jeglicher Art von Wachstum Grenzen setzen kann und insofern eine notwendige Bedingung modernen Wirtschaftswachstums darstellt. Sie kann es zweifellos erleichtern, ermöglichen oder sogar hervorrufen. Es ist jedoch schwer einzusehen, wie sie seine hinreichende Bedingung sein könnte. Ein Land kann sicherlich von geografischen Vorteilen profitieren, aber während Geografie per se statisch oder nahezu statisch ist, ist modernes Wirtschaftswachstum nachhaltig und wird stark mit Wandel und Innovation identifiziert.

33 Ridley, Wenn Ideen Sex haben, insbesondere Kapitel 9–11.

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Teil 1: Moderne Wirtschaftswissenschaft und Theorien des Wachstums

2. Die Auswirkungen der Größe des Arbeitskräfteangebots

Der zweite Produktionsfaktor, der als Wachstumsmotor in Betracht kommt, ist die Arbeitskraft. Ihre Bedeutung ist unter Ökonomen stark umstritten. Nähern wir uns diesen Debatten, indem wir die Frage direkt und in quantitativen Begriffen stellen: Fördert ein großes und wachsendes Arbeitskräfteangebot das Wachstum eher als ein kleines und sinkendes? Der Einfachheit halber werde ich zwei Extrempositionen gegenüberstellen. Die erste soll nach der dänischen Wirtschaftswissenschaftlerin Ester Boserup (1910–1999) »boserupianisch«, die zweite nach dem britischen Geistlichen und Ökonomen Thomas Malthus »malthusianisch« heißen. Boserup hob eher die positiven Anreize und Effekte von Bevölkerungswachstum hervor – mit der Bevölkerung nimmt ihr zufolge auch der Innovationsdruck zu.1 Obwohl sie sich in ihrem Werk auf die landwirtschaftliche Entwicklung konzentrierte und nie behauptete, Bevölkerungswachstum werde insgesamt Wirtschaftswachstum bewirken, war sie der Überzeugung: »Notwendigkeit ist die Mutter der Erfindung.« Boserup glaubte fest daran, dass die Menschheit immer einen Ausweg finden würde, und wird mit den Worten zitiert: »Die Stärke des Erfindungsreichtums wird stets die der Nachfrage übertreffen.«2 Bevölkerungswachstum kann Innovationen vermittels mehrerer Mechanismen auf der Angebotsseite fördern: Es bedeutet mehr Köpfe, erleichtert und intensiviert Kommunikation und Austausch und ermöglicht eine stärkere Arbeitsteilung. Auch auf der Nachfrageseite kann es Innovationsanreize schaffen, da es in der Regel höhere Preise, größere Absatzmärkte und die Möglichkeit zur Ausnutzung von Skaleneffekten mit sich bringt. In einem städtischen Umfeld sind all diese Effekte meist stärker. Viele Vertreter der »neuen Wachstumstheorie«, die an endogenes Wachstum glauben, haben unterschiedliche mögliche Zusammenhänge zwischen Bevölkerungswachstum und -dichte und Wirtschaftswachstum herausgearbeitet.3 Sie sind an sich nicht neu. Bereits William Petty (1623–1687), weithin als Begründer der politischen Ökonomie bekannt, schrieb: »Es ist wahr1 Ihr bekanntestes Buch ist Boserup, Conditions of Agricultural Growth. Vgl. auch dies., Population and Technological Change. 2 Zitiert nach dem Wikipedia-Eintrag über sie. 3 Vgl. zu diesem Begriff Anm. 12, S. 126.

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scheinlicher, dass sich ein erfinderischer wissbegieriger Mann unter vier Millionen Menschen findet als unter vierhundert Menschen.«4 Als moderne Ökonomen, die solche Auffassungen vertreten, seien hier nur Oded Galor, Charles I. Jones, Michael Kremer, Matt Ridley und Julian Lincoln Simon erwähnt.5 Der Ökonom und Historiker Gregory Clark wäre ebenfalls ein Beispiel. Eine größere Bevölkerung bewirkt ihnen zufolge außerdem Spezialisierung und Skaleneffekte bei der Produktion und dem Austausch von Ideen, was zu Synergien führen würde.6 Viele Ökonomen und Historiker würden diesem boserupianischen Ansatz nicht zustimmen und eher die malthusianische These vertreten, dass Bevölkerungswachstum nach einer gewissen anfänglichen Ertragssteigerung in der Regel zu sogenannter Überbevölkerung und so zu Ressourcenknappheit und anderen Problemen führt. Die potenziell positiven Effekte des Bevölkerungsdrucks werden dabei weitaus weniger beachtet als seine problematische Seite. Im Hinblick auf den Erfindungsreichtum behaupten Malthusianer, ein großes Arbeitskräfteangebot verbillige die Arbeit so sehr, dass die Notwendigkeit der Erfindung neuer Technologien und die Bereitschaft, in sie zu investieren, eher ab- als zunehme. Ein großes Arbeitskräfteangebot verbinden sie vielmehr mit Ressourcenknappheit und niedrigen Löhnen und dies wiederum mit »Grenzen« und »Schranken«, die »Involution« und unterschiedliche »Fallen« verursachen. Doch die Wirtschaftswissenschaft wäre nicht die Wirtschaftswissenschaft, würden nicht andere Ökonomen das exakte Gegenteil behaupten: Ein großes Arbeitskräfteangebot könne die Entwicklung durchaus fördern, nicht so sehr, weil es Innovationen notwendig mache und zugleich erleichtere, sondern – um es mit W. Arthur Lewis (1915–1991) zu formulieren – weil »ein unbegrenztes Angebot an Arbeitskräften« und niedrige Löhne Investitionen anziehen könnten.7 Lewis zufolge entwickelt sich ein »kapitalistischer« Sektor, indem er Arbeit aus einem nichtkapitalistischen, rückständigen »Subsis4 Warsh, Knowledge and Wealth, 309. 5 Vgl. Galor, Unified Growth Theory; Charles I. Jones, »Population and Ideas. A Theory of Endogenous Growth«, NBER Working Paper No. 6285, 1997; Kremer, »Population Growth«; Ridley, Wenn Ideen Sex haben, Kap. 1; Simon, Economics of Growth; ders., Great Breakthrough. 6 Wenn im vorliegenden Text von Skaleneffekten die Rede ist, sind sowohl Größenvorteile als auch Skalenerträge gemeint. Als Größenvorteile bezeichnet man die positive Beziehung zwischen der Größe und den Kosten einer Firma, d.h. die mit seiner zunehmenden Größe sinkenden durchschnittlichen Kosten, als Skalenerträge das Verhältnis zwischen Inputs und Outputs. Die Skalenerträge sind konstant, wenn der Output im selben Maß steigt wie sämtliche Inputs; sie sind rückläufig, wenn bspw. eine Verdoppelung der Inputs weniger als den doppelten Ouput bewirkt, und steigend, wenn sich die Outputs dadurch mehr als verdoppeln. 7 Lewis, »Economic Development«.

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tenzsektor« abzieht. In einem frühen Entwicklungsstadium könne er aufgrund des immensen Arbeitskräftereservoirs expandieren, ohne die Löhne erhöhen zu müssen. Dies führe zu höheren Gewinnen, die reinvestiert werden und so weitere Arbeitskräfte aus dem Subsistenzsektor anziehen. Sofern die Kapitalakkumulation keine qualifizierten Arbeitskräfte aus der Produktion verdrängt, wird dieser Prozess laut Lewis selbsttragend und führt zu Modernisierung und wirtschaftlicher Entwicklung. Sobald die überschüssige Arbeitskraft aus dem Subsistenzsektor vollständig vom modernen Sektor absorbiert worden sei, bewirke fortgesetzte Kapitalakkumulation einen Lohnanstieg, womit sich die Lage grundlegend ändere.8 Werden die Gewinne nicht reinvestiert, besteht tatsächlich ein erhebliches Risiko, dass sich eine duale Ökonomie herausbildet, deren unterentwickelter Teil nicht aufholt, sondern zu einem armen Anhängsel wird – ein Szenario, dass viele an der Dependenz- und Weltsystemtheorie orientierte Wissenschaftler für das wahrscheinlichere halten. Lewis’ Thesen beziehen sich in erster Linie auf die Situation armer Länder, die wirtschaftlich aufzuholen versuchen, aber seine Annahme, dass niedrige Löhne höhere Gewinne und folglich mehr Investitionen ermöglichen und diese wiederum die Produktivität verbessern, lässt sich ohne Weiteres – wie oft geschehen – in eine allgemeine, universell anwendbare These verwandeln. Mokyr jedenfalls hält sie auch für die Industrialisierung Europas für gültig.9 Aber auch hier lässt sich ebenso die gegenteilige Behauptung vertreten, die je nach den Umständen zutreffen könnte: Nicht nur können Ökonomen argumentieren, dass ein großes (und billiges) Arbeitskräfteangebot Anreize zur Entwicklung arbeitssparender Innovationen eliminiert oder dass niedrige Löhne zu deren Finanzierung beitragen. Sie können darüber hinaus ins Feld führen, dass Arbeitskräftemangel und hohe Löhne ein Anreiz sind, nach arbeitssparenden Produktionsmethoden zu suchen. Viele Wissenschaftler haben dies auch getan. Wie wir später sehen werden, führt Robert Allen die Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums während der britischen Industrialisierung auf hohe Löhne zurück. Auch hier kommt es auf den Kontext an: Hohe Löhne können ebenso ein Anreiz sein, nicht zu investieren und die Produktion stattdessen an einem Niedriglohnstandort aufzubauen, wie viele Hochlohnländer in letzter Zeit bemerkt haben. Im Kern haben wir es hier mit zwei Argumentationslinien zu tun. Die eine geht von lohngetriebenen Ökonomien aus, deren hohe Löhne den Konsum und so das Binnenwachstum fördern, sofern Importe nicht zu viel Kaufkraft ab-

8 Vgl. den Eintrag »Arthur Lewis« in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12. 10. 2012]. 9 Mokyr, Dear Labor, cheap Labor

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sorbieren. Der anderen zufolge ermöglichen niedrige Löhne hohe Profite, insbesondere wenn es einen großen Auslandsmarkt gibt. Im Kontext dieser Diskussion über Faktorausstattung haben die schwedischen Ökonomen Eli Heckscher (1879–1952) und Bertil Ohlin (1899–1979) ausgehend von Ricardos Theorie komparativer Vorteile prognostiziert, dass relativ bevölkerungsarme und zugleich ressourcenreiche Länder auf Rohstoffexporte, Länder mit relativ großer, »billiger« Bevölkerung und wenig Ressourcen dagegen auf arbeitsintensive Produktion setzen würden. Die zweite Option, die für Länder wie China und Japan grundsätzlich geeignet wäre, werden wir später in unserer Analyse des ostasiatischen Industrialisierungswegs erörtern. Wie komplex und kontextabhängig die Kausalbeziehungen hier sind, lässt sich gut anhand der Tatsache illustrieren, dass für die beiden im Mittelpunkt unserer Analyse stehenden Länder vollkommen gegensätzliche Thesen über den Zusammenhang von Arbeitskräfteangebot, Lohnniveau und ökonomische Entwicklung vertreten worden sind. Im Falle Großbritanniens wird die Industrialisierung von einigen renommierten Wissenschaftlern auf hohe, von anderen dagegen auf niedrige Löhne zurückgeführt. Beides zugleich kann natürlich nicht zutreffen. Für China vertreten manche Wissenschaftler die These, eine Industrialisierung sei im 19. Jahrhundert aufgrund niedriger Löhne ausgeblieben, während ihr Eintreten im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ebenfalls durch niedrige Löhne erklärt wird. Beides kann zutreffen. Eine bestimmte Verknüpfung von Bevölkerungsgröße und Wirtschaftswachstum, die im vorliegenden Text nicht erörtert wird, aber wenigstens erwähnt werden muss, leistet die Theorie der »demografischen Dividende«, derzufolge eine Volkswirtschaft von der spezifischen Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung profitieren könne. Ihre Vertreter beziehen sich in der Regel auf eine Situation, in der die Gesamtbevölkerung wächst, weiterhin viele junge Menschen zur Verfügung stehen und die Erwerbsquote hoch ist, die Zahl der Kinder jedoch abnimmt. Kennzeichnend für eine solche Situation sei ein niedriger Anteil wirtschaftlich abhängiger Personen, der mehr Spielraum für Investitionen in das Humankapital schaffe.10 Diese Fragen wurden bereits in der frühen Neuzeit diskutiert. Insgesamt herrschte in vorindustriellen Gesellschaften die Auffassung vor, dass eine große und wachsende Bevölkerung von Vorteil sei. In jedem Fall bescherte sie den Herrschenden viele Untertanen, Soldaten und Steuerzahler. In den folgenden Beispielen beschränke ich mich auf Europa. Dort waren merkantilistische Denker der Überzeugung, dass eine zahlreiche und zunehmende Bevölkerung nicht nur der Stärke des Staates zugutekomme, sondern auch 10 Eine erste Einführung bietet der Eintrag »Demographic Dividend« in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12. 10. 2012].

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Prosperität erwarten lasse.11 Doch auch ein David Hume (1711–1776), der kein Merkantilist war, meinte, dass »die Glückseligkeit jeder Gesellschaft notwendig mit ihrem Bevölkerungsreichtum einhergeht«.12 Aus Sicht merkantilistischer Autoren förderte eine große Bevölkerung gerade dann die wirtschaftliche Stärke eines Landes, wenn sie arm war! Zwei Gründe wurden für diese Nützlichkeit der Armut gewöhnlich angeführt. Erstens, dass die Arbeiter zu Faulheit verleitet würden, wenn sie »zu viel« verdienen. Thomas Mun (1571–1641) etwa schrieb: »Armut und Mangel machen ein Volk klug und fleißig.«13 Noch deutlicher wurde William Temple (1628–1699): »Die Armen sind nur zum Fleiß anzuhalten, indem man sie während der gesamten Zeit, die ihnen nach Mahlzeiten und Schlaf verbleibt, dem Zwang zur Arbeit unterwirft, um die lebensnotwendigen Dinge zu erwerben.«14 Bernard Mandeville (1670–1733) erklärte 1714: »Um die Gesellschaft glücklich zu machen, ist es notwendig, dass ein beträchtlicher Teil der Menschen [gemeint ist die arbeitende Klasse, PV] sowohl unwissend wie auch arm sei.«15 Arthur Young (1741–1820) schließlich schrieb 1771, es wisse »jeder, der kein Narr ist, dass die unteren Klassen in Armut zu halten sind, da sie andernfalls nie fleißig sein werden«.16 Der zweite Grund, der beispielsweise im Werk von Mun ausdrücklich angeführt wird, lautete, hohe Löhne könnten die Arbeiter zum Kauf von Luxusgütern aus dem Ausland verführen, was als schädlich für die Nationalökonomie galt.17 Die Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums, die nur in seltenen Ausnahmefällen ohne expandierenden Binnenmarkt für Massenkonsumgüter vonstattengeht, ist in einem solchen Kontext – und dies gilt weltweit – sehr unwahrscheinlich. Im Lauf des 18. Jahrhunderts änderte sich die Situation: Verschiedene Autoren sahen die Löhne nun als »Zuckerbrot des Anreizes« und nicht nur als »Peitsche der Notwendigkeit« und hoben die positiven Effekte einer Einkommenssteigerung der breiten Bevölkerung sowie wachsenden (Massen-)Konsums hervor. So schrieb etwa Smith, es könne »sicherlich keine Gesellschaft gedeihen und glücklich sein, deren Mitglieder zum weit überwiegenden Teil arm und unglücklich sind«, und erörterte wiederholt die Vorzüge einer »reichlichen

11 Vgl. Stangeland, Pre-Malthusian Doctrines. Spezifischer zum britischen Fall: Bonar, Theories of Population, und Glass, Numbering the People. 12 Zitiert nach Milgate/Stimson, After Adam Smith, 121. 13 Mun, England’s Treasure, 73. Das Buch wurde posthum 1664 veröffentlicht. 14 Zitiert nach Ashworth, Customs and Excise, 60, wo die Originalquellen angegeben sind. 15 Mandeville, Bienenfabel, 319f. 16 Zitiert nach Furniss, Position of the Laborer, Kap. VI: »Die Doktrin der Nützlichkeit [sic! PV] der Armut«, 118. 17 Mun, England’s Treasure, 60.

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Entlohnung der Arbeiter«.18 Das war allerdings nicht unumstritten. Er befand sich damit in einer Minderheitsposition: Diskussionen über »Faulheit« und »Luxus« hielten an.19 Malthus war eindeutig Vertreter eines anderen Verständnisses des Bevölkerungswachstums: Ab dem späten 18. Jahrhundert galt es zunehmend als ein potenzielles und oftmals sogar manifestes Problem erheblichen Ausmaßes. Zu seinen Lebzeiten, also während des britischen Take-offs, waren sich die meisten Ökonomen einig, dass der natürliche Preis der Arbeit ein nur das Existenzminimum deckender Lohn sei und Bevölkerungswachstum keine positiven Effekte auf die Löhne habe. Die Bedeutung einfacher Arbeiter für den Massenkonsum galt nicht als dringliches Thema; wichtiger als die Massennachfrage war weiterhin ein billiges Angebot. Nicht zufällig erscheint im Werk von Marx, der die Arbeit deutlich ins Zentrum rückte, »Überproduktion« als größte Bedrohung für die Stabilität des Industriekapitalismus. Schumpeter, nicht gerade ein Freund von Keynes, war gleichwohl die Bedeutung des Massenkonsums durchaus bewusst: Er meinte, »dass die kapitalistische Maschine alles in allem eine Maschine der Massenproduktion ist, was unvermeidlich auch Produktion für die Massen bedeutet«.20 Für die Reichen zu produzieren, hat laut Schumpeter noch niemanden reich gemacht.

18 Smith, Reichtum der Völker, 152–153. 19 Vgl. bspw. Coats, »Poor Law Policy«; ders., »Attitudes Towards Labour«; Lis/Soly, Worthy efforts, 478–494; de Vries, »Industrious Revolution«; Wiles, »Theory of Wages«. 20 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, 113.

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3. Die Qualität der Arbeitskräfte: Humankapital

Die Menge der Arbeitskräfte im weitesten Sinne, einschließlich derer, die als Unternehmer die Arbeit anderer koordinieren und managen, spielt für das Wirtschaftswachstum eine wichtige Rolle. Doch selbstverständlich sind ökonomische Entwicklung und modernes Wirtschaftswachstum nicht nur eine Frage der Quantität der Arbeitskräfte, sondern erfordern auch deren qualitative Veränderung. In reichen Ländern ist das durchschnittliche Bildungsniveau wesentlich höher als in armen, und besser ausgebildete Menschen erzielen im Durchschnitt höhere Einkommen und Vermögen. Die Korrelation ist statistisch eindeutig und die These, dass Bildung den Wohlstand steigere, sehr verbreitet. Als sich Richard Easterlin 1981 die Frage stellte, warum nicht die ganze Welt entwickelt sei, war er davon überzeugt, dass der Grund dafür in mangelnder Bildung liege.1 Robert Allen nennt die Förderung von Massenbildung als eine von vier üblichen Aufholstrategien während der frühen Industrialisierung.2 Dass das Humankapital eine sehr hohe Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung habe, ist zu einem Gemeinplatz geworden.3 Alice Amsden definiert wirtschaftliche Entwicklung als den »Prozess des Übergangs von Vermögensposten, die auf Primärgütern basieren und von unqualifizierter Arbeit geschaffen werden, zu solchen, die auf Wissen basieren und von qualifizierter Arbeit geschaffen werden«.4 Wie sich aus den vielen an ein Wunder grenzenden Erholungen von der materiellen Zerstörung durch Kriege ableiten lässt, verkörpert das Humankapital augenscheinlich den wirklichen Schatz einer Wirtschaft. Das Wissen, wie man etwas baut, ist ungleich wichtiger als die materiellen Objekte, in denen es sich zu einem bestimmten Zeitpunkt vergegenständlicht. Solange das Humankapital nicht

1 Easterlin, »Why Isn’t the Whole World Developed?«. 2 Allen, Global Economic History, 41f. Die anderen Strategien bestehen darin, den Binnenmarkt zu vereinheitlichen, ihn gegen ausländische Konkurrenz zu schützen und einen funktionierenden Bankensektor zu schaffen. 3 Die Literatur zum Thema ist überwältigend. Ich verweise nur auf zwei nützliche Publikationen: Becker, Human Capital, und Hartog/Maassen van den Brink, Human Capital. Eine kurze Einführung bietet der Eintrag »Human Capital« in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12. 10. 2012]. 4 Amsden, Rise of ›the Rest‹, 2.

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Die Qualität der Arbeitskräfte: Humankapital

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zerstört ist, lässt sich prinzipiell jede materielle Zerstörung beheben. Das gilt ebenso für die Fachkenntnisse von Institutionen.5 Doch wie immer scheinen Ursache und Wirkung auch hier nicht so klar verteilt zu sein. Oft könnte es sich auch umgekehrt verhalten haben: Mehr Reichtum führte zu mehr Bildung. Wie Goldstone in seinem Buch über den Aufstieg des Westens zu bedenken gibt, erfüllt zudem nicht jede Art von (höherer) Bildung ihren Zweck. Ihm zufolge haben Länder im Zuge des Versuchs, den Westen einzuholen, Millionen Dollar darauf verschwendet, »Studenten in den traditionellen Fächern Recht, Verwaltung, Sozialwissenschaften, Kunst, Geisteswissenschaften, Medizin, Buchhaltung und sogar Theologie auszubilden – ohne talentierte Ingenieure und Unternehmer zwecks Aufbau einer modernen Wirtschaft zu fördern, in der die Heerscharen von Geisteswissenschaftlern und anderen Hochschulabsolventen eine Beschäftigung finden könnten«.6 Wie Ha-joon Chang schreibt: »Mehr Bildung allein macht ein Land nicht reicher.«7 Viele moderne Gesellschaften könnten sogar überqualifiziert sein. Ganz richtig bemerkt Thomas Sowell: »Humankapital darf nicht mit formeller Bildung verwechselt werden, die nur eine seiner Facetten ausmacht, und erst recht nicht mit einer wachsenden Intelligenzija, deren Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung und politische Stabilität positiv oder negativ sein kann.«8 Ihm zufolge trägt die sogenannte Intelligenzija oft wenig zu Wachstum bei; mit ihrer weithin wirtschaftsfeindlichen Mentalität hemme sie es häufig sogar. Auch Schumpeter betonte, dass Intellektuelle in der Regel Kapitalismus und Innovation kaum zugetan seien.9 Während es viele Belege dafür gibt, dass besser ausgebildete Personen höhere Löhne erzielen, sind die Auswirkungen von Bildung auf das BIP weit weniger evident, weshalb man sich mit Recht die Frage stellen kann, die Lant Pritchett aufgeworfen hat: »Wo ist all die Bildung hin?«10 Vielleicht trifft Tyler Cowens Bemerkung zu, es gebe heute nicht mehr ein riesiges Reservoir von »schlauen, ungebildeten Kindern«.11 Wie immer sich bestimmte Arten von Bildung und Erziehung im weiteren Sinne zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf das Wirtschaftswachstum auswirken mögen, diese Faktoren bei der Untersuchung der Great Divergence auszublenden, wäre fahrlässig. 5 Mit diesem Gedanken folge ich Sowell, Conquests and Cultures, 336. 6 Goldstone, Why Europe, 173f. 7 Chang, 23 Lügen, Kap. 17. 8 Sowell, Conquests and Cultures, 349. 9 Vgl. Anm. 21, S. 129. 10 Lant Pritchett, »Where has all the Education Gone?«. Im Internet finden sich mehrere Versionen dieses Textes. 11 Cowen, Great Stagnation, Kap. 1. Zum Ausdruck »schlaue, ungebildete Kinder«: S. 10.

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Redet man über Arbeit im Kontext von Wirtschaftswachstum, dann geht es früher oder später um Arbeitsethik, Disziplin und Fleiß. Die Vorstellung, dass sich die reichen Bewohner der Welt in dieser Hinsicht von den armen unterscheiden und Wohlstand gewissermaßen eine Belohnung für Effizienz, Leistung und harte Arbeit sei, ist schon immer beliebt gewesen – besonders unter den Wohlhabenden. Dasselbe gilt für die Vorstellung, Wirtschaftswachstum verdanke sich dem Wirken von Unternehmern, deren spezifische Rolle im Wirtschaftsleben jenen anhaltenden Sturm schöpferischer Zerstörung erzeuge, der den Kern modernen Wachstums ausmache. Es ist dann naheliegend, in einem nächsten Schritt zu behaupten, wenn Gesellschaften viele solcher Unternehmer hervorbringen und ihnen freie Hand lassen, würden sie zu Reichtum gelangen. Der Kapitalismus, das bislang erfolgreichste System zur Erzeugung von Wirtschaftswachstum, ist demnach ein System, in dem »Innovation über Gewohnheit triumphieren konnte«, um Joyce Appleby zu paraphrasieren, und Innovationsträgern eine zentrale Rolle zukommt. Laut Appleby ist das Rätsel des Aufstiegs des Kapitalismus kein rein ökonomisches, sondern ebenso ein politisches und moralisches: »Wie konnten sich Unternehmer aus der Zwangsjacke der Gewohnheit befreien und genügend Stärke und Respekt gewinnen, um die gesellschaftlichen Zwänge zu transformieren, anstatt sich ihnen anzupassen?«12 Einem ähnlichen Gedankengang folgt Deirdre McCloskey, wenn sie die Akzeptanz »bürgerlicher Würde« als Voraussetzung für modernes Wirtschaftswachstums betont.13 Beide Autorinnen verknüpfen Fragen des Humankapitals eng mit solchen von Kultur und Institutionen, die weiter unten Thema sein werden.

12 Appleby, Relentless Revolution, 7. 13 McCloskey, Bourgeois Virtues; dies., Bourgeois Dignity.

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Konsum

4. Konsum

Traditionell standen meist Produktion und Angebot im Mittelpunkt der Erklärungen für Wachstum, was insofern plausibel ist, als anhaltendes Wachstum ohne Produktivitätssteigerungen undenkbar wäre. Das Augenmerk lag folglich auf Kapitalgütern, Maschinen, Fabriken und Infrastruktur sowie auf Bildung und Forschung. All dies muss bezahlt werden, und das ist nur möglich, wenn man das Erwirtschaftete nicht vollständig verbraucht, oder durch Kredite, die natürlich etwas kosten. Wachstumstheorien haben schon immer stark dazu tendiert, die Angebotsseite, Kapital und Kapitalgüter, zu fokussieren. In der neueren Wachstumsforschung kommt dem Konsum und dem Konsumenten mehr Bedeutung zu. Das ist nicht nur eine Folge der Entdeckung von John Maynard Keynes (1883–1946), dass das Say’sche Gesetz nicht immer gelte. Es besagt, dass sich das aggregierte Angebot selbst seine aggregierte Nachfrage schaffe – womit ein allgemeines Überangebot unmöglich wäre. Tatsächlich aber erzeugt nicht jedes Angebot seine Nachfrage, und in jedem Fall ist es für den einzelnen Produzenten nur dann sinnvoll zu produzieren, wenn genügend Menschen seine Produkte kaufen oder es zumindest könnten.1 Der Ansatz von Keynes markierte eine veränderte Perspektive: Sparen galt nun nicht mehr primär als Rücklage für potenzielle Investitionen, sondern auch als ausgebliebener Konsum, Kreditaufnahme nicht nur als Schuldenmachen, sondern auch als Grundlage für mehr Konsum oder Investitionen, und Staatseingriffe zur Konjunkturbelebung waren nicht länger zwangsläufig tabu. Mit zunehmendem Wohlstand wird es außerdem immer fraglicher, ob zusätzliche Produktion auch Abnehmer findet, wodurch die Frage, was den Konsum antreibt und bestimmt, an Dringlichkeit gewinnt. Das gilt umso mehr, als eines der hervorstechendsten Merkmale des modernen Wirtschaftswachstums darin besteht, dass immer mehr neue Produkte buchstäblich auf der Suche nach Käufern auf den Markt kommen. Wie Michael Piore treffend formulierte: »In einer kapitalistischen Wirtschaft wird die Frage, wie man die Nachfrage so organisieren kann, dass die erforderliche Expansion gewährleistet ist, zum zentralen 1 Vgl. zu diesem Gesetz, benannt nach dem französischen Ökonomen Jean-Baptiste Say (1767–1832), obwohl er es nicht wirklich erfunden hat, den Eintrag »Jean-Baptiste Say« in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12. 10. 2012].

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Teil 1: Moderne Wirtschaftswissenschaft und Theorien des Wachstums

Wachstumsproblem.«2 Nicht von ungefähr wird die heutige westliche Gesellschaft oft als Konsumgesellschaft beschrieben, eine Bezeichnung, die auch auf eine wachsende Zahl nichtwestlicher Gesellschaften zutrifft. Angesichts dieser wesentlichen Rolle des Konsums in der heutigen Gesellschaft war es beinahe zwangsläufig, dass die Wirtschaftswissenschaft sich jetzt auch mehr für seine Rolle in der Entstehung der modernen Ökonomie interessieren würde. Immer mehr Wissenschaftler sind heute davon überzeugt, dass Veränderungen der Nachfrage unmittelbar vor und während des Take-offs eine Rolle bei der Steuerung der Produktion (Stichwort »Revolution des Konsums«) und des Arbeitskräfteangebots (Stichwort »Revolution des Fleißes«) spielten. Es ist müßig, über Henne und Ei zu diskutieren: Die Bedeutung des Konsums für Wachstum und Innovation ist offensichtlich. Auch hier muss man sich jedoch der Grenzen bewusst sein: Wie gegenwärtig viele Menschen und Länder bemerken, lässt sich Wachstum nur in begrenztem Maß auf dem Fundament von Konsum und Verschuldung aufbauen.

2 Michael J. Piore, »The Theory of Macro-Economic Regulation and the Current Crisis in the United States«, MIT Working Paper Cambridge/Mass. 1981, 20, zit. n. Schlefer, Economists, 229.

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Kapital und Kapitalakkumulation

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5. Kapital und Kapitalakkumulation

Produzieren heißt, Boden, Arbeit und Kapitalgüter miteinander zu verbinden. In den theoretischen Wachstumsmodellen der Ökonomen wurde dabei immer dem Kapital ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Auch wenn ihnen durchaus bewusst ist, dass Wachstum auch auf andere Weise, etwa durch Spezialisierung, generiert werden kann, sind sie mehrheitlich seit Langem davon überzeugt, dass es durch Investitionen in zusätzliche Kapitalgüter, durch die mehr Güter pro Arbeitseinheit entstehen, am effektivsten erzeugt und verstetigt werden kann. Diese Kapitalgüter müssen natürlich mit Geld bezahlt werden, das nicht in die Konsumtion fließt. Insofern ist es kein Zufall, dass klassische Wachstumstheorien der Akkumulation und dem Sparen große Bedeutung beimessen. Wir alle kennen die Geschichte über den Fischer, der einen Teil seiner Einkünfte für ein neues Netz spart, um mehr Fisch zu fangen. Im sogenannten Harrod-Domar-Modell, benannt nach den Ökonomen Henry Roy Forbes Harrod (1900–1978) und Evsey Domar (1914–1997), wird ein direkter Zusammenhang zwischen erhöhtem Input von Produktionsfaktoren und erhöhtem Output postuliert. Die Wachstumsrate des Nationaleinkommens ist demnach durch den Kapitalkoeffizienten bestimmt und dieser wiederum durch die Sparquote. Wachstum wird somit als Funktion der Kapitalbildung verstanden. Viele auf diesem Modell aufbauende Input-Output-Modelle blenden kurzerhand den (öffentlichen wie privaten) Dienstleistungssektor aus, was erstaunlich ist und aufgrund von dessen enormer Bedeutung Folgen hat. In klassischen Wachstumstheorien sinken die Kapitalerträge zwangsläufig; das bedeutet, dass das bloße Hinzufügen weiterer Inputs immer geringere Erträge erzielt. Erschöpft sich die Entwicklung in solcher Inputsteigerung, wird die Wirtschaft auf ein »Nullwachstum« zusteuern. Diese Tendenz impliziert, dass sich Länder mit geringem Kapitalstock (arme Länder) von Investitionen ceteris paribus höhere Wachstumsraten erhoffen dürfen als solche, die bereits über einen großen Kapitalstock verfügen (reiche Länder). Unter dieser Annahme ist eine Angleichung in der Weltwirtschaft weitaus wahrscheinlicher als eine wachsende Kluft. In Wirklichkeit ist eine nachholende Entwicklung jedoch keineswegs einfach und eher die Ausnahme als die Regel, was viele Ökonomen heute unter anderem auf steigende Erträge in vielen Produktionszweigen zurückführen.

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Teil 1: Moderne Wirtschaftswissenschaft und Theorien des Wachstums

Die Tatsache, dass Wachstumsförderung durch eine bloße Steigerung von Investitionen laut der neoklassischen Standardtheorie prinzipiell Grenzen hat, hindert viele – vor allem Ökonomen außerhalb der Universitäten und Politiker, aber auch Wirtschaftshistoriker – nicht daran, als Kapitalfundamentalisten aufzutreten, auch wenn ihre Position in der Theorie auf Ablehnung stößt. Laut dem Kapitalfundamentalismus, der eher eine praktische Einstellung und Überzeugung ist als eine explizite Theorie, kommt dem Kapital die Schlüsselrolle für Entwicklung zu, sodass Differenzen im Niveau des Nationalprodukts primär durch solche im Umfang der jeweiligen Kapitalstocks bestimmt sind.1 Ein bekanntes Beispiel für die Ablehnung des Kapitalfundamentalismus, das für unsere Analyse durchaus interessant ist und mittelfristig ein guter makroökonomischer Test für ihn sein könnte, sind Paul Krugmans Kommentare von 1994 über das damalige beeindruckende Wachstum der asiatischen Schwellenländer. Er behauptete, dass es sich in sehr hohem Maß einer bloßen Steigerung von Inputs, von Kapital und Arbeit, verdanke. Da es primär auf »Schweiß, nicht Ideen« zurückgehe, so Krugman, werde es ceteris paribus, ähnlich dem Verlauf der sowjetischen Industrialisierung, wieder versiegen.2 Beständige Akkumulation von Kapitalgütern kann nicht die Haupterklärung für das Wachstum sein, das wir in den letzten zwei Jahrhunderten im Westen beobachten konnten. Es ist schlicht unmöglich, das gesamte Wachstum, das seit der ersten industriellen Revolution in den reichen Ländern stattgefunden hat, oder die dadurch erzeugte Kluft zwischen Arm und Reich, allein auf zusätzliche Kapitalinvestitionen zurückzuführen; ein erheblicher Teil des gesteigerten Outputs bliebe dabei unerklärt. Empirische Studien haben gezeigt, dass die Zunahme der sogenannten totalen Faktorproduktivität in den entwickelten Ländern ein nicht durch gesteigerte Inputs erklärbares Residuum von erheblichem Umfang enthält: ein Residuum, das der Ökonom Moses Abramovitz (1912–2000) treffend als »ein Maß unseres Unwissens« bezeichnet hat und das natürlich für alle Wachstumsforscher ein erhebliches Ärgernis darstellt.3

1 Eine erste Einführung bieten die vielen Hinweise zu »Capital Fundamentalism« in der englischen Wikipedia. 2 Krugman, »Myth of Asia’s Miracle«, 66. Weitere Kritiken bieten Easterly, Quest for Growth, Kap. 3: »Investitionen sind nicht der Schlüssel zu Wachstum«; McCloskey, Bourgeois Dignity, Kap. 15: »Der Kapitalfundamentalismus ist falsch«. Ähnlich äußern sich mit Blick auf die Sowjetunion Acemoglu/Robinson in Warum Nationen scheitern, 163–173, deren Wachstum nicht durch Innovation, sondern nur durch größere Inputs und eine Verschiebung der Produktion in produktivere Sektoren zustanden gekommen sei. 3 Abramovitz, Resource and Output Trends, 10.

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Kapital und Kapitalakkumulation

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Das alles ist unter Ökonomen allgemein bekannt, doch man muss natürlich bedenken, dass der Ausbau des Kapitalstocks zwar langfristig eine Sackgasse ist, kurz- und mittelfristig aber durchaus positive Effekte zeitigen kann. Alle Industrieländer verzeichneten während des Take-offs ein substanzielles Wachstum der Investitionen in Kapitalgüter. Kapitalakkumulation ist nicht der Schlüssel zu allem Wachstum – und war auch nicht, wie uns der Kapitalfundamentalismus glauben machen will, das Hauptproblem für Entwicklungsländer. Gleichwohl haben zusätzliche Kapitalinputs zweifellos zum industriellen Take-off von Ländern beigetragen. In welchem Ausmaß dies der Fall war, ist eine empirische Frage. Es gibt gute Gründe, und Daten, für die Annahme, dass schiere Akkumulation zu Beginn des Take-off-Prozesses eine zwar eher geringe Rolle gespielt hat, aber wichtiger war als in Wirtschaften, die bereits in das postindustrielle Stadium ihrer Entwicklung eingetreten sind. Trotz all dieser Einschränkungen hat Kapitalakkumulation in Theorien über Industrialisierung und Modernisierung, und mehr noch für praktische Bemühungen ihrer Förderung, bis vor Kurzem immer eine herausragende Rolle gespielt. Marx, dem die grundlegende Bedeutung von Technik und technologischer Innovation für (kapitalistische) Entwicklung klarer bewusst war als den meisten anderen Ökonomen seiner Zeit, meinte nicht nur, dass die Entstehung kapitalistischer Produktion »das Vorhandensein größerer Massen von Kapital« voraussetze.4 Er verstand darüber hinaus Akkumulation geradezu als ihr Wesen: »Akkumuliert, Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!«5 Der Beginn der kapitalistischen Produktion war ihm zufolge die »ursprüngliche Akkumulation«, also eine Akkumulation durch Enteignung. Über diesen Prozess in Großbritannien schrieb Marx: »Der Raub der Kirchengüter, die fraudulente Veräußerung der Staatsdomänen, der Diebstahl des Gemeindeeigentums, die usurpatorische und mit rücksichtslosem Terrorismus vollzogne Verwandlung von feudalem und Claneigentum in modernes Privateigentum, es waren ebenso viele idyllische Methoden der ursprünglichen Akkumulation.«6 Die ursprüngliche Akkumulation des westlichen Kapitalismus war jedoch nie ein national begrenzter Prozess – im Gegenteil. Ihre globalen Dimensionen beschrieb Marx so: »Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute,

4 Marx, MEW, 23, 741. 5 Ebd., 621. 6 Ebd., 760–761.

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Teil 1: Moderne Wirtschaftswissenschaft und Theorien des Wachstums

bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.«7 Ungeachtet Marx’ Verweis auf die Ausbeutung im Ausland ging der klassische Marxismus davon aus, dass der Kapitalismus wesentlich von der inneren Logik der Ausbeutung im Inland abhängt. Mit der Zeit traten Kolonialismus und Imperialismus in marxistischen oder von Marx beeinflussten Theorien stärker in den Vordergrund. In der Dependenztheorie und der Weltsystemtheorie gewannen sie sogar grundlegende Bedeutung: Beide Ansätze verstehen den Kapitalismus als ein Wirtschaftssystem, das per definitionem nicht auf bestimmte Staaten begrenzt ist, sondern ein Weltsystem darstellt. Dabei messen sie dem Austausch ein solches Gewicht bei, dass einige klassische Marxisten befürchten, Marx’ Betonung von Produktionsweisen könne in Vergessenheit geraten. Vermutlich zur Überraschung vieler Leser meinte auch Keynes, wenngleich eher in einer Randbemerkung, dass alles mit einer ursprünglichen Akkumulation begonnen habe: Die moderne Zeit begann, so denke ich, mit der Kapitalakkumulation im 16. Jahrhundert. Ich glaube – aus Gründen, mit denen ich die vorliegende Gedankenführung nicht belasten muss –, dies ist ursprünglich auf Preissteigerungen und daraus resultierenden Profiten zurückzuführen, die durch die Gold- und Silberschätze ermöglicht wurden, die Spanien aus der Neuen Welt in die Alte brachte. Von dieser Zeit an bis heute wurde die Kraft der Akkumulation, die über viele Generationen hinweg geschlafen zu haben scheint, mittels Zinseszins wiedergeboren und in ihrer Stärke erneuert. Und die Macht des Zinseszins über zweihundert Jahre hinweg ist etwas, was die Vorstellungskraft ins Wanken bringt. […]Somit sind aus jedem Pfund, das Drake 1580 nach Hause brachte, 100.000 Pfund geworden. Das ist die Kraft des Zinseszins!8

Einen Grundgedanken teilen alle Theorien über Imperialismus und fortgeschrittenen Kapitalismus, Dependenztheorien, Theorien ungleichen Tauschs, der modernen Weltsystemtheorie und dergleichen: Den Preis für die Entwicklung des Westens hat der Rest der Welt bezahlt. Dem liegt eindeutig die Annahme zugrunde, dass die Aufhäufung einer ausreichenden Kapitalmasse das Hauptproblem sei, mit dessen Lösung sich wirtschaftliche Modernisierung quasi von selbst ergebe. Wie Keynes mag Walt Rostow mit seinem Buch über die Stadien wirtschaftlichen Wachstums den Anspruch verfolgt haben, »eine Alternative zur 7 Ebd., 779. Bei beiden Zitaten kann man sich natürlich fragen, wie die geschilderten Fakten im Einzelnen sinnvoll auf den britischen Take-off im späten achtzehnten Jahrhundert zu beziehen sind. 8 Keynes, »Wirtschaftliche Probleme unserer Enkelkinder«, 117–118. Was für jedes Pfund gilt, das Drake nach Hause brachte, gilt natürlich auch für jedes Pfund, das 1580 beispielsweise durch das Melken von Kühen verdient wurde. Warum Drakes Pfund einzigartig sein sollte, erschließt sich mir nicht.

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Kapital und Kapitalakkumulation

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marxistischen Entwicklungstheorie« vorzulegen. Doch auch er betrachtete darin Akkumulation als grundlegend: Die Quintessenz des Take-offs zu selbsttragendem Wachstum sah er in einem drastischen Anstieg der Sparund Investitionsquote. Der Nobelpreisträger W.A. Lewis meinte, das zentrale Problem des Take-offs bestehe darin, gewaltige zusätzliche Ersparnisse für seine Finanzierung aufzutun.9 Alexander Gerschenkron rückte in seinen gleichfalls einflussreichen Analysen wirtschaftlicher Aufholprozesse durchweg Kapitalgüter, die Kapitalgüter herstellende Schwerindustrie, die Rolle der Banken, kurz: Investitionen ins Zentrum.10 Genügend zu sparen und zu investieren, um – vorzugsweise durch massive Investitionen in die Schwerindustrie – einen großen Sprung zu vollziehen, galt als Hauptproblem der Industrialisierung von Ländern. Die Überzeugung, dass Industrialisierung gleichbedeutend mit Investitionen in Kapitalgüter und »größer« stets »besser« sei und dass die Geschichte kein Nachsehen mit den Langsamen habe, war zentral für die meisten kommunistischen, faschistischen und autoritären Modelle und Pläne für Industrialisierung. Auch die westliche Entwicklungshilfe blieb Jahrzehnte lang stark von dem Gedanken motiviert, dass das Hauptproblem unterentwickelter Länder ihre Armut sei und die Lösung folglich darin bestehe, ihnen Geld zu geben. Für Jeffrey Sachs zum Beispiel bleibt diese Annahme, wie sein Buch Das Ende der Armut zeigt, bis heute bedeutend.11 Wie bereits bemerkt, maß der klassische Marxismus der ursprünglichen Akkumulation im In- und Ausland, aber auch einer eher regulären Ausbeutung durch Kolonialismus und Imperialismus zwar eine Rolle für die Entwicklung kapitalistischer Ökonomien bei, sah deren Wesen und Triebkraft aber lange Zeit in der systematischen Ausbeutung der Arbeitskraft im Inland. Akkumulation findet demnach vor allem dort statt, wo sich die »freie« Arbeit in einer schwachen Position auf dem Arbeitsmarkt befindet und die Kapitalisten in der Lage – und gezwungen – sind, Gewinne anzuhäufen, zu investieren und Innovationen einzuführen, um nicht von der Konkurrenz ausgelöscht zu werden. Der Weg zu kapitalistischer Entwicklung führt in dieser Perspektive durch Veränderungen der Produktion, die von Unternehmern initiiert werden. Wie jedoch ebenfalls bemerkt, wurde in einer Flut von neomarxistischen Studien, die sich mit Imperialismus und später mit abhängiger Entwicklung und der Logik von Weltsystemen befassten, der Akkumulation durch internationalen Handel ein solcher Stellenwert eingeräumt und der Aufstieg des Westens so eng mit der Ausbeutung im Ausland und den negativen Effekten des (ungleichen) Tauschs für unterentwickelte 9 Ein schönes Zitat findet sich in McCloskey, Bourgeois Dignity, 136. 10 Vgl. bspw. Gerschenkron, Economic Backwardness. 11 Sachs, Das Ende der Armut, insbesondere Kap. 13 und 15.

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Länder verbunden, dass einige klassische Marxisten, die an der ursprünglichen Marxschen Betonung der Produktion (und Innovation!) festhielten, darin eher einen Neosmithianismus als Marxismus sahen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass diese neuen Ansätze eindeutig aus einer linken Perspektive argumentierten und bestimmte Elemente weiterentwickelten, die sich im Marxschen Werk finden. Dort gelten überwiegend schließlich Akkumulation und Innovation als die wesentlichen Motoren von Entwicklung und Wachstum im Sinne gesteigerter Gesamtproduktion. Das klassische Wachstumsmodell von Smith betont dagegen primär den Tausch (und seine positiven Effekte) und nur in zweiter Linie Produktionsverfahren und ihre Auswirkungen auf Akkumulation und Innovation. An dieser Stelle ist daher eine kurze Einführung in die sehr einflussreichen Wachstumsmodelle angebracht, die auf den Hauptgedanken von Smith aufbauen.

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Spezialisierung und Tausch

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6. Spezialisierung und Tausch

In Smiths ursprünglichem Modell war Wachstum hauptsächlich eine Folge zunehmender Arbeitsteilung und Spezialisierung, die sich idealiter im Kontext eines freien und fairen, im Jargon der Ökonomen: »vollkommenen« Marktes, vollziehen sollten.1 Er illustrierte den Effekt von Spezialisierung auf die Produktion mit dem berühmten, eher fantastischen Beispiel einer Stecknadelfabrik, in der dieselbe Zahl von Arbeitern 240 Mal oder vielleicht sogar 4800 Mal (!) so viele Nadeln wie vor der Einführung der Arbeitsteilung herstellt.2 Smith bestritt selbstverständlich nicht die grundlegende Bedeutung von Akkumulation für die Arbeitsteilung, die dieser insofern »vorausgehen muss«,3 als das in produktive Unternehmen investierte Geld irgendwoher kommen muss. Wo dieses Geld jedoch tatsächlich herkommt, galt ihm nicht als großes Problem, vermutlich, weil er noch die recht kleinen »vorindustriellen« Privatunternehmen vor Augen hatte, die die Eigentümer durch Ersparnisse, Kredite von Verwandten oder Banken und aus den laufenden Gewinnen finanzieren konnten. Diese im Austausch generierten Gewinne tendierten ihm zufolge aufgrund des harten freien Wettbewerbs, den er als wesentlich für eine funktionierende Wirtschaft betrachtete, stets zu einem »durchschnittlichen« oder »natürlichen« Niveau. Das impliziert natürlich auch, dass Wachstum keine riesigen Investitionen erfordert. Smith fokussierte nie wirklich die technischen Innovationen im Produktionsprozess und sprach auch nicht von einer industriellen Revolution. Auch die gewaltigen Steigerungen der Größenordnung und Kosten von Investitionen, die die voranschreitende Industrialisierung auszeichnen sollten, erwartete er offenbar nicht. Obwohl der Produktivitätszuwachs in seinem Beispiel ziemlich beeindruckend – und eher unwahrscheinlich – ist, ging Smith von recht eng gesteckten Grenzen des Wachstums aus, da Transport- und Informationskosten selbst bei freiem und fairem Wettbewerb der Arbeitsteilung sowie der Größe des Marktes recht enge Grenzen ziehen würden und das Wachstum zudem von der Zunahme der Bevölkerung »aufgegessen« werde. 1 Vgl. den Eintrag »Perfect Competition« in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12. 10. 2012]. 2 Smith, Reichtum der Völker, 90. 3 Ebd., 313.

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Kurzum, in der Arbeitsteilung sowie den Mechanismen und der Ausweitung des Marktes sah Smith wichtigere Wachstumsquellen als in Akkumulation, Investition und Innovation; diese wurden, sofern sie ein höheres Niveau erreichten, von Tausch und Wettbewerb angetrieben. Für Smiths neoklassische Nachfolger hingegen war die fundamentale Bedeutung technologischer Innovationen, einschließlich jener Durchbrüche im Transport- und Kommunikationswesen, die die Entstehung eines wirklich globalen Massenmarktes ermöglichten, offenkundig und unbestreitbar. Das heißt jedoch nicht, dass sich ihr Ansatz fundamental geändert hätte. Grundlegend bleibt für sie der Marktmechanismus; Innovation gilt als logische Folge offenen, also freien und fairen Wettbewerbs, der im Grunde nur die Wahl zwischen Innovation und Untergang lässt. So beschreibt etwa William Baumol den Kapitalismus als »die Innovationsmaschine des freien Marktes«, die »einen steten Innovationsfluss« und folglich einen »Anstieg der Produktivität und des BIP pro Kopf« bewirke.4 Innovationen scheinen somit garantiert, selbst wenn sie eine Art »Manna, das vom Himmel fällt«, sind, dessen Herkunft man nicht wirklich versteht. Tauschbeziehungen im Sinne freien Wettbewerbs – im Inland wie auf internationaler Ebene – stellen so den Schlüssel zum »Rätsel des Wachstums« dar. Smith verfasste sein magnum opus als eine Attacke auf das Merkantilsystem, weil er jegliche Einschränkung des fairen und freien Handels als schädlich für den Reichtum der Nation, also den Verbraucher, betrachtete und folglich für ihre Abschaffung eintrat. Im Inland lag sein Augenmerk auf unterschiedlichsten Monopolen und Renten, aber der internationale Handel – das bevorzugte Thema vieler merkantilistischer Schriften – fand natürlich ebenfalls sein Interesse. Auch hier plädierte er für die Abschaffung von Monopolen, aber ebenso von Zöllen, Einfuhrverboten, Subventionen und anderen Eingriffen in den freien Handel, wenngleich – überraschenderweise – nicht der Navigationsakte als solcher.5 Es war David Ricardo, der als der wirkliche Theoretiker des internationalen Freihandels bekannt werden sollte. Nach dem Urteil der meisten Vertreter der vorherrschenden Wirtschaftslehre hat seine Erklärung des »Gesetzes« der komparativen Vorteile bewiesen, dass der Freihandel für alle Beteiligten positive Effekte hat. Laut Ricardo sollte der internationale Handel nicht als ein Nullsummenspiel verstanden werden, bei dem der eine gewinnt, was der andere verliert, sondern – zumindest bei freiem und fairem Wettbewerb – als eines, von dem alle Parteien profitieren können. Die beste Politik besteht folglich darin, ihn so wenig wie möglich zu behindern. Durch effiziente Spezialisierung steigere der Freihandel »die allgemeine Produktenmasse« und 4 Baumol, Free-Market Innovation Machine, 2. 5 Vgl. Anm. 28, S. 397.

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Spezialisierung und Tausch

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schaffe so, wie wir heute sagen würden, mehr Wohlstand in den beteiligten Ländern.6 Ricardos Logik wurde für die vorherrschende Wirtschaftslehre sehr prägend und weithin zu einer Art Glaubensbekenntnis. Selbst Paul Krugman bezeichnet sie als zwar »wahrhaft, irrsinnig, ja im Höchstmaße schwierig«, zugleich aber auch »[…] vollkommen wahr, überaus anspruchsvoll – und sehr wichtig für die moderne Welt«.7 Ricardos Perspektive auf Wachstum gewann auch in der globalen Wirtschaftsgeschichte erheblichen Einfluss.8 Wohlstand und Armut der Nationen wie der Individuen hängen demnach von der richtigen Spezialisierung und Wettbewerbsorientierung ab. Als Grundlage der Handelspolitik wurde Ricardos Gesetz jedoch nie allgemein akzeptiert und als Erklärung oder Prognoseinstrument für Entwicklungen in der realen Welt, in der steigende Erträge, wie auch Krugman durchaus bewusst ist, recht häufig vorkommen, ist es nicht unproblematisch.9 Es ist in jedem Fall verdächtig, dass das von Ricardo zur Illustration angeführte Beispiel, der britisch-portugiesische Handel, sein Gesetz nicht wirklich zu bestätigen scheint: Der Eindruck, dass die Portugiesen – aus welchen Gründen auch immer – vom Handel mit den Briten weniger profitierten als umgekehrt, ist kaum von der Hand zu weisen. Wie bereits Smith bemerkte, konnten die Briten bei diesem Handel Woche für Woche Gold im Wert von mehreren Zehntausend Pfund ansammeln, das per Postschiff nach London gebracht wurde.10 Unter Ökonomen hat die theoretische Debatte über die Vorteile des Freihandels gegenüber dem Protektionismus nie ein Ende gefunden. Friedrich List (1789–1846) ist nur eines, wenngleich ein recht frühes Beispiel für die vielen Gelehrten, die am Freihandel auch klare Nachteile entdeckten und, zumindest im Falle junger Industrien, für Protektionismus plädierten.11 Auch viele andere Ökonomen, die heute teilweise in Vergessenheit geraten sind, aber zu Lebzeiten sehr einflussreich waren, hatten starke Vorbehalte gegen den Freihandel. So fand die Debatte nie einen Abschluss, auch wenn die vorherrschende Wirtschaftslehre schon immer zu der Überzeugung tendierte, dass die Öffnung des Handels grundsätzlich eine richtige Politik sei.12 Wichtiger für die tatsächliche Wirtschaftsentwick6 Vgl. Ricardo, Grundsätze der politischen Ökonomie, 159. 7 Paul Krugman, http://www.pkarchive.org/trade/ricardo.html, letzter Satz. 8 Eine historische Anwendung unternimmt zum Beispiel Bernstein, Splendid Exchange. 9 Vgl. Krugmans Beitrag unter http://acp-eu-trade.org/library/files/Krugman_ EN_1109_Increasing%20returns%20in%20 %20a%20comparative%20advantage%20 world.pdf 10 Smith, Reichtum der Völker, 545–548. 11 Eine Einführung in Lists Gedanken bietet Bachinger/Matis, Entwicklungsdimensionen des Kapitalismus, Kap. 3.1 12 Mit den vielen Theoriedebatten darüber befasst sich Irwin, Against the Tide.

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lung, die uns hier vor allem interessiert, ist natürlich, was in der Praxis passierte – und dort war der Protektionismus eher die Regel als die Ausnahme, was Entwicklung und Wachstum offenbar in sehr vielen Fällen erstaunlicherweise nicht schadete.13 Ökonomen und Wirtschaftshistoriker diskutieren bis heute leidenschaftlich über die Vor- und Nachteile freien und fairen Wettbewerbs und sind sich weiterhin uneins, ob er die Ursache für den Aufstieg des Westens war oder nicht – eine meines Erachtens nicht besonders ergiebige, weil vollkommen entkontextualisierende Herangehensweise an das Thema. In unserer kurzen Erörterung des (neo-)klassischen Verständnisses der wachstumsfördernden Effekte von Handel stand im Vordergrund, wie dieser durch Reallokation die Produktion steigert – und somit die Möglichkeit zur Akkumulation verbessert. Aber er kann Produktivität und Akkumulation natürlich auch insofern fördern, als er, wie im Zitat von Baumol angedeutet, Innovationen stimuliert oder sogar notwendig macht. Das ist ein weiterer Grund dafür, uns nun der Innovation zuzuwenden, dem aus Sicht der meisten modernen Ökonomen wichtigsten Motor des modernen Wirtschaftswachstums.

13 Chang, Kicking away the Ladder.

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Innovation

7. Innovation

Für Wissenschaftler, die Wachstum eher aus einem theoretischen Blickwinkel betrachten, stand schon immer außer Frage, dass der Kapitalfundamentalismus langfristig nicht funktionieren könne und sich Wachstum allein durch Innovation verstetigen lasse. Innovation gilt heute als Kern des modernen Wirtschaftswachstums und Joseph Alois Schumpeter (1883–1950) als ihr Prophet.1 Seiner breit gefassten – und etwas vagen – Definition zufolge ist Innovation der »von den neuen Konsumgütern, den neuen Produktions- oder Transportmethoden, den neuen Märkten, den neuen Formen der industriellen Organisation« oder, wie es kurz darauf heißt, der von »der neuen Ware, der neuen Technik, der neuen Versorgungsquelle, [dem] neuen Organisationstyp« ausgehende Antrieb der Wirtschaft.2 Wenn sich Wirtschaften entwickeln, kommt es weniger auf Wachstum, das heißt eine Vermehrung an sich, an als auf eine Erneuerung in dem Sinne, dass sie mehr aber vor allem mehr neue Dinge produzieren. Schumpeter beschrieb den Kapitalismus mit einer bekannten Formulierung als »ewigen Sturm der schöpferischen Zerstörung«.3 Für diesen Prozess hat Sparen zweifellos eine Bedeutung, die jedoch insofern verblasst, als Entwicklung vor allem in der neuartigen Nutzung gegebener Ressourcen besteht.4 Entscheidend für die Konkurrenz als Triebkraft der modernen Wirtschaft ist nicht so sehr, wer bereits bekannte Produkte am effizientesten produziert, sondern wer am effektivsten etwas Neues produziert. Nur durch solche ständigen Neuerungen kann der Rückgang der Erträge vermieden werden, der sich letztendlich einstellt, wenn man lediglich die existierenden Produktionsfaktoren in größerer Menge und ähnlicher Weise wie bisher kombiniert. Dem widerspricht es natürlich nicht, dass geschicktes Kopieren für einzelne Unternehmen mindestens genauso wichtig sein kann wie Innovationsfähigkeit.5 Nicht von ungefähr unterscheiden viele Autoren das moderne Wirtschaftswachstum als ein »Schumpetersches« oder bildhafter als ein »prome1 2 3 4 5

Vgl. zu dieser Bezeichnung McCraw, Prophet of Innovation. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, 137, 140. Ebd., 138. Schumpeter, Theory of Economic Development, 68. The Economist, 12. 5. 2012, 60.

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theisches« Wachstum von einem »Solowschen«, das durch höhere Inputs entsteht und nach Robert Solow benannt ist, und einem »Smithschen«, das durch Marktausweitung und gesteigerte Spezialisierung erzeugt wird und natürlich nach Adam Smith benannt ist. Tatsächlich impliziert Kapitalakkumulation unter den für moderne, entwickelte Ökonomien charakteristischen Bedingungen harter Konkurrenz Innovation (wie bereits Solow in seinem neo-klassischen Wachstumsmodell bemerkte). Zur Aufrechterhaltung der Profitabilität werden Unternehmer stets neue Kapitalgüter kaufen, die mehr pro Zeiteinheit produzieren als die bisherigen. Andernfalls wäre das Ergebnis nur eine größere Menge desselben Produkts zu – früher oder später – niedrigeren Preisen und mit weniger Gewinn pro zusätzliche Einheit. Unternehmer ziehen es vor, neue Produkte herzustellen, erhöht dies doch ihre Chancen, einen Markt zu monopolisieren und zeitweilig höhere Gewinne zu erzielen. Das ist der zentrale Gedanke in Schumpeters Analyse des Kapitalismus: Der wahre Unternehmer, die Triebkraft der Entwicklung, versucht, die gegebene Situation nicht optimal zu nutzen, sondern zu verändern. Er schafft eher neue Märkte, als sich den alten anzupassen. Das bedeutet jedoch, wie Schumpeter hartnäckig insistiert, dass die Dynamik des Kapitalismus »monopolistische Praktiken«6 impliziert: »Die Einführung neuer Produktionsmethoden und neuer Waren ist bei einer von Anfang an vollkommenen – und ganz sofortigen – Konkurrenz kaum denkbar. Dies bedeutet aber, dass die große Masse dessen, was wir wirtschaftlichen Fortschritt nennen, hiermit nicht vereinbar ist.«7 Das ist eine mit Blick auf den unter Ökonomen verbreiteten Fetischismus des freien Marktes überaus wichtige Schlussfolgerung, die viele eher orthodoxe Ökonomen, bei allem Glauben an die Bedeutung von Innovationen, aber natürlich nicht (gänzlich) teilen würden. Die Reichweite solcher Innovationen und Erfindungen variiert stark. Man unterscheidet üblicherweise zwischen Makroerfindungen (die ein neues Paradigma, ein gänzlich neues Verständnis der Produktion in Form von anwendbaren und verbesserungsfähigen Methoden bieten) und Mikroerfindungen (die das Wissen auf einem grundsätzlich bereits bekannten Gebiet graduell erweitern). Makroerfindungen können eine Grundlage für Makroinnovationen, sogenannte Mehrzwecktechnologien, schaffen: für allgemeine Neuerungen der Produktion, die Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft haben. Beispiele dafür sind die Dampfmaschine, die Eisenbahn, die Elektrizität, das Automobil, der Computer und das Internet. Solche Makroinnovationen ziehen wiederum zahlreiche Mikroinnovationen in Gestalt gradueller Verbesserungen nach sich. Ohne Innovationen wäre das Wachs6 So der Titel von Kap. 8 in Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie. 7 Ebd., 172.

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tum, das in den reichsten Teilen der Welt in den letzten rund zweihundert Jahren aufgetreten ist, schlicht unerklärbar, wie Deirdre McCloskey sehr überzeugend zeigt. Ihr zufolge sind die entwickelten Weltregionen in »das Zeitalter der Innovation« eingetreten.8 Bestimmt man die unmittelbaren Ursachen der Great Divergence anders als gemeinhin üblich – indem man sie etwa als Beginn permanenter Innovation und nicht einer Phase höherer Investitionen begreift –, hat dies natürlich auch Implikationen dafür, wie man ihre letztgültigen Ursachen fasst. Erklärungen sind stets auch Beschreibungen: Sie sollen erklären, was tatsächlich geschieht. In vielen Diskussionen über historische Erklärungen geht es in Wirklichkeit um Interpretationen. Diesen wesentlichen Gesichtspunkt, der auch in Debatten über die Great Divergence viel zu oft ignoriert wird, illustriert Gregory Clark prägnant. In Farewell to Alms behauptet er unter der Überschrift »Innovation erklärt alles moderne Wachstum«: Die »durch Innovationen bewirkte Effizienzsteigerung ist die wirkliche Quelle allen Wachstums und erklärt auch das Wachstum des Sachkapitals. Dessen scheinbar eigenständiger Beitrag zum modernen Wachstum ist illusorisch.«9 Bei Investitionen in Kapitalgüter würden in der Regel die besten verfügbaren Produkte angeschafft. Trifft dies zu – was meines Erachtens der Fall ist –, dann hat das natürlich Konsequenzen dafür, was als Erklärung der Great Divergence gelten kann. Wie Clark bemerkt: »Alles, was wir erklären müssen [sic, PV], ist, warum in dem Jahrtausend vor 1800 sämtliche Gesellschaften – kriegerische und friedliche, mono- wie polytheistische – so wenig in die Erweiterung nützlichen Wissens investierten und warum sich dies erstmals in Großbritannien um das Jahr 1800 änderte.«10 Clarks These mag extrem sein. Für die meisten Ökonomen steht jedoch außer Frage, dass das Wachstum, wie wir es seit der Industrialisierung kennen, tatsächlich primär durch Innovationen im Sinne Schumpeters entsteht. Sie erkennen an, dass jeder Versuch, die Steigerung der Gesamtproduktion durch erhöhte Inputs zu erklären, auf das oben erwähnte enorme Residuum stößt, das wenigstens zu sehr großen Teilen auf Innovationen, insbesondere auf neue Technologien, zurückgeführt werden muss. In dieser Hinsicht scheint Robert Lucas, wenigstens was die Bedeutung der Technologie für die Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums betrifft, eine recht ungewöhnliche Position zu vertreten: »Worin das Neue im Wirtschaftsleben des 18. Jahrhunderts auch immer bestanden haben mag, die schlichte Tatsache technischen Wandels war es gewiss nicht, denn eine ständige Verbesserung der Technik war bereits in den vorhergehenden Jahrhunderten nötig gewe8 So argumentiert McCloskey, Bourgeois Dignity. Zitat auf 76. 9 Clark, Farewell to Alms, 204. 10 Ebd., 207.

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sen, um das beeindruckende Bevölkerungswachstum zu verkraften.«11 Im 19. Jahrhundert mag Wachstum noch weitgehend dem Einsatz von Sachkapital entsprungen sein, im 20. Jahrhundert jedoch haben Humankapital und Wissen bis zur Unkenntlichkeit an Bedeutung gewonnen. Die Quelle all der neuen Technologien galt jedoch lange Zeit als eine »exogene«, die der Ökonom folglich nicht erklären muss und als Ökonom auch gar nicht erklären kann – wahrhaft »Manna, das vom Himmel fällt«. Als Platzhalter für Innovationen, die als letztendlich selbstverständlich vorausgesetzt wurden, konnte man allenfalls die Investitionen in Forschung und Entwicklung messen. Ein solches Zugeständnis ist für eine Sozialwissenschaft, die nicht gerade für ihre Bescheidenheit bekannt ist, natürlich recht unbefriedigend. Es überrascht deshalb nicht, dass Ökonomen Abhilfe darin gesucht haben, Innovation als Anwendung (neuen) Wissens zu »endogenisieren«. So entstand die »neue« oder »endogene Wachstumstheorie«, die die zentrale Rolle von Wissen anerkennt und herauszufinden versucht, wo es entspringt und wie es produziert und angewendet werden kann.12 Nicht nur sie rückt das Wissen in den Mittelpunkt. Auch Douglass North zum Beispiel, der nicht als Vertreter der neuen Wachstumstheorie gilt, erkennt seine grundlegende Bedeutung für das moderne Wirtschaftswachstum an, wenn er »das Wachstum des Wissensbestands« als »Triebkraft der modernen Welt« bezeichnet und erklärt: »Der Aufstieg der westlichen Welt resultierte letztlich aus jenen Arten von Fertigkeiten und Wissen […], die für ihre politische und wirtschaftliche Ordnung im Mittelalter [sic, PV] als wertvoll galten.«13 Wenn das Wesen des Wachstums und der sogenannten Neuen Ökonomie (angewandtes) Wissen ist – in einem solchen Maße, dass die Neue Ökonomie häufig als »Wissensökonomie« bezeichnet wird –, dann gewinnt die Frage, was für eine Art von Produkt Wissen ist, erheblich an Bedeutung. Es erweist sich als ein eigentümliches Gut. Zunächst einmal ist es ein sogenanntes non-rival good. Es besteht aus Ideen, nicht Gegenständen, und erzielt deswegen steigende Erträge: Mit jeder durch seine Anwendung produzierten Einheit sinken seine Kosten. Eine Idee kann von mehreren Menschen gleichzeitig – und gewöhnlich bereits für ein geringes Entgelt oder sogar kosten11 Lucas, Lectures on Economic Growth, 114, eine neue Version seines Textes »The Industrial Revolution: Past and Future«. Vgl. auch S. 169 dieser Aufsatzsammlung. Aus meiner Sicht zeugt dies von einem völligen Unverständnis der Charakteristika der technischen Innovationen während der Industriellen Revolution und des damit einhergehenden Bevölkerungswachstums. 12 Mein Verständnis der neuen Wachstumstheorie stützt sich auf Cortright, »New Growth Theory«, Helpman, Mystery of Economic Growth, und vor allem Warsh, Knowledge and Wealth. Profitiert habe ich auch von Beinhocker, Entstehung des Wohlstands, trotz der etwas anderen Herangehensweise und Terminologie des Autors. 13 North, Economic Change, 44, 63.

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los – verwendet werden, ohne an Nützlichkeit zu verlieren. Die Kosten der Erfindung einer neuen Technologie sind unabhängig von der Zahl ihrer späteren Nutzer. Die steigenden Erträge von Wissen bilden einen Kontrast zu den sinkenden Erträgen von Boden, Arbeit und Kapital. Aus der Tatsache, dass Wissen derart grundlegend für das moderne Wachstum ist, ergeben sich zumindest zwei wichtige Konsequenzen. Wenn Wissen tatsächlich der primäre Wachstumsmotor ist oder geworden ist und tatsächlich steigende Erträge erzielt, muss die Wirtschaftswissenschaft nicht länger eine von Knappheit besessene »trostlose Wissenschaft« sein. Mehr Wissen anzuhäufen würde dann schnelleres Wachstum bedeuten, insbesondere wenn technischer Fortschritt nicht mehr, wie in einer malthusianischen Welt, zu Bevölkerungswachstum führt. Und damit wird es natürlich eine entscheidende Frage, wie man die Menge des verfügbaren nützlichen Wissens steigern und dafür sorgen kann, dass Innovation endogen und normal wird. In diesem Kontext muss man ein weiteres eigentümliches Charakteristikum des Wissens bedenken: Zu großen Teilen lässt es sich im Prinzip recht mühelos und kostengünstig kopieren. Wissen hat die Tendenz, sich zu verbreiten. Man kann andere in dem Maße von ihm ausschließen, wie sich der Zugang zu ihm durch geistige Eigentumsrechte und in der Praxis durch implizites Wissen und Betriebsgeheimnisse kontrollieren und monopolisieren lässt. Gleichwohl kann man den exklusiven Zugriff auf Wissen rasch einbüßen. Der öffentliche Nutzen von Forschung und Entwicklung ist meistens weitaus größer als der private: Zum Vorteil von Nachahmern und Konkurrenten verbreiten sich neue Erfindungen. Diese Unmöglichkeit einer exklusiven Aneignung kann Investitionen bremsen, da die Erträge, wie bei Investitionen in die Infrastruktur, nicht allein den Investoren zufließen werden. Zudem können die Fixkosten neuer Technologien für Privatinvestoren sehr hoch sein. Das deutet darauf hin, dass dem Staat zumindest im Bildungswesen und nach Auffassung vieler Vertreter der neuen Wachstumstheorie auch bei Forschung und Entwicklung eine wichtige Rolle zufällt, wenngleich die Meinungen darüber auseinandergehen. Auf der einen Seite weisen Wissenschaftler wie David Warsh darauf hin, dass westliche Regierungen – Bacons Maxime »Wissen ist Macht« folgend – zu dem Schluss kamen, dass eine Subventionierung der Produktion und Verbreitung von Wissen in ihrem eigenen Interesse liege. Ihm zufolge schnitten diejenigen Nationen am besten ab, die in Bildung investierten. Aufgrund des öffentlichen Charakters von Wissen, so Warsh, müsse seine Produktion und Verbreitung durch öffentliche Maßnahmen gefördert werden; menschliche und technische Ressourcen erforderten ein gewisses aktives Management durch den Staat.14 Tyler Cowen

14 Warsh, Knowledge and Wealth, Schlusskapitel.

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befürchtet ein Nachlassen der Innovationsfähigkeit und meint, dass Regierungen zur Verbesserung des sozialen Status von Wissenschaftlern beitragen sollten.15 Gemessen an ihrer enormen Bedeutung für die moderne Wirtschaft und den Wohlstand der meisten Menschen sind der Status und die Entlohnung von Wissenschaftlern tatsächlich beachtlich, nämlich beachtlich niedrig. Andere Wissenschaftler sind weitaus skeptischer, was die positive Rolle des Staates für die Wissensförderung, insbesondere für Forschung und Entwicklung, betrifft. So versteht Ridley Entwicklung als einen »von unten« und qua Konkurrenz technologisch getriebenen Prozess, nicht als einen von oben angeordneten, kollektiven und geplanten, der durch wissenschaftliche Forschung angetrieben werde: Forschung lebe von Offenheit, Austausch, Wettbewerb und Synergien; in einem offenen, von Wettbewerb geprägten Kontext seien Innovation und Wachstum die Normalität. Mit der Ausweitung des Marktes für Ideen, so Ridley, werde fruchtbare Spezialisierung möglich und »das kollektive Gehirn« entsprechend wachsen.16 Der Wissenschaftshistoriker Terence Kealey hält den Markt für die bei Weitem erfolgreichste Institution zur Förderung von Wissenschaft, Innovation, Wohlstand und Glück. Staatliche finanzierte Forschung war aus seiner Sicht schon immer eine Verschwendung von Geld, Energie und Ressourcen.17 Die Regierung, so Kealey, sei ihrem Wesen nach ein Monopol und die »größte Schlacht der Menschheit in den letzten 10.000 Jahren war der Kampf gegen Monopole«.18 Robert Wright führt in seinem Buch Nonzero ausschließlich Wettbewerb und Synergie als Gründe dafür an, dass die Entwicklung des Wissens kein Nullsummenspiel sei, und nie den Staat.19 All diese Überlegungen könnten hilfreich sein, um die Rolle des Wissens für die Great Divergence zu fokussieren und herauszufinden, ob Großbritannien in dieser Hinsicht im Vorteil war. Es ist erstaunlich, wie häufig von Konkurrenz als Innovationsmotor die Rede ist und wie selten von Kooperation, die, so scheint mir, von fundamentaler Bedeutung für die Erzeugung wirklicher Synergien ist, ohne die es keine innovativen Durchbrüche gibt.20 Das betrifft selbstredend auch die Gedanken von Ökonomen darüber, was Innovationen zum Halt bringen könnte oder unter welchen Umständen sie gar nicht erst entstehen. Schumpeter selbst prognostizierte ein Ende kapita-

15 Cowen, Great Stagnation, 83–86. 16 Ridley, Wenn Ideen Sex haben, Kap. 8, insbesondere 360–364. 17 Kealey, Scientific Research; Wright, Nonzero. 18 Kealey, Sex, Science and Profits, zitiert nach Ridley, Wenn Ideen Sex haben, 228. Ridley pflichtet dem bei. 19 Wright, Nonzero. 20 Vgl. dazu die Überlegungen von Dudley, zusammengefasst auf S. 245–246.

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listischer Innovationen aufgrund eines »Veraltens der Unternehmerfunktion« und der »Zerstörung der schützenden Schichten« sowie des »institutionellen Rahmens der kapitalistischen Gesellschaft«. Er erwartete zudem, dass der Kapitalismus mit einer zunehmend feindseligen Umgebung für Kapitalisten konfrontiert sein würde.21 In diesem Zusammenhang ist William Baumols Beobachtung interessant, dass große Firmen vor allem die gegebene Technik verbessern, während wirkliche »Innovation« heute von Kleinunternehmern vorangetrieben wird. Großkonzerne gehen weniger Risiken ein und werden meist von Managern, nicht von Unternehmern geführt. Ausnahmen gibt es zwar immer, doch Baumol hält es für bemerkenswert, wie stark sich beide Ansätze voneinander unterscheiden. Demnach wäre es ein Zusammenspiel von Forschung und Entwicklung durch Konzerne und dem unternehmerischen Wirken mehr oder weniger unabhängiger Individuen, was die Wirtschaft antreibt.22 Doch die Wertschätzung, die Innovationen in den Theorien von Ökonomen erfahren, wird von vielen Menschen in der Praxis nicht geteilt. Welche Rolle spielt also die Ablehnung von Innovationen? Acemoglu und Robinson halten sie für entscheidend: »Die Furcht vor schöpferischer Zerstörung ist der Hauptgrund dafür, dass es zwischen der Neolithischen und der Industriellen Revolution keine nachhaltige Verbesserung der Lebensstandards gab.«23 Diese Angst ist ein zentrales Thema ihres hochgelobten neuesten Buchs. Allerdings betonen sie vor allem die Innovationsfeindlichkeit von Eliten, obwohl das Phänomen viel verbreiteter ist.24 Mokyrs stärker analytische Herangehensweise ist in dieser Hinsicht fruchtbarer und verdient mehr Beachtung und Weiterentwicklung.25 Können Innovationen zum Halt kommen oder ihren produktivitätssteigernden Effekt einbüßen? In seinem heftig debattierten Buch The Great Stagnation (2011) behauptete Tyler Cowen, dass Innovationen und leicht erzielte Fortschritte in den Vereinigten Staaten immer seltener würden und die jüngsten sensationellen Innovationen nur sehr geringe Produktivitätssteigerungen bewirkt hätten. Gemessen am Nationaleinkommen oder den Bildungsausgaben finde heute weniger Innovation in den Vereinigten Staaten statt als im 19. Jahrhundert, in dem es für einen durchschnittlichen Menschen einfacher gewesen sei, eine wichtige Innovation zu entwickeln, als im 20. Jahrhundert. Laut Cowen hat sich die Innovationsrate gemessen an den

21 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, Kap. 12 und 13. 22 William J. Baumol, »Education for Innovation: Entrepreneurial Breakthroughs vs. Corporate Incremental Improvements«, Working Paper 8651, National Bureau of Economic Research, http://www.nber.org/papers/w10578, June 2004, z.B. 2 und 13. 23 Acemoglu/Robinson, Warum Nationen scheitern, 230. 24 Vgl. meine Rezension von Warum Nationen scheitern. 25 Mokyr, »Innovation and its Enemies«.

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wirtschaftlichen Auswirkungen verlangsamt.26 Die am höchsten entwickelten Wirtschaften der Welt sind heute weitgehend zu Dienstleistungsökonomien geworden, und dass Produktivitätssteigerungen im Dienstleistungssektor mit denen in anderen Sektoren vergleichbar sind, ist ihm zufolge keineswegs klar. Ist das »Wachstum« in Sektoren wie Telekommunikation, Internet und Finanzwesen wirklich Wachstum, also eine Steigerung der Produktion, oder lediglich eine Folge höherer Löhne?27 Cowens Bemerkungen erinnern an die »baumolsche Kostenkrankheit«, benannt nach dem Wirtschaftswissenschaftler William J. Baumol, der gemeinsam mit William Bowen den Ursachen und Folgen des Phänomens nachging, dass Lohnsteigerungen in Sektoren mit wachsender Arbeitsproduktivität auch die Löhne in denjenigen Sektoren steigen lassen, in denen die Produktivität stagniert. Verwiesen wird dabei insbesondere auf die Situation im (öffentlichen) Dienstleistungssektor, in dem die Produktivität der Arbeit aufgrund hoher Arbeitsintensität und geringen Möglichkeiten für technische Innovation kaum oder gar nicht steigt, aber dennoch konkurrenzfähige Löhne gezahlt werden müssen. Angesichts seiner zunehmenden Bedeutung in modernen Wirtschaften kann dies eindeutig hemmende Effekte für das Gesamtwachstum haben, da die Entlohnung seiner Beschäftigten eine stetig steigende Steuerlast bewirkt.28 Cowens Bemerkungen können in jedem Fall zum Nachdenken darüber anregen, ob Innovationen tatsächlich immer weitergehen und, wichtiger noch, ob sie immer produktiv sein werden. Welche Innovationen sind entscheidend? Was bringt sie zum Halt oder lässt sie allmählich versiegen? Für Debatten über die Great Divergence scheint mir zudem die Frage sehr wichtig zu sein, welche ökonomische Bedeutung Innovationen im Dienstleistungssektor zukommt und wie sich dessen Produktivität messen lässt. Ähnliche Fragen wie zu Innovation lassen sich auch mit Blick auf Erfindungen stellen. Es gibt bekannte Beispiele für sehr erfinderische Gesellschaften, deren Erfindungseifer aber aus dem einen oder anderen Grund ein Ende 26 Cowen, Great Stagnation, S. 18–20. Vgl. auch »The Great Innovation Debate«, The Economist, 12. 1. 2013, 9, 19–22. 27 In den Niederlanden wurden von 2000 bis 2010 etwas mehr als eine halbe Million Arbeitsplätze geschaffen, davon 385.000 im Gesundheitswesen. 2010 gab es 1,4 Millionen Vollzeitstellen in diesem Sektor, 38 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor. Im Handel arbeiteten 2010 rund 1,5 Millionen Menschen. Im öffentlichen Dienst waren es 1,1 Millionen, rund 100.000 mehr als im Jahr 2000. Dieser Zuwachs entfiel vor allem auf das Bildungswesen, aber auch auf die Verwaltung. In der Privatwirtschaft wurden in diesem Zeitraum dagegen kaum neue Arbeitsplätze geschaffen. War sie in den 1990er Jahren mit 1,3 Millionen neuen Arbeitsplätzen noch der wichtigste Jobmotor der niederländischen Ökonomie, schuf sie in der ersten Dekade dieses Jahrtausends nur noch 30.000 Stellen. 28 Vgl. den Eintrag »Baumol Cost Disease« in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12. 10. 2012].

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fand oder wenigstens stark nachließ, etwa China nach den Song (907–1276), die arabisch-islamische Welt nach dem 12. Jahrhundert, Italien nach der Renaissance oder die Niederlande nach ihrem Goldenen Zeitalter. Für dieses Phänomen wurde sogar ein Gesetz (genauer gesagt eine empirische Verallgemeinerung), das nach dem Technikhistoriker Donald Cardwell benannte Cardwell’sche Gesetz, aufgestellt: »Keine Nation war je länger als für einen historisch kurzen Zeitraum (technologisch) sehr schöpferisch.«29 Was verursacht solche Blütephasen und ihr Ende? Warum wechseln die Orte mit dem größten Erfindungsreichtum der Tendenz nach? Findet ein Reich aufgrund von Vorteilen wie Skaleneffekten, Skalenerträgen und Verbundeffekten in dieser Hinsicht bessere Bedingungen vor als der Teil eines Staatensystems, dem Differenz, Vielfalt und Wettbewerb zugutekommen? Solche Fragen führen uns zu den Strukturen von Wirtschaften und der Gesellschaften, deren Teil sie sind. Um das Wirtschaftsleben so effizient wie möglich zu organisieren und Innovationen zu einem ständigen und normalen Vorgang zu machen – oder zumindest ihren zufälligen Ad-hoc-Charakter zu überwinden –, bedarf es bestimmter gesellschaftlicher Arrangements, also bestimmter Institutionen. Ohne das »richtige« institutionelle Umfeld ist die »richtige« Allokation, Kombination und Entwicklung von Faktoren unmöglich oder wenigstens stark gefährdet. Wenn Boden, Arbeit, Kapital und Wissen die unmittelbaren Ursachen von Wachstum sind, müssen Institutionen zu seinen Endursachen zählen.

29 Cardwell, Western Technology, 210.

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Teil 1: Moderne Wirtschaftswissenschaft und Theorien des Wachstums

8. Institutionen: Eigentumsrechte, Märkte und Staaten

Der Rekurs auf Institutionen ist in der Wirtschaftswissenschaft sehr populär geworden, obwohl – oder vielleicht gerade weil – die Bedeutung des Begriffs nicht ganz klar ist. Viele Ökonomen, zum Beispiel North und Acemoglu (und ihre Koautoren) oder Avner Greif und Dani Rodrik, die gegenwärtig zu den einflussreichsten Vertretern ihrer Disziplin zählen, verstehen Institutionen ausdrücklich als eine oder gar die entscheidende Ursache langfristigen Wirtschaftswachstums.1 Es gibt zahlreiche Definitionen des Begriffs. Greif versteht darunter »ein System von Regeln, Überzeugungen, Normen und Organisationen, die zusammen eine Regelhaftigkeit des (sozialen) Verhaltens erzeugen«.2 Die wohl geläufigste Definition – vermutlich, weil sie vom nobelpreisgekrönten Vertreter der Institutionenökonomik North stammt – lautet: »Institutionen sind die Spielregeln einer Gesellschaft oder, förmlicher ausgedrückt, die von Menschen erdachten Beschränkungen menschlicher Interaktion. Dementsprechend gestalten sie die Anreize im zwischenmenschlichen Tausch, sei dieser politischer, gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Art.«3 Geoffrey Hodgson definiert den Begriff so: »Institutionen sind dauerhafte Systeme anerkannter und eingebetteter sozialer Regeln, die soziale Interaktionen strukturieren.«4 Dabei unterstreicht er, dass »strukturieren« in diesem Kontext sowohl »einschränken« wie »ermöglichen« bedeutet, was meines Erachtens eine grundlegende und notwendige 1 Der gegenwärtig einflussreichste institutionalistische Ökonom/Wirtschaftshistoriker ist wahrscheinlich Douglass North. Eine Auflistung all seiner Arbeiten wäre hier nicht sinnvoll, weshalb nur auf sein neuestes, gemeinsam mit John Joseph Wallis und Barry R. Weingast verfasstes Buch Gewalt und Gesellschaftsordnungen verwiesen sei. Zu nennen sind außerdem Acemoglu/Johnson/Robinson, »Institutions as Fundamental Cause«; dies., »Colonial Origins«; dies., »Reversal of Fortune«; dies., »Rise of Europe«; Acemoglu/Robinson, Warum Nationen scheitern, eine neue Monografie, in der immer wieder auf die entscheidende Bedeutung von Institutionen für Wachstum hingewiesen wird; Greif, Institutions, um nur sein neuestes wichtiges Buch zu nennen; Hall/Jones, »Why do some Countries Produce so Much More?«; Helpman, Mystery of Economic Growth; ders. (Hg.), Institutions and Economic Performance; Olson, »Big Bills Left on the Sidewalk«; Rodrik, One Economics; ders./Subramanian /Trebbi, »Institutions Rule«. 2 Greif, Institutions, 30. 3 North, Institutionen, 3. 4 Hodgson, »Institutions«, 86.

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Institutionen: Eigentumsrechte, Märkte und Staaten

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Erweiterung des Begriffs impliziert. In diesem Sinne werde ich ihn, sofern nicht anders vermerkt, im vorliegenden Buch verwenden. North betont zu einseitig das einschränkende Element und vernachlässigt demgegenüber die »ermöglichende« Seite von Institutionen, die aus meiner Sicht mindestens genauso wichtig für die Erklärung von Wachstum ist. Eigentumsrechte zum Beispiel schränken einerseits tatsächlich Menschen darin ein, sich fremden Besitz zu nehmen, ermöglichen es aber andererseits dem Eigentümer, mit seinem Eigentum zu tun, was ihm beliebt. Greifs Formulierung »Regelhaftigkeit des Verhaltens« kann grundsätzlich strukturelle Einschränkungen ebenso wie strukturiertes Handeln und formelle Aspekte ebenso wie informelle umfassen, zwischen denen North explizit unterscheidet. North differenziert sinnvollerweise zwischen Einschränkungen durch formelle Regeln (Gesetze, Verfassungen) und solchen durch informelle (Konventionen, Verhaltensnormen). Zudem achtet er besonders auf die jeweilige Effektivität ihrer Durchsetzung. Diese kann durch eine dritte Partei (Gesetzesvollstreckung, soziale Ächtung), die Gegenseite (Vergeltung) oder den Akteur selbst (selbstauferlegte Verhaltensnormen) erfolgen.5 Ferner unterscheidet North zwischen Institutionen als den Spielregeln und Organisationen als den Spielern, auch wenn er Organisationen ebenfalls als Institutionen, wenngleich spezifischer Art, betrachtet. Diese Organisationen bestehen »aus spezifischen Gruppen von Personen, die durch teilweise koordiniertes Verhalten ein Gemisch von gemeinsamen und individuellen Zielen verfolgen«.6 Von welcher Definition man auch ausgeht, es ist nur logisch, den Staat als Institution oder genauer Superinstitution zu betrachten, die, selbst wenn man einer minimalistischen Interpretation ihrer Aufgaben folgt, eine Arena kollektiven Handelns darstellt. Dabei stellt die Regierung Infrastruktur bereit, formuliert die Regeln und tritt bei ihrer Durchsetzung als Schiedsrichter auf. Greif, North und Hodgson verstehen Institutionen gleichermaßen als eine Art Ausdruck oder Gerinnung der dominierenden Kultur, woraus folgt, dass die Spielregeln in letzter Instanz von den Werten und Interpretationen der Spieler abhängen. Persönlich teile ich die folgenden Aussagen von Claudia Williamson, die sich gegen eine strikte Unterscheidung von formellen und informellen Institutionen (und somit von Institutionen und Kultur) richten und die Bedeutung von Kultur unterstreichen: Die Befunde sprechen dafür, dass informelle Institutionen eine wichtige Entwicklungsdeterminante sind. Formelle Institutionen hingegen sind nur dann erfolgreich, wenn sie eingebettet sind in informelle Einschränkungen, und die Kodifizierung informeller Regeln kann unbeabsichtigte negative Folgen haben. Das deutet darauf hin, dass sich Institutionen nicht ohne Weiteres zwecks Entwicklungsförderung verpflanzen lassen. (…) 5 North, »Prologue«, 6. 6 North/Wallis/Weingast, Gewalt und Gesellschaftsordnungen, 16.

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Meine Befunde sprechen dafür, dass der Erfolg formeller Institutionen von der Fähigkeit abhängt, sich auf informelle Regeln zu stützen.7

Doch auch hier besteht, wie Hodgson treffend bemerkt, eine Wechselbeziehung zwischen Handlung und Struktur: Institutionen sind zugleich objektive Strukturen »da draußen« als auch subjektive Triebkräfte des Handelns »im Kopf des Menschen«. Akteur und Struktur, wenngleich unterschieden, sind in einem Zirkel von Interaktion und Interdependenz miteinander verbunden. Diese Beziehung ist jedoch keine symmetrische: Strukturen und Institutionen gehen den Individuen in der Regel voraus […] Wir alle werden in eine Welt bereits existierender Institutionen geboren, die uns die Geschichte vermacht hat.8

Über diese (Wechsel-)Beziehung zwischen Handlung und Struktur, Kultur und Institutionen sind sich aber nicht alle Vertreter der Institutionenökonomik einig. Die Relevanz von Institutionen steht für mich außer Frage. Wie könnten »dauerhafte Systeme anerkannter und eingebetteter sozialer Regeln, die soziale Interaktionen strukturieren«, nicht einen grundlegenden Einfluss auf die Wirtschaft haben? Doch gehen die Meinungen auch hier insofern auseinander, als das Gewicht und die relative Autonomie von Institutionen sehr unterschiedlich eingeschätzt werden. Einige Ökonomen – Jeffrey Sachs ist der bekannteste von ihnen – behaupten zwar nicht, dass Institutionen unwichtig seien, halten andere Faktoren, in ihrem Fall »Geografie«, aber für mitunter bestimmender. Wie wir sehen werden, versuchen Sozialwissenschaftler wie Acemoglu, Johnson und Robinson, aber auch Wirtschaftshistoriker wie Stanley Engerman und Kenneth Sokoloff (1952–2007) mit unterschiedlichen Akzentuierungen die Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen Institutionen und Geografie herauszuarbeiten, wenngleich auch sie Erstere für letztlich ausschlaggebend halten. Andere Autoren halten hingegen Kultur oder Wissen für entscheidend. Wir werden später Beispiele für diese Denkrichtung kennenlernen. Die Popularität institutionalistischer Ansätze bedeutet allerdings nicht, dass alle Ökonomen eine institutionalistische Wende vollzogen hätten. Viele von ihnen setzen die Existenz von Märkten und der Mechanismen von Angebot und Nachfrage voraus, konzentrieren sich in ihren Erklärungen aber auf unmittelbare Ursachen. So versucht beispielsweise Jeffrey Williamson, die Great Divergence ausschließlich durch ihre unmittelbaren Ursachen zu erklären.9 Frank scheint ähnlich zu denken und ist wie üblich recht explizit:

7 Claudia R. Williamson, »Dignity and Development«, die Zitate stammen aus dem Abstract und dem Fazit. 8 Hodgson, »Institutions«, 92. 9 Williamson, Trade and Poverty.

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Institutionen: Eigentumsrechte, Märkte und Staaten

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»Institutionen [sind] weniger eine Determinante des wirtschaftlichen Prozesses und seiner Zwänge als von ihm abgeleitet; diese werden lediglich institutionell instrumentalisiert, nicht determiniert.«10 Frank und ähnlich denkende Autoren halten die Existenz von Märkten und der Mechanismen von Angebot und Nachfrage offenbar ebenfalls für recht natürlich. Doch wie Hodgson zurecht betont, ist der Markt keine spontane, natürliche Ordnung, sondern eine gesellschaftliche Institution, die geschaffen wird und aufrechterhalten werden muss. Ohne bestimmte institutionelle Arrangements kann er nicht funktionieren; jeder Versuch, die Einschränkungen und Regulierungen des Marktsystems restlos abzuschaffen, wäre dysfunktional.11 Klassische Marxisten vertreten die These, dass Institutionen in letzter Instanz von Technologie abhängig sind. So erklärt beispielsweise William Shaw in seinem Buch über Marx’ Theorie der Geschichte, dass diesem zufolge die »Produktivkräfte« die »Produktionsverhältnisse« bestimmen, und vertritt einen gewissen technologischen Determinismus.12 Douglas Allen verfolgt in seinem Buch über die institutionelle Revolution einen ähnlichen Gedanken und behauptet, technologischer Wandel sei der Motor der britischen Industrialisierung gewesen, dem sich die Institutionen hätten anpassen müssen. Dies habe Zeit erfordert und erkläre, warum die industrielle »Revolution« so langsam verlaufen sei. Er verweist auf die »Zeit, die Institutionen brauchen, um technologische Fortschritte einzuholen«, die »aus dem institutionellen Wandel resultierenden Folgeeffekte« sowie die Reibung zwischen technologischen Durchbrüchen und dem existierenden institutionellen Rahmen, die »als Bremse« des Wirtschaftswachstums gewirkt habe.13 Frank vertritt dieselbe Ansicht. Das nimmt Institutionen allerdings nicht ihre immense Bedeutung. Ohne institutionelle Anpassung können technische Innovationen nicht ihre optimale Wirkung entfalten. Auch die neue Wachstumstheorie, wie sie von Oded Galor gepredigt wird, betrachtet Institutionen nicht als wirklich unabhängige Variablen.14 Julian Simon ist ähnlicher Ansicht und hält sie langfristig für nicht besonders wichtig.15 Erik Reinert, um ein letztes Beispiel zu nennen, mag ihnen aus ähnlichen Gründen nicht allzu viel »Autonomie« zuschreiben: »Institutionen werden stärker 10 Frank, ReOrient, 206. Die Frage ist natürlich, was Frank mit dem »wirtschaftlichen Prozess und seinen Zwängen« meint – vermutlich, dass wirtschaftliche Entwicklungen durch die Logik ökonomischer Variablen und ihrer näheren Ursachen vollständig erklärt werden können. 11 Hodgson, »Institutions«, 89–91. 12 Shaw, Marx’s Theory of History. 13 Zitiert nach Allen, Institutional Revolution, 221f. 14 Vgl. das Interview mit ihm in Brian Snowdon, »Towards a Unified Theory of Economic Growth«. 15 Simon, Great Breakthrough, Kap. 4.

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von der Produktionsweise geformt und determiniert als umgekehrt, und es hilft schwerlich weiter, diese Kausalbeziehung umzudrehen.«16 Die wirklich interessante Frage lautet: Welche Institutionen sind in welcher Weise relevant, und – am wichtigsten für das Thema dieses Buches – was sind gute Institutionen, also solche, die modernes Wirtschaftswachstum fördern oder wenigstens erleichtern? Erstaunlicherweise finden sich selbst unter bekennenden Institutionalisten kaum Aussagen dazu. North, Wallis und Weingast immerhin befassen sich in einer Studie von 2009 explizit mit der Frage guter Institutionen. Modernes Wirtschaftswachstum kann ihnen zufolge nur in einem institutionellen Rahmen anhalten, den sie als »Ordnung mit Zugangsfreiheit« bezeichnen und der sich durch folgende Eigenschaften auszeichnet: »1. einen Komplex weit verbreiteter Vorstellungen über Zugehörigkeit und Gleichheit aller Bürger; 2. unbeschränkten Zugang zu Tätigkeiten im wirtschaftlichen, politischen, religiösen und Bildungsbereich; 3. Sorge für Ordnungsfaktoren in jeder Tätigkeit, die allen offensteht (zum Beispiel Durchsetzbarkeit von Verträgen); 4. gleiche Rechtssicherheit für alle Bürger; 5. unpersönlichen Tausch.«17 Um den »natürlichen Staat« von Differenzen und Privilegien der Eliten zu überwinden und das Stadium einer unpersönlichen und standardisierten Behandlung zu erreichen, müssen drei »Übertrittsbedingungen« erfüllt sein: Rechtssicherheit für Eliten, zeitlich unbegrenzte Organisationen im öffentlichen und privaten Bereich und eine konsolidierte politische Kontrolle des Militärs.18 Bisher hatte North in seinen Arbeiten immer das Eigentumsrecht stark hervorgehoben. Das tut er weiterhin, aber sein Ansatz scheint sich deutlich erweitert zu haben. Dieselbe Betonung von Eigentumsrechten findet sich in Hernando De Sotos Bestseller Freiheit für das Kapital, im Original 2000 erschienen, das sich vor allem mit ihrer ungenügenden Definition in nichtkapitalistischen Ländern befasst.19 In den vielen sehr einflussreichen Publikationen, die Acemoglu, Johnson und Robinson gemeinsam verfasst haben, gehen Eigentumsrechte, Märkte und Wachstum stets Hand in Hand. Wenn Eigentumsrechte klar definiert und geschützt werden, die besitzenden Gruppen politische Repräsentation genießen, die Märkte funktionieren und der Staat dies fördert, wird sich Wirtschaftswachstum von selbst einstellen – das scheint, kurz gesagt, ihr Credo zu sein. Doch obwohl sie beharrlich erklären, dass Institutionen eine wesentliche Ursache langfristigen Wachstums seien, legen sie überraschen16 17 18 19

Reinert, How Rich Countries Got Rich, 223. North/Wallis/Weingast, Gewalt und Gesellschaftsordnungen, 122. Ebd., Kapitel 5. Soto, Freiheit für das Kapital!.

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derweise nirgends wirklich konkret dar, welche Institutionen und Maßnahmen sie als wachstumsfördernd betrachten: »Gute wirtschaftliche Institutionen sind unseres Erachtens solche, die das Eigentumsrecht schützen und einem breiten Querschnitt der Gesellschaft einen relativ gleichen Zugang zu ökonomischen Ressourcen gewähren.«20 In Warum Nationen scheitern werden Acemoglu und Robinson zwar wesentlich expliziter, aber kaum konkreter. Wie ein Land nicht reich wird, ist für sie klar: Der Hauptgrund für die Armut so vieler Länder besteht demnach in einer schlechten Regierung durch Eliten, die Renten abschöpfen und extraktive Institutionen stützen.21 Ausgangspunkt ihrer Analyse ist die Unterscheidung zwischen inklusiven und extraktiven politischen und wirtschaftlichen Institutionen. Inklusive Institutionen bewirken demnach Prosperität. Ohne solche Institutionen, die nur in einem zentralisierten Staat entstehen könnten, der Ordnung herstelle und Regeln durchsetze und der sich zuerst im Westen herausgebildet habe, könne dauerhaftes Wachstum nicht stattfinden. Extraktive Institutionen verunmöglichten zwar nicht jegliches Wachstum, seien langfristig aber mit modernem Wirtschaftswachstum unvereinbar, da ein solches ständige Innovation impliziere – etwas, das die Eliten in extraktiven Gesellschaften fürchten und zu behindern versuchen. Auch das Ausbleiben von Wachstum sei somit eindeutig auf (falsche) Institutionen zurückzuführen. Man könnte folglich erwarten, dass die Frage, was genau inklusive oder extraktive Institutionen sind und wie sie sich in einer für solide empirische Forschung geeigneten Weise definieren lassen, gebührende Aufmerksamkeit erhält. Ihre Beschreibung bleibt aber überraschend vage und allgemein; nirgends bieten Acemoglu und Robinson eine explizite, operationale Definition. Einige aus ihrer Sicht wesentliche Elemente sind allerdings klar: die Durchsetzung von Eigentumsrechten, die Existenz repräsentativer Institutionen, die alle Personen gleich behandeln, möglichst vielen eine frei gewählte Beteiligung am wirtschaftlichen und politischen Leben ermöglichen und eine breite Streuung von Macht und Wohlstand fördern, sowie schließlich Maßnahmen zur Bekämpfung der Rentenabschöpfung. In Gesellschaften mit inklusiven Institutionen sind Macht und Reichtum demnach weniger konzentriert als in solchen mit exklusiven Institutionen, deren politisches System darauf ausgerichtet sei, reiche und extraktive Eliten an der Macht zu halten. Inklusive Institutionen führen laut Acemoglu und Robinson der Tendenz nach zu einem positiven Zirkel zunehmender Inklusion und wachsenden Wohlstands, da sie Chancengleichheit gewährleisten und so der Gesellschaft die Mobilisierung aller Talente erlauben; extraktive dage-

20 Acemoglu/Johnson/Robinson, »Institutions«, 395. 21 Vgl. etwa Acemoglu/Robinson, Warum Nationen scheitern.

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gen der Tendenz nach zu Teufelskreisen, da sie meist kleine Eliten bereichern, die dadurch wiederum ihre Machtposition stärken können, was den politischen Kampf um die Beute des extraktiven Systems verschärft. Extraktive Wirtschaften können demnach zeitweilig erfolgreich sein, werden aber nie ein nachhaltiges Wachstum hervorbringen, da sie zu viele Menschen ausschließen und zu wenig Innovation ermöglichen. Nachhaltiges Wachstum erfordere Innovation, was schöpferische Zerstörung impliziere. Die Profiteure des bestehenden extraktiven Systems würden Veränderungen, die ihre Position gefährden könnten, in der Regel nicht zulassen.22 Acemoglu und Robinson gehen klar davon aus, dass Ungleichheit Wachstum und Entwicklung hemmt, eine Annahme, die weniger selbstverständlich und unter Ökonomen umstrittener ist, als sie suggerieren. Auf die Zusammenhänge zwischen Ungleichheit und der Great Divergence werden wir später kurz eingehen. Auffällig an den Arbeiten von North und Acemoglu und ihren jeweiligen Koautoren ist, dass sie von der stillschweigenden, nirgends erörterten Annahme ausgehen, der Marktmechanismus garantiere Wirtschaftswachstum. Gute Institutionen sind folglich solche, die ein optimales Funktionieren des Marktes ermöglichen oder notfalls herbeiführen, was in der Moderne vor allem eine spezifische Art von Staat und staatlichen Maßnahmen erfordert. Obwohl insbesondere Acemoglu und Robinson der Politik große Bedeutung beimessen, haben sie insofern ein recht begrenztes Verständnis ihrer Rolle, als der Staat ihnen zufolge zur Wachstumsförderung gar nicht viel unternehmen sollte. Es genüge, wenn die Regierung den Markt unterstützt und aufrechterhält, was in ihrem Verständnis wie erwähnt bedeutet, möglichst viele Bürger am öffentlichen und wirtschaftlichen Leben zu beteiligen, ihnen einen gerechten Anteil am Gesamtprodukt zu gewähren und die richtigen Anreize zu geben. Acemoglu und Robinson sind eindeutig nicht der Auffassung, dass der Staat selbst als aktive Partei auf dem Markt auftreten, ihn regulieren oder gar eigene entwicklungsfördernde Maßnahmen ergreifen sollte. Rodrik widmet in One Economics, Many Recipes ein ganzes Kapitel Institutionen, die hochwertiges Wachstum fördern und von ihm als »marktunterstützende Institutionen« bezeichnet werden.23 Angeführt werden Eigentumsrechte – weniger im Sinne tatsächlichen Besitzes als von Verfügung –, regulierende Institutionen (die Fälle von Marktversagen beheben oder ver-

22 Ebd. 23 Rodrik, One Economics, Kap. 5. Zum Ausdruck »marktunterstützende Institutionen«: 156. Meines Erachtens können sich nur sehr reiche und entwickelte Staaten die von Rodrik empfohlenen Maßnahmen und Institutionen leisten. Vgl. auch Kap. 6.

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Institutionen: Eigentumsrechte, Märkte und Staaten

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hindern), Institutionen für makroökonomische Stabilisierung (die keynesianische antizyklische Maßnahmen implementieren), des Sozialversicherungswesens und für Konfliktmanagement. Zusammengenommen ergibt sich so ein recht umfassendes Paket staatlicher Aufgaben, von denen jedoch offenbar keine eine aktive und direkte Wachstumspolitik impliziert. Welche Institutionen am ehesten zur Implementierung solcher Maßnahmen geeignet wären, bleibt offen. An anderer Stelle seines Buchs bemerkt Rodrik, es gebe »keine zwingende Entsprechung zwischen den von guten Institutionen erfüllten Funktionen und den Formen, die sie annehmen«.24 Auch Colin White widmet in Understanding Economic Development ein Kapitel den institutionellen Rahmenbedingungen von Wachstum, wobei er die Rolle von Regierung, Markt und Zivilgesellschaft betont. Er meint, die Beziehung zwischen Institutionen und wirtschaftlicher Leistung könne durchaus eine »kaleidoskopische« sein. Auch treffe möglicherweise Rick Szostaks Behauptung zu, entscheidend für die Aussichten auf Wirtschaftswachstum sei die Differenz zwischen »Ländern, die jegliche Institution gut steuern/durchsetzen können, und solchen, die keine wirtschaftliche Institution gut steuern/ durchsetzen können«.25 Sokoloff und Engerman befinden in ihrem Buch Economic Development in the Americas since 1500: »Institutionen sind wichtig, aber unserem Verständnis nach stark vom politischen und wirtschaftlichen Umfeld beeinflusst. Entscheidend für Wachstum ist wohl am ehesten, dass sie sich im Lauf der Zeit mit den Umständen ändern.«26 Aus ihrer Sicht »ist nicht eine bestimmte institutionelle Lösung entscheidend«. Gesellschaften mit guten Institutionen für Wachstum seien diejenigen mit »größerer institutioneller Flexibilität«, also solche, deren Institutionen es »privaten und öffentlichen Akteuren erleichtern, neue Gelegenheiten zu nutzen«, und »Anpassungsvermögen« beweisen.27 Mokyr, um ein letztes Beispiel anzuführen, kommt in einem völlig anderen Kontext zu einem ähnlichen Ergebnis: Was es brauche, sei »institutionelle Beweglichkeit«.28 Großbritannien hatte recht informelle – und flexible – Institutionen, die sehr adäquat und hilfreich für seine erste Industrialisierung waren, weitaus weniger geeignet dagegen für die Aufrechterhaltung seiner Vorherrschaft während der sogenannten zweiten industriellen Revolution. Die Interpretation des Kapitalismus als »schöpferische Zerstörung« sollte auf die Ebene der Institutionen ausgeweitet werden: Sie bedürften ebenfalls permanenter Innovation.

24 Ebd., 15. Für ihn ist alles »kontextabhängig«! 25 White, Understanding Economic Development, 159. Das Zitat von Szostak stammt aus dem unveröffentlichten Papier »A Growth Agenda for Economic History« (2006). 26 Engerman/Sokoloff, Economic Development in the Americas, 318. 27 Ebd., 325–327, 340. 28 Mokyr, Enlightened Economy, 486.

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Teil 1: Moderne Wirtschaftswissenschaft und Theorien des Wachstums

Es gibt zahlreiche Institutionen, die die wirtschaftliche Entwicklung in der einen oder anderen Weise beeinflussen könnten und möglicherweise eine Rolle für die Entstehung der Great Divergence gespielt haben. Darüber ist viel diskutiert worden; etwa über die Frage, ob eine formale Organisation des wirtschaftlichen Lebens effizienter sei oder eine informelle. In den klassischen Erzählungen über Modernisierung wurden stets die Vorzüge formaler Strukturen betont. Weber und viele andere Theoretiker verstanden Rationalisierung – die Formalisierung impliziert – geradezu als Kern wirtschaftlicher Modernisierung. Wie wir gesehen haben, spielt Formalisierung auch in der Definition von »Gesellschaften mit Zugangsfreiheit« durch North, Wallis und Weingast eine wichtige Rolle. Sie betrachten versachlichte und rationale Institutionen, Organisationen und Verfahrensweisen als eindeutig positiv für Entwicklung und Wachstum. Wong und Rosenthal dagegen sind sich weniger sicher, ob formale Institutionen effizienter als informelle sind.29 In vielen Studien wurde auf die positiven Auswirkungen einer hochentwickelten Zivilgesellschaft auf die wirtschaftliche Entwicklung hingewiesen. Die Existenz einer solchen Zivilgesellschaft wird dabei oft als »typisch westlich« und als wichtige Erklärung für den wirtschaftlichen Erfolg des Westens dargestellt. So gilt die vielgelobte Studie Making Democracy Work, von Robert Putnam unter Mitarbeit von Robert Leonardi und Raffaella Nanetti verfasst, die die blühende Zivilgesellschaft und den Wohlstand Norditaliens mit dem Mangel an bürgerlichen Verkehrsformen und der relativen Armut Süditaliens vergleicht, weithin als klarer Beweis dafür, dass es, wie Aaron Wildavski formuliert, »das Vermögen zur Selbstorganisation ist, das Menschen wohlhabender und freier und ihre Regierungen effektiver macht«.30 Eine blühende Zivilgesellschaft sei ein Gradmesser für die Existenz von Vertrauen, einer Form von sozialem Kapital, die unter anderem deshalb meist als positiv für die wirtschaftliche Entwicklung gilt, weil sie die Transaktionskosten senke. Acemoglu und Robinson folgen mit ihrer Hervorhebung inklusiver Institutionen und breiter Partizipation demselben Gedanken. Doch auch hier hängt alles vom Kontext ab. Mancur Olson, ein sehr einflussreicher Politikwissenschaftler, ist unter anderem mit seiner These der »institutionellen Sklerose« bekannt geworden, derzufolge Gesellschaften mit einer größeren Zahl von Interessengruppen – und wie viele Gruppen werden früher oder später nicht zu Interessengruppen? – langsamer wachsen, weniger Kapital akkumulieren und ein geringeres Produktivitätswachstum verzeichnen.31 Gleichwohl klingt der Gedanke, eine gut entwickelte »Zivilgesell29 Rosenthal/Wong, Before and Beyond Divergence, Kap. 3. 30 Putnam, Making Democracy Work. Zitat von Widavski im Klappentext. 31 Vgl. zu dieser These etwa Olson, Rise and Decline of Nations.

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Institutionen: Eigentumsrechte, Märkte und Staaten

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schaft« sei eine notwendige Voraussetzung wirtschaftlicher Entwicklung, recht plausibel und hat breite Unterstützung von Wissenschaftlern gefunden, denen zufolge der Westen in dieser Hinsicht im Vorteil war und sich deshalb wesentlich schneller entwickelte. Ausgehend von einer solchen Annahme ist es in der vorherrschenden Wirtschaftslehre und insbesondere unter Institutionalisten beinahe ein Gemeinplatz geworden, dass »Despotie« mit »Entwicklung« unvereinbar sei und dass Repräsentation, das Teilen von Macht (und Reichtum!), der Einschluss möglichst vieler Subjekte als Bürger und somit Demokratie die wirtschaftliche Entwicklung fördere. Rodrik bezeichnet Demokratie als »eine Metainstitution für den Aufbau guter Institutionen«.32 In der Realität ist der Zusammenhang von Demokratie und Wachstum jedoch recht komplex. Länder, die während des Take-offs Demokratien waren, sind jedenfalls recht selten. Für die These, ein Land müsse demokratisch verfasst sein, um den Take-off zu vollziehen, gibt es mit Sicherheit keine empirischen Belege – eher schon für das Gegenteil.33 Ebenso wenig ist Demokratie eine Gewähr für nachhaltiges Wachstum nach dem Take-off. Das Abstract eines Aufsatzes über den Zusammenhang von Demokratie und Wachstum von Robert Barro, dem führenden Experten auf diesem Gebiet, lautet: Für rund hundert Länder werden Wachstum und Demokratie (subjektive Indizes für politische Freiheiten) im Zeitraum von 1960 bis 1990 analysiert. Zu den wachstumsfördernden Effekten zählen die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, freie Märkte, niedriger Staatsverbrauch und hochwertiges Humankapital. Sobald derlei Variablen und das anfängliche Niveau des realen BIP pro Kopf konstant gehalten werden, ist der Gesamteffekt von Demokratie für Wachstum schwach negativ. Es gibt Anzeichen für eine nichtlineare Beziehung: Mehr Demokratie fördert das Wachstum bei einem niedrigen Niveau politischer Freiheiten, hemmt es jedoch, wenn bereits ein moderates Niveau erreicht worden ist. Verbesserungen des Lebensstandards – gemessen anhand des BIP, von Gesundheit und Bildung – erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines Zuwachses an politischen Freiheiten substanziell. Diese Ergebnisse erlauben Prognosen darüber, welche Länder sich im Lauf der Zeit mehr oder weniger demokratisch entwickeln werden.34

Nachhaltiges Wachstum bedeutet Innovation, und es wird immer Menschen geben, die – mit Recht oder Unrecht – befürchten, dass sie persönlich eher deren zerstörerische als schöpferische Seite erfahren werden. Dass nur herrschende extraktive Eliten an der Aufrechterhaltung des Status quo interessiert wären, wie Acemoglu und Robinson in Warum Nationen scheitern annehmen, ist gewiss nicht der Fall. Um Veränderungen zu blockieren, sind 32 Rodrik, One Economics, 8. 33 Chang, Kicking away the Ladder, 71–76. 34 Barro, »Democracy and Growth«. Vgl. dagegen die in Rodrik, Globalization Paradox, 311–312, Anm. 3, aufgeführte Literatur, die die Beziehung zwischen Demokratie und Wachstum positiver sieht.

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Teil 1: Moderne Wirtschaftswissenschaft und Theorien des Wachstums

nicht einmal, wie Olson meint, störende lautstarke Interessengruppen erforderlich. Es ist durchaus vorstellbar, dass sich in einer demokratischen oder »inklusiven Gesellschaft«, wie Acemoglu und Robinson sie nennen würden, eine Mehrheit von Bürgern dem Wandel entgegenstellt, selbst wenn es wirtschaftlich »irrational« sein sollte. Westeuropa bietet zurzeit mehrere hervorragende Beispiele dafür. Hätte in Großbritannien seinerzeit eine Volksabstimmung über die Industrialisierung stattgefunden, wäre sie höchstwahrscheinlich abgelehnt worden, nicht anders als in vielen oder den meisten anderen industrialisierenden Ländern. Es lässt sich durchaus argumentieren – und mit Beispielen belegen! –, dass demokratische Institutionen unter bestimmten Umständen Wachstum hemmen, autoritäre es dagegen fördern können. Auch viele andere Institutionen wurden im Hinblick auf potenzielle Wachstumseffekte diskutiert. So entfachte etwa der ungarisch-britische Wissenschaftler John Hajnal (1926–2008) eine Debatte darüber, ob Westeuropa – genauer: der westlich der imaginären Linie von Triest nach St. Petersburg gelegene Raum – ein spezifisches Heiratsmuster aufweise, das sich nicht nur auf die wirtschaftliche Struktur der Haushalte, sondern auf die gesamte Ökonomie ausgewirkt habe.35 Emmanuel Todd hat sehr einflussreiche Überlegungen zum Zusammenhang von Familienstrukturen, Ideologie und Entwicklung angestellt.36 Häufig angeführt wird zudem der westliche Individualismus.37 Und natürlich wird auch das Recht diskutiert.38 So ist eine Debatte darüber aufgekommen, ob das Zivilrecht rationaler, allgemeiner und folglich wachstumsfördernder sei als das Gewohnheitsrecht, das stärker fallgestützt ist und mehr Interpretationsspielräume lässt.39 Im Vordergrund steht dabei das Eigentumsrecht. Die Menge an Literatur über diese Themen ist überwältigend. In der historisch orientierten Literatur von Institutionalisten und von ihnen beeinflussten Autoren sind Eigentumsrechte das Hauptthema, deren klare Definition und Schutz hier als notwendige oder sogar hinreichende Bedingung für Wirtschaftswachstum gelten. Darauf – und auf eine spezifische, häufig besonders hervorgehobene Variante: die in 35 Ich weise nur auf zwei relevante Publikationen hin: Engelen/Wolf, (Hg.), Marriage and Family in Eurasia, und De Moor/van Zanden, »Girl Power«. 36 Eine Auswahl von Publikationen findet sich im Eintrag »Emmanuel Todd« in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12.10.2012]. 37 Vgl. insbesondere zum englischen Fall Macfarlane, The Origins of English Individualism, und ders., Invention of the Modern World, insbesondere Kap. 8. 38 Allgemein zum Zusammenhang von Recht und Wirtschaftswachstum: Cooter/ Schaefer, Solomon’s Knot. Zur Rolle des Rechts in der Great Divergence: Debin Ma/ Van Zanden (Hg.), Law and Long-Term Economic Change. Zur Situation in Großbritannien: Macfarlane, Invention of the Modern World, Kap. 11. 39 Helpman, Mystery of Economic Growth, 119–122.

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Institutionen: Eigentumsrechte, Märkte und Staaten

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Patenten kodifizierten geistigen Eigentumsrechte – werden wir weiter unten kurz eingehen. Auch Erbregeln – etwa die Frage, ob Primogenitur oder Teilbarkeit des Erbes vorherrschte und ob das Familienfideikommiss oder unterschiedlichste Formen des Verkaufs unter Vorbehalt existierten – würden angesichts ihrer Bedeutung und der großen Unterschiede zwischen dem frühneuzeitlichen Großbritannien und China in dieser Hinsicht mehr Berücksichtigung verdienen, als es hier möglich ist. Außerdem ist unter Historikern eine interessante Debatte darüber entbrannt, ob sich das Gildensystem positiv oder negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung im vorindustriellen Europa ausgewirkt habe.40 Es würde schlicht zu weit führen, all diese und verwandte Themen in einem ohnehin zur Überdehnung tendierenden Text zu erörtern, weshalb ich mich auf diejenigen Institutionen konzentrieren werde, die in wirtschaftswissenschaftlichen Wachstumsdiskussionen am meisten berücksichtigt werden und die mir für die Great-Divergence-Debatte am relevantesten scheinen. Im Zentrum wird deshalb die Rolle des Marktes und des Staates stehen. Da sie in der Wirklichkeit ebenso wie in wissenschaftlichen Debatten derart eng miteinander verflochten sind, dass eine getrennte Behandlung nicht sinnvoll wäre, werden sie hier zusammen erörtert. Dabei ist es wiederum erstaunlich, ja für den arglosen Beobachter wahrscheinlich erschreckend, wie weit die Meinungen von Ökonomen selbst über die kaum unerhebliche Frage auseinandergehen, wie ein wachstumsförderndes Allokationssystem und Gemeinwesen aussehen würde. Jede erdenkliche Antwort darauf, von freiem Wettbewerb bis Monopol und von totalem Laissez-faire bis zu vollständiger zentraler Planung – und jede Zwischenposition –, ist von irgendeinem Ökonomen begeistert verfochten worden. Über die Bedeutung von Rechtstaatlichkeit, des staatlichen Gewaltmonopols und einer gewissen Zentralisierung des öffentlichen Lebens scheint – ganz zurecht – allgemein Einigkeit zu bestehen; jenseits dessen bestehen zahllose Meinungsverschiedenheiten. Die vorherrschende klassische und neoklassische Wirtschaftslehre hält den Marktmechanismus, also den freien und fairen Wettbewerb, weiterhin für eine notwendige und oft sogar hinreichende Bedingung für Wachstum. Ihr Dogma wurde bereits von Adam Smith formuliert, auch wenn er das, was wir »modernes Wirtschaftswachstum« nennen, für unmöglich hielt: »Es bedarf wenig mehr, um einen Staat von der niedersten Barbarbei zum 40 Die neuesten Texte zu dieser Frage sind Epstein, »Craft Guilds in the Premodern Economy«, ders./Prak (Hg.), Guilds, Innovation and the European Economy; Ogilvie, Institutions and European Trade. Meines Erachtens hatten Gilden insgesamt eine negative Wirkung, insofern würde ich mich Ogilvie anschließen. Geteilt wird Ogilvies Position von Dudley, Mothers of Innovation, z.B. 128–129 und 191. Im Bereich der Ausbildung und Qualitätskontrolle haben sie dagegen meines Erachtens eine positive Rolle gespielt.

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höchsten Grad des Reichtums zu befördern, als Frieden, niedrige Steuern und eine annehmbare Rechtsverwaltung; alles Weitere führt der natürliche Lauf der Dinge herbei.«41 Die Erklärung des modernen Wirtschaftswachstums wird dabei in der Regel nicht von der des Wachstums schlechthin unterschieden, oder in den Worten von Sir John Hicks: »Die Industrialisierung (…) ist eine Fortsetzung des Entwicklungsprozesses des Handels.«42 Die Geschichte der Wirtschaftsentwicklung ist ihm zufolge im Wesentlichen die Durchsetzung des Marktes als einer formalen Institution. Viele Ökonomen würden dem beipflichten. Sofern es noch Monetaristen im Sinne Milton Friedmans gibt, betonen auch sie die »Kraft des Marktes« und wenden sich entschieden gegen die »Tyrannei der staatlichen Lenkung«, da »interventionistische Regierungen, selbst mit den besten Absichten, fast immer mehr Schaden als Gutes bewirkt« hätten.43 Für sie besteht der einzige legitime Staatseingriff in der Regulierung der Geldmenge. Die Hochphase des sogenannten Washington Consensus ist – insbesondere wenn man ihn als eine Art neoliberalen Fundamentalismus interpretiert, was meines Erachtens nicht zutrifft – vorbei.44 Doch bis heute können sich die meisten Vertreter der vorherrschenden Wirtschaftslehre ihre Disziplin nur dann als ein seriöses wissenschaftliches Unternehmen vorstellen, wenn sie den Marktmechanismus zu ihrem Ausgangspunkt macht, was in der Praxis oft dazu führt, dass sie weiterhin mit Annahmen arbeiten, die sie selbst als unrealistisch erkennen, und mit Postulaten, die sie nicht beweisen können. Institutionalisten, insbesondere diejenigen, auf die in Debatten über die Great Divergence Bezug genommen wird oder die selbst an ihnen teilnehmen, sind im Grunde bis heute ausnahmslos neoklassische Ökonomen, auch wenn beispielsweise North, um den bekanntesten von ihnen zu nennen, in seiner späteren Laufbahn ausdrücklich auf Schwächen und blinde Flecken des (neo-)klassischen Denkens hingewiesen hat.45 Ihre Analysen der Funktionen, Voraussetzungen und Einbettungen von Märkten sind sehr komplex und haben insbeson-

41 So behauptet Smiths Freund Dugald Stewart, vgl. Hall, »States and Economic Development«, 154. Neoklassische und institutionalistische Ökonomen sind heute wesentlich optimistischer, was die Möglichkeit anhaltenden und substanziellen Wirtschaftswachstums angeht, als Smith es war. 42 Hicks, Theory of Economic History, 143, 145. Wie fairerweise zu erwähnen ist, weist Hicks allerdings auch ausdrücklich darauf hin, dass Wachstum, wie wir es seit der industriellen Revolution kennen, ohne Wissenschaft unmöglich wäre. 43 Friedman, Chancen, die ich meine. Bei den Zitaten handelt es sich um die Titel der ersten zwei Kapitel sowie einen Auszug aus dem Klappentext der Originalausgabe. 44 Eine Einführung bietet der Eintrag »Washington Consensus« in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12. 10. 2012]. 45 Vgl. bspw. North, Economic Change, 84f.

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Institutionen: Eigentumsrechte, Märkte und Staaten

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dere in der Entwicklungsökonomie starken Einfluss gewonnen.46 Letztlich betrachten aber auch sie den Markt als Wesenskern und Wachstumsmotor einer funktionierenden Wirtschaft. »Gute Institutionen« sind marktfördernde Institutionen, und »gute Regierungsführung« ist im Wesentlichen Marktförderung. Für Marktverfechter sind Monopole und Staat – sofern dieser nicht ohnehin bloß als eine Form von Monopol gilt – primär Bedrohungen des Wachstums. Sie misstrauen ihnen aus Prinzip und bauen ihr gesamtes Theoriegerüst auf einfachen Dichotomien auf: Renten versus Gewinne, Monopol versus Wettbewerb und Bürokraten versus Unternehmer. In den 1980er Jahren formulierte die Politologin Margaret Levi das Postulat, dass Staaten Plünderer seien und stets nach Einnahmenmaximierung streben würden.47 Auch Olson hält den Staat, sofern er nicht »gezähmt« wird, für einen Plünderer bzw. »stationären Banditen«, der von Natur aus dazu neige, seine Einnahmen und den eigenen Verbrauch zu maximieren und in das Eigentumsrecht einzugreifen.48 North vertritt im Kern dieselbe Auffassung: »Die Regierung ist keine uneigennützige Partei in der Wirtschaft (…)In seltenen Fällen [meine Hvhbg., PV] entwirft und vertritt sie Spielregeln, die produktive Tätigkeiten fördern.«49 Der sogenannte natürliche Staat – laut North und seinen Koautoren Wallis und Weingast während des Großteils der letzten zehntausend Jahre die praktisch einzige Form von Gesellschaft (sofern sie mehr als ein paar Hundert Mitglieder umfasste), auf die nur unter sehr spezifischen Bedingungen in einem kleinen Teil der Welt eine »Gesellschaft mit Zugangsfreiheit« folgte – war demnach ein rentenabschöpfender, plündernder Staat, in dem eine privilegierte Elite die Macht monopolisierte und den Reichtum einstrich.50 Unter Institutionalisten und in der vorherrschenden Wirtschaftslehre sind solche Annahmen heute beinahe unangefochten.51 Auch Acemoglu und Robinson betrachten extraktive Regierungen als das größte Wachstumshindernis in der Weltgeschichte. Sie messen politischen Transformationen zwar grundlegende Bedeutung für die Armutsbekämpfung bei und erklären, dass sich ihr Buch Warum Nationen scheitern mit »der Politik der Armut und des Wohlstands« befasse und dass »die Poli-

46 Zu den im Kontext dieses Buches besonders relevanten Institutionalisten, s. Anm. 1, S. 132. Eine allgemeine Einführung bietet Voigt, Institutionenökonomik. 47 Levi, »Predatory Theory of Rule«. 48 Vgl. bspw. Olson, »Dictatorship, Democracy, and Development«. 49 North, Economic Change, 67. 50 Vgl. North/Wallis/Weingast, Gewalt und Gesellschaftsordnungen, Kap. 2. 51 Eine neuere Analyse der Theorie Norths bietet Pies/Leschke, Norths ökonomische Theorie der Geschichte. Zu Olson, vgl. bspw. »Dictatorship, Democracy, and Development«, sowie ders., Macht und Wohlstand.

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Teil 1: Moderne Wirtschaftswissenschaft und Theorien des Wachstums

tik festlegt, welche Institutionen ein Staat hat«.52 Wie viele andere Institutionalisten geben sie durchaus zu, dass es Fälle von Marktversagen gibt und Staatseingriffe positive Folgen haben können. Doch das Beste, was der Staat tun könne, bestehe letztlich darin, den Markt zu unterstützen und »für richtige Preise zu sorgen« – was durchaus kompliziert und selten ist.53 Acemoglu und Robinson formulieren es unzweideutig: Ihnen zufolge werden »Wohlstand und Armut von den durch Institutionen geschaffenen Anreizen bestimmt«.54 In ihrem Buch ist allenthalben die Rede davon, Anreize »zu gestalten« und entsprechende Strukturen zu entwickeln; nicht weniger als achtzig Mal werden »Anreize« erwähnt. Die Botschaft ist klar: Sind die richtigen Anreize gegeben, kann und sollte man die Wirtschaft sich selbst überlassen: »Wohlstand lässt sich nicht konstruieren.«55 Die Weltbank fasste ihre »marktfreundliche« Sichtweise 1991 so zusammen: »Bei einer marktfreundlichen Strategie besteht die Rolle der Regierung darin, für […] ein unternehmensförderndes Wettbewerbsklima, Offenheit gegenüber dem internationalen Handel sowie für einen stabilen makroökonomischen Rahmen zu sorgen. Jenseits dessen bewirken Regierungen eher Schaden als Nutzen.«56 Die meisten dieser berühmten Ökonomen würden wohl dem Ausspruch des weniger berühmten Ökonomen Ronald Reagan zustimmen, dass der »Staat nicht die Lösung unserer Probleme, sondern selbst das Problem« sei. Man kann es kaum prägnanter formulieren als William Easterly: »Die Armen haben Bürokraten, die Reichen Märkte.«57 Laut der vorherrschenden Wirtschaftslehre hat der Staat im Wesentlichen dafür zu sorgen, dass Märkte optimal funktionieren können, und im Falle ihres »Versagens« Abhilfe zu schaffen. Während viele andere Ökonomen dies für unzureichend halten, sind viele Staaten bereits mit diesem Minimalprogramm überfordert. Da es ihnen an Rechtsstaatlichkeit und einem funktionierenden Infrastruktur- und Bildungssystem mangelt, erfüllen sie nicht einmal die Mindestvoraussetzungen, um den Markt zu unterstützen. Die Tatsache, dass solche Staaten keine Entwicklung verzeichnen, ist für den Ökonomen nicht überraschend. Dieses vielfache Scheitern deutet jedoch darauf hin, dass es offenbar keineswegs einfach ist, funktionierende Staaten 52 Acemoglu/Robinson, Warum Nationen scheitern, 71 und Titel von Kap. 3. 53 Die Redewendung »für richtige Preise sorgen« (»getting the prices right«) bezeichnet eine Regierungspolitik, die sich dort zurückhält, wo die Märkte passabel funktionieren oder dazu gebracht werden können, um sich auf die Felder zu konzentrieren, auf denen man sich nicht auf die Märkte verlassen kann. 54 Acemoglu/Robinson, Warum Nationen scheitern, Titel von Kap. 3. 55 Ebd., 524. 56 World Bank, World Development Report. The Challenge of Development, New York 1991, 84. 57 Easterly, Wir retten die Welt zu Tode, 151.

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zu schaffen und aufrechtzuerhalten, von »guter Regierungsführung« ganz zu schweigen. Es hat schon immer zahlreiche failed states gegeben – Staaten, denen attestiert wird, bei grundlegenden Voraussetzungen und Aufgaben einer souveränen Regierung mit zentralisierter Gewalt versagt zu haben.58 Bevor ein Staat irgendeine Politik implementieren kann, muss er in guter Verfassung sein. Bewohner westlicher Länder, in denen der Prozess des Staatsaufbaus mehrere Jahrhunderte in Anspruch nahm, neigen möglicherweise dazu, die Komplexität und Außergewöhnlichkeit dieses Prozesses zu unterschätzen. Was wir hier der Einfachheit halber als »vorherrschende Wirtschaftslehre« bezeichnen, hatte nie eine Monopolstellung inne. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Keynes’ Auffassung von der Rolle des Staates mehrere Jahrzehnte lang populär, und viele seiner Gedanken wurden Teil einer neoklassisch-keynesianischen Synthese, so etwa im sehr einflussreichen Werk von Paul Samuelson.59 Keynes akzeptierte grundsätzlich den Marktmechanismus, da er ihn für zu effizient hielt, um ihn prinzipiell abzulehnen. Wenngleich eindeutig kein Gegner des »Kapitalismus«, erkannte er an, dass die Selbstregulierung der Märkte nicht immer funktioniere und strukturelle Krisen durchaus möglich seien. Er plädierte deshalb für spezifische Staatseingriffe, die den Verbrauch direkt oder indirekt durch Ersparnisse und Investitionen steuern sollten, und für den Einbau von Mechanismen in die Wirtschaft, die deren Konjunkturwellen glätten könnten. In den 1960er Jahren waren seine Ideen so verbreitet, dass der Erzmonetarist Milton Friedman 1965 behaupten konnte, in gewissem Sinn seien »wir […] heute alle Keynesianer«.60 Wie das Beispiel von John Kenneth Galbraith oder des Wirtschaftsnobelpreisträgers Paul Krugman zeigt, haben sie ihre Anziehungskraft nie ganz verloren, und neuerdings erleben sie sogar eine gewisse Renaissance.61 Wichtiger ist allerdings, dass die Präsenz des Staates in den westlichen Volkswirtschaften, messbar etwa an den Regierungseinnahmen und -ausgaben und der öffentlichen Verschuldung im Verhältnis zum BIP, weiterhin gewaltig ist und von den Regierungen häufig erwartet wird, wenigstens in Zeiten der Krise eine schuldenfinanzierte Ausgabenpolitik im Sinne von Keynes zu betreiben. Robert Solows Bemerkung über Computer – »Man kann das Computerzeitalter überall sehen, nur nicht in den Pro-

58 Einen eher theoretischen Überblick über die gegenwärtige Situation bietet Fukuyama, Staaten bauen, einen historischen Überblick ders., Origins of Political Order. 59 Zu Theorie und Einfluss von Paul Samuelson, s. Index in Nasar, Grand Pursuit. 60 Zu dieser Äußerung und Präsident Nixons Erklärung von 1971 »Wirtschaftspolitisch bin ich jetzt ein Keynesianer«, siehe den Eintrag »We are all Keynesians now« in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12. 10. 2012]. 61 Ausführlicher hierzu: Skidelsky, Rückkehr des Meisters.

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duktivitätsstatistiken«62 – gilt im Grunde auch für den Neoliberalismus: Man kann ihn überall sehen, nur nicht in den Statistiken über die Staatshaushalte. Tab. 25: Öffentliche Ausgaben*, % des BIP 1870–2009 Land

1870 1913

1920 1937

1960 1980

1990 2000 2005

2009

Österreich

10,5

17,0

14,7

20,6

35,7

48,1

38,6

52,1

50,2

52,3

Belgien

n.v.

13,8

22,1

21,8

30,3

58,6

54,8

49,1

52,0

54,0

9,4

12,7

26,2

30,0

32,2

43,0

39,9

36,6

40,6

47,2

Kanada

n.v.

n.v.

16,7

25,0

28,6

38,8

46,0

40,6

39,2

43,8

Frankreich

12,6

17,0

27,6

29,0

34,6

46,1

49,8

51,6

53,4

56,0

Großbritannien

Deutschland

10,0

14,8

25,0

34,1

32,4

47,9

45,1

45,1

46,8

47,6

Italien

13,7

17,1

30,1

31,1

30,1

42,1

53,4

46,2

48,2

51,9

Japan

8,8

8,3

14,8

25,4

17,5

32,0

31,3

37,3

34,2

39,7

Niederlande

9,1

9,0

13,5

19,0

33,7

55,8

54,1

44,2

44,8

50,0

n.v.

11,0

8,3

13,2

18,8

32,2

42,0

39,1

38,4

45,8

5,7

10,4

10,9

16,5

31,0

60,1

59,1

52,7

51,8

52,7

16,5

14,0

17,0

24,1

17,2

32,8

33,5

33,7

37,3

36,7

Spanien Schweden Schweiz Vereinigte Staaten Durchschnitt

7,3

7,5

12,1

19,7

27,0

31,4

33,3

32,8

36,1

42,2

10,4

12,7

18,4

23,8

28,4

43,8

44,7

43,2

44,1

47,7

* 1870–1937 nur die zentrale Öffentlichkeit, 1960–2009 die ganze Öffentlichkeit Quelle: The Economist, 13. 3. 2011.

In Wirklichkeit war die Wirtschaft schon immer zu wichtig – und wird dies auch künftig sein –, um sich selbst überlassen zu werden. Ungeachtet ihrer offiziellen Ideologien haben Regierungen von jeher in die Märkte eingegriffen. Wer auch nur über die geringsten Geschichtskenntnisse verfügt, kann zahllose Beispiele für interventionistische, pro-aktive Regierungen nennen, die nicht bloß auf Krisen und Marktversagen reagierten, sondern die Wirtschaft durch Strukturmaßnahmen auf einen bestimmten Pfad zu bringen versuchten und deren Politik, was von grundlegender Bedeutung ist, das Wachstum nicht hemmte. Es ließen sich Hunderte von Belegen aus den Geschichtsbüchern dafür anbringen, dass staatliche Maßnahmen zur Wachstumsförderung nicht immer gescheitert sind oder gar zum Scheitern verurteilt gewesen wären. Interessanterweise beginnt eine wachsende Zahl 62 Robert Solow, »We’d Better Watch Out«, New York Times Book Review, 12. 7. 1987, 36.

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von Ökonomen, diese Tatsache zu reflektieren.63 Um zu zeigen, wie weit die Meinungen auseinandergehen, kann etwa auf Reinert verwiesen werden, der dafür plädiert, »den Markt zu regieren« und »die Preise zu manipulieren«, und behauptet: »Vollkommene Märkte sind etwas für die Armen.«64 Neuere Entwicklungen in der Weltwirtschaft sind natürlich nicht unschuldig daran, dass solche abweichenden Meinungen über die Rolle von Regierungen bei der Wachstumsförderung aufgekommen sind. Der Aufstieg Japans und später der Schwellenländer veranlasste mehrere Ökonomen dazu, den Begriff des »Entwicklungsstaats« zu prägen und zu debattieren: eines koordinierenden, pro-aktiven Staats, der den Markt nicht außer Kraft setzt, aber die Wirtschaft zu steuern und entwickeln versucht und zu diesem Zweck nicht davor zurückschreckt, Preise zu manipulieren, Zölle zu erheben, junge Industrien zu schützen und die Importsubstitution zu fördern. In einem solchen Staat übernimmt die Regierung entwicklungsfördernde Funktionen.65 Hinzu kommt der jüngere, aber sensationelle Aufstieg mehrerer anderer Länder, insbesondere der sogenannten BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China), die überwiegend keine glänzenden Beispiele für Laissez-faire-Ökonomien sind. Dort finden nicht nur umfassende und offenbar erfolgreiche Staatseingriffe statt – es gehören auch derart viele ihrer großen Unternehmen dem Staat, dass man durchaus von der Wiederkehr einer Form von Staatskapitalismus sprechen kann.66 Ihre sehr hohen Wachstumsraten nötigen selbst die entschiedensten Verfechter des Laissez-faire dazu, sich in der einen oder anderen Weise mit dieser hartnäckigen »Anomalie« auseinanderzusetzen. Zentralistische Planwirtschaften wie solche des »realexistierenden Sozialismus« sind bis auf wenige, nicht unbedingt anregende und erfolgreiche Überbleibsel (Nordkorea, Kuba oder Myanmar) verschwunden. Doch wie Ökonomen gerne vergessen, hatte die Annahme, dass zentrale Wirtschaftsplanung funktionieren kann, selbst im Westen Anhän63 Zwei in dieser Hinsicht sehr wichtige und zunehmend einflussreiche Ökonomen sind Ha-joon Chang, dessen Buch Kicking away the Ladder für unser Thema am interessantesten ist (vgl. auch seine persönliche Webseite bei der Cambridge University) und Erik Reinert, dessen Buch How Rich Countries Got Rich einen guten Überblick über seine Auffassungen gibt. 64 Reinert, How Rich Countries Got Rich, 18. Dort auch Nachweise der zwei ersten Zitate. 65 Vgl. in alphabetischer Reihenfolge: Amsden, Rise of »the Rest«; Chang, s. Anm. 188, S. 149; Johnson, Japan. Who governs?; Erik Reinert, Eintrag in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12. 10. 2012]; Wade, Governing the Market; Hobson/Weiss, States and Economic Development; Woo-Cumings, Developmental State. Zur allgemeinen Einführung, vgl. den Eintrag »Developmental State« in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12. 10. 2012]. 66 Vgl. etwa Bremmer, Ende des freien Marktes; The Economist, 21. 1. 2012, »Special Report: State Capitalism. The Visible Hand«.

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ger. Zumindest bis in die späten 1960er Jahren meinten viele westliche Experten, dass die Sowjetunion bald die Vereinigten Staaten einholen würde oder es sogar bereits getan habe.67 Bis zu einem gewissen Punkt und in bestimmten Aspekten waren viele Planwirtschaften übrigens tatsächlich erfolgreich. Generell lässt sich kaum eine These zur Rolle des Staates für die wirtschaftliche Entwicklung finden, die nicht von irgendeinem Ökonomen mit voller Überzeugung vertreten worden wäre. Unter den gegenwärtig führenden Ökonomen sind das Konzept des Nachwächterstaates und die Prinzipien des Washington Consensus im Grunde überholt, aber die öffentliche Meinung und erst recht die Wirtschaftspolitik werden natürlich nicht unbedingt von renommierten Wirtschaftswissenschaftlern bestimmt. Der Gedanke, dass Märkte versagen können, findet heute ebenso breite Akzeptanz wie jener, dass es möglicherweise ineffiziente Gleichgewichte und Pfadabhängigkeiten gibt. Ein bekannter Ökonom wie David Romer weist dem Staat eine bedeutende Rolle für Forschung und Entwicklung zu, auch wenn kein einziges der Modelle der neuen Wachstumstheorie in seinem Lehrbuch Advanced Macroeconomics (2006) Industriepolitik als Mittel zur Förderung von Entwicklung, Investitionen und Wachstum in Betracht zieht.68 Sein Kollege Krugman räumt bisweilen ein, dass Staatseingriffe im internationalen Rahmen erforderlich und sinnvoll sein könnten. Dani Rodrik versteht sich im Grunde als neoklassischer Ökonom, weist dem Staat aber vielfältige Aufgaben einschließlich industriepolitischer Maßnahmen zu. Letztlich entscheidend ist jedoch, dass der Staat in den Volkswirtschaften der reichsten Länder ganz unabhängig von den Auffassungen der Ökonomen eine an jedem Maßstab gemessen enorme Rolle spielt, und das bereits seit vielen Jahrzehnten. Auch im Hinblick auf Monopole und Oligopole hat ein gewisser Perspektivwandel stattgefunden. Ihre potenziell positiven Effekte werden nun stärker berücksichtigt, und es wird eher zur Kenntnis genommen, dass es beinahe unmöglich ist, ganz ohne sie auszukommen. Smith lehnte Monopole aus Gründen, die aus Verbraucherperspektive durchaus nachvollziehbar sind, vehement ab, aber sein Plädoyer für eine stärkere Arbeitsteilung zwecks Steigerung der Effizienz kann nur bedeuten, dass größere Produktionseinheiten effizienter sind. Unternehmen mit der optimalen Größe könnten demnach sämtliche Konkurrenten verdrängen und Monopolisten werden. Nicht nur wegen steigender Erträge kann »größer« zugleich »besser« sein. 67 Acemoglu/Robinson, Warum Nationen scheitern, 163ff. Spufford, Rote Zukunft. Faszinierende Beispiele für die Überschätzung von Wachstum und Entwicklung der Sowjetunion schildern Levy/Peart, »Soviet Growth and American Textbooks«. 68 So Schlefer, Economists, 186, über Romer, Advanced Macroeconomics,.

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Um ihre enormen Fixkosten zu decken, müssen viele moderne Firmen in gewissem Maße »Preissetzer« sein, also Monopolisten, die zumindest zeitweilig überdurchschnittliche Gewinne erzielen. Wie Schumpeter in seiner Theorie sehr überzeugend gezeigt hat, besteht das Wesen kapitalistischer Entwicklung nicht in freier, sondern »monopolistischer Konkurrenz«, wie es mit einem Oxymoron heute häufig heißt.69 Historiker, die die Great Divergence unter Rekurs auf die Rolle von Staat und Markt erklären wollen, finden somit eine verwirrende Vielfalt von Theorien vor, unter denen sie wählen können. Die meisten wählen jedoch gar nicht. Diejenigen wiederum, die es tun, bevorzugen mehrheitlich den heutigen revidierten klassischen Ansatz, wie er unter Institutionalisten vorherrschend ist, oder – so eine wachsende Gruppe – eine Art neomerkantilistischen Ansatz, der es nicht zwangsläufig als Entwicklungs- und Wachstumshemmnis wertet, dass Großbritannien wie die meisten westeuropäischen Staaten ein merkantilistischer fiskal-militärischer Staat war, sondern als eine mindestens notwendige Voraussetzung für den Take-off. Dieser Ansatz steht bis heute vor dem Problem, wie sich die positiven Zusammenhänge zwischen Wachstum und Merkantilismus exakt aufzeigen lassen.

69 Vgl. den Eintrag »Monopolistic Competition« in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12. 10. 2012].

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9. Die Rolle der Kultur für das Wirtschaftswachstum

Institutionen fallen nicht vom Himmel, und ihre Existenz und Dauerhaftigkeit sind nicht selbstverständlich. Meines Erachtens können sie nur dann entstehen, sich behaupten oder verschwinden, wenn jeweils eine ausreichend große Zahl politisch einflussreicher Menschen es will. Das bedeutet, dass sie genügend Rückhalt in der vorherrschenden Kultur der Gesellschaft finden müssen. Und dies bedeutet wiederum, dass Kultur ebenfalls eine oder gar die letztgültige Ursache des Wirtschaftswachstums sein könnte. Das Problem besteht darin, dass der Begriff der Kultur bekanntermaßen sehr schwer zu definieren ist. Meinen Ausgangspunkt bildet folgende Definition von Jones: »Kultur ist jenes Muster von Überzeugungen, Gewohnheiten und Erwartungen, von Werten, Idealen und Vorlieben, das kleine oder große Gruppen von Menschen teilen.«1 Diese Überzeugungen etc. seien erworbene. In einer früheren Veröffentlichung habe ich selbst folgende Definition verwendet: Kultur bezeichnet »jenes sozial erworbene Bündel von Dispositionen, das eine Gruppe von Menschen bei der Beschreibung, Deutung und Bewertung von Gesellschaft und Natur aufweist«.2 Insofern teile ich letztlich Geert Hofstedes Auffassung von Kultur als der »kollektiven Programmierung des Geistes«.3 Welcher genauen Definition man auch folgt, es scheint mir erstens unmöglich, jeglichen Zusammenhang zwischen den Institutionen einer Gesellschaft als ihren Spielregeln und ihrer jeweiligen Kultur, wie oben definiert, zu bestreiten, und zweitens, der Kultur jegliche Bedeutung für das Wirtschaftsleben abzusprechen – auch wenn viele Ökonomen und Globalhistoriker genau dies gerne tun würden. Spätestens seit den 1960er oder 1970er Jahren haben die meisten Ökonomen Kultur ausgeblendet. Jones eröffnet sein Buch Cultures Merging (2006) mit der Bemerkung: »Ökonomen sind sich – entgegen einer verbreiteten Meinung – über vieles einig, über Kultur jedoch mehrheitlich nur insofern, als sie ihr nicht mehr viel Beachtung schenken.« Er zitiert den Ökonomen Mark Casson, demzufolge »die meisten Ökonomen aufgrund ihrer Berufskultur [sic! PV] überhaupt keine 1 Jones, Cultures Merging, IX. Siehe auch Mokyr, »Culture, Institutions, and Modern Growth«, 3. 2 Vries, »Culture and Institutions«, 37. 3 Hofstede, Culture and Organizations, 150.

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Bedeutung von Kultur zu erkennen vermögen« und zur Position einer »Nichtigkeit von Kultur« tendieren.4 Offenbar ändert sich die Lage gerade: Laut Deepak Lal »ist ›Kultur‹ eindeutig ein Thema« und gewinnt als letztgültige Erklärung für Wirtschaftswachstum an Bedeutung.5 Nach Auffassung des Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Lucas erfordert das moderne Wirtschaftswachstum »eine Million Meutereien«. Gesellschaften und ihre Bürger müssten für die neuen Möglichkeiten offen sein, die durch Entwicklung entstehen, da der Schlüssel zu dieser in der Erfindung neuer Arten, etwas zu tun, bestehe.6 Peter Temins Behauptung, von Kultur zu reden sei in der Wirtschaftswissenschaft wieder »koscher« geworden, trifft ins Schwarze,7 auch wenn vermutlich nur wenige so weit gehen würden wie der amerikanische Wissenschaftler Lawrence Harrison, der kurzerhand erklärt: »Unterentwicklung ist eine Geistesverfassung.«8 Tatsächlich weist die immer größere Gruppe von Ökonomen, die Wirtschaftswachstum auf Innovation und Innovation in letzter Instanz auf Wissen und Institutionen zurückführen, der Kultur durchaus eine wesentliche Rolle zu – ob sie es nun ausdrücklich zugeben oder nicht, was sie mehrheitlich nicht tun würden, da sie ungern von Kultur sprechen. Die Rolle der Kultur wird hier gesondert von jener der Institutionen behandelt. Wie sehr diese Trennung tatsächlich existiert, wird von Wissenschaftlern unterschiedlich gesehen. Können Institutionen in der ökonomischen Analyse als letztgültige Ursachen fungieren oder muss man die Analyse auf eine tiefere Ebene verlegen und erklären, was wiederum die Ursache von Institutionen ist? Insbesondere die Beziehungen zwischen Institutionen und Kultur sowie zwischen Institutionen und Faktorausstattung sind breit und heftig debattiert worden. Den zweiten Zusammenhang haben wir bereits ausgiebig erörtert, gehen wir also kurz auf den ersten ein. Einige renommierte Wissenschaftler halten hier eine scharfe Trennung insofern für kaum sinnvoll, als Institutionen in gewisser Weise Epiphänomene der Kultur

4 Jones, Cultures Merging, Kap. 1, Zitate auf 3, 5. Zu dem von ihm geprägten Ausdruck »Nichtigkeit von Kultur« (cultural nullity), vgl. den Index. 5 Lal, Unintended Consequences, 2. 6 Lucas, Lectures on Economic Growth, ›Introduction‹. Der Ausdruck »eine Million Meutereien« stammt von V.S. Naipaul, India, a Million Mutinies Now (dt.: Indien – Land des Aufruhrs). 7 Temin, »Is it Kosher to Talk About Culture?«. 8 Etliche Literaturhinweise zur Renaissance kultureller Erklärungen in der Wirtschaftswissenschaft finden sich in Jones, Cultures Merging, Nunn, »Culture and Historical Process«, Guiso/Sapienza/Zingales, »Does Culture Affect Economic Outcomes?«, und Vries, »Culture and Institutions«. Zum Zitat von Harrison: Harrison, Underdevelopment is a State of Mind. Vgl. auch Abelshauser/Gilgen/Leutzsch, Kulturen der Weltwirtschaft und Berghoff/Vogel, Wirtschaftsgschichte als Kulturgeschichte.

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seien. North gibt der Kultur im weiteren Sinn von Glaubenssystemen, Wahrnehmung, Bewusstsein und menschlicher Intentionalität breiten Raum, da er ihr eine grundlegende Rolle für Entwicklung beimisst.9 Die menschliche Evolution werde von den Wahrnehmungen der Akteure geleitet, und diese Wahrnehmungen folgten wiederum aus den – gewöhnlich mit bestimmten Voreinstellungen verquickten – Annahmen über die Folgen menschlicher Handlungen.10 Folgende Passage verdeutlicht seine Position: Kultur bestimmt nicht nur die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt, sondern trägt durch die Art und Weise, in der ihr Gerüst die Akteure einschränkt, auch zum Prozess des Wandels bei. Im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit [in einem Buch über den Prozess des ökonomischen Wandels, PV] muss folglich menschliches Lernen stehen – was gelernt wird und wie die Mitglieder einer Gesellschaft dies teilen, der schrittweise Prozess, durch den sich Überzeugungen und Neigungen ändern, sowie die Art und Weise, in der diese die Leistungskraft von Ökonomien im Lauf der Zeit prägen.11

Eine ähnliche Position vertritt Greif: Er rückt »Überzeugungen und Normen in den Mittelpunkt der Analyse« von Institutionen, da die durch sie bestimmten Motivationen deren »tragende Säule« seien.12 Geoffrey Hodgson zufolge funktionieren Institutionen nur deshalb, weil ihre maßgeblichen Regeln in gemeinsame Denk- und Verhaltensgewohnheiten eingebettet sind. Demnach sind sie von den Individuen und ihren Gewohnheiten geprägt und abhängig, wenngleich nicht darauf reduzierbar.13 Landes begreift, wie zu erwarten, Kultur als die Determinante von Institutionen, die er »als Ausdruck der Werte und Bedürfnisse einer gegebenen Bevölkerung, eher als etwas Abgeleitetes und eine Folge denn als Triebkraft und Determinante« betrachtet. Sie seien zwar wichtig, doch »im Lauf der Zeit bekommen Menschen durch Anpassungsprozesse die Institutionen, die sie brauchen und verdienen«.14 Es ließen sich weitere Beispiele anführen, etwa Masahiko Aokis Begriff der Institution als »ein sich selbst erhaltendes System gemeinsamer Überzeugungen über eine spezifische Weise, in der das Spiel immer wieder gespielt wird«.15 Um zu zeigen, wie breit gefächert die Meinungen von Ökonomen in dieser Frage sind, kann auf Acemoglu und Robinson verwiesen werden – zwei Institutionalisten, die kulturelle Erklärungen wichtiger wirtschaftlicher 9 Vgl. etwa North, Economic Change, Kap. 3 und 4. 10 Ebd., VIII. 11 North, Economic Change, VIII. In Gewalt und Gesellschaftsordnungen (29–31) wird Kultur als ein für die Wirtschaftswissenschaft sehr wichtiger, aber exogener Faktor dargestellt. 12 Greif, Institutions, 39, 45. 13 Hodgson, »Institutions«, 91–94. 14 Vgl. die Replik von Landes auf Om Prakash und mich in Itinerario, 8. 15 Aoki, Comparative Institutional Analysis, 10.

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Entwicklungen ausdrücklich ablehnen.16 Kulturelle Differenzen lassen sich ihnen zufolge auf »unterschiedliche Institutionen und die unterschiedliche institutionelle Geschichte« von Ländern zurückführen. Für die Great Divergence, »für den gegenwärtigen Zustand der Ungleichheiten auf der Welt«, bietet »Kultur« demnach eindeutig keine Erklärung.17 Wie genau der Zusammenhang zwischen der dominierenden Kultur einer Gesellschaft und ihren Institutionen auch beschaffen sein mag – und sofern der Versuch seiner exakten Bestimmung überhaupt sinnvoll ist –, er wird in jedem Fall ein recht enger sein. Institutionen ohne jede kulturelle Untermauerung werden meines Erachtens zwangsläufig an Bedeutung verlieren, aber andererseits zeigen zahlreiche Beispiele, dass die Einführung unterschiedlicher Institutionen in Ländern mit relativ ähnlicher Kultur zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führt. Man denke nur an Ost- und Westdeutschland, Nord- und Südkorea oder China und Taiwan.18 Dass sich mit Deng Xiaopings Reformen im Jahr 1978 plötzlich die Überzeugungen, Gewohnheiten, Erwartungen, Werte, Ideale und Neigungen der Chinesen änderten, ist sehr unwahrscheinlich. Was sich sicher änderte, war die Struktur der Anreize und Sanktionen, die den Chinesen vorgegeben wurde. Unterschiedliche »Zuckerbrote und Peitschen«, also unterschiedliche Institutionen, können ceteris paribus zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. Aus analytischen Gründen stimme ich jedoch Jones zu, dass »die Vermischung von Kultur und Institutionen eine Quelle der Konfusion ist«. Er beschreibt Institutionen als »politische und auf Macht basierende Festlegungen«, während Kultur »überwiegend aus eher informell erlernten Regeln und Praktiken« bestehe. Institutionen seien weitgehend »bewusste, ja politische Gebilde, (…) organisierte Netzwerke formaler, objektivierter Regeln. Kultur ist, auch wenn sie oft Bindungskraft besitzt, relativ ungreifbar; die Existenz von Institutionen ist stärker an Regeln gebunden.« Und wie er hinzufügt: »Institutionen können grundsätzlich immer neu ausgehandelt werden«.19 Jones ist nicht der Einzige, der diese Unterscheidung trifft. Mokyr versteht Institutionen als gesellschaftlich determinierte bedingte Anreize und Konsequenzen von Handlungen. Sie sind jedem Individuum vorgegeben und schaffen folglich die Struktur von Anreizen in einer Gesellschaft. Durch Regeln legen Institutionen fest, welches Verhalten korrekt und legal 16 Acemoglu/Robinson, Warum Nationen scheitern, Kap. 2, 85–92. 17 Ebd., 92 und 85. 18 Diese drei Fälle nennt Ferguson, Der Westen und der Rest, 43. Ähnlich argumentieren Acemoglu/Johnson/Robinson, »Institutions as Fundamental Cause« (404–420) zu den immensen Auswirkungen, die die Einführung unterschiedlicher Institutionen in Nord- und Südkorea in den 1950er Jahren hatte, sowie Acemoglu/Robinson, Warum Nationen scheitern, 85–92. 19 Jones, Cultures Merging, 259, 17–18, 109, 110.

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ist, aber auch die Strafen für Verstöße gegen sie und die Belohnungen für ihre Einhaltung.20 Institutionen sind laut Mokyr formaler und insofern bindender. Auch Ferguson betrachtet sie in gewissem Sinn als formalisierte Produkte von Kultur.21 Meines Erachtens sind Institutionen aber fast nie ein direkter und klarer Ausdruck von Kultur. In der Regel sind sie so eng mit ihrem kulturellen Umfeld verflochten, dass der Versuch einer vollständigen Entwirrung sehr schwierig und kaum erhellend wäre. Institutionen besitzen eine Eigendynamik und -logik, die nicht direkt auf die Kultur der an ihnen beteiligten Individuen reduziert werden kann. Ohne Bezug auf diese Kultur lassen sie sich andererseits auch nicht verstehen oder erklären. Kultur wäre am ehesten als die Software institutioneller Anordnungen zu begreifen, von denen sie ihrerseits stark bestimmt wird. Letztendlich sind Institutionen als Strukturen und Kultur als ihre Software zwei Seiten derselben Medaille. Aber wie ist nun der Einfluss der Kultur auf die wirtschaftliche Entwicklung zu bestimmen? Jones, mit dessen Definition wir unsere kurze Erörterung der Rolle von Kultur in der Wirtschaftswissenschaft begonnen haben, vertritt einen Ansatz der ständigen Wechselwirkung zwischen Kultur und Wirtschaft, nicht einer »Nichtigkeit von Kultur« oder aber »Beständigkeit von Kultur«, wonach sie allumfassend und statisch wäre. Dass sie in Form von Neigungen und Verhaltensweisen Implikationen für die Wirtschaft haben kann, steht für ihn außer Zweifel. Kultur mag dergestalt als Bremse oder Filter auf die ökonomische Entwicklung wirken, ist Jones zufolge aber nur selten die entscheidende Quelle von Wandel. Nur mit Vorsicht solle man sie deshalb als das aktive Element verstehen.22 Ich halte das für eine vernünftige Position und plädiere dafür, den Begriff der Kultur mit Bedacht zu verwenden, da er nur sehr schwer für die sozialwissenschaftliche Forschung operationalisierbar ist und man zudem ohnehin fast alles, was man über Werte, Überzeugungen etc. und ihre Auswirkungen sagen möchte, auch ohne die Einführung eines allumfassenden Großbegriffs formulieren kann. Was an der Wirtschaftswissenschaft, die sich häufig gerne als eine harte Wissenschaft präsentiert, gerade für die Ökonomen selbst erstaunlich sein müsste, ist die Tatsache, dass sie in Wirklichkeit bereits vorab etliche kulturelle Annahmen über die Funktionsweise und Entwicklung von Wirtschaften getroffen hat, über die sie sich nicht bewusst ist. Die vorherrschende Lehre baut auf dem Konzept des – geschlechtsneutralen – Homo oeconomicus auf, einem rationalen, Genuss und Mühe, Kosten und Nutzen kalkulie20 Mokyr, »Culture, Institutions, and Modern Growth«. 21 Ferguson, Der Westen und der Rest: »Selbstverständlich sind die Institutionen in gewissem Sinn Produkte der Kultur. Aber indem sie eine Reihe von Normen festschreiben, sorgen die Institutionen oft dafür, dass eine Kultur anständig bleibt: Sie legen fest, inwieweit die Kultur gutes Verhalten belohnt und schlechtes bestraft.« (42–43) 22 Vgl. etwa Jones, Cultures Merging, 212, 259, 270.

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renden Wesen. Er agiert als unabhängiger Einzelner, in dessen Natur es nach den berühmten Worten Adam Smiths liegt, »zueinander in Beziehung zu treten, zu handeln und zu tauschen«.23 Als wirtschaftlicher Akteur hat er keine Familie und trennt Haushalt und Unternehmen, um auf einem anonymen Markt so rational und effizient wie möglich zu agieren. Unternehmen sind in dieser Perspektive bloß eine Ansammlung von formal-vertraglich miteinander verbundenen Individuen. Auch gehört unser Homo oeconomicus in keinem relevanten Sinn einer Klasse, sozialen Gruppe oder Nation an. Will er Erfolg haben, muss er hart arbeiten, sparsam und innovativ sein. Er ist diszipliniert und nimmt an einem friedlichen, durch Angebot und Nachfrage ausgetragenen Wettbewerb teil, ohne irgendeine Form von außerökonomischem Druck einzusetzen. Sehr wichtig ist natürlich außerdem, dass der Kernbegriff der gesamten Disziplin, Wert, seit der sogenannten subjektiven oder marginalistischen Revolution in der Regel subjektiv, als eine Frage von Bewertungen, definiert wird. Entscheidend ist demnach, was eine Sache jemandem wert ist, nicht ihr objektiver »Wert«. Das wirtschaftliche primum movens, der Grund, weshalb Menschen Güter erwerben oder überhaupt produzieren, liegt außerhalb der Wirtschaftswissenschaft. Die vielzitierte Rationalität des Homo oeconomicus, und des Ökonomen, erstreckt sich gewöhnlich nur auf die Wahl der Mittel, nicht auf die Zwecke. Welche Implikationen dies hat, werden wir hier allerdings nicht näher erörtern.24 Dass eine solche Bandbreite kultureller Vorannahmen für eine vermeintlich »harte« Sozialwissenschaft derart wichtig ist, verblüfft nicht nur. Es erweist sich in der Praxis auch als recht problematisch. Man braucht nicht viel Fantasie oder eine Ausbildung als Ökonom, um sich Situationen vorzustellen, in denen eine oder mehrere der genannten Charaktereigenschaften tatsächlich das Wirtschaftswachstum fördern. Aber, und darin liegt das Problem, es bedarf auch nicht viel Vorstellungskraft, sich Umstände auszumalen, unter denen sie dies nicht tun. Viele dieser Eigenschaften gelten tendenziell als positiv, weil sie aus einem moralischen Blickwinkel als gut betrachtet werden – es gefällt uns halt, wenn Menschen hart arbeiten, sparen, individualistisch sind etc. – und wir zu der Auffassung neigen, ein solches Verhalten müsse belohnt werden. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass diese privaten, moralischen Tugenden auch öffentliche, wirtschaftliche Tugenden sind. Außerdem ist es nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie sich die kulturellen Züge, die für den spezifischen Entwicklungsweg des Westens ver23 Smith, Reichtum der Völker, 97. 24 Sehr bündig erläutert wird die marginalistische Revolution im Abschnitt darüber im Eintrag »Neoclassical Economics« in der englischen Wikipedia [zuletzt abgerufen am 12. 10. 2012].

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antwortlich sein sollen, in einer konsistenten Geschichte zusammenbringen lassen. Auch hier müssen wir uns vergegenwärtigen, was wir erklären wollen: das moderne Wirtschaftswachstum. Grundlegend für dieses Wachstum ist Innovation. Das würde zwar kein Ökonom bestreiten, doch Innovation entspringt gerade nicht der Rationalität und Kalkulation und ist auch keine individuelle Angelegenheit. Der Homo oeconomicus der klassischen Ökonomie ist umsichtig: Er kalkuliert, wie sich aus dem Gegebenen der größtmögliche Nutzen ziehen lässt. Letztlich ist er vor allem anpassungsfähig.25 Das mag durch Spezialisierung und bloße Effizienzsteigerung in gewissem Maß Wachstum, Fortschritt und Profit erzeugen. Zu anhaltendem und substanziellem Wachstum führt es indes nicht. Dass Smith ein solches Wachstum gar nicht vor Augen hatte, ist kein Zufall. Der Kapitalismus – das hinsichtlich der Erzeugung modernen Wachstums bislang erfolgreichste Wirtschaftssystem – findet seine wirkliche Triebkraft in einem Unternehmer, der schöpferisch ist und seine Umwelt verändert. Das erfordert eine völlig andere Mentalität. Innovation bedeutet Risikobereitschaft und Ungewissheit, nicht Umsicht und Kalkulation. Sie erfordert schöpferische Menschen, nicht Buchhalter. Sie kann per definitionem nicht rational sein – oder allenfalls rational im Sinne von »notwendig«, um nicht vom Markt verdrängt zu werden –, denn wer etwas Neues tut, kann die Folgen überhaupt nicht kalkulieren und vorhersehen. Der umsichtige, sparsame Bürger dürfte kaum der Ursprung jenes anhaltenden Sturms schöpferischer Zerstörung sein, den Schumpeter als Wesen des Kapitalismus bestimmte. Man kann sich bestenfalls gegen bestimmte Risiken, nicht aber gegen Ungewissheit versichern, und Innovation bedeutet zwangsläufig Ungewissheit.26 Wie Schumpeter in Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie schrieb: »Alle vorhandenen trukturen und alle Geschäftsbedingungen sind stets in einem Prozess der Veränderung. Jede Situation wird umgestürzt, bevor sie Zeit hatte, sich zu vollenden. Wirtschaftlicher Fortschritt bedeutet in der kapitalistischen Gesellschaft Aufruhr.«27 James Watt (1736–1819) verwendete zehn Jahre und sein gesamtes Vermögen auf die Erfindung der Dampfmaschine und war am Ende hoch ver25 Zu Smiths Auffassungen, vgl. die kurzen Bemerkungen in Milgate/Stimson, After Adam Smith, 83–84. Smiths rationaler Homo oeconomicus ist ruhig, berechnend, reflektiert etc., kurz: umsichtig. Das Wesen seiner Rationalität ist die systematische Anpassung von Mitteln an Zwecke. 26 Zur »Irrationalität« von Risikobereitschaft und insbesondere von Handeln in einem Kontext der Ungewissheit, vgl. Brenner, History, und Goldstone, »Cultural Orthodoxy, Risk, and Innovation«. Und als klassischen Text: Knight, Risk, Uncertainty, and Profit. 27 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, 59–60.

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schuldet. Es brauchte zwei Geschäftspartnerschaften, bis er schließlich seine erste Dampfmaschine verkaufen konnte. An einen Freund schrieb er: »Nichts im Leben ist törichter als das Erfinden, und wahrscheinlich wird die Mehrheit der Erfinder durch eigene Erfahrung zur selben Meinung gelangt sein.«28 Viele Erfinder und Innovatoren während Großbritanniens erster industrieller Revolution waren nicht besonders erfolgreich und profitierten kaum von ihren Anstrengungen.29 Darin scheint mir ein weiteres Argument für große Vorsicht gegenüber Versuchen zu liegen, Innovation als Reaktion auf Herausforderungen zu erklären. Nicht nur der Innovator ist mit Ungewissheit konfrontiert: Alle ökonomischen Akteure müssen mit ihr zurechtkommen. In Wirklichkeit ist die gesamte Wirtschaft grundsätzlich unberechenbar, da sie vom Zusammenspiel von Deutungen, Erwartungen und Handlungen so vieler Menschen und derart vieler Ereignisse abhängt, dass niemand wirklich das Ergebnis kennen kann. Makroökonomie ist bestenfalls ein sachkundiges Raten. Im täglichen Leben entbehrt das von vielen Ökonomen so geschätzte Konzept »rationaler Erwartungen« jeder Bedeutung, wie bereits die Tatsache zeigt, dass die Ökonomen selbst sehr viele unterschiedliche vermeintlich rationale Zukunftserwartungen haben. Die Zukunft ist unbekannt und unvorhersehbar. Die meisten wirtschaftlichen Entscheidungen sind wahrscheinlich, wie Keynes formulierte, auf animal spirits zurückzuführen – »auf einen plötzlichen Anstoß zur Tätigkeit«. Wären Investitionen nur »Ergebnis kalter Berechnung«, kämen sie kaum zustande. Sehr vieles im Wirtschaftsleben würde nicht geschehen, wenn »die menschliche Natur nicht geneigt wäre, etwas zu wagen«.30 Dass die »Rationalität« von Individuen zu makroökonomischem Wachstum führt, ist keineswegs gewiss. Individuen arbeiten gewöhnlich für ihr wie auch immer definiertes persönliches Nettoeinkommen, nicht für das Bruttonationaleinkommen, das wir hier erörtern. Tätigkeiten, die aus einer persönlichen Perspektive betrachtet rational sind und das Privateinkommen steigern oder sogar maximieren, können gesellschaftlich betrachtet durchaus ineffizient sein. Smiths optimistische Deutung des Wirkens der unsichtbaren Hand ist selbst für den besten aller Märkte zu optimistisch. Es ist sehr rational, ja aus individualistischer Perspektive vollkommen rational, als Trittbrettfahrer nicht für öffentliche Güter zu zahlen, aber eine verbreitete Mitnahmementalität kann rasch das Wachstum hemmen. Nicht ohne Grund haben institutionalistische Ökonomen sich der Frage zu widmen be28 Zitiert nach http://inventors.about.com/od/wstartinventors/a/james_watt_4.htm. 29 Einige beeindruckende Beispiele für berühmte Erfinder, die kaum von ihrer Arbeit profitierten, nennt Clark, Farewell to Alms, 235. 30 Keynes, Allgemeine Theorie, 136, 127. Der Ausdruck animal spirits stammt aus der englischen Originalausgabe von Keynes’ Buch.

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gonnen, wie Wirtschaftsakteure auch dort, wo ein solches Verhalten oft – wenigstens kurzfristig – rationaler ist, zu Kooperation bewegt werden können. Konkurrenzdenken, Mobilität und Dynamik des Einzelnen sind, wenngleich rational, nicht immer leicht mit Vertrauen und Stabilität vereinbar, die in vielen Kontexten grundlegende Elemente des Wachstums darstellen (oder als solche gelten). Entgegen ihrer häufigen Hervorhebung sind außerdem nicht rationale Individuen die Hauptakteure in der Wirtschaft, sondern Unternehmen, die nicht einfach als formal-vertraglicher Zusammenschluss von Individuen zu verstehen sind. Was besagt es über die Ökonomie als Sozialwissenschaft, dass es bis 1937 dauerte, bevor ein Ökonom ernsthaft die Frage stellte, warum es Unternehmen gibt?31 Ökonomen mögen bewiesen haben, dass das Familienunternehmen ineffizient und zum Untergang verurteilt ist, aber bis heute existieren Millionen solcher Unternehmen und sind häufig sehr erfolgreich. Kapital und Arbeit kennen angeblich keine Nation, aber in Wirklichkeit tun sie dies sehr wohl. Ohne vielfachen Rekurs auf Nationen und Staaten lässt sich die Geschichte der westlichen Wirtschaftsentwicklung nicht schreiben. Zwischenstaatliche Konkurrenz und Nachahmung machte das Wesen des Merkantilismus aus, verschwand aber nicht einfach, als dieser offiziell außer Mode geriet. Die Konkurrenz zwischen Staaten ist bis heute eine der wichtigsten Triebkräfte der wirtschaftlichen Entwicklung, was immer Krugman, der die Vorstellung einer zwischenstaatlichen Wirtschaftskonkurrenz für Unsinn hält, darüber sagen mag.32 Soviel auch von rationalen Entscheidungen des Individuums die Rede ist, in der öffentlichen Debatte über Wirtschaftsfragen geht es meist um Nationalprodukt und Volkseinkommen, um nationale Verschuldung, nationale Arbeitslosen- und Inflationsraten und dergleichen mehr. Während das Denken der klassischen Ökonomen in der Regel von Klassen und Gruppen ausging, schaffte die vorherrschende neoklassische Wirtschaftslehre in ihren Analysen »Gesellschaft« kurzerhand ab und begann sich nur noch auf Individuen und Unternehmen zu beziehen. In Wirklichkeit spielen Gruppen eine sehr große Rolle in der Wirtschaft. Solche Gruppen befinden sich in der Realität häufig in offenem Konflikt miteinander. Die vorherrschende Wirtschaftslehre geht von der Annahme aus, dass die ökonomischen Akteure an einem freien und fairen Wettbewerb auf offenen Märkten teilnehmen und sich jeglicher Art von außerökonomi-

31 Coase, »Nature of the Firm«. 32 Zu Krugmans Behauptung, Staaten würden und könnten nicht wie Unternehmen konkurrieren, der Begriff Wettbewerb sei bezogen auf Volkswirtschaften bedeutungslos und internationale Wettbewerbsfähigkeit eine gefährliche Obsession, vgl. Krugman, Mythos vom globalen Wirtschaftskrieg, Kap. 5: »Internationaler Handel als Konfliktmodell – eine Illusion«.

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schem Druck und Gewalt enthalten. Das ist natürlich recht optimistisch, wenn nicht schlicht absurd. Wie Ronald Findlay und Kevin O’Rourke in ihrem neuen Buch über Handel, Krieg und Weltwirtschaft im zweiten Jahrtausend, nicht zufällig Power and Plenty betitelt, überzeugend darlegen, ist eine solche Annahme für die hier erörterte Phase vollkommen unrealistisch: »Keine Geschichte des internationalen Handels kann die Ursachen oder die Konsequenzen militärischer Aktivitäten ignorieren«.33 Seine stärksten Expansionen, schreiben sie, erfuhr der Welthandel meist »durch Maschinengewehre, Krummsäbel oder die Grausamkeit nomadischer Reiter«, und sie fügen hinzu: »Für große Teile unserer Periode lässt sich das Muster des Handels nur [Hvhbg. i. Orig.] als Ergebnis irgendeines militärischen oder politischen Gleichgewichts zwischen rivalisierenden Mächten verstehen.«34 In der Tat spielte Gewalt, zumal fern von Europa auf offener See, eine solche Rolle, dass friedlicher Handel in freier Übereinkunft und schlichte Piraterie oftmals nur schwer oder gar nicht unterscheidbar waren. Einige Beispiele können dies verdeutlichen. So behauptete Jan Pieterszoon Coen, einer der Begründer der niederländischen Herrschaft im heutigen Indonesien, der sicherlich wusste, wovon er sprach, mit Blick auf »den Osten«, dass »Handel nicht ohne Krieg und Krieg nicht ohne Handel auf Dauer möglich ist«. Er schrieb dies 1614, aber seine Worte blieben während der gesamten frühneuzeitlichen Periode gültig.35 Kaum anders sah es laut John Elliott in der Karibik aus: »Handel und Piraterie waren in der gesetzlosen karibischen Welt des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts oftmals gleichbedeutend.«36 Für die Niederländische Westindien-Kompanie brachten Krieg und Kaperei in den 1620er und 1630er Jahren weit höhere Kosten und Einnahmen mit sich als der eigentliche Handel.37 Nur ein weiteres Beispiel aus einem anderen Kontext: Schätzungen zufolge erbeuteten die Briten während der Napoleonischen Kriege insgesamt 30 Millionen Pfund Sterling auf See – mehr als das damalige jährliche Nationaleinkommen der Niederlande.38 Die Unterscheidung zwischen Handel und Raub war oftmals so unklar wie jene zwischen öffentlich und privat, wie Wirken und Struktur der staatlich privilegierten Handelsgesellschaften, die nicht nur handelten, sondern (in manchen Fällen sogar in zunehmendem Maße) auch regierten, deutlich zeigen. Findlay und O’Rourke kommen der These von Rapp nahe, wonach »der Staat, nicht das

33 Findlay/O’Rourke, Power and Plenty, XIX. 34 Ebd., XVIII, XIX. 35 Zitiert. nach Parker (Hg.), Cambridge Illustrated History of Warfare, Einleitung, 9. Dieser Satz findet sich in beinahe jeder Publikation zum Thema. 36 Elliott, Empires of the Atlantic World, 224. 37 Vgl. die Zahlen in Brandon, Masters of War, 110, Tab. 2.5 38 Allen, Institutional Revolution, 121.

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Teil 1: Moderne Wirtschaftswissenschaft und Theorien des Wachstums

einzelne Unternehmen, die entscheidende Einheit in der frühneuzeitlichen internationalen Konkurrenz war«.39 Wiederum sind Kontext und Ausmaße wichtig: Wie wir sehen werden, geht es in einer der wesentlichen Debatten über Staat und Wirtschaftsentwicklung darum, ob, wann und wie Wachstum und Entwicklung durch Wirtschaftsnationalismus und Protektionismus gefördert wurden. Deren Nachteile mögen auf der Hand liegen, doch niemand würde behaupten wollen, dass wirtschaftlich erfolgreiche Länder auf sie verzichtet hätten. In diesen Debatten über die Rolle von Staat und Nation ist die These vertreten worden, dass kulturell-ethnische Homogenität der wirtschaftlichen Entwicklung förderlicher sei als Diversität, da diese leicht zu Spaltungen, Spannungen und Missverständnissen führen könne, die die Transaktionskosten in die Höhe treiben. Das klingt recht plausibel und würde bedeuten, dass Kultur eine Rolle spielt.40 Aber auch Amy Chuas These, die vielleicht nicht exakt das Gegenteil besagt, aber von ganz anderen Annahmen ausgeht, klingt einleuchtend: Alle »Hypermächte« in der Weltgeschichte (also jene »erstaunlich wenigen Gesellschaften […], die eine so außerordentliche militärische und wirtschaftliche Macht anhäuften, dass sie praktisch die Welt beherrschten«) waren »zumindest an den Maßstäben ihrer Zeit gemessen außerordentlich pluralistisch und tolerant«. Sie alle, so Chua, »gelangten zu Erfolg, indem sie sich die Fähigkeiten und Energien von Individuen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen zunutze machten und hochbegabte Gruppen, die in anderen Gesellschaften ausgegrenzt wurden, anzogen und in ihren Dienst stellten«.41 Der Vater der modernen Weltgeschichte William McNeill sah dies genauso: »Der Hauptfaktor, der historisch bedeutsame Veränderungen fördert, ist der Kontakt mit Fremden, die neue und andersartige Fähigkeiten besitzen.«42 Auch die Vertreter der neuen Wachstumstheorie, die die Rolle von Wissen und Information für die gesellschaftliche Entwicklung und die diesbezüglichen Vorteile »offener« gegenüber »geschlossenen« Gesellschaften hervorheben, teilen diese Auffassung im Prinzip.43 Worauf es hier jedoch ankommt, ist, dass Gruppen, ob sie nun auf Abstammung, Interessen, Identitäten oder einer Kombination davon basieren, ebenso wie Zwang und Gewalt eindeutig eine Rolle im Wirtschaftsleben 39 Rapp, »Mediterranean Trade Hegemony«, 515. 40 Einen Überblick über die umfangreiche Literatur zum Thema bietet Alesina/La Ferrara, »Ethnic Diversity and Economic Performance«. 41 Chua, Day of Empire, XXI und Klappentext. Der Begriff der Hypermacht wird auf den Seiten XXI–XXII eingehender definiert. 42 McNeill, Rise of the West, XVI. 43 Dies zeigen deutlich die historischen Überblicksarbeiten von Matt Ridley und Robert Wright sowie die vor allem Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten behandelnde von Leonard Dudley.

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Die Rolle der Kultur für das Wirtschaftswachstum

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spielen, und zwar in ganz unterschiedlicher Weise und mit ganz unterschiedlichen Folgen. Der Zusammenhang zwischen harter Arbeit und dem Erwerb von Reichtum, der in kulturellen Erklärungen für Wohlstandsunterschiede sehr häufig auftaucht, scheint derart selbstverständlich zu sein, dass er gewöhnlich gar nicht zur Debatte gestellt wird. Das sollte er jedoch. Es sind beispielsweise Situationen vorstellbar, in denen harte Arbeit Mechanisierung und Innovation hemmt. Harte Arbeit kann irrational werden, wie bereits Weber wusste. Wenn Menschen, die bereits mehr besitzen, als sie jemals werden ausgeben können, weiterhin arbeiten, oder wenn (Möchtegern-)Erfinder und Unternehmer dies tun, obwohl sie keinerlei Gewähr dafür haben, dass es sich auszahlen wird, ist das – wirtschaftlich gesehen – nicht unbedingt rational. Aber wichtiger noch: Kann unterschiedlich »harte Arbeit« – wenn wir der Einfachheit halber unterstellen, »harte Arbeit« lasse sich überhaupt bestimmen und so messen, dass man eine Rangliste des Fleißes erstellen könnte – tatsächlich das Reichtumsgefälle zwischen Ländern mit und solchen ohne modernes Wirtschaftswachstum erklären? Gegenwärtig sind die Österreicher im Durchschnitt rund 25-mal so reich wie die Einwohner Kenias.44 Vermutlich würde niemand diesen Unterschied allein auf unterschiedlichen Fleiß zurückführen wollen. Aber wie wichtig ist Fleiß dann? Kaum jemand oder niemand auf der Welt kann von sich behaupten, so hart zu arbeiten wie Frauen im ländlichen Afrika. Diese Arbeit hat ihnen schwerlich Reichtum eingebracht.45 Wo harte Arbeit gepriesen wird, ist das Lob der Sparsamkeit meist nicht weit. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass Sparen Wachstum fördert. Aber stimmt das überhaupt? Was wir heute als Sparsamkeit loben, beklagen wir morgen vielleicht als Unterkonsumtion. Und kann man durch Sparen tatsächlich modernes Wirtschaftswachstum erzeugen? Die Antwort lautet nein. Wie diese kritischen Anmerkungen hoffentlich verdeutlicht haben, muss Kultur eine überaus wichtige Rolle für das Wirtschaftswachstum spielen, wie sehr auch die vorherrschende Wirtschaftslehre sie ausgeblendet, vereinfacht oder verzerrt haben mag. Wie sollte es auch anders sein? In der Wirtschaft geht es um Entscheidungen, und diese werden in letzter Instanz immer von Deutungen und Werten beeinflusst. Solche Deutungen und Werte haben meines Erachtens vor allem dann starke und strukturelle Effekte, wenn sie sich in Institutionen verkörpern, die über Mechanismen der Förderung und Durchsetzung verfügen. Solange sie nur im Reich der Ideen verbleiben, haben sie zwar sicherlich auch einen Effekt, der aber weniger stark und in jedem Fall schwieriger zu messen ist. Doch selbst wenn die Probleme von Mes44 The Economist. Pocket World in Figures 2013, 116 und 172. 45 Mills, Why Africa is Poor, 11.

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Teil 1: Moderne Wirtschaftswissenschaft und Theorien des Wachstums

sung und Operationalisierung nicht so entmutigend wären, hätten wir noch keine allgemein akzeptierte, überzeugende Theorie der Beziehungen zwischen Kultur und modernem Wirtschaftswachstum. Es ist zwar denkbar, dass viele der oben erwähnten Eigenschaften (manches) Wachstum fördern – aber erklärt dies das moderne Wirtschaftswachstum, seine enorme Dimension, Bandbreite und Permanenz sowie seine relativ plötzliche Entstehung? Und wie soll man mit der Tatsache umgehen, dass Kulturen normalerweise eine Kombination dieser unterschiedlichen Eigenschaften aufweisen?

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

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Die Great Divergence und die Geografie

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1. Die Great Divergence und die Geografie

Unter Globalhistorikern und sämtlichen anderen Autoren, die sich mit der Great Divergence befassen, sind geografische Erklärungsmuster nicht nur in einem für die meisten Ökonomen erstaunlichen Ausmaß verbreitet, es werden dabei auch andere Akzente gesetzt, als Ökonomen es tun würden.1 Dass dabei häufig eine negative malthusianische Auffassung vertreten wird, die Armut besonders in der vorindustriellen Welt als Folge begrenzter Ressourcen für eine zu große Bevölkerung wertet, ist kaum überraschend: In dieser für die Historiografie der vorindustriellen Welt schon immer prägenden Perspektive bezeichnet »Geografie« in erster Linie Schranken. So hat etwa Fernand Braudel in seiner breit rezipierten Trilogie zur Globalgeschichte der materiellen Zivilisation und des Kapitalismus in der frühen Neuzeit brillant die Grenzen des Möglichen illustriert, die die Strukturen des Alltagslebens bestimmen.2 Er betonte in seinem Werk gewöhnlich die Schranken menschlichen Handelns, und zu recht ist Braudel vor allem als Vertreter von Auffassungen bekannt geworden, die einem geografischen Determinismus nahekommen. Mitunter zeigte er jedoch auch auf, wie die Natur dem menschlichen Handeln Möglichkeiten eröffnete. Die Dynamik Europas hatte demnach auch geografische Gründe: Um ihre Wirtschaften zu entwickeln, so Braudel, seien die Europäer in gewissem Sinn beinahe gezwungen gewesen, auf die Meere hinauszuziehen. Diese Notwendigkeit verstanden sie ihm zufolge als eine Herausforderung, und sie bewältigten sie sehr erfolgreich: Europas globale Vorherrschaft begann auf See.3 Auch in dieser Hinsicht trat Immanuel Wallerstein in die Fußstapfen Braudels und gab Europas Expansion eine spezifisch geografische Note: »Europa brauchte die geografische Expansion dringender als China.«4 Portugal, Europas erste interkontinentale, überseeische Kolonialmacht, musste ihm zufolge expandieren, denn es »hatte aufgrund seiner geografischen Lage keine andere Wahl«.5 Dafür nennt er auch einen konkreten Grund: »Europas ›innere Amerikas‹ im 1 2 3 4 5

Zur Verbreitung geografischer Erklärungsmuster: Bentley, »Web Browsing«. Braudel, Sozialgeschichte, Bd. 1. Vgl. Braudel, History of Civilizations, sowie seine Beiträge in Braudel (Hg.), Europa. Wallerstein, Das moderne Weltsystem, Bd. 1, 63. Ebd., 54.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

15. Jahrhundert waren bei einer Agronomie, die von mehr Raum abhängig war, rasch erschöpft.«6 Nachdrücklich wurde die These, Westeuropa sei in gewissem Sinn von der Natur gesegnet gewesen, von Eric Jones in seinem Buch Das Wunder Europa (1981) vertreten,7 Jones beschrieb Europa als einen durch geologische, geografische und klimatische Vielfalt gekennzeichneten Kontinent mit räumlich breit verteilten Ressourcen. »Fruchtbare politische Vielfalt, Kapitalakkumulation und Handel«, so seine Behauptung, »lassen sich scheinbar alle teilweise als Anpassung an Europas spezifische Lage und natürliche Ausstattung erklären.«8 Europa habe eine vorteilhafte Lage genossen, die die Entdeckung und Ausbeutung der Neuen Welt einfach machte. Dass Naturkatastrophen in Europa vor allem die Menschen und weniger das Kapital trafen, habe die Tendenz zur Kapitalakkumulation bereits vor der Industrialisierung gefördert. Auch die Tatsache, dass Europa nie in einem Reich zusammengefasst wurde, hatte Jones zufolge wenigstens teilweise geografische Gründe, insofern sich die größeren Kerngebiete »so gut wie gar nicht voneinander unterschieden« und es jedem von ihnen schwergefallen sei, die jeweils anderen zu beherrschen. Zudem hätten die geografische Entfernung und die für eine Kriegführung zu Pferd ungeeignete Bewaldung einen gewissen Schutz gegen Einfälle aus Asien geboten.9 Die topografische Gliederung des Kontinents, seine Gebirgsketten, Küsten und wichtigsten Sumpfgebiete schufen Grenzen, an denen Staaten, die aus den Kerngebieten herauswuchsen, zusammentrafen und innehalten konnten. Diese natürlichen Grenzen halfen, die unterschiedlichen Volksund Sprachgruppen, aus denen die Völker Europas bestanden, zusammenzuhalten. Sie halfen die Nationalstaaten zu definieren, die den so geschaffenen Raster ausfüllten, und da die Überschreitung dieser Grenzen kostspielig war, trugen sie auch ein wenig dazu bei, Konflikte zwischen benachbarten Staaten zu verringern.10 Was Europa ihm zufolge ferner »von den anderen unterschied, war das massierte Auftreten eines multilateralen Handels mit Massengütern, und zwar Gütern für den täglichen Gebrauch, über ziemlich große Entfernungen, und nicht nur eines Handels mit Luxusgütern, wie er im Fernhandel immer vorgeherrscht hatte«.11 Großbritanniens Insellage war dabei nach Jones’ Darstellung insofern besonders vorteilhaft, als sie Schutz 6 Ebd., 63. Dies deutet auf eine recht eigentümliche Interpretation der westeuropäischen Bevölkerungsentwicklung hin. Das 15. Jahrhundert war schwerlich eine Periode, in der Westeuropa unter »Überbevölkerung« litt. 7 Jones, Wunder Europa. 8 Ebd., 258. 9 Ebd., XXXII. 10 Ebd., 258–259. 11 Ebd., XVII. Auch dies führt Jones auf die geografische Diversität Europas zurück.

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Die Great Divergence und die Geografie

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vor Krankheiten und Feinden bot und der breite Zugang zu Wasser der Landwirtschaft, der Wasserkraft sowie dem Binnen- und Überseetransport zugutekam. Günstig sei Großbritanniens Lage auch mit Blick auf andere Kontinente gewesen, insbesondere die Neue Welt. Während deren riesige Nutzflächen relativ nah waren, befanden sich die zentralasiatischen Steppen mit ihren nomadischen Eroberern in weiter Entfernung. Die vermutlich einflussreichste globalökonomische Analyse, die der Geografie eine ausschlaggebende Rolle beimisst, ist Jared Diamonds Buch Arm und Reich: »Dass die Geschichte verschiedener Völker unterschiedlich verlief, beruht auf Verschiedenheiten der Umwelt und nicht auf biologischen Unterschieden zwischen den Völkern.«12 Wie meist übersehen wird, befasst sich das Buch vor allem mit dem Gegensatz zwischen Eurasien und dem Rest der Welt – dem bislang im Mittelpunkt der Great-Divergence-Debatte stehenden Kontrast zwischen Westeuropa und China werden nur gut fünf Seiten gewidmet. Diamond will vor allem die Vorstellung widerlegen, dass die eurasische Hegemonie in irgendeiner Form von geistiger, moralischer oder genetischer Überlegenheit gründe, und erklärt das Macht- und Technologiegefälle zwischen menschlichen Gesellschaften aus unterschiedlichen Umweltbedingungen. Sofern kulturelle oder genetische Differenzen zugunsten der Eurasier ausfielen (etwa die Entwicklung der Schriftsprache oder von Abwehrkräften gegen Endemien), war dies ihm zufolge nicht im eurasischen Genom angelegt, sondern eine Folge geografischer Einflüsse auf Gesellschaft und Kultur.13 Mit Blick auf Europa meint er wie Jones, seine Geografie habe eine Balkanisierung in kleine, abgeschlossene Nationalstaaten gefördert, da die Vielzahl natürlicher Barrieren (Berge und Flüsse) gut zu verteidigende Grenzen geboten habe. Infolgedessen hätten sich Regierungen, die den wirtschaftlichen und technischen Fortschritt unterdrückten, schnell eines Besseren besonnen oder seien recht bald in der Konkurrenz unterlegen.14 Die Entwicklungsvorteile der Eurasier ergaben sich demnach vor allem aus einer günstigen Verbindung von Klima, Nutzpflanzen und Tieren; angesichts einer so vorteilhaften Naturausstattung habe die Geografie die Kultur übertrumpft. Ian Morris sieht die Gründe für die Vorherrschaft des Westens noch entschiedener in der Geografie: Dass der Westen regiert, ist eine Frage der Geografie. Die Biologie sagt uns, warum Menschen die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben; die Soziologie sagt uns, wie sie dies tun; und die Geografie sagt uns, warum ausgerechnet der Westen und nicht irgendeine 12 Diamond, Arm und Reich, 32. 13 Eine hervorragende Zusammenfassung und Analyse des Buches, die ich hier paraphrasiere, ist McNeill, »The World According to Jared Diamond«. 14 Diamond, Arm und Reich, Epilog.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

andere Region in den letzten 200 Jahren die Welt beherrschte. Biologie und Soziologie liefern Gesetze, die für alle Menschen zu jeder Zeit an jedem Ort Gültigkeit haben; die Geografie erklärt die Unterschiede.15

Das läuft auf die These hinaus, dass »Landkarten und nicht irgendwelche Männer« Geschichte machen.16 Für Robert Marks fasst sich die Erklärung der britischen Industrialisierung im letztlich zufälligen Zugang zu Kolonien und Kohle zusammen.17 Er folgt damit, wenn auch weniger differenziert, Pomeranz’ The Great Divergence, der »günstig gelegene Kohlevorkommen«, »glückliche geografische Zufälle«, »ausschlaggebende Zufälle der Geografie« und »unverhoffte Vorteile durch Brennstoffe, Naturfasern und vielleicht sogar Nahrungsmittel« als wichtige Grundlagen der Entwicklung der westlichen Welt erkennen will.18 Vielschichtiger als Diamond und Morris argumentiert Deepak Lal, aber auch er führt den Aufstieg des Westens auf geografische Faktoren zurück. Die materielle Kultur des Westens beruhte ihm zufolge auf seiner natürlichen Faktorausstattung, sein institutionelles Gefüge war »durch die Umwelt bestimmt«. Wie Jones vertritt Lal die Auffassung, natürliche Barrieren hätten die europäischen Staaten an Raubzügen nach Art der imperialen Staaten Eurasiens gehindert.19 Es lassen sich weitere Beispiele für diese Perspektive anführen. Michael Mann etwa weist in seiner Geschichte der Macht – die sich primär mit den Quellen der einzigartigen Dynamik Europas befasst – der Umwelt ebenfalls eine große Rolle zu und argumentiert dabei mitunter ähnlich wie Jones. Den modernen Westen beschreibt er als Erben einer Zivilisation, die »geopolitisch multizentriert, kosmopolitisch und nicht hegemonisch war. Sie hatte drei ökologische Wurzeln: künstlich bewässerte Flusstäler und räumlich begrenzte Ackerflächen – Herzstück und Zentrum der Kontinentalreiche des Vorderen Orients –, offenere, ausgedehntere Ackerflächen in Europa sowie die Binnenmeere, die alles miteinander verbanden. Das Nebeneinander dieser Ökologien war in der Welt einmalig, so einmalig, wie die Zivilisation, die aus ihnen hervorging, welthistorisch gesehen einmalig war.«20 Aufgrund der niedrigeren Produktivität seiner Landwirtschaft hatte Europa Mann zufolge eine geringere Bevölkerungsdichte als der Ferne Osten. Zudem habe sich die europäische Landwirtschaft nicht auf Bewässerungssysteme gestützt, sondern sei von Regenfällen abhängig gewesen, was weniger zentralisierte und 15 Morris, Wer regiert die Welt?, 533. Siehe auch bspw. 37. 16 Ebd., 412 und ders. »Latitudes not Attitudes«. Solche Behauptungen werden in diesem Buch beständig wiederholt. 17 Marks, Ursprünge, 143. 18 Pomeranz, Great Divergence, Klappentext, 12, 16, 68, 241. 19 Lal, Unintended Consequences, 70–71, 79. 20 Mann, Geschichte der Macht, Bd. 1, 306.

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Die Great Divergence und die Geografie

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despotische Staaten, selbstständigere, aber stärker kooperierende bäuerliche Haushalte sowie eine sehr energieintensive Produktionsweise hervorgebracht habe. All dies habe den Handel mit Gebrauchsgütern auf lokaler Ebene und über mittlere Distanzen gefördert.21 Um noch ein letztes Beispiel zu nennen: Wie schon angedeutet misst auch Douglas Allen in seinem Buch über die institutionelle Revolution Naturabhängigkeit weitreichende Folgen bei. Dass die Natur für die Wirtschaftsentwicklung eine Rolle spielen kann, liegt auf der Hand. Wer wollte bestreiten, dass die geografische Lage (oder Klima, Boden etc.) bedeutsam ist und negative, aber auch überaus positive Auswirkungen haben kann? Besonders bis zur Entwicklung moderner Transportmittel waren Länder ohne Meerzugang tatsächlich im Nachteil, auch wenn die Schweiz und Österreich später trotzdem Wohlstand erreichten. Südamerika war weiter von Europa entfernt als die nördliche Hälfte der Neuen Welt, was sicherlich ebenso Auswirkungen auf seine Entwicklung hatte wie die Tatsache, dass es im Inneren nicht so gut durch Flüsse und Kanäle verbunden war wie beispielsweise Westeuropa. Roman Studer hat plausibel gezeigt, dass die Geografie eine wichtige Erklärung für die unterschiedlich starke Marktintegration innerhalb Europas bietet und die flachen Regionen in dieser Hinsicht gegenüber solchen mit weniger Wasserwegen und mehr Gebirgen im Vorteil waren.22 Afrikas Wirtschaftspotenzial wurde durch hohe Transportkosten beeinträchtigt, und seine niedrige Bevölkerungsdichte verschlimmerte die Lage noch. Selbst etwas scheinbar so Triviales wie die Windrichtungen konnte immense Folgen haben. So schreibt Felipe Fernández-Armesto: »Dass das Potenzial des Indischen Ozeans nicht ausgeschöpft wurde und sich die globalen Ambitionen auf dem Atlantik realisierten, muss teilweise durch die unentrinnbaren Tatsachen des geografischen Determinismus erklärt werden: durch die Tyrannei der Winde.«23 Natürliche Faktoren wie Fruchtbarkeit des Bodens, Verfügbarkeit bestimmter Ressourcen, Flora, Fauna, Krankheiten und, nicht zu vergessen, ihre Veränderungen fielen sicherlich ins Gewicht. Diese Veränderungen waren stark 21 Ebd., 300–306, Bd. 2, 243–256. Auch David Cosandey und Hubert Kiesewetter werten die Geografie als entscheidend für den besonderen europäischen Entwicklungspfad: Cosandey, Le secret de l’Occident; Kiesewetter, Das einzigartige Europa. David Landes rückt zwar grundsätzlich die Kultur in den Vordergrund, schenkt aber auch den negativen Folgen ungünstiger geografischer Bedingungen seine Aufmerksamkeit: Landes, Arm und Reich, Kap. 1 und 2. Bairoch meint, die landwirtschaftliche Revolution des Westens sei auf größere Teile der übrigen Welt nur schwer übertragbar gewesen, was sich weitgehend durch Faktoren wie Klima, Bodenbeschaffenheit und Bevölkerungsdichte erkläre: Bairoch, Victoires et déboires, Bd. 2, 648–661. 22 Roman Studer, »Does Trade Explain Europe’s Rise?«, http://www2.lse.ac.uk/ economicHistory/pdf/WP129.pdf. 23 Fernández-Armesto, Civilizations, 483.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

vom sogenannten Columbian Exchange, dem interkontinentalen Austausch von Pflanzen, Tieren, Krankheiten etc., und dem »europäischen ökologischen Imperialismus« bestimmt.24 Sehr wichtige Faktoren, die in gewissem Grad als geografische gelten können und die in der Great-Divergence-Debatte bislang nicht ausreichend berücksichtigt wurden, sind die Größe und Bevölkerungsdichte von administrativen Einheiten und Gemeinwesen und ihre Konsequenzen für die Möglichkeiten effektiven Regierens. Verwiesen sei hier nur auf einen neueren Versuch, dies aufzuschlüsseln: David Stasavages Buch States of Credit. Size, Power and the Development of European Polities. Darin wird gezeigt, »dass aktive repräsentative Versammlungen eher in geografisch kleinen Gemeinwesen aufrechterhalten werden konnten. Dominiert von merkantilen Gruppen, die den Regierungen Geld liehen, gewährleisteten solche Versammlungen wiederum einen besseren Zugang zu Krediten.«25 Und dies schließlich, um den Gedanken weiter zu treiben, als Savage selbst es tut, stärkte die Infrastruktur dieser Staaten. Infrastrukturell schwache Staaten können nie Industrialisierung und modernes Wirtschaftswachstum hervorbringen. In der vorindustriellen Welt war ein effektives und effizientes Regieren – sei es auf administrativem Wege, durch Patronage oder den Verkauf von Ämtern – letztlich nur möglich, wenn sich ein effektives und effizientes System der Kontrolle installieren ließ. Dies war angesichts der damals begrenzten Transport- und Kommunikationsmittel nur in Gebieten bis zu einer bestimmten Größe machbar. Großbritannien, eine Insel mit einem dichten inneren Kommunikationsnetz, genoss in dieser Hinsicht einen beträchtlichen Vorteil gegenüber China, den es sehr effektiv nutzte.26 Diese relative Schwäche Chinas scheint mir von grundlegender Bedeutung zu sein, um das Ausbleiben seiner Industrialisierung zu erklären. Allgemein kann es kein reiner Zufall sein, dass es im 19. Jahrhundert in der Regel nicht kleine Stadtstaaten oder große Reiche waren, die ihre Wirtschaften am effektivsten modernisierten, sondern territoriale Nationalstaaten von mittlerer Größe. Offenbar war eine solche Größe optimal für die Rationalisierung und Modernisierung von Wirtschaft und Staatsapparat. 24 Crosby, Columbian Exchange; ders., Ecological Imperialism; Nunn/Qian, »Columbian Exchange«; dies., »Potato’s Contribution«; Mann, 1491; ders., 1493; Einführend zur Rolle von Krankheiten für die Wirtschaftsentwicklung: McGuire/Coelho, Parasites, Pathogens and Progress. 25 Stasavage, States of Credit. Zitiert auf der Innenseite des Umschlags. 26 Vgl. etwa Guldi, Roads to Power. Ein sehr interessanter Text, der die Schwächen und Probleme des Qing-Staates weitgehend auf seine territoriale Größe zurückführt, die eine tatsächliche Kontrolle der Beamten nicht zuließ, ist Tuan-Hwee Sng, »Size and Dynastic Decline. The Principal-Agent Problem in Late Imperial China, 1700–1850«, im Netz unter http://apebhconference.files.wordpress.com/2009/08/sng.p df.

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Die Great Divergence und die Geografie

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Die Great Divergence wesentlich durch die Geografie zu erklären, da diese den Westen begünstigt habe, ist aber kaum überzeugend, ja letztlich irreführend. Meine Kritik ist eine zweifache: zum einen grundlegender Art, was die allgemeine Relevanz von Geografie für unser Thema betrifft, zum anderen konkreter Art, was bestimmte geografische Erklärungen betrifft. Beginnen wir mit den konkreten Erklärungen, und zwar mit Jones’ Thesen. Wenn ich mir Karten Europas und Chinas ansehe und von meinen ausgedehnten Reisen in beiden Weltregionen ausgehe, scheint es mir nicht plausibel, dass die europäische Geografie eine stärkere Fragmentierung gefördert habe als die chinesische. Ohne den Kaiserkanal etwa, dessen Bau und Instandhaltung gewaltige Anstrengungen erforderte, wären Süd- und Nordchina nur schwach miteinander verbunden gewesen. Beispiele dafür, dass die Natur nur einen lockeren Zusammenhalt Chinas stiftete, ließen sich viele anführen.27 Die These, der europäische Handel mit Massengütern sei einzigartig gewesen, ist zumindest hinsichtlich der Quantitäten ebenfalls schwer haltbar. Der Fernhandel mit Getreide war im China des 18. Jahrhunderts weitaus umfangreicher als auf der Handelsroute durch das Baltikum, der damals größten in Europa.28 Was die Vielfalt der gehandelten Massengüter angeht, liegt Jones allerdings vermutlich richtig. Dass geografische Diversität und die Vielzahl von Kerngebieten in Europa das Wachstum begünstigten, lässt sich wiederum mit Grund bezweifeln. Jones’ Bemerkungen zu den potenziell positiven Eigenschaften des europäischen Klimas sind zu vage, um wirklich überprüft zu werden, und ein Blick auf die landwirtschaftlichen Erträge in anderen Klimaregionen, etwa Zentral- und Südchina, spricht kaum dafür, dass es Europa einen Vorteil bescherte. Seine These schließlich, in Europa hätten Naturkatastrophen den eigentümlichen Effekt gehabt, Arbeit zu verteuern und so Innovation und Wachstum zu fördern, scheint weit hergeholt, zumal die Löhne in Europa je nach Zeit und Ort stark schwankten und Jones keine klare signifikante Beziehung zwischen Naturkatastrophen, Arbeitskräfteangebot und Innovation nachweisen kann. Diamonds Ausführungen über die geografischen Unterschiede zwischen Eurasien und anderen Teilen der Welt sind sehr erhellend und können die unterschiedlichen Entwicklungswege vielleicht tatsächlich zu einem Großteil beleuchten, doch für die Erklärung der Great Divergence und des modernen Wirtschaftswachstums sind sie unerheblich. Zur Frage, warum Westeuropa reich wurde, China und Indien dagegen nicht, lässt sich dem Buch 27 Vgl. auch McNeill, »China’s Environmental History«, 35: »Bevor Großbritannien sein weitverzweigtes Empire errichtete, war China vermutlich das Gemeinwesen mit der größten ökologischen Vielfalt auf der Welt (…) mehr als elf Jahrhundert lang [etwa von 650 bis 1800, PV] blieb es der Staat mit der größten ökologischen Komplementarität.« 28 Einige Beispiele dafür nennt Pomeranz, Great Divergence, 34–35. Zur Marktintegration, vgl. Shiue and Keller, »Markets in China and Europe«.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

fast gar nichts entnehmen: Die Eigenschaften Eurasiens als Ganzes können selbstverständlich nicht erklären, warum das moderne Wirtschaftswachstum in einem bestimmten Teil entstand.29 Diamond wiederholt bloß das verbreitete Argument, Europa sei privilegiert gewesen, da es häufigeren und leichteren Zugang zu Wasserwegen hatte und – dank seiner Geografie – aus einer Vielzahl konkurrierender Einheiten bestand, aber das alles bietet noch keine geografische Erklärung für anhaltendes Wachstum.30 Allen weist zurecht auf die Naturabhängigkeit aller vorindustriellen Institutionen hin. Diese war aber, untrennbar verbunden mit Unbeständigkeit und Unberechenbarkeit, bis zur industriellen Revolution für alle Menschen gegeben. Dass manche, wie oft behauptet wird, stärker von ihr betroffen waren als andere, ist zwar vorstellbar. Aber eine Analyse, die dies überzeugend nachweist, wäre mir nicht bekannt. Es soll hier nicht jede einzelne These und Bemerkung behandelt werden. Stattdessen gilt es die entscheidende grundsätzliche Kritik an sämtlichen geografischen Erklärungen für Wirtschaftswachstum, namentlich für das moderne, zu verdeutlichen. Es geht eben nicht um irgendein Wachstum und Reichtumsunterschied, sondern um ein über Dekaden hinweg anhaltendes und substanzielles Wachstum. Und es geht um die immense Kluft zwischen den Regionen, deren Wirtschaften wuchsen, und denjenigen, in denen dies nicht der Fall war. Angesichts dieses spezifischen Explanandums, das sich durch permanenten Wandel und eine ständige Steigerung der Produktion und der Produktivität auszeichnet, darf man sich von definitionsgemäß eher statischen geografischen Faktoren nicht viel Aufschluss erhoffen. Geografische Bezüge sind zur Erklärung von (modernem) Wirtschaftswachstum sicherlich sinnvoll, solange man sich ihrer Grenzen bewusst ist. Jones zufolge »trägt das Vorhandensein von Boden- und anderen Naturschätzen wenig zur Erklärung von Veränderungen bei. Ressourcen sind eine Funktion der verfügbaren Technologie und sind ökonomisch bedeutungslos, solange keine Technologie für ihre Verwertung erfunden ist«.31 »Für sich genommen«, so Jones, »erklärt die Geografie nichts. (…) Und doch darf die Geografie nicht gänzlich außer Acht bleiben. Die äußere Anordnung der Welt wirkt sich auf die relativen Kosten wirtschaftlicher Tätigkeit mithilfe einer beliebigen

29 Vgl. Blaut, Eight Eurocentric Historians, Kap. 8; Acemoglu/Robinson, Warum Nationen scheitern, Kap. 2. 30 Vgl. Vries, »Review Article: Ian Morris«. Eine Kritik an Manns geografischem Ansatz hat unter anderem Jim Blaut geleistet: Blaut, Eight Eurocentric Historians, Kap. 6. 31 Jones, Wunder Europa, XXXI. Zu Pomeranz’ Arbeiten und seiner Erklärung des britischen Take-off durch Kohle und Kolonien schreibt Jones in Cultures Merging: »Ressourcen an sich sind keine Gewähr dafür, dass sie sich auch entwickeln«; man muss mit ihnen »produktiv umgehen und akkumulieren«. (115–116)

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Die Great Divergence und die Geografie

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Technologie aus.«32 Die Rolle von Umweltfaktoren besteht demnach darin, »dem menschlichen Handeln Minimalkostenpfade anzugeben. Ceteris paribus sollten wir erwarten, dass diese auch beschritten wurden«.33 Mit Blick auf den Fall Europa fügt er hinzu: »Eine Umwelt mit relativ billigem Kapital kann sehr wohl die Innovationsrate beeinflusst haben.«34 Man muss sich allerdings vergegenwärtigen, dass die genannten geografischen Bedingungen – selbst wenn sie als vorteilhafte eine bedeutsame Rolle in der europäischen Wirtschaftsgeschichte gespielt haben sollten – bis zum 18. Jahrhundert offenbar keine signifikante Entwicklungs-, Wachstums- und Reichtumskluft zwischen Westeuropa und den anderen weit entwickelten Ökonomien der Welt hervorriefen. Folglich darf man fragen, weshalb sie es ab diesem Zeitpunkt getan haben sollten. Dass die meisten Bezüge auf Geografie sehr allgemein und unspezifisch sind, ist dabei kaum hilfreich. Ein schönes Beispiel dafür, wie sich Zusammenhänge konkreter und direkter fassen ließen, bietet Terje Tvedts systematischer Vergleich der britischen, chinesischen und indischen Wassersysteme, der der Frage nachgeht, ob die Unterschiede konkret erklären könnten, warum sich Großbritannien industrialisierte, nicht aber China und Indien.35

32 33 34 35

Jones, Wunder Europa, XXXIII. Ebd., 261. Ebd. Tvedt, »Why England and not China and India?«.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

2. Geografie, Faktorausstattung und Institutionen

Natürliche Bedingungen können Gesellschaften bestimmte Wege vorzeichnen, oder wie Jones formuliert: dem menschlichen Handeln »Minimalkostenpfade« angeben, die zu wirtschaftlicher Entwicklung und Wachstum führen oder nicht. Geografie wäre demnach als etwas zu verstehen, das Grenzen setzt und Herausforderungen bietet. Insbesondere unter Forschern, die sich mit dem Zusammenhang von Geografie und Institutionen befassen, ist es populär geworden, von geografischen Herausforderungen oder Möglichkeiten und institutionellen Antworten darauf auszugehen. Vermutlich am häufigsten wird dabei in der globalen Wirtschaftsgeschichte ein Zusammenhang zwischen geografischer Zerstreuung, politischer und wirtschaftlicher Konkurrenz und schließlich Wohlstand angenommen. Doch obwohl populär, ist diese Argumentation kaum überzeugend. Nicht nur ist es keineswegs evident, dass die Geografie tatsächlich politische Fragmentierung bewirkte, auch der in fast allen Publikationen über den Aufstieg des Westens angeführte Zusammenhang zwischen der Konkurrenz von Gemeinwesen und Wirtschaftswachstum ist weitaus weniger klar und eindeutig als gemeinhin angenommen. Schon über die genauen Vorzüge der Konkurrenz – und ihre optimale Form – zwischen wirtschaftlichen Akteuren sind sich die Ökonomen uneins. Über die davon zu unterscheidende Logik und Struktur der Konkurrenz zwischen politischen Akteuren gehen die Meinungen noch weiter auseinander. Vermutlich würden die meisten Ökonomen der Konkurrenz zwischen den politischen Gemeinwesen Europas – und andernorts – vor der Great Divergence eher negative Auswirkungen bescheinigen: Gewöhnlich wurde sie in Europa nach den Regeln des Merkantilismus ausgetragen, und der genießt in ihren Reihen bis heute einen sehr schlechten Ruf. Darauf werden wir später zurückkommen. Gehen wir näher auf das Erklärungsmodell von Herausforderungen und Antworten ein. Der bereits erwähnte Jared Diamond behauptet wiederholt: »In jeder menschlichen Gesellschaft gibt es erfinderische Geister. Wahr ist aber auch, dass die Umwelt in manchen Regionen mehr Ausgangsmaterial bereithält und günstigere Bedingungen für die Nutzung von Erfindungen bietet als in anderen.«1 Eine ähnliche Perspektive nimmt Morris ein: »Verän1 Diamond, Arm und Reich, 505.

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derungen werden von faulen, habgierigen, verängstigten Menschen bewirkt, die nach leichteren, profitableren und sichereren Wegen suchen, etwas zu tun.«2 Durch Herausforderungen, auf die die Menschen reagieren (müssen), bestimmt die Geografie demnach den Rahmen menschlichen Handelns. Diese Perspektive der Anpassung wird in Morris’ Lieblingssatz deutlich: »Jede geschichtliche Periode bekommt das Denken, das sie braucht.«3 Bei gleicher Lage und Herausforderung hätten sich andere Menschen genauso entwickelt und genauso gedacht wie die Westeuropäer.4 Für Morris ist Geschichte »ein einziger unausweichlicher Prozess der Anpassungen an die Welt, die immer neue Probleme generieren, die wiederum Anpassungen erfordern«.5 Die Geografie tritt dabei als eine Notwendigkeit auf, die zur Mutter der Erfindung wird – mit ähnlichen Situationen konfrontiert, werden sich Menschen auch in ähnlicher Weise verhalten. Wie Pomeranz erklärt Morris die Great Divergence im 18. und 19. Jahrhundert durch die Kombination der atlantischen Wirtschaft und ihrer zusätzlichen Nutzflächen mit Kohle und Dampfkraft und behauptet folgerichtig, dass es in Asien, hätte es über eine atlantische Wirtschaft und Kohle verfügt, ebenfalls eine industrielle Revolution gegeben hätte.6 Auch dass Westeuropa zum Zentrum der atlantischen Ökonomie wurde, hatte nach Morris geografische Gründe: Für die Europäer sei es vergleichsweise einfach gewesen, Amerika zu entdecken und auszubeuten.7 Zwar erkennt Morris die Bedeutung von Wissenschaft und Technik für die wirtschaftliche Entwicklung an, doch deutet er ihre Fortschritte im Westen ebenfalls nur als Konsequenz von Herausforderungen – insbesondere praktischer Erfordernisse der atlantischen Ökonomie –, die die westlichen Wissenschaftler zu bewältigen hatten.8 Auch Parthasarathi geht wesentlich von Herausforderungen und Reaktionen aus. Indien industrialisierte sich ihm zufolge deshalb nicht, weil es anders als Großbritannien nicht vor der Herausforderung ausländischer Konkurrenz in der Textilproduktion und, wichtig für unsere Erörterung der Geografie, der Herausforderung des Holzmangels gestanden habe.9 In Großbritannien wurden demnach während der Industrialisierung Lösungen für Probleme entwickelt, die in Indien gar nicht und in China in weit geringerem Maß existierten. 2 Morris, Wer regiert die Welt?, 36. Erstaunlicherweise wird diese extreme Verallgemeinerung ohne jeglichen empirischen Beleg oder Verweise auf empirische Studien anderer Autoren präsentiert. 3 Ebd., 459. Vgl. auch 406, 544. 4 Ebd., 540, 482–483. 5 Ebd., 535. 6 Ebd., 484. 7 Ebd., z.B. 399ff. Ähnlich argumentiert Blaut, Colonizer’s Model, 181. 8 Morris, Wer regiert die Welt?, 484. 9 Parthasarathi, Why Europe Grew Rich, 10 und 12.

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Es ist erstaunlich, wie unvermittelt nicht nur diese renommierten Wissenschaftler von Herausforderungen zu Antworten springen.10 Morris’ Verständnis geografischer Herausforderungen als Erklärung für die Great Divergence ist mechanistisch. Was den von ihm betonten Lagevorteil Europas betrifft, müsste er sich doch fragen, ob die Entdeckung Amerikas überhaupt den Take-off in Westeuropa erklärt – liegt Westafrika denn nicht noch näher an Nord- und Südamerika? Seine Behauptung, jede Zeit bekomme das Denken, das sie braucht, erweist sich näher betrachtet als recht inhaltsleer. Die von Morris implizierte These, Europa sei zur Erkundung und Ausbeutung des atlantischen Raums herausgefordert worden, ist – abgesehen von der von ihm selbst erwähnten Tatsache, dass Kolumbus nie beabsichtigte, Amerika zu entdecken, und auch nie realisierte, dass er dies getan hatte – übertrieben und in jedem Fall einseitig. Schon Adam Smith schrieb: »Die Gründung der europäischen Kolonien in Amerika und Westindien entsprang keiner Notwendigkeit.«11 Eine solche Argumentation würde zudem zumindest nahelegen, dass es einem Land wie China an Herausforderungen gemangelt habe, andere Regionen zu erkunden und zu kolonisieren. Dies wird beispielsweise in vielen Schilderungen behauptet, wie den Expeditionen Zheng Hes im 15. Jahrhundert ein Ende gesetzt wurde: Dem China der Ming-Ära habe es einfach an wirtschaftlichen Gründen gefehlt, die Welt zu erkunden, und für die Qing-Ära gilt dies dann wohl ebenso. Hatte nicht Kaiser Qianlong in seinem berühmten Brief an den englischen König George III. das Folgende geschrieben? Wie sich Ihr Botschafter selbst überzeugen kann, mangelt es uns an nichts. Ich messe fremden oder ausgefallenen Gütern keinerlei Wert bei und habe keinen Bedarf an den Erzeugnissen Ihres Landes. […] Unser Himmlisches Kaiserreich besitzt alles, was es braucht, in reichem Überfluss, und es besteht innerhalb seiner Grenzen kein Mangel an Gütern gleich welcher Art. Es gab daher nie das Bedürfnis, im Austausch gegen unsere Erzeugnisse Güter ausländischer Barbaren zu importieren.12

Auch wenn jener Kaiser, nicht anders als sein Vater und Großvater, viele Kriege führte, dienten diese letztendlich nur der Grenzsicherung, nicht einer kolonialen Ausbeutung von Ressourcen. Erst kürzlich erklärte Pomeranz prägnant, es habe im China der Qing »keinen merkantilistischen Kolonialismus gegeben […], weil solche Unternehmungen völlig zurecht als nicht loh-

10 Zu weiteren Beispielen, vgl. S. 167–168. 11 Smith, Reichtum der Völker, 556. 12 »Brief von Kaiser Qianlong an George III., 1793«, http://academic.brooklyn.cuny.edu/core9/phalsall/texts/q ianlong.html. Es lassen sich mühelos viele ähnliche Zitate finden.

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nend galten«.13 In Wirklichkeit hätte es für Qing-China im sehr langen 18. Jahrhundert reichlich gute Gründe gegeben, seine Randgebiete, etwa die Grenzregionen im Südwesten, Tibet, Xinjiang, die Mongolei und die Mandschurei, intensiver auszubeuten. Alle vorindustriellen Gesellschaften waren derart arm, dass es sich die Herrscher im Grunde nirgends leisten konnten, selbstgenügsam auf den Versuch einer Vergrößerung ihrer Ressourcenbestände zu verzichten. Chinas Herrscher waren aus einer Reihe von Gründen keine Kolonialisten wie die Herrscher Westeuropas: Es mangelte ihnen an Stärke, Ressourcen oder an Motivation, und mitunter, besonders im Fall der Mandschurei, wollten sie es erklärtermaßen nicht sein. Die Mandschurei, etwa doppelt so groß wie Frankreich, hätte weitaus mehr Bohnenkuchen, Getreide und Holz liefern können, als sie es tat, und überdies gewaltige Mengen an Kohle; sie hätte außerdem wesentlich mehr Einwanderer aufnehmen können. All das wäre gut für Chinas Wirtschaft gewesen. Doch die Herrscher waren nicht interessiert und hatten andere Prioritäten.14 Ab den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts mangelte es ihrem Land schwerlich an Herausforderungen unterschiedlichster Art, aber auf kaum eine von ihnen wurde adäquat reagiert.15 Allgemeine Aussagen über Herausforderungen und Reaktionen erklären überhaupt nichts. Zudem ist Geografie – und folglich ihre Herausforderungen und die möglichen Antworten darauf – in vieler Hinsicht keineswegs unveränderlich. Auf den Columbian Exchange und den westlichen ökologischen Imperialismus wurde bereits hingewiesen. Es gibt jedoch weitere relevante Beispiele dafür. Im Hochmittelalter war Großbritannien ein Randgebiet; das Herz der europäischen Wirtschaft schlug noch im Mittelmeerraum. Doch mit dem Aufstieg des Atlantiks verlor der Mittelmeerraum deutlich an Zentralität. In China gewannen mit der »Öffnung« des Landes die Küstenregionen an Gewicht, während mehrere Kerngebiete zu Hinterland wurden.16 Auch Politik kann die Geografie bestimmen. Peking und Madrid zum Beispiel hatten als Hauptstädte zugleich großes wirtschaftliches Gewicht, obwohl ihre geografische Lage alles andere als ideal war – aber so wollten es die Herrscher Chinas und Spaniens nun einmal. Wichtiger noch: Weder »Herausforderungen« – geografischer oder anderer Art – noch »Reaktionen« sind »objektive Fakten«. Probleme existieren nicht zuletzt im Auge des Betrachters. So ignorierten etwa die Chinesen bis in die 1830er Jahre im Grunde die britische Präsenz an ihrer Türschwelle: Sie erkannten in ihr kein Problem. Auch Lösungen sind nicht »objektiv« und klar vorgegeben, sodass jedes Problem 13 14 15 16

Pomeranz in »Ten Years after«, 20. Xue, »A ›Fertiliser Revolution‹?«. Einen Überblick bietet Rowe, China’s Last Empire. Pomeranz, Making of a Hinterland.

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seine Lösung hätte. Mit dem zunehmenden Holzmangel im 18. Jahrhundert wurde in China, Japan und Großbritannien unterschiedlich umgegangen. Ein solcher Mangel ist außerdem selbst nie einfach eine Frage der Geografie: Er hängt von Angebot und Nachfrage ab. In Großbritannien zum Beispiel resultierte er vor allem aus der gewaltigen Nachfrage seitens Marine und Eisenindustrie. Die britische Regierung verabschiedete im Lauf der Zeit mehrere Gesetze, um die Holzzufuhr der Marine sicherzustellen. Kurzum: Geografie, die vermeintlich letztgültige Erklärung, ist selbst keine »harte Tatsache«. Gehen wir etwas näher auf diese Herausforderung des Holzmangels und die Antwort – Kohle – ein, die etwa in Pomeranz’ und Parthasarathis Analysen eine herausragende Rolle spielt und im Mittelpunkt vieler Debatten über die Great Divergence steht. Wie Großbritannien war auch China mit Engpässen an Holz konfrontiert. Aber sowohl die Privatunternehmen wie der Staat unternahmen kaum etwas, um die Kohleförderung nennenswert zu steigern. Pomeranz argumentiert in The Great Divergence, Chinas größte Kohlevorkommen hätten im Nordwesten und somit zu weit entfernt von den Kohleverbrauchern im wirtschaftlichen Herzstück des Landes gelegen.17 Doch wie mehrere Forscher behaupten, war der Kohletransport ein lösbares Problem. Dass es ungelöst blieb, hatte viel mit der Schwäche des chinesischen Staates und seiner Prioritätensetzung zu tun.18 Selbst wenn die nordwestliche Provinz Shanxi die einzige Region mit großen bekannten Kohlevorkommen gewesen wäre – sie beheimatete die bekannten Shanxi-Bankiers und war bis ins 19. Jahrhundert viele Jahrzehnte lang eine recht wohlhabende, kapitalstarke Region, nicht ein Hinterland, wie Pomeranz suggeriert. Tatsächlich aber gab es Kohle und Kohlebergbau auch in vielen anderen Landesteilen.19 Noch ungünstiger für die kalifornische Position ist, dass inzwischen Daten vorgelegt wurden, die die These eines Mangels an billiger Kohle in China ernsthaft in Zweifel stellen.20 Auch Pomeranz’ Erklärung dafür, dass China keine Dampfpumpen und Dampfmaschinen entwickelte, ist 17 Pomeranz, Great Divergence, 64–67. 18 Vgl. etwa Li, Development of Agriculture and Industry in Jiangnan, 59; Perdue, China Marches West, 539–542. 19 Einige Beispiele nennt Parthasarathi, Why Europe Grew Rich (s. im Index »Coal, in China«). Ein zeitgenössischer Kommentar ist Abel, Narrative of a Journey in the Interior of China. Abel bezieht sich auf den ersten Band des Buchs General Description of China (1788) des französischen Abbé Jean-Baptiste Grosier (1743–1823) und schreibt: »Die Missionare teilen uns mit, Kohleminen seien in allen Provinzen Chinas so reichlich vorhanden, dass es vielleicht kein anderes Land auf der Welt gibt, in dem sie so verbreitet sind.« (194) 20 Loren Brandt/Debin Ma/Thomas G. Rawski, »China’s Long-Term Economic Growth. Retrospect and Prospect«, Beitrag zur »Asian Historical Economics Conference«, Peking 19.–21. 5. 2010, http://ahes.ier.hit-u.ac.jp/ahec_beijing/papers/may21_no26.pdf.

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fragwürdig. In Großbritannien wurden Dampfpumpen zunächst für die Drainage von Bergbauschächten entwickelt. Laut Pomeranz stellte Wasser in den chinesischen Kohlebergwerken ein viel geringeres Problem dar.21 Das stimmt nicht: Auch die Chinesen hatten mit ernsthaften Drainageproblemen zu kämpfen.22 Dies war auch in den zahlreichen Kupferminen der Fall, die für Staat und Wirtschaft große Bedeutung hatten, weil sie China mit dem Geld für den täglichen Gebrauch versorgten.23 Doch offenbar »mieden die Chinesen zusammen mit dem unterirdischen Überflutungsproblem den Bergbau überhaupt«.24 Dampfmaschinen hätten Belüftung und Brandschutz in den chinesischen Bergwerken deutlich verbessern können.25 Auch außerhalb des Bergbaus, etwa in der Bewässerung der Landwirtschaft, hätte es im frühneuzeitlichen China durchaus Raum für arbeits- oder ressourcensparende Erfindungen gegeben. Solange noch unbefriedigte Bedürfnisse existieren, gibt es im Prinzip auch immer eine potenzielle Nachfrage nach neuen, besseren und effizienteren Technologien. Dennoch wurde ein halbes Jahrtausend lang beinahe nichts unternommen, um die überlieferten Methoden zu verbessern.26 Kurzum, es gab in China einige sehr gute Gründe für die Entwicklung von Dampfpumpen und -maschinen. Die Herausforderung blieb unbeantwortet. Chinas Technologie im Bereich des Abbaus von Kohle, Gold oder Silber war immer sehr primitiv im Vergleich zu Westeuropa in der Frühen Neuzeit. Bemerkenswert in diesem Kontext ist auch, dass bereits der Franzose Denis Papin (1647–1712) mit einer einfachen Art von Dampfmaschine experimentierte – zu einer Zeit also, als das Problem des Brennstoffmangels noch deutlich weniger akut war als ein Jahrhundert später in Großbritannien und China. Papin arbeitete in Großbritannien, aber auch in Frankreich und Deutschland, wo die Situation eine durchaus andere war. Der chinesische Bergbau stand außerdem nicht nur vor technischen 21 Pomeranz, Great Divergence, 64–67. Tatsächlich arbeitete James Watt primär an seiner Dampfmaschine, um Drainageprobleme in den Zinnminen Cornwalls zu lösen, wo Arbeitskraft billig war (entgegen Allen) und Kohle teuer (entgegen Allen und Pomeranz!). 22 Vgl. etwa Golas, Science and Civilisation in China, Teil V, Bd. 13, 186; Dixin/Chengming (Hg.), Chinese Capitalism, 1522–1840, 5, 13, 93, 266–267, 277, 280, 287, 289–291, 296–297; Elvin, »Skills and Resources in Late Traditional China«, 90–93. In japanischen Bergwerken bestanden übrigens ebenfalls ernsthafte Drainageprobleme und auch dort wurde auf diese Herausforderung keine innovative Antwort gefunden. 23 Zum Kupferbergbau, vgl. die Schlussfolgerung von Chen, »China’s Copper Production in Yunnan« ,117: »Copper production in Yunnan declined on account of failure to break through the bottleneck of mining techniques.«» 24 Deng, »Why the Chinese Failed to Develop a Steam Engine«, 168. Vgl. auch Elvin, »Skills and Resources«, 92–93, und Harrison, The Man Awakened from Dreams, 114–115, 132–133. 25 Deng, »Why the Chinese Failed to Develop a Steam Engine«, 168. 26 Elvin, »Skills and Resources«, 90.

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Problemen. Häufig schlossen die Minen für einen Teil des Jahres, weil die dort beschäftigten Bauern ihr Land bestellen mussten.27 Die niedrigen Löhne machten große Investitionen riskant: Größere Bergwerke, für die sie in Betracht kamen, mussten mit kleineren konkurrieren, deren Investitionsund Lohnniveau sehr niedrig war.28 Auch hier erklären die von vielen Wissenschaftlern so geschätzten Theorien von Herausforderung und Reaktion und von der Notwendigkeit als Mutter der Erfindung in Wirklichkeit oftmals kaum etwas. In der Literatur über Wirtschaftswachstum wird die Bedeutung der Geografie noch in anderer Weise hervorgehoben: Bestimmte Umweltbedingungen, so lautet eine These, prädisponierten Gesellschaften für die Entwicklung bestimmter sozialer Verhältnisse und Produktionsweisen, mit weitreichenden Implikationen für ihre weitere wirtschaftliche Entwicklung. So betont Douglas Allen, dass Institutionen in vorindustriellen Gesellschaften nicht die Natur ignorieren konnten: »Welche Institutionen Gesellschaften entwickeln, hängt von der Rolle der Natur, ihrer Unbeständigkeit und dem Vermögen ab, natürliche und menschliche Beiträge für jede Tätigkeit zu messen und voneinander zu trennen.«29 Das ist natürlich wahr, aber in dieser Allgemeinheit beinahe nichtssagend: Bis zum späten 18. Jahrhundert waren alle Gesellschaften auf der Welt vorindustrielle und sehr stark den Launen der Natur unterworfen. Wie sie mit dieser Tatsache und allgemein mit ihrer Faktorausstattung institutionell umgingen, variierte erheblich. Verdeutlichen lässt sich dies durch einige institutionelle Antworten, die im Kontext des vorliegenden Buches überaus relevant sind. Ein Beispiel für eine Debatte, in der die Rolle von Institutionen und deren Abhängigkeit von der Faktorausstattung im Mittelpunkt steht, ist die ausgiebig und intensiv geführte Diskussion über die unterschiedliche Wirtschaftsentwicklung Lateinamerikas und der Karibik einerseits, der Vereinigten Staaten und Kanadas andererseits. Erstere gelten dabei als gescheitert, die beiden Letzteren als erfolgreich. Diese spezifische Great Divergence ist Thema einiger sehr aufschlussreicher Analysen insbesondere von Acemoglu, Johnson und Robinson sowie von Engerman und Sokoloff, die immensen Einfluss gewonnen haben und interessante methodologische Reflexionen über die Durchführung langfristiger komparativer Forschung bieten. Wie erwähnt, gehen sie dabei von zunehmend umstrittenen Annahmen über gewaltige Differenzen zwischen Ländern aus, was nationalen Reichtum, Ungleichheiten der Einkommens- und Vermögensverteilung, die kolonialen 27 Harrison, The Man Awakened From Dreams, 114–115. 28 Ebd., 132–133. 29 Allen, Institutional Revolution, 219 und 227.

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und postkolonialen Siedlungsmuster und Arbeitssysteme sowie den Geldund Ressourcenabfluss von den Kolonien in das jeweilige Mutterland betrifft.30 Sollten sich diese verbreiteten Ansichten als unhaltbar erweisen, hätte das natürlich erhebliche Implikationen für die auf ihnen beruhenden Erklärungen. Aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, ist es aufschlussreich zu erfahren, welche Positionen gegenwärtig in der Debatte bezogen, wie sie begründet und verteidigt werden. Ich möchte einen Überblick über den Stand der Debatte geben und zeigen – nicht vorhersagen –, wie sie sich entwickeln könnte.31 Der amerikanische Fall kann illustrieren, welche Mechanismen Wachstum und Stagnation zugrundeliegen könnten. In der Regel werden drei Blöcke unterschieden: der Norden (Kanada und die Vereinigten Staaten, zwischen deren Norden und Süden natürlich gewichtige Unterschiede bestehen), die Karibik und schließlich Lateinamerika (das jahrhundertelang beinahe vollständig unter spanischer und portugiesischer Herrschaft stand). Vor allem einige bislang verbreitete Ansichten über Spanisch-Amerika werden nun infrage gestellt. Erörtern wir zunächst den breit rezipierten Versuch von Acemoglu, Johnson und Robinson, einen engen Zusammenhang zwischen den Umweltbedingungen und der Entstehung eines bestimmten Typus wirtschaftlicher Institutionen in den europäischen Kolonien nachzuweisen.32 Unterstellt wird dabei eine unmittelbare Beziehung zwischen Faktorausstattung, Institutionen und schließlich Wachstum; der Verbreitungsgrad von Krankheiten, die Sterberate sowie die Verfügbarkeit bestimmter Ressourcen gelten als Auslöser von Entwicklungen, in denen Institutionen schließlich zentrale Bedeutung gewannen. Regionen, in denen aufgrund von Krankheiten eine hohe Sterberate herrschte, besaßen demnach geringe At30 Dazu sind zwei weitere Anmerkungen angebracht. Zum einen verfügen Historiker erst für das 19. Jahrhundert über einigermaßen »solide« Daten. Vieles, was über die Kolonialära behauptet wird, könnte durchaus durch eine Rückprojektion von Kenntnissen über die Situation im ersten Jahrhundert nach der Unabhängigkeit verzerrt sein. Zum anderen besteht die Gefahr, das »Scheitern« insbesondere Lateinamerikas stark zu überzeichnen. Verglichen mit den Wirtschaften der Vereinigten Staaten und Kanadas schnitt Lateinamerika im 19. Jahrhundert tatsächlich schlecht ab – gemessen an diesen außergewöhnlich dynamischen und stark wachsenden Wirtschaften ›scheiterten‹ jedoch nahezu alle Regionen der Welt. Aus globaler Perspektive betrachtet war die Entwicklung Nordamerikas höchst außergewöhnlich, die Südamerikas hingegen recht normal. Vgl. etwa Escosura, »Lost Decades«. 31 Die Debatte über Zusammenhänge zwischen Faktorausstattung und Institutionen wird auch für den Fall Afrika geführt, bislang allerdings weniger explizit und umfangreich. Für den Großteil Afrikas wird dabei behauptet, dass Arbeitskraft in unserem Untersuchungszeitraum relativ knapp – und in der Landwirtschaft auch relativ unproduktiv –, Boden dagegen relativ reichlich vorhanden gewesen sei. Dies habe bestimmte Herausforderungen und Blockaden geschaffen. Vgl. die Literatur in Anm. 6, S. 35 und 8, S. 207. 32 Acemoglu/Johnson/Robinson, »Colonial Origins«; dies., »Reversal of Fortune«.

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traktivität für Europäer, die dort im Grunde nur zwecks maximaler Ressourcenausbeutung hinzogen, ohne sich wirklich niederzulassen. Je größer der Naturreichtum solcher unwirtlicher Regionen, umso mehr entwickelten sich extraktive Institutionen und Formen unfreier Arbeit. Weniger unwirtliche Regionen, die zugleich weniger Aussicht auf schnelle Gewinne durch Ressourcenausbeutung boten, zogen dagegen Siedler an, die sich eine dauerhafte Existenz aufbauen wollten. Durch klar definierte, geschützte Eigentumsrechte und ein repräsentatives Regierungssystem schufen sie ein dafür geeignetes institutionelles Umfeld, kurz: inklusive Institutionen, die laut Acemoglu, Johnson und Robinson Entwicklung und Wachstum geradezu zur Regel machen. Einmal eingeführt erhielten sich inklusive und extraktive Institutionen demnach meist durch positive Zirkel bzw. Teufelskreise. Engerman und Sokoloff folgen in ihren Analysen der divergierenden Wirtschaftsentwicklung unterschiedlicher Regionen der Neuen Welt einem ähnlichen Ansatz, beachten aber weitaus stärker, wie Pfadabhängigkeit tatsächlich funktionierte und die jeweilige Ressourcenausstattung sich im Einzelnen auswirkte.33 Ohne in Monokausalität abzudriften, unterstreichen sie die fundamentale Bedeutung der Ressourcenausstattung im weiteren Sinn: Quantität und Qualität des Bodens, Klima, Eignung für bestimmte Nutzpflanzen und die unter den gegebenen Umständen profitabelsten Anbauweisen sowie die Bevölkerungsdichte (der Ureinwohner). Unterschiede in diesen Faktoren prädisponierten ihnen zufolge die verschiedenen Teile der Neuen Welt zum Anbau unterschiedlicher Feldfrüchte oder zur Spezialisierung auf bestimmte Tätigkeiten, was den Gesellschaften bestimmte Entwicklungspfade vorgegeben und somit langfristig erhebliche Folgen gezeitigt habe. Die natürliche Faktorausstattung hatte demnach einen immensen Einfluss auf die sich herausbildenden Institutionen, konnte ihrerseits aber von diesen beeinflusst werden. Engerman und Sokoloff unterstellen keinerlei »Feldfruchtdeterminismus«, sondern gehen von Pfadabhängigkeiten aus. Ihre Position ähnelt dem Ansatz der »komplexen Geografie«, für den Gareth Austin mit Blick auf die Wirtschaftsentwicklung Afrikas plädiert hat: »Institutionen sind sehr wichtig für das Wirtschaftswachstum, aber teilweise selbst Reaktionen auf spezifische Umweltbedingungen.«34 Mit ihrem Ansatz der Ressourcenausstattung wollen Engerman und Sokoloff vor allem eine Alternative zu der Herangehensweise von Wissenschaftlern bieten, die die unterschiedlichen Entwicklungspfade mit dem kul33 Eine Synthese ihrer Auffassungen bietet Engerman/Sokoloff, Economic Development in the Americas. Vgl. auch Nunn, »Slavery, Inequality and Economic Development«. 34 Austin, »›Reversal of Fortune‹ Thesis«, 1021. Zum ursprünglich von Acemoglu, Johnson und Robinson geprägten Begriff »komplexe Geografie«, vgl. dies. »Reversal of Fortune«, Abschnitt 4.2.

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turellen oder institutionellen Hintergrund der Siedler erklären.35 Entscheidend ist demnach weniger, ob die Siedler – wie oft betont wurde – einen angelsächsischen, zumindest aber nordwesteuropäischen oder iberischen Hintergrund hatten, sondern wo und unter welchen Bedingungen sie sich ansiedelten. Auch Engerman und Sokoloff weisen auf eine »Schicksalswende« hin. In den ersten 200 oder 250 Jahren der Besiedlung der Neuen Welt waren jene Regionen, die schließlich die mit Abstand reichsten wurden – die Vereinigten Staaten und Kanada –, die ärmsten, in die es nur wenige Siedler zog. Die spanischen Siedlungen in Mexiko und Peru mit ihrer nach wie vor großen Urbevölkerung, ihren großen Ländereien und enormen Edelmetallvorkommen und mehr noch die Karibik mit ihrer aufblühenden Plantagenwirtschaft waren deutlich reicher und vielversprechender und zogen folglich mehr Siedler an. Die karibischen Inseln lockten von 1650 bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts am meisten Einwanderer aus Europa an; insgesamt gingen deutlich mehr Weiße nach Südamerika und in die Karibik als in die britischen Kolonien im Norden.36 Im Jahr 1790 war Haiti gemessen am Pro-Kopf-Einkommen möglicherweise die reichste Gesellschaft der Welt. Im Jahr 1800 lag das reale Pro-Kopf-Einkommen auf Barbados und Kuba noch leicht über dem der Vereinigten Staaten, das etwa dem argentinischen entsprach. Hundert Jahre zuvor hatte es das der britischen Kolonien, die später die Vereinigten Staaten wurden, sogar um 50 bzw. 67 Prozent übertroffen.37 Nach dem Krieg mit Frankreich von 1756 bis 1763 führten die siegreichen Briten eine lebhafte Debatte darüber, welches Gebiet sie als Reparation verlangen sollten – die 1705 Quadratkilometer große Karibikinsel Guadeloupe oder Kanada! Sklavenhaltergesellschaften konnten ein recht hohes BIP pro Kopf erzielen, da ein größerer Bevölkerungsanteil als in »normalen« Gesellschaften arbeitete und die Produktion aufgrund hoher Kapitalintensität und einer starken Ausrichtung auf den Handel sehr effizient war. Langfristig besaß der nördliche Teil des Kontinents jedoch offenbar ein größeres Wachstumspotenzial als Mittel- und Südamerika. Die dreizehn britischen Kolonien, die nach der Revolution die USA bildeten, und Kanada gewannen erst zu einem ziemlich späten Zeitpunkt Anzie35 So meint etwa Douglass North, das unterschiedliche Schicksal der Gebiete nördlich und südlich des Rio Grande erkläre sich aus der Differenz zwischen »iberischen« und »angelsächsischen« Institutionen und Kulturen. North, »Institutions«. Vgl. auch Acemoglu/ Robinson, Warum Nationen scheitern, Kap. 1. 36 Engerman/Sokoloff, Economic Development in the Americas, 42–43. Das widerspricht der These von Acemoglu und seinen Kollegen, wonach sich Europäer in ungesunden Regionen nicht ansiedeln konnten und wollten. Vgl. Acemoglu/Johnson/Robinson, »Colonial Origins«, Abstract. Dass viele Zuckerbarone in der Karibik abwesende Grundeigentümer waren oder sobald wie möglich heimkehrten, ist eine andere Angelegenheit. 37 Vgl. Engerman/Sokoloff, Economic Development in the Americas, 10–11.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

hungskraft; jahrzehntelang zogen sie weniger Einwanderer an als das übrige Amerika, da sie zumindest denjenigen, die den schnellen Reichtum suchten, weniger Aussichten boten. Die Masse der Einwanderer stammte dort aus Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden. Ihre Siedlungsorte waren relativ dünn besiedelt – oder entvölkert worden – und gut geeignet für Getreideanbau und Viehzucht. Da ihre Faktorausstattung einen natürlichen komparativen Vorteil für pastorale Tierhaltung bot, zogen sie im 18. und 19. Jahrhundert Europäer an, die sich auf dieser Grundlage dauerhaft ansiedeln wollten. Diese Siedler waren in der Regel höher qualifiziert als iberische Auswanderer.38 Ihre gemischtwirtschaftlichen Farmen waren in der Regel verhältnismäßig klein. Die – eher halbherzigen – Experimente mit großen, von Lohnarbeitern und Pächtern bewirtschafteten Ländereien scheiterten ausnahmslos; die Farm im Eigentum der sie betreibenden Familie wurde zur Norm. Um 1900 besaßen drei Viertel der US-amerikanischen Bevölkerung Land, in Kanada war der Anteil noch höher. Engerman und Sokoloff erklären dies mitunter – und angesichts ihres Fokus auf die Faktorausstattung durchaus folgerichtig – mit einem strikten Feldfruchtdeterminismus: Der Anbau von Weizen oder anderem Getreide habe kaum oder gar keine positiven Skaleneffekte zugelassen.39 Zumindest als allgemeine Aussage kann dies angesichts des großflächigen und profitablen Weizenanbaus im damaligen Großbritannien kaum überzeugen. Welchen Grund hätte die umfassende Flurbereinigung und Konzentration in der britischen Landwirtschaft haben sollen, wenn große Getreidewirtschaften ökonomisch nicht sinnvoll waren? Wenn der Weizenanbau in den Vereinigten Staaten und Kanada vor dem Maschinenzeitalter keine Skaleneffekte zuließ, muss dies lokale Gründe gehabt haben. Ebenfalls bemerkenswert ist die Abwesenheit von Sklaverei und anderen Formen unfreier Arbeit in den Regionen, die gemischte Landwirtschaft betrieben. Angesichts ihrer Ressourcenausstattung ist dies keineswegs selbstverständlich.40 Im Gegenteil: Wenn wir Forschern wie Nieboer und Domar glauben, wäre die dortige Situation von Reichtum an Boden und Mangel an Menschen – im »richtigen« politischen Kontext – beinahe »ideal« für die Entstehung irgendeiner Art von unfreier Arbeit gewesen.41 Laut Engerman und Sokoloff waren Sklaven, nach denen auf dem Weltmarkt zu dieser Zeit starke Nachfrage bestand, gemessen an der damali-

38 Fielding/Torres, »Cows and Conquistadors«. 39 Vgl. etwa Engerman/Sokoloff, Economic Development in the Americas, 42 (Anm. 14), 53. 40 Man darf allerdings nicht vergessen, dass mindestens ein Drittel der Neuansiedler während der Kolonialzeit Schuldknechte waren und die Briten viele Sträflinge in ihre nordamerikanischen Kolonien verbannten. 41 Vgl. S. 206–207.

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gen Produktivität des Weizenanbaus schlicht zu teuer.42 Das Vorherrschen landwirtschaftlicher Familienbetriebe hatte somit eine Reihe von Gründen. Eine eigene Farm zu gründen, war selbst für Menschen mit geringen Mitteln verhältnismäßig einfach. Kostenlosen Boden gab es im Überfluss, weshalb es nahezu unmöglich war, Menschen als Lohnarbeiter oder Pächter zu binden. Tatsächlich wurde dies auch kaum versucht. Dass man freien Männern erlaubte, den wirtschaftlichen Bonus kostenlosen Bodens einzustreichen, war eine weitgehend politische Entscheidung. An der Frontier herrschte Arbeitskräftemangel. Die Regierung hatte ein starkes Interesse daran, Siedler anzuziehen, die das Land entwickeln und seinen Reichtum mehren sollten; ihr war bewusst und sie akzeptierte es, dass die Entscheidung, sie immer weiter ins Landesinnere vordringen zu lassen, an der Küste die Arbeitskraft weiter verknappen und die Löhne in die Höhe treiben würde – was dort wie in Großbritannien als Anreiz wirken sollte, arbeitssparende Methoden zu entwickeln. Auf diese Weise förderte die Regierung die Entstehung einer sehr breiten Klasse kleiner und mittlerer Landeigentümer. Bis ins 20. Jahrhundert ließ sie Millionen von Einwanderer ins Land, achtete aber darauf, dass die Bevölkerung ethnisch nicht zu sehr gemischt wurde. Um 1800 bestand die US-Bevölkerung noch zu rund 80 Prozent aus »Weißen«, die 20 Prozent »Nicht-Weiße« waren neben wenigen Ureinwohnern überwiegend schwarze Sklaven. Diese konzentrierten sich im Süden, der viel stärker den Sklavenhaltergesellschaften der Karibik als dem Norden des Landes ähnelte. Als die Sklaverei in den Südstaaten in den 1860er Jahren abgeschafft wurde, förderte dies die wirtschaftliche Integration mit dem Rest des Landes und bewirkte einen strukturellen Wandel, doch ihr Erbe wirkte fort. So verschwanden große plantagenartige Ländereien mit der offiziellen Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1865 zwar zunächst, da die ehemaligen Sklavenhalter keinerlei Entschädigung bekamen, ihr Eigentumsrecht also nicht mehr anerkannt wurde; wo die Erzeugnisse es jedoch wirtschaftlich lohnend machten, entstanden sie von Neuem, bewirtschaftet von billiger, oftmals nur halbfreier Arbeitskraft. Abgesehen vom Süden entstand in den Vereinigten Staaten und Kanada somit eine Gesellschaft, in der die Mehrheit der Menschen Land besaß und die Einkommens- und Vermögensunterschiede verhältnismäßig gering waren. Zudem erhielt ein zunehmender Teil der Bevölkerung, zuerst natürlich die Landeigentümer, das Wahlrecht. Einschränkungen des allgemeinen Wahlrechts nach Vermögen wurden im Lauf der Zeit verringert oder vollständig abgeschafft. Die Wähler stimmten für recht progressive Steuersys42 Ähnlich argumentiert Robert Allen: Im Norden der USA habe es keine Sklaverei gegeben, weil die Sklaven dort nicht genügend Einkommen generiert hätten, um ihre Kosten zu decken. Allen, Global Economic History, 72.

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teme, bei denen der Großteil der – insgesamt niedrigen – Abgaben auf das Eigentum entfiel.43 Ebenso stimmten sie für ein sehr breites und offenes Bildungssystem. Im Jahr 1800 war die weiße US-Bevölkerung die gebildetste der Welt. Mit Ausnahme der Südstaaten zeichneten sich die USA wie Kanada durch breite wirtschaftliche Teilhabe, eine hohe Erwerbsrate und einen ausgedehnten Markt für Massengüter aus; dies förderte die ökonomische Entwicklung und die Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums, das stark von Absatzmärkten für standardisierte Massenprodukte abhängig ist. So begannen die Vereinigten Staaten, sich bereits relativ früh zu industrialisieren, allerdings nicht auf dem lange Zeit als klassisch betrachteten Weg, also durch einen oder mehrere Leitsektoren, den breiten Einsatz neuer Technologien und Energiequellen und eine substanzielle Erhöhung der Kapitalintensität. Skaleneffekte waren wichtig, entstanden aber vor allem durch die Ausweitung und Vertiefung des Marktes, also eher durch Nachfrage als Angebot. Auch waren Entwicklung und Wachstum, oftmals durch schrittweise Verbesserungen von Organisation, Produktionsmethoden und Vermarktung, bei einer ganzen Bandbreite wirtschaftlicher Tätigkeiten zu verzeichnen; weniger kapitalintensive Branchen generierten genauso viel Wachstum wie kapitalintensivere. In den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts wurden die USA und Kanada eindeutig zu den reichsten Regionen Nord- und Südamerikas. Die Ressourcenausstattung und der Entwicklungsweg der karibischen Region sowie in geringerem Maße Brasiliens und der amerikanischen Südstaaten unterschieden sich hiervon deutlich. Diese Regionen waren beim Eintreffen der Europäer dünn besiedelt; wie im Norden war die Urbevölkerung klein und nahm ab. Doch Boden und Klima eigneten sich bestens für den Anbau von cash crops wie Tabak, Kaffee, Baumwolle, Zucker und auch Reis. Angesichts einer gewaltigen und wachsenden globalen Nachfrage nach diesen Produkten waren große Produktionseinheiten am wirtschaftlichsten. Da nicht genügend einheimische Arbeitskräfte für die Bewirtschaftung der ausgedehnten Ländereien vorhanden waren und die weißen Siedler sich weigerten, Lohnarbeiter zu werden, suchte man nach einer anderen Lösung. Die Wahl fiel auf Sklavenarbeit. So entstand eine Plantagenwirtschaft, die auf cash crops spezialisiert war und als Arbeitskräfte vorwiegend Sklaven einsetzte. Die Region mag für europäische Siedler ungesund gewesen sein, bot aber Aussicht auf ein so gewaltiges Einkommen als Plantagenbesitzer, dass viele Europäer dort ihr Glück versuchten. Keine Region in Nord-

43 In all diesen Aspekten waren die Vereinigten Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemerkenswerterweise das exakte Gegenteil Englands während der Industrialisierung!

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und Südamerika nahm bis 1800 mehr europäische Einwanderer auf als die Karibik. Charakteristisch für die dort entstehenden Gesellschaften wurde die enorme Kluft zwischen einer reichen herrschenden Elite und der Masse der Bevölkerung, die aus armen Sklaven bestand. In der Karibik machten importierte Sklaven mehr als drei Viertel der Bevölkerung aus. Plantagenbesitzer, die zu Reichtum gelangten – wenn sie nicht einfach abwesende Grundeigentümer waren –, verbrauchten und investierten ihr Geld größtenteils im Ausland und kehrten in der Regel wieder heim, sobald sie ihr Vermögen gemacht hatten. Die importierte Sklavenbevölkerung wies eine so hohe Sterberate auf, dass ständig neue »Importe« erforderlich waren. Die Einkommens- und Vermögensunterschiede waren immens. Viele Menschen blieben von wirtschaftlicher Betätigung ausgeschlossen, und ein Markt für Massenkonsumgüter existierte nicht. Die kleine herrschende Elite nutzte ihre wirtschaftliche und politische Macht zur Aufrechterhaltung der Situation. Das Wahlrecht blieb stark eingeschränkt und in ein breites Bildungswesen wurde kaum investiert; nur wenige konnten lesen, schreiben und rechnen. Aufgrund ihrer einseitigen Exportorientierung und eines allgemeinen Mangels an Entwicklung blieben die Ökonomien der Region stets instabil: Eine Krise ihrer cash crops bedeutete eine Krise der gesamten Wirtschaft. Im 19. Jahrhundert waren alle karibischen Länder ärmer als die USA und Kanada und hatten ein deutlich geringeres Entwicklungspotenzial. Mexiko und Peru waren die Länder, die als erste größere Gruppen von Einwanderern anzogen, in diesem Fall Spanier. Folgen wir Engerman und Sokoloff, dann lässt sich die Situation am besten so beschreiben: Trotz einer hohen Sterberate infolge der von den Europäern eingeschleppten Krankheiten war die Zahl der überlebenden Ureinwohner beträchtlich und wuchs ausreichend, um die eintreffenden Siedler mit Arbeitskräften zu versorgen. Eine glückliche Minderheit der spanischen Einwanderer erhielt große Grundstücke und dazu die benötigten Arbeitskräfte. In der Landwirtschaft führten sie weitgehend das alte Tributsystem fort und bewirtschafteten ihre großen Ländereien, die encomiendas, mit Zwangsarbeit. Diese kam auch in den Gold- und Silberminen zum Einsatz, die eine Quelle leicht verdienten Geldes darstellten, also einer privilegierten Elite sehr hohe Einkommen bescherten, ohne einer großen Zahl von Arbeitern eine – sehr schlecht bezahlte und extrem gesundheitsschädliche – Arbeit zu geben. Insgesamt hatte der Bergbau kaum positive Verkettungseffekte für die übrige Wirtschaft, sondern trieb nur die Preise in die Höhe. Er bietet ein Lehrbuchbeispiel für den »Fluch der Rohstoffe«. Die Edelmetalle der spanischen – wie auch der portugiesischen – Kolonien wurden zu großen Teilen als Steuern vom Mutterland abgeschöpft oder innerhalb des Kolonialreichs umverteilt, wobei die lokalen Eliten auch hier ihre Machtmittel so einzusetzen verstanden, dass sie

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viel bekamen und wenig geben mussten.44 Eine Notwendigkeit, viele Einwanderer ins Land zu lassen, bestand nicht; Einwanderung stieß sogar auf Ablehnung und wurde beschränkt, da man keine weiteren Anwärter auf die Beute wollte, während Mischehen von Siedlern und Ureinwohnern nicht verboten waren – was erneut zeigt, dass man nie die Rolle der Politik ignorieren sollte. In den spanischen Kolonien konnten um 1800 weniger als 20 Prozent, in Brasilien rund 25 Prozent der Bevölkerung als weiß gelten. So entstand letztlich eine im Kern ähnliche Situation wie in der Karibik, gekennzeichnet durch sehr große Einkommens- und Vermögensunterschiede, Eliten, die die Einschränkung des Wahlrechts aufrechterhielten und sich nicht um breite Bildung kümmerten, geringe wirtschaftliche Teilhabe und schwachen Massenkonsum. Kurz: Auch hier entstanden Bedingungen, die Wirtschaftswachstum schwerlich förderten. Ob sich eine Plantagenwirtschaft durchsetzte und ob dies zu Sklaverei führte, war nie eine simple geografische Frage, wie Engerman und Sokoloff tatsächlich selbst zeigen. Aus gutem Grund vermeiden sie es, eine Art Fruchtpflanzendeterminismus zu predigen. Die erste Fruchtpflanze, an die wir bei Plantagen denken, ist wahrscheinlich Zucker; wie Sidney Mintz schreibt, wird er beinahe automatisch mit großflächigem Anbau durch Sklaven assoziiert.45 Das Gleiche gilt für Baumwolle und in geringerem Maß für Tabak – natürlich vor allem aufgrund der Geschichte Nord- und Südamerikas. In China jedoch wurden diese Pflanzen fast immer auf winzigen Grundstücken von Bauernfamilien angebaut. Ein weiteres Beispiel ist Tee, der gemeinhin mit Plantagen wie in Indien und Ceylon assoziiert wird, in China jedoch – dem Land, das anfangs seinen Export monopolisierte – ebenfalls von Kleinbauern kultiviert wurde. Das war auch beim Reis der Fall, der in der Regel als eine für kleinflächigen Anbau, wie er in ganz Ostasien betrieben wurde, geeignete Pflanze gilt. Es gibt sogar Theorien darüber, etwa von Francesca Bray, warum dies bis zur Grünen Revolution so sein musste.46 Das scheint allerdings übertrieben, denn die Verfügbarkeit und Eigenschaften der Arbeitskraft spielten zweifellos ebenfalls eine Rolle. So wurde Reis auf dem Gebiet der heutigen Vereinigten Staaten, wo Boden relativ reichlich vorhanden, Arbeitskraft dagegen relativ knapp und teuer war, bereits ab dem 18. Jahrhundert auf Plantagen angebaut. In South Carolina wurde er in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eingeführt, und viele Farmen, etwa bei Charlestown und Georgetown, setzten dabei Sklaven ein; in manchen Reis-

44 Zu dieser Umverteilung: Grafe/Irigoin, »Spanish Empire and its Legacy«. 45 Vgl. etwa Mintz, Die süße Macht; Williams, Capitalism & Slavery. 46 Vgl. etwa Bray, Rice Economies, Appendixes A und B; Chao, Man and Land in Chinese History.

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anbaugebieten kamen auf einen Weißen acht Sklaven.47 1787 nahm ein Farmer namens Jonathan Lucas eine von Wasserkraft getriebene Reismühle in Betrieb, 1792 eine von den Gezeiten angetriebene. Bis 1850 entstanden rund 150 große Reisplantagen in der Region. Ab 1805 wurde Reis auch im Süden der USA angebaut, wobei in Louisiana und Texas Maschinen zum Mähen und Bündeln zum Einsatz kamen.48 Der Baumwollanbau in der südlichen Hälfte der heutigen USA beruhte stark auf Sklavenarbeit. Eine feldfruchtdeterministische Erklärung dafür, die sich bereits im Werk von Smith findet, lautet, dass Sklaven in Baumwollregionen das ganze Jahr über nutzbringend beschäftigt werden konnten. Dass dies in Weizenanbauregionen nicht der Fall war, wäre demnach der Grund dafür, dass sich im Norden keine mit Sklavenarbeit bewirtschafteten Plantagen fanden.49 Auch das ist zweifelhaft. Nach dem offiziellen Ende der Sklaverei wurde Baumwolle auf kleinen Farmen angebaut, ohne dass die Gesamtproduktion sank.50 Sklaven hätten auch im Norden der USA das ganze Jahr über nutzbringend eingesetzt werden können.51 Und im Süden waren sie neben dem Baumwollanbau für ihre Herren schon immer vielen anderen Tätigkeiten nachgegangen.

47 Weir, »›Shaftesbury’s Darling‹«, 390. 48 Lampe u.a., Das große Buch vom Reis, 8–9. Vgl. auch Blackburn, Making of New World Slavery, Stichwort »rice«. 49 Smith, Reichtum der Völker, 412. 50 Bereits 1869 erreichte die Baumwollproduktion der Südstaaten wieder das Niveau der Zeit vor dem Bürgerkrieg. Im Zeitraum von 1870 bis 1879 wurde es um 42 Prozent übertroffen. McCloskey, Bourgeois Dignity, 223, unter Verweis auf eine Studie von Stanley Lebergott. 51 Vgl. Woodman, Slavery and the Southern Economy, 7; Blackburn, Making of New World Slavery, 476–479.

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3. Geografie und Institutionen: Großbritannien und China, Weizen versus Reis

Kurzum: Nicht geografische Faktoren per se bestimmten, welche Pflanzen angebaut wurden, und diese bestimmten nicht unverrückbar die Produktionsstätten und Institutionen, so als führe Zucker zwangsläufig bis in alle Ewigkeit zu Plantagen, Weizen dagegen zum kleinen Familienbetrieb und allem, was damit einhergeht. Ob langfristiges Wirtschaftswachstum eintritt oder nicht, kann meiner Ansicht nach abgesehen von offensichtlichen, also sehr extremen Fällen nie hinreichend durch die Geografie erklärt werden. Und die alleinige oder auch nur maßgebliche Erklärung für die Great Divergence bietet sie gewiss nicht. Es ist natürlich möglich, ja mitunter sogar wahrscheinlich, dass sich – um bei diesem Beispiel zu bleiben – eine Kombination bestimmter Fruchtpflanzen und Institutionen verfestigt und die Wirtschaft so auf einen Entwicklungspfad führt, der sich als Teufelskreis oder – weit seltener – positiver Zirkel, zumindest aber als Ansporn zu Innovationen erweist. Die Analysen insbesondere Engermans und Sokoloffs über Nord- und Südamerika zeigen dies meines Erachtens ebenso deutlich wie die folgende Geschichte über die chinesische Reiswirtschaft und die britische Weizen- und Viehzuchtökonomie, die uns zum Kern unserer Analyse, der Great Divergence zwischen Großbritannien und China, zurückführt. Die britische Landwirtschaft war überwiegend eine gemischte, die Korn, etwa Weizen, Roggen, Hafer und Gerste (für Bier), als Grundnahrungsmittel produzierte, während der in den entwickeltsten und die Mehrheit der Bevölkerung beheimatenden Regionen Chinas vorherrschende Typus von Landwirtschaft Reis als Grundnahrungsmittel produzierte. Den gemischten Landbau in Großbritannien und Westeuropa werde ich der Einfachheit halber als Weizenwirtschaft, den zweiten Typus im Anschluss an Francesca Bray als Reiswirtschaft bezeichnen.1 Letztere existierte vor allem im wirtschaftlichen und demografischen Kerngebiet im Süden Chinas. Ich werde zunächst Brays Gegenüberstellung dieser zwei Landwirtschaftstypen und ihre Implikationen skizzieren, um danach einige möglicherweise problematische

1 Bray, Rice Economies. Interessante Anmerkungen zu den spezifischen Erfordernissen und Charakteristika westeuropäischer Weizenwirtschaften, die Europa demnach bereits im Mittelalter auf einen bestimmten Pfad brachten, macht Mitterauer, Warum Europa?.

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Annahmen in ihrer Arbeit aufzuzeigen. Was sind die wesentlichen Charakteristika der vorindustriellen Reiswirtschaft im Vergleich zur vorindustriellen Weizenwirtschaft, und welche Implikationen haben sie für die Ökonomie als Ganze?2 Beginnen wir mit der Reislandwirtschaft. Ihr Flächenertrag ist sehr hoch – weit höher als beim Weizenanbau – und sie bietet außerdem den Vorteil, dass keine Flächen brachliegen müssen. Zudem eignen sich mehrere Reissorten, zumindest bei richtigem Klima, für den Mehr- und Zwischenfruchtanbau. So sind zwei oder sogar mehr Reisernten im Jahr möglich, meist in Verbindung mit einer weiteren Feldfrucht. Bewässerung und Dünger steigern die Erträge deutlich; die zusätzliche Arbeit für Bau, Wartung und Nutzung von Bewässerungssystemen sowie für das Sammeln, Aufbereiten und Ausbringen unterschiedlichster Düngemittel lohnt sich. Bereits winzige Parzellen können eine Familie ernähren. Man könnte meinen, dass eine so bodenintensive Landwirtschaft wie der Reisanbau auch arbeitsintensiv sein müsse – das Vorbereiten, Düngen, Beund Entwässern der Felder sowie das Anpflanzen, Umsetzen, Jäten, Schälen und Mahlen des Reises erfordern in der Tat viel harte Arbeit. Aber man sollte die Arbeitsintensität des Reisanbaus nicht überschätzen.3 Eine durchschnittliche Familie, die auf einer durchschnittlich großen Parzelle am Unterlauf des Jangtse neben Reis noch Weizen anbaute, war dennoch nur vier Monate im Jahr wirklich beschäftigt. In diesen Monaten musste sie zwar sehr hart arbeiten, und es mangelte ihr oft an Arbeitskraft. Während des übrigen Jahres war sie jedoch unter- oder gar unbeschäftigt, wenn sie nicht andere Arbeiten aufnahm.4 Die meisten Familien taten dies. In Südchina ließ sich der Reisanbau gut mit Anbau und Verarbeitung etwa von Baumwolle, Seide, Zucker, Tee oder Tabak verbinden und so ein Zusatzeinkommen erzielen. Handwerk wurde zu einem integralen und grundlegenden Bestandteil beinahe aller Haushalte. Während sich die Männer meist auf die Landwirtschaft spezialisierten, wurden die handwerklichen Tätigkeiten für ihre Frauen oftmals praktisch zur Vollzeitbeschäftigung. Außerdem konnte man Obst und Gemüse anbauen, Vieh und Geflügel halten und sich zeitweilig als Landarbeiter verdingen. All diese Nebentätigkeiten konnten ein solches Gewicht erlangen,

2 Hintergrundinformationen hierzu bieten Li, Agricultural Development in Jiangnan, »Conclusion«; Bray, Rice Economies; Grigg, Agricultural Systems of the World; King, Farmers of Forty Centuries; Oshima, Growth in Monsoon Asia; Hayami/Tsubouchi (Hg.), Economic and Demographic Development in Rice Producing Societies, 6–20. Interessante Bemerkungen finden sich in Sigaut, »La Chine, L’Europe et les techniques agricoles«. 3 Vergleicht man die für das Existenzminimum erforderliche Gesamtmenge der Arbeit im Reis- und im Weizenanbau, was meines Erachtens der beste Maßstab für Arbeitsintensität ist, ergeben sich nur minimale Differenzen. 4 Vgl. Li, Agricultural Development in Jiangnan, 151–155.

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dass nicht etwa, wie oft angenommen wird, ein Überfluss, sondern ein Mangel an Arbeitskräften bestand.5 In dem hier behandelten vorindustriellen Kontext bot diese Art von Landwirtschaft relativ wenig Raum für arbeitssparende Strategien.6 Ochsen und Büffel wurden zwar eingesetzt, aber im Verhältnis zur Zahl der Arbeitskräfte gab es deutlich weniger Zugtiere als in Weizenanbauregionen. Gerade auf den Reisfeldern war ihr Nutzen begrenzt. Angesichts der hohen Bodenerträge war es unprofitabel, Flächen für sie zu reservieren, und die Nutzung menschlicher Arbeitskraft günstiger. Wo immer möglich, wurde Land als Anbaufläche genutzt. Zudem bedurften die Reispflanzen einer sorgfältigen Kultivierung, die stete Pflege durch qualifizierte Arbeiter erforderte, nicht rohe, monotone, mechanische Kraft. Große Geräte und Zugtiere hätten auf den Feldern vermutlich mehr Schaden angerichtet als genutzt. Geschält wurde Reis meist von Hand – während in Westeuropa Getreide in großen Mühlen gemahlen wurde – und nur in kleinen Mengen, da er danach nicht mehr lange haltbar war. Die Bearbeitung großer Flächen durch zahlreiche Lohnarbeiter lohnte sich im chinesischen Reisanbau mangels Skaleneffekten nicht. Für Großgrundbesitzer war es rationaler, ihren Boden in viele kleine Parzellen unterteilt zu verpachten, als ihn als Manager einer großen Farm zu nutzen. Sofern in besonderen Situationen zusätzliche Arbeitskräfte gebraucht wurden, waren sie gewöhnlich auch verfügbar. Haushaltsangehörige konnten neben dem Landbau auch vielen anderen Tätigkeiten nachgehen und waren bereit, zugunsten der anderen Arbeitskräfte Opfer zu bringen. Obwohl ihre Produktivität streng wirtschaftlich betrachtet nicht optimal war, hätte es deshalb keinen Sinn ergeben, wenn man sie aus dem Haushalt gedrängt hätte. Der Weizenanbau folgte – noch immer nach Bray – einer nahezu gegenteiligen Logik. Seine Flächenerträge waren relativ niedrig. Zwar fehlte es nicht an Methoden, sie durch intensiveren Anbau zu steigern; mit der Reduzierung der Brachflächen, der Einführung unterschiedlichster Fruchtwechsel und der Ausweitung der kultivierbaren Flächen gewann die Bodennutzung im frühneuzeitlichen Großbritannien deutlich an Intensität. Doch in Reisanbaugebieten bestand diesbezüglich zweifellos eine breitere Palette an Möglichkeiten. Der Weizenanbau erforderte relativ große Grundstücke zur Sicherung des Überlebens – unterschiedlichen Schätzungen zufolge mindestens fünf Hektar für eine normale fünfköpfige Familie. Ohne Nutztiere ließ sich der erhebliche Aufwand beispielsweise des Pflügens nicht bewältigen, während die Haltung großer Nutztiere auf Wiesen und Weideland auf5 Vgl. etwa ebd., 24–25; Perkins, Agricultural Development in China, 45–46, 58–60. 6 In diesem Sinn sind Reiswirtschaften verglichen mit den Landwirtschaftssystemen Westeuropas tatsächlich arbeitsintensiv.

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grund der eher niedrigen Flächenerträge relativ billig war. Vieh war jedoch nicht nur als Zugkraft unverzichtbar, sondern auch als Transportmittel und Quelle von Dünger, ohne den die Fruchtbarkeit des Bodens nicht erhalten, geschweige denn gesteigert werden konnte.7 Zudem ließ es sich in der Weizenlandwirtschaft mit ihren einfachen, repetitiven Arbeitsvorgängen sehr gewinnbringend mit unterschiedlichen Geräten kombinieren. Im Gegensatz zum Reisanbau konnten nicht nur durch den Einsatz von Tieren erhebliche Skaleneffekte erzielt werden, und dies wirkte sich selbstverständlich auf die Arbeitsproduktivität aus: Sie war auf größeren Höfen durchweg höher als auf kleinen; große, kapitalintensive Betriebe waren am rationellsten und produktivsten. Dieses Modell der Weizenwirtschaft bietet in der Tat eine gute stilisierte Beschreibung der Situation in Großbritannien, aber auch hier muss hinzugefügt werden, dass es nicht unbedingt Allgemeingültigkeit beanspruchen kann: In vielen Regionen, in denen Weizen oder Roggen das Grundnahrungsmittel darstellte, lag die Produktion überwiegend in den Händen von kleinen Familienbetrieben. Brays Gegenüberstellung eines westlichen Modells von großflächigem, kapitalintensivem Getreideanbau und eines asiatischen Modells von kleinflächigem, arbeitsintensivem Reisanbau ist viel zu deterministisch und dichotom. Für »den Westen« extrapoliert sie im Grunde den in Wirklichkeit außergewöhnlichen Fall Großbritannien. Auch im Frankreich des 18. Jahrhunderts waren Weizen und Roggen Grundnahrungsmittel, aber die große Mehrheit der Höfe verfügte nur über winzige Grundstücke, die mit viel Arbeitskraft und wenig Kapital bewirtschaftet wurden. In Südspanien wiederum waren im 19. Jahrhundert riesige Weizenhöfe vorherrschend, die aber fast ausschließlich menschliche Arbeit einsetzten und kaum von Skaleneffekten profitierten. Die chinesische Reiswirtschaft hatte vor allem zur Folge, dass Millionen von Bauern in einen arbeitsintensiven Produktionsprozess »eingeschlossen« wurden und ihrem Land verhaftet blieben. Der springende Punkt dabei ist, dass das Überleben in einer Reiswirtschaft mit einem kleinen Grundstück leichter ist – und schwieriger, wenn man keines hat. Wurden alle Haushaltsmitglieder zur Arbeit herangezogen und die diversen Möglichkeiten für Zusatzverdienste genutzt, dann bot ein Stück Land, das man im Westen als einen größeren Garten betrachtet hätte, in der chinesischen Reiswirtschaft eine hinreichende Existenzgrundlage. Zudem bestanden normalerweise gute Gründe, die Landwirtschaft nicht vollständig aufzugeben. Löhne waren für viele Menschen nur eine Ergänzung des Einkommens, das ihnen ihr eigenes Grundstück bot. Da sie gewöhnlich zu niedrig waren, um eine Fami-

7 Die Verwendung menschlicher Fäkalien als Dünger, die in China sehr wichtig war, kam in Großbritannien nahezu gar nicht vor.

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lie das gesamte Jahr über zu ernähren, brauchte man zur Sicherheit Land. In Phasen von Arbeitskräftemangel wurden zwar mitunter hohe Löhne gezahlt, aber dies machte nicht die während großer Teile des Jahres nur begrenzte Nachfrage nach Arbeitskraft wett. Den Großteil des Bodens bestellten Kleinbauern, die nur im Notfall und für einen so kurzen Zeitraum wie möglich Arbeiter einstellten. Wenn nötig, zogen sie es vor, sich gegenseitig mit Arbeitskraft und Nutztieren auszuhelfen. In Großbritannien ging die Nachfrage nach Lohnarbeit von den Pächtern der Großgrundbesitzer aus, die sich nach Kräften bemühten, riesige Betriebe zu schaffen – oftmals zulasten von Kleinbauern. Ein vergleichbarer Drang zur Enteignung von Kleinbauern und eine vergleichbare Nachfrage nach Lohnarbeit zur Bestellung des so gewonnenen Lands lassen sich für die chinesische Reislandwirtschaft der Qing-Ära nicht feststellen.8 Dies führte zu einer sinkenden Urbanisierungsrate und somit zu einem abnehmenden Gewicht jeglicher Art von städtischer »Mittelschicht«, zudem zu sehr niedrigen Löhnen, da die Lohnarbeiter meistens noch eigene Subsistenzmittel besaßen. Um einen annehmbaren Lebensstandard zu erreichen, mussten Millionen von Bauern die Landwirtschaft mit anderen Tätigkeiten kombinieren. Hätten sie sie vollständig aufgegeben, wäre die landwirtschaftliche Gesamtproduktion zurückgegangen, denn die weitere Steigerung der Arbeitsproduktivität wurde zunehmend schwierig. Aus makroökonomischer Perspektive betrachtet mussten sie insofern an ihrem Land festhalten. Hinzu kam eine »umweltbedingte Einsperrung«.9 Für den Nassreisanbau war eine gewaltige Infrastruktur aus Reisfeldern, Teichen, Dämmen etc. geschaffen worden. Entschied jemand, seinen Beitrag etwa zur Instandhaltung von Deichen oder Bewässerung von Feldern künftig nicht mehr zu leisten, musste ein anderer es tun: Man konnte nicht einfach ein Glied aus der Kette entfernen. Zudem waren die bereits investierten Mittel und die Kosten der Aufrechterhaltung dieses Systems immens. Der Staat erfüllte bei Aufbau und Instandhaltung großer Bewässerungssysteme eine phasenweise tragende Rolle, und die Folgen des Umstands, dass es der Regierung ab dem Ende des 18. Jahrhunderts immer schwerer fiel, die zur adäquaten Erfüllung dieser Aufgabe benötigten Ressourcen aufzubringen, waren gewiss weithin spürbar. Der Gedanke aber, die Erfordernisse der Bewässerung oder allgemein der Wasserbewirtschaftung hätten zwangsläufig einen »hydraulischen Staat« und

8 Erstaunlicherweise gilt dies auch für jene Regionen Chinas, in denen Reis nicht das Grundnahrungsmittel war. 9 Elvin, »Three Thousand Years of Unsustainable Growth«, sowie ders., »The Unavoidable Environment: Reflections on Pre-Modern Economic Growth in China«, Beitrag zur Konferenz »On the Origins of the Modern World. Comparative Perspectives from the Edge of the Millennium«, Davis 15.–17. 10. 1999.

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somit eine »orientalische Despotie« nach sich gezogen, ist nur ein weiteres Beispiel für geografischen Determinismus.10 All dies hatte zur Folge, dass Arbeitskraft in gewaltigem Umfang von landwirtschaftlichen Familienbetrieben absorbiert wurde und an den Boden gebunden blieb. Auf der Ebene des einzelnen Hofs bedeutete dies, dass die Boden- und Arbeitsproduktivität im Lauf der Zeit kaum oder gar nicht erhöht werden konnte. Für eine Bauernfamilie bestand die einzige realistische Option zur Produktionssteigerung darin, Arbeitskraft, Boden und Ressourcen noch intensiver zu nutzen. Unter solchen Bedingungen entsteht zwangsläufig eine Tendenz zur »Involution«. Mit Huang verstehe ich darunter eine Situation, in der ein zunehmender Input an Arbeit die Gesamtproduktion steigert – allerdings um den Preis sinkender Grenzerträge pro Arbeitstag.11 Man mag darüber debattieren, ob eine solche Involution in China bereits eingetreten war und wenn ja, wann, aber sofern bedeutender technischer Wandel oder massive Inputs von außerhalb des Systems ausbleiben, führt die traditionelle Reiswirtschaft bei wachsender Bevölkerung unweigerlich zu sinkenden Erträgen. Auch in Großbritannien gab es Bemühungen, die Produktion zu steigern – mitunter in ähnlicher Weise wie in China, etwa durch intensivere Bodennutzung. Was die britische gemischte Landwirtschaft von der chinesischen Reiswirtschaft in puncto Steigerung der Produktivität der Arbeit primär unterschied, war der Einsatz von Tieren und die Ausnutzung von Skaleneffekten.12 Zur Ernährung von Tieren braucht es Land; mehr Tiere bedeuten mehr Ansprüche auf den Boden. Früher oder später ist auch dies keine tragfähige Option mehr. Allgemein kann gesagt werden, dass Chinas vorindustrielle Landwirtschaft im 18. und 19. Jahrhundert land-, arbeitsund ressourcenintensiv, die britische Landwirtschaft dagegen landextensiv, energieintensiv und ressourcenextensiv war. Die chinesische Landwirtschaft zeichnete sich durch eine auf Haushalten beruhende Produktionsweise aus. Wie angedeutet, bewirtschafteten Großgrundbesitzer ihr Land nicht selbst, sondern verpachteten es in kleinen Parzellen und wurden so gewissermaßen Rentiers. Es gab kaum reine Lohnarbeiter, die Bauern hatten winzige Grundstücke, investierten wenig in Kapitalgüter wie Geräte und Tiere und 10 Das ist bekanntlich die These von Wittfogel, Orientalische Despotie. 11 Vgl. Huang, Peasant Family and Rural Development in the Yangzi Delta, 11. Seine Definition spielt eine wichtige Rolle in der Debatte zwischen Huang und Pomeranz in The Journal of Asian Studies 61 (Mai 2002) 2, einer Pomeranz’ Great Divergence gewidmeten Ausgabe. 12 Der Einsatz von Geräten fiel meines Erachtens bis zur Industrialisierung kaum ins Gewicht. Solange sie überwiegend aus organischen Stoffen hergestellt wurden und ihre Nutzung auf organischen Energiequellen basierte, dürften sich die Effekte in China und Großbritannien kaum unterschieden haben.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

kauften relativ wenig Produkte außer Haus. Insgesamt befand sich Chinas landwirtschaftlicher Sektor, wenn auch hochgradig effizient, was die Bodenproduktivität betraf, tatsächlich auf einem involutionären Pfad beständig steigender Arbeitsinputs. Die britische Landwirtschaft hingegen machte sich Skaleneffekte zunutze, die Höfe waren verglichen mit China riesig und wurden größer, die Zahl der Tiere und Geräte war selbst für eine europäische Weizenwirtschaft sehr hoch, sie war kapitalintensiv, Lohnarbeit spielte eine wichtige Rolle, und die Lohnarbeiter waren mehrheitlich Proletarier im Marxschen Sinn des Worts. Bemühungen zur Einsparung von Arbeit sind in einem solchen Kontext sinnvoll und zu erwarten, was selbstredend nicht bedeutet, dass es dabei zwangsläufig zu Durchbrüchen kommen muss. All das machte es nicht zwangsläufig oder gar vorhersehbar, dass Großbritannien »Malthus entkommen« würde, aber gewiss wahrscheinlicher als im Falle Chinas. Dies gilt umso mehr, als alle genannten Eigenschaften, wie wir noch sehen werden, die britische und die chinesische Wirtschaft insgesamt stark prägten. Die Geografie und die Eigenschaften der Grundnahrungsmittel spielten für die sehr unterschiedlichen Entwicklungspfade der beiden Landwirtschaften sicherlich eine bedeutende Rolle, aber wiederum müssen wir uns vor geografischem Determinismus hüten. Im China der Qing gab es nämlich auch in Regionen, in denen Reis nicht das Hauptnahrungsmittel war, eine auf Haushalten beruhende Produktionsweise mit recht ähnlichen Charakteristika, und in Weizenanbauregionen, in denen große Höfe und Lohnarbeit effizienter gewesen wären, gab es viele Kleinbauern. Kulturelle Differenzen hinsichtlich Funktion und Status von Familie und Haushalt sowie unterschiedliche politische Zielsetzungen der regierenden Eliten spielten ebenfalls eine Rolle. Im China der Qing sorgte der Staat dafür, dass Bauern nicht das von ihnen bearbeitete Land verloren, oder ermöglichte ihnen zumindest durch geringe Besteuerung und mitunter durch Steuerfreijahre, kostenloses Land sowie günstige oder kostenlose Nahrung das Überleben.13 Aber die Natur war selbstverständlich auch ein wichtiger Faktor.

13 Zur paternalistischen Agrarpolitik der Qing-Regierung, vgl. Anm. 1, S. 389.

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Stadt versus Land

4. Stadt versus Land: die britische Urbanisierung und das ländliche China

Eine spezifische Variante der These, Geografie sei wesentlich für die Erklärung unterschiedlichen Wachstums und genauer der Great Divergence, vertreten Roy Bin Wong und Jean-Laurent Rosenthal. Ihrer Ansicht nach war die Industrialisierung in Westeuropa, also die Durchsetzung maschineller Massenproduktion in Fabriken,1 eine Folge der hohen Arbeitskosten im produzierenden Gewerbe, die sich wiederum aus dessen Ansiedlung in den Städten erklären, wo ein höheres Lohnniveau als auf dem Land herrschte. Dass sich britische und westeuropäische Unternehmer dennoch für städtische Standorte entschieden, führen sie auf die ständigen Kriege zurück, die das europäische Land heimsuchten und es vernünftig erscheinen ließen, sein Kapital hinter schützenden Stadtmauern anzusiedeln. Diese ständigen Kriege wiederum seien eine Folge der Zersplitterung Europas in eine Vielzahl erbittert rivalisierender Staaten gewesen; ein System, das somit – unbeabsichtigterweise – durch seine Auswirkungen auf die relativen Faktorpreise die Basis für die erfolgreiche Industrialisierung einiger Teile Europas geschaffen habe. So schreibt Wong: »Die Drohung des Kriegs veranlasste europäische Unternehmer dazu, sich zwecks Schutz ihres Kapitals hinter Stadtmauern anzusiedeln, obwohl Nahrungsmittelpreise und Arbeitskosten dort höher waren und das Leben gefährlicher […] Die relativen Faktorpreise machten technologischen Wandel in Europa billiger und lohnender als in China.«2 Diese Theorie ist so schlicht wie unplausibel. Zunächst einmal fand ein erheblicher Teil der frühneuzeitlichen Güterproduktion, insbesondere die Herstellung von Massenprodukten, die den Kern der Industrialisierung bilden sollte, nicht in den Städten statt; die Protoindustrie war ein vorwiegend ländliches Phänomen. Wenn in den Städten produziert wurde, dann oft deshalb, weil es dem Willen der Gilden entsprach. Dort erfolgte die stärker spezialisierte und kostspieligere Endverarbeitung in der Regel durch Gildenmitglieder, die ihre Gewerbe zu monopolisieren und die ländliche Konkurrenz zu verbieten versuchten. Sicherheit war zwar eben-

1 Auch dies wird umstandslos mit der Great Divergence gleichgesetzt! 2 Wong, »Economic History in the Decade after The Great Divergence«, 19.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

falls ein Gesichtspunkt, aber gewiss nicht immer der ausschlaggebende. Die Gilden konnten sich jedoch kaum durchsetzen: Im Europa der frühen Neuzeit war das Land in der Regel »industrialisierter« als die Städte. 1750 lebten 32 Prozent der britischen Bevölkerung auf dem Land, ohne im Agrarsektor tätig zu sein; die meisten von ihnen arbeiteten im herstellenden Gewerbe. Die ländliche Industrie war in ganz Europa ein verbreitetes Phänomen.3 Höchst problematisch ist die These von Rosenthal und Wong ferner deshalb, weil Großbritannien, das erste und für lange Zeit einzige bedeutende Industrieland Westeuropas, nach dem Jahr 1066 keine Invasion mehr erlebte und seitdem nie mehr ein wirklicher Krieg auf seinem Boden stattfand. Das heißt natürlich nicht, dass es dort keine Gewalt gegeben hätte. Im 17. Jahrhundert ereigneten sich zwei Bürgerkriege, der letzte, relativ milde, von 1688 bis 1689. Doch im Vergleich betrachtet war Großbritannien ein überaus friedlicher Teil Europas. Als Erklärung für die Entstehung der Industrie in der ersten Industrienation klingt die These eines Zusammenhangs zwischen häufigen Kriegen, städtischem Gewerbe und hohen Arbeitskosten daher von vornherein nicht sehr überzeugend. Was während der ersten Jahrzehnte der britischen Industrialisierung passierte, bestätigt sie ebenfalls nicht. Die ersten britischen Fabriken entstanden auf dem Land. Wo sie gebaut wurden, hing gewöhnlich nicht vom Lohnniveau per se ab, sondern (auch) von der Verfügbarkeit von Rohstoffen und/oder Energie sowie dem Zugang zu Absatzmärkten im Inland und/oder – besonders für Baumwollprodukte – im Ausland. Für die Baumwollindustrie war Wasserkraft bis zu den 1830er Jahren wichtiger als Dampfkraft; sie siedelte sich folglich in der Regel auf dem Land an. Die Eisenindustrie entstand in der Nähe von Kohlerevieren. Zudem vollzog sich die britische Industrialisierung anfangs überwiegend nicht in der recht wohlhabenden landwirtschaftlichen Hochlohnregion im Süden Englands oder in London, wo die Löhne am höchsten waren, sondern im Norden Englands, der ein niedrigeres Lohnniveau aufwies.4 Doch selbst angenommen, die Industrialisierung sei eine Folge der städtischen Standorte der Produktion und der daraus resultierenden hohen Arbeitskosten gewesen – wie ist dann der Fall der Niederlande zu deuten, die im 17. Jahrhundert eine hochentwickelte städtische Industrie mit hohem Lohnniveau hatten, so zum Beispiel in Leiden, einer wichtigen, vom Tuch-

3 Allen, Global Economic History, 21–23. 4 Zu den Standorten von Industrie: Jones, Locating the Industrial Revolution und Cooper, How to Read Industrial Britain. Zur spezifischen Wirtschaftsstruktur und Entwicklung Londons: Schwarz, London in the Age of Industrialisation.

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Stadt versus Land

gewerbe geprägten Industriestadt? Die Herausforderung der hohen Löhne in den Städten führte dort nicht zu einer Innovation der Produktionsweise, sondern zur Verlagerung großer Teile der Produktion aufs Land und einem Niedergang des städtischen Gewerbes.5 Eine weitere hochentwickelte Region mit einer städtischen Ökonomie, in der hohe Löhne gezahlt wurden, die technologische Innovation jedoch ins Stocken geriet und kein Take-off stattfand, ist Norditalien. Im Spätmittelalter war es eine weitaus wichtigere Gewerberegion in Europa als Großbritannien; Norditalien verzeichnete das höchste Pro-Kopf-Einkommen und den höchsten Verstädterungsgrad der Welt. Berühmt war die Region vor allem für ihre hochentwickelte, in Städten mit relativ hohem Lohnniveau angesiedelte Wollproduktion. Folgt man Wong und Rosenthal – und Robert Allen –, hätte dies ein ideales Umfeld für technologische Innovation sein müssen.6 Statt Dynamik erlebte Norditalien in der frühen Neuzeit jedoch einen relativen Niedergang, was bemerkenswerterweise häufig mit den hohen Löhnen erklärt worden ist, die die Gilden in den Städten durchsetzen konnten. Die Hochlohnstädte unterlagen hier in der Konkurrenz mit den ländlichen Niedriglohngebieten; hohe Löhne wirkten eindeutig nicht als Anreiz zu Innovationen. Die Seidenindustrie, ein neues und sehr wichtiges Gewerbe, siedelte sich zwar auch in einer Stadt wie Bologna an – Ende des 17. Jahrhunderts die am stärksten industrialisierte Stadt Europas –, entwickelte sich primär aber auf dem Land. Generell lassen sich Produktionsverlagerungen in Niedriglohngebiete feststellen.7 Städte als Zentren der Innovation zu betrachten, ist natürlich nicht neu oder originell.8 Viele bedeutende Wissenschaftler haben ihnen eine Rolle für die besondere Wirtschaftsentwicklung des Westens beigemessen. Sowohl Smith als auch Marx unterstrichen in dieser Hinsicht die Bedeutung der Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land. Marx behauptete sogar: »Die Grundlage aller entwickelten und durch Warenaustausch vermittelten Teilung der Arbeit ist die Scheidung von Stadt und Land. Man kann sagen, dass die ganze ökonomische Geschichte der Gesellschaft sich in der Bewegung dieses Gegensatzes resümiert.«9 Weber betrachtete die europäische

5 Zur faszinierenden Frage, warum die Niederlande nicht zur ersten Industrienation wurden, vgl. Mokyr, »The Industrial Revolution and the Netherlands: Why did it not happen?«. 6 Vgl. Teil 2, Kap. 2–8. 7 Wie Italien seine führende Position in der Baumwollproduktion (und im Schiffbau und Handel) einbüßte, analysieren Zamagni, Storia Economica d’Italia, Kap. 1, und Malanima, Fine del Primato, Kap. 2 und 183–190. 8 Vgl. Anm. 26, S. 98. 9 Marx, MEW 23, 373. Zu Adam Smith, vgl. etwa Mumy, »Town and Country in Adam Smith’s Wealth of Nations«.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Stadt und ihr Bürgertum als ein Spezifikum von eminenter Bedeutung für die außergewöhnliche Entwicklung und den Kapitalismus in Europa.10 Braudel beschrieb Städte, genauer: westliche Städte, denen er einzigartige Charakteristika zuwies. Sie seien Zeichen und Zentren von Modernität, Dynamik und Kapitalismus. Städte galten ihm als »Transformatoren«, als Vorposten der Moderne. Im Abendland seien sie »im Grunde ein und dasselbe« wie der Kapitalismus.11 Seine Darstellungen erinnern an Saskia Sassens global cities bzw. die world cities, wie andere Wissenschaftler sie nennen – Agglomerationen, die eine internationale Zentrumsfunktion für Banken, Börsen, Finanzwesen, Versicherungen und Immobilienwirtschaft einnehmen, als Sitz der größten Unternehmen dienen und einen dichten Dienstleistungssektor aufweisen.12 Paul Bairoch meint, das – besonders in Großbritannien ausgeprägte – Wachstum der städtischen Bevölkerung im Europa des 18. Jahrhunderts sei wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung gewesen, denn »technologische Innovation ist eindeutig städtischen Ursprungs«.13 Der im Vergleich zu Großbritannien zweifellos niedrige Verstädterungsgrad Qing-Chinas muss Konsequenzen für die Dynamik seiner Wirtschaft gehabt haben. Pomeranz betont, dass die niedrige Urbanisierungsrate des damaligen China kein Zeichen wirtschaftlichen Versagens sei – was meines Wissens auch niemand behauptet hat –, räumt aber ein, sie könne seine Erfolgsaussichten in mancher Hinsicht geschmälert haben.14 Auch in dieser Beziehung befand sich Großbritannien mit London als blühender Wirtschaftsmetropole und Hauptstadt in einer deutlich günstigeren Position als China, dessen wirtschaftliches und politisches Zentrum nicht identisch und dessen Städte eher Verwaltungs- als Wirtschaftszentren waren. Derartige Unterschiede zwischen den Weltregionen sollten Wirtschaftshistoriker, die sich mit Wachstum befassen, meines Erachtens deutlich stärker berücksichtigen. Entwicklung, Wachstum und vor allem Innovation haben in der Stadt schon immer eine größere Rolle als auf dem Land gespielt, was selbstverständlich nicht ausschließt, dass Städte oft zugleich Orte waren, deren Interessen Innovationen im Weg standen.

10 Vgl. etwa den Text über die europäische Stadt in Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Teil 2, Kap. 9, 7. Dieser Text existiert in zahlreichen Versionen, Ausgaben und Übersetzungen. Zu seiner Rezeption: Bruhns/Nippel (Hg.), Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich; Feldbauer/Mitterauer/Schwentker (Hg.), Die vormoderne Stadt. 11 Braudel, Sozialgeschichte, Bd. 1, 523, 563. Zur Neuartigkeit der westlichen Stadt: 558. 12 Nähere Erläuterungen hierzu: Braun/Schulz, Wirtschaftsgeographie, 198–199. 13 Bairoch, »The City and Technological Innovation«, 165. 14 Pomeranz in »Ten Years after«, 23.

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Stadt versus Land

Tab. 26: Verstädterungsraten in Europa und Teilen Asiens, 1500–1890: Bevölkerung von Städten mit 10.000 oder mehr Einwohnern als prozentualer Anteil der gesamten Bevölkerung Land

1500

1600

1700

1800

1890

Belgien

21,1

8,8

23,9

18,9

34,5

Frankreich

4,2

5,9

9,2

8,8

25,9

Deutschland

3,2

4,1

4,8

5,5

28,2

Italien

12,4

15,1

13,2

14,6

21,2

Niederlande

15,8

24,3

33,6

28,8

33,4

Portugal

3,0

14,1

11,5

8,7

12,7

Skandinavien

0,9

1,4

4,0

4,6

13,2

Spanien

6,1

11,4

9,0

11,1

26,8

Schweiz

1,5

2,5

3,3

3,7

16,0

England u. Wales

3,1

5,8

13,3

20,3

61,9

Schottland

1,6

3,0

5,3

17,3

50,3

Irland

0,0

0,0

3,4

7,0

17,6

Westeuropa

5,8

7,9

9,5

10,2

29,6

China

3,8

4,0

n.v.

3,8

4,4

Japan

2,9

4,4

n.v.

12,3

16,0

Quelle: Maddison, Contours of the World Economy, 43.

Bilden Städte Zentren von Handel, Austausch und Einwanderung, dann weisen sie einen hohen Grad an Offenheit auf. Amy Chua und William McNeill sehen, wie bereits erwähnt, einen Zusammenhang zwischen Offenheit, Entwicklung und Macht. Auch wenn Chua ihre These etwas überspannt und empirisch besser belegen müsste, klingt ihr Kerngedanke, dass ein Land ungeachtet möglicher Vorteile stets auch einen Preis für die Abschottung gegen das Fremde und den Fremden zahlt, hochplausibel. Auch in dieser Hinsicht besaß das China der Qing-Ära prinzipiell weniger Potenzial für rasche wirtschaftliche Entwicklung als Großbritannien. Seine Wirtschaft und Gesellschaft und vor allem seine Regierung waren in jeder nur erdenklichen Hinsicht weniger offen. Damit soll nicht behauptet werden, China wäre ein geschlossenes Land gewesen – das war es gewiss nicht. Doch wie immer geht es um Größenordnungen, und dass das China der Qing weniger offen für Menschen, Güter und Ideen war als Großbritannien und auch

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Westeuropa zu dieser Zeit, ist nicht zu bestreiten. Wie Joanna Waley-Cohen zu behaupten, die Chinesen hätten »vom späten 16. bis zum späten 18. Jahrhundert gewaltiges Interesse an Europa und allem, was es anzubieten hatte«, an den Tag gelegt, ist absurd.15 Europäer waren ungleich besser über China informiert als Chinesen über Europa.

15 Waley-Cohen, Sextants of Beijing, 128. Zur Kritik daran: Landes, »Why Europe and the West?«.

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Arbeitskräfte: Knappheit und Überfluss

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5. Arbeitskräfte: Knappheit und Überfluss

Nachdem bereits mehrfach von Arbeitskraft die Rede war, widmen wir uns nun der Debatte darüber, welche Rolle ihre Quantität, Qualität und natürlich ihr Preis für die Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums spielen. Ökonomen haben darüber allgemeine Aussagen getroffen, die für Debatten über die Great Divergence von Belang sein könnten. Beginnen wir mit einigen Bemerkungen zu den unterstellten Auswirkungen des Größenverhältnisses von Boden und Arbeitskräften auf Institutionen, in diesem Fall Eigentumsrechte und Produktionsverhältnisse, und auf das Einkommensoder Lohnniveau, was wiederum Auswirkungen auf das Wachstum hat. Die Ökonomen bzw. Wirtschaftshistoriker Douglass North und Robert Thomas vertreten in ihrem Buch über den Aufstieg des Westens die These, sofern der richtige politische Kontext gegeben sei, wirke sich ein Arbeitskräftemangel positiv auf die Eigentumsrechte von Grundbesitzern und auf die Löhne und Arbeitsbedingungen der abhängig Beschäftigten aus. Dass gut geschützte Eigentumsrechte und ein freier Arbeitsmarkt wirtschaftliche Entwicklung und Wachstum fördern, setzen sie dabei unter Verweise auf ihr bevorzugtes Beispiel – Großbritannien nach der Glorreichen Revolution – voraus. Zwar untersuchen sie nur die Lage in Westeuropa ab dem Jahr 900, und vergleichen dabei Großbritannien und die Niederlande mit Frankreich und Spanien, messen ihren Befunden aber Allgemeingültigkeit bei.1 In allen vier Ländern habe ein vor allem durch die Pest verursachter Arbeitskräftemangel letztlich die Position von Bauern, als »Eigentümer« von Land wie auch als Arbeiter gegenüber den Grundherren, gestärkt; ähnlich positiv seien die Folgen für Handwerker gewesen. Doch wie North und Thomas selbst zeigen, entschied letztlich der politische Kontext darüber, wie sich ein Mangel (oder Überfluss) an Arbeitskräften auswirkte. Diesbezügliche Unterschiede führten zu unterschiedlichen Entwicklungen Großbritanniens und der Niederlande einerseits – deren »gute« Institutionen Eigentumsrechte optimal schützten –, sowie Frankreichs und Spaniens andererseits – wo dieser Schutz deutlich schwächer war. Noch klarer erscheint die Bedeutung von Politik, genauer: von Machtverhältnissen, in Ost- und Mitteleuropa, wo sich trotz eines aufkommenden Arbeitskräftemangels die Position namentlich von 1 North/Thomas, »Economic Theory of Growth«.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Bauern nicht etwa verbesserte, sondern verschlechterte – Historiker sprechen sogar von der Entstehung einer zweiten Leibeigenschaft.2 Ein alles beherrschender simpler Marktmechanismus von Angebot und Nachfrage war zu dieser Zeit gewiss nicht am Werk; nackte Macht und Gewalt spielten eine sehr wichtige Rolle. Abgesehen von den höchst seltenen Fällen wirklicher Marktwirtschaft wurden die Auswirkungen einer – von der Faktorausstattung bedingten – relativen Faktorknappheit auf die Eigentumsrechte und die Lage der Arbeitskräfte derart stark von wirtschaftsexogenen Variablen bestimmt, dass man sagen kann: Die Faktorausstattung erklärt in Wirklichkeit fast gar nichts.3 Eindrücklich illustriert wird diese gewichtige Rolle von Institutionen durch die Tatsache, dass einige Forscher in der Frage, wie sich die Verfügbarkeit von Boden und Arbeit auf den sozialen Status der Arbeitskräfte auswirkt, von nahezu gegenteiligen Annahmen ausgehen wie North und Thomas. Nehmen wir nur die von dem Ökonomen Evsey Domar vertretene Theorie.4 Ihm zufolge ist zu erwarten, dass sich die Mächtigen und Reichen denjenigen Produktionsfaktor anzueignen versuchen, der knapp ist – entweder Boden oder Arbeitskraft. Haben sie bei reichlich verfügbarem Boden keinen Zugriff auf Arbeitskraft, besteht keine Aussicht auf Renten und werden sie in der Regel nicht investieren. Das ließe eine positive statistische Korrelation von reichlich verfügbarem Boden mit Leibeigenschaft oder Sklaverei erwarten. Theoretisch fasst Domar diese Beziehung so: »Von den drei Elementen einer landwirtschaftlichen Struktur – freier Boden, freie Bauern und nicht-arbeitende Grundbesitzer – können beliebige zwei, aber niemals alle drei gleichzeitig existieren.« Aber auch Domar muss einräumen, dass es von »politischen Faktoren« abhängt, welche Kombination in der Wirklichkeit auftritt.5 Dass zum Beispiel die Bauern in Großbritannien nach der Pest schließlich befreit, in Russland dagegen überwiegend zu Leibeigenen wurden, ist das Resultat eines politischen Prozesses und lässt sich auch laut Domar nicht einfach durch Größenverhältnisse von Boden und Arbeitskraft erklären. In weiten Teilen Afrikas war die Bevölkerungsdichte während der gesamten frühen Neuzeit niedrig und Boden so überreichlich vorhanden, dass er beinahe wertlos war. Erwartungsgemäß war Sklaverei dort tatsächlich sehr verbreitet, aber die Löhne für freie Arbeit waren recht niedrig, was

2 Vgl. Aston/Philpin (Hg.), Brenner Debate, und Chirot, Origins of Backwardness in Eastern Europe; Acemoglu/Robinson, Warum Nationen scheitern, Kap. 4. 3 Eine methodologische Kritik am Ansatz von North und Thomas leistet Field, »The Problem with Neoclassical Institutional Economics«. 4 Domar, »Causes of Slavery and Serfdom«. Allgemeiner hierzu: Nieboer, Slavery as an Industrial System; spezifischere Bemerkungen bietet Evans, »Notes on Coerced Labor«. 5 Domar, »Causes of Slavery and Serfdom«, 21.

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Arbeitskräfte: Knappheit und Überfluss

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eher überrascht.6 Erst im späteren 20. Jahrhundert entstand in einigen Regionen Afrikas ein Überschuss an Arbeitskräften.7 Die landwirtschaftlichen Produktionsmethoden waren deshalb gewöhnlich landextensiv und arbeitssparend. Folgt man Jeffrey Herbsts Buch über Staaten und Macht in Afrika, dann kann diese »geografische« Tatsache zumindest weitgehend erklären, warum so viele afrikanische Staaten vergleichsweise schwach sind: Bei Reichtum an Boden müssten Staaten nicht die privaten Eigentumsrechte schützen, könnten ihrerseits aber keine Steuern erheben.8 Auch dies scheint mir jedoch von den Umständen und nicht einfach der Geografie abzuhängen. Im Russland der frühen Neuzeit, ja im Grunde bis zur Abschaffung der Leibeigenschaft, war Arbeitskraft knapp und Boden reichlich vorhanden – was den Arbeitskräften aber aufgrund ihrer politischen Schwäche nicht half. Zudem existierte dort ein zentralisierter despotischer Staat, der sehr wohl ein ansehnliches Steuervolumen eintrieb und die Eigentumsrechte der Grundbesitzer gegenüber ihren leibeigenen Bauern schützte, um sicherzustellen, dass er über genügend Soldaten verfügte.9 Im Wissen, dass ihr Land auf eine große Armee angewiesen war, erhoben die Grundherren keinen Einspruch gegen dieses Arrangement. In Darstellungen Spanisch-Amerikas standen lange Zeit unfreie Arbeitsbeziehungen im Vordergrund, doch inzwischen sind immer mehr Historiker der Überzeugung, dass freie Arbeitskräfte und Lohnarbeit in Wirklichkeit durchaus normal gewesen seien. So schreiben Rafaél Dobado-González und Héctor García-Montero: »encomienda, repartimiento, mita und Sklaverei waren weder allgegenwärtig noch permanent«, und die extraktiven Institutionen seien »tendenziell auf dem Rückzug gewesen oder verschwanden sogar ganz«.10 Diese Tatsache erklären sie dann mit der allgemeinen Knappheit an Arbeitskräften! Wie bereits erörtert, bestand auch in den Vereinigten Staaten und Kanada insgesamt ein Arbeitskräftemangel, ohne dass dies – natürlich mit der sehr wichtigen Ausnahme der Südstaaten – zu verbreiteten Formen unfreier Arbeit geführt hätte. Auch die Erklärung dafür, warum Großbritannien zu einem Land mit außergewöhnlich vielen landlosen Lohnarbeitern wurde, ist eine weitgehend politische und keine rein wirtschaftliche. Zu akzeptieren, dass Bauern ihr Land verlieren, oder dies sogar mit entsprechenden Maßnahmen zu fördern, war eine politische Entscheidung. In China gab es bis ans Ende der hier erörterten Periode freien Boden, freie Bauern und eine nicht-arbeitende Klasse 6 7 8 9 10

Allen, Global Economic History, 96–97. Austin, »Resources, Techniques and Strategies South of the Sahara«. Herbst, States and Power in Africa. Vgl. etwa Hellie, Enserfment and Military Change in Muscovy. Dobado-González/García-Montero, »Neither so Low nor so Short«, 4.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

von Grundbesitzern. Auch hier setzte die Politik die ökonomische Logik außer Kraft. Chinas Herrscher wollten weder, dass Grundbesitzer zu mächtigen Grundherren mit einem Heer von unfreien Arbeitskräften würden, noch, dass die freie Bauernschaft verschwinde, denn ihnen war nur zu bewusst, dass sie als winzige ausländische Elite große Bauernrevolten am allerwenigsten brauchten. Auch die Tatsache, dass die meisten Grundbesitzer, in China wie in vielen anderen Teilen der Welt, oft gar kein Interesse daran hatten, Bauern zu Sklaven oder Leibeigenen zu machen, könnte eine Rolle gespielt haben. Viele Bauern konnten nicht profitabel ausgebeutet werden, da das Grenzprodukt ihrer Arbeit auf das Subsistenzniveau sank. Es könnte durchaus der Fall sein, dass viele Gesellschaften deshalb keine unfreie Arbeit kannten, weil die Arbeitskraft keine Produkte herstellen konnte, deren Wertzuwachs und Absatzmöglichkeiten ihre Versklavung gelohnt hätten. Plantagen, wie Europäer sie in ihrer jeweiligen Peripherie aufbauten, waren insofern recht außergewöhnlich. Wie immer in der Geschichte besteht das Problem darin, dass sehr viel von Umständen, Akteuren und Pfadabhängigkeit bestimmt wird. Aber beenden wir unsere tour d’horizon allgemeiner Aussagen über die möglichen Effekte bestimmter Größenverhältnisse von Boden und Arbeitskraft und kommen zu Thesen, die mehr direkte Relevanz für die Erklärung der Great Divergence besitzen könnten. Julian Simon befasst sich explizit mit der Great Divergence, oder, in seiner Terminologie, dem »großen Durchbruch« bzw. »plötzlichen modernen Fortschritt«, wonach das Bevölkerungswachstum der Auslöser steigender Lebensstandards ab dem späten 18. Jahrhundert gewesen sei. Graduelle Verbesserungen der Technik erlaubten demnach eine Zunahme der Bevölkerung, was technischen Verbesserungen zugutekam, die wiederum das Bevölkerungswachstum förderten. Als die europäische Bevölkerung eine bestimmte Größe erreichte, sei so ein Kreislauf von Rückkopplungen in Gang gesetzt worden: Die unmittelbare Ursache des größeren Reichtums ist das heutige Niveau der Technologie […]. Aber was war die Ursache dafür, dass die Technologie […] zu dem wurde, was sie heute ist? […] Die wesentliche Triebkraft war die Bevölkerungsgröße (und ihr Zusammenhang mit der Technologie). Wie lange es bis zum modernen Durchbruch dauerte, hing von jedem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit ausgehend von der Zahl der über Intelligenz und Bildung verfügenden Menschen sowie vom Umfang der gegebenen Technologie ab.11

Institutionen und ihr Wandel sind laut Simon zwar wichtig, auf sehr lange Sicht betrachtet jedoch selbst ein Ergebnis des Bevölkerungswachstums, »und insofern eher endogene vermittelnde als eigenständige kausale Va-

11 Simon, Great Breakthrough, 11, 179.

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Arbeitskräfte: Knappheit und Überfluss

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riablen«.12 Diese Deutung bezeichnet er ausdrücklich als monokausal: »Der springende Punkt dieses Essays ist, dass sich die Bevölkerungsgröße als sowohl notwendige wie hinreichende Voraussetzung der Geschichte erwiesen hat, während keine andere der notwendigen Variablen auch zugleich hinreichend war, um den späteren Pfad des Fortschritts zu bestimmen.«13 Anzunehmen, dass Bevölkerungswachstum zu sinkenden Erträgen führt, sei ein gravierender Fehler. Im Gegenteil: Fortschritt hänge davon ab, dass Ideen geteilt werden. Mit zunehmender Bevölkerungsdichte komme es zu einer Ausdifferenzierung der Tätigkeiten und entstünden neue Ideen, die von denjenigen, die über freie Zeit verfügen, genutzt werden könnten. Übereinstimmend damit argumentiert Matt Ridley, eine hohe Bevölkerungsdichte sei notwendig für Handel und Arbeitsteilung und bahne so der wirtschaftlichen Prosperität den Weg. Arbeitsteilung führe zu Erfindungen, die eine weitere Spezialisierung bewirkten. Diese wiederum sei nur bei ausreichender Marktgröße möglich, sodass eine hohe Bevölkerungsdichte im Ergebnis den wirtschaftlichen Fortschritt fördere. In der Einleitung zu Wenn Ideen Sex haben variiert Ridley im Grunde das Motiv der »steigenden Erträge des Wissens«, ein Thema, das unter Anhängern der endogenen Wachstumstheorie sehr beliebt ist.14 Oded Galor folgt demselben Denkmuster: Nach meinen einheitlichen Wachstumstheorien ist der Übergang von Stagnation zu Wachstum ein zwangsläufiges [sic!, PV] Resultat des Entwicklungsprozesses. Während der malthusianischen Epoche ermöglichte technischer Fortschritt ein Wachstum der Bevölkerung, das sich wiederum auf die Rate des technischen Fortschritts auswirkte. Die Bevölkerungsgröße bestimmte das Angebot an Ideen und die Nachfrage nach ihnen. Sie beeinflusste auch die Verbreitung von Ideen, den Grad der Spezialisierung im Produktionsprozess, die ein »Lernen durch Tun« stimulierte, sowie den Umfang des internationalen Handels, der weiteren technischen Fortschritt nährte. Gleichzeitig ermöglichten die Rate des technischen Fortschritts und ihre Auswirkung auf die Ressourcenschranke Bevölkerungswachstum.15

Mancur Olson bietet zwar keine ausführliche Erklärung für seinen Befund, behauptet aber, bei einer Analyse aller Länder, für die die benötigten Daten zum Zeitpunkt seiner Untersuchung von 1996 vorlagen, einen positiven und statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Bevölkerungsdichte und realem Prokopfeinkommen festgestellt zu haben: »Je größer die Zahl der Menschen pro Quadratkilometer, umso höher das Prokopfeinkommen.«16

12 Ebd., 139. 13 Ebd., 179–180. 14 Ridley, Wenn Ideen Sex haben, Einleitung. 15 Vgl. das Interview mit Galor, »Towards a Unified Theory of Economic Growth«, 124–125. 16 Olson, »Big Bills Left on the Sidewalk«, 48.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Unter den Historikern ist John Komlos einer der wenigen, die bei der Analyse der industriellen Revolution ausdrücklich boserupianische Effekte betonen: »Das Bevölkerungswachstum war […] die unmittelbare Ursache der industriellen Revolution […] Die Errungenschaften der vorherigen Jahrtausende bildeten die Voraussetzung dafür, die durch das Wachstum der Bevölkerung ausgelöste ökonomische Dynamik aufrechtzuerhalten«.17 Gregory Clark teilt solche Gedanken und gibt ihn eine recht eigentümliche Wendung: Was während der britischen industriellen Revolution tatsächlich gewachsen sei und die Grundlage der britischen Vorherrschaft geschaffen habe, sei weniger die Wirtschaft – die sehr niedrige Zuwachsraten verzeichnete – als vielmehr die Bevölkerung gewesen.18 Die wirkliche Triebkraft der Industrialisierung war demnach eine wachsende Bevölkerung, die mehr Nahrungsmittel brauchte – denn diese mussten importiert und durch das herstellende Gewerbe finanziert werden: »Die Nahrungsmittel- und Rohstoffimporte der Industriellen Revolution mussten durch den Export von Industriegütern finanziert werden. Es war dies, und weniger der technische Fortschritt, was Großbritannien zur ›Werkstatt der Welt‹ machte [sic! PV].«19 In meiner Lesart kann dies nur heißen, dass die Industrialisierung in Großbritannien vom Bevölkerungswachstum verursacht wurde, was mir ein weit hergeholter und nicht überzeugender Gedanke zu sein scheint, der sich zudem schwer mit anderen Behauptungen Clarks vereinbaren lässt. Der von ihm unterstellte Gegensatz zwischen der Finanzierung von Importen durch Industriegüterexporte einerseits und technischen Fortschritten andererseits ist merkwürdig: Mehr exportieren konnte Großbritannien dank dieser technischen Fortschritte. Die bloße Tatsache von Nahrungsmittelimporten dürfte zudem schwerlich für irgendeinen konkreten Unternehmer ein Anreiz für vermehrte Güterexporte gewesen sein. Wie angedeutet, widerspricht die zitierte Behauptung zudem einer anderen aus demselben Buch, wonach die Erweiterung nutzbaren Wissens den Kern des britischen Take-offs ausgemacht habe. Mit Clarks Deutung des Bevölkerungswachstums ließe sich dies nur dann vereinbaren, wenn man annimmt, eine größere Zahl von Menschen führe ipso facto zu mehr Innovation, insbesondere in einem Land wie Großbritannien, das laut Clark von einer ganz besonderen Art von Menschen bewohnt wurde.

17 Komlos, »Thinking about the Industrial Revolution«, 205. 18 Vgl. Clark, »What Made Britannia Great?«, und ders., Farewell to Alms: »Das außergewöhnliche Bevölkerungswachstum während der Industriellen Revolution in England, und die gleichzeitige Ausweitung der Anbauflächen in den Vereinigten Staaten, waren für den Wandel von Ökonomie und Gesellschaft wichtiger als bestimmte technologische Fortschritte der damaligen Jahre.« (249) 19 Clark, Farewell to Alms, 248

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Arbeitskräfte: Knappheit und Überfluss

211

Doch der von Boserup, Simon, Clark und anderen Forschern angenommene positive Zusammenhang zwischen Bevölkerungsdichte, Innovation und Wachstum ist in Wirklichkeit alles andere als offensichtlich und gewiss nicht allgemeingültig.20 Für die Geschichte Westeuropas der letzten eintausend Jahre etwa lässt er sich nur schwer oder streng genommen gar nicht nachweisen. Landes spricht mit Blick auf das mittelalterliche Europa von »Gesellschaften, die zu den erfindungsreichsten der ganzen menschlichen Geschichte zählen«.21 Erstaunlicherweise fielen zahlreiche Erfindungen und Innovationen in das Spätmittelalter, als die Pest einen drastischen Rückgang der Bevölkerung bewirkte. Zumindest in Westeuropa fanden während und unmittelbar nach der Phase dieser Pandemie in Reaktion auf Arbeitskräftemangel und hohe Arbeitskosten einige technische Innovationen in der Produktion statt.22 Eric Jones bezeichnet das 15. Jahrhundert als »eine Zeit eindeutigen technischen Fortschritts«.23 Seitdem sei der technische Fortschritt nicht mehr langsam vorangegangen, sondern habe sich permanent und ungebremst entfaltet, was Jones »einzigartig« nennt.24 Das Italien der Renaissance war ebenso wie Holland in seinem Goldenen Zeitalter und England im 18. Jahrhundert eine überaus erfindungsreiche Gesellschaft. Auf ihrem Zenit zählten alle drei zu den am dichtesten besiedelten Regionen Europas. Ein allgemeines Muster ist nicht erkennbar. Für die Situation im vorindustriellen England kommen Nicolas Crafts und Terence Mills zu dem Schluss: »Es gibt keine Belege für eine positive Rückwirkung des Bevölkerungswachstums auf den technischen Fortschritt, wie die ›einheitliche Wachstumstheorie‹ sie postuliert.«25 Und wenn es dort eine klare Korrelation gäbe – wie sollte man dann den Fall Qing-China deuten, dessen Bevölkerung von 1680 bis 1850 von 150 Millionen auf über 400 Millionen wuchs? Hätte es dann nicht die technologisch innovativste Gesellschaft der Welt und der Schauplatz des Großen Durchbruchs sein müssen? Die in den vorherigen Absätzen genannten Fakten zeigen, dass auch die weniger weithergeholte These, wonach eine positive Korrelation zwischen Bevölkerungsgröße und -wachstum einerseits und dem Niveau und der Entwicklung der Technik andererseits wenigstens in den historischen Perioden bestand, bevor Wissenschaft und Technik auf großer 20 Vgl. zu diesem positiven Zusammenhang auch Diamond, Arm und Reich, 504–505, und Persson, »Malthus Delusion«, 171–172. 21 Landes, Wohlstand und Armut, 61. 22 Allgemein hierzu: Pamuk, »The Black Death and the Origins of the Great Divergence«; Herlihy, Der Schwarze Tod. Spezifische Beispiele bietet Mokyr, Lever of Riches, Kap. 3. 23 Jones, Wunder Europa, 67. 24 Ebd., 72. 25 Vgl. das Abstract von Crafts/Mills, »From Malthus to Solow«.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Stufenleiter institutionalisiert wurden, unhaltbar ist. Justin Yifu Lin hat diese These für das China der Sung-Ära verteidigt, als das Land dicht bevölkert und sehr erfindungsreich und innovativ war. Mangels einer epistemischen Fundierung in »Theorie« oder »Wissenschaft«, die eine experimentell gestützte Technologie ermöglicht hätte, versickerte dieses erfahrungsbasierte Wissen jedoch.26 Angesichts des neueren Zuspruchs von Ökonomen zu Oded Galors einheitlicher Wachstumstheorie, die Bevölkerungsdichte einerseits, (modernes) Wachstum und Innovation (bzw. ihr Ausbleiben) andererseits ausdrücklich in Beziehung zueinander setzt, sind einige zusätzliche kurze Bemerkungen angebracht. Tatsächlich könnte jeder Historiker auf viele Beispiele verweisen, die Galors bombastischen Behauptungen widersprechen. Beschränken wir uns auf die britische industrielle Revolution, unser zentrales Explanandum.27 Kann die einheitliche Wachstumstheorie dieses allgemein als Take-off zum modernen Wirtschaftswachstum betrachtete fundamentale Phänomen erhellen? Kann sie angeben, warum es in Großbritannien auftrat, und warum im 18. und 19. Jahrhundert? Dazu müsste man Großbritannien mit anderen Ländern und dieses Jahrhundert mit anderen Zeiträumen vergleichen. Galor tut dies an keiner Stelle. Zudem geht er von bestimmten Annahmen aus und trifft einige Aussagen, die für den britischen Fall unzutreffend sind. So nimmt er zum Beispiel an – wobei er bemerkenswerterweise ausschließlich die Geburtenrate heranzieht –, dass alle Gesellschaften bis zum Vorabend der industriellen Revolution malthusianisch (im strengen Sinne des Wortes, wie Demografen es verwenden) gewesen seien. Für Großbritannien trifft dies nicht zu. Eine weitere Annahme lautet, vor der Industrialisierung habe sich der Verbrauch auf dem bloßen Existenzniveau oder knapp darüber bewegt. In Wirklichkeit erzielten selbst einfache britische Arbeiter in der frühen Neuzeit ein deutlich höheres Einkommen. Galors Behauptung – da es auch vor der industriellen Revolution Makro-Erfindungen gegeben habe, könnten die gemeinhin mit ihr assoziierten Innovationen nicht als solche ihre Ursache gewesen sein – übergeht den besonderen Charakter der wichtigsten Erfindungen der damaligen Zeit, insbesondere der Dampfmaschine.28 Galors einheitliche Wachstumstheorie stellt die Industrialisierung in einen Zusammenhang mit einer neuen, durch eine niedrigere Geburtenrate gekennzeichneten demografischen Ordnung. Aufgrund besserer Aussichten, so Galor, begann es sich auszuzahlen, in die 26 Vgl. etwa Liu, »The Needham Puzzle«. Dies ist auch die grundsätzliche Position von Mokyr. Vgl. etwa Gifts of Athena, Kap. 1. Dann bleibt jedoch die Frage, warum das China der Qing weit weniger innovativ war. 27 Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auch auf die einheitliche Wachstumstheorie, wie Galor sie in seinem Buch Unified Growth Theory erklärt. 28 Vgl. Eine ähnliche Behauptung von Robert Lucas, 125–126.

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Arbeitskräfte: Knappheit und Überfluss

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Bildung der Kinder zu investieren und die Qualität über die Quantität des Nachwuchses zu stellen. Doch unter Wirtschaftshistorikern besteht ein breiter Konsens darüber, dass sich das Wachstum für die Masse der britischen Bevölkerung erst ab den 1830er oder sogar 1850er Jahren in steigenden realen Pro-Kopf-Einkommen niederschlug. Erst zu diesem Zeitpunkt hätten Eltern somit gemäß der einheitlichen Wachstumstheorie guten Grund gehabt, weniger Kinder zu bekommen. Die meisten Historiker konstatieren für die frühen Phasen der Industrialisierung zudem eine gewisse Dequalifizierung der Erwerbsbevölkerung.29 Auch wenn sich im Lauf der Zeit tatsächlich ein Zusammenhang zwischen demografischem Wandel, mehr Bildung und Industrialisierung herausbildete – zum Zeitpunkt des britischen Take-off existierte er keinesfalls. Was das offizielle Schulwesen betrifft, investierte Großbritannien erst ab 1870 mehr in Bildung. Zudem sank die Geburtenrate in Frankreich bereits früher als dort. Im China der Qing praktizierten Haushalte, die einen hohen Status genossen und erheblich in Bildung investierten, meist Geburtenkontrolle, ohne dass es jedoch zur Industrialisierung gekommen wäre. Wie bereits mehrfach bemerkt, besteht auch keine klare Korrelation zwischen Bevölkerungsgröße und Erfindungsreichtum. Der Schluss kann meines Erachtens nur lauten: Wenn es zu erklären gilt, warum Großbritannien im 18. Jahrhundert als erstes Land der Welt zum modernen Wirtschaftswachstum überging, hat die einheitliche Wachstumstheorie Historikern nichts anzubieten. Ihre Annahmen sind insgesamt derart unrealistisch und ihre Hauptaussagen so leicht widerlegbar, dass man sich nur darüber wundern kann, wie ernst sie von vielen Wirtschaftswissenschaftlern genommen wird. Es gibt sicherlich Beispiele für mitunter sogar recht direkte Zusammenhänge zwischen Veränderungen der Bevölkerungsgröße und Innovationen, aber sie lassen sich meines Erachtens nicht auf eine allgemeine, alles erklärende Logik reduzieren. Das lässt sich kaum besser als durch die Tatsache verdeutlichen, dass viele Wissenschaftler das exakte Gegenteil der Auffassung von Boserup, Simon und anderen vertreten: Soweit die wirtschaftliche Entwicklung von technischer Innovation abhängt, sei Knappheit vorteilhafter als Überfluss an Arbeitskräften. Ihnen zufolge bremst eine große Bevölkerung meist die Entwicklung und führt zu unterschiedlichsten malthusianischen Schwierigkeiten, während Arbeitskräftemangel – zumindest wenn er sich in hohen Löhnen niederschlägt – Innovationen stimuliere. Die These, im Westen sei Arbeitskraft relativ knapp gewesen und dies habe sich positiv auf seine Entwicklung ausgewirkt, hatte insbesondere unter Forschern, die die Great Divergence mit bestimmten strukturellen Charakteristika der europäischen Gesellschaft zu erklären versuchen, stets Anhänger. Ihnen zu29 Vgl. S. 245.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

folge hatte diese relative Knappheit mehrere positive Effekte für Entwicklung und Wachstum. Es habe dazu beigetragen, dass im Westen relativ starke Eigentumsrechte und eine relativ freie Arbeitsbevölkerung entstanden seien. Diese seien dann zu den Hauptsäulen der kapitalistischen Wirtschaft geworden, die laut den meisten Ökonomen und Wirtschaftshistorikern eine bessere Gewähr für Wachstum und Wohlstand war als alle bekannten Alternativen. Zumindest in Westeuropa führte der Arbeitskräftemangel in dieser Lesart zudem zu hohen Löhnen. Dies habe Arbeitgeber dazu veranlasst, nach weniger arbeitsintensiven und kapitalintensiveren Produktionsmethoden zu suchen. Die Auswirkungen dieser Strategie seien in der gesamten Wirtschaft spürbar gewesen, da (ausschließliche) Lohnarbeit nirgends so verbreitet gewesen sei wie im Westen, ganz besonders in Großbritannien. Dieser Gedanke hat in der europäischen Wirtschaftsgeschichte eine lange Tradition. Man findet ihn zum Beispiel in Jones’ bereits mehrfach erwähntem Buch über das Wunder Europa. Jones zufolge gab es in Europa aufgrund der relativ geringen Bevölkerungsdichte eine Tendenz zu kapitalintensiven Strategien, die durch die Tatsache, dass die in Westeuropa vorherrschende Art von Landwirtschaft Tiere, schwere Pflüge und Getreidemühlen erforderte, noch verstärkt worden sei.30 Auch Landes konstatiert positive Effekte des Arbeitskräftemangels in Europa.31 Einige Wissenschaftler sprechen so auch der Pest weitreichende Folgen zu.32 Doch wenn der Zusammenhang zwischen Knappheit von Arbeitskräften und Innovation intuitiv auch selbstverständlich erscheinen mag, ist er es näher betrachtet vor allem deshalb nicht, weil unklar ist, was Knappheit von Arbeitskräften eigentlich bedeutet, wie sie sich messen und, wichtiger noch, vergleichen lässt. Knappheit ist grundsätzlich ein relativer Begriff: Sie bemisst sich am Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Man sollte folglich vorsichtig damit sein, die Bevölkerungsgröße als Indikator für Arbeitskräftemangel zu interpretieren, und für Nominal- und Reallöhne gilt das Gleiche. Gerade bei einem Vergleich unterschiedlicher Ökonomien wäre dies nicht unproblematisch. Den besten Indikator, um die Knappheit von Arbeitskräften in verschiedenen Gesellschaften zu vergleichen, bieten meines Erachtens ihre Kosten relativ zu anderen Produktionsfaktoren. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass Arbeitskraft im frühneuzeitlichen Europa in diesem Sinn – zumindest verglichen mit Ostasien – tatsächlich knapp war, auch wenn nicht viele Wissenschaftler diese Behauptung wirklich systematisch überprüft haben. Gehen wir etwas näher auf ihre möglichen Implikationen ein.

30 Jones, Wunder Europa, XXXIII, 258. 31 Landes, »Reply to Vries and Prakash«, 9. 32 Vgl. Anm. 22, S. 211.

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Faktorausstattung

6. Faktorausstattung: Einsparung von Arbeit in Großbritannien, Bindung von Arbeit in China

In der vorherrschenden Wirtschaftslehre wird der Faktorausstattung weithin eine wichtige Rolle für die ökonomische Entwicklung beigemessen und wirtschaftliche Spezialisierung, so etwa im Heckscher-Ohlin-Theorem, ausgehend von der Ausstattung und den Preisen der verschiedenen Produktionsfaktoren »vorhergesagt«. Was dies in konkreten Fällen bedeutet, ist in Wirklichkeit jedoch unklar. Arbeitskräftemangel zusammen mit hohen Löhnen können ein guter Grund für die Suche nach arbeitssparenden Innovationen sein, ceteris paribus Unternehmern aber ebenso die Akkumulation und Finanzierung von Innovationen erschweren. Bei einem großen Angebot an Arbeit gekoppelt mit niedrigen Löhnen dagegen mögen Innovationen zwar weniger dringlich sein, ist die Akkumulation von Geld jedoch einfacher. In Debatten über die Great Divergence begegnet man beiden Argumentationen. Robert Allen hat einen Arbeitskräftemangel, der sich in hohen Löhnen im Vergleich zu den Kosten der anderen Produktionsfaktoren ausdrückte, kürzlich zum Kern seiner Erklärung für die britische industrielle Revolution gemacht.1 Dabei geht er davon aus, dass Großbritannien zu Beginn der Industrialisierung sehr hohe Real- und Nominallöhne aufwies – neben Teilen der heutigen Niederlande die höchsten der Welt. Eine Knappheit von Arbeitskräften könnte dazu durchaus beigetragen haben. Gleichzeitig spielten die sehr hohen Löhne in Londons Dienstleistungssektor eine Rolle – die ohne den Aufstieg des britischen fiskalmilitärischen Staates und seinen Rang als globale Handelsmacht undenkbar gewesen wären.2 Dadurch wurde das Lohnniveau in der relativ kleinen und integrierten britischen Wirtschaft insgesamt in die Höhe getrieben, ohne jedoch einen vollständig integrierten Arbeitsmarkt mit einheitlichem Lohnniveau hervorzubringen. Allen zufolge gab dies in Verbindung mit relativ niedrigen Energiekosten – und Zinsraten – der britischen Wirtschaft einen kapital- und energieintensiven Weg als natürlichen Entwicklungspfad vor. Das Gleiche gilt teils aus ähnlichen, teils aus einigen bereits erwähnten spezi1 Allen, British Industrial Revolution. 2 Sehr deutlich stellt Allen diesen Zusammenhang zwischen Handel und hohen Löhnen in Großbritannien in einem unveröffentlichten Text her: »The British Industrial Revolution. How Commerce Created the Industrial Revolution and Modern Economic Growth« (2006) und in seinem »Why the Industrial Revolution was British«.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

fischen Gründen für die britische Landwirtschaft. Allen behandelt die Frage der (Nicht-)Industrialisierung systematisch und explizit aus der Perspektive der Faktorausstattung, wie das folgende Zitat illustrieren mag: »Die industrielle Revolution war das Resultat hoher Löhne – nicht nur deren Ursache.«3 An anderer Stelle erklärt er die Tatsache, dass die industrielle Revolution in Großbritannien stattfand, mit dessen »einzigartiger Lohn- und Preisstruktur« und bemerkt: »Mit ihren hohen Löhnen und billiger Energie machte es die britische Wirtschaft profitabel für die Unternehmen, die Durchbrüche der industriellen Revolution zu erfinden und zu nutzen.«4 Auch die Kreditaufnahme für Investitionen war in Großbritannien recht günstig.5 Laut Allen ist es nicht überraschend, dass in Großbritannien starkes Interesse an Maschinen bestand: Angesichts teurer Arbeitskraft und günstigen Kapitals waren sie profitabel.6 Hohe Löhne dienen ihm nicht nur als Erklärung für das Wirtschaftswachstum während der britischen Industrialisierung. Sie sind auch für seine Erklärung der ökonomischen Entwicklung der Vereinigten Staaten zentral, wobei er an die These von John Habakkuk anschließt, die Masse des dort frei verfügbaren Bodens habe hohe Löhne zur Folge gehabt und dies wiederum das Interesse der Unternehmer an arbeitssparenden Technologien gestärkt.7 Allen geht sogar so weit, dem Westen eine Art positiven Zirkel zu bescheinigen: »Hohe Löhne induzierten eine kapitalintensivere Produktion, die wiederum zu höheren Löhnen führte. Diese Spirale liegt den steigenden Einkommen der reichen Länder zugrunde.«8 Auf der anderen Seite verbindet er niedrige Löhne mit wirtschaftlicher Stagnation und Armutsfallen. In sehr armen Ländern sei »Arbeitskraft so billig, dass Unternehmen keinen Anreiz zur Entwicklung oder Anwendung produktivitätssteigernder Maschinerie hatten«.9 Allen ist der Auffassung, je billiger die Arbeitskraft relativ zu anderen Produktionsfaktoren sei, umso 3 Allen, Global Economic History, 13. 4 Ebd., 31. Tatsächlich war in Großbritannien nicht ›Energie‹, sondern Kohle billig, und dies wiederum nur in bestimmten Regionen. 5 Zu den Zinssätzen in Großbritannien, vgl. Ashton, Industrial Revolution; Matthias, First Industrial Nation (Stichwort »interest«); Flandreau u.a., »The Bell Jar«. Konkrete Beispiele nennen Temin/ Voth, »Private Borrowing«. 6 Vgl. etwa Allen, Global Economic History, 32–33. 7 Habakkuk, American and British Technology. 8 Allen, Global Economic History, 47. Auch nach Allens Darstellung funktioniert dies jedoch nicht immer. Über die im 16. Jahrhundert beginnende Einfuhr von Silber nach Spanien heißt es im selben Buch, sie habe eine deutlich höhere Inflation als im Rest Europas bewirkt und die Landwirtschaft und das herstellende Gewerbe des Landes wettbewerbsunfähig gemacht (24). Dort waren hohe Löhne somit offenbar kein Vorteil, sondern eine Belastung. Waren der Grund dafür hohe Kosten anderer Produktionsfaktoren im damaligen Spanien? 9 Ebd., 13.

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Faktorausstattung

weniger Anreize bestünden zur Industrialisierung: »Arbeitskraft durch umfangreiches Kapital zu ersetzen lohnt sich nur, wenn die Löhne relativ zu den Kapitalkosten hoch sind.«10 Seine These über Großbritannien ist häufig für Westeuropa verallgemeinert worden. Aufgrund ihres außergewöhnlichen Größenverhältnisses von Arbeitskraft und Kapitalgütern zeichnete sich die Region nach Auffassung einiger Forscher bereits ab dem Hoch- und Spätmittelalter durch eine stärker technikgetriebene Ökonomie aus, so beispielweise laut Joel Mokyr: »Das mittelalterliche Europa war die vielleicht erste Gesellschaft, die ihre Ökonomie auf nichtmenschlicher Kraft statt auf dem Rücken von Sklaven und Kulis aufbaute«.11 Landes vertritt einen ähnlichen Standpunkt: »Wie keine andere Zivilisation stützte sich die europäische auf den Einsatz von Energie.«12 Knappe Arbeitskraft bewirkte demnach – vor allem in den Städten, aber auch auf dem Land – die Einführung neuer Technologien wie Wasser- und Windmühlen und die hinsichtlich der insgesamt gelieferten Energiemenge noch viel wichtigere Nutzung von Tieren, Holz und in manchen Regionen von Torf und Kohle. Die Tatsache, dass die Arbeitskräfte in Westeuropa insgesamt relativ frei waren und sich folglich mitunter in einer günstigen Verhandlungsposition befanden, dürfte die Tendenz zu ihrer Ersetzung durch Kapital ebenfalls gefördert haben. In China, so argumentiert Allen, waren Energie, Geld und bestimmte Ressourcen erheblich teurer und die Löhne erheblich niedriger, weshalb die Entscheidung für eine arbeitsintensive Option dort rational gewesen sei. Auch Jan Luiten van Zanden und Bozhong Li sind beim Vergleich der Wirtschaft des Jangtse-Deltas und der Niederlande im frühen 19. Jahrhundert auf klare Indikatoren dafür gestoßen, dass sich die chinesische Kernregion auf einem anderen, arbeitsintensiveren Pfad befand als das wirtschaftliche Zentrum Westeuropas.13 In den zahlreichen neueren Publikationen über einen spezifisch ostasiatischen Entwicklungspfad, etwa denen des japanischen Wirtschaftshistorikers Kaoru Sugihara, wird die westliche Industrialisierung, die erste in der Weltgeschichte, ebenfalls mit einer spezifischen Faktorausstattung in Verbindung gebracht; das Arbeitskräfteangebot sei dort einfach nicht »unbegrenzt« gewesen wie während der später einsetzenden, von Sugihara als arbeitsintensiv charakterisierten Industrialisierung Ostasiens. Großbritannien verbrauchte nicht nur mehr Energie pro Kopf, sondern verfügte auch über deutlich mehr Land pro Bauer. Die Höfe waren dort 10 Ebd., 51. Dort heißt es auch: »Nur wenn Arbeitskraft sehr teuer ist, lohnt sich die Herstellung umfangreichen zusätzlichen Kapitals«; »In anderen Teilen der Welt mit niedrigeren Löhnen war industrielle Technik allerdings nicht kosteneffektiv.« 11 Mokyr, Lever of Riches, 35. 12 Landes, Wohlstand und Armut, 62. Sowohl Mokyr wie Landes stützen sich als »Quelle« für diese Behauptung auf den Mediävisten Lynn White. 13 Li/Van Zanden, »Before the Great Divergence?«.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Tab. 27: Vorindustrieller Energieverbrauch in England/ Wales und China (in %) Großbritannien

1600

1700

1800

China 18. Jahrhundert

Lebensmittel

27,5

19,9

7,4

47

Viehfutter

25,6

16,4

8,8

43

Brennholz

28,7

13,4

4,4

8 (Brennholz und fossile Brennstoffe)

Fossile Brennstoffe

16,7

48,6

77

Wind

0,5

0,8

2,3

Wasser

1

0,6

0,2

2 (Wind und Wasser)

Genaue Darstellungen für einen Vergleich der Benutzung fossiler Brenstoffe in England/ Wales und China fehlen. Alle vorhandenen Schätzungen lassen jedoch darauf schließen, dass sie um ein Vielfaches höher war als in China. Nach: Warde, Energy consumption in England and Wales, 69 u. 73, und (für China) Malanima, Energia e crescita nell’Europa preindustriale, 124. Siehe auch Adshead, Material Culture in Europe and China, Kapitel 5, und Malanima, »Energy Crisis and Growth 1650–1850«, 101–122.

Quelle: The Economist, 31. 12. 1999, 81.

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Faktorausstattung

durchschnittlich wesentlich größer und setzten erheblich mehr Tiere und Geräte ein.14 Sie machten sich Skaleneffekte zunutze und stellten weit häufiger Lohnarbeiter von außerhalb ein. Gründe für die Ersetzung von Arbeitskraft durch Kapitalgüter gab es mehr als genug. Bemerkenswert ist, dass diese klaren Unterschiede zwischen Großbritannien und China im Lauf der Zeit meist sogar noch wuchsen. Während Grundstücksgröße, Zahl der Tiere und Kapitalgüter pro Bauer in Großbritannien tendenziell zunahmen, geschah in China genau das Gegenteil. In dieser Hinsicht war die Situation in Japan in der Periode vom 17. bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts recht ähnlich wie in China.15 Betrachtet man alle der Industrialisierung allgemein zugeschriebenen Charakteristika – vor allem hoher Energieverbrauch, Skaleneffekte und Lohnarbeit –, dann war es ohne Zweifel weitaus wahrscheinlicher, dass sie zuerst in Großbritannien auftreten würde. Diese Gegenüberstellung könnte den Eindruck erwecken, die Situation in China sei gemessen an der in Großbritannien immer stärker von einer malthusianischen Spannung zwischen Bevölkerungsgröße und Ressourcen geprägt gewesen. Doch auch die britische Bevölkerung stagnierte während des hier erörterten Zeitraums von den 1680er bis zu den 1850er Jahren keineswegs. Wie erwähnt, heben Malthusianer die Nachteile von Bevölkerungswachstum, eine stets drohende Gefahr von Überbevölkerung, hervor. In der klassischen Erzählung darüber, was in China »schiefgelaufen« sei, wird das Land oft als Beispiel par excellence für eine Wirtschaft geschildert, die in eine malthusianische Sackgasse geraten sei: als »Land der Hungersnot« mit zu vielen Menschen und zu wenig Ressourcen.16 Die Gefahren der Überbevölkerung waren natürlich auch in Europa bekannt. Malthus war Engländer und hatte zweifellos auch die Situation im eigenen Land vor Augen, als er seine Gedanken niederschrieb. Laut vielen Wissenschaftlern konnten diese Gefahren schließlich jedoch – vor allem in Westeuropa – durch gezielte bevölkerungspolitische Maßnahmen in Schach gehalten werden.17

14 Vries, Zur politischen Ökonomie des Tees, 97–126. 15 Vgl. etwa Macfarlane/Harrison, »Technological Evolution and Involution«, 77–89. 16 Mallory, China. Land of Famine. 17 Es war immer ein Standardargument von »Eurozentristen«, in Westeuropa habe es ein einzigartiges Heiratsmuster gegeben – gekennzeichnet vor allem durch ein hohes Heiratsalter und eine große Zahl Unverheirateter –, welches Bevölkerungswachstum in Schach gehalten habe. Gegenwärtig erkennen die meisten Forscher ein solches spezifisch westeuropäisches Muster zwar an, bezweifeln aber, dass es ein effektiveres Mittel der Bevölkerungskontrolle war als die beispielsweise im frühneuzeitlichen China eingesetzten Mittel. Zur Einzigartigkeit des westeuropäischen Heiratsmusters, vgl. Engelen/Wolf, Marriage and Family in Eurasia. Alternativ hierzu über die Eindämmung des Bevölkerungswachstums: Lee/Feng, One Quarter of Humanity.

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Dem heutigen Forschungsstand zufolge bestanden deutliche Unterschiede zwischen den demografischen Systemen Chinas und Westeuropas, die nach Auffassung der meisten Wissenschaftler jedoch streng im Hinblick auf das Bevölkerungswachstum nicht besonders erheblich waren. In beiden Regionen wuchs die Bevölkerung in der Periode von 1680 bis 1850 – in China schätzungsweise von 150 auf 400 bis 410 Millionen, in Westeuropa von rund 75 auf 170 Millionen – und in beiden bestand ein malthusianischer Druck. In Großbritannien nahm die Bevölkerung in diesem Zeitraum von rund sieben auf 21 Millionen zu. Es wäre natürlich voreilig, auf Grundlage solcher aggregierten Daten klare Aussagen über die relative Überbevölkerung in irgendeiner dieser Regionen zu treffen. Die Kernregionen hatten schließlich eine völlig unterschiedliche Bevölkerungsdichte, die Bevölkerung war anders verteilt, ihre Landwirtschaftssysteme und Ressourcenportfolios waren grundverschieden etc. Doch die aggregierten Zahlen und die Analysen über die pro Kopf verfügbaren Ressourcen in beiden Ländern bieten zumindest keinen klaren Beweis dafür, dass China aufgrund von Bevölkerungsdruck in Schwierigkeiten geraten wäre, während in Europa Strategien entwickelt worden wären, um einen solchen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Sicherlich erlebte China in der Hochphase der Qing-Ära einen zunehmenden Bevölkerungsdruck, doch es verhielt sich eher so, dass dessen Auswirkungen so problematisch wurden, weil sich China nicht industrialisierte, als dass China sich nicht industrialisiert hätte, weil es in eine fatale malthusianische Zwangslage geraten wäre. Großbritannien experimentierte bereits mit Wegen, seine malthusianischen Schranken zu überwinden, bevor es überhaupt wirklich an seine malthusianische Obergrenze stieß. In jedem Fall ist es überaus schwierig, monokausale Aussagen über die Zusammenhänge zwischen Bevölkerung, Ressourcen und Wachstum zu treffen. Doch wie immer sich der Bevölkerungsdruck im China des 19. Jahrhunderts zu seinen wirtschaftlichen Problemen genau verhalten haben mag, klar ist, dass er nicht deren einzige Ursache war. Die Demografie im weiteren Sinn des Wortes hat zweifellos eine Rolle dabei gespielt, China auf einen Pfad zu bringen, der nicht so sehr jegliches Wachstum verhinderte – weit gefehlt –, sehr wohl aber die Entstehung einer modernen Industrie und des modernen Wirtschaftswachstums hemmte. Anführen möchte ich hier nur die vorherrschende auf Haushalten beruhende Produktionsweise, die Chinas Ökonomie tatsächlich einen ganz anderen Entwicklungspfad als den britischen einschlagen ließen. Die vorherrschenden Machtbeziehungen und familiären Werte und Normen beeinflussten das wirtschaftliche Leben ebenfalls. Sie erschwerten es beispielsweise chinesischen Frauen, außer Haus mit Menschen unter einem Dach zusammenzuarbeiten, die keine Verwandten waren. Familie und Betrieb waren in der Regel nicht getrennt. Chinas Erbschaftssystem begüns-

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Faktorausstattung

tigte stark eine Aufteilung des Eigentums unter allen Erben. Sein Rechtssystem basierte eher auf dem Begriff des Familienmitglieds als dem des Individuums.18 Die Frage, wie eine einstmals so produktive und dynamische Wirtschaft wie die chinesische derart arm und statisch werden konnte, hat natürlich auch das Interesse von Wirtschaftshistorikern geweckt. Was die diesbezügliche Rolle demografischer Faktoren betrifft, wird die Debatte von zwei Interpretationen bestimmt. Auch wenn die jeweiligen Einschätzungen der Entwicklung der chinesischen Ökonomie, besonders natürlich der Landwirtschaft, in beiden Fällen schlussendlich zu recht ähnlichen Ergebnissen führen, unterscheiden sich ihre Ausgangspunkte und allgemeinen Urteile durchaus. Der ersten Interpretation, die allgemein mit dem Wirtschaftshistoriker Philip Huang verbunden wird, stellt sich die Entwicklung als eine »Involution«, dar.19 Die Opportunitätskosten der Arbeit von Familienmitgliedern, also entgangene Erlöse, weil Ressourcen nicht genutzt wurden, waren demnach recht niedrig; Verwandte mussten ohnehin versorgt werden, und wenn sie Zeit übrig hatten, galt diese Zeit nicht als Geld. So habe eine Tendenz bestanden, ihre Arbeitskraft auch bei sinkenden Grenzerträgen stärker zu nutzen, sie für unterschiedlichste Nebentätigkeiten einzusetzen und möglichst wenige oder gar keine fremden Arbeitskräfte einzustellen. Die zweite Interpretation, die die anfänglichen Stärken und die positive Dynamik der Ökonomie des vorindustriellen China stärker berücksichtigt, letztlich aber ebenfalls ihren späteren, durch malthusianische Probleme verursachten Stillstand unterstreicht, wird von Mark Elvin vertreten. Ihm zufolge geriet Chinas Wirtschaft in eine »Gleichgewichtsfalle auf hohem Niveau«.20 Was er darunter versteht, ist unverkennbar eine malthusianische Falle: »Der Mangel an vielen Ressourcen wurde zweifellos schlimmer. […] Er wurde natürlich nicht zuletzt durch das anhaltende Bevölkerungswachstum unter Bedingungen technischen Stillstands verursacht. […] Traditionelle Inputs, seien es Bewässerungssysteme, Dünger oder Arbeitskraft, hatten ebenfalls beinahe die Höhe erreicht, ab der sie stark sinkende oder sogar negative Erträge erzielen.«21 Im späten traditionellen China entwickelten sich die ökonomischen Kräfte in einer Weise, die profitable Erfindungen immer schwieriger machte. Da der landwirtschaftliche Über-

18 Eine eigenwillige, aber interessante Auseinandersetzung mit diesen und verwandten Themen bietet Gates, China’s Motor. 19 Vgl. etwa Huang, Peasant Economy and Social Change; ders., Peasant Family and Rural Development; ders., »Development or Involution in Eighteenth-Century Britain and China?«. Zur Definition von Involution, vgl. S. 197 des vorliegenden Buchs. 20 Elvin, Pattern of the Chinese Past, Kap. 17, und ders., Another History, Kap. 2 und 3. 21 Elvin, Pattern of the Chinese Past, 301, 306.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

schuss, und folglich Einkommen wie Nachfrage pro Kopf, zurückging, die Arbeitskraft billiger, Ressourcen und Kapital hingegen teurer wurden und Landwirtschaft wie Transportwesen bereits so gut entwickelt waren, dass unaufwendige Verbesserungen ausschieden, tendierte die rationale Strategie für Bauer wie Kaufmann weniger in Richtung arbeitssparender Technik als zur Einsparung von Ressourcen und fixem Kapital. Auf den riesigen, aber nahezu statischen Märkten kam es zu keinen Produktionsengpässen, die Anlass zu Erfindungen gegeben hätten. Trat zeitweilig Knappheit auf, dann schuf die auf niedrigen Transportkosten basierende Findigkeit von Kaufleuten schneller und sicherer Abhilfe als die Entwicklung neuer Maschinen. Diese Situation lässt sich als eine Gleichgewichtsfalle »auf hohem Niveau« beschreiben.22

Elvin zufolge durchlief Chinas Wirtschaft während der Song- und der YuanDynastie eine »mittelalterliche Revolution«, mit der namentlich Landwirtschaft und Transportsysteme, aber auch das Geld- und Kreditsystem, das Marktsystem sowie Wissenschaft und Technik eine hohe Effizienz und Komplexität erreichten. Was so entstand, war eine durch verhältnismäßig reichlich vorhandene und billige Arbeitskraft, aber zugleich relativ knappe und teure Ressourcen gekennzeichnete Situation. In vieler Hinsicht bewegte sich die Wirtschaft auch nach ihrem mittelalterlichen Zenit auf einem sehr hohen Entwicklungsniveau, insbesondere was die Nahrungsmittelproduktion und die Effizienz von Märkten und Transportwesen betrifft. Dennoch befand sie sich in einer Falle, da Maschinen und Koordination auf großer Stufenleiter, die einen wirklichen qualitativen Durchbruch hätten bewirken können, nicht benötigt wurden – so hilfreich sie auch gewesen wären – und vor allem häufig nicht unmittelbar profitabel waren. So war tatsächlich eine exakt gegenteilige Situation entstanden wie jene, die laut Robert Allen im Großbritannien des 18. Jahrhunderts herrschte. Insofern stützt dieser Fall Allens Erklärung für die britische Industrialisierung, auch wenn er sich nirgends explizit auf Elvins These bezieht. Engpässe konnten durch den Rückgriff auf sehr billige zusätzliche Arbeitskraft und die gut funktionierenden Märkte überwunden werden. Ankauf und Verpachtung von Boden sowie der Geldverleih zu sehr hohen Zinsraten boten gute Verdienstmöglichkeiten. Wer produktiv investieren wollte, hatte Schwierigkeiten, Kapital zu bekommen und profitable Anlagemöglichkeiten zu finden. Insgesamt produzierte die Wirtschaft einen beträchtlichen Überschuss, und gewöhnliche Menschen mussten keineswegs arm sein, wie es dem klassischen Bild von Involution entspräche. Das Problem bestand darin, profitable innovative Investitionsmöglichkeiten für diesen Überschuss zu finden. Im Lauf der Zeit, so Elvin, sei der Überschuss pro Kopf und damit die Nachfrage gesunken, womit sich die Möglichkeiten für profitable Investitionen in Kapitalgüter noch zusätzlich verringerten. Auf genau dieses demografisch-wirtschaftliche Mo-

22 Ebd., 314.

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Faktorausstattung

dell bezieht sich Frank in ReOrient, um »den Niedergang des Ostens«, in diesem Fall Chinas, zu erklären.23 Die Argumentationen von Allen und Huang/Elvin scheinen plausibel und empirisch solide belegt zu sein. Die Frage ist, ob sie eine überzeugende und hinreichende Erklärung dafür bieten, wie sich China entwickelte und worin die Unterschiede zur britischen Entwicklung bestanden. Während Allen für Großbritannien postuliert, die im Vergleich zu den Kosten anderer Produktionsfaktoren (Werkzeuge, Energie, Geld) hohen Löhne hätten als Ansporn zu Innovationen gewirkt, behaupten Huang und Elvin für China, die im Vergleich zu den Kosten anderer Produktionsfaktoren (Werkzeuge, Energie, Geld und auch Land) niedrigen Löhne hätten in eine »Falle« geführt. Haben sie damit recht?

23 Frank, ReOrient, 297–330.

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7. Hohe und niedrige Löhne: Anreize und Fallen?

Im Kern besagt Allens These, dass Arbeitskräfte in Großbritannien billig, Energie und Kapital hingegen teuer gewesen seien, die Wirtschaft daher einen arbeitsextensiven und kapital- wie energieintensiven Pfad eingeschlagen habe und es so zur industriellen Revolution gekommen sei. Die Situation in China war ihm und Elvin/Huang zufolge eine ganz andere: Eine durch reichlich vorhandene Arbeitskraft und hohe Kosten für nichtmenschliche Energie und Kapitalgüter gekennzeichnete Wirtschaft sei in eine Gleichgewichtsfalle auf hohem Niveau oder gar eine involutionäre Sackgasse geraten. Allens These wirkt sehr überzeugend und kann sich auf ernsthafte empirische Forschungen und Daten stützen. Im Kontext der Debatte über die Great Divergence und insbesondere die Industrialisierung lassen sich jedoch mehrere Fälle anführen, die darauf hindeuten, dass sich die Dinge allgemein vermutlich komplizierter verhielten, wie bereits mit Blick auf die These von Wong und Rosenthal bemerkt. Ein erster problematischer Fall, auf den man verweisen könnte, sind die heutigen Niederlande, die Allen zwar erörtert, meines Erachtens aber nicht vollständig in seinem Erklärungsschema unterbringen kann. Die Niederlande waren im 18. Jahrhundert mindestens so reich wie Großbritannien, ihr Lohnniveau lag nicht unter dem britischen mit Ausnahme Londons. Doch London war innerhalb Großbritanniens ein Sonderfall und auch nicht der Schauplatz der beginnenden Industrialisierung. Die Löhne in Amsterdam zum Beispiel waren mit denen in südenglischen Städten vergleichbar, wenn nicht gar höher.1 Andere holländische Städte verzeichneten ein ähnliches Lohnniveau, das gewiss nicht niedriger war als beispielsweise in Lancashire. Die Zinsraten waren nicht höher als in Großbritannien.2 Auch Energie musste nicht teurer sein als dort, da Kohle aus Newcastle problemlos nach Amsterdam transportiert werden konnte, sobald dies günstiger war als der einheimische Torf.3 Die Vereinigten 1 Wir sprechen hier natürlich von Größenordnungen und groben Entsprechungen. Vgl. Allen, »Great Divergence«, passim, und De Vries/Van der Woude, First Modern Economy, Kap. 12, bspw. Tabellen 1 und 8. 2 De Vries/Van der Woude, First Modern Economy, Kap. 4. 3 Zu Kohlepreisen in unterschiedlichen europäischen Städten am Ende des 18. Jahrhunderts: Allen, Global Economic History, 25; zu Energiepreisen (Kohle, Holzkohle, Torf): ders., British Industrial Revolution, 99–103. Zur Möglichkeit, (mehr) Kohle aus Newcastle

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Hohe und niedrige Löhne: Anreize und Fallen?

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Niederlande und später das Vereinigte Königreich der Niederlande blieben ein sehr wohlhabendes, hochentwickeltes Land, das jedoch nicht zu einem Vorreiter der Industrialisierung wurde und zudem seine technische Innovationskraft einbüßte. Eine weitere Region, die sehr entwickelt war und hohe Löhne verzeichnete, in der die technische Innovation aber nachließ und kein Take-off stattfand, ist Norditalien. Im Spätmittelalter stellte es eine wesentlich wichtigere Gewerberegion für Europa dar als Großbritannien. Norditalien war vor allem für seine hochentwickelte Wollproduktion berühmt, die in Städten mit relativ hohem Lohnniveau stattfand. Wie in anderem Zusammenhang bereits bemerkt, hätte dies ein ideales Umfeld für technische Innovationen sein sollen. Doch in der frühmodernen Ära wies die Region nicht etwa Dynamik, sondern einen relativen Niedergang auf, der erstaunlicherweise sehr häufig mit den hohen Löhnen erklärt worden ist, die die Gilden in den Städten durchsetzen konnten. Offenbar unterlagen Hochlohnstädte in diesem Fall in der Konkurrenz und stellten hohe Löhne keinen Anreiz zu Innovationen dar. So hatte zwar das Seidengewerbe sein Zentrum in Bologna, aber im Allgemeinen zog es die Industrie an ländliche Niedriglohnstandorte und fanden keine technischen Durchbrüche statt. Was hohe Löhne betrifft, ließe sich auch Spanisch-Amerika anführen, wo laut verschiedener Autoren die Löhne von 1525 bis 1820 gemessen in Silber und manchmal sogar real höher waren als auf dem europäischen Kontinent.4 Sofern man diesen Zahlen trauen kann, würde dies in jedem Fall heißen, dass hohe Löhne als solche – wie Allen natürlich bewusst ist – nicht ausreichen, um eine Wirtschaft auf einen kapitalintensiven Pfad zu bringen. Für die spezifischen Fälle Großbritanniens und Chinas scheint mir der Ansatz der Faktorausstattung von Allen, Elvin und Huang sehr hilfreich zu sein, auch wenn er natürlich nicht alles erklärt. Was allerdings auffällt und zumindest Stoff zum Nachdenken bietet, ist die bereits erwähnte Tatsache, dass die britische Industrie zunächst nicht in den Hochlohnregionen – in London und Südengland – entstand, sondern dort, wo das Lohnniveau gemessen an britischen Maßstäben recht niedrig ausfiel. E. H. Hunt, ein Experte auf diesem Gebiet, bemerkt dazu: »Starke regionale Lohngefälle bestanden bereits vor Beginn der klassischen industriellen Revolution. Da die Industrie vor allem in Teilen des Nordens mit niedrigem Lohnniveau wuchs, untergrub die Industrialisierung anfangs das vorindustrielle Muster der Lohndifferenzen.«5 billig in die Niederlande zu importieren: De Vries/Van der Woude, First Modern Economy, 718–719. 4 Vgl. Arroyo Abad/Davies/Van Zanden, »Between Conquest and Independence« und Tab. 31. 5 Hunt, »Wages«, 64. Es ist sehr wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Löhne in London außergewöhnlich hoch waren – viel höher als in den Regionen, in denen die In-

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Aus globaler Perspektive betrachtet waren zwar selbst die Löhne im britischen Norden hoch, doch dass die Industrialisierung nicht in den Hochlohngebieten Großbritanniens begann, macht Allens Erklärung meines Erachtens weniger überzeugend. Dass viele Experimente mit Dampfmaschinen, etwa von Thomas Newcomen (1683–1729), James Watt, aber auch von Richard Trevithick (1771–1833), in den Zinn- und Kupferminen Cornwalls unternommen wurden, wo die Löhne niedrig waren und Kohle teuer, stützt seinen Ansatz der Faktorausstattung ebenfalls nicht – so wenig wie die Tatsache, dass Regionen wie Schottland und der Nordosten, die über reichlich Kohle verfügten und sich recht früh industrialisierten, nur sehr wenige »arbeitssparende« Innovationen hervorbrachten und ein relativ niedriges Lohnniveau aufwiesen.6 Und dann gibt es noch die Tatsache, dass man auch die recht naheliegende Argumentation vertreten kann, niedrige Löhne hätten die Industrialisierung begünstigt, so wie Joel Mokyr: Es ist klar [sic!, PV], dass sich erfolgreiche Ökonomien auf eine elastische Zufuhr billiger Arbeitskräfte stützten […] Die Lektion, die sich aus der Geschichte europäischer Länder während der industriellen Revolution lernen lässt, lautet, dass niedrige Löhne unter ansonsten gleichen Umständen [sic!, PV] die Akkumulation des für die Verbreitung neuer Technologien erforderlichen Kapitals förderten, und diese neuen Technologien schließlich zu höheren Löhnen führten, womit sie die Bedingungen außer Kraft setzten, die ihre eigene Durchsetzung ermöglichten. […] Steigende Löhne und Lebensstandards sind die Belohnung, die die Gesellschaft für Fleiß, Enthaltsamkeit und Erfindungsreichtum früherer Generationen erhält.7

Doch kommen wir zurück zum britischen Fall. Die Industrialisierung löste eine Verlagerung des Zentrums der englischen Wirtschaft nach Norden aus. Lancashire, das West Riding oder Yorkshire und die West Midlands führten, in dieser Reihenfolge, jahrzehntelang die Entwicklung der modernen Industrie in England an – im Jahr 1660 und selbst noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatten sie alle zu den ärmsten und rückständigsten Regionen des Landes gezählt. Lancashire, das Symbol der Industrialisierung par excellence, gehörte im Mittelalter und während der Restaurationsphase gemessen am besteuerten Vermögen zu Englands sehr armen Regionen.8 1843 war es die zweitreichste Region des ganzen Landes. In den Jahren von 1767 bis 1770 dustrialisierung einsetzte. Im Zeitraum von 1700 bis 1789 erzielten Bauhandwerker dort einen 60 Prozent höheren Lohn als im Durchschnitt von Kent, Oxfordshire und Lancashire; gegenüber Lancashire waren sie sogar doppelt so hoch (Zahlen nach Paolo Malanima, »When did England overtake Italy?«, noch unveröffentlicht). 6 Dudley, Mothers of Innovation, 125–130. 7 Mokyr, »Dear Labor, Cheap Labor«, 195. 8 Sofern nicht anders vermerkt, stammen die Angaben in diesem und dem folgenden Absatz aus Inikori, Africans and the Industrial Revolution in England, Kap. 2: »Die englische Wirtschaft in der longue durée«.

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Hohe und niedrige Löhne: Anreize und Fallen?

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zählten Lancashire und das West Riding zu den elf Bezirken mit den niedrigsten Löhnen, die überwiegend in Nordengland lagen. Bis 1794/95 hatte sich das Bild jedoch geradezu umgekehrt: Nun lagen sechs der elf Bezirke mit den höchsten Löhnen im Norden, und der Spitzenreiter war das West Riding. 1843, als Lancashire die zweitreichste Region des Landes war, verzeichnete es die dritthöchsten Löhne.9 Schottland, im 18. Jahrhundert für sehr niedrige Löhne bekannt, holte die Pioniere rasch ein – es industrialisierte sich schnell und verzeichnete im Zuge dessen ein steigendes Lohnniveau. Man kann sogar behaupten, dass es in den 1840er Jahren stärker industrialisiert war als das übrige Großbritannien.10 Spricht all das nicht dafür, dass zumindest in Großbritannien und unter britischen Umständen die Industrie die Ursache höherer Löhne war – und nicht umgekehrt? Aus meiner Sicht neigt Allen dazu, die Löhne einseitig hervorzuheben und die Rolle der geografischen Lage zu unterschätzen. Was meines Erachtens beispielsweise im sehr wichtigen Fall der Baumwollindustrie wesentlich dazu beitrug, dass sie an bestimmten Orten entstand, war eine Kombination aus relativ niedrigen Löhnen und zwei Lagevorteilen im strengeren Sinn: der Nähe zu einem Hafen, der einen günstigen und bequemen Import von Rohmaterialien und Export des fertigen Stoffs ermöglichte, und zu billigen Energiequellen, zunächst Wasserläufen und ab den 1830er Jahren Kohle. Auch im Fall der Eisenindustrie, die schwere Rohmaterialien und große Mengen Brennstoff benötigte, sollte man die Bedeutung der Lage nicht unterschätzen. Großbritannien wurde erst mit dem Eisenbahnbau ab den 1840er Jahren zu einer integrierten Wirtschaft; erst dann wurde die Lage weniger bestimmend. Generell entstand die Industrie, auch außerhalb Großbritanniens, nicht in Regionen mit einem hochentwickelten Agrar- oder Dienstleistungssektor und hohen Löhnen, sondern in einem Kontext relativer Armut und Rückständigkeit. Londons hohes Lohnniveau zum Beispiel förderte die Abwanderung des Schiffsbaus in sogenannte Außenhäfen entlang der Küste im Norden, Schottland und Irland, wo billigere Arbeitskraft verfügbar war.11 Unterschiedliche Kosten der Produktionsfaktoren spielten gewiss eine wichtige Rolle dabei, Wirtschaften auf unterschiedliche Pfade zu bringen und unterschiedliche Ergebnisse zu zeitigen, und Allens Analysen bieten in dieser Hinsicht einige wichtige Erkenntnisse. Aber die Industrialisierung 9 Hunt, »Industrialization and Regional Inequality«. 10 Devine, »Scotland«, 400. 11 C.N. Parkinson (Hg.), The Trade Winds, 1793–1814, London 1948, zitiert nach O’Brien, »Consolidation and Progress of the British Industrial Revolution«. Eine Fassung dieses Textes wurde im Internet als Arbeitspapier der wirtschaftshistorischen Fakultät der LSE veröffentlicht: http://www2.lse.ac.uk/economicHistory/workingPapers/2011/ WP150.pdf. Zur Wirtschaft Londons: Schwarz, London in the Age of Industrialisation.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

war nicht nur eine Frage der Faktorausstattung. In den Niederlanden lösten recht ähnliche Faktorkosten wie in Großbritannien keine Industrialisierung aus. Geografische Lage, Politik, Institutionen und die mehr oder minder eigenständige Entwicklung von Wissenschaft und Technik spielten ebenfalls eine Rolle. Die industrielle Revolution erschöpfte sich nicht in der Einsparung von Arbeit, oder allgemeiner: der Senkung der Kosten teurerer Faktoren und einer stärkeren Nutzung der günstigeren. Es finden sich viele Beispiele für Bemühungen, Kohle durch effizientere Maschinen einzusparen, obwohl sie relativ billig war, aber ebenso für ihre Verschwendung, weil sie billig war. Die Erfinder selbst sahen ihr vorrangiges Ziel nicht in Arbeitsersparnis.12 Selbst wenn hohe Löhne tatsächlich Mechanisierung auslösten, bleibt die Frage, warum dieser Effekt vor allem in der Baumwollindustrie, ganz besonders in der Wollspinnerei, auftrat.13 Relative Faktorkosten spielten gewiss eine Rolle, aber erklären nicht die ganze Geschichte. Bereits Joseph Needham (1900–1995) wies darauf hin, dass das dicht bevölkerte imperiale China viele arbeitssparende Technologien deutlich früher als sein europäischer Gegenpart entwickelte, und fügte hinzu, es sei »bemerkenswert, dass uns bis jetzt kein einziger bedeutender Fall vor dem 19. Jahrhundert bekannt ist, in dem die chinesische Gesellschaft aus Angst vor technologischer Arbeitslosigkeit eine Erfindung abgelehnt hätte«.14 Insofern ist es bemerkenswert, wie positiv Allen die Auswirkungen hoher Löhne auf die Wirtschaft deutet. Doch die Geschichte der westlichen Industrialisierung als ein positiver Kreislauf, in dem hohe Löhne Innovationen und Innovationen hohe Löhne bewirkten, ist kaum haltbar. Die kapitalistische Wirtschaftsentwicklung des Westens war vielmehr davon geprägt, dass sich die Zentren von Reichtum und Innovation beständig verlagerten. Auch wenn über die letzten tausend Jahre hinweg erstaunliche Kontinuitäten von Reichtum und Armut der Regionen Europas bestanden,15 war ökonomische Vorherrschaft nie etwas, das sich von selbst erhielt. Es gibt mehrere Geschichten von Aufstieg und (relativem) Nie12 Kritisch zu Allens Rekurs auf hohe Löhne und niedrige Energiekosten: Mokyr, Enlightened Economy, 267–272; McCloskey, Bourgeois Dignity, Kap. 22. Zu den unterschiedlichen Gründen, die Erfinder und Innovatoren für ihre Unternehmungen hatten – oder zu haben behaupteten –, vgl. Macleod, Inventing the Industrial Revolution. 13 Mit Parthasarathi würde ich behaupten, dass man einen Teil der Antwort in der Herausforderung durch die indische Textilproduktion suchen muss: Parthasarathi, Why Europe Grew Rich, passim. 14 Needham, Science and Civilization in China, Bd. 7, Teil II, 4. Dies entstammt ursprünglich seinem Artikel »Science and Society in East and West«, der in mehreren Versionen existiert und zuerst 1964 veröffentlicht wurde. 15 Vgl. etwa Polèse, Wealth & Poverty of Regions, Karten 1, 2 und 3.

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Hohe und niedrige Löhne: Anreize und Fallen?

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dergang. Braudel etwa schildert in seiner Analyse des frühneuzeitlichen westlichen Kapitalismus, wie sich Venedig, Antwerpen, Genua, Amsterdam und London nacheinander als wirtschaftliche Zentren ablösten, und für die Phase seit dem Ersten Weltkrieg hätte er noch New York hinzufügen können.16 Hohe Löhne konnten mitunter zu einer Falle werden wie in Norditalien und auch in den Niederlanden, wo die Reallöhne von 1680 bis 1820 nahezu eingefroren wurden. Dies war im Lauf der Zeit in vielen Regionen der Fall. Allen betrachtet niedrige Löhne als Armutsfalle.17 Doch behindern sie zwangsläufig Innovationen? Es ließen sich mühelos Ausnahmen anführen, und wie wir gesehen haben, würde Mokyr, demzufolge sich »erfolgreiche Ökonomien auf eine elastische Zufuhr billiger Arbeitskräfte stützten«, solche vermeintlichen Ausnahmen vielmehr als Regel betrachten.18 Wie wäre zum Beispiel eine Situation zu deuten, in der Arbeitskraft eindeutig billig ist, aber Handarbeit gleichwohl durch Maschinenfertigung verdrängt wird, so wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als das britische maschinengefertigte Garn die chinesische Handspinnerei nieder zu konkurrieren begann? Hätte dies nicht ein Anreiz für chinesische Unternehmer sein müssen, produktivitätssteigernde Maschinerie zu erfinden oder anzuwenden? Vielleicht war die Situation in China nicht gerade der Einnahme einer Vorreiterrolle förderlich, aber man sollte meinen, dass es mit seinem »unbegrenzten Arbeitskräfteangebot« durchaus für einen Aufholprozess im Sinne von Lewis geeignet gewesen wäre. Auch wenn Investitionen in Maschinen für einen chinesischen Unternehmer damals überaus kostspielig gewesen sein mögen – und das waren sie –, musste dies beispielsweise für einen britischen Unternehmer, der in China investierte, nicht unbedingt der Fall sein. Ceteris paribus wären dieselben Maschinen in Kombination mit billiger Arbeitskraft in jedem Fall produktiver und profitabler gewesen. E.A. Ross schrieb 1914: »Die chinesische Arbeitskraft ist so billig, dass einem Fabrikbesitzer das Wasser im Munde zusammenläuft.«19 Unter ähnlichen Umständen würde man einen gewaltigen Investitionsabfluss aus Hochlohn- in Niedriglohnländer erwarten, die in der Regel über ein »unbegrenztes Angebot« an Arbeitskräften verfügen. Nicht zufällig haben die meisten (neo-)klassischen Ökonomen schon immer gerne eine globale ökonomische Konvergenz vorhergesagt. Tatsächlich gibt es viele Beispiele für Situationen, in denen niedrige Löhne ein Vorteil sind und Investitionen anziehen. Andererseits waren »die sonstigen Umstände« oftmals offenbar 16 17 18 19

Braudel, Sozialgeschichte, Bd. 3, 24–33. Allen, Global Economic History, 13. Vgl. Anm. 9, S. 104. Ross, Changing Chinese, 117.

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nicht »dieselben« und verblieb der Großteil der »modernen« Produktion in Hochlohnländern. Entscheidend, so meine Vermutung, ist nicht die Höhe der Löhne im Vergleich zu anderen Produktionsfaktoren an einem bestimmten Ort, sondern ihre Höhe gemessen an dem, was ihre Empfänger produzieren, also die Produktivität im Vergleich zu der an einem anderen Ort. Wenn Maschinerie, Technik und Wissen grundsätzlich transferierbar sind, die Industrie aber – trotz enormer Lohndifferenzen – überwiegend in Hochlohnländern verbleibt, dann zeigt dies, dass andere Faktoren als die Löhne als solche eine große Rolle spielen müssen. Nötigt uns dies nicht, unter anderem, das von Clark in Farewell to Alms behandelte Problem eingehender zu erörtern – nämlich die Qualität der Arbeitskraft, also ihre Qualifikation, Disziplin etc.? Das Lohnniveau in China in der Phase unmittelbar vor und während der britischen Industrialisierung könnte sich tatsächlich negativ, als Hindernis für eine breite Industrialisierung, ausgewirkt haben. Es für deren Ausbleiben im 19. Jahrhundert direkt verantwortlich zu machen, ergibt meines Erachtens jedoch wenig Sinn. Bevor ausländische maschinengefertigte Güter auf den chinesischen Markt strömten, konkurrierten Chinas Unternehmer vor allem untereinander oder allenfalls mit anderen Unternehmern, denen es ebenfalls an moderner Maschinerie mangelte. Warum niedrige Löhne sie per se von dem Versuch abgehalten haben sollten, neue Maschinen oder Werkzeuge zu erfinden oder wenigstens anzuwenden, erschließt sich mir nicht, zumal dann nicht, wenn man die gewaltige Größe des chinesischen Binnenmarktes bedenkt. Selbst wenn es eine Gleichgewichtsfalle auf hohem Niveau gegeben haben sollte – heißt das, dass jegliche Art von Innovation undenkbar war? Sind überhaupt keine Innovationen vorstellbar, die es chinesischen Herstellern ermöglicht hätten, ihre Kosten zu senken oder gar ihre Konkurrenten – beinahe ausnahmslos Chinesen, die »chinesische« Löhne zahlen mussten – auf dem einheimischen, von ausländischen Waren praktisch abgeschirmten Markt zu unterbieten, so wie es britische Unternehmer in Großbritannien taten, wo die Löhne höher waren? Waren profitable arbeitssparende Innovationen unmöglich, nur weil Arbeitskraft billig war? Es gibt gute Gründe, dies zu bezweifeln. In unterschiedlichen Wirtschaftssektoren des China der Qing, etwa im Kupferabbau, der Bewässerung und sogar im Kohlebergbau, wären Innovationen auch bei den gegebenen niedrigen Löhnen profitabel gewesen. Selbst Elvin, der den Ausdruck »Gleichgewichtsfalle auf hohem Niveau« geprägt und seine Logik überzeugend dargelegt hat, räumt ein, er frage sich, warum Innovationen im China der Qing so selten waren.20 Das Land steckte nicht in einer

20 Vgl. etwa Elvin, Another History, Kap. 2 und 3.

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Hohe und niedrige Löhne: Anreize und Fallen?

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Armutsfalle und es litt auch nicht per se unter Kapitalmangel.21 Ceteris paribus hätte es prinzipiell zumindest für ausländische Investoren sehr attraktiv sein müssen, Maschinerie aus ihren Hochlohnländern in Länder wie China zu verlagern.

21 Zur Untermauerung dieser These, vgl. etwa Lippit, Economic Development of China, sowie S. 262–263.

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8. Arbeitsextensive und -intensive Pfade zum Wachstum?

Der Zusammenhang zwischen niedrigen Löhnen und der (Nicht-)Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums erfordert offenbar eine genauere Betrachtung. In jüngerer Zeit hat es in der Debatte über Industrialisierung und modernes Wirtschaftswachstum – zweifellos aufgrund des ostasiatischen Wirtschaftswunders und des Aufstiegs von Ländern wie Brasilien – insofern eine Wendung gegeben, als relativ niedrige Löhne und eine relativ hohe Arbeitsintensität nun in einem positiveren Licht gesehen werden – als ein spezifischer arbeitsintensiver Pfad zum Wachstum. Ich konzentriere mich im Folgenden auf das wichtigste und meistdiskutierte Beispiel, den sogenannten ostasiatischen Entwicklungspfad, dem insbesondere in der Takeoff-Phase eher Züge einer industrious revolution, also einer »Revolution des Fleißes«, als einer industrial revolution, einer industriellen Revolution, bescheinigt werden, und auf die davon zweifellos beeinflussten heutigen Debatten von Wissenschaftlern über die britische industrielle Revolution. Im 19. Jahrhundert, als die große Kluft zwischen Arm und Reich entstand, verfügte sowohl die chinesische wie die japanische Wirtschaft über relativ wenig Ressourcen und ein großes Arbeitskräfteangebot. In China verhinderten einige Besonderheiten der Ökonomie jedoch (noch) den Beginn einer breiten arbeitsintensiven Industrialisierung, die im Grunde erst nach 1978 einsetzte. Im Folgenden wird deshalb Japan im Mittelpunkt stehen, jenes Land, für das die Begriffe »Revolution des Fleißes« und »arbeitsintensive Industrialisierung« ursprünglich geprägt wurden. In die Wirtschaftsgeschichte wurde der Begriff des ostasiatischen Entwicklungspfads von dem japanischen Wissenschaftler Akira Hayami eingeführt, der ihn zunächst mit Blick auf die ökonomischen Entwicklungen in Tokugawa-Japan prägte, später aber weiter fasste.1 Seine Auffassungen wurden von Kaoru Sugihara stark popularisiert und sind heute unter Wirtschaftshistorikern, die sich mit der ökonomischen Entwicklung Asiens befassen, sehr verbreitet.2 1 Vgl. etwa Hayami, »A Great Transformation«; ders., »The Industrious Revolution«; ders., »Industrial Revolution versus Industrious Revolution«. 2 Vgl. insbesondere Sugihara, »Labour-Intensive Industrialization in Global History«; ders., »The State and the Industrious Revolution in Tokugawa Japan«, GEHN Working Paper 2, London, London School of Economics 2004; ders., »East Asian Path of Economic

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Arbeitsextensive und -intensive Pfade zum Wachstum?

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Nach Sugiharas Auffassung müssen Theorien der Industrialisierung berücksichtigen, dass sich asiatische Länder auf andere Weise(n) industrialisieren oder industrialisierten als der Westen. Es sei heute klar, dass Industrialisierung in unterschiedlichen Kulturen und bei einer Vielfalt von Faktorausstattungen stattfinden könne. Die klassische, westliche Interpretation habe das Kapital stets stärker als die Arbeit beachtet. Wenn von der Industrialisierung westlich-kapitalistischer Ökonomien die Rede sei, gehe es in der Regel um Sparen und Investitionen, Kapitalgüter, Fabriken und Skaleneffekte; in Analysen des ersten, westlichen Pfads zur Industrialisierung habe der Akzent durchweg auf kapital- und ressourcenintensiver Technologie gelegen. Der Arbeitskraft wurde dabei laut Sugihara eine recht unproblematische Rolle beigemessen: Sie war vorhanden, homogen und verfügbar. Der Aufstieg Ostasiens offenbare jedoch einen grundlegend anderen, »ostasiatischen« Weg zur Industrialisierung, bei dem die Arbeitskraft stärker zum Einsatz komme und in geringerem Maß durch Kapital ersetzt werde. Diese arbeitsintensive, auf Fleiß beruhende Industrialisierung betrachtet Sugihara ausdrücklich als Alternative zur industriellen Revolution, wie sie im Westen stattfand. Im Stadium des Take-offs bleibe dabei die Familie, insbesondere der bäuerliche Haushalt, die dominierende, Arbeit bindende Einheit der Produktion. Spezialisierung finde innerhalb dieser Produktionseinheit – dem Haushalt – und vorwiegend auf dem Land statt, nicht wie im Westen vor allem zwischen Regionen und indem die Individuen, insbesondere in den Städten, unterschiedliche Qualifikationen erwerben. Die ostasiatische Industrie sei häufig auf dem Land angesiedelt, kleiner und zugleich arbeitsintensiver und produktiver pro Kapitaleinheit als die auf größerer Stufenleiter produzierende westliche Industrie. Diese unterschiedlichen Produktionsweisen führt Sugihara auf unterschiedliche Faktorausstattungen zurück: Hochlohnländer, also Länder mit relativ knappem Arbeitskräfteangebot, werden eine kapitalintensive, Niedriglohnländer mit relativ großem Arbeitskräfteangebot eine arbeitsintensive Wirtschaft entwickeln; Regionen, deren Industrialisierung auf Arbeitsintensität beruht, werden arbeitsintensive Güter exportieren und kapitalintensive importieren. Der westliche kapital- und arbeitsintensive Pfad ist laut Sugihara und einigen seiner Kollegen nicht der einzig mögliche. Die globale Ausbreitung der Industrie sei jedenfalls durch die Entwicklung arbeitsintensiver und ressourcensparender Technologien ermöglicht worden, die gegenwärtig den Großteil der weltweiten Industriebeschäftigung prägen, bei der billige Arbeitskraft mit westlicher Technologie kombiniert werde. Angesichts der gewaltigen Bevölkerungsgröße Asiens Development«. Vgl. auch Pomeranz, »Is There an East Asian Development Path?«, sowie Saito, »An Industrious Revolution in an East Asian Market Economy?«. Sehr informativ ist Austin/Sugihara, Labour-Intensive Industrialization in Global History.

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könne man behaupten, dass dieser spezifische Industrialisierungspfad, nicht der sogenannte westliche, der bis heute wichtigste Weg gewesen sei, auf dem die Menschheit der malthusianischen Falle der Überbevölkerung entfliehen konnte. Der Vorstellung von einem spezifisch ostasiatischen Entwicklungspfad liegt meist eine bestimmte Deutung der westeuropäischen Industrialisierung zugrunde. Deren Kapitalintensität wird dabei meines Erachtens über- und ihre Arbeitsintensität unterschätzt, zumindest was ihren Beginn betrifft. Der Kontrast zwischen den Anfängen der Industrialisierung in Großbritannien und in »Ostasien« war jedenfalls weniger stark, als dabei unterstellt wird. Wie bereits angedeutet, hat das Bild der britischen Industrialisierung in den letzten Jahrzehnten mehrere bedeutende Änderungen erfahren. Dazu zählt die Einsicht, dass die Kapitalintensität im herstellenden Gewerbe niedriger war und große Fabriken weniger verbreitet waren, als das traditionelle Bild der industriellen Revolution nahelegt, in dessen Vordergrund mechanisierte Großproduktion, also Dampfkraft und Fabriken, stand und demzufolge ein plötzlicher, fundamentaler Wandel stattfand. Wie heute anerkannt wird, war die Fabrikproduktion weitaus weniger vorherrschend und wurde das Gewicht unterschiedlicher Arten von flexibler Produktion, die Fabrik-, Schwitzbuden- und Heimarbeit kombinierten, bislang deutlich unterschätzt.3 Kurz: Was in Großbritannien und vielen anderen europäischen Ländern, aber auch in den Vereinigten Staaten während der ersten Stadien der Industrialisierung geschah, ähnelte dem asiatischen Modell oftmals wesentlich stärker, als Sugihara cum suis mit ihrer Ost-West-Dichotomie annehmen. Diese Dichotomie ist ohnehin recht problematisch, da ein einheitlicher westlicher Weg zur Industrialisierung gar nicht existiert, wie bereits ein Vergleich der britischen, französischen und deutschen Wirtschaftsgeschichte im langen 19. Jahrhundert hinreichend verdeutlichen würde. Dass Japan und auch China eine Revolution des Fleißes durchliefen, steht außer Zweifel, aber wie immer klarer wird und vor allem von De Vries in einigen Publikationen gezeigt wurde, fand eine solche in der frühen Neuzeit und vermutlich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein auch in Westeuropa statt.4 Es gibt eindeutige Anzeichen dafür, dass der Umfang der Arbeit in den Jahrhunderten vor der Industrialisierung und während ihrer ersten Dekaden in Westeuropa substanziell zunahm. Paolo Malanima kommt in seinem Überblick über die vormoderne europäische Wirtschaft zu dem Er-

3 Hudson, »Industrial Organisation and Structure«. Eine auf ganz Europa bezogene Analyse bietet Sabel/Zeitlin (Hg.), World of Possibilities. 4 Nähere Daten bietet De Vries, Industrious Revolution, Kap. 3.

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Arbeitsextensive und -intensive Pfade zum Wachstum?

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gebnis: »Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Zahl der Arbeitstage in Europa vom 16. bis zum 18. Jahrhundert etwa um 15 Prozent stieg.«5 Ein größerer Teil der Bevölkerung begann zu arbeiten, und es wurde länger und härter gearbeitet. Im Zeitraum von 1750 bis 1850 nahm die Arbeitszeit von Männern im Erwerbsalter schätzungsweise um 20 bis 35 Prozent zu. Die Zahl der jährlichen Arbeitsstunden in der Industrie erreichte 1830 mit 3500 ihren Höchstwert – das ist doppelt so viel wie heute in England üblich.6 Ein sehr beträchtlicher Teil dieser zusätzlichen Arbeit entfiel auf das Heimgewerbe, in dem insbesondere bäuerliche Familien zunehmend Handwerksprodukte für den Markt herstellten. Während der frühen Neuzeit war dies ein Phänomen wahrhaft globalen Ausmaßes. Es existierte in mehreren Varianten: dem Verlagssystem, bei dem Handelskapitalisten Rohmaterial lieferten und später die fertigen Erzeugnisse einsammelten, einem System, bei dem Kaufleute nur das Geld vorlegten und die Produzenten selbst Einkauf der Rohmaterialien und Verkauf der Produkte übernahmen, und dem sogenannten Kaufsystem, bei dem die Produzenten als selbstständige Käufer und Verkäufer agierten. In den 1970er und 1980er Jahren fand insbesondere mit Blick auf das frühneuzeitliche Europa eine Debatte darüber statt, ob man dieses Heimgewerbe, in erster Linie das Verlagssystem, als eine Form von Protoindustrie, also als erste Stufe der Industrialisierung werten sollte.7 Die Theorie der Protoindustrialisierung, die eine recht simple und lineare Entwicklung vom Handwerk über das Verlagssystem zur Fabrik unterstellte, erwies sich jedoch als unhaltbar. Im Kontext unserer Erörterung eines mutmaßlich asiatischen, über eine Revolution des Fleißes führenden Wegs zur Industrialisierung ist dies natürlich signifikant. Denn das ländliche Heimgewerbe bildete in der Geschichte Westeuropas zwar mitunter tatsächlich eine Art Vorstufe der industriellen Produktion, sehr häufig tat es dies jedoch nicht und erwies sich vielmehr als Sackgasse, als ein von jener Involution, die als ein gravierendes Problem der frühneuzeitlichen Wirtschaft Chinas beschrieben worden ist, kaum unterscheidbarer Weg in die Armut.8 Das im China der Qing vorherrschende System des Heimgewerbes lässt sich besser

5 Malanima, Europäische Wirtschaftsgeschichte, 176. 6 Voth, »Living Standards and the Urban Environment«, 277–278. Langfristige Daten speziell zu England finden sich in Allen/Weisdorf, »Was There an ›Industrious Revolution‹?«. Vgl. auch Muldrew, Creation of Industriousness. 7 Mendels, »Proto-Industrialization«. 8 Einen allgemeinen Überblick bietet Ogilvie/Cerman (Hg.), European ProtoIndustrialization. Eine kritische Auswertung des britischen Falls unternimmt Hudson, »Industrial Organisation and Structure«, insbesondere 29–34. Malanima lehnt die Protoindustrialisierungsthese klar ab. Vgl. Europäische Wirtschaftsgeschichte, Kap 5.2.5, 5.4.1 and 5.4.3.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

als ein individuelles Kauf- und Verkaufssystem charakterisieren, was hier bedeutet, dass zentrale Koordinierung und Finanzierung sowie Kapitalakkumulation eine weitaus geringere Bedeutung hatten als in dem in Westeuropa weitverbreiteten Verlagssystem. Das machte einen Übergang zur wirklichen Industrialisierung noch unwahrscheinlicher als in Europas Protoindustrie. Jan de Vries weist in diesem Zusammenhang auf Unterschiede zwischen den Revolutionen des Fleißes in Nordwesteuropa und seinen nordatlantischen Ablegern einerseits und im übrigen Europa sowie Ostasien andererseits hin. Im ersten Fall sei Fleiß mit verstärktem Konsum einhergegangen, im zweiten dagegen nicht oder in weitaus geringerem Maße, während dort ein deutlich stärker involutionärer Weg eingeschlagen worden sei.9 In sämtlichen Weltregionen mit wachsender Bevölkerung wurde die Arbeitsintensität gesteigert, um der Tendenz zu nachlassender Grenzproduktivität in der Landwirtschaft entgegenzuwirken. Dies war auch in Westeuropa der Fall, auch wenn Ostasien offenbar durchweg den höchsten Grad der Arbeitsintensität aufwies. De Vries zufolge entsprang der nordwesteuropäische Arbeitsfleiß jedoch weniger Beschränkungen auf der Angebotsseite als Bedürfnissen auf der Nachfrageseite: »Konsumbedürfnisse bildeten ein wichtiges Motiv dafür, die produktiven Ressourcen des Haushalts strategisch einzusetzen.«10 Diese vom Konsum motivierte Revolution des Fleißes begann in Nordwesteuropa und blieb lange Zeit auch auf diese Region und die nordamerikanischen Siedlungen begrenzt. Nordwesteuropa bot ein kapitalstarkes Umfeld, in dem Haushalte oder einzelne Haushaltsmitglieder sich aufgrund vielfältiger Faktor- und Warenmärkte spezialisieren konnten. Da sie viele Möglichkeiten hatten, Arbeitskraft abzustoßen oder anzuheuern und zu einem Kettenglied der immer stärkeren Arbeitsteilung zu werden, konnten die Haushalte ihre Produktivität steigern. In jedem Fall bedeutete die von De Vries beschriebene Revolution des Fleißes in diesen Regionen eindeutig eine Steigerung der Gesamtproduktivität durch Vertiefung und Optimierung der Arbeitsteilung und Verwendung von Arbeitskraft auf ertragsreichere Tätigkeiten. Sie vollzog sich nicht nur und nicht einmal in erster Linie durch härtere Arbeit, sondern durch eine weitreichende Spezialisierung, die durch Markterweiterungen ermöglicht wurde und die Produktivität steigerte. Adam Smith hätte dies für gut befunden. In Japan dagegen lebten noch 1879 nur 5 Prozent der Erwerbsbevölkerung von Lohnarbeit; in China dürfte dieser Wert ähnlich niedrig gewesen sein. Von den bäuerlichen Haushalten wurde kaum Arbeitskraft freigesetzt oder angestellt. In diesem

9 De Vries, »Industrious Peasants«. Ich paraphrasiere diesen Text hier; nachgewiesen werden nur wörtliche Zitate. 10 Ebd., 108.

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Arbeitsextensive und -intensive Pfade zum Wachstum?

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ostasiatischen Kontext, ebenso wie im Großteil Europas jenseits des Nordwestens, waren Nebenbeschäftigungen eher Teil einer Überlebensstrategie, die der schlichten Notwendigkeit zusätzlicher Arbeit entsprang, und hatten mehr mit Selbstausbeutung zu tun als mit einer Wachstumsstrategie. De Vries’ komparative Analyse des Arbeitsfleißes ostasiatischer Bauern lässt nirgends erkennen, dass er diese Revolution des Fleißes in irgendeinem Sinn als Beginn des Prozesses modernen Wachstums versteht, zumindest nicht in der von ihm ausdrücklich behandelten Phase. Auf Sugiharas These, dass die arbeitsintensive Industrialisierung die Qualität der Arbeitskräfte allmählich verbessert habe und so der »wichtigste Weg, auf dem die Menschheit der malthusianischen Falle der Überbevölkerung und der ricardoschen Falle steigender Nahrungsmittelpreise entfliehen konnte«, geworden sei, bezieht er sich nur beiläufig.11 Für welche Regionen und Sektoren De Vries’ optimistische Interpretation der Revolution des Fleißes Geltung beanspruchen kann, ist bis heute umstritten. Er selbst beschränkt sie, wie bereits angedeutet, auf Nordwesteuropa und seine nordatlantischen Ableger, wo ein realer Entwicklungs- und Wachstumsschub erfolgt sei. In diesen außergewöhnlichen Regionen bedeutete sie laut De Vries mehr Fleiß, Dynamik und Entwicklung. Insgesamt herrscht jedoch, selbst mit Blick auf Europa, eine recht negative Interpretation vor. Malanima behauptet, zumindest auf dem Land sei die vermehrte Arbeit überwiegend schlichter Not entsprungen: »Die Bauern wurden ›arbeitsam‹, weil ihnen keine andere Wahl blieb.«12 Für das ländliche Großbritannien kommen Allen und Weisdorf zum gleichen Ergebnis, während sie die Situation in den Städten wie De Vries beschreiben, der größere Arbeitsfleiß demnach also in einem positiven Zusammenhang mit weitreichenden Veränderungen des Konsumverhaltens stand.13 Vermutlich kann je nach den Umständen – genau wie in der Debatte über Protoindustrialisierung – sowohl die positive wie die negative Sichtweise zutreffen. Sugiharas recht positive Deutung der ostasiatischen Revolution des Fleißes als eines spezifischen Wegs zu modernem Wachstum bedarf insofern einiger Einschränkungen. Die Industrialisierung, wie sie in Großbritannien begann, unterschied sich von der späteren Industrialisierung in Teilen Asiens. Doch wie sich mit der Zeit sehr deutlich in Japan zeigte, genügte allein härteres und fleißigeres Arbeiten auch in Ostasien nicht, um zu wirklichem Wohlstand zu gelangen. Um ein westliches Wohlstandsniveau zu er11 Dies behauptete Kaoru Sugihara in seinem Paper, »Labour-Intensive Industrialization in Global History«, präsentiert auf der 13. International Economic History Conference in Buenos Aires, 2001. 12 Malanima, Europäische Wirtschaftsgeschichte, 282. 13 Allen/Weisdorf, »Was There an ›Industrious Revolution‹?«.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

reichen und der Armut tatsächlich zu entfliehen, war mehr erforderlich. Während der ersten Stadien der Industrialisierung passte Japan westliche Technologien seiner Niedriglohnökonomie so an, dass sie kosteneffektiv wurden, und schlug vermutlich tatsächlich einen arbeitsintensiven Pfad ein. Nach 1945 jedoch ging es zu sehr kapitalintensiven Technologien über und baute sehr kapitalintensive Industrien auf. Erst jetzt begann das Land, den Westen im Wohlstandsniveau wirklich einzuholen. Die gegenwärtige Industrialisierung in China beruht auf zwei Säulen: Sie kombiniert Kapital- und Arbeitsintensität.14 Tab. 28: Ländervergleich: reales BIP in internationalen Dollars (1990) pro Kopf Jahr

Japan

China

Vereinigtes Königreich

Niederlande

1700

570

600

1.250

2.130

1820

669

600

1.706

1.838

1913

1.387

552

4.921

4.049

1950

1.921

448

6.939

5.996

1973

11.434

838

12.025

13.082

2003

21.218

4.803

21.310

21.480

Quelle: Maddison, Contours of the World Economy, 382.

Das japanische Pro-Kopf-Einkommen erreichte erst 1950 das britische Niveau der 1830er Jahre und lag selbst noch dann unter dem der Niederlande im Jahr 1700. Das wirkliche japanische Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte nicht auf Arbeitsintensität. In China war die Situation noch düsterer. Das Realeinkommen pro Kopf betrug dort noch 1973 weniger als die Hälfte des niederländischen zweieinhalb Jahrhunderte zuvor (2130 Dollar von 1990). Der ostasiatische Pfad zur Industrialisierung scheint somit eher ein temporäres, unter Umständen zum Take-off führendes Zwischenstadium zu sein als eine wirkliche Alternative zur westlichen Industrialisierung.15 Nach einer gewissen Zeit genügt Fleiß allein nicht mehr zur Steigerung der Produktion. Um das im Westen zur Normalität gewordene Wohlstandsniveau zu erreichen, sind gewaltige Inputs an Energie und moderner Technologie unabdingbar. Japan hat sich in dieser Hinsicht dem Rest der industrialisier14 Sehr knapp hierzu: Allen, Global Economic History, 122–123, 135–137, 140. 15 Zum Energieverbrauch Japans während der frühen Industrialisierung: Minami, Power Revolution.

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Arbeitsextensive und -intensive Pfade zum Wachstum?

ten Welt angeglichen – im Wohlstand und im Energieverbrauch und der Kapitalintensität. Die meines Erachtens besten Gradmesser der Energieoder Arbeitsintensität sind die verbrauchte Energiemenge oder die Zahl der Arbeitsstunden pro internationalem Dollar Realeinkommen. Gegenwärtig (2012) verbraucht China pro internationalem Dollar Realeinkommen mehr Energie als viele westliche Länder. Tab. 29: Energieverbrauch und Realeinkommen Land

Energieverbrauch pro Kopf (in Kilogramm Öl)

Realeinkommen pro Kopf (in % des Prokopfeinkommens in den USA)

U.S.A.

7051

Frankreich

3970

72,4

Deutschland

3889

79,3

Japan

3788

71,5

Vereinigtes Königreich

3183

75,7

China

1695

16,1

100

Quelle: The Economist. Pocket World in Figures 2013 Edition. (Alle Angaben beziehen sich auf das Jahr 2010.)

Die arbeitsintensive Industrialisierung scheint zudem kein eigenständiger Pfad zu sein, sondern eher eine zeitweilig gegebene Möglichkeit, die sich gerade der Tatsache verdankt, dass der Westen mit der Industrialisierung zu einer Hochlohnregion wurde. Denn dadurch entstand in Entwicklungsländern Raum für eine auf billiger Arbeitskraft basierende Massenproduktion einfacher Waren. Doch die Strategie einer einfachen Steigerung der Arbeitsund Kapitalinputs muss ceteris paribus früher oder später zu sinkenden Erträgen führen. Eine substanzielle und dauerhafte Steigerung des Wohlstands erfordert technische Innovation und den Einsatz erheblicher Energiemengen. Durch niedrige Löhne und Fleiß wird niemand wirklich reich. So mag man zwar auf einen Weg in Richtung Wohlstand gelangen, aber ein hohes BIP erfordert per definitionem – insbesondere in Ländern mit relativer gleicher Einkommensverteilung – hohe Durchschnittslöhne. Damit soll der ostasiatische Entwicklungspfad nicht abgewertet werden: Eine globale Ausbreitung der Industrialisierung scheint tatsächlich nur durch arbeitsintensive Industrien möglich zu sein, und diese beschäftigten und beschäftigen weiterhin Millionen von Menschen. Die Debatte über arbeitsintensive Industrialisierung ist bislang nicht besonders intensiv und systematisch geführt worden. Um sie abzuschließen

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

oder wenigstens auf eine solidere Grundlage zu stellen, bedürfte es eines systematischen Vergleichs der Arbeits-, Kapital- und Energieintensität von Ländern je real produzierter Einheit. Insbesondere Sugihara führt immer wieder eine spezifische Qualität des Arbeitsinputs in der ostasiatischen Industrialisierung an, die er aber nirgends systematisch mit der angeblich ganz anderen Situation im Westen vergleicht. Gab oder gibt es im Grad von Ausbildung, Disziplin, Fleiß, formeller oder informeller Bildung zu Beginn der Industrialisierung tatsächlich Unterschiede zwischen westlichen und ostasiatischen Ländern, wie Sugihara beharrlich erklärt und den Osten dabei klar im Vorteil sieht?16 Das scheint mir zweifelhaft.

16 Vgl. beispielsweise Sugihara, »Labour-Intensive Industrialization«.

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Humankapital: Arbeitskraft und Qualifikation

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9. Humankapital: Arbeitskraft und Qualifikation

Dies bringt uns zur Bedeutung der Qualität der Arbeitskraft, ein Thema, das heute unter dem Stichwort Humankapital im Zentrum von Wirtschaftsdiskursen über Wachstum und Entwicklung steht. Eine wachsende Zahl von Wissenschaftlern, Unternehmern und Politikern bezeichnet die »moderne«, »entwickelte« Wirtschaft als »Wissensökonomie«, deren Wachstum wesentlich auf Wissenszuwächsen und Innovationsfähigkeit beruhe. Wie erwähnt, arbeiten viele Vertreter der neuen Wachstumstheorie vor allem daran, Innovation in das Wirtschaftssystem zu endogenisieren. Das ist natürlich nur bei ausreichend qualifizierten Arbeitskräften möglich. Wie kaum überrascht, wird die Rolle des Humankapitals auch im Hinblick auf die Great Divergence diskutiert – auch wenn die Mitglieder der kalifornischen Schule, was sehr bemerkenswert und nach meiner Auffassung unbegreiflich ist, sie meist vollständig ignorieren, mit der wichtigen Ausnahme Jack Goldstones allerdings. Wissenschaftler wie André Gunder Frank, Robert Marks, Kenneth Pomeranz oder Roy Bin Wong befassen sich nirgends mit Fragen wie Lesen, Schreiben und Rechnen, der Ausbildung von Fertigkeiten oder damit, wie unterschiedlichste Arten von Wissen und seiner Anwendung entstehen. Offenbar handelt es sich dabei aus ihrer Sicht um bloße Epiphänomene, um automatische Reaktionen auf offenkundige Herausforderungen. Auch hier bestehen verblüffende Differenzen zwischen dem wirtschaftswissenschaftlichen Denken, das Wissen zunehmend als zentral für Wachstum begreift, und der globalen Wirtschaftsgeschichte, deren Vertreter in erstaunlich vielen Fällen Faktorausstattungen und -preise betonen, Wissen hingegen (fast) vollständig ignorieren. Konsens scheint darüber zu bestehen, dass Lesen, Schreiben und Rechnen sowie unterschiedlichste für Industrialisierungs- und Wachstumsprozesse unabdingbare Qualifikationen im 18. und 19. Jahrhundert nirgends auf der Welt so verbreitet waren wie in Nordwesteuropa.1 Robert Allen behauptet dies explizit, führt es aber weniger – wie es einer alten Tradition entspräche – auf den Protestantismus zurück als auf die Existenz einer kommerziellen Ökonomie mit hohem Lohnniveau, in der man für eine Bildung bezahlen 1 Einen allgemeinen Überblick über die Situation in Westeuropa bietet Reis, »Economic Growth, Human Capital Formation and Consumption in Western Europe«.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

konnte, die ihrerseits zu einem höheren Einkommen führte.2 Eine neuere Untersuchung von zwei Ökonomen deutet allerdings darauf hin, dass protestantische Regionen und Länder bei Bildung und Alphabetisierung wohl doch im Vorteil gewesen sein könnten.3 Für unseren Versuch, die Vorreiterrolle Großbritanniens zu erklären, sind diese unterschiedlichen Einschätzungen jedoch unerheblich: Großbritannien war eine protestantische, kommerzielle Ökonomie mit hohem Lohnniveau. Seine Alphabetisierungsraten, wenn auch sicher nicht die höchsten, lagen im europäischen Spitzenfeld.4 Tab. 30: Alphabetisierung in Europa, 1500 und 1800: Prozentualer Anteil der erwachsenen Bevölkerung, der mit eigenem Namen unterschreiben konnte. Land

1500

1800

6

53

Niederlande

10

68

Belgien

10

49

Deutschland

6

35

Frankreich

7

37

Österreich/Ungarn

6

21

Polen

6

21

Italien

9

22

Spanien

9

20

England

Quelle: Allen, Global Economic History, 25.

Mir ist keine Studie bekannt, in der die nordwesteuropäischen Alphabetisierungsraten nicht als die höchsten der frühneuzeitlichen Welt gelten würden, auch wenn sich für Tokugawa-Japan ebenfalls recht hohe Werte finden. Zu Beginn der Meiji-Restauration im Jahr 1868 betrug sie dort bei Männern schätzungsweise 40 bis 45 Prozent, bei Frauen 13 bis 17 Prozent.5 Für das China des späten 18. Jahrhunderts wird sie für Männer auf rund 15 Prozent geschätzt. Der Alphabetisierungsgrad von chinesischen Frauen war deutlich niedriger; zu Beginn des 19. Jahrhunderts bewegte er sich zwischen 2 und 2 Allen, Global Economic History, 26. Seine Bemerkungen zu Bildung und Alphabetisierung aus weltwirtschaftlicher Perspektive finden sich im Sachregister unter dem Stichwort »education and literacy«. 3 Becker/Wössmann, »Was Weber Wrong?«. 4 Vgl. beispielsweise Allen, Global Economic History, 25; Mitch, »Education and Skill of the British Labour Force«, 334–335, 351, Van Zanden, Long Road to the Industrial Revolution, 193. 5 Passin, Society and Education in Japan, 44–47.

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Humankapital: Arbeitskraft und Qualifikation

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10 Prozent. Der Wert für Männer betrug noch in den 1930er Jahren nur rund 30 Prozent.6 In Europa wurden nach heutigen Erkenntnissen auch deutlich mehr Bücher publiziert und gelesen als im Rest der Welt.7 Und selbst wenn die absolute Zahl von Publikationen in Nordwesteuropa nicht höher als anderswo gewesen wäre: Texte, die nützliches und gesichertes Wissen enthielten, das unmittelbar relevant war für die Steigerung und Verbesserung der Produktion – ihrer Qualität wie Effizienz –, waren dort allen uns verfügbaren Belegen zufolge verbreiteter als in jedem anderen Teil der Welt. Zumindest eine interessante Hypothese in diesem Kontext ist ferner Alfred Crosbys Behauptung, das quantitative Denken sei schon im 16. Jahrhundert im Westen verbreiteter gewesen als sonst irgendwo auf der Welt.8 Westeuropa war auch die erste Region, die unterschiedlichste Arten von Zeitungen kannte, deren Zahl bis zum Beginn der Industrialisierung deutlich zunahm. Einige Zahlen für Großbritannien aus Roy Porters hochinformativem Buch über die britische Aufklärung ergeben ein deutliches Bild: Während der 1620er Jahre wurden rund 6000 Titel in England gedruckt, in den 1710er Jahren waren es fast 21.000 und in den 1790er Jahren mehr als 56.000 Bücher und Broschüren, zusammengerechnet erschienen von 1660 bis 1800 mehr als 300.000 Titel, von denen schätzungsweise 200 Millionen Exemplare verkauft wurden. In den 1770er Jahren, als es neun Londoner Tageszeitungen und fünfzig regionale Wochenzeitungen gab, war die jährliche Gesamtauflage der Zeitungen auf über 12 Millionen, bis 1800 auf rund 16 Millionen gestiegen. Damals erschienen in England 250 Zeitschriften. Von der dritten Ausgabe der Encyclopaedia Britannica (1787–1797) wurden 10.000 Exemplare gedruckt.9 Die Unterschiede zu China oder auch der islamischen Welt sind beeindruckend. In Westeuropa gab es mehr reguläre und öffentliche Schulen, mehr Systeme der Berufsausbildung und der Lehre bei den Gilden und mehr Universitäten – im 18. Jahrhundert rund 150 in ganz Europa.10 Es kamen zahlreiche Fachpublikationen für Handwerker auf den Markt, die ihnen bei der Vorbereitung auf die Meisterprüfung und bei der Erfüllung der Qualitätsstandards der Gilden halfen. Gewöhnlich enthielten sie eine Mischung aus praktisch-technischem Know-how und wis6 Nach Clark, Farewell to Alms, 265–266, der sich auf Daten stützt in Rawski, Education and Popular Literacy in Ch’ing China, 17–18, 90, 140. 7 Vgl. etwa Baten/Van Zanden, »Book Production and the Onset of Modern Economic Growth«; Buringh /Zanden, »Charting the ›Rise of the West‹«; Van Zanden, Long Road to the Industrial Revolution, Kap. 2 und 6. Einen allgemeineren Überblick bietet Burke, Papier und Marktgeschrei; ders., A Social History of Knowledge, Bd. 2. 8 Crosby, Measure of Reality. Eine Analyse und Kritik dieses Buchs bietet Goldstone, »Whose Measure of Reality?«. 9 Porter, Enlightenment, 73–92. 10 Huff, Intellectual Curiosity, 305–307.

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senschaftlichen Elementen und setzten viel implizites Wissen voraus. Aber sie förderten zweifellos die Handwerkskunst. Festgelegt wurde nicht so sehr, was produziert werden sollte, als vielmehr die Qualitätsstandards der Produktion. Qualifizierte Handwerker konkurrierten mitunter erbittert darum, wer der Lehrling des anderen und wer der Meister sein durfte. In dieser Hinsicht muss sich die Existenz von Gilden und unterschiedlichsten Handwerkerorganisationen ebenso positiv auf das Qualifikationsniveau ausgewirkt haben wie die Tradition der Wanderschaft, auf der man sein Handwerk lernte. Der Wirtschaftshistoriker Jan Luiten van Zanden hat auf die interessante Tatsache hingewiesen, dass der sogenannte Qualifikationsbonus – das aufgrund bestimmter Fertigkeiten zusätzlich erzielte Einkommen – in Westeuropa niedriger war als im Rest der Welt, was ihm zufolge zeigt, dass die Arbeitskräfte dort insgesamt qualifizierter waren, die Haushalte Zugang zu relativ effizienten Arbeits- und Kapitalmärkten hatten und die Institutionen für die Bildung von Humankapital gut funktionierten.11 Das relativ hohe Heiratsalter und die Tatsache, dass es recht verbreitet war, vor der Ehe mehrere Jahre Lohnarbeit zu verrichten, erleichterten es, unterschiedlichste Qualifikationen und etwas Kapital zu erwerben, um bei der Eheschließung einen eigenen Haushalt zu gründen. Arbeitsmärkte für qualifizierte Arbeitskräfte verbesserten die Möglichkeiten zur Spezialisierung und die Effizienz der Allokation von Arbeit. Man sollte die intellektuellen und qualifikatorischen Anforderungen während der ersten Phasen der Industrialisierung allerdings nicht übertreiben. Für einen Take-off brauchte es genügend Unternehmer, die in der Lage waren, Fabriken oder andere große Firmen zu leiten, Erfinder und Innovatoren und qualifizierte Mechaniker, die mit der Maschinerie umgehen konnten. Großbritannien verfügte über eine ausreichende Zahl an Unternehmern, Erfindern und Innovatoren und – was meines Wissens kein Forscher bestreitet – über mehr qualifizierte Mechaniker als jedes andere Land auf der Welt. Mehr Menschen hatten dort an einer »wissenschaftlich-technischen« Kultur teil als irgendwo anders. Auch die Beziehungen zwischen »Unternehmern« und »Ingenieuren« waren enger als im Rest der Welt.12 1790 existierten in Großbritannien bereits 220 Akademien für die Förderung von Technik und Wissenschaft. Mitte des 19. Jahrhunderts zählte das Land 1020 Vereinigungen für Technik und Wissenschaft mit rund 11 Mehrere Aufsätze aus globaler komparativer Perspektive zum Qualifikationsbonus und allgemeiner zu Humankapital im vorindustriellen Europa finden sich in Van Zanden, Long Road to the Industrial Revolution, insbesondere Kap. 5. Ich paraphrasiere hier S. 175. Vgl. auch ders., »Skill Premium«. 12 Mokyr, Enlightened Economy; Jacob, Scientific Culture.

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Humankapital: Arbeitskraft und Qualifikation

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200.000 Mitgliedern.13 Aber es soll hier nicht behauptet werden, dass massenhafte Bildung eine notwendige Voraussetzung für den britischen Take-off gewesen wäre oder es generell eine simple Korrelation zwischen der Qualität des Schul- oder Bildungswesens und der Wahrscheinlichkeit eines Take-off gegeben habe. Wie erwähnt, gab es Länder mit einer höheren Alphabetisierungsrate, aber bezeichnend ist vor allem, dass laut David Mitch noch 1841 nur 5 Prozent der Arbeiter und 2 Prozent der Arbeiterinnen einer Tätigkeit nachgingen, für die sie tatsächlich des Lesens und Schreibens kundig sein mussten.14 In den ersten Phasen der Industrialisierung fand insgesamt sogar eine spürbare Dequalifizierung der Arbeitskraft statt, da Maschinerie und Fabrikdisziplin viele Tätigkeiten einfacher und nicht anspruchsvoller machten. Die moderne Wissenschaft unterteilt die industrielle Revolution meist in zwei Phasen: »eine erste, gekennzeichnet durch einen Qualifikationen ersetzenden technischen Wandel und minimale Bildungsanforderungen, und eine zweite, in der der technische Wandel die Nachfrage nach Humankapital steigert, da Qualifikationen ein Produktionserfordernis geworden sind«.15 Die britischen Ausgaben für formelle Bildung waren überraschend niedrig und stiegen während des 19. Jahrhunderts nur sehr moderat. Offenbar war informelle Bildung ebenso wie eine bestimmte technische, aufgeklärte Kultur der Situation adäquat. Dass die Begabten Aufstiegschancen hatten, dürfte sich ebenfalls positiv ausgewirkt haben.16 Und von grundlegender Bedeutung war schließlich die Tatsache, dass das britische politische System von 1750 bis 1850 den technischen Fortschritt mit Nachdruck förderte.17 Darin bestand ein deutlicher Unterschied zur Situation außerhalb Europas. In der neuesten Analyse der Ursachen der ersten industriellen Revolution, die Humankapital – und soziales Kapital – an oberste Stelle setzt, verbindet Leonard Dudley viele der erwähnten Elemente. Er versucht zu erklären, wieso die Innovationsrate in den anderthalb Jahrhunderten von 1700 bis 1850 in bestimmten Regionen Großbritanniens – und Frankreichs und der Vereinigten Staaten – steil anstieg.18 Wie er ausdrücklich festhält, war dies in den Niederlanden, die anfangs sowohl reicher als auch stärker alphabetisiert 13 Musson/Robinson, Science and Technology, 58, und Inkster, Science and Technology, 73, 78–79. 14 Mitch, Popular Literacy, 14–15. 15 Becker/Hornung/Wössmann, »Education and Catch-up in the Industrial Revolution«. 16 Mitch, »Education and Skill«. Zur Rolle von Gilden bei der Ausbildung: Humphries, »Rent Seeking or Skill Creating?«. Für die Tätigkeiten, die die sogenannte zweite industrielle Revolution auszeichneten, etwa in der chemischen Industrie und der Stromerzeugung, war das britische informelle Qualifizierungssystem nicht länger angemessen. 17 Mokyr, Lever of Riches, 256. 18 Dudley, Mothers of Innovation.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

waren als Großbritannien und Frankreich, nicht der Fall, ebensowenig wie in anderen europäischen Ländern, etwa Deutschland, Belgien und den skandinavischen Ländern oder sonst irgendwo auf der Welt. Auch wenn Dudley dem Vorhandensein eines bestimmten institutionellen Rahmens, billiger Energie und qualifizierter Arbeitskräfte sowie von Märkten mit einer gewissen Größe durchaus Bedeutung beimisst, bietet ihm zufolge keiner dieser Faktoren für sich genommen eine befriedigende Erklärung. Die letztgültige, fundamentale Erklärung müsse daher anderswo gesucht werden. Laut Dudleys lässt sich die zunehmende Innovationsrate in den genannten Regionen auf die Ausdehnung sozialer Netzwerke der Kooperation und des Vertrauens zurückführen, die den Argwohn unter den Menschen zurückgedrängt hätten. Innovation gedeiht ihm zufolge in einem Kontext von Offenheit, Vielfalt und Kooperation. Erfolgreiche, bedeutende Erfindungen und Innovationen seien meist nicht das Ergebnis der Anstrengungen isolierter, erbittert konkurrierender Menschen, sondern von Synergien. Mit Malcolm Gladwell nennt er drei Personentypen, die unerlässlich seien, um aus neuen Ideen bedeutende Innovationen zu machen: Experten, Vermittler und Verkäufer. Der Experte sammelt Informationen und teilt sie freiwillig mit anderen. Der Vermittler besitzt eine Gabe dafür, Menschen zusammenzubringen, damit sie ihren gemeinsamen Interessen nachgehen können. Der Verkäufer überzeugt Menschen von einer bestimmten Botschaft, der sie anfangs skeptisch gegenüberstehen.19 In den von Dudley untersuchten Regionen gab es solche Personen in außerordentlicher Zahl, und überdies konnten sie – was ihm zufolge von allergrößter Bedeutung war und den wichtigsten neuen Gesichtspunkt seines Ansatzes darstellt – von der Tatsache profitieren, dass sie eine standardisierte Landessprache teilten. Mit dieser Akzentsetzung baut Dudley auf Überlegungen auf, die er für einen wesentlich breiteren Kontext bereits in Information Revolutions in the West formuliert hatte.

19 Gladwell, Tipping Point.

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Humankapital: Arbeitskraft und Disziplin

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10. Humankapital: Arbeitskraft und Disziplin

Es ist oft behauptet worden, im Westen seien die Arbeitskräfte disziplinierter und fleißiger gewesen und folglich produktiver geworden als in anderen Teilen der Welt. David Landes formuliert dies recht deutlich: Was zählt, sind Arbeit, Sparsamkeit, Redlichkeit, Geduld, Beharrlichkeit. […] Zu viele von uns arbeiten, um zu leben, und leben, um glücklich zu sein. Daran ist nichts auszusetzen. Nur fördert es nicht unbedingt eine hohe Produktivität. Wenn man allerdings eine hohe Produktivität will, dann sollte man leben, um zu arbeiten, und das Glück als einen Nebeneffekt nehmen. Das ist nicht leicht. Menschen, die leben, um zu arbeiten, sind eine kleine und glückliche Elite.1

Dass Disziplin und Disziplinierung in der hier erörterten Periode und bereits davor, während der frühen Neuzeit und nach Auffassung mancher Autoren sogar schon im Hochmittelalter, von grundlegender Bedeutung für die westliche Gesellschaft waren, ist unbestreitbar. Mit vielen unterschiedlichen Bezeichnungen sind recht ähnliche oder zumindest verwandte Formen sozialer Disziplinierung beschrieben worden: Max Weber sprach von »Rationalisierung«, Norbert Elias vom »Prozess der Zivilisation«, Michel Foucault von »Disziplinierung« und »Normalisierung« und viele andere Wissenschaftler von einer »Reform« und »Verbesserung« der Sitten. Diese Prozesse betrafen Menschen als Untertanen und Gläubige, als Beamte und Angehörige des Militärs, als Teil einer laut diversen Eliten reformbedürftigen Volkskultur und auf viele andere Weisen.2 Besonders interessant aus Sicht des Wirtschaftshistorikers sind die zahlreichen Initiativen zur Erzeugung ei1 Landes, Wohlstand und Armut, 524–525. Niall Ferguson rechnet eine westliche »Arbeitsethik« zu den »Killerapplikationen«, die dem Westen zu Reichtum und Vorherrschaft verholfen hätten. Vgl. Ferguson, Der Westen und der Rest, Kap. 6. Zum Begriff »Killerapplikation«: 44. 2 Die Menge an Literatur über soziale Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa ist überwältigend. Verwiesen sei nur auf die folgenden, bereits etwas älteren Überblicksarbeiten: Burke, Helden, Schurken und Narren; mehrere Publikation von Robert Muchembled, ursprünglich auf Französisch erschienen, darunter Kultur des Volks – Kultur der Eliten; Spierenburg, Cultural and Anthropological History of Pre-Industrial Europe. Besonders faszinierend fand ich in diesem Kontext Bauer/Matis, Geburt der Neuzeit. Eine neuere Studie ist Gorski, Disciplinary Revolution. Zu Arbeit und der Situation in Großbritannien: Gauci (Hg.), Regulating the British Economy.

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ner disziplinierten Arbeitsbevölkerung. Solche Anstrengungen wurden umso dringlicher und fielen umso mehr in den Bereich staatlicher Maßnahmen, je verbreiteter Lohnarbeit außerhalb der Familie wurde. Vorstellungen über Arbeit, Muße und Armut wandelten sich und wurden gezielt korrigiert.3 Der Gedanke, dass Arbeit ein Beruf, vielleicht sogar Berufung, in jedem Fall aber eine Pflicht sei, wurde allmählich vorherrschend. Überall in Europa wurden Arbeits- und Armenhäuser, Gefängnisse und ähnliche Einrichtungen zur »Besserung« derer geschaffen, die dies nicht verstanden hatten.4 Sie wurden zur Arbeit gezwungen, um »gelehrige Körper« zu schaffen, wie Foucault formulierte.5 Betteln und Landstreicherei wurden strafbare Vergehen. Nicht zu arbeiten, galt als Verbrechen. So breiteten sich in Nordeuropa die Strafanstalten aus. In Deutschland und Österreich entstanden zahlreiche Zuchthäuser, in den Niederlanden die entsprechenden tuchthuizen. In England verfügte 1750 beinahe jede Marktstadt und jeder industrialisierte Landkreis über ein eigenes Arbeitshaus. Wenn es die Untertanen zu disziplinieren und aktivieren und eine »Verbesserung der Sitten« herbeizuführen galt, waren die europäischen Staaten alles andere als untätig. Diese Maßnahmen, die Armut und neue Konsummuster führten dazu, dass die Zahl der Arbeitenden, die von ihnen geleisteten Arbeitsstunden sowie die Intensität der Arbeit stiegen. Mit der Entstehung der Fabrik wurde die Verfügung über disziplinierte Arbeitskräfte, die in England nicht zufällig oft factory hands hießen, noch dringender und noch systematischer darauf hingewirkt. Eine Fabrik ohne Disziplin ist unvorstellbar. Es gibt umfangreiche Literatur darüber, wie wichtig disziplinierte Belegschaften für die moderne Industrie sind. Wissenschaftler wie Stephen Marglin meinen sogar, Fabriken seien primär zu dem Zweck geschaffen worden, sicherzustellen, dass die »Bosse« tatsächlich den Produktionsprozess kontrollieren und ihre Arbeiter disziplinieren können.6 Diese Art von Disziplin geht immer mit einer effizienten Nutzung von Zeit einher. Nur wenn man Zeit exakt messen kann, ist eine exakte Messung 3 Einen breiten Überblick bietet Lis/Soly, Worthy Efforts. 4 Ein allgemeiner Überblick hierzu: Jutte, Poverty and Deviance. 5 Foucault, Überwachen und Strafen, 135–170. 6 Einführende Literatur zur Disziplinierung von Arbeitskraft im Allgemeinen sowie den mit der Disziplinierung von Fabrikarbeitern verbundenen Schwierigkeiten im Besonderen, unter besonderer Berücksichtigung Großbritanniens (in alphabetischer Reihenfolge): Biernacki, Fabrication of Labour; Deakin/Wilkinson, Law of the Labour Market; Gauci (Hg.), Regulating the British Economy; Furniss, Position of the Laborer in a System of Nationalism; Lis/Soly, Poverty and Capitalism in Pre-Industrial Europe und Worthy Efforts, Kap. 7, besonders 468–478; Marglin, »What Do Bosses Do?«; Pollard, Genesis of Modern Management; Rule, Labouring Classes in Early Industrial England; Steinfeld, Invention of Free Labour; Thompson, Entstehung der englischen Arbeiterklasse; ders., »Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus«; Vogt, Time and Work in England.

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der Arbeitsproduktivität möglich. Nicht zufällig wurde die Uhr für viele Arbeiter zum Symbol für die Fabrik. Wie bereits Lewis Mumford formulierte: »Die Uhr, nicht die Dampfmaschine, ist der entscheidende Apparat des modernen Industriezeitalters«7 – und dies nicht nur als Prototyp der Maschine, sondern auch als Voraussetzung für eine effiziente Ordnung des Alltagslebens. Dass Zeit, Zeiterfassung und in zunehmendem Maß Zeitersparnis im Westen zu einer Obsession wurden, ist von vielen westlichen Wissenschaftlern bemerkt worden.8 Auch in dieser Hinsicht war das 18. Jahrhundert ein Zeitalter immer rascheren Wandels. Über die Situation in Großbritannien schreibt Douglas Allen: Am Ende des [18., PV] Jahrhunderts, gewiss aber Mitte des 19. Jahrhunderts waren Armbanduhren nicht nur auf die Minute genau, sondern auch für gewöhnliche Menschen erschwinglich geworden. Abweichungen in der Zeitmessung sanken von 1750 bis 1850 praktisch auf null. Zum ersten Mal in der Geschichte bedeutete es tatsächlich etwas, wenn man jemandem sagte, er solle zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sein.9

In diesem Kontext kann auch auf die Standardisierung von Maßen und Gewichten verwiesen werden, ein weiteres Beispiel für die von Weber beschriebene effizienzsteigernde Rationalisierung des Lebens.10 Besonders in Großbritannien wurden viele Maßnahmen zur Standardisierung von Produktion und Produkten interessanterweise deshalb eingeführt, weil das existierende System der Steuererhebung es erforderte.11 Das gilt auch für zahlreiche Maßnahmen, die das System der Grundsteuer rationalisierten und stärker auf eine Art Kataster gründeten.12 Generell wuchs das Interesse an Untersuchungen, dem Sammeln von Informationen, an Statistiken, öffentlichen Daten und der Bestimmung ökonomischer Fakten.13 Wie wichtig der Staat

7 Mumford, Technics and Civilization, 14–15. 8 Ich verweise nur auf Landes, Revolution in Time; die Aufsatzsammlung von Le Goff, Für ein anderes Mittelalter, sowie natürlich Thompson, »Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus«, für Entwicklungen zu Beginn der Industrialisierung. 9 Allen, Institutional Revolution, 31. Weitere Kommentare dazu auf 28–31. 10 Zu Europa: Roland Wenzlhuemer, »Die Geschichte der Standardisierung in Europa«, Europäische Geschichte Online (2010), http://www.ieg-ego.eu/de/threads/trans nationale-bewegungen-und-organisationen/internationalismus/roland-wenzlhuemerdie-geschichte-der-standardisierung-in-europa, mit zahlreichen Literaturhinweisen. Zu Großbritannien: Hoppit, »Reforming Britain’s Weights and Measures«; ausführlicher: Velkar, Markets and Measurements. 11 Ashworth, Customs and Excise, Teil 5. 12 Kain/Baigent, The Cadastral Map. In dieser Hinsicht war Großbritannien alles andere als ein Pionier. 13 Zur Einführung: Headrick, When Information Came of Age; Poovey, History of the Modern Fact. Speziell zu Großbritannien: Higgs, Information State in England; Palmer,

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und seine Maßnahmen dabei waren, liegt auf der Hand. Viele europäische Herrscher des 18. Jahrhunderts, namentlich die »aufgeklärten«, hätten dem Habsburger Kaiser Joseph II. zugestimmt: »Will man Länder gut regieren, muss man sie zunächst genau kennen.«14 Westliche Disziplin, Arbeitsamkeit und Pünktlichkeit wurden in Diskussionen über einen westlichen Sonderweg schon immer ausgiebig angeführt. Bemerkenswerterweise hat kürzlich auch ein Autor wie Prasannan Parthasarathi, der nicht gerade ein leidenschaftlicher Verfechter der These eines europäischen Sonderwegs ist, auf die Tatsache hingewiesen, dass die Arbeitskräfte im Westen »mit Erfolg« einer wesentlich strengeren Disziplin unterworfen worden seien als in Indien, und er ist eindeutig der Auffassung, dies trage zur Erklärung bei, wieso Europa zu Reichtum gelangte und Indien nicht.15 Gregory Clark ist hier noch deutlicher. Ihm zufolge mangelt es den Arbeitern in armen Ländern an den Qualitäten »Disziplin und Engagement« und müssen »Differenzen in der Arbeitsproduktivität von Gesellschaften aus der unterschiedlichen Qualität der in der Produktion eingesetzten Arbeitskräfte resultieren, also aus Differenzen, die vorwiegend dem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld entspringen«. Über die Situation in Indien schreibt er: »Die sozial verursachte Lethargie, von der die indischen Arbeitskräfte befallen waren, könnte durchaus gesellschaftlich verbreitet gewesen sein: Wäre die Unzulänglichkeit auf die Ränge der indischen Manager und Unternehmer beschränkt gewesen, dann hätte man diese Inputs relativ leicht importieren können«.16 Zunehmender Fleiß als solcher war gewiss kein ausschließlich europäisches Phänomen. Doch meiner Ansicht nach arbeiteten die Menschen in Europa in einem Umfeld, das sich von anderen Regionen oftmals substanziell unterschied. Beschränken wir uns wiederum auf den Vergleich von Großbritannien und China. Auch der chinesische Staat war durchaus darauf bedacht, seine Bevölkerung zu disziplinieren und zu erziehen, aber aus einer wirtschaftlichen Perspektive betrachtet waren die entsprechenden Maßnahmen westlicher Staaten wichtiger, weil sie – welchen sonstigen Absichten sie auch gedient haben mögen – klar auf Effizienz zielten, während es in China, vereinfacht gesagt, vor allem um Anstand ging. Chinas Regierung zeigte sich Economic Arithmetic; Rothschild, »The English Kopf, 1832«. Sehr interessant für den niederländischen Fall ist Lesger, Rise of the Amsterdam Market. 14 Zitiert nach Kain/Baigent, The Cadastral Map, 195. 15 Parthasarathi, Why Europe Grew Rich, bspw. 146–147. Wie genau und in welchem Ausmaß dies einen Unterschied machte, führt er allerdings nicht aus. 16 Clark, Farewell to Alms, 15, 352, 365. Vgl. auch Clark/Feenstra, »Technology in the Great Divergence«. Welche Rolle Qualifikationen und Disziplin in Ländern gespielt haben, die eine nachholende Entwicklung zu vollziehen versuchten, erörtert Amsden, Rise of the Rest, 46–49.

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zweifellos interessiert am Verhalten seiner Arbeitsbevölkerung. Diese war jedoch eine ganz überwiegend ländliche, die ihre Arbeit im Rahmen der Haushaltsökonomie verrichtete. Auch dort gab es ein Regiment der Disziplin. Es oblag jedoch dem (männlichen) Haushaltsvorstand, dem dafür per Gesetz nahezu uneingeschränkte Freiheiten gegeben waren, nicht irgendeiner fremden Person oder einem abstrakten Staat.17 In Großbritannien war es normal, mit oder für Menschen außerhalb der Familie zu arbeiten; in China war es das eindeutig nicht. Proletarische Lohnarbeit, in Großbritannien bereits im 18. Jahrhundert von einem beträchtlichen Teil der Arbeitsbevölkerung verrichtet, war im China der Qing nahezu unbekannt.18 Mit Blick auf die ländlichen Haushalte förderten Chinas Herrscher systematisch die klassische Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern: Die Frauen sollten spinnen und weben, die Männer das Land bestellen.19 Abgesehen von der Frage, wie erfolgreich sie war, drückt sich in einer solchen Empfehlung meines Erachtens weit eher ein Interesse an Anstand und Tradition als an ökonomischer Effizienz aus. Das Problem besteht wie so oft darin, wie sich Disziplin in einer messbaren, verifizierbaren Weise auf Wachstum und insbesondere das moderne Wachstum beziehen lässt. Angenommen wir akzeptierten den Befund, dass die Produktivität der britischen und der indischen Baumwolltextil- und Eisenbahnarbeiter – bei identischer Maschinerie und ähnlichem Management – zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar deutlich voneinander abwichen (das Beispiel, auf das sich Clark hauptsächlich stützt), dann lautet die entscheidende Frage natürlich, wie weit die 1913 mehr als 7:1 betragende Kluft zwischen dem realen BIP pro Kopf der beiden Länder durch eine solche unterschiedliche Qualität der Arbeitskräfte erklärt werden kann. Auch wenn Clark behauptet, der Gesamtoutput pro Person sei in Großbritannien achtmal so hoch gewesen wie in Indien und die Gesamteffizienz der britischen Wirtschaft – die Menge des Outputs pro Einheit aller Inputs – rund fünfmal so hoch, scheint diese Frage weiter offen zu sein.20

17 Vgl. beispielsweise Wolf, »Europe and China: Two Kinds of Patriarchy«, und De Moor/Van Zanden, »Girl Power«. 18 Näher hierzu: Teil 2, Kap. 23. 19 Zur These eines starken kulturellen Drucks, Frauen im Haus zu halten, vgl. beispielsweise Huang, Peasant Family and Rural Development (Stichwort »women«); Mann, Precious Records, Kap. 6; Goldstone, »Gender, Work and Culture«. Einige Beispiele bietet auch Vries, Zur politischen Ökonomie des Tees, 112. Eine weniger negative Interpretation, die betont, dass Frauen – inner- wie außerhalb des Haushalts – mehr als ihren Teil zur Produktion beitrugen, vertreten Bray, Technology and Gender, und Pomeranz, »Women’s Work, Family and Economic Development«. Robert Gardella weist darauf hin, dass in der Teeproduktion viele Lohnarbeiterinnen tätig waren: Harvesting Mountains, 172–173. 20 Clark, Farewell to Alms, 328–351; Zahlen auf 336.

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11. Konsum

Immer mehr Forscher gelangen zu der Erkenntnis, dass man sich bei der Untersuchung des modernen Wirtschaftswachstums und seiner Entstehung nicht auf die Angebotsseite beschränken kann, sondern auch den Konsum berücksichtigen muss. Das ist natürlich kein origineller Gedanke. Bereits in den 1930er Jahren befasste sich Elizabeth Gilboy mit der Rolle der Nachfrage für die industrielle Revolution, und in den 1970er Jahren verglich Joel Mokyr in einer Art Replik auf Gilboy das Gewicht von Angebot und Nachfrage hinsichtlich des modernen Wirtschaftswachstums.1 Einige der gegenwärtig interessantesten Debatten über die Ursprünge dieses nachhaltigen Wachstums widmen sich explizit der Bedeutung des Konsums und sprechen dabei oftmals sogar von einer »Revolution«, die der industriellen Revolution voraus- und/oder mit ihr einhergegangen sei. Veränderungen der Konsummuster hin zu halbluxuriösen, von breiten Schichten nachgefragten, in jedem Fall aber neuen Gütern waren in der frühen Neuzeit ein globales Phänomen. Um nur einige Beispiele außerhalb des Westens zu nennen: Auch im Japan der Tokugawa und in den Reichen der Qing, der Osmanen und der Safawiden wandelten sich die Konsummuster.2 Was den Westen, und wiederum ganz besonders Großbritannien, aus meiner Sicht dabei jedoch auszeichnete, waren die von diesem Wandel ausgehenden klaren Anreize zu einer Veränderung der Produktion, insbesondere durch Importsubstitution. Diese Bezeichnung wird hier mangels einer besseren Alternative verwendet, 1 Vgl. Gilboy, »Demand as a Factor in the Industrial Revolution«, und Mokyr, »Demand versus Supply in the Industrial Revolution«. Eine sehr kompakte Kritik der Erklärung der industriellen Revolution durch die Nachfrageseite bietet ders., »New Economic History and the Industrial Revolution«, 59–66. 2 Jan de Vries sieht den Zusammenhang von Fleiß und vermehrtem Konsum in der frühen Neuzeit auf Nordwesteuropa und die nordamerikanischen Siedlungen beschränkt. Christopher Bayly tendiert dagegen zu der Auffassung, dass das Phänomen – wenn auch in Grenzen – auch in China und Japan auftrat: Geburt der modernen Welt, 68–72. Vgl. zu China auch Pomeranz, Great Divergence, Kap. 3; zur Ming-Ära Publikationen von Timothy Brook und Craig Clunas, zur Qing-Ära von Antonia Finnane sowie die etwas ältere Studie von Adshead, Material Culture in Europe and China. Zu Japan: Francks, Japanese Consumer. Zum Osmanischen Reich, vgl. etwa Quataert (Hg.), Consumption Studies and the History of the Ottoman Empire. Zum Safawiden-Reich: Matthee, Pursuit of Pleasure.

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Konsum

denn in Wirklichkeit umfasste dieser Prozess weit mehr als nur eine Substitution. Es handelte sich dabei nicht um einen mechanischen Reflex, sondern um eine bewusste Entscheidung für eine bestimmte Strategie, deren Wahl nicht zwingend war und die auch hätte scheitern können. Tatsächlich gab es zwei Varianten, auch wenn der Ausdruck gewöhnlich nur der ersten, der direkten Importsubstitution, gilt. In diesem Fall bewirkte der Import von Fertigwaren einen Reallokationsprozess der Arbeit im Inland, um die importierten Güter selbst herzustellen. Einen ähnlichen Beweggrund – Verringerung der Abhängigkeit von Importen – hatten die westlichen Bemühungen, Zugriff auf die Produktion der importierten Rohmaterialien zu bekommen. Ein Beispiel dafür wäre die Gründung von Plantagen in den Kolonien – oder auch sonst in der »Peripherie«, wo der Zugriff informeller, aber zweifellos gegeben war. Den merkantilistischen Regierungen in Europa – und das waren in der frühen Neuzeit beinahe alle – widerstrebte es, Güter zu importieren, zumal dann, wenn diese einen hohen Wertzuwachs verkörperten und/oder als Luxusgüter galten. Folglich versuchten sie, solche Importe wenn möglich zu verbieten, auf ein Minimum zu reduzieren oder am besten durch Produkte aus dem Inland zu ersetzen. So gelang es Großbritannien, das tatsächlich eine wesentlich systematischere und erfolgreichere merkantilistische Politik als Frankreich betrieb, nach einer ausgedehnten Phase des Protektionismus, mehrere zuvor aus Indien, China und Schweden importierte Güter – etwa Baumwoll- und Seidentextilien, Porzellan und Eisen – im Inland zu produzieren. Zudem begann es, die Produktion einiger ausländischer Rohwaren selbst in die Hände zu nehmen: Zucker kam nun aus der Karibik, und etwas später, ab den 1840er Jahren, ersetzte Tee aus Britisch-Indien und Ceylon den Tee aus China, während Indigo nun aus Bengalen und nicht mehr aus den ehemaligen Kolonien in Nordamerika importiert wurde. Indien entwickelte sich für Großbritannien im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem wichtigen Lieferanten von Rohbaumwolle. Diese systematische Politik der Importsubstitution und Marktmanipulation durch Zölle, Einfuhrverbote und Steuern auf Verbrauch und Produktion ist ein überaus wichtiges und spezifisches Merkmal des westeuropäischen Merkantilismus; sie wurde insbesondere – und am erfolgreichsten – von Großbritannien betrieben.3 Ihre Bedeutung für die Industrialisierung ist kaum zu überschätzen. Da Ökonomen und Wirtschaftshistoriker jedoch dazu neigen, solchen »merkantilistischen« Maßnahmen einen zwangsläufig negativen Wachstumseffekt zuzuschreiben, sind systematische und detaillierte Untersuchungen darüber, wie sie in 3 Zur diesbezüglichen Manipulation durch Zölle, Einfuhrverbote und Steuern: Ashworth, Customs and Excise; Nye, War, Wine, and Taxes; O’Brien, »Taxation for British Mercantilism«; ders., »Triumph and Denouement of the British Fiscal State«.

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Großbritannien und einigen anderen Fällen durchaus erfolgreich sein konnten, bis heute rar gestreut. Eine interessante – und relevante – Frage lautet natürlich, ob und mit welchen Ergebnissen solche Strategien auch in anderen Teilen der Welt ausprobiert wurden bzw. welche Gründe es hatte, falls dies nicht der Fall war. Beschränken wir uns auch hier auf einen Vergleich zwischen Großbritannien und China, wobei wir annehmen, dass unsere Befunde für China – und sei es in etwas geringerem Maß – meist auch für andere asiatische Reiche gelten. In China gab es kaum Importe, die man hätte substituieren können. Betrachten wir nur die Fertigerzeugnisse für den Massenkonsum, dann waren Importe unerheblich. Das Gros der relativ geringen Importe Chinas aus dem Westen entfiel auf Silber sowie ab 1800, als das Silber aus dem Land abzufließen begann, auf Opium. Nach einem Ersatz für das erste Produkt wurde gar nicht erst gesucht, und ein solcher hätte vermutlich ohnehin kaum Industrie hervorgebracht. Im zweiten Fall geschah dies zwar, was aber nur bedeutete, dass in China mehr Opium angebaut wurde. Dieser Fall ist auch deshalb interessant, weil sich hier eine deutliche Parallele zu Entwicklungen in Nordwesteuropa ziehen lässt. Laut mehreren Forschern war der enorme Anstieg des Opiumkonsums, insbesondere unter den Eliten, weithin von yanghuo re, dem »starken Verlangen nach ausländischen Dingen« getrieben, ähnlich der Faszination, die »exotische« Güter auf europäische Verbraucher ausübten.4 Kurz: In China brachten Importe keine direkten positiven Folgen oder Herausforderungen für das herstellende Gewerbe mit sich. Es ist sogar – meines Erachtens mit Recht – auf einen möglicherweise negativen Effekt der gewaltigen Silberimporte auf die chinesische Wirtschaft hingewiesen worden: Die Chinesen mussten große Mengen von Waren produzieren, bloß um »Geld« (Silber) zu bekommen, das sie auch nahezu umsonst hätten drucken können.5 Die Nachfrage nach »Luxusgütern« konnte weitgehend durch inländische Produkte oder bestimmte Exotika aus anderen Teilen Asiens gedeckt werden.6 Da China Baumwolle, Seide, Porzellan, Zucker, Tee und Tabak selbst produzierte, bestand hier kein Bedarf an Importen oder dem Erwerb von Kolonien und peripheren Gebieten, um die Produkte dort herstellen zu lassen. Zu keinem Zeitpunkt der hier behandelten Periode betrieb die chinesische Regierung eine Politik der Importsubstitution. Eine solche Politik wurde außerhalb Westeuropas und seiner Kolonien nirgends verfolgt. Im Osmanischen Reich ging die Regierung mitunter sogar so weit, Im-

4 See Zheng Yangwen, The Social Life of Opium, 8. 5 Vgl. etwa Flynn/Giráldez, »Money and Growth without Development«; Xiantang, »Paradoxical Effect of Silver«. 6 Vgl. etwa Tagliacozzo/Chang (Hg.), Chinese Circulations.

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porte aktiv zu fördern, und war jedenfalls nicht durchweg auf deren Einschränkung bedacht.7 Viele neuere Studien befassen sich mit den wirtschaftlichen Effekten des Wandels der britischen Konsummuster und insbesondere mit der Frage, inwieweit er durch seine Auswirkungen auf die Produktion gleichsam ein Auslöser der Industrialisierung gewesen sein könnte. Das Thema ist gegenwärtig in Mode, und die Forschungsergebnisse sind vielversprechend. Die meisten Forscher stimmen darin überein, dass Veränderungen des Konsums, besonders in Großbritannien, solche der Produktion auslösten und zu einer erfolgreichen Importsubstitution führten.8 Der Konsum neuer Waren – die oft sehr hoch besteuert wurden und von anderen Kontinenten kamen – setzt natürlich ausreichende Kaufkraft voraus. Das führt uns zur Frage der Akkumulation: Wie wurden während der ersten industriellen Revolution der Konsum und natürlich auch die Produktion sowie alles, was wir damit assoziieren, finanziert?

7 Vgl. Genç, »Ottoman Industry in the Eighteenth Century«. Im Osmanischen Reich wurde diese Politik ganz ausdrücklich vertreten, aber meines Erachtens war auch sonst keine Region auf der Welt so importfeindlich wie der merkantilistische Westen. Vgl. Vries, »Governing Growth«. Einen knappen Vergleich bietet Pearson, »Merchants and States«. Die unterschiedlichen Reaktionen auf Wollimporte aus Indien in Großbritannien, Frankreich und dem Osmanischen Reich erörtert knapp Parthasarathi, Why Europe Grew Rich, Kap. 5. 8 Als Auswahl aus einer gewaltigen Menge an Literatur nenne ich Berg, Luxury and Pleasure; dies./Eger (Hg.), Luxury in the Eighteenth Century; Brewer/Trentmann (Hg.), Consuming Cultures; ders./Porter (Hg.), Consumption and the World of Goods; Overton, u.a., Production and Consumption; Trentmann (Hg.), Oxford Handbook of the History of Consumption; de Vries, Industrious Revolution. Sehr interessant ist dabei die Rolle der Mode: War der Konsum vom Wandel des allgemeinen Geschmacks geleitet und konnte man nach Belieben kaufen und konsumieren, ohne Einschränkung durch Kleiderordnungen? Zu Textilien, vgl. Belfanti, »Was Fashion a European Invention?«.

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12. Akkumulation, Einkommen und Wohlstand

Die Wirtschaftswissenschaft geht davon aus, dass eine Steigerung der Produktion in der Regel durch zusätzliche Investitionen zustande kommt, die den (fixen) Kapitalstock erweitern oder verbessern. Das Geld für diese Investitionen muss irgendwoher kommen. Wird es nicht geliehen, bleiben Ersparnisse oder allgemeiner Akkumulation, also jegliche »Anhäufung von Ressourcen«, die theoretisch investiert werden können. Um mehr oder bessere Kapitalgüter zu kaufen, braucht man Geld. Daraus abzuleiten, arme Länder seien deshalb arm, weil es ihnen am erforderlichen Kapital mangele und sie so in eine Armutsfalle geraten seien, ist naheliegend. Jahrzehntelang ist die Entwicklungshilfe mit dem Argument verteidigt worden, dass sie den Armen aus dieser Falle helfe, indem sie ihnen zusätzliche Finanzmittel oder Ressourcen gebe oder aber beibringe, wie sie diese selbst erwirtschaften können. Vor der Industrialisierung und dem Beginn des modernen Wirtschaftswachstums waren Boden, Gebäude, Schiffe, Geräte und Tiere die wichtigsten fixen Kapitalgüter. Die meisten Schiffe und Geräte und viele Gebäude wiesen allerdings einen so raschen Verschleiß auf, dass der Unterschied zwischen fixem und flüssigem Kapital eher unscharf war. Der Großteil der Investitionen bestand in flüssigem Handelskapital. Industrialisierung, so die klassische Erzählung, bedeute ein substanzielles Wachstum des gesamten Kapitalstocks, besonders aber von fixem Kapital wie Maschinen, Fabriken und Infrastruktur. Kurz und bündig hat es John Hicks formuliert: »Was in der industriellen Revolution […] des späten 18. Jahrhunderts geschah, war eine spürbare Erweiterung der Bandbreite von fixen Kapitalgütern, die in der Produktion, also außerhalb des Handels, zum Einsatz kamen.«1 Blieb Wachstum aus, dann galt dies folglich als Anzeichen für mangelnde Investitionen. Sofern ausreichende profitable Investitionsmöglichkeiten vorhanden waren, bestand die Lösung hauptsächlich darin, zusätzliche Investitionsmittel zu finden. In den gegenwärtigen Debatten über die Great Divergence spielen unterschiedlichste Arten von »Akkumulation« weiterhin eine Rolle, auch wenn sich viele Studien heute weitaus weniger auf die Frage konzentrieren, »womit das alles bezahlt wurde«. Dass der Akkumulation nach wie vor Bedeu1 Hicks, Theory of Economic History, 142–143.

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Akkumulation, Einkommen und Wohlstand

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tung beigemessen wird, kommt unter anderem in den vielfältigen Versuchen zum Vorschein, den Reichtum verschiedener Weltregionen am Vorabend der ersten industriellen Revolution exakt zu bestimmen. Auch wenn dies nicht ausdrücklich gesagt wird, drängt sich unweigerlich die Vermutung auf, dass solche weltweiten Vergleiche von BIP-Daten und Reallöhnen in der Annahme erfolgen, es habe umfangreicher Ressourcen bedurft, um als erstes Land den Take-off zu vollziehen, und mit dem Reichtum eines Landes steige auch die Wahrscheinlichkeit seiner Industrialisierung. Beide Annahmen sind falsch. Beginnen wir mit der zweiten. Die reichsten Nationen, und erst recht die reichsten Regionen, waren nicht zwangsläufig auch diejenigen, die sich als erste industrialisierten oder ein substanzielles und anhaltendes Wachstum erlebten. Als in Großbritannien die Industrialisierung einsetzte, verzeichneten die Niederlande ein höheres reales Pro-Kopf-Einkommen; 1913 war dies nicht länger der Fall. Mitte des 18. Jahrhunderts war Japan, aller Wahrscheinlichkeit nach, etwas ärmer als China und nicht entwickelter; 1913 hatte sich das Blatt eindeutig gewendet. Im langen 19. Jahrhundert bestand in den meisten Ländern keine starke Korrelation von Wachstum und Reichtum.2 Was die erste Annahme betrifft: Die Geldsummen, die Großbritannien für den Take-off benötigte, waren zunächst keineswegs gigantisch, auch wenn sie im Lauf der Zeit natürlich zunahmen. Rein monetär betrachtet hätten sich mehrere Länder die entsprechenden Investitionen – wenigstens bis zum Eisenbahnzeitalter – leisten können. Es gab eine ganze Reihe von Ländern, die über genügend Geld dafür verfügten und ein ausreichend hohes reales Durchschnittseinkommen aufwiesen, um die für neue Produktionsweisen unverzichtbare Nachfrage zu gewährleisten. Viele Investitionen in Großbritannien wurden aus laufenden Gewinnen finanziert, sodass ihnen keine umfangreiche ursprüngliche Akkumulation vorausgehen musste. Ob Geld in neue Produktionsweisen investiert wurde, war weit eher eine Frage der Allokation von Kapital – welche Alternativen und welche Präferenzen bestanden – als seiner schieren Verfügbarkeit. Einige Zahlen über den Beginn der britischen Industrialisierung können das eindrücklich zeigen. Sehr aufschlussreich ist etwa der folgende Vergleich von John Brewer: Das Kapitalvermögen eines großen Unternehmens im frühen 18. Jahrhundert betrug selten mehr als 10.000 Pfund Sterling. Ambrose Crowleys Hüttenwerk, das damals als ein Wunder galt, umfasste ein fixes Kapital von 12.000 Pfund. Eine solide, mehrstöckige Baumwollspinnerei kostete am Ende des Jahrhunderts gerade einmal 5000 Pfund. Im Vergleich dazu waren Marineschiffe ein kleines Vermögen wert. Im späten 17. Jahrhundert

2 Kumulierte durchschnittliche Wachstumsraten für 20 Länder und regionale Gesamtwerte für den gesamten Zeitraum 0–1998 bietet Maddison, World Economy, 265; BIP-Zahlen auf 264.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

gab die Marine 33.000 bis 39.000 Pfund für ein Schiff ersten Ranges aus, 24.000 bis 27.000 Pfund für ein Schiff zweiten Ranges und 15.000 bis 17.000 Pfund für ein Schiff dritten Ranges. Bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten sich die Kosten für den Bau der größten Schiffe beinahe verdoppelt. Der Bau der Victory im Jahr 1765, eines Schiffs ersten Ranges mit 100 Kanonen, kostete 63.174 Pfund. Selbst die kleineren Schiffe der königlichen Marine waren teurer als die meisten Industriebetriebe.3

Ein voll ausgestattetes Schiff mit 74 Kanonen kostete in den 1780er Jahren gewöhnlich fast 50.000 Pfund.4 Um eine breitere Perspektive zu gewinnen, können drei weitere Vergleiche angeführt werden. Zunächst ein Vergleich mit dem Wert von Zuckerplantagen auf Jamaika. Dort war ein mittelgroßes Anwesen, einschließlich 200 Sklaven, 1774 rund 20.000 Pfund wert. Eine große Plantage mit 300 Sklaven konnte damals rund 30.000 Pfund kosten. Gegen Ende des Jahrhunderts waren manche jamaikanische Zuckerplantagen sogar 70.000 Pfund wert.5 Daneben können wir die Einkommen von staatlichen Amtsträgern für einen Vergleich heranziehen. Die Zahlen beziehen sich auf Großbritannien im Jahr 1773. Die meisten Regierungsbeamten bezogen ein Jahreseinkommen von einigen Hundert Pfund. Ein Minister jedoch bekam jährlich 8000 Pfund und der für die Zolleinnahmen in England und Schottland zuständige Finanzbeamte 2100 Pfund.6 Eine durchschnittliche Arbeiterfamilie in London verdiente damals vielleicht 30 Pfund im Jahr.7 Die Einkommensdifferenzen blieben gewaltig. 1833 erhielt der oberste britische Handelsdirektor in China, William Napier, auf Botschaftsebene ein Jahresgehalt von 6000 Pfund.8 Ein Bauarbeiter in London verdiente damals, bei 300 Arbeitstagen, bestenfalls 50 Pfund im Jahr. Einige Beispiele aus einem ganz anderen Zweig des Staatsdienstes: Als die Briten 1762 die Spanier in Havanna besiegten, bekamen die Heerführer jeweils 70.000 Pfund. 1799 brachten drei Fregatten der königliche Marine zwei spanische Schiffe nach Plymouth. Die Kapitäne erhielten je 40.700 Pfund, jeder Leutnant 5091 und jeder Vizeleutnant 2478 Pfund, die Fähnriche je 791 und die einfachen Seemänner und Soldaten je 182 Pfund. Ein Seemann verdiente

3 Brewer, Sinews of Power, 34. 4 Baugh, »Naval Power«, 238. Ein in Amsterdam gebautes 74-Kanonen-Schiff kostete 1781 schätzungsweise 510.000 Gulden bzw. rund 40.000 Pfund. Vgl. Brandon, Masters of War, 133. 5 Blackburn, Making of New World Slavery, 410, 415, 419. 6 Ni/Van, »High Corruption Income in Ming and Qing China«, Teil 2: »Historische Belege für niedrige Löhne und starke Korruption«. Ein Pfund Sterling entsprach rund 111 Gramm Silber. 7 Angenommen wird dabei, dass der männliche Ernährer rund 250 Tage im Jahr arbeitete und die anderen Familienmitglieder zusammen etwa 25 Prozent seines Einkommens erzielten. 8 Lovell, Opium War.

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Akkumulation, Einkommen und Wohlstand

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damals rund 14 Pfund im Jahr.9 Nehmen wir als ein letztes Beispiel die Einkommen der britischen Adligen im 18. Jahrhundert. Für das späte 17., frühe 18. Jahrhundert reichen die Schätzungen ihres durchschnittlichen Jahreseinkommens von 2800 bis 6030 Pfund, einige Adlige kamen auf mehr als 25.000 Pfund. 1801 hatte ein britischer Adliger durchschnittlich ein Jahreseinkommen von 8000 Pfund, zehnmal so viel wie ein durchschnittlicher Kaufmann. In Großbritannien bestand kein Mangel an Reichen, aber interessanterweise verdienten sie ihr Geld in den meisten Fällen nicht in der Industrie, sondern bis zu den 1840er Jahren im öffentlichen Amt und – meist in Kombination damit – als Grundbesitzer. 1850, um eine letzte Zahl zu nennen, besaßen 7000 Personen vier Fünftel des Bodens auf den britischen Inseln.10 Viele Erfinder/Industrielle gelangten erstaunlicherweise nicht zu Reichtum. Die wirklich großen Vermögen fanden sich weiterhin in anderen Zweigen, in der Landwirtschaft sowie in Handel, Finanzwesen und Staatsdienst. Finanziell gesehen stellte das Geschäft des Krieges alle anderen Geschäfte in den Schatten. Das gilt für alle großen europäischen Länder. Auch hier können John Brewers Zahlen die Situation in Großbritannien verdeutlichen: In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts besaß die britische Marine zwanzig Schiffe ersten und zweiten Ranges, etwa vierzig des dritten sowie 120 kleinere Schiffe des vierten, fünften und sechsten Ranges. Wenn wir annehmen, dass die Kosten des Schiffsbaus seit dem späten 17. Jahrhundert nicht gestiegen waren, dann stellte die gesamte Flotte eine Kapitalinvestition von fast 2,25 Millionen Pfund dar, deren Wiederbeschaffungskosten rund 4 Prozent des Nationaleinkommens entsprachen. Zum Vergleich: Das fixe Kapital in den 243 Baumwollfabriken im West Riding wurde für das Jahr 1800 auf insgesamt 402.651 Pfund geschätzt, was im Durchschnitt 1657 Pfund pro Textilfabrik entspricht. Somit betrug das fixe Kapital in einem der größten Sektoren der wichtigsten Industrie des Landes nur 18 Prozent des fixen Kapitals, das für die britische Marine aufgebracht wurde.11

Die britischen Gesamtausgaben für die Kriege mit Frankreich von 1793 bis 1815 schätzt Peter Mathias auf rund eine Milliarde Pfund, wobei rund 500 Millionen Pfund mobilisierte Ersparnisse waren, die im Laufe von 22 Jahren als Staatsanleihe auf dem langfristigen Kapitalmarkt aufgenommen wurden, während das von 1750 bis 1820 im Kanalwesen akkumulierte Gesamtkapital rund 20 Millionen Pfund betrug. Investitionen in den Transportsektor waren zudem eine der umfangreichsten Formen von produktiver Investition. Die jährlichen Investitionen in das fixe Kapital der gesamten Baumwollindustrie wurden für 1809/10 auf 400.000 Pfund geschätzt. Das war weniger als ein Prozent [sic!, PV] des Militärhaushalts dieses Jahres von 45 Millionen Pfund.12

9 10 194. 11 12

Alle Beispiele nach Allen, Institutional Revolution, 121. Alle Zahlen nach ebd., Kap. 3, 71–76. Zu weiteren beachtlichen Einkommen: 121, Brewer, Sinews of Power, 34–35. Mathias, »Financing the Industrial Revolution«, 72.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Ähnliches ließe sich über das übrige Europa berichten.13 Natürlich könnte man an dieser Stelle eine Debatte darüber führen, wie wachstumsfördernd Militärausgaben waren – eine grundsätzlich sehr schwer zu beantwortende Frage, deren befriedigende Klärung selbst im konkreten Fall höchst kompliziert ist. Die Militärausgaben wurden in Schiffe, Waffen, Munition sowie Löhne und Lebensmittel für militärisches und sonstiges Personal investiert. Ein Teil des investierten Geldes wäre andernfalls vielleicht »unbeschäftigt« geblieben, und es gab Menschen Beschäftigung, die andernfalls vielleicht arbeitslos gewesen wären. Es sind unterschiedlichste Arten von »militärischem Keynesianismus« vorstellbar.14 Zudem konnten solche Investitionen unterschiedlichste Arten direkter und indirekter Kriegsbeute einbringen, zur Eroberung von Märkten und dem Schutz des Handels beitragen oder schlicht unvermeidlich sein, weil man andernfalls schutzlos gewesen wäre. Die Kosten sind offensichtlich. Diese Debatte ist jedoch unerheblich für den Gesichtspunkt, um den es hier geht: Die westeuropäischen Länder litten nicht unter einem Geldmangel, der sie daran gehindert hätte, bereits zu einem früheren Zeitpunkt ihre Industrialisierung zu finanzieren.15 Dass in Großbritannien und später dem Vereinigten Königreich viel flüssiges Kapital vorhanden war, zeigen auch die gewaltigen Staatsschulden, die überwiegend von den eigenen Bürgern getragen und von der Regierung stets zurückgezahlt wurden. Während der gesamten Periode von 1750 bis 1850 lagen sie nie unter dem britischen BIP; unmittelbar nach den Napoleonischen Kriegen waren sie sogar zweieinhalbmal so hoch. Den Großteil der Schulden – in der Regel über 80 Prozent – hielten Briten. Nur zur Verdeutlichung der Größenordnungen einige Zahlen: In der Periode von 1802 bis 1850 betrugen die Staatsschulden des Vereinigten Königreichs durchschnittlich rund 800 Millionen Pfund. Die jährlichen Zinszahlungen, die fast ausschließlich an wohlhabende Briten flossen, beliefen sich auf durchschnittlich 27 Millionen Pfund. 1850 erzielte Großbritannien ein Nationaleinkommen von weniger als 600 Millionen Pfund. Das Einkommen aus Bergbau, Bauwirtschaft und herstellendem Gewerbe betrug insgesamt 179 Millionen 13 Zu den schwindelerregenden Kriegsausgaben europäischer Staaten: Bonney, Economic Systems and State Finance; ders., Rise of the Fiscal State; Storrs (Hg.), Fiscal-Military State; Torres Sánchez (Hg.), War, State and Development. 14 Einen Versuch, die positiven Effekte von Kriegsführung und -vorbereitung auf die britische Industrialisierung nachzuzeichnen, unternimmt O’Brien, »Contributions of Warfare«. Bei der Analyse der Rolle des Staates werden wir auf dieses Thema kurz zurückkommen. 15 Näher hierzu: Vries, »Governing Growth«. Zu den Kriegskosten (Groß-)Britanniens und Chinas, vgl. ders., »Staatsfinanzen Chinas und Großbritanniens«, wo sich in Anm. 15 eine Auswahl aus der enormen Menge an Literatur über die fiskal-militärischen Staaten in Europa und ihre gewaltigen Kriegsausgaben findet.

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Akkumulation, Einkommen und Wohlstand

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Pfund. Mit rund 30 Millionen Pfund waren die Investitionen in den Eisenbahnbau während seiner Blütezeit von 1846 bis 1848 etwa so umfangreich wie die Zinszahlungen des Staates. Die Bruttoinvestitionen in fixes Kapital im Inland und die Nettoauslandsinvestitionen beliefen sich 1860 – für frühere Jahre konnte ich keine Daten finden – zusammen auf rund 90 Millionen Pfund.16 Zu Beginn der Industrialisierung waren die für Investitionen in fixes Kapital erforderlichen Beträge, zumal im Vergleich beispielsweise zu den Kriegskosten, insgesamt recht niedrig und hätten in vielen Ländern durchaus aufgebracht werden können. Dies blieb einige Jahrzehnte der Fall. Gemessen am Nationaleinkommen stiegen die Bruttoinvestitionen in die Kapitalbildung während der Industrialisierung zwar, da nun deutlich mehr Geld investiert wurde – schätzungsweise von 5 bis 6 Prozent in den 1760er Jahren auf 10 bis 12 Prozent ein Jahrhundert später.17 Meines Erachtens war dies jedoch nicht besonders problematisch. Zudem blieb der Anteil des flüssigen Kapitals an den gesamten Kapitalinvestitionen geraume Zeit erstaunlich hoch. 1760 machten Maschinen und Transportmittel lediglich acht Prozent des gesamten fixen Kapitals aus (Wohngebäude nicht eingerechnet). Dessen Großteil bestand somit in Gebäuden. 1830 waren die Kosten des fixen Kapitals auf 14 Prozent und 1975 auf 45 Prozent der gesamten Kapitalkosten gestiegen.18 In der britischen Baumwolltextilindustrie der 1830er Jahre waren es noch lediglich 20 bis 25 Prozent gewesen.19 Großbritannien steckte sicherlich nicht in einer Armutsfalle, ebenso wenig wie andere europäische Länder. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bezogen niederländische Investoren ein Jahreseinkommen von über 50 Millionen Gulden aus ihren Auslandsinvestitionen. Das waren rund 25 Gulden pro Einwohner, zu einer Zeit, als das niederländische Pro-Kopf-Einkommen 150 bis 200 Gulden betrug. Der Wert eines Gulden betrug ungefähr 0,9 Pfund Sterling. Die Auslandsinvestitionen pro Kopf waren Schätzungen zufolge 1,75-mal so hoch wie das BIP pro Kopf. Die niederländischen Gesamtinvestitionen in nationale und ausländische Staatsanleihen, ein weiterer Indikator der Liquidität, beliefen sich auf mehr als 1,5 Milliarden Gulden. Das entspricht 400 Millionen Taels, weit mehr als die jährlichen Gesamteinnahmen 16 Alle Zahlen nach Mathias, First Industrial Nation, 463, 478, 283, 458. 17 Es muss betont werden, dass es sich dabei um Schätzungen handelt, da genaue Berechnungen sehr schwierig sind und eine große Fehlerspanne aufweisen. Der hier angeführte Wert, der sich in der Größenordnung bewegt, die in der einschlägigen Literatur durchweg genannt wird, stammt aus Feinstein/Pollard (Hg.), Studies in Capital Formation in the United Kingdom. 18 Malanima, Europäische Wirtschaftsgeschichte, 372–373. 19 Crouzet, First Industrialists, 9. Mit dem Eisenbahnzeitalter begann sich die Situation natürlich zu ändern.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

der chinesischen Regierung zu dieser Zeit.20 Ein allgemeiner Geldmangel war gewiss nicht der Grund dafür, dass sich die Niederlande erst spät industrialisierten. In allen entwickelteren Ökonomien der Welt des 18. Jahrhunderts war prinzipiell mehr als genug liquides Kapital vorhanden, um Fabriken und all das, was wir mit der ersten industriellen Revolution assoziieren, zu finanzieren. Selbst wenn man den Eliten ihren beachtlichen Konsum und den Regierenden ihre Kriege zugestand, blieben mehr als genügend Überschüsse, um prinzipiell liquide Mittel zu finden. William Easterly betrachtet die Vorstellung einer Armutsfalle als Teil einer Legende, die der Entwicklungshilfe zur Entstehung verhalf und ihr eine Rechtfertigung bot. Dabei bezieht er sich auf die Situation im 20. Jahrhundert, in dem selbst die ärmsten Länder nicht derart arm gewesen seien, dass sie nicht in Entwicklung und Wachstum hätten investieren können.21 Mehr noch gilt dies meines Erachtens für das 18. Jahrhundert, zumindest für diejenigen Länder, die man »fortgeschrittene organische Ökonomien« nennen könnte. Im »armen« China mangelte es nicht an Reichen. Von 1738 bis 1804 mussten die sogenannten »Fabrik-« und »Transporthändler«, die das Monopol auf Herstellung, Transport und Verkauf von Salz aus Lianghuai besaßen, insgesamt knapp 40 Millionen Taels an den kaiserlichen Staat abführen. Angesichts eines Jahresgewinns von schätzungsweise sechs bis sieben Millionen Taels dürfte dies eine durchaus tragbare Last gewesen sein.22 Ein Tael sind etwa 37 Gramm Silber, also ein Drittel eines Pfund Sterling, das rund 111 Gramm reinen Silbers entspricht. Vor allem durch den Salzhandel gelangten einzelne Chinesen im 18. Jahrhundert zu einem persönlichen Kapital von mehr als zehn Millionen Taels.23 Zusammen erzielten die Salzhändler von Yangzhou in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Gewinn von schätzungsweise 50 Millionen Taels.24 Zum Vergleich: Die Zentralregierung erhob im selben Zeitraum, einschließlich sogenannter Aufschläge, Steuern von schätzungsweise 50 bis 80 Millionen Taels.25 Der jährliche Gesamtwert der von der britischen East India Company exportierten chinesischen Waren lag zwischen 1722 und 1833 nie über 6,2 Millionen Taels.26 Auch im 19. Jahrhundert ließen sich noch Vermögen verdienen: Der Kaufmann Howqua 20 De Vries/Van der Woude, First Modern Economy, Kap. 4.3.2. 21 Easterly, White Man’s Burden, Kap. 2. Robert Allen meint dagegen, eine solche Falle bestehe in armen Ländern tatsächlich. Allen, Global Economic History, 13. 22 Feuerwerker, China’s Early Industrialization, 50–51. 23 Osterhammel, China und die Weltgesellschaft, 75. 24 Hsü, Rise of Modern China, 71. Hsü stützt sich auf einen Text von Ping-ti Ho, den ich nicht einsehen konnte. 25 Vries, Via Peking back to Manchester, 97 (Anm. 102). 26 Zhuang Guotu, Tea, Silver, Opium and War, 158–159.

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Akkumulation, Einkommen und Wohlstand

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hatte es im internationalen Handel bis 1834 zu rund 26 Millionen Silberdollar gebracht, was mehr als fünf Millionen Pfund entsprach. Laut Zeitgenossen besaß er damit das größte Handelsvermögen der Welt.27 Der Überseehändler Pan Youdu hatte 1820 ein Familienvermögen von zehn Millionen mexikanischen Dollar aufgehäuft, also 7,3 Millionen Taels bzw. 27.000 Kilogramm Silber, der Gegenwert von über zwei Millionen Pfund.28 Die Einkommen der chinesischen »Gentry« waren immens hoch.29 Schätzungen zufolge verdiente ein Beamter in den 1880er Jahren durchschnittlich 5000 Taels im Jahr: 500 als offizielles Gehalt, der Rest waren »Zusatzeinnahmen«. Ein Provinzgouverneur konnte es auf 180.000 Taels im Jahr bringen, ein Bezirksrichter auf rund 30.000, sein Sekretär immerhin noch auf 250. Ein landwirtschaftlicher Arbeiter verdiente damals neben seinen Nahrungsmitteln fünf bis zehn Taels im Jahr, zusammengenommen nie mehr als 20 Taels. Ende des 19. Jahrhunderts gab es rund 1,5 Millionen Mitglieder der Gentry in China.30 Ruan Yuan, ein sehr erfolgreicher Beamter, der bis zum höchsten Rang aufstieg, verdiente von 1793 bis 1835, abzüglich der drei Jahre von 1809 bis 1812, insgesamt mehr als sechs Millionen Taels, also 150.000 Taels pro Jahr. Ein erwachsener Mann brauchte damals weniger als 15 Taels, um in einer chinesischen Stadt ein Jahr lang zu überleben.31 Die Beamten besserten ihre sehr niedrigen offiziellen Gehälter durch legale Zusatzeinnahmen auf – »Gebühren zur Förderung der Ehrlichkeit«, die von der Bevölkerung zu entrichtenden gewohnheitsrechtlichen Gebühren und durch alle sonstige Zahlungen, die sie erheben konnten. Nur zwei Beispiele aus Indien. Mulla Abdul Ghafur, einer der reichsten Kaufleute Surats, soll persönlich Handel im Umfang der gesamten britischen East India Company getrieben haben. Als er 1718 starb, hinterließ er ein Vermögen, das in Silber gerechnet rund einer Million Pfund Sterling entsprach.32 Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Herrscher ein un27 Hsü, Rise of Modern China, 71. Hsü bezieht sich auf einen Text von H.B. Morse, den ich nicht einsehen konnte. Ein Silberdollar hatte damals den Wert von rund 25 Gramm Silber. 28 Deng, »Foreign Staple Trade of China«, 281. 29 Zur Erklärung dieses Begriffs und für Information zu dieser wichtigen, privilegierten sozialen Gruppe vgl. Chang, Chinese Gentry; Tsung-su Ch’ü, Local Government in China under the Ch’ing.; Elman, A Cultural History of Civil Examinations in Late Imperial China; Osterhammel, »Gesellschaftliche Parameter chinesischer Modernität«, und Smith, China’s Cultural Heritage, Kap. 6 und 11. 30 Chang, Chinese Gentry, 42, 197, 12. 31 Wei, Ruan Yuan, 301. 32 Das Gupta, Merchants of Maritime India, XII und 111. Zum immensen Reichtum einiger indischer Kaufleute, der den der europäischen in den Schatten stellte, vgl. z.B. Irfan Habib, »Potentialities of Capitalist Development«, 71–73. Zum Reichtum niederländischer Kaufleute: De Vries/Van der Woude, First Modern Economy, Kap. 11.5. In Amster-

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

gleich höheres Vermögen erzielen konnten. Mahmed Amin Khan – einer der mächtigsten Männer am Hof der Moguln – hinterließ 1684 allein in Bargeld und Wertgegenständen ein Erbe von rund 110 Millionen Rupien bzw. 11 Millionen Pfund. Zum Vergleich: Das Gesamtvermögen der Niederländischen Ostindienkompagnie betrug damals rund 32 Millionen Gulden bzw. drei Millionen Pfund Sterling. Nicht eingerechnet in dieses Erbe sind Amin Khans riesige Herden (er besaß allein über 8000 Kamele), seine gewaltigen Besitzungen in Bengal und an der Koromandelküsten sowie zahllose weitere Anwesen im Besitz seiner Familie. Außerdem besaß er einige Anteile an Schiffen an der Koromandelküste.33 Potenzielle Überschüsse finden sich immer und überall. Entscheidend ist, wie sie eingesetzt werden. Eine grundlegende Frage, die sich angesichts dieser Reichtümer im Kontext unserer Analyse stellt, ist die nach dem Zusammenhang von Ungleichheit und Wachstum. Ungleichheit impliziert ein hohes Maß an Akkumulation in den Händen einer kleinen Gruppe von Menschen und somit das nötige Kleingeld für Investitionen. Sofern sie ein Anzeichen dafür ist, dass außerordentliche Leistungen oder Qualitäten hoch belohnt werden, kann dies ein allgemeiner Anreiz für das Humankapital sein, sich mehr anzustrengen. In diesem Fall wird Ungleichheit insgesamt positive Effekte haben. Entspringt sie jedoch Renten, etwa wenn eine kleine Gruppe von Menschen relativ fixe Ressourcen besitzt, werden eher gegenteilige Effekte eintreten.34 Diese Situation haben Wissenschaftler wie Sokoloff, Engerman, Acemoglu, Johnson und Robinson zweifellos vor Augen, wenn sie die entwicklungshemmenden Folgen von Ungleichheit in Lateinamerika – dem am häufigsten angeführten Fall –, aber auch in anderen Regionen betonen. Implizit und oft auch explizit behaupten die meisten Institutionenökonomen, dass eine zu ausgeprägte Ungleichheit Entwicklung und Wachstum hemme und einem Take-off im Wege stehe. So wird in wissenschaftlichen Diskussionen über die Aufholprozesse von asiatischen Ländern oft darauf hingewiesen, dass die Einkommens- und Vermögensunterschiede in China, Taiwan, Indien oder Korea viel geringer waren als in Lateinamerika.35 Die Debatte darüber, ob es einen allgemeinen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wachstum gibt und wenn ja, worin er besteht, ist noch nicht abgeschlossen. Elhanan Helpman neigt zu der Ansicht, »dass Ungleichheit das Wachstum dam gab es in den 1630er Jahren nur eine Handvoll Menschen, die mehr als eine Million Gulden besaßen. Der Amsterdamer Bürgermeister Jeronimus de Haze di Georgio galt als überaus reich. Als er 1725 starb, hinterließ er ein Vermögen von 3,3 Millionen Gulden, was rund 300.000 Pfund Sterling entsprach (S. 589). 33 Barendse, Arabian Seas, 118. Eine Rupie entspricht rund elf Gramm Silber, also etwa dem Zehntel eines Pfund Sterling. 34 Ich folge hier einigen Bemerkungen in Williamson, Trade and Poverty, 164–165. 35 Amsden, Rise of the Rest, Registereintrag »Income, distribution of«.

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Akkumulation, Einkommen und Wohlstand

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verlangsamt«,36 ebenso Joseph Stiglitz.37 Angesichts der Tatsache, dass es ein Land ohne jegliche Ungleichheit noch nie gegeben hat, scheint die wirkliche Frage zu lauten, wie viel Ungleichheit »zu viel« ist, um einen Take-off zu ermöglichen. Daraus ergibt sich ferner die Frage, ob nicht ein Take-off per definitionem eine zeitweilige Zunahme von Ungleichheit verursacht.38 Abgesehen davon, dass die Frage theoretisch offenbar unbeantwortet ist, bestehen auch erhebliche empirische Probleme. Es ist beispielsweise keineswegs klar – und dies berührt selbstverständlich den Kern unserer Analyse –, dass Einkommen und Reichtum in Großbritannien unmittelbar vor und während des Take-offs gleichmäßiger verteilt waren als in anderen Ländern, die sich nicht industrialisierten, wie die (neo-)institutionalistische Literatur über den britischen Take-off nach 1688 beständig suggeriert. Neuere Forschungen deuten eher auf das Gegenteil hin, wie sich etwa Tabelle 31 entnehmen lässt.39 Für die Phase des Take-offs dürfte die Frage, wie groß der Bevölkerungsanteil war, der sich bestimmte Industrieprodukte leisten konnte, letztlich wichtiger sein als das Ausmaß der Ungleichheit in der Einkommens- und Reichtumsverteilung. Es scheint mittlerweile klar nachgewiesen zu sein, dass gewöhnliche Menschen im Westen, besonders in Nordwesteuropa und den (späteren) Vereinigten Staaten, über mehr Kaufkraft verfügten als auf der übrigen Welt. Die These, die für den Beginn der Revolution des Konsums so wichtige Bevölkerungsgruppe mit mittleren Einkommen sei in diesen Gesellschaften größer gewesen, ist zudem gut belegt.40 Der Massenmarkt, ohne den ein Industriekapitalismus unvorstellbar scheint, war dort prinzipiell gegeben. Die übrige Welt mag ärmer gewesen sein, aber auch dort waren sehr viele Menschen wohlhabend genug, um die Massenkonsumgüter der ersten industriellen Revolution zu kaufen, deren Preise meist rasch sanken, sodass sich für sie auch in armen Ländern ein Markt entwickelte. Es ist folglich keineswegs offensichtlich, dass sich Großbritannien industriali36 Helpman, Mystery of Economic Growth, 93. 37 Stiglitz, Preis der Ungleichheit. 38 Das behauptet Simon Kuznets. Zur Debatte über die sogenannte Kuznets-Kurve, vgl. Helpman, Mystery of Economic Growth, 86–87, wo die These, in der Entstehungsphase modernen Wirtschaftswachstums nehme die Ungleichheit zunächst grundsätzlich zu, um danach geringer zu werden, zurückgewiesen wird; ebenso in Milanovic, Haves and HaveNots (Stichworte »Kuznets, Simon« und »Kuznets, hypothesis«). Zur Situation im frühneuzeitlichen Europa, die Kuznets Erwartungen viel eher zu entsprechen scheint: van Zanden, »Beginning of the Kuznets Curve«. 39 Zur Einkommensungleicheit in Großbritannien und anderen westlichen Regionen in der frühen Neuzeit finden sich weitere Tabellen auf der Website von Peter Lindert: http://gpih.ucdavis.edu/Distribution.htm; vgl dazu auch Hoffman u.a., »Real Inequality in Western Europe«. 40 Vgl. etwa die Information auf Linderts Website.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Tab. 31: Vorindustrieller Gini-Koeffizient und Abringungsrate Land / Region, Jahr

Gini

Abringungsrate

Römisches Reich, 14

39,4

75,0

Byzanz, 1000

41,1

94,1

England und Wales, 1290

36,7

69,2

Toskana, 1427

46,1

66,6

Südserbien, 1455

20,9

64,8

Holland, 1561

56,0

76,3

Levante, 1596

39,8

57,6

England und Wales, 1688

45,0

57,1

Holland, 1732

61,1

71,7

Mogulreich Indien, 1750

48,9

112,8

Alt Kastilien, 1752

52,5

88,0

England und Wales, 1759

45,9

55,4

Frankreich, 1788

55,9

76,1

Vizekönigreich Neuspanien, 1790

63,5

105,5

England und Wales, 1801

51,5

60,6

Bihar (Indien), 1807

33,5

76,7

Niederlande, 1808

57,0

68,5

Neapel, 1811

28,4

53,7

Chile, 1861

63,7

83,0

Brasilien, 1872

43,3

74,2

Peru, 1876

42,2

78,1

Java, 1880

39,7

72,8

China, 1880

24,5

55,2

Japan, 1886

39,5

58,8

Kenia, 1914

33,2

96,8

Java, 1924

32,1

48,0

Kenia, 1927

46,2

100,0

Siam, 1929

48,5

78,1

Britisch-Indien, 1947

49,7

96,8

Durchschnitt

44,3

74,9

Quelle: Williamson, Trade and Poverty, 149. Ein Gini-Koeffizient von null drückt komplette Gleichheit aus, d.h. alle verglichenen Werte wären gleich (z.B. hätte jeder das gleiche Einkommen). Ein Gini-Koeffizient von eins (= 100 %) drückt maximale Ungleichheit der Werte aus (nur eine Person hat das gesamte Einkommen). Die Abringungsrate deutet an wieviel vom gesellschaflichem Surplus über das Existenminimum von der Elite abgerungen wird. Für weitere Erklärungen siehe: Williamson, Trade and Poverty, Kap. 9.

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Akkumulation, Einkommen und Wohlstand

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sierte, weil seine Unternehmer einen größeren Markt für ihre Produkte vorfanden. Klar ist meines Erachtens, dass Großbritannien einen großen Markt von Verbrauchern mit mittleren Einkommen hatte – der vielleicht nicht größer war als in anderen Teilen Westeuropas, aber gewiss größer als in China, Indien und dem Osmanischen Reich –, der sich mit sinkenden Preisen zu einem Massenmarkt entwickelte.41 Aber, und dies scheint mir sehr relevant zu sein: Die Revolution des Konsums, die so viele Innovationen auslöste, begann als Phänomen einer breiten Mittelschicht.

41 Frank unterstützt diese These insofern, als er behauptet, ohne dies durch irgendwelche Daten zu belegen, die großen asiatischen Ökonomien hätten sich am Vorabend der Great Divergence durch eine »polarisierte Einkommensverteilung« ausgezeichnet, die »die effektive Binnennachfrage nach Massenverbrauchsgütern« beschränkt habe. Frank, ReOrient, 301.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

13. Ursprüngliche Akkumulation: Edelmetalle und Sklaven

In globalgeschichtlichen Darstellungen fragt man sich selbstverständlich vor allem, in welchem Ausmaß die Akkumulation, die der Industrialisierung und der Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums vorausging, eine externe war. Da die erste Industrienation über ein großes Empire herrschte und die wichtigste Handelsnation der Welt war, suchen viele Wissenschaftler beinahe zwangsläufig einen Zusammenhang. Die Vorstellung ist weit verbreitet, dass der Westen auf Kosten der übrigen Welt reich geworden sei oder sie sogar gezielt unterentwickelt habe. Doch die Zusammenhänge zwischen Industrie, Handel und Empire sind kompliziert, und man wird wahrscheinlich nie zu exakten Antworten gelangen, die für alle beteiligten Parteien befriedigend wären. Die Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums aus diesem Blickwinkel zu analysieren, ist meines Erachtens vor allem deshalb schwierig, weil Ursachen und Wirkungen kaum zu entwirren sind und eine trennscharfe Unterscheidung zwischen (außergewöhnlichen) Umsätzen und Gewinnen, die durch Manipulation – oder gar Zwang – und Glück zustande kamen, und (außergewöhnlichen) Umsätzen und Gewinnen aus einem freien, gerechten und einvernehmlichem Handel kaum möglich ist. Letztere sind im Grunde nicht Teil der Erklärung, sondern selbst erklärungsbedürftig: Wenn bestimmte Akteure durch freien und gerechten Handel Gewinne erzielen, ist dies in der Regel ein Zeichen der Stärke ihrer Ökonomie, erklärt diese aber nicht. Im Westen war die hier erörterte Phase das Zeitalter des Merkantilismus, in dem Macht und Profit oftmals fast untrennbar ineinander verflochten waren. Im Zweifelsfall habe ich mich immer für die Strategie entschieden, Umsätze und Profite als Ergebnis dessen zu betrachten, was wir heute ungerechten Handel nennen würden, um eine von mir selbst nicht geteilte These so stark wie möglich zu machen – die These nämlich, die Peripherie habe Westeuropa eine bestimmte Akkumulation ermöglicht und so maßgeblich zu seinem Aufstieg beigetragen. Es besteht meines Erachtens eine Tendenz, zumindest implizit zu behaupten, Europas Handel mit der übrigen Welt sei nie einvernehmlich erfolgt, zumindest aber stets so manipuliert worden, dass die Europäer in der Regel außergewöhnliche Profite erzielten, die insofern eher Renten glichen. Für viele Handelsbeziehungen mit Asien trifft dies jedoch nicht zu. Im Handel mit China, Japan oder den Reichen

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Ursprüngliche Akkumulation

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der Moguln, Osmanen und Safawiden, um nur die großen asiatischen Akteure zu nennen, waren die Europäer während des Großteils des hier erörterten Zeitraums gewöhnliche Marktteilnehmer: Sie konnten anderen Akteuren in keiner Weise ihren Willen aufzwingen und mussten Preise zahlen, die sie nicht selbst festlegten. Das Gleiche gilt für den Kauf von Sklaven in Afrika und den Handel mit den Vereinigten Staaten nach ihrer Unabhängigkeit. Beginnen wir mit einigen Anmerkungen zur Plausibilität der These, der Westen sei auf Kosten der übrigen Welt reich geworden, einer These, die besagen soll, dass Ausbeutung und Zwang die entscheidende oder zumindest eine wesentliche Grundlage des Reichtums des Westens und der hauptsächliche Motor seines Wachstums gewesen seien. Als allgemeine Behauptung ist dies unhaltbar: Die Korrelationen und Zahlen sprechen dagegen. Die Länder, die die größten außergewöhnlichen, dem Glück geschuldeten Verdienste erzielten – Portugal und Spanien –, scheinen davon nie wirklich profitiert zu haben und endeten schließlich in relativer Armut und Unterentwicklung. Portugal betrieb einen sehr umfangreichen und profitablen Sklavenhandel, und in keinem Land der Erde mussten mehr Sklaven für europäische Herren arbeiten als in seiner Kolonie Brasilien, die ein wichtiger Zuckerproduzent wurde und enorme Mengen Gold ins Mutterland exportierte. Dennoch blieb Portugal arm und unterentwickelt, ebenso wie Brasilien übrigens, obwohl es nach der Unabhängigkeit weiterhin Millionen von Sklaven importierte und zur Arbeit zwang.1 Wer die (ursprüngliche) Akkumulation in den Vordergrund rückt, muss sich der Frage stellen, wieso Europas älteste Kolonialmacht so arm blieb, während die Schweiz – ein Land ohne Meerzugang, das nie Kolonien in Übersee besaß – so reich wurde.2 Eine ähnliche Frage lässt sich natürlich mit Blick auf Spanien stellen – ein Land, das sich gewaltige Mengen Edelmetalle aneignete, während der frühen Neuzeit aber neuesten Schätzungen zufolge eher einen Rückgang als einen Anstieg seines realen Pro-Kopf-Einkommens verzeichnete und schwerlich eine beeindruckende wirtschaftliche Entwicklung vollzog.3 Graf von Olivares fragte sich bereits 1631, ob die Entdeckung der Neuen Welt wirklich ein Segen für Spanien gewesen sei: »Wenn ihre großen Eroberungen die Monarchie auf einen so kläglichen Zustand herabsinken ließen, kann man mit

1 Zur Wirtschaftsgeschichte Portugals: Lains/da Silva (Hg.), História Económica de Portugal. 2 Ich paraphrasiere hier http://lorenzo-thinkingoutaloud.blogspot.com/2009/08/ great-divergence.html. 3 Zur Entwicklung des realen Prokopfeinkommens, vgl. Malanima, Europäische Wirtschaftsgeschichte, 340. Eine relativ positive Analyse der spanischen Wirtschaft im langen 18. Jahrhundert bietet Ringrose, Spain, Europe and the Spanish Miracle.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Recht sagen, dass sie ohne die Neue Welt mächtiger wäre.«4 Die Edelmetalle aus der Neuen Welt führten zu Inflation und dienten der Finanzierung zahlreicher Kriege, die für Spanien kein Erfolg wurden und obendrein quer durch Europa Verwüstung anrichteten. Oder denken wir an andere westeuropäische Länder: Keines trieb während der frühen Neuzeit pro Kopf umfangreicheren Handel mit der außereuropäischen Welt als die Niederlande. Im Lauf des 18. Jahrhunderts wurde er noch wichtiger für die Ökonomie des Landes, doch das reale ProKopf-Einkommen stagnierte oder sank sogar, und ein Take-off blieb aus.5 Die Niederländer schöpften von 1868 bis 1930 einen deutlich größeren Anteil des indonesischen Nettonationaleinkommens oder BIP ab, als es den Briten von 1801 bis 1930 in Indien jemals gelang. Auch im Vergleich zum spanischen Kolonialreich floss gemessen am Einkommen der kolonisierten Region eher wenig Reichtum aus Indien nach Großbritannien ab.6 Kolonien hatten für Großbritannien während des Take-offs nicht mehr, sondern eher weniger Bedeutung als für einige andere europäische Länder zu dieser Zeit. Frankreichs karibische Plantagen zum Beispiel erzeugten im Wertumfang 43 Prozent mehr als die britischen Plantagen am Vorabend der Amerikanischen Revolution. Mit der phänomenalen Expansion auf Saint-Dominique von 1770 bis 1791 vertieften die französischen Pflanzer diese Kluft dramatisch.7 Frankreichs Wirtschaft war damals natürlich wesentlich größer als die britische. Der Anteil der Kolonien an der Nationalökonomie war für Spanien und Portugal zweifellos größer als für Großbritannien. Dessen Take-off fiel in die Zeit nach der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, aus denen es nun in wachsendem Umfang seine Rohbaumwolle bezog. Länder, die sich recht früh industrialisierten, etwa Belgien, die Schweiz und etwas später Deutschland, das mit seiner Bevölkerungsgröße zu einer industriellen Supermacht wurde, hatten wenige oder gar keine Kolonien und konnten kaum als globale Handelsmächte gelten. Der Besitz von Kolonien war keine Gewähr für Reichtum. Keine Kolonien zu besitzen, verurteilte ein Land nicht zur Armut. Eine Kolonie zu sein, erhöhte hingegen die Wahrscheinlichkeit späterer Verarmung erheblich, wie besonders der Fall Afrika eindrücklich belegt. Das Realeinkommen pro Kopf ist in der Regel in Ländern, die niemals Kolonien waren, höher als in Ländern mit kolonialer Vergangenheit. Wir sprechen hier von Korrelationen, das heißt, dass es auch Ausnahmen gibt. Zudem müssen wir erkennen, dass 4 5 6 7

Elliott, Spain and its World, 25. De Vries/Van der Woude, First Modern Economy, Kap. 10 und 13. Williamson, Trade and Poverty, 163–165. Eltis/Engerman, »Importance of Slavery«, 130–131.

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Ursprüngliche Akkumulation

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Korrelationen nicht unbedingt Kausalzusammenhänge sein müssen und dass weder kolonisierende noch kolonisierte Länder jeweils eine Einheit bilden, sodass sehr unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen konnten. Aber es kann keinen Zweifel daran geben, dass das koloniale Erbe vor allem von schädlichen Institutionen und ausbeutenden Eliten einen negativen Effekt auf Wachstum und Entwicklung in kolonisierten Ländern hatte.8 Generell hatte der westliche Kolonialismus eindeutig mehrere negative Wirkungen auf die Wirtschaften der betroffenen Länder. Aber es gibt hier doch beträchtliche Unterschiede, abhängig von der Zeit, dem Ort und der kolonisierenden Macht. Länder, die länger kolonisiert waren, stehen heute wirtschaftlich besser da und sind demokratischer; ehemals britische Kolonien stehen besser da als ehemals französische.9 Japan und China kam es sicherlich zugute, dass sie nie wirklich kolonisiert wurden. Aber auch in dieser Hinsicht bestehen Ausnahmen. Bereits 1820, keine fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeit, lag das reale Pro-Kopf-Einkommen in den USA leicht über dem Westeuropas. Das Land war damals genauso reich wie Dänemark und das heutige Belgien; in Westeuropa waren nur die Niederlande und Großbritannien wohlhabender.10 Andere britische Siedlerkolonien wie Kanada, Australien und Neuseeland schnitten ebenfalls nicht schlecht ab. Langfristig betrachtet war die Kolonialherrschaft für Taiwan und Korea wirtschaftlich von Vorteil.11 Die asiatischen Schwellenländer, und ab 1978 China, vollzogen ihren Take-off ohne Kolonien. Die Realeinkommen in lateinamerikanischen Ländern entwickelten sich im ersten Jahrhundert nach der Unabhängigkeit sehr unterschiedlich, teils stiegen, teils sanken sie. All das beweist so wenig, wie es widerlegt, dass zwischen ausländischer Ausbeutung und dem Aufstieg oder Niedergang von bestimmten Ländern bestimmte Zusammenhänge bestehen; sehr wohl aber zeigt es, dass allgemeine Aussagen über einen Aufstieg des Westens auf Kosten der anderen Weltregionen zu vereinfacht und unhaltbar sind. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Überseehandel Europas, abgesehen von Großbritannien, im 19. Jahrhundert einen geringeren Anteil am BIP hatte als im Jahrhundert zuvor.12 8 Vgl. Bertocchi/Canova, »Did Colonization Matter for Growth«; weniger ausgesprochen Rodrik/Subramanian/Trebbi, »Institutions Rule«. Für mehr Informationen zu Afrika vgl. Anm. 6, S. 35 und Gozzini, Idea di giustizia, Kapitel, »Colonialismo e ineguaglianza«. 9 Fenske, »Causal History of Africa«, 22–26. 10 Maddison, Contours of the World Economy, 382. 11 Vgl. etwa Amsden, Rise of the Rest, Stichworte Korea, Japanese colonialism und Taiwan, Japanese colonialism. Wie sich hoffentlich von selbst versteht, ist dies keine Rechtfertigung des Kolonialismus – der nicht zu rechtfertigen ist – oder Verharmlosung seiner zahlreichen Verbrechen. 12 Etemad, »Colonial and European Domestic Trade«.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Modernes Wirtschaftswachstum hängt nicht einfach davon ab, ob man leicht verdientes Geld zur Verfügung hat – auch wenn dies natürlich von Vorteil sein kann. Aber versuchen wir, die Größenordnungen der sogenannten ursprünglichen Akkumulation zu bestimmen, wobei wir uns auf zwei Beispiele beschränken – auf die zwei Formen westlicher Ausbeutung und Extraprofite, die die Fantasie am stärksten angeregt haben. Sie sind sehr aufschlussreich, zeigen sie doch, wie klein noch die größten Extragewinne gemessen an den Wirtschaften insgesamt waren, deren Entwicklung oder Nicht-Entwicklung wir erklären wollen. Es geht uns dabei natürlich nur um die Größenordnungen. Das erste Beispiel sind Edelmetalle. Die Vorstellung, Schiffsladungen von Gold und Silber müssten ihre Empfänger reich gemacht haben, drängt sich geradezu auf. Doch über welche Mengen reden wir dabei eigentlich, und welchen Wert hatten sie im Vergleich zu den Nationalökonomien der Länder, deren Reichtum sie erklären sollen? Den verlässlichsten Schätzungen zufolge belief sich die Gesamtproduktion von Gold und Silber in Nord- und Südamerika, ausgedrückt im Wert von Silber, von 1493 bis 1800 auf insgesamt 130.000 bis 150.000 Tonnen.13 Gehen wir von diesem Höchstwert aus, entspräche dies 150 Milliarden Gramm Silber in einem Zeitraum von rund 300 Jahren bzw. durchschnittlich 500 Millionen Gramm jährlich. Entscheidend für uns ist die Menge, die Europa erreichte, denn nicht die gesamte Produktion wurde exportiert. Betrachten wir zudem nicht ganz Europa – wodurch sich die Menge pro Kopf natürlich verringern würde –, sondern nur die westliche Hälfte, wo die Edelmetalle zuerst eintrafen. Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erreichten die Exporte ihren Spitzenwert, fünfzig Jahre lang betrugen sie durchschnittlich 600 Tonnen jährlich. Das entspräche bei damals durchschnittlich etwa 100 Millionen Einwohnern Westeuropas 6 Gramm pro Person und Jahr. Wie bedeutend ist dies? Vergleichen wir die Beträge mit den von Robert Allen rekonstruierten damaligen Löhnen für unqualifizierte Arbeiter. Die höchsten Tageslöhne in Europa wurden demnach mit 11,5 Gramm Silber in London, die niedrigsten mit 2,9 Gramm in Krakau gezahlt. Im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts, als Westeuropa rund 80 Millionen Einwohner hatte, traf das Äquivalent von 370 Tonnen Silber ein, mehr als je zuvor (Tab. 32). Das entspräche rund 4,5 Gramm pro Kopf. Auch zu dieser Zeit erzielten unqualifizierte Arbeiter den höchsten Tageslohn mit 9,7 Gramm Silber in London, den niedrigsten mit 2,7 Gramm in Krakau (Tab. 33). 13 Alle Angaben über Edelmetalle in diesem und den folgenden Absätzen nach Barrett, »World Bullion Flows«; alle Angaben über Löhne in Silber nach Allen, »Great Divergence in European Wages and Prices«. Nach 1800 gingen Produktion und Export des amerikanischen Silbers zurück.

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Ursprüngliche Akkumulation

Tab. 32: Geschätzter Jahresdurchschnitt (in Tonnen) von Produktion und Transport von Silber und Silberäquivalenten, 1501–1800 1 Amerikanische Produktion

2 Europäische Importe

3 Sp. 1 minus Sp. 2

4 Exporte aus Europa

5 Nettosaldo Sp. 2 minus Sp. 4

1501–1525

45

40

5

1526–1550

125

105

20

1551–1575

240

205

35

1576–1600

290

205

85

1601–1625

340

245

95

100

145

1626–1650

395

290

105

125

165

1651–1675

445

330

115

130

200

1676–1700

500

370

130

155

215

1701–1725

550

415

135

190

225

1726–1750

650

500

150

210

290

1751–1775

820

590

230

215

375

1776–1800

940

600

340

195

405

Quelle: Barrett, »World Bullion Flows«, 242–243.

So beeindruckend die absoluten Mengen sind, gemessen am Gesamteinkommen waren die Edelmetallimporte selbst dann recht gering, wenn wir annehmen, dass in der durchschnittlichen Familie mehrere Personen ein Einkommen erzielten. Ein erheblicher Teil der Edelmetalle verließ Europa zudem wieder. Während der Periode von 1600 bis 1800 wurden als Zahlungsmittel für Importe schätzungsweise das Äquivalent von 400 Tonnen Silber in die Levante, weitere 461 Tonnen von der englischen und der niederländischen Ostindienkompagnie nach Fernost und 459 Tonnen in das Baltikum exportiert. Die Importe aus Asien bestanden überwiegend aus Produkten, die für Europa durchaus verzichtbar gewesen wären. So blieben pro Westeuropäer letztlich 3 Gramm Silber im Jahr 1700 und 4,5 Gramm im Jahr 1800. Und so sehr Portugiesen und Spanier von der Aneignung lateinamerikanischer Edelmetalle zu profitieren versuchten, gratis waren sie nicht. Abbau und Transport verursachten erhebliche Kosten, die natürlich soweit möglich durch zusätzliche Edelmetallförderung gedeckt wurden. Doch die tatsächlichen Gewinne müssen niedriger gewesen sein, als die hier genannten Zahlen über Bruttogesamtproduktion und Transfers nahelegen. Zudem blieb eine wachsende Menge an Edelmetallen wie er-

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Tab. 33: Nominallöhne ungelernter Arbeiter (Gramm Silber pro Tag) 1500– 1550– 1600– 1650– 1700– 1750– 1800– 49 99 49 99 49 99 49 Nordamerika Boston

4,7

5,0

5,7

9,8

20,9

8,5

13,8

24,5

6,2

6,4

9,9

17,0

12,8

12,8

13,0

3,5

6,4

6,4

6,9

9,1

9,1

10,1

Philadelphia Maryland Lateinamerika Potosi Bogota

3,2

Mexico (städtische Gebiete) Mexico (ländliche Gebiete)

0,3

1,9

4,3

5,6

5,4

5,5

6,1

3,2

4,6

7,1

9,7

10,5

11,5

17,7

Nordwesteuropa London Südenglische Städte

2,5

3,4

4,1

5,6

7,0

8,3

14,6

Antwerpen

3,0

5,9

7,6

7,1

6,9

6,9

7,7

Amsterdam

3,1

4,7

7,2

8,5

8,9

9,2

9,2

6,6

8,8

6,9

6,3

8,0

Süd- und Zentraleuropa Valencia

4,2

Madrid Florenz

2,9

3,8

Milan Neapel

3,3

Leipzig Wien

2,7

5,7

5,1

5,1

5,3

8,0

4,7 5,9

4,1

3,2

2,9

3,1

3,5

5,3

4,8

4,8

3,8

3,8

1,9

3,5

3,9

3,7

3,1

4,4

2,6

4,4

3,5

3,2

3,0

2,1

3,5

3,4

2,8

3,3

3,2

3,2

Asien Peking Unterlauf des Jangtsekiang Delhi Bengalen

0,8

3,4

3,4

1,3

1,6

2,1 0,7

0,9

0,8

Quelle: Allen/Murphy/Schneider, »The Colonial Origins of the Divergence in the Americas«, Online Appendix, 29, Tabelle 2.

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Ursprüngliche Akkumulation

275

wähnt in Form von Steuereinnahmen, die vor Ort ausgegeben wurden, auf dem Kontinent.14 Es lässt sich darüber streiten, ob die genannten Mengen groß oder klein waren, aber wie man sie als die entscheidende oder auch nur eine wesentliche Ursache der Entstehung, mehr noch: der Dauerhaftigkeit des modernen Wirtschaftswachstums in Nordwesteuropa deuten kann, erschließt sich mir nicht. Portugal und Spanien, die gleich wie man es betrachtet, mit dem geringsten Aufwand die größten Extraprofite erzielten, gelangten dadurch nicht auf den Weg zum Take-off. Beide, besonders die spanische Regierung, verwendeten das Gros ihrer Edelmetalle auf Kriege, mit denen sie quer durch Europa Verwüstung anrichteten. Aber im Grunde nutzten alle Regierungen den Großteil ihrer Einkünfte zur Führung von Kriegen. Das übrige Europa gelangte vor allem durch Exporte auf die Iberische Halbinsel an Edelmetalle – im Austausch gegen Produkte also, nicht umsonst. Viel Edelmetall floss zudem zur Bezahlung von Gütern, die keine lebensnotwendigen Dinge waren, ins Ausland ab; man könnte dies geradezu als Verschwendung betrachten. Laut Forschern wie Dennis Flynn, Arturo Giráldez und André Gunder Frank wurde ein gewaltiger Teil – mehr als die Hälfte oder sogar zwei Drittel – des von Europa importierten Silbers schließlich nach China ausgeführt.15 Wenn wir Frank glauben, waren es die Edelmetalle aus Nordund Südamerika, namentlich Silber, womit sich »die Europäer einen Sitzplatz und schließlich einen ganzen Waggon des asiatischen Zugs kauften«.16 Eine schöne Metapher – aber was soll sie besagen? Dass Europa reich wurde und sich entwickelte, indem es asiatische Produkte kaufte? Die Logik einer solchen Behauptung und die darin implizierte Kausalität scheinen mir nicht nachvollziehbar. Pro Kopf blieb weit mehr Edelmetall in Lateinamerika, mit einer Bevölkerung von weiterhin nur etwa 20 Millionen im Jahr 1800, als je nach Westeuropa gelangte. Warum fand dann nicht dort ein Takeoff statt? Förderlich für Westeuropa könnten die zusätzlichen Edelmetalle gewesen sein, indem sie das Geld verbilligten. Doch auch wenn sie tatsächlich einen solchen Effekt hatten, bietet dies keine hinreichende Erklärung für die, je 14 Vgl. Barrett, »World Bullion Flows«, 242–243, sowie die auf S. 39 erwähnten Aussagen von Grafe/Irigoin über den Abfluss von Steuern aus Südamerika. 15 Zu meiner Kritik an dieser These, vgl. Vries »California School and Beyond«; ders., Zur politischen Ökonomie des Tees, 61–78. Eine Schätzung der Gesamtmenge des nach China geflossenen amerikanischen Silbers bietet de Vries, »Connecting Europe and Asia«, 81. Selbst auf ihrem Höhepunkt von 1725 bis 1750 betrugen die chinesischen Silberimporte demnach höchstens 30 Prozent der lateinamerikanischen Produktion. Vgl. auch Anm. 5, S. 254 zu möglichen negativen Effekten dieser Importe in China. Amerikanisches Gold importierte China gar nicht. 16 Frank, ReOrient, 277.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

nach Land unterschiedliche, Entwicklung der Zinsraten. Am billigsten in Europa – viel billiger als in Spanien und Portugal – war Geld in Großbritannien und den Niederlanden, da beide Länder im Handel beträchtliche Mengen Edelmetall gewonnen hatten und, vermutlich wichtiger noch, über ein entwickeltes Finanz- und Geldsystem verfügten, das ihre direkte Abhängigkeit von (Halb-)Edelmetallen verringerte. Die Zinsraten auf kommerzielle Kredite und Staatsanleihen waren – sofern es solche außerhalb Europas überhaupt gab – die niedrigsten der Welt, weit niedriger als in Asien.17 Das ist sicher nicht unerheblich: Joseph Schumpeter definierte den Kapitalismus als »jene Form privater Eigentumswirtschaft, in der Innovationen mittels geliehenen Geldes durchgeführt werden«, was zwar nicht zwangsläufig, aber im Allgemeinen Kreditschöpfung bedeute.18 Aber noch einmal: Wenn die Zinsraten in westlichen Ländern niedrig waren, dann nicht einfach aufgrund umfangreicher Edelmetalleinfuhren, die zudem keinen mühelos verdienten Extraprofit darstellten, sondern bezahlt werden mussten. Der zweite Extraprofit für die westeuropäischen Ökonomien, der stärker noch als der erste auf nacktem Zwang basierte und mit wachsendem Reichtum assoziiert wird, bestand im Handel und Einsatz von Sklaven.19 Auch hier können einige Zahlen (Tab. 34) über die Größenordnungen einen Eindruck von der makroökonomischen Bedeutung des Phänomens vermitteln. Bei den Zielorten der über den Atlantik transportierten Sklaven fällt erneut auf, wie bedeutsam die Rolle der Spanier und Portugiesen sowie ihrer Nachkommen in Lateinamerika war und wie wenig dies offenbar dazu beitrug, die Grundlage für eine anhaltende Beschleunigung der Entwicklung – in den Mutterländern wie den (ehemaligen) Kolonien – zu schaffen. In diesem Zusammenhang könnte man natürlich auch fragen, warum nicht beispielsweise Russland, wo etliche Millionen Leibeigene gnadenlos ausgebeutet wurden, eine erfolgreiche ursprüngliche Akkumulation vollzog und zum Take-off überging.

17 Zu Zinsraten und weiteren Nachweisen: van Zanden, »Road to the Industrial Revolution«, 342–345, sowie Anm. 5, S. 216 im vorliegenden Buch. Die recht komplizierte und weithergeholte Argumentation von Wong und Rosenthal (Before and Beyond Divergence, Kap. 5), derzufolge die Unterschiede zwischen den Kreditkosten in Westeuropa und China eher gering und unerheblich waren, scheint mir nicht überzeugend. 18 Schumpeter, Konjunkturzyklen, 234. 19 Allgemeine einführende Literatur zum atlantischen Sklavenhandel: Klein, Atlantic Slave Trade; Northrup, Atlantic Slave Trade; Pétré-Grenouilleau, Les traits négrières. Einen stärker analytischen, ökonometrischen Ansatz verfolgt Nathan Nunn in seinen Publikationen, vgl. http://www.economics.harvard.edu/faculty/nunn/papers_nunn. Zu den Folgen von Sklavenhandel und -arbeit: Benjamin, Atlantic World, eine sehr lesbare und klare Synthese des Wissensstands über atlantische Beziehungen. Sehr informativ ist auch Blackburn, Making of New World Slavery.

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Ursprüngliche Akkumulation

Tab. 34: Transporteure von Sklaven Land

Anzahl

Portugal (mit Brasilien)

4.560.000

Großbritannien

2.600.000

Spanien (mit Kuba)

1.600.000

Frankreich (mit karibischen Kolonien)

1.250.000

Niederlande

500.000

Britisches Nordamerika und Vereinigte Staaten

300.000

Dänemark

50.000

Andere

50.000

Quelle: Thomas, The Slave Trade, Appendix Three, 805.

Tab. 35: Zielorte der Sklaventransporte Land

Anzahl

Brasilien

4.000.000

Spanisches Imperium (mit Kuba)

2.500.000

Britische Karibik

2.000.000

Französische Karibik (mit Cayenne)

1.600.000

Britisches Nordamerika und Vereinigte Staaten

500.000

Niederländische Karibik (mit Surinam)

500.000

Dänische Karibik

28.000

Europa (mit Kanarische Inseln, Madeira, Azoren etc.)

200.000

Quelle: Thomas, The Slave Trade, Appendix Three, 805.

Um den Beitrag der Sklavenarbeit zum Reichtum schätzen zu können, müssen wir wissen, welche Arbeiten die Sklaven verrichteten (Tab. 36). Wie sich der Import von Sklaven letztlich auf die Wirtschaften auswirkte, in denen sie zur Arbeit gezwungen wurden, hing natürlich auch von ihrer Sterbe- und Geburtenrate ab. Diese unterschieden sich je nach Region deutlich. Die britische Karibik importierte von 1700 bis 1800 rund 1,6 Millionen Sklaven; Ende des 18. Jahrhunderts umfasste ihre Sklavenbevölkerung weniger als 600.000 Menschen. Jamaika importierte von 1700 bis 1774 eine halbe Million Sklaven, aber seine Sklavenbevölkerung wuchs in diesem Zeitraum

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Tab. 36: Arbeitszweige der Sklaven (erste Beschäftigung in der Neuen Welt) Zuckerplantagen

5.000.000

Kaffeeplantagen

2.000.000

Privathaushalte

2.000.000

Bergbau

1.000.000

Baumwollanbau

500.000

Kakaoanbau

250.000

Bau

250.000

Quelle: Thomas, The Slave Trade, Appendix Three, 806.

nur um gut 150.000. In das französische Saint Dominique wiederum wurden von 1680 bis 1776 rund 800.000 Sklaven eingeführt; dennoch lebten dort 1776 »nur« 290.000 Sklaven. Offenbar pflanzten sie sich in diesen Kolonien nicht fort. Ähnlich war die Lage in Brasilien und den spanischen Kolonien. Im Jahr 1800 lebten in Brasilien rund anderthalb Millionen Sklaven, obwohl mehr als zwei Millionen importiert worden waren. In SpanischAmerika lebten im selben Jahr 250.000 Sklaven; doppelt so viele waren seit Beginn der Sklavenimporte dort hingelangt. Das britische Nordamerika war in dieser Beziehung die Ausnahme von der Regel: Während es bis 1800 rund 300.000 Sklaven importiert hatte, umfasste seine Sklavenbevölkerung damals rund 850.000 Menschen; 1820 waren es bereits anderthalb Millionen und 1860 fast vier Millionen.20 In diesem Kontext ist anzumerken, dass sich heute immer stärker die Erkenntnis durchsetzt, dass der atlantische Sklavenhandel nicht der einzig wichtige war. Nicht nur von Europäern wurden Afrikaner versklavt – Araber und Moslems verfrachteten sie zu Millionen über das Rote Meer, die Swahili-Küste und mehrere Routen durch die Sahara gen Osten. Genaue Zahlen darüber sind schwer zu ermitteln, aber es gibt Schätzungen, die darauf hindeuten, dass sie sehr hoch waren. Olivier Pétré-Grenouilleau meint, dass von 650 bis 1910/20 rund 17 Millionen versklavte Afrikaner ostwärts verschleppt wurden – jährlich rund 9000 im 18. Jahrhundert und sogar 43.000 im 19. Jahrhundert.21 Nathan Nunn meint, dass von 1400 bis 1900 rund sechs 20 Blackburn, Making of New World Slavery, 423–424, 441; Benjamin, Atlantic World, 626, 642. 21 Pétré-Grenouilleau, Traites négrières, 145–162. Er stützt sich weitgehend auf Zahlen von Ralph Austen, der seine Schätzungen in späteren Arbeiten auf rund 12 Millionen nach unten korrigiert hat.

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Millionen afrikanische Sklaven über diese drei Routen transportiert wurden.22 Die Zahlen für die Periode davor, ab dem 7. Jahrhundert, müssen sich in jedem Fall auf mehrere Millionen belaufen haben.23 John Wright hat in seinem jüngsten Buch geschätzt, dass zwischen 600 und 1900 ungefähr sechs Millionen Sklaven durch die Sahara transportiert worden sind.24 Dass der europäische Sklavenhandel umfangreicher war als der arabisch-muslimische, ist nicht sicher.25 Es wäre interessant zu wissen, wie die Gewinne der arabisch-muslimischen Sklavenhändler verwendet wurden. Wenn Sklavenhandel und Sklaverei für die westliche Wirtschaftsentwicklung derart wichtig gewesen sein sollen, warum sollte dies für andere Fälle nicht ebenfalls gelten?26 Da die Sklaverei hier im Kontext der Great-Divergence-Debatte behandelt wird, müssen wir ihre Relevanz für die britische Industrialisierung erörtern.27 Die Debatte über den Beitrag von Sklavenhandel und Sklaverei zum britischen Take-off, oftmals anhand der sogenannten Williams-These geführt, nach der das 1807 von den Briten ausgesprochene Verbot des Sklavenhandels weniger moralischen als ökonomischen Motiven folgte, ist bis heute sehr lebendig.28 Vermutlich wird sie nie zu einem Abschluss gelangen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen den Gewinnen aus dem Sklavenhandel selbst, der Sklaverei als Produktionsweise und möglichen Nebeneffekten. Beginnen wir mit der ersten Frage: Wie profitabel war der Sklavenhandel? Berechnungen für Großbritannien, auf das im 18. Jahrhundert rund die Hälfte des transatlantischen Sklavenhandels entfiel, ergeben keine außerge22 Vgl. http://www.economics.harvard.edu/faculty/nunn/files/empirical_slavery.pdf. 23 Eine Vorstellung von dem, was sich hinter diesen Zahlen über einen kaum bekannten Handel verbirgt, vermittelt N’Diaye, Der verschleierte Völkermord. 24 Wright, Trans-Saharan slave trade, 39 und 168. 25 Vgl. Bairoch, Economics and World History, Stichwort »Slave Trade«, und N’Diaye, Der verschleierte Völkermord, wonach der arabisch-muslimische Sklavenhandel umfangreicher als der transatlantische war. Zum Handel der Berber mit weißen Sklaven: Davis, Christian Slaves, Muslim Masters. Die Gesamtzahl der davon betroffenen Weißen wird auf mehr als eine Million geschätzt, die Zahl der im 19. Jahrhundert ins Osmanische Reich (ohne Ägypten) eingeführten Sklaven auf jährlich rund 10.000. Vgl. Toledano, Ottoman Slave Trade, 90. Da die Sklaven meist später freigelassen wurden und ihre Fortpflanzung nicht gefördert wurde, war beständiger Nachschub erforderlich. 26 Zur Funktionsweise von Sklaverei in anderen Wirtschaften: Campbell, Slavery in Indian Ocean Africa and Asia; Clarence-Smith, Indian Ocean Slave Trade; Toledano, Enslavement in the Islamic Middle East. 27 Eine neuere allgemeine Analyse bietet Zeuske, »Slavery and Slave Trade in a GlobalHistorical Perspective«. 28 Vgl. Williams, Capitalism and Slavery, und zwei Sammelbände zu seiner These: Solow (Hg.), Slavery and the Rise of the Atlantic System; dies./Engerman (Hg.), British Capitalism and Caribbean Slavery. Eine knappe, klare und differenzierte Erörterung der damit verbundenen zahlreichen Fragen unternimmt Morgan, Slavery, Atlantic Trade and the British Economy.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

wöhnlichen Profite: Durchschnittlich dürften sie zwischen 5 und 10 Prozent gelegen haben, wahrscheinlich näher am zweiten Wert. Als Anteil am BIP waren sie demnach verschwindend gering, zumal das britische BIP im 18. Jahrhundert bis heute meist viel zu niedrig geschätzt wird. Während des gesamten 18. Jahrhunderts haben die Gewinne aus dem Sklavenhandel bestenfalls einige Zehntel Prozentpunkte des BIP ausgemacht. Roger Anstey schätzt, dass sich die Bruttogewinne im britischen Sklavenhandel – die Differenz zwischen dem Einkaufs- und dem Verkaufspreis der Sklaven, unter Absehung von sämtlichen Kosten – von 1761 bis 1807 auf insgesamt 49 Millionen Pfund bzw. eine Million Pfund jährlich beliefen. Das britische BIP stieg in diesem Zeitraum von 100 Millionen auf etwas mehr als 250 Millionen Pfund.29 Um eine andere Vergleichsgröße anzuführen: Von den rund 14.000 Seeschiffen, über die Großbritannien in den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts verfügte, wurden nie mehr als 204 im Sklavenhandel eingesetzt. Die Bruttogewinne im niederländischen Sklavenhandel wurden von Wissenschaftlern, die zeigen wollen, wie hoch sie gewesen seien, für den Zeitraum von 1595 auf 1829 auf insgesamt 63 bis 79 Millionen Gulden geschätzt; der Jahresdurchschnitt lag meist zwischen 200.000 und 600.000 Gulden. Ende des 17. und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erreichten sie mitunter ein Niveau von deutlich über einer Million Gulden, wobei der absolute Spitzenwert 1,6 Millionen betrug. Man muss sich jedoch vergegenwärtigen, dass der niederländische Überseehandel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Jahresvolumen von schätzungsweise 300 Millionen Gulden hatte, was etwa der Größenordnung des damaligen niederländischen BIP entsprach.30 Im französischen Sklavenhandel galt ein Unterneh-

29 Vgl. Anstey, »Volume and Profitability of the British Slave Trade«, 21. Zu betonen ist, dass es hier um Sklavenhandel geht. Schätzungen seiner Profitabilität für Großbritannien bieten (in alphabetischer Reihenfolge) Blackburn, Making of New World Slavery, Kap. 9 bis 12, demzufolge die direkten Handelsgewinne niedrig, die indirekten Effekte jedoch immens waren; Eltis, Rise of African Slavery in the Americas, 270–271; Eltis/Engerman, »Importance of Slavery«; die allgemeine Erörterung in Etemad, De l’utilité des empires, Kap. 7; Klein, »Eighteenth-Century Atlantic Slave Trade«; die kurze, aber hilfreiche Analyse in Morgan, Slavery, Atlantic Trade and the British Economy, 36–48; Pétré-Grenouilleau, Traites négrières, 317–327; Solow, »Caribbean Slavery and British Growth«. Schätzungen des britischen BIP im Zeitraum 1688–1815 finden sich in O’Brien, »Political Preconditions for the Industrial Revolution«, 126–127. Es bildet sich allerdings ein Konsens darüber heraus, dass Schätzungen für das 18. Jahrhundert wie die von O’Brien zu niedrig sind. Vgl. etwa Steven Broadberry u.a.: www.cepr.org/meets/wkcn/1/1714/papers/ Broadberry.pdf, wonach das britische BIP bereits in den 1760er Jahren die Schwelle von 100 Millionen Pfund überschritt und danach weiter stieg. 30 Alle Zahlen nach van Rossum/Fatah-Black, »Wat is winst?«. Auf Niederländisch liegt außerdem vor: Emmer, De Nederlandse Slavenhandel; auf Englisch: Postma, The Dutch in the Atlantic Slave Trade.

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men, das durchschnittlich 6 Prozent Profit erzielte, als sehr erfolgreich.31 Auf den Handel mit Afrika, wo die Sklaven gekauft wurden, entfielen 1788 rund 15 Prozent der Schiffe, die Frankreich seinem Kolonialhandel widmete, 13 Prozent ihres Frachtraums sowie rund 10 Prozent des gesamten internationalen Handels Frankreichs.32 Über den portugiesischen bzw. brasilianischen Sklavenhandel liegen nur wenige Informationen vor. Das ist insofern bedauerlich, als er der größte und laut Robin Blackburn »möglicherweise profitabelste Zweig des Sklavenhandels im 18. Jahrhundert« war.33 Allgemein wurden im Sklavenhandel jedoch keine außergewöhnlichen Gewinne erzielt, denn auf europäischer Seite herrschte offener Wettbewerb und die Sklaven wurden auf einem von Angebot und Nachfrage beherrschten Markt gekauft; die Preise legten nicht die Europäer fest. Auch hier wüsste man gerne mehr über die anderen Beteiligten. Wie hoch waren die Profite derjenigen, die alle diese Sklaven verkauften, und was geschah mit diesen Profiten? Sehr wahrscheinlich erzielten jedoch alle Beteiligten »normale« Gewinne. Welche Gewinne warf die Sklavenarbeit ab? Mit Blick auf Großbritannien betrifft dies vor allem die Zuckerproduktion und ab Ende des 18. Jahrhunderts die wachsenden Baumwollimporte aus den unabhängigen Vereinigten Staaten. Produktion und Handel von Zucker zeigen, wie kompliziert die Deutung von Preisstatistiken bei Abwesenheit freien und fairen Wettbewerbs ist und wie verwickelt Ursachen und Wirkungen sich in einer historischen Analyse darstellen können. Da die britischen Zuckerbarone ein Monopol auf die Märkte in Großbritannien und den britischen Kolonien in Amerika besaßen, war der Preis von Zucker – und Rum – überhöht. Ihre Gewinne gingen zu erheblichen Teilen zulasten der, überwiegend britischen, Verbraucher, die keine Möglichkeit hatten, günstigeren Zucker von anderen Anbietern zu kaufen. Im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts belief sich diese Subventionierung der Zuckerpflanzer auf mehrere hunderttausend Pfund im Jahr. Nur die privaten Gewinne der Zuckerbarone zu betrachten, ist zumindest makroökonomisch gesehen noch aus einem anderen Grund irreführend: Die britischen Steuerzahler mussten die mitunter immensen Kosten der Verteidigung der Zuckerinseln und Handelsrouten gegen ausländische Bedrohungen tragen. Was Ursache und Wirkung betrifft, besteht ein komplizierender Faktor darin, dass viele Sklavenhalterregionen innerhalb und außerhalb des Empire zu guten Absatzmärkten für britische Produkte wurden, die sie aber nur mit ihrem Erlös aus dem Verkauf von Produkten an die Briten bezahlen konnten. Die Navigationsakte verwandelte den Handel zwischen dem Mutterland und den Kolonien des britischen Empire beinahe 31 Pétré-Grenouilleau, Traites négrières, 318, 324. 32 Klein, »Eighteenth-Century Atlantic Slave Trade«, 301. 33 Blackburn, Making of New World Slavery, 391.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

zwangsläufig in ein System kommunizierender Röhren. Verbucht man, wie in Blackburns Tabelle (S. 283), sowohl die Importe aus den Sklavenhalterregionen und ihre weitere Verwendung in Großbritannien als auch die Exporte dorthin als Gewinne aus Handel und Sklaverei, läuft dies leicht auf Doppelzählungen hinaus. Der genaue Umfang der Profite oder der Wertschöpfung in den auf Sklavenarbeit beruhenden Sektoren wird sich vermutlich nie ermitteln lassen. Für unsere Hauptfrage ist dies aber zum Glück auch nicht nötig. Die Wertschöpfung und die Gewinne aus dem Verkauf der von Sklaven produzierten Güter könnten durchaus hinreichend gewesen sein, um als Hebel der Industrialisierung zu wirken. Die beträchtlichen Summen, die mit dem Handel und Einsatz von Sklaven verdient wurden, mögen theoretisch, wie Eric Williams formulierte, einen der »Hauptkanäle jener Kapitalakkumulation, mit der die industrielle Revolution finanziert wurde«, dargestellt haben.34 Doch Investitionsmittel zu bekommen, war – und das ist hier entscheidend – nicht die größte Herausforderung für die britische Wirtschaft, denn Geld war in vielen Sektoren vorhanden und die Überwindung der malthusianischen Schranken, die das alte wirtschaftliche System auszeichneten, erforderte nicht allein oder auch nur in erster Linie zusätzliche Investitionsmittel. Entscheidend ist, dass sich eine gänzlich neue Wirtschaft nicht auf einem relativ kleinen Sektor aufbauen lässt, der einen geringen Beitrag zum BIP leistet und, wichtiger noch, kaum Verkettungseffekte zeitigt. Befassen wir uns kurz mit den Zahlen, indem wir einen Blick auf Blackburns sehr hohe Schätzung der Gewinne (Tab. 37) werfen, die Großbritannien am Vorabend seiner Industrialisierung durch Sklavenhandel und Sklaverei erzielte. Dieser geschätzte Höchstwert von insgesamt 4.336.000 Pfund Gewinn im gesamten Dreieckshandel – eine natürlich sehr breite Definition der Einnahmen aus Sklavenhandel und Sklaverei – würde rund 4 Prozent des britischen BIP entsprechen, wenn wir dessen Schätzung auf rund 100 Millionen Pfund im Jahr 1770 akzeptieren,35 obwohl auch deutlich höhere Werte vorliegen. Investitionen und Gewinne im Dreieckshandel wuchsen bis 1815 zwar beträchtlich, ebenso aber die britische Bevölkerung und Ökonomie. Außerdem stieg auch das britische Preisniveau deutlich. Mutatis mutandis gelten 34 Williams, Capitalism and Slavery, 52. Williams argumentiert in seinem Buch häufig differenzierter als viele Vertreter »seiner« These. So schreibt er etwa: »Man sollte aber nicht annehmen, allein der Dreieckshandel sei für die wirtschaftliche Entwicklung verantwortlich gewesen. Das Wachstum des englischen Binnenmarktes und der Einsatz der industriellen Profite, um noch mehr Kapital zu erzeugen und eine weitere Expansion zu erreichen, spielten eine wichtige Rolle.« (105–106) 35 Vgl. O’Brien, »Preconditions for the Industrial Revolution«, sowie Broadberry (wie Anm. 29, S. 280).

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Ursprüngliche Akkumulation

Tab. 37: Direkte und indirekte Gewinne im Dreieckshandel in den 1770er Jahren: eine für die britische Wirtschaft sehr optimistische Schätzung £

£

Basis Schätzungen Direkter Gewinn Plantagen

1.307.000

Sklavenhandel

115.000

Zwischensumme

1.422.000

Indirekter Gewinn Westindischer Handel

1.075.000

Afrikanischer Handel

300.000

Zwischensumme

1.375.000

Gesamtsumme

2.797.000

Schätzungen im oberen Bereich Direkte Gewinne

1.911.000

Indirekte Gewinne Westindischer Handel

1.915.000

Afrikanischer Handel

300.000

Nordamerikanischer Plantagenhandel

150.000

Brasilianischer/Portugiesischer Handel

60.000

Zwischensumme

2.425.000

Gesamtsumme

4.336.000

Quelle: Blackburn, The Making of New World Slavery, 541.

die in dieser Tabelle dargestellten Größenordnungen deshalb auch für spätere Dekaden.36 Um die Bedeutung dieser Zahlen realistisch einschätzen zu können, sind einige Anmerkungen erforderlich. Erstens muss man wissen, dass 36 Laut Blackburn (Making of New World Slavery, 538) beliefen sich die Gesamtgewinne aus den karibischen Plantagen 1812 auf rund 13,9 Millionen Pfund. Für diese Schätzung beruft er sich auf Colquhoun, Treatise on Wealth, Power and Resources of the British Empire, 59, und auf Angaben über die damaligen Durchschnittsprofite. Seine Argumentation und Schätzung vermag ich mit Blick auf Colquhouns Text (59, 379–380) nicht nachzuvollziehen. Das BIP lag damals gewiss deutlich über 300 Millionen Pfund.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Blackburn in seiner Berechnung auch indirekte Profite berücksichtigt, entstehend durch den Anreiz zu Investitionen in Inputs für Plantagen und Transportmittel wie Schiffe, Textilien, Geräte und Nahrungsmittel; forward linkages, also den Anreiz zu Investitionen, in Zuckerraffinerien und Textilfabriken, in denen der Ausstoß der Exportindustrie verwendet wurde; und durch Auswirkungen auf die Endnachfrage, also den Anreiz zu Investitionen in metropolitane Industrien, die Konsumgüter für jene Sektoren herstellten, die die Plantagen belieferten oder ihre Produkte weiterverarbeiteten.37

Der ohnehin sehr breit gefasste Begriff der »Gewinne aus dem Dreieckshandel« wird dadurch natürlich bis an seine Grenzen strapaziert – oder sogar darüber hinaus. Wendete man diese Strategie systematisch, also auf alle Sektoren einer Volkswirtschaft an, gelangte man zu geradezu absurd hohen BIPWerten. Zweitens muss man sich vergegenwärtigen, dass die Tabelle zwar alle Einnahmen berücksichtigt, nicht aber die verdeckten Kosten, also die von den Verbrauchern getragene Subventionierung der Zuckermonopolisten und die Verteidigungskosten.38 Will man den weitverzweigten Einfluss der sogenannten Neuen Welt auf das BIP – nicht auf die privaten Reichtümer – messen, stellt dies meines Erachtens eine Auslassung dar. Außerdem scheint es mir übertrieben, den gesamten hier angeführten Handel auf die Sklaverei in der Neuen Welt zurückzuführen. Und schließlich kann gefragt werden, ob es Alternativen gegeben hätte. Wäre das Nationaleinkommen um sämtliche Einkünfte aus dem Dreieckshandel kleiner gewesen, wenn dieser nicht existiert hätte? Wären die in ihm eingesetzten Mittel dann allesamt einfach ungenutzt geblieben? In der Periode von den 1770er bis zu den 1820er Jahren betrug der finanzielle Nettotransfer von Indien nach Großbritannien selbst auf seinem Höhepunkt kaum mehr als eine Million Pfund – weniger als 2 Prozent der britischen Einkünfte aus herstellendem Gewerbe, Bergbau und Bau und weniger als ein halbes Prozent des damaligen britischen BIP.39 Eine sehr verbreitete Strategie, um solchen Hinweisen zu begegnen, besteht darin, relativ kleinen Summen großes Gewicht beizumessen: Die Größe X möge gemessen am BIP zwar nicht bedeutend sein, im Vergleich zu den Brutto- oder Nettoinvestitionen sei sie es aber sehr wohl. Diese Argumentation ist jedoch nicht überzeugend, denn so würde im Prinzip jeder relativ kleine Betrag stark an Bedeutung gewinnen. Was demnach für Sklavenhandel und Zucker gilt, müsste folglich auch für viele andere Wirt37 Blackburn, Making of New World Slavery, 533. Das Zitat stammt von Sheridan, »The Wealth of Jamaica«, 59. 38 Zu den Kosten des militärischen Schutzes der niederländischen Ostindienkompagnie, vgl. S. 290–291. 39 Esteban, »British Balance of Payments«, 60, Tab. 1.

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schaftszweige im Inland wie Ausland gelten.40 Die Behauptung wiederum, die Größe X möge gemessen am BIP unbedeutend sein, besitze aber aufgrund ihrer zahlreichen Verkettungseffekte dennoch große Bedeutung,41 ist nur dann ein triftiges Gegenargument, wenn dies für andere potenziell wichtige Variablen deutlich weniger gilt. Für Zuckeranbau und Sklavenhandel jedoch gilt, dass sie weder besonders umfangreich waren noch stärkere wachstumsfördernde Effekte für die übrige britische Wirtschaft hatten.42 Theoretisch ließe sich das Argument, die geringen Einnahmen aus der Peripherie seien in Wirklichkeit wichtiger gewesen, als die reinen Geldbeträge nahelegen – allerdings mit der Behauptung stützen, für das frühneuzeitliche Großbritannien, oder Europa, hätte es überhaupt keine – oder keine wirklich vergleichbaren – Alternativen zu diesen Einnahmequellen gegeben. Auch das scheint mir übertrieben, denn im Inland wie Ausland hätten sich solche – wenigstens annähernden – Alternativen durchaus finden lassen.43 Die Verkettungseffekte von Kolonialwaren wie Zucker und Tabak waren recht gering. Anders verhielt es sich natürlich mit Baumwolle, deren bei Weitem wichtigster Lieferant für Großbritannien ab dem Ende des 18. Jahrhunderts jedoch die unabhängigen Vereinigten Staaten wurden – die Briten mussten die üblichen Marktpreise zahlen und besaßen hier keinen Vorteil gegenüber anderen Ländern.

40 Dies bemerken Eltis/Engerman treffend: »Was für den Sklavenhandel oder für Zucker gelten würde, wäre dann auch für viele andere Wirtschaftszweige im Inland wie Ausland anzunehmen.« (»Importance of Slavery«, 135) 41 Drei von vielen Beispielen: Blackburn, Making of New World Slavery, Kap. XII; Pomeranz, Great Divergence, 87–88; Solow, »Caribbean Slavery«, 105. Das Gegenargument vertritt McCloskey, Bourgeois Dignity, 222, 229. 42 Eltis/Engerman, »Importance of Slavery«, Abstract. 43 Interessanterweise behaupten O’Brien/Engerman in ihrem Artikel, in Wirklichkeit habe es nicht viele Alternativen gegeben.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

14. Interkontinentaler Handel

Bei unserer Erörterung der Frage, welches Gewicht der Handel mit der Peripherie für Westeuropa und insbesondere das erste Industrieland Großbritannien hatte, sind wir von eindeutigen Fällen »ungleichen Tauschs« ausgegangen, bei denen die Rolle von Gewalt und Monopolen auf der Hand liegt. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich die genauen Auswirkungen solchen Zwangs leicht bestimmen ließen: »Reale« Marktpreise, mit denen man die »manipulierten« vergleichen könnte, gibt es nicht, und häufig ist nicht einmal klar, ob und wie die Preise überhaupt manipuliert wurden. In der Geschichtswissenschaft besteht die Tendenz, Europas Fernhandel rundweg mit »ungleichem Tausch« gleichzusetzen, seinen Binnenhandel dagegen als »normalen Handel« zu werten, obwohl dort merkantilistische Eingriffe aller Art offenkundig gang und gäbe waren. Viele Teile »des Rests« der Welt waren zudem zum Zeitpunkt des britischen Take-offs keine Peripherien Westeuropas im Sinne Wallersteins. Ihre Handelsbeziehungen mit Europa, die oftmals sicherlich streng kontrolliert und reguliert wurden, folgten letztlich dem Prinzip von Angebot und Nachfrage und boten den Europäern keinen besonderen Machthebel. Große Teile Asiens standen im Handel mit Europa bis weit ins 18. Jahrhundert, im Falle beispielsweise Chinas und Japans sogar bis in 19. Jahrhundert, unter keinerlei außerökonomischem Druck. In China und Japan waren die Europäer nur präsent, weil man sie duldete. Das Osmanische Reich war mindestens bis in die letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts hinein weitgehend autonom und unterzeichnete erst in den 1830er Jahren jene ungleichen Verträge, durch die ihm seine Zollpolitik diktiert wurde.1 Die Vereinigten Staaten von Amerika erlangten 1776 die Unabhängigkeit, der Handel mit ihnen vollzog sich seitdem somit »in freiem Einvernehmen«. Selbst der Kauf von Sklaven in Afrika erfolgte unter Bedingungen des Marktes. Der interkontinentale Handel der Briten basierte weitgehend nicht auf Zwang, sondern auf freiem Tausch. Das bedeutet erstens, dass theoretisch auch seine Handelspartner von ihm profitieren konnten, und zweitens, dass er anderen Parteien offenstand. Profitierte Großbritannien – in welcher Weise auch immer – von solchem freien Tausch, dann war 1 Gemeint ist der britisch-osmanische Vertrag von 1838, auch Abkommen von Balta Liman genannt.

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Interkontinentaler Handel

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dies grundsätzlich eher eine Folge als Ursache seiner wirtschaftlichen Überlegenheit. Auf der anderen Seite bildeten große Teile Europas tatsächlich eine Peripherie seines nordwestlichen Kerns, nicht im Sinne einer formalen politischen Abhängigkeit – mit Ausnahme Irlands, wo dies mindestens bis in die ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts der Fall war –, sondern insofern die Briten und andere Westeuropäer dort Güter kauften, die von unfreier Arbeitskraft produziert und/oder unter Bedingungen unfreien Tauschs gehandelt worden waren. Diese Tatsache ist zwar allgemein bekannt, ihre Implikationen werden aber in vielen Analysen bis heute ausgeblendet oder als selbstverständlich unterstellt. Eine systematische Analyse der innereuropäischen Beziehungen zwischen Kern und Peripherie wäre sehr begrüßenswert: Ein Großteil der fiktiven Nutzflächen Großbritanniens zum Beispiel lag nicht außerhalb Europas, sondern in Irland und Mittel- und Osteuropa. Soweit es zur Linderung des malthusianischen Drucks Lebensmittel importierte, kamen diese in erster Linie aus seiner gälischen Peripherie und Teilen Europas wie Preußen und Russland, gegenüber denen es keinerlei politischen Machthebel besaß, und nicht aus der atlantischen Region.2 Die britischen Importe von Getreide, Schrot und Mehl beliefen sich beispielsweise von 1800 bis 1814 auf 21 Millionen Viertelzentner; ein Drittel stammte aus Irland, ein weiteres aus Preußen und deutschen Ländern« und der Rest aus »Holland«, den Vereinigten Staaten, Russland und anderen Ländern.3 Bis 1824/26 wurde der Handel mit Irland in den britischen Statistiken als Außenhandel verbucht. Sein Umfang war beträchtlich: Die britischen Exporte nach Irland beliefen sich 1776 auf rund eine Million Pfund, 1797 auf rund 1,6 Millionen Pfund. Das entsprach 9,9 bzw. 9 Prozent seiner gesamten Exporte. Die Importe aus Irland beliefen sich in diesen Jahren auf 1,4 Millionen und 3,2 Millionen Pfund bzw. 10,6 und 13,1 Prozent der Gesamtimporte.4 In den 1820er Jahren machten die Exporte nach Irland mit mehr als 4 Millionen Pfund über 11 Prozent der britischen Gesamtexporte aus.5 Von den britischen Getreide-, Fleisch- und Butterimporten stammten im Zeitraum von 1814/16 bis 1844/46 durchschnittlich rund 70 Prozent aus Irland. Ihr Wert entsprach im Durchschnitt etwa 10 Prozent der gesamten britischen Einkünfte aus der Land- und Forstwirtschaft sowie der Fischerei. Hinzu kamen Viehimporte im Wert von mehreren Millionen Pfund.6

2 3 4 5 6

Vgl. Thomas, »Food Supply« und »Escaping from Constraints«. Thomas, »Food Supply«, 143. Etemad, Utilité des empires, 146. Evans, Forging of the Modern State, 417. Thomas, »Escaping from Constraints«, 182–183.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass der interkontinentale Handel bis zu den Transportrevolutionen des 19. Jahrhunderts ganz überwiegend als Überseehandel auf Segelschiffen erfolgte. Sein Löwenanteil lag in europäischen Händen. Die Gesamttonnage der Schiffe war gering: etwa eine Million Tonnen um 1600 und 1,5 Millionen Tonnen 1670. Am Ende des 18. Jahrhunderts lag sie immer noch unter vier Millionen Tonnen. Die Schiffe waren klein: Die Frachtkapazität der zwischen Europa und Asien verkehrenden Schiffe betrug in der frühen Neuzeit durchschnittlich nur 600 bis 700 Tonnen – heutige Öltanker fassen bis zu 500.000 Tonnen. Der Transport auf solchen Schiffen war langsam: Im 18. Jahrhundert brauchte ein Schiff der Niederländischen Ostindienkompagnie im Schnitt 235 Tage, um von einem Heimathafen nach Batavia zu gelangen, nach Kanton waren es 225 Tage. Die Gesamttonnage der nach Asien auslaufenden Schiffe betrug für das gesamte 17. und 18. Jahrhundert weniger als 7 Millionen Tonnen, bei den von dort nach Europa zurückkehrenden Schiffen nur etwa 5 Millionen Tonnen. Zum Vergleich: Im Hafen von Rotterdam wurden allein 2010 mehr als 400 Millionen Tonnen umgeschlagen. Wie angemerkt, wurde der Atlantikhandel insgesamt viel wichtiger für Europa als der Handel um das Kap, aber es ist doch erstaunlich, dass die Kaproute insgesamt bestenfalls knapp 6 Prozent der gesamten europäischen Schifffahrt ausmachte. Sogar für die wichtigsten Handelsnationen Westeuropas waren Importe aus anderen Kontinenten bemerkenswert gering. Als in den 1770er Jahren in Großbritannien der Aufschwung begann, beliefen sich die gesamten Importe aus der westlichen Welt und Asien auf nicht mehr als ungefähr 120 Gramm Silber pro Jahr und Kopf für Großbritannien, 170 Gramm für die Niederlande und 30 bis 35 Gramm für Frankreich. (Diese Zahlen beziehen sich auf Gesamtimporte, nicht auf im Import erzeugte Profite.)7 Diese Zahlen sind insofern geschönt, als ein erheblicher Teil der Importe, oftmals nach wertschöpfender Weiterverarbeitung, reexportiert wurde.8 Ab7 De Vries, »Connecting Europe and Asia«. 8 Zu den britischen Reexporten: Deane/Cole, British Economic Growth 1688–1959, 320–321.; Evans, Forging of the Modern State, 416. Beide Publikationen zusammen decken den Zeitraum von 1700 bis 1870 ab. In den 1770er Jahren beliefen sich die Reexporte auf durchschnittlich rund 40 Prozent des Gesamtwerts der Importe. Auch Frankreich reexportierte einen erheblichen Teil seiner Kolonialimporte: von 1775 bis 1777 nicht weniger als 77,3 Prozent, von 1785 bis 1789 72,8 Prozent (Blackburn, Making of New World Slavery, 445). Der Wertumfang der Reexporte machte 17,7 Prozent im Jahr 1717 und 33 Prozent 1787 aus (Pétré Grenouilleau, Traites négrières, 350). Der Wertumfang der niederländischen Reexporte betrug in den 1770er Jahren zwei Drittel ihrer überseeischen Importe (De Vries/Van der Woude, First Modern Economy, Tab. 10.12). Auf die reexportierten Güter entfiel ein Wertzuwachs von 10 Millionen Gulden. Der Gesamtwert der transatlantischen Importe belief sich auf 62 Millionen Gulden jährlich bzw. 6 Millionen Pfund.

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Interkontinentaler Handel

solute Größen sind nicht immer der beste Indikator für Auswirkungen – auch ihr Verhältnis zum BIP kann aufschlussreich sein. Außenhandelsvolumen, Importe und Exporte werden in der Literatur deshalb oft mit dem BIP verglichen. Für einige Länder, die für unsere Analyse von zentraler Bedeutung sind, liegen Schätzungen (Tab. 38) vor.9 Tab. 38: Exporte und Importe, inklusive Re-Exporte als Teil des BIP (in %) Land

ca. 1720

ca. 1755

ca. 1790

1820

Österreich

1830 11,4

Belgien Dänemark Frankreich

5,5

14

20

1840

82,0

84,0

Spanien

110,0

14,2

13,2

18,7

29,0

26,7

31,3

35,6

17,5

27,5

36,5

29,7

35,7

9,8

8,2

10,7

13,0

20,2

23,6

19,2

23,2

36,8

53,4

64,0

96,4

115,4

8,5

10,6

12,1

5,7

6,8

13,8

20,0

29,4

21,4

18,8

25,2

27,8

41,8

43,6

13,5

11,5

15,4

18,1

24,8

29,9

6,4

8,9

9,2

33,0

16,0

Schätzung des gesamteuropäischen Handels als Prozentsatz des gesamteuropäischen BIP Schätzung des gesamteuropäischen Handels mit Regionen ausserhalb Europas als Prozentsatz des gesamteuropäischen BIP

19,0

20,0

24,0

1870

7,5

25,8 6,0

Schweden Vereinigtes Königreich

1860

19,0

Deutschland Niederlande

1850

3,8

Quelle: O’Rourke/Prados de la Escosura/Daudin, »Trade and Empire«, 106. Vereinigtes Köningreich meint hier für die Periode vor 1800 nur England und Wales.

Die Situation in Großbritannien in der für unsere Analyse entscheidenden Zeit beschreiben Phyllis Deane und William Cole folgendermaßen:

9 Zum westlichen Außenhandel, einschließlich des britischen, vgl. (in alphabetischer Reihenfolge): Bairoch, Economics and World History, Teil 2: »Verbreitete Mythen über die Rolle der Dritten Welt für die westliche Entwicklung«; Emmer/Pétré-Grenouilleau/Roitman, A Deus ex Machina Revisited; Etemad, Possessing the World; ders., De l’utilité des empires; O’Brien/Prados de la Escosura, Costs and Benefits of European Imperialism; O’Brien, »Foundations of European Industrialization«; De Vries, »Connecting Europe and Asia«; ders., »Limits of Globalization in the Early Modern World«.

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290

Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Am Ende des 17. Jahrhunderts entsprachen die Exporte aus England und Wales [insgesamt, PV] 5 bis 6 Prozent, ihre Importe 9 bis 10 Prozent des Nationaleinkommens. Bis Ende des 18. Jahrhunderts hatten sich diese Größen mehr als verdoppelt – auf rund 13 und 21 Prozent –, doch auf die Phase des raschen industriellen Wachstums nach dem Ende der Napoleonischen Kriege scheint der Binnenmarkt stärker reagiert zu haben als der Überseehandel, sodass die Exporte des Vereinigten Königreichs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchschnittlich 10 Prozent oder weniger des Nationaleinkommens entsprachen. Die Importe begannen in den späten 1840er Jahren zu wachsen.10

Die britischen Gesamtexporte bewegten sich in der Periode von 1780 bis 1850 zwischen 9 und 20 Prozent, die Importe zwischen 10 und 25 Prozent des BIP.11 Insofern war die britische Wirtschaft eindeutig offener als beispielsweise die französische. Doch so verbreitet diese Vergleiche auch sind, in gewissem Sinn führen sie in die Irre. Was mit dem BIP zu vergleichen wäre, ist nicht – wie bei den eben genannten Zahlen – der gesamte Umsatz, sondern nur die Wertschöpfung im Außenhandel. Was im Handel erzeugt wird, ist allein die Differenz zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis, soweit sie das Inlandseinkommen erhöht, nicht der Gesamtumsatz. Um herauszufinden, wie viel Wert dort tatsächlich erzeugt wurde, müsste man von den Exporten die in ihrer Herstellung verwendeten Importe abziehen. Die Differenz kann erheblich sein. Laut den neuesten Zahlen für die Niederlande entfiel der Wert der Exporte von 2011 zu rund 40 Prozent auf Reexporte, nur 60 Prozent wurden im Inland neu erzeugt.12 Wie wir gesehen haben, hatten Reexporte für mehrere westeuropäische Volkswirtschaften große Bedeutung. In unserem Untersuchungszeitraum bestanden Europas Erstimporte zunehmend aus Rohstoffen, die weiterverarbeitet wurden. Das Gros des erzeugten Werts gelangte so in europäische Hände – und wurde von Europäern bezahlt. Mit der Industrialisierung und der Revolution im Transportwesen wurde eine wachsende Menge von Fertigerzeugnissen auch in die entstehende Dritte Welt ausgeführt. Um die tatsächliche Wertschöpfung zu messen, sollte man außerdem berücksichtigen, dass der Schutz des interkontinentalen Handels in der frühen Neuzeit sehr hohe Kosten verursachte. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die militärischen Ausgaben der Niederländischen Ostindienkompagnie in Fernost wurden für den Zeitraum von 1613 bis 1792 auf 257 Millionen Gulden geschätzt, was einem Drittel ihrer gesamten Investitionen in Übersee ent10 Deane/Cole, British Economic Growth, 309–310. 11 Zum britischen Außenhandel (in alphabetischer Reihenfolge): Esteban, »Comparative Patterns of Colonial Trade«; Engerman, »British Imperialism in a Mercantilist Age«; Morgan, Slavery, Atlantic Trade and the British Economy; O’Brien/Engerman, »Exports and the Growth of the British Economy«; O’Brien, »Inseparable Connections«. 12 http://statline.cbs.nl/StatWeb/publication/?DM=SLNL&PA=70905NED&D1= a&D2=a&D3=(l-14)-l&VW=T.

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Interkontinentaler Handel

291

spricht.13 Selbst im Fall der bewaffneten Chartergesellschaften waren es allerdings häufig nicht die Händler selbst, die für diese Kosten aufkamen, zumindest nicht vollständig. Die höchsten privaten Gewinne wurden oft durch die höchsten gesellschaftlichen Kosten erzielt. Was die exakte Bestimmung der Einkünfte aus dem Außenhandel zusätzlich erschwert, ist die Tatsache, dass die Einkaufspreise der Waren in Fällen, in denen die Europäer außerökonomischen Druck ausüben konnten, häufig unter, die Endverkaufspreise der (Semi-)Monopolisten in Europa aber häufig über dem Marktniveau lagen. Mit Blick auf die Frage der Akkumulation gilt das Hauptaugenmerk natürlich den Gewinnen, die der Westen im interkontinentalen Handel erzielte. Diese wurden häufig auf Grundlage bestimmter Anhaltspunkte als außergewöhnlich bezeichnet, so etwa von Fernand Braudel: »Denn wenn der Fernhandel auch nicht alles ist, öffnet sich doch nur durch ihn der Zugang zu einer höheren Ebene des Profits.«14 Inzwischen scheint es jedoch, dass sie gemessen an den Gesamteinnahmen und -investitionen selbst bei sehr großzügiger Schätzung eher niedrig und im Vergleich zu den Gewinnen in anderen Wirtschaftszweigen recht gewöhnlich waren und im Lauf des 18. Jahrhunderts tendenziell sanken.15 Der Handel mit Asien war stärker monopolisiert als der mit Nord- und Südamerika, der für Westeuropa (mit Ausnahme der Niederlande) im Lauf des 18. Jahrhunderts rasch wesentlich größere Bedeutung gewann. Während die Briten mit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten die Kontrolle über den Handel mit Nordamerika verloren, musste die spanische Regierung den Handel zwischen Mutterland und Kolonien zunehmend liberalisieren. Sevilla verlor seinen Rang als alleiniger Handelshafen an Cadiz, und im 18. Jahrhundert erhielten mehrere Privatgesellschaften Handelsmonopole auch für andere Häfen. In den 1760er Jahren setzten weitreichende Reformen ein, die den Handel mit Nord- und Südamerika bis 1778 von einigen Ausnahmen abgesehen für spanische Kaufleute grundsätzlich öffneten, gegenüber ausländischen Kaufleuten dagegen noch stärker abschotteten als zuvor.16 Es ist hier nicht nötig, auf alle Länder einzugehen. Bemerkenswert ist vielmehr folgende Beobachtung von Niels Steensgaard: »Die meisten Handelsgesellschaften waren ein Misserfolg, ja praktisch alle waren dies […] die Frage lautet: Warum waren so wenige Handelsgesellschaften wirklich erfolgreich, nämlich nur die nieder13 Gaastra, »›Sware continuerende lasten en groten ommeslagh‹«, 87–88. 14 Braudel, Sozialgeschichte, Bd. 3, 668. 15 Ich weise nur hin auf De Vries, »Connecting Europe and Asia«, 82–91 und ders. Economy of Europe in an Age of Crisis, 139–144; O’Brien, »European Economic Development«; ders., »Foundations of European Industrialization« und Steensgaard, »Commodities, Bullion and Services«. 16 Ringrose, Spain, Europe and the Spanish Miracle, Kap. 4 und 5.

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292

Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

ländische und die englische Ostindienkompagnie?«17 Selbst diese zwei Gesellschaften erlitten oft enorme Verluste. Die niederländische Ostindienkompagnie ging schließlich bankrott, die englische musste immer wieder vom Staat gestützt werden. Geld verdienten sie außerdem zunehmend nicht im Handel, sondern indem sie bestimmte Gebiete regierten.18 Ob man etwas als groß oder klein, relevant oder unbedeutend betrachtet, hängt natürlich vom Vergleichsmaßstab ab. Gemessen am BIP ist beinahe jeder Wirtschaftszweig klein. Gemessen am monetarisierten Teil der hier erörterten Wirtschaften nehmen sich die Investitionen und Gewinne im interkontinentalen Handel schon beeindruckender aus. Auch die Tatsache, dass er der dynamischste Handels-, ja Wirtschaftszweig überhaupt in Westeuropa war, muss bedeutende Folgen gezeitigt haben. Doch was beweist dies Anderes, als dass die von ihm profitierenden Ökonomien dynamisch waren und es verstanden, Handel zu treiben? Mit anderen Worten: Ist all das nicht eher Teil des zu Erklärenden als der Erklärung? Die wirtschaftliche Bedeutung von Waren muss nicht mit ihrem Geldwert identisch sein: Manche Waren haben deutlich mehr wirtschaftliches Potenzial und Auswirkungen als andere. Die Importe des im Aufstieg begriffenen Westeuropa waren überwiegend keine notwendigen, für sein Wachstum unverzichtbaren Dinge – so etwa Zucker, Kaffee, Tee, Kakao, Tabak, Gewürze, Textilien und Porzellan, die zusammen den Löwenanteil der Importe von außerhalb Europas ausmachten. Auch wenn sie mit der Zeit meist gewöhnliche Konsumgüter wurden, kamen sie zunächst als (halb-)luxuriöse Waren auf den europäischen Markt. Ihr Kauf bedeutete somit einen Abfluss »guten« Geldes für »überflüssigen Luxus«, den viele Zeitgenossen beklagten, ja verabscheuten. Es ist durchaus vorstellbar, dass es für Europa besser gewesen wäre, sie nicht zu importieren. Allerdings ließe sich auch fragen, ob bestimmte Importgüter nicht wirtschaftliche Fortschritte auslösten. Für manche Waren, besonders für Seide, Porzellan und Baumwolle, gilt dies gewiss. Sie wurden jedoch von vielen Ländern importiert, und noch mehr Länder hätten dies grundsätzlich tun können – dies erklärt also noch nicht, warum sie für die britische Industrialisierung eine so wichtige Rolle spielten. Wir haben bereits bei der Erörterung der Revolution des Verbrauchs, der Revolution des Fleißes sowie der Importsubstitution auf die bedeutsamen Effekte hingewiesen, die der Warenimport aus Übersee insbesondere in Großbritannien auf Verbrauch und Produktion hatte. Dabei sahen wir jedoch, dass es dennoch viel zu einfach wäre, ihn zur Ursache der industriellen Revolution zu erklären. Solche Güter waren auch wichtige Einnahmequellen für die Regierungen, da sie gewöhnlich mit hohen Steuern belegt wurden. Das zeigt 17 Zitiert nach Cavaciocchi, Prodotti e techniche d’oltremare, 717. 18 De Vries, »Limits of Globalization in the Early Modern World«, 727–728.

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Interkontinentaler Handel

293

jedoch nur, dass viele westeuropäische Verbraucher willens und in der Lage waren, stark besteuerte Güter zu kaufen. Der interkontinentale Handel brachte auch viele wichtige institutionelle Innovationen hervor und war fraglos von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung des Handelskapitalismus mit all seinen Folgen. Aber auch das ist keine schlichte Frage von Glück oder ein Automatismus. Auch andere Länder hätten weltweiten Handel treiben und dabei neue Institutionen entwickeln können. Was heute offenbar Konsens in dieser Frage ist, kann anhand der Ergebnisse von Colin Whites neuem Buch Understanding Economic Development sowie der wichtigsten Thesen und Argumente aus Paul Bairochs Economics and World History zusammengefasst werden – Positionen, die ich vollständig teile. White schreibt: »Geht man vom quantitativen Aspekt des Außenhandelssektors und der Geschichte der Länder aus, die die Anfänge einer modernen Wirtschaftsentwicklung erlebten, spricht alles dafür, dass der erfolgreiche Übergang [zu modernem Wirtschaftswachstum, PV] vor allem binnenwirtschaftlich bestimmt ist.« Man solle »das Hauptaugenmerk auf die Binnen- und nicht die Außenwirtschaft legen. […] Im Normalfall steht der außenwirtschaftliche Sektor für einen Markt, der im Vergleich zum Binnenmarkt klein ist. […] Selbst im günstigsten Fall scheint sein Beitrag nicht ausschlaggebend zu sein, sondern die Entwicklung allenfalls zu fördern.«19 Bairoch widmet sich explizit »Mythen über die Rolle der Dritten Welt für die Entwicklung des Westens«: Während der Phase von 1800 bis 1938 machten die Exporte der entwickelten Länder insgesamt nur 8 bis 9 Prozent ihres Bruttosozialprodukts aus. Die Exporte in die Dritte Welt entsprachen nur 1,3 bis 1,7 Prozent des Gesamtumfangs ihrer Produktion; rund die Hälfte davon ging in Kolonien. Betrachtet man nur Europa, sind die Zahlen etwas höher: Seine Exporte in die Dritte Welt beliefen sich in diesem Zeitraum auf 1,4 bis 1,8 Prozent des BIP, im Ausnahmefall Großbritannien war der Wert mit 4 bis 6 Prozent deutlich höher. In der Phase des beginnenden Take-offs von den 1720er bis zu den 1780er Jahren entsprachen die britischen Exporte in außereuropäische Länder lediglich 2 bis 3 Prozent der Binnennachfrage. Was die überwiegend aus Rohstoffen bestehenden Importe der entwickelten Länder aus der Dritten Welt betrifft, kann man nur schließen, dass sie als solche nicht entscheidend für den Prozess der Industrialisierung waren. Der Motor des modernen Wirtschaftswachstums ist Energie – und bis zum Ende der 1930er Jahre produzierte die entwickelte Welt mehr Energie, als sie verbrauchte. Sie verzeichnete in diesem Sektor sogar einen stattlichen Nettoexportüberschuss, und einer der wichtigsten Exporteure war das Vereinigte Königreich. Ein ähnlicher Befund ergibt sich für die wichtigsten mineralischen Rohstoffe. Der einzige wichtige Rohstoff, bei dem die entwickelten 19 Alle Zitate nach White, Understanding Economic Development, 234–235.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Länder auf einen Produktionsüberschuss der Dritten Welt angewiesen waren, waren Textilfasern, aber selbst hier hielt sich ihre Abhängigkeit in Grenzen. Laut Bairoch ist Handel fast nie der Motor modernen Wachstums.20 Ein klarer allgemeiner Zusammenhang zwischen dem Kolonialismus und der Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums in dem Sinne, dass Kolonien eine notwendige oder gar hinreichende Voraussetzung für den Take-off wären, ist eindeutig nicht gegeben. Er lässt sich nicht einmal für Großbritannien nachweisen, dessen Überseehandel häufig ungleichen Tausch beinhaltete – aus den vielen bereits genannten Gründen, aber auch, weil die Chronologie dagegen spricht: Großbritannien hatte sein Empire, einschließlich großer Teile Indiens, weitgehend schon vor der Industrialisierung aufgebaut und seine wichtigste Kolonie – die Vereinigten Staaten – zum Zeitpunkt des Take-offs bereits wieder verloren, während spätere Eroberungen eher Resultat als Ursache der Industrialisierung waren. Gemessen an ihrem BIP importierte die entwickelte Welt wenig aus peripheren Ländern. Diese jedoch exportieren gemessen an ihrem BIP viel, und die Auswirkungen dieser Exporte auf ihre Wirtschaften waren weitaus größer und häufig nicht sehr positiv. Dass der formelle und informelle Kolonialismus, was immer er sonst noch bewirkt haben mag, in der späteren Dritten Welt wirtschaftlich erheblichen Schaden anrichtete, liegt auf der Hand. Er verursachte den Niedergang ihres herstellenden Gewerbes. In der Dritten Welt lag dieses zu erheblichen Teilen in den Händen ausländischer Unternehmen und konzentrierte sich ein (zu) großer Teil der Produktion in traditionellen Sektoren. Insgesamt führte die wirtschaftliche Globalisierung eindeutig nicht zu einer globalen Angleichung, sondern vertiefte in der Phase etwa von den 1820er bis zu den 1930er Jahren die Kluft zwischen reichen und armen Ökonomien vielmehr. Ob sie den Wohlstand nicht-westlicher Länder steigerte oder nicht, konnte unterschiedliche Gründe haben. Die Armut einiger unterentwickelter Länder könnte durchaus der Tatsache geschuldet sein, dass sie nicht ausreichend in die entstehende Weltwirtschaft integriert waren.21 Es gibt jedoch auch gute Gründe für die Annahme, dass zwischen Globalisierung und Great Divergence in vielen Fällen insofern eine enge Wechselbeziehung bestand, als etliche Länder von dem enormen Wachstum des Welthandels nicht oder zumindest deutlich weniger als andere profitierten. Dieser für viele Leser vermutlich überraschende Zusammenhang – hier stütze ich mich vor allem auf Jeffrey Williamson – soll im Folgenden erklärt werden.22 20 Bairoch, Economics and World History, Kapitel 5, 6, 7 und 8. Dass Handel fast nie der Motor modernen Wachstums sei, behauptet er auf den Seiten 136–138. 21 Vgl. den knappen Überblick und die zu dieser Auffassung tendierenden Bemerkungen von Lindert/Williamson, »Does Globalization Make the World More Unequal?«. 22 Ich stütze mich hier vor allem auf Williamson, Trade and Poverty.

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Globalisierung und Great Divergence

295

15. Globalisierung und Great Divergence: Wie die Dritte Welt entstand und in den Rückstand geriet

Nahezu alle Vertreter der vorherrschenden Wirtschaftslehre betrachten Handel als entwicklungs- und wachstumsfördernd. Demnach wäre anzunehmen, dass der Welthandelsboom ab den 1810er Jahren, als allmählich globale Massenmärkte entstanden, allen beteiligten Ländern zugutekam und eine globale Angleichung einsetzte. Wie Jeffrey Williamson, auf den ich mich hier primär stütze, jedoch zeigt, war dies in vieler Hinsicht und für etliche Länder nicht der Fall. Was geschah? Mit der Industrialisierung und den steigenden Einkommen in den sich industrialisierenden Ländern nahm die Nachfrage nach Rohstoffen und Primärgütern deutlich zu. Die Transportrevolution des 19. Jahrhunderts ermöglichte einen globalen Handel mit Grundgütern, den der Abbau von Einfuhrzöllen zusätzlich förderte. Um Absatzmärkte für ihre immer billigeren Produkte zu erschließen, öffneten die sich industrialisierenden Länder ihre eigenen Märkte und drängten andere Länder, dies ebenfalls zu tun. So erlebte das 19. Jahrhundert einen Boom des Welthandels, mit dem sich die Terms of Trade für die Rohstoffe und Primärgüter exportierenden Länder bis zu den 1870er Jahren verbesserten: Die Preise ihrer Exporte stiegen, während die Industriegüterexporte der entwickelten Länder billiger wurden. Die sogenannte Prebisch-Singer-These eines langfristigen Verfalls der Terms of Trade von Primärgütern gilt zumindest für diese Periode nicht. Die entstehende Weltwirtschaft ermöglichte allen Beteiligten Handelsgewinne. Mit ihr bildete sich auch eine klare globale Arbeitsteilung, die »Große Spezialisierung«, heraus.1 Im Jahr 1880 bestanden die Exporte der sogenannten Dritten Welt zu 98 Prozent aus Primärprodukten, während die britischen – um den deutlichsten Kontrast zu wählen – bereits in den 1830er Jahren zu rund 90 Prozent auf Industriegüter entfielen. Diese Arbeitsteilung brachte ein bestimmtes Reichtumsgefälle zwischen den industrialisierten oder sich zumindest industrialisierenden Ländern und den Ländern ohne Industrie hervor. Im Gegensatz zu dem, was die meisten Vertreter der vorherrschenden Wirtschaftslehre erwarten würden, waren die Handelsgewinne sehr ungleich verteilt. Es kam weit häufiger zu asymmetrischen Entwicklungen als 1 Vgl. zu diesem Begriff Robertson, »Future of International Trade«, 6.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Tab. 39: Handel mit Rohstoffen: Regionale Anteile, 1876–1913 (in %) Region

1876–80 Importe

1896–1900

Exporte

Importe

Exporte

1913 Importe

Exporte

Vereinigtes Königreich

29,7

3,1

25,8

3,9

19,0

6,2

Nordwesteuropa

39,3

22,6

45,0

27,6

43,1

25,2

Restliches Europa

11,2

20,2

10,4

18,1

12,3

14,7

USA und Kanada

7,2

16,1

8,5

18,7

11,3

17,3

12,6

38,0

10,3

31,7

14,3

36,6

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

Rest der Welt Weltweit

Quelle: Kenwood/Lougheed, Growth of the International Economy, 98.

Tab. 40: Handel mit Industriegütern: Regionale Anteile, 1876–1913 (in %) Region

1876–80 Importe

1896–1900

1913

Exporte

Importe

Exporte

9,1

37,8

10,4

31,5

8,2

25,3

Nordwesteuropa

18,1

47,1

20,3

45,8

24,4

47,9

Restliches Europa

13,3

9,2

12,2

10,3

15,4

8,3

USA und Kanada

7,7

4,4

9,6

7,4

12,1

10,6

51,8

1,5

47,5

5,0

39,9

7,9

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

Vereinigtes Königreich

Rest der Welt Weltweit

Importe

Exporte

Quelle: Kenwood/Lougheed, Growth of the International Economy, 98.

zu einer Angleichung. Insgesamt bildeten sich, natürlich mit Unterschieden je nach Zeit und Ort, erhebliche Wachstums- und Entwicklungsdifferenzen zwischen überwiegend Primärgüter und überwiegend Industriegüter erzeugenden Ländern heraus. Diese entstehende Kluft zwischen reichen Industrieländern und armen, Primärgüter produzierenden Ländern war nicht nur ein globales Phänomen: Wie oft vergessen oder schlicht ignoriert wird, trat sie auch innerhalb Europas auf.

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Globalisierung und Great Divergence

Tab. 41: BIP-Wachstum und Zusammensetzung der Exporte von 1870 bis 1939 BIP pro Kopf 1870

1939

Exporte

Durchschnittswachstum

Wert in 000 Dollar von 1990

Rohstoffe (%) 1870

1939

Kern Österreich

974

4.123

2,03

1.918

28

36

Frankreich

1.858

4.748

1,77

7.000

44

41

Deutschland

1.913

5.549

2,17

5.017

38

18

Italien

1.467

3.444

1,18

1.096

88

45

Vereinigte Staaten

2.457

6.568

1,46

4.488

86

48

Vereinigtes Königreich

3.263

5.979

0,91

11.811

11

24

Dänemark

1.927

5.766

1,74

355

96

85

Griechenland

1.295

2.687

0,94

84

94

94

Norwegen

1.303

4.108

1,62

217

97

58

Portugal

1.085

1.739

0,73

183

96

61

Russland

1.023

2.237

1,27

2.456

98

82

Schweden

1.664

5.029

1,95

411

91

56

Serbien

822

1.412

0,83

59

96

86

Spanien

1.376

2.127

0,73

796

71

84

Europäische Peripherie

Quelle: Williamson, Trade and Poverty, 186. Der Wert des BIPs für Österreich für 1870 erscheint mir viel zu niedrig.

Williamson hebt zwar die steigenden Erträge in industriellen Sektoren hervor, analysiert die Entstehung dieser Kluft ansonsten aber streng neoklassisch. Insgesamt verzeichneten die sich industrialisierenden Länder der Tendenz nach höhere Wachstumsraten als diejenigen, in denen keine Industrialisierung stattfand. Offenbar waren – und sind – in der industriellen Entwicklung sich selbst verstärkende Mechanismen am Werk. Williamson geht von der Tatsache aus, dass in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts manche Länder industrialisiert – oder auf dem Weg dahin – waren, andere dagegen nicht. Warum dies der Fall war, analysiert er nicht. Seine wenigen Bemerkungen zu Chronologie und Ursachen der Great Divergence machen

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

jedoch deutlich, dass er die These »überraschender Ähnlichkeiten« nicht teilt. Eine erhebliche Einkommenskluft zwischen Westeuropa und einer ärmeren Peripherie (im Verhältnis von 2:1) existierte laut Williamson bereits 1820. Der Grund für diese Kluft müsse daher in der Zeit vor der industriellen Revolution und sogar, wie er später schreibt, vor 1700 gesucht werden.2 Andererseits sei es im 19. Jahrhundert zu einem »sich beschleunigenden Auseinanderdriften« gekommen: So besteht die Kluft zwar bereits seit mindestens 500 Jahren, doch während Westeuropa viele Jahrhunderte brauchte, um bis 1820 ein doppelt so hohes Prokopfeinkommen wie die Peripherie zu erzielen, dauerte es nur ein Jahrhundert, bis es 1913 ein dreieinhalb Mal so hohes verzeichnete. […] Das 19. Jahrhundert erscheint somit als eine Zeit des außergewöhnlich rapiden Auseinanderdriftens von Kern und Peripherie, das in dem halben Jahrhundert von 1820 bis 1870 am dramatischsten war.3

Dass sich Länder gemäß ihrer komparativen Vorteile spezialisierten und jeweils das produzierten, was sie am besten produzieren konnten – Industriegüter oder Primärgüter –, betrachtet er als logisch. Das produzierende Gewerbe der nicht industrialisierten Länder unterlag meist in der Konkurrenz mit der modernen Industrie der entwickelten Länder, was der Tendenz nach zu einer Deindustrialisierung führte, oder genauer, aber weniger griffig formuliert: zum Niedergang eines Großteils ihres herstellenden Gewerbes. Tab. 42: De-Industrialisierung: Textilimporte in der Dritten Welt (in %) Land

Heimische Textilversorgung durch: Auslandsimporte

Eigene Industrie

Indien, 1800

–6 bis –7

106 bis 107

Indien, 1833

5

95

Indien, 1877

58 bis 65

35 bis 42

Osmanisches Reich, 1820er

3

97

Osmanisches Reich, 1870er

62 bis 89

11 bis 38

Indonesien, 1822

18,1

81,9

Indonesien, 1870

62

38

Indonesien, 1913

88,6

11,4

Mexiko, 1800er

25

75

Mexiko, 1879

40

60

Quelle: Williamson, Trade and Poverty, 65.

2 Williamson, Trade and Poverty, 2–4. 3 Ebd., 4.

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Diese Länder mit einem nicht konkurrenzfähigen produzierenden Gewerbe mussten eine Antwort auf die Herausforderungen finden, welche die westliche Industrialisierung ihnen stellte. Im Großen und Ganzen reagierten sie so, wie von Eli Heckscher und Bertil Ohlin, ausgehend von Ricardos Theorie der komparativen Vorteile, prognostiziert: Länder mit kleiner Bevölkerung und vielen Ressourcen setzten stärker auf den Export von Primärgütern, während solche mit relativ großer Bevölkerung und wenig Ressourcen den Aufbau einer arbeitsintensiven Produktion forcierten. Schon deshalb wirkte sich die Globalisierung ganz unterschiedlich aus, je nach dem bereits erreichten Industrialisierungsgrad eines Landes, aber auch entsprechend seiner jeweiligen Faktorausstattung und Spezialisierung. Betrachten wir zunächst Japan, China und Indien. Die ersten beiden Länder verfügten über eine relativ große Bevölkerung und relativ wenig Ressourcen.4 Japan erlebte nach seiner Öffnung einen starken Handelsaufschwung und steil ansteigende Terms of Trade; es initiierte nun eine arbeitsintensive Industrialisierung. Hier hatte die Globalisierung offenbar positive Auswirkungen. Auf China wirkte sich der globale Handelsboom nur schwach aus; auf den Außenhandel entfiel weiterhin nur ein geringer Anteil seines BIP. Verglichen mit Japan war China bereits vor der Öffnung recht offen gewesen, und was eher ungewöhnlich war: Seine Terms of Trade fielen. Chinas Exporte wurden im Vergleich zu seinen Importen billiger. Anders als die Industriegüter, die nicht-industrialisierte Länder normalerweise einführen, wurde sein wichtigstes Importgut – Opium – in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht billiger, sondern teurer. Sein wichtigstes Exportprodukt – Tee – verzeichnete dagegen keinen Preisanstieg auf dem Weltmarkt. Trotz gewisser Tendenzen zur Deindustrialisierung in der Baumwollspinnerei wurde die Binnennachfrage nach Stoffen in den 1870er Jahren noch immer zu 81 Prozent von den einheimischen Betrieben und Handarbeitern gedeckt, und bis 1831 kaufte England jedes Jahr mehr nankeens – Stoffe aus Nanking und anderen Orten des unteren Jangtsegebiets –, als es selbst maschinell gefertigte Stoffe in China verkaufte.5 In Indien hatte der Niedergang des produzierenden Gewerbes bereits vor 1800 eingesetzt. Die Gründe dafür lagen anfangs im Land selbst: Aufgrund nachlassender Produktivität der Landwirtschaft und steigender Nominallöhne, verursacht unter anderem durch klimatische Veränderungen und die negativen Auswirkungen des Zerfalls des Mogulreichs, büßte es seine internationale Konkurrenzfähigkeit ein. Indiens Wettbewerbsvorteil war also bereits geschwächt, bevor Großbritannien eine starke Textilindustrie entwickelte. Als sich das Land dann mit billigen britischen Exporten und neuen 4 Williamson äußert sich zu diesen zwei Ländern in ebd., 71–74. 5 Feuerwerker, Economic History of Late Imperial China, 125.

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hohen Zöllen auf seinen Exportmärkten konfrontiert sah, den eigenen Binnenmarkt aber aufgrund der britischen Herrschaft nicht ebenfalls durch Zölle schützen konnte, verschärften sich die Probleme. Um 1800 beliefen sich die indischen Textilexporte auf 4 bis 12 Prozent der Gesamtproduktion. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte das Land auf dem Weltmarkt erheblich an Boden verloren. Der Niedergang seines produzierenden Gewerbes begann bereits im frühen 19. Jahrhundert und vollzog sich größtenteils in dessen erster Hälfte. Die Globalisierung hatte daran einen relativ geringen Anteil.6 Findlay und O’Rourke weisen ebenfalls auf ein erhebliches Wachstum des Welthandels im langen 19. Jahrhundert hin, werten die Auswirkungen der globalen Arbeitsteilung auf Primärgüter exportierende Länder allerdings weniger negativ.7 Offene Märkte waren aus ihrer Sicht kein unüberwindliches Hindernis für Wachstum oder sogar Industrialisierung. Insgesamt habe der Handel mit Primärgütern klar zugenommen, deren Terms of Trade – wenn auch mit erheblichen Unterschieden je nach Zeitpunkt und Ort – noch keinen Niedergang erfuhren. Wie Williamson meinen auch Findlay und O’Rourke, dass sie sich bis zu den letzten Dekaden des Jahrhunderts insgesamt verbesserten, um danach – mit einigen Ausnahmen und je nach Produkt in unterschiedlichem Maß – zu sinken. Die These eines »Fluchs der Rohstoffe« und einer »hollländischen Krankheit« in den damaligen Primärgüter exportierenden Ländern relativiert sie deutlich. Zunächst einmal hätten viele Länder ohnehin nie über eine nennenswerte Industrie verfügt, weshalb sie auch keine ernsthafte Deindustrialisierung erleben konnten. Handel konnte aus ihrer Sicht durchaus als Wachstumsmotor wirken – so etwa in Nordamerika, das unter keinerlei Fluch der Rohstoffe gelitten habe, da es den Großteil seiner Ressourcen selbst verbrauchte. Auch Teile Lateinamerikas profitierten von der Kombination steigender Terms of Trade mit einem Arbeitskräfteangebot, das anfangs nicht unbegrenzt war und durch Einwanderungsgesetze auch eher begrenzt blieb. Die Neue Welt bevorzugte Arbeitskräfte aus Europa, wo die Löhne relativ hoch waren und oftmals stiegen, weshalb sie ebenfalls recht hohe Löhne bieten musste. In ressourcenreichen Regionen Asiens war Arbeitskraft häufig so reichlich vorhanden, dass die Löhne niedrig blieben. Auf die ganz unterschiedliche Entwicklungslogik in China und Japan und die Situation in Indien, das sich aufgrund der Kolonialherrschaft wiederum anders entwickelte, haben wir

6 Zum Niedergang des herstellenden Gewerbes in den werdenden Dritte-Welt-Ländern anderer Weltregionen, vgl. Williamson, Trade and Poverty, Kap. 5–8. 7 Vgl. Findlay/O’Rourke, Power and Plenty, Kap. 7, insbesondere 414–428, sowie Ronald Findlay/Mats Lundahl, »Resource-Led Growth – a Long-Term Perspective. The Relevance of the 1870–1914 Experience for Today’s Developing Economies«, WIDER Working Paper 162.

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bereits hingewiesen. Afrikas Exporte nahmen laut Findlay und O’Rourke deutlich zu, allerdings von einem sehr niedrigen Niveau aus. Was bedeutet das für die Great Divergence? Günstige Bedingungen vorausgesetzt, werten Findlay und O’Rourke die Möglichkeiten einer auf Ressourcen gestützten Entwicklung in Ländern mit ausreichend elastischem Angebot an Boden und Arbeitskräften eher positiv. Allerdings räumen sie ein, dass ein solches Wachstum häufig vor allem extensiv war: Die Kombination von mehr Boden und mehr Arbeitskräften steigerte zwar Produktion und Exporte, nicht aber zwangsläufig das reale Pro-Kopf-Einkommen. Auch Findlay und O’Rourke können letztlich nicht außer Acht lassen, dass die meisten Rohstoffländer in einen Rückstand gerieten, auch wenn sie keine Rückschritte machten. Insofern unterscheidet sich ihre Position schlussendlich gar nicht so sehr von Williamsons Auffassung. Immer mehr Ökonomen sind heute der Überzeugung, dass die Spezialisierung auf Produktion und Export von Primärgütern langfristig in der Regel negative Konsequenzen hatte und hat. Dies wird nicht nur von Williamson, sondern sehr überzeugend auch von Erik Reinert vertreten, der zwischen »richtigen« und »falschen« Arten von Spezialisierung unterscheidet und die Produktabhängigkeit wirtschaftlicher Entwicklung hervorhebt. Williamson ist kein Institutionalist: Wann und wie ausgeprägt bestimmte Entwicklungen auftreten, lässt sich ihm zufolge nicht durch Institutionen und institutionelle Unterschiede erklären. Große Bedeutung misst er den Terms of Trade im Außenhandel und somit der Frage bei, welche Waren produziert und exportiert werden. Dies jedoch werde nicht durch freie Entscheidung, sondern durch Geografie, Faktorausstattung und internationale Nachfrage bestimmt; Institutionen seien dabei kaum relevant.8 Für die meisten weniger entwickelten Länder markierte der Welthandelsboom demnach nicht den Beginn eines Take-offs und konnte dies auch nicht. Für viele Regionen triffft dies zwar zu, doch Williamson lässt etliche Ausnahmen unberücksichtigt und interpretiert seine Ergebnisse ausschließlich im Hinblick auf die Faktorausstattung.9 Mehrere Länder industrialisierten sich oder gelangten zumindest zu Reichtum trotz ihrer Faktorausstattung und komparativen Vorteile, und zwar in einer Weise, die unter Absehung von ihrem institutionellen Rahmen und der Regierungspolitik unerklärbar wäre. Die Arbeiten von Sokoloff und Engerman sowie von Acemoglu und seinen Kollegen zeigen meines Erachtens, dass Faktorausstattungen für die unter8 Williamson, Trade and Poverty, 213–214, 190. 9 Vgl. zur Kritik seines Ansatzes die Rezensionen von Nicolas Crafts in The Economic Journal (Februar 2013), 193–197, und Tirthankar Roy auf EH.net, Economic History Association (Juli 2011): http://eh.net/book_reviews/trade-and-poverty-when-thirdworldfell-behind.

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schiedliche Wirtschaftsentwicklung der USA und Kanadas einerseits, Spanisch-Amerikas andererseits zweifellos wichtig, aber als solche nicht ausschlaggebend waren. Faktorausstattungen und komparative Vorteile prädestinierten keine Region in Nord- und Südamerika für die Industrialisierung. Adam Smith riet den Einwohnern der britischen Kolonien, die später die Vereinigten Staaten wurden, ihr Kapital weiterhin in die Landwirtschaft zu investieren, wo es am besten und effektivsten angelegt sei, und nicht in das herstellende Gewerbe umzulenken. Dies nämlich würde »die weitere Steigerung ihrer jährlichen Wertschöpfung verzögern, statt sie zu beschleunigen, und den Fortschritt ihres Landes zu wirklichem Reichtum und wirklicher Größe behindern, statt ihn zu fördern«.10 Die meisten Ökonomen würden heute einräumen, dass dieser Ratschlag Smiths kein guter war. Länder, die Primärgüter exportierten, wiesen oftmals ein so großes Angebot an Arbeitskräften auf, dass die Löhne niedrig blieben und somit kein Anreiz zu Innovationen und der Entwicklung einer einheimischen Technologie bestand. Niedrige Löhne hemmen gewöhnlich die Entstehung eines großen Binnenmarkts – eine notwendige Voraussetzung für den Aufbau starker, breit aufgestellter nationaler Industrien – und wirken sich negativ auf das Ausbildungsniveau aus. In den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts, die sich durchaus zu einem Rohstoffexporteur hätten entwickeln können, war Arbeitskraft jedoch knapp. Das förderte die technologische Entwicklung. Grundsätzlich kann der Export von Primärgütern einen Entwicklungsschub auslösen, allerdings nur, wenn der Exportsektor ausreichende Verkettungseffekte auf die übrige Wirtschaft hat und technische sowie finanzielle Erträge abwirft, die im Inland für die Diversifizierung der Wirtschaft genutzt werden. Ohne die Diversifizierung und qualitative Höherentwicklung der Produktion, die den Aufbau eines nationalen Bankensektors erfordert, geraten primärgüterexportierende Länder schnell in eine Sackgasse. Erfolgreich vermieden wurde dies in einigen Fällen mit der Strategie einer Abschottung gegen teure Importe durch Importsubstitution. Wie Verfechter des freien Marktes meist nur zu gern vergessen, wurde sie auch während der britischen Industrialisierung und in vielen anderen Ländern, die später reich wurden, mit Erfolg implementiert. Infrage kam sie natürlich nur für wirtschaftspolitisch souveräne Länder, deren Eliten bereit waren, diesen Weg zu gehen. Doch selbst unter diesen Bedingungen – da haben die Freihandelsverfechter recht – scheiterte die Politik der Importsubstitution und des Aufbaus einer diversifizierten, entwickelten Wirtschaft in der Mehrheit der Fälle. Mit wachsenden Kapitalauslagen mussten Produktionseinheiten eine bestimmte Minimalgröße haben, um eine effiziente Im10 Smith, Reichtum der Völker, 394. Das bedeutet, dass der komparative Vorteil der dreizehn Kolonien aus Smiths Sicht in der Landwirtschaft lag.

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portsubstitution zu ermöglichen, die folglich mehr und auch nur in Wirtschaften mit ausreichend großem Binnenmarkt sinnvoll war. Um nationale Industrien aufzubauen, reichte Protektionismus gegen ausländische Konkurrenz – eine ohnehin nicht unproblematische Politik – offenbar nicht aus. Zoll- und Geldpolitik konnten dazu beitragen, aber die meisten Dritte-WeltLänder besaßen auf diesen Gebieten keine Souveränität. Bemerkenswerterweise waren die Zölle in der Peripherie oft höher als im Zentrum. Lateinamerika hatte bereits am Ende des 19. Jahrhunderts die höchsten Zölle der Welt – die weniger dem Schutz junger Industrien dienten als eine Form von Rentenabschöpfung darstellten oder arbeitsintensive Sektoren schützen sollten. So kann man nur zu dem Schluss gelangen, dass allgemeine Aussagen über Faktorausstattung und Handel oder auch über Faktorausstattung, Handel und Institutionen mit Vorsicht zu genießen sind. Das zeigt auch die im Folgenden kurz zu erörternde Deutung von Entwicklungen in Ostasien durch Kaname Akamatsu (1896–1974), einem renommierten japanischen Wirtschaftswissenschaftler, demzufolge die Öffnung zum Welthandel dieser Region gute Chancen für eine nachholende Entwicklung bot. Bereits in den 1930er Jahren legte er die Hauptelemente seines »Gänseschwarm-Modells der wirtschaftlichen Entwicklung« vor, ihm zufolge »eine Formel für die industrielle Entwicklung weniger fortgeschrittener Länder nach der Eröffnung von Handelshäfen und der Aufnahme umfassender Handelsbeziehungen zu fortgeschrittenen westeuropäischen Ländern«.11 Akamatsu vergleicht die Beziehung zwischen stärker und weniger entwickelten Ländern mit dem Formationsflug von Gänsen: Die weniger entwickelten Länder folgen denen an der Spitze (und jagen sie). Der Vergleich legt nahe, dass die führenden Länder dabei schließlich überholt werden. Das ist allerdings eher der Metapher geschuldet, als dass Akamatsu es tatsächlich behaupten würde. In Wirklichkeit ist das auch nicht geschehen. Alle Länder in der asiatischen Formation durchliefen die Stadien des Imports von Industriegütern, der Importsubstitution und schließlich des Exports, doch die führenden Länder büßten durch diesen Prozess einer ständigen Höherentwicklung nicht zwangsläufig ihre Position ein, auch wenn sie Produktionszweige, in denen sie nicht länger einen klaren Vorteil besaßen und Monopolprofite erzielten, anderen überließen. Wichtig aus globalgeschichtlicher Perspektive betrachtet ist die Tatsache, dass es laut Akamatsu mehrere solcher Formationen in der Weltwirtschaft gab (und gibt), in die sich Länder integrieren können: 11 Akamatsu, »Historical Pattern of Economic Growth in Developing Countries«, 11. Ich stützte mich hier außerdem auf Akamatsu, »Theory of Unbalanced Growth in the World Economy«, sowie die Zusammenfassung in Bachinger/Matis, Entwicklungsdimensionen des Kapitalismus, Kap. 3.2.

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eine von Japan angeführte in Asien sowie zwei weitere mit den Vereinigten Staaten und Westeuropa an der Spitze. Die globale Wirtschaftsgeschichte ist aus seiner Sicht nicht vom Gegensatz zwischen »dem Westen« und »dem Rest der Welt« oder »Nord« und »Süd« bestimmt. Wir erörtern Akamatsus Modell (Tab. 43) hier, weil es die nachholende Entwicklung in den Vordergrund rückt und mit dem von Williamson beschriebenen Welthandelsboom verknüpft, im Gegensatz zu diesem aber die positiven Effekte des Handels und andere Länder hervorhebt. Die Marktöffnung weniger entwickelter durch entwickelte Länder war ihm zufolge ein Prozess, durch den der europäische Kapitalismus solche Regionen »wach rief und an die moderne wirtschaftliche Entwicklung heranführte«.12 Die Importe aus den entwickelten Ländern waren demnach eine Herausforderung, ja notwendige Voraussetzung für nachholende Entwicklung. Ihre potenziell negativen langfristigen Konsequenzen beachtet Akamatsu weitaus weniger, als es beispielsweise Dependenztheoretiker und Williamson tun, und er legt den Eindruck nahe, es sei beinahe logisch, dass die »wachgerufenen« Länder in mehreren Stufen aufholen. Nach diesem Modell setzt die Marktöffnung in weniger entwickelten Ländern jene Produktionszweige unter Druck, die mit den fortgeschrittenen Ökonomien konkurrieren müssen. Sie löst so einen Niedergang des herstellenden Gewerbes aus – was in den betroffenen Sektoren jedoch einen Prozess der Importsubstitution in Gang setze und gleichzeitig zum Import von Kapitalgütern führe. Die aufkommende Binnennachfrage nach diesen (neuen) Importgütern sei wiederum eine Herausforderung für einheimische Hersteller, sie selbst zu produzieren. Die insgesamt niedrigen Produktionskosten ermöglichten es, Produkte anderer Länder zu kopieren, sie im Inland zu verkaufen und schließlich sogar zu exportieren. Gleichzeitig könne man eine einheimische Kapitalgüterindustrie aufbauen und zu Produktion und Export höherwertiger Konsumgüter übergehen. Akamatsus Modell ist im Grunde eine stilisierte Beschreibung der stufenförmigen Wirtschaftsentwicklung Japans nach seiner Öffnung, die durch eine ständige Interaktion mit entwickelten Ökonomien und der daraus folgenden Arbeitsteilung mit diesen sowie innerhalb Asiens möglich wurde. Dieser von Akamatsu als logische, reibungslose Stufenabfolge dargestellte Prozess beruhte jedoch in Wirklichkeit – wie er selbst einräumt – ganz wesentlich auf einem Handeln und einer Strategie, deren Erfolg zumindest in Japan an bestimmte Voraussetzungen geknüpft war. Daraus folgt, dass viele weniger entwickelte Regionen nicht in der von ihm behaupteten Weise aufholten und das auch nicht konnten. Das Japan der Meiji-Ära, das Akamatsu meist vor Augen hat, ist das deutlichste Beispiel für ein Land, dem dies in der 12 Akamatsu, »Historical Pattern of Economic Growth in Developing Countries«, 3.

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Tab. 43: Das Entwicklungsmodell von Akamatsu Stufe der Entwicklung

Industrielle Struktur

Handelsstruktur

Marktöffnung durch »entwickelte« Länder. Zerstörung lokaler Hersteller.

Importabhängigkeit. Importe von Gebrauchsgütern aus fortgeschrittenen Ländern. Entwicklung lokaler Märkte für importierte Güter.

Entwicklung von Gebrauchsgüterindustrie.

Anfang der Importsubstitution von Gebrauchsgütern. Import von Kapitalgütern aus fortgeschrittenen Industrieländern.

Entwicklung von Gebrauchsgüterindustrie. Nachahmung von Produkten aus fortgeschrittenen Industrieländern. Wettbewerbsvorteil wegen geringer Produktionskosten und verbesserter Produktqualität.

Steigender Export von Gebrauchsgütern, aber weitere Abhängigkeit von importierten Kapitalgütern.

Inländische Kapitalgüterindustrie und Produktion von qualitativ hochwertigen Endprodukten.

Export von Kapitalgütern an ursprünglich weiterentwickelte Länder, abnehmender Export von Gebrauchsgütern. Direktinvestitionen im Ausland.

1. Stufe Unterentwicklung

2. Stufe Imitation

3. Stufe Fortschritt

4. Stufe Führung

Basiert auf: Akamatsu, »A Historical Pattern of Economic Growth in Developing Countries«, 3–25 und aus Bachinger/Matis, Entwicklungsdimensionen des Kapitalismus, 299.

Phase vor dem Ersten Weltkrieg gelang. Japan, dessen nachholende Entwicklung bis hin zum Rang einer führenden Ökonomie eindeutig kein spontaner Prozess der Nachahmung und Importsubstitution war, der sich wiederum schlicht aus seiner Faktorausstattung erklären ließe, soll hier näher erörtert werden. In Japan waren bestimmte, für das Land charakteristische, Voraussetzungen gegeben, ohne die eine erfolgreiche nachholende Entwicklung deutlich

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schwieriger gewesen wäre. Zunächst bedurfte es einer gewissen mentalen Flexibilität – etwa der Bereitschaft, ausländische Güter zu kaufen und später durch einheimische Produkte zu ersetzen. Oder, allgemeiner gesprochen, die in Japan zu einem regelrechten Eifer gesteigerte Bereitschaft, »westliche« Gepflogenheiten zu übernehmen, einen »Geist des Industrialismus« zu entwickeln und das Land zu modernisieren. Hinzu kam eine spezifische Faktorausstattung: Japan verfügte über ein großes Angebot billiger und überaus fleißiger Arbeitskräfte. Außerdem hatte es bereits eine Marktwirtschaft entwickelt und wies eine wesentlich gleichmäßigere Einkommensverteilung als viele andere unterentwickelte Länder auf, sodass der Binnenmarkt einen Teil der einheimischen Industrieproduktion aufnehmen konnte. Das allgemeine Bildungsniveau war ebenfalls recht hoch. Zudem verfügte der japanische Staat der Meiji-Ära über eine starke Infrastruktur13 und eine effiziente, umfassende Verwaltung, die seine Politik des Fukoku ky¯ohei (»Ein reiches Land, eine starke Armee«) effektiv implementieren und ihr breite Unterstützung verschaffen konnte. Der Regierung gelang es, eine Abhängigkeit von ausländischem Kapital zu vermeiden: Die Entwicklung unter den Meiji beruhte vor allem auf einheimischem Kapital, auf nationalen Firmen und Unternehmern. Die recht hohen Steuern, an die sich die Bevölkerung bereits unter der Herrschaft der Tokugawa gewöhnt hatte, wurden nun zu einem erheblichen Teil auf die direkte oder indirekte Förderung der Entwicklung verwendet – auf den Aufbau von Infrastruktur einschließlich (Modell-)Fabriken, das Bildungswesen und den Kapitalgüterimport. Eine schützende Zollmauer konnte die Regierung nicht errichten – das verboten ihr die von 1854 bis 1859 oktroyierten ungleichen Verträge, die erst am Ende der Meiji-Herrschaft, im Jahr 1911, aufgehoben wurden. Doch zusammengenommen war dies eine Reihe von Voraussetzungen, die Japan – und später einige andere asiatische Länder – deutlich von den meisten weniger entwickelten Ländern unterschied und die zeigt, dass seine wirtschaftliche Modernisierung auf weit mehr beruhte als einer bloßen Öffnung für den Handel. Das Beispiel Japans ist faszinierend, weil es deutlich macht, wie monokausale Erklärungsansätze an den tatsächlichen Entwicklungs- und Wachstumsprozessen scheitern. Die wirtschaftliche Entwicklung unter den Meiji erklärt sich nicht einfach aus einer spezifischen Faktorausstattung (viele billige Arbeitskraft und knappe Ressourcen), dem richtigen Humankapital (hart arbeitende, qualifizierte Arbeitskräfte), durch Kapitalakkumulation (»Zwangssparen« durch hohe Steuern), Arbeitsteilung und Handel (Öffnung des Landes für den internationalen Wettbewerb), Institutionen (Marktwirt-

13 Vgl. zu diesem Begriff S. 405.

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schaft und Entwicklungsstaat) oder eine bestimmte Kultur (Wirtschaftsnationalismus und industrieller Geist), sondern aus einer Kombination all dieser Faktoren. In vielen Ländern, einschließlich peripherer Länder in Europa, war der Handel eher eine Triebkraft relativer Verarmung als der Auftakt zum modernen Wirtschaftswachstum. In bestimmten Teilen der globalen Ökonomie trug der expandierende Welthandel sicherlich zum Wachstum bei, doch selbst in solchen Fällen würde ich ihn nicht als den wirklichen Motor des modernen Wirtschaftswachstums betrachten. Ceteris paribus fördert Handel eine Reallokation der Produktion zum jeweils möglichen Optimum, ohne jedoch dieses Optimum selbst zu verschieben. Ohne technischen und organisatorischen Wandel muss die Steigerung der Erträge durch Spezialisierung folglich schnell an eine Grenze stoßen.14 In der vorindustriellen Welt war die Möglichkeit einer Marktausweitung, die die möglichen Handelsgewinne bestimmt, aufgrund sehr hoher Transport- und Kommunikationskosten recht begrenzt. Auch wenn die für die damalige Welt charakteristische Tyrannei der Entfernung der Vergangenheit angehören mag, ist räumliche Distanz als solche nicht irrelevant geworden. Viele Güter und Dienstleistungen sind nicht handelbar. Auch heute reist niemand für einen Friseurbesuch von Wien in die Mongolei, auch wenn er dort billiger ist. Die meisten Länder handeln nach wie vor mehr mit benachbarten als mit weit entfernten Ländern. Hier stellt sich erneut die Frage, warum gerade der Außenhandel so wichtig sein sollte. Wenn ein paar hunderttausend Abnehmer in der Karibik so bedeutsam für die britische Wirtschaftsentwicklung waren, wie etwa Blackburn und Pomeranz behaupten, wieso gilt dies dann nicht für die mehr als 300 Millionen Verbraucher, die der chinesische Binnenmarkt damals umfasste? Doch selbst bei einem unbegrenzten Markt bleiben die Handelserträge ohne Innovationen letztlich begrenzt. Dass Marktausweitung grundsätzlich ein starker Innovationsanreiz sein kann, soll damit natürlich nicht bestritten werden. Schließen wir diesen Abschnitt über Akkumulation durch (ungleichen) Tausch mit einigen allgemeinen, zusammenfassenden Bemerkungen, wobei wir auf die grundlegende Frage von Freihandel und Protektionismus gesondert eingehen. Die Hauptursache der Great Divergence lag nicht darin, dass die Verfügbarkeit materieller oder finanzieller Ressourcen in den später reichen Ländern eine grundlegend andere gewesen wäre als in denjenigen, die arm blieben. In mehreren fortgeschrittenen organischen Ökonomien bestand in dieser Hinsicht kein nennenswertes Hindernis für einen Take-off; die erforderlichen Ressourcen hätten im Prinzip aufgebracht wer-

14 McCloskey, Bourgeois Dignity, Kap. 23–29.

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den können. Die Bedeutung des internationalen Handels für die Great Divergence besteht aus meiner Sicht nicht darin, dass er den erfolgreichen Ländern möglicherweise die Akkumulation erleichterte. Natürlich ermöglicht Handel allerlei Gewinne. Doch selbst wenn ein Land dabei viel verdient: Was bedeutet das für die Erklärung seiner wirtschaftlichen Vorrangstellung? Unter Bedingungen freien und fairen Wettbewerbs bringt der Handel demjenigen am meisten ein, der sich am besten auf ihn versteht. Jeder hätte es im Prinzip tun können: Man kann niemandem »vorwerfen«, Handel getrieben oder sich dadurch einen ungerechten Vorteil verschafft zu haben. Der Handel ist ein »beweglicher Feiertag«, wie man sagt. Die Franzosen, oder auch die Chinesen oder Inder, hätten ebenfalls mehr Handel treiben können. Es ist allerdings klar, dass die für die britische industrielle Revolution – und das moderne Wirtschaftswachstum generell – kennzeichnende Ausweitung des Angebots sinnlos und das Wachstum schnell beendet gewesen wäre, hätte nicht zugleich eine Ausweitung der Nachfrage stattgefunden, und diese entfiel zu erheblichen Teilen auf das Ausland. Klar ist ebenso, dass Großbritanniens zunehmende Spezialisierung und Exporte stark von Importen abhängig waren. Findlay und O’Rourke stützen darauf die Behauptung einer letztlich ausschlaggebenden Rolle des Handels für die erste industrielle Revolution; vollziehen wir diese Argumentation also nach.15 Ihnen zufolge übersetzte sich der technologische Wandel dank des Außenhandels in ein nachhaltigeres Wachstum, als es andernfalls möglich gewesen wäre. Ohne Möglichkeiten für Importe und Exporte – wobei Letztere stark durch die sinkenden Preise der britischen Industriegüter begünstigt wurden – wäre Großbritanniens Wachstum demnach im 18. Jahrhundert zum Stillstand gekommen. Auch Innovationen, deren Bedeutung Findlay und O’Rourke sicherlich nicht übergehen, hingen demnach wenigstens teilweise von der Offenheit der Wirtschaft ab: Ohne Handelsexpansion hätte es geringere Anreize für solche Innovationen gegeben. Das klingt recht plausibel und ist meines Erachtens sogar wahr. Doch was bedeutet es für die Erklärung der industriellen Revolution in Großbritannien? Ohne die durch den Handel ermöglichten Importe und Exporte wäre das Wachstum an eine Grenze gestoßen, behaupten Findlay und O’Rourke. Aber das gilt natürlich für alle Länder der Welt. Warum hatte gerade Großbritannien die Handelsbeziehungen, die es brauchte? Unterstellen Findlay und O’Rourke nicht einfach, was sie erklären müssten? Das Gros der wachsenden Exporte ging in Länder, die die britischen Güter freiwillig kauften, weil sie offenbar ihr Geld wert waren. Man sollte sich da-

15 Findlay/O’Rourke, Power and Plenty, Kap. 6.

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vor hüten, den Anteil nicht-einvernehmlicher Geschäfte am britischen Handel während des Take-offs zu übertreiben.16 Außerdem stellt sich folgende Frage: Wenn Großbritanniens militärische Erfolge, da sie seine Märkte künstlich erweiterten, angeblich so wichtig für seinen Aufstieg zur ersten Industrienation waren – wie lassen sie sich dann selbst erklären? Verdankten sie sich nicht letztlich vor allem der Verfügung über mehr Ressourcen? Und wenn erklärt wird, die Offenheit Großbritanniens und seine wachsenden Märkte hätten Innovationen stimuliert, kann man natürlich fragen, warum dies nicht in den Niederlanden oder im Frankreich des 18. Jahrhunderts der Fall war, einem Land, dessen interkontinentaler Handel mitunter schneller wuchs als in Großbritannien, oder warum das gewaltige Wachstum des chinesischen Binnenmarktes keine Innovationsanreize bot. Wenn »Austausch« im weitesten Sinne und die durch ihn ermöglichte Akkumulation – meines Erachtens zu Unrecht – zum Motor von Wachstum, genauer: des modernen Wirtschaftswachstums erklärt werden, stellt sich schlicht die Frage: Warum verstanden sich bestimmte Länder, die zufällig alle im Westen lagen, so gut auf den (globalen) Handel, dass er ihnen die benötigten Ressourcen für den Take-off und ein anhaltendes Wachstum einbrachte? Die Antwort kann nur lauten, dass irgendetwas ihre Wirtschaften – Produktion, Handel oder beides – effizienter machte. Sollte der Handel also die entscheidende oder wenigstens eine wesentliche Ursache wirtschaftlichen Erfolgs sein, dann ist wiederum nach den Gründen erfolgreichen Handels zu fragen. Insoweit wir über ungerechten Austausch reden, jeglicher westliche Vorteil also auf Zwang und Manipulation gründete, stellt sich natürlich eine andere Frage: Wie konnte der nach Fläche wie Bevölkerung betrachtet vergleichsweise kleine Teil der Welt, den wie den ›Westen‹ nennen – bis zu den 1850er Jahren im Grunde nur Westeuropa –, mit Erfolg und Gewinn so viel Zwang ausüben? Am Ende des 18. Jahrhunderts, als die Great Divergence wirklich einsetzte und in Großbritannien das Zeitalter der Industrie und des Empire begann, lebten rund eine Milliarde Menschen auf der Welt – und in Großbritannien rund zehn Millionen! Die anderen großen Kolonialmächte Europas waren ebenfalls Zwerge, was Bevölkerung und Fläche betraf. Die Niederlande zählten damals rund 2 Millionen, Portugal etwa 3 Millionen, Spanien 11 Millionen und Frankreich, für europäische Maßstäbe ein Riese, rund 30 Millionen Einwohner. Die Nachfolgestaaten des indischen Mogulreichs, die Großbritannien einen nach dem anderen 16 In meinen Anmerkungen zu den »dem Glück geschuldeten Vorteilen«, die Großbritannien etwa laut Pomeranz seinen fiktiven Nutzflächen verdankte, werde ich das Argumentationsmuster, das den Thesen Findlays und O’Rourkes sowie von Pomeranz und seinen Anhängern zugrundeliegt, eingehender erörtern und kritisieren. Vgl. Teil 2, Kap. 16.

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herausforderte und bezwang, hatten um 1800 zusammen mehr als 150 Millionen Einwohner. Bengal, das Großbritannien nach der Schlacht von Plassey im Jahr 1755 ansehnliche Einkünfte bescherte, zählte damals über 30 Millionen Einwohner – mehr als Frankreich –, England, Wales und Schottland zusammen höchstens sieben Millionen. Zu dieser Zeit hatten die Briten keinerlei technischen Vorsprung gegenüber den indischen Heeren; in der Kriegführung begann sich die Industrialisierung erst nach den Napoleonischen Kriegen bemerkbar zu machen. Als die Briten den ersten Opiumkrieg gegen China führten, lebten dort 400 Millionen, in Großbritannien rund 20 Millionen Menschen. Großbritannien entsandte ein paar Tausend Soldaten und einige Dampfschiffe und siegte. Wenn also behauptet wird, Zwang habe für seinen Aufstieg zur ersten Industrienation eine Rolle gespielt – was zweifellos stimmt –, dann lautet die Frage schlicht, wie ein derart kleines Land mit einer derart kleinen Bevölkerung eine solche Stärke gewinnen konnte, zumal es noch keine klare technische Überlegenheit besaß. Wenn sich Großbritannien industrialisierte, weil es als Zentrum seine Peripherie ausbeutete, wie gelang es ihm dann, ein Zentrum zu werden? Selbst nach der Einverleibung Indiens hatte das britische Empire noch immer weniger Einwohner als China. Für die Erklärung seines Aufstiegs müssen Stärke und Effizienz von Institutionen eine bedeutende Rolle spielen. Staat und Wirtschaft in Großbritannien verfügten offenbar über eine starke und konzentrierte Infrastruktur. Der entscheidende Beitrag des Handels, oder allgemeiner: des »Austauschs mit der Außenwelt«, zur Förderung von Wachstum liegt meines Erachtens nicht nur, und nicht einmal in erster Linie, in der Akkumulation, sondern auch in den zumindest potenziell positiven gesamtwirtschaftlichen Effekten einer Offenheit im Sinne intensiven Handels; Länder mit einem großen Handelsanteil verzeichnen meist auch ein schnelleres Wachstum. Und Großbritannien hatte insofern eine relativ offene Wirtschaft, als der Anteil von Importen und Exporten am BIP weitaus höher war als in großen Reichen wie denen der Qing, der Moguln und ihren Nachfolgern, der Osmanen sowie in Tokugawa-Japan oder Korea. Allerdings sollte man von Offenheit mit Bedacht sprechen und immer den Kontext berücksichtigen. Es kann damit ebenso die Intensität des Handels wie das Ausmaß der Hindernisse für den Außenhandel gemeint sein. Was das Erste betrifft, haben wir gesehen, dass die Globalisierung und weitere Öffnung der Wirtschaft in der spezifischen Konstellation des 19. Jahrhunderts, sagen wir: von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg, in vielen Ländern zu einem Niedergang des produzierenden Gewerbes und relativer Verarmung führte. Je nach Weltregion konnte sie sich offenbar ganz unterschiedlich auswirken. Hinsichtlich der Handelsbarrieren ist es zweitens bemerkenswert, dass entgegen der vorherrschenden Wirtschafts-

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Globalisierung und Great Divergence

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lehre kein klarer Zusammenhang zwischen niedrigen Zollmauern und hohen Wachstumsraten besteht. Weit gefehlt: Es gibt überraschend viele Beispiele für den gegenteiligen Zusammenhang. Im Fall des interkontinentalen Austauschs sollten Aufstieg und Vorherrschaft des Westens sicher nicht einfach mit der Durchsetzung und Vorherrschaft von Freihandel und wirtschaftlicher Öffnung in eins gesetzt werden. Findlay und O’Rourke ist zuzustimmen, dass »der Zusammenhang zwischen Offenheit und Wachstum verschwimmt, sobald man das Abschneiden einzelner Länder unter die Lupe nimmt«, und »einfache monokausale Beziehungen zwischen Offenheit [im Sinne niedriger Handelsbarrieren, PV] und Wachstum von den Daten nicht gestützt werden«.17 Offenheit ist anderseits gewiss kein unüberwindliches Hindernis für eine Industrialisierung, wie die Geschichte Japans im 19. Jahrhundert zeigt. Die These, Protektionismus sei prinzipiell wachstumshemmend, lässt sich historisch nicht belegen. Protektionismus kann sich nachteilig auswirken, er muss dies aber nicht, und offenbar war dies häufig auch nicht der Fall. Wie immer gilt auch hier: Vieles, wenn nicht alles, hängt von den Umständen ab, von der Form der protektionistischen Maßnahmen und ihrer Dauer.18 Es gibt klare Anzeichen dafür, dass der Protektionismus im langen 19. Jahrhundert, der für uns entscheidenden Periode, keineswegs immer negative Auswirkungen auf die Ökonomien der ihn praktizierenden Länder hatte, insbesondere wenn sie sich im Take-off befanden oder bereits ein hohes Wohlstandsniveau erreicht hatten. Umgekehrt hatte Freihandel häufig keine eindeutig positiven Effekte auf alle beteiligten Länder, insbesondere nicht auf Dritte-Welt-Länder.19 Für die spätere Dritte Welt behauptet Bairoch sogar, Handelsliberalismus sei »der Weg in die Unterentwicklung« gewesen.20 Offenbar gibt es »guten« und »schlechten« Protektionismus (Tab. 44). Um zu illustrieren, wie kontextabhängig diese Beziehungen sind, kann auf die Forschungsergebnisse von Halit Yanikkaya verwiesen werden, der den Zusammenhang zwischen Handelsoffenheit und Wachstum für rund hundert Länder im Zeitraum von 1970 bis 1999 untersucht hat. Dabei verwendet er die zwei Maßstäbe für Handelsoffenheit, die auch im vorliegenden Text unterschieden werden:

17 Findlay/O’Rourke, Power and Plenty, 521. 18 Vgl. etwa Bairoch, Economics and World History, Kap. 2–4; Chang, Kicking Away the Ladder, passim; Reinert, How Rich Countries Got Rich, passim, siehe z.B. Kap. 2, wo er auf Seite 60, seinen Landsmann John Sannes zitiert: »Neue Industrien brauch(t)en Schutzzölle, die aber mit der Zeit überflüssig werden sollten«, sowie Appendix 4. 19 Vgl. etwa Bairoch, Economics and World History, Kap. 2–4; Findlay/O’Rourke, Power and Plenty, 395–402. 20 Bairoch, Economics and World History, 44.

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312

Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Tab. 44: Zwei Idealtypen von Protektionismus im Vergleich Ostasien: Gut

Lateinamerika: Schlecht

Zeitweiliger Schutz für neue Industrien und Produkte für den Weltmarkt

Dauerhafter Schutz von entwickelter Industrien und Produkte für den Heimatmarkt der oft sehr klein ist

Sehr steile Lernkurven verglichen mit den Rest der Welt

Erlerntes bleibt hinter den Rest der Welt zurück

Basiert auf einer dynamischen, Schumpeter’schen Ansicht der Welt – Vom Markt gesteuerte ›kreative Zerstörung‹

Basiert auf einer statischeren Ansicht der Welt – Planwirtschaft

Inlandswettbewerb wird erhalten

Geringer Inlandswettbewerb

Man verfügt lokal über die Kerntechnologien

Die benötigte Kerntechnologie wird aus dem Ausland importiert. Importierte Teilen werden dann zusammengesetzt. ›Oberflächliche‹ Industrialisierung

Massive Investitionen in Bildung. Die Industrieförderung schafft eine große Nachfrage nach Bildung. Versorgung mit gebildeten Arbeitern entspricht die Nachfrage der Industrie

Weniger Betonung der Bildung. Die geförderten Industrietypen sorgen weniger als in Ostasien für eine Nachfrage nach Bildung. Investitionen in Bildung führen daher oft zu Emigration

Leistungsgesellschaft – Kapital, Stellen und Privilegien werden entsprechend der Qualifikation vergeben

Vetternwirtschaft in der Verteilung von Kapital, Stellen und Privilegien

Gleichmäßige Landverteilung

Landverteilung oft nicht gleichmäßig

Gleichmäßige Einkommensverteilung vergrößert den Inlandsmarkt für fortgeschrittene Industrieprodukte

Die ungleichmäßige Einkommensverteilung beschränkt der Umfang des Inlandsmarktes und senkt die Wettbewerbsfähigkeit der lokalen Industrie

Profite werden erzeugt durch dynamischen, Schumpeter’schen Wettbewerb

Profite werden erzeugt durch statische Wertabschöpfung

Intensive Zusammenarbeit zwischen Produzenten und lokale Lieferanten

Auseinandersetzungen zwischen Produzenten und lokale Lieferanten

Kontrolle von Technologietransfers mit der Absicht so viel wie möglich Erkenntnisse zu erwerben

Kontrolle von Technologietransfers mit als Ziel das vermeiden von ›Fallen‹

Die Regressionsergebnisse für unterschiedliche Kennziffern der Handelsintensität [Hvhbg. PV] decken sich weitgehend mit der existierenden Literatur [sie belegen also einen positiven Zusammenhang mit Wachstum, PV]. Doch entgegen der herkömmlichen Auffassung über die Wachstumseffekte von Handelsbarrieren [Hvhbg. PV] zeigen unsere Schätzergebnisse einen positiven und in den meisten Fällen signifikanten Zusammenhang, insbesondere für Entwicklungsländer.21 21 Yanikkaya, »Trade Openness and Economic Growth«.

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Globalisierung und Great Divergence

313

Auch wenn der Handel die Dritte-Welt-Länder im 19. Jahrhundert nicht unbedingt verarmte, kann er schwerlich als Motor wirklichen Wachstums bezeichnet werden und verhinderte jedenfalls nicht, dass sie in den Rückstand gerieten – offenbar hängt auch hier viel von den historischen Umständen ab. Hinsichtlich der Effekte von Handelsbarrieren kommt Yanikkaya zu Ergebnissen, die meines Erachtens nicht nur für seinen Untersuchungszeitraum gültig sind: Unsere Ergebnisse bieten somit gewichtige Belege für die Hypothese, dass Handelsbeschränkungen insbesondere in Entwicklungsländern unter bestimmten Bedingungen wachstumsfördernd sein können. Zu betonen ist, dass diese Studie nicht einen einfachen und eindeutig positiven Zusammenhang zwischen Handelsbarrieren und Wachstum nachzuweisen versucht. Es soll gerade gezeigt werden, dass ein allgemeiner Zusammenhang gar nicht existiert. Er hängt im Gegenteil überwiegend von bestimmten Eigenschaften der jeweiligen Länder ab. Mit anderen Worten: Ob Handelsbeschränkungen von Vorteil für ein Land sind, hängt davon ab, ob es sich um ein entwickeltes oder ein Entwicklungsland, um ein großes oder kleines Land handelt und ob es in den geschützten Sektoren über einen komparativen Vorteil verfügt.22 Auf Grundlage dieser Zahlen lässt sich argumentieren, dass die Volkswirtschaften Ostasiens vermutlich deshalb erfolgreicher sind als lateinamerikanische, weil bei Ersteren für Exportsektoren und die mit Importen konkurrierenden Sektoren gleichermaßen Anreize bestanden. In Lateinamerika wurden hingegen Letztere deutlich begünstigt.23 Folglich meinen wir, dass die entscheidende Frage nicht die Alternative von offener und abgeschotteter Wirtschaft ist, sondern welche Art von staatlichen Eingriffen und Handelspolitik bessert funktioniert. Insgesamt zeigen unsere Ergebnisse deutlich, dass es einen einfachen und klaren Zusammenhang zwischen Handelsbeschränkungen und Wachstum, wie er in der vorliegenden Literatur behauptet wird, nicht gibt.24

Was Offenheit in einem allgemeinen Sinn betrifft – also das Ausmaß, in dem eine Gesellschaft im Inland wie Ausland mit neuen Produkten und Kontakten, mit neuem Wissen und Ideen konfrontiert ist und die damit verbundenen Herausforderungen und Möglichkeiten nutzt –, war Großbritannien natürlich weitaus offener als beispielsweise China. In diesem allgemeinen Sinn profitierte es deutlich stärker von der Globalisierung, zumal es nicht deren Spielball, sondern einer ihrer Hauptakteure war.

22 Ebd., 84. 23 Ebd., 78. 24 Ebd., 78.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

16. Fiktive Nutzflächen

In der neueren Literatur über die Great Divergence wird die Bedeutung der Globalisierung und insbesondere der Peripherie für den Aufstieg des Westens meist weniger im Hinblick auf die schiere Akkumulation als auf die »fiktiven Nutzflächen« diskutiert. Besonders in den Arbeiten von Pomeranz spielt dieses Argument eine große Rolle.1 Wir bezeichnen hier damit den zusätzlichen Boden, den ein Land benötigen würde, um aus eigenen Quellen die Nettomenge an Lebensmitteln und Energie zu erzeugen, die es von außerhalb seiner Grenzen – auch aus der See – bezieht oder im Fall von fossilen Brennstoffen unter Tage gewinnt. Dass sie neuerdings hervorgehoben werden, ist weitgehend eine logische Folge der Tendenz, die industrielle Revolution als Überwindung malthusianischer Schranken zu sehen – die schließlich in letzter Instanz alle in der begrenzten Verfügbarkeit (nutzbaren) Bodens gründeten. Ihre Überwindung erfordert demnach eine Erweiterung der Nutzflächen durch den Rückgriff auf die Meere sowie insbesondere auf ausländischen Boden und den »unterirdischen Wald«.2 Die Ersparnis für die Gesellschaft, also der Gewinn dank der fiktiven Nutzflächen, lässt sich messen. Im Fall von Kohle als Brennstoff errechnet man, wie viel Land für den Anbau von Holz nötig wäre, das denselben Brennwert liefern würde. Bereits 1815 verschaffte Kohle laut Pomeranz Großbritannien eine fiktive Nutzfläche von 60.000 bis 85.000 Quadratkilometer.3 Dessen urbares Land schätzt er für das Jahr 1800 auf rund 69.000 Quadratkilometer.4 Kohle lieferte nicht nur Wärme sondern mit der Erfindung der Dampfmaschine auch Dampfkraft. Der steile Produktivitätsanstieg im herstellenden Gewerbe – und im Transportwesen – wäre ohne 1 Der Begriff wurde von Georg Bostrom eingeführt und im Kontext unseres Themas erstmals von Jones in Das Wunder Europa verwendet. Vgl. etwa Borgstrom, Hungry Planet, sowie als »Vorläufer« Webb, Great Frontier. 2 Sieferle, Der unterirdische Wald. 3 Pomeranz, Great Divergence, 276. Vgl. dazu Wrigley, Continuity, Chance and Change, 54–55. 4 Pomeranz, Great Divergence, 275. Overton schätzt sie auf nur rund 46.500 Quadratkilometer (Agricultural Revolution in England, 76), ebenso Allen, »Agriculture during the Industrial Revolution«, 104.

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Fiktive Nutzflächen

Tab. 45: Auslandshandel Großbritanniens (ohne Irland), 1784–1846 in Millionen Pfund Sterling 1784–86

1814–16

1844–46

Rohmaterial £ (%)

9.585 (47,0 %)

36.408 (56,2 %)

51.033 (62,2 %)

Nahrungsmittel £ (%)

8.657 (42,5 %)

27.602 (42,6 %)

27.386 (33,4 %)

Fertigprodukte £ (%)

2.144 (10,5 %)

731 (1,1 %)

3.544 (4,3 %)

Summe

20.386 (100 %)

64.741 (100 %)

81.963 (100 %)

867 (6,8 %)

1.460 (3,3 %)

5.177 (8,9 %)

Nahrungsmittel £ (%)

1.165 (9,2 %)

4.995 (11,2 %)

1.809 (3,1 %)

Fertigprodukte £ (%)

10.658 (84,0 %)

38.019 (85,5 %)

51.434 (88,0 %)

Summe

12.690 (100 %)

44.474 (100 %)

58.420 (100 %)

Importe

Exporte Rohmaterial £ (%)

Quelle: Mokyr, The Enlightened Economy, 168.

sie unmöglich gewesen. Die gesellschaftliche Ersparnis durch Dampfkraft lässt sich ebenfalls schätzen, in diesem Fall als »fiktive Arbeitskraft«. Nehmen wir an, eine Pferdestärke entspricht der Arbeitskraft von zehn erwachsenen Männern.5 Unberücksichtigt bleibt dabei natürlich, dass Dampfkraft anders als menschliche Arbeitskraft im Prinzip – und normalerweise auch in der Praxis – den ganzen Tag über verfügbar ist. Dampfkraft wird nicht müde, sie streikt, bummelt und widerspricht nicht. Sie ist zuverlässiger und konstanter als menschliche Arbeitskraft und kann Dinge vollbringen, zu denen Menschen, gleich in welcher Zahl und wie sehr sie sich anstrengen, außerstande sind. Außerdem ist sie je produzierter Einheit natürlich billiger, andernfalls würde sie keine Arbeitskraft ersetzen. Die Dampfkraft hatte somit noch weit größere Auswirkungen, als mein Vergleich nahelegt. Die Tatsache, dass 1896 von den 66 Millionen weltweit mit Dampfmaschinen erzeugten PS 58 Millionen auf Europa und die Vereinigten Staaten entfielen, ist bezeichnend. Da dieses Buch eine komparative Analyse möglicher Ursachen der Great Divergence bieten soll, ist es aufschlussreich zu vergleichen, wie sehr Großbritannien von den durch Dampfmaschinen erzeugten Arbeitskraftäquivalenten – sozusagen »Dampfkraftsklaven« – und von wirklichen Sklaven 5 Erörtert wird diese Schätzung in Smil, Energy in World History, 9.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Tab. 46: Dampf-PS und PS pro Person in Form von Arbeitseinheiten. Die Angaben sind gerundet Britische Arbeitszeiten

Gesamtbevölkerung

Dampfkraftsklaven pro Einwohner Großbritanniens

1840

620.000 PS = 17 Millionen Arbeitseinheiten

9 Stunden pro Tag über das ganze Jahr

18 Millionen

0,9

1870

4.040.000 PS = 121 Millionen Arbeitseinheiten

8 Stunden pro Tag über das ganze Jahr

26 Millionen

4,5

1896

13.700.000 HP = 411 Millionen Arbeitseinheiten

8 Stunden pro Tag über das ganze Jahr

35 Millionen

11,7

Alle Angaben in Bezug auf PS nach Landes, The Unbound Prometheus. , 221. Die Arbeitszeiten stützen sich auf die Angaben von Voth, »Living Standards and the Urban Environment«, 278. Seinen Ergebnissen nach beliefen sich die jährlichen Arbeitsstunden in Baumwollspinnereien im Jahr 1840 auf ca. 3400. 1870 verringerte sich die Zahl auf unter 3000. Für den Rest des Jahrhunderts blieb sie in etwa gleich. Meine Angaben sind stilisiert und sollen lediglich die Größenverhältnisse zeigen.

profitierte. Es lassen sich wiederum nur grobe Größenordnungen anführen, aber die Zahlen sind dennoch erhellend. Insgesamt wurden über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten rund 2,5 Millionen Sklaven in die britischen Kolonien gebracht, einschließlich derer, die dort nach der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten eintrafen. Wie viele von ihnen zu einem bestimmten Zeitpunkt arbeiteten, ist schwer zu bestimmen, doch die folgenden Annäherungswerte für das Jahr 1800 dürften kaum strittig sein. Damals lebten schätzungsweise 600.000 Sklaven in der britischen Karibik und 150.000 in den von Großbritannien besetzten Kolonien.6 England, Wales und Schottland hatten zu dieser Zeit zusammen 10,4 Millionen Einwohner. Auf jeden Briten kämen danach 0,07 Sklaven, sofern man annimmt – was natürlich deutlich übertrieben ist –, dass sämtliche Sklaven ausschließlich für die Briten arbeiteten. Rechnet man unter derselben Annahme die damals in den USA lebenden 857.000 Sklaven hinzu, dann arbeiteten für jeden Briten 0,15 Sklaven. Das ist eine (aus Sicht der britischen Wirtschaft!) sehr günstige Schätzung, denn selbst auf den Plantagen arbeiteten Sklaven einen erheblichen Teil ihrer Zeit für die eigene Subsistenz und 6 Vgl. zu diesen sowie den folgenden Zahlen über Sklaven im Jahr 1800 Blackburn, New World Slavery, 581.

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Fiktive Nutzflächen

317

»nur« 2500 bis 3000 Stunden im Jahr für ihre Besitzer – weniger, als britische Fabrikarbeiter mindestens bis zu den 1850er Jahren für ihre Bosse arbeiteten. Und natürlich wurde nicht die gesamte Produktion nach Großbritannien exportiert. Doch für den Kern meines Vergleichs ist das eher unerheblich. 1812/13 lebten laut Patrick Colquhoun rund 1,5 Millionen unfreie »Negerarbeiter«, wie er formuliert, im britischen Empire, also in der Karibik und den Kolonien und abhängigen Gebieten in Asien.7 Die britische Einwohnerzahl wird damals bei 12,5 Millionen gelegen haben. Somit kämen auf jeden Briten 0,09 Sklaven. Wenn wir annehmen, dass alle damaligen Sklaven in den Vereinigten Staaten (mehr als eine Million) ihre gesamte Arbeitszeit für Großbritannien verwendeten, ergäbe dies insgesamt 0,2 Sklaven pro Briten. Um einen internationalen Vergleich zu ziehen: Mit den 1,5 Millionen Sklaven, die damals in Brasilien arbeiteten, käme unter denselben Annahmen je ein Sklave auf zwei Portugiesen. Für Spanien ergibt sich wiederum ein ganz anderes Bild: Während das Mutterland im Jahr 1800 mehr als zehn Millionen Einwohner zählte, lebten in seinen amerikanischen Kolonien »nur« 250.000 Sklaven. Großbritannien profitierte (noch) kaum von ihnen, denn seine Handelsbeziehungen mit Lateinamerika – abgesehen von Baumwollimporten aus Brasilien, das zunächst eine portugiesische Kolonie und ab den 1820er Jahren unabhängig war – waren unbedeutend. Als Großbritannien seinen Sklaven 1838 die vollständige Emanzipation gewährte, belief sich ihre Zahl auf 750.000, während die britische Bevölkerung bei 18 Millionen lag.8 Es beendete seinen Sklavenhandel 1807 und schaffte 1834 die Sklavenarbeit in seinem Kolonialreich ab – aber nicht in Indien, wo dies erst 1843 geschah. Natürlich bedeutete dies nicht ihr sofortiges Ende.9 Für Indien wurde die Zahl der Sklaven in den 1830er Jahren auf 8 bis 16 Millionen geschätzt, doch anders als in den USA und der Karibik arbeiteten sie kaum für den Export. In den USA stieg die Zahl der Sklaven ab 1800 steil an: 1820 waren es 1,5 Millionen und 1840 rund 4 Millionen, eine Zahl, die bis zur Abschaffung der Sklaverei weitgehend konstant blieb. Wenn wir annehmen, dass sie drei Viertel ihrer Zeit für Großbritannien arbeiteten, ergäbe dies zusammen mit den 1838 befreiten Sklaven noch immer »nur« 0,2 Sklaven je Briten. Die britischen Baumwollimporte aus den USA wuchsen ebenfalls rasant: von einem Drittel des Gesamtbedarfs im Jahr 1800 auf drei Viertel im Jahr 1840.10 Bis zur Abschaffung der Sklaverei wurden noch einmal 1,7 Millionen Sklaven nach Brasilien sowie 700.000 auf die spanischen 7 8 9 10

Colquhoun, Treatise on Wealth, Power and Resources of the British Empire, 7. Walvin, »Freedom and Slavery«, 246. Stein, History of India, 216–220. Etemad, Utilité des empires, 145.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Antillen gebracht. Viele von ihnen haben vermutlich mitunter ebenfalls für Großbritannien produziert. Angesichts des starken Bevölkerungswachstums in Großbritanien wird die Zahl von Sklaven pro Brite gewiss nicht angestiegen sein. Die Tabelle 47 zeigt die Bedeutung, die die Importe und Exporte unterschiedlicher Regionen für Großbritannien hatten, was immerhin einen Hinweis darauf bietet, wie wichtig die Sklavenarbeit jeweils für es war. Pomeranz hebt die Bedeutung von Kohle als fiktiver Arbeitskraft sicherlich zurecht hervor. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass der Zugang zu Kohle nicht dieselbe Bedeutung hat wie die Verfügung über Dampfmaschinen. Ohne Wissenschaft und Technik hätte sich dieser geografische Glücksfall im Besitz zusätzlichen billigen Brennstoffs erschöpft – und zwar genau solange, wie die Schächte auch ohne Dampfpumpen trockengehalten werden konnten. Was die angeführten Zahlen auch als grobe Annäherungen deutlich zeigen, ist die immense Bedeutung, die die – auf Kohle basierende – Dampfkraft im Vergleich zur Sklavenarbeit für die britische Wirtschaftsentwicklung besaß; sie eröffnete völlig ungekannte, in einer organischen Ökonomie schlicht unvorstellbare Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung. Die Bedeutung der »Dampfkraftsklaven« stellt die der wirklichen Sklaven vollkommen in den Schatten. Diese Zahlen sollen natürlich in keiner Weise die Verwerflichkeit der Sklaverei relativieren. Zudem zeigen sie, dass die Bedeutung unfreier Arbeit erheblich war und dies lange Zeit blieb – zumal die hier angeführten Sklaven bei Weitem nicht die einzigen unfreien Arbeitskräfte waren, die in oder für Großbritannien arbeiteten. Die fiktiven Nutzflächen, die auf die britischen Überseeimporte entfielen, lassen sich ebenfalls schätzen. Pomeranz hat sie für die wichtigsten Importprodukte aus der britischen Peripherie in der Neuen Welt berechnet: Im Fall von Baumwolle schätzt er sie für 1815 auf 36.400 Quadratkilometer – so viel Fläche hätte Großbritannien für die Ernährung der Schafe benötigt, deren Wolle den entsprechenden Ersatz geboten hätte. Für das Jahr 1830 waren es demnach 93.000 Quadratkilometer – weit mehr als die gesamte Anbaufläche in Großbritannien. Hätte man stattdessen Flachs angebaut, wären die fiktiven Nutzflächen nur 800 (im Jahr 1815) und 2000 Quadratkilometer (1830) groß gewesen; ähnliche Größenordnungen ergeben sich für Hanf. Beide Stoffe wären jedoch laut Pomeranz aus unterschiedlichen Gründen kein wirklicher Ersatz für Baumwolle gewesen.11 Die Holzimporte aus der Neuen Welt und aus dem Baltikum entsprachen einer fiktiven Nutzfläche von 4000 bzw. 2600 Quadratkilometer.12 Zuckerimporte deckten um 1800 rund 4 Prozent des Kalorienbedarfs der Briten ab. Der Anbau von Getreide 11 Pomeranz, Great Divergence, 315. 12 Ebd., 314.

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Fiktive Nutzflächen

Tab. 47: Regionen und ihre Bedeutung für den britischen Handel in Millionen Pfund und prozentualem Anteil am gesamten Handel Export

1750

1805

1855

1875

1913

Europa

8,73 (77)

15,67 (51)

31,80 (30)

90,4 (37)

181,7 (25)

Nordamerika

1,38 (12)

8,00 (26)

20,2 (19)

30,9 (13)

54,0 (8)

Westindische Inseln

0,55 (5)

4,15 (14)

3,2 (3)

6,2 (3)

5,1 (1)

-

-

9,4 (9)

18.3 (7)

54,0 (8)

Asien

5,1 (5)

1,67 (5)

37,3 (36)

93,8 (36)

360,0 (52)

Afrika

0,16 (1)

0,99 (4)

2,6 (3)

7,4 (3)

38,6 (6)

Gesamt

11,33 (100)

30,48 (100)

104,5 (100)

247,0 (100)

693,4 (100)

Europa

3,6 (50)

10,00 (39)

52,7 (34)

156,4 (39)

311,2 (38)

Nordamerika

0,86 (12)

2,06 (8)

30,40 (20)

79,8 (19)

173,2 (21)

Westindische Inseln

1,52 (21)

7,46 (29)

6,5 (4)

9,7 (24)

6,1 (1)

-

-

12,2 (8)

25,1 (6)

73,7 (9)

Asien

1,10 (16)

6,07 (24)

47,6 (31)

124,5 (30)

227,0 (28)

Afrika

0,03 (1)

0,11 (0)

5,1 (3)

8,6 (2)

22,9 (3)

Gesamt

7,07 (100)

25,7 (100)

154,5 (100)

404,1 (100)

814,1 (100)

Südamerika

Import

Südamerika

Quelle: Mitchell/Deane, Abstract of British Historical Statistics, 309–327.

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320

Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

mit derselben Kalorienmenge hätte mindestens 5200 bis 7700 Quadratkilometer, im Jahr 1831 etwa 7700 bis 10.500 Quadratkilometer erfordert.13 Insgesamt verfügte Großbritannien 1830 durch den Import von Baumwolle, Zucker und Holz über fiktive Nutzflächen von 100.000 bis 140.000 Quadratkilometer, was etwa seinem gesamten Acker- und Weideland entsprach und mehr als die fiktive Nutzfläche war, die es der Kohle verdankte.14 Pomeranz misst diesen Importen noch mehr Bedeutung für die britische Wirtschaft als der Kohle bei. Deutlich wird dies etwa in folgendem Zitat: All die produktivitätssteigernden Veränderungen, die wir mit der Moderne assoziieren – technologischer und organisatorischer Wandel, die Brennstoffrevolution, die besser ausgebildete und gesündere Arbeitsbevölkerung – trugen zusammen etwa so viel dazu bei, England in den hundert Jahren nach 1840 von einem malthusianischen Pfad abzubringen, wie die Ausweitung des atlantischen Handels.

Dies »bestätigt eindrücklich, dass ›fiktive Nutzflächen‹ im Ausland dazu beitrugen, dass sich die Great Divergence, wie weit sie Mitte des 18. Jahrhunderts auch bereits existiert haben mag, in den folgenden anderthalb Jahrhunderten nicht nur verfestigte, sondern bislang ungekannte Dimensionen annahm«.15 Angesichts seines insgesamt recht systematischen komparativen Ansatzes verwundert es, dass Pomeranz der Frage, ob nicht auch andere Länder über fiktive Nutzflächen verfügten, gar nicht nachgeht. Länder wie Spanien und Portugal, aber auch die Niederlande, besaßen sie in großem Umfang (vgl. Tab. 48). Mit Blick auf die Hauptfrage dieses Buches sollten wir auch hier den Fall China betrachten. Im Vergleich zu den eigenen Flächen kann ein so riesiges Land wie China natürlich nicht ebenso große fiktive Nutzflächen haben wie Großbritannien. Das heißt aber nicht, dass es überhaupt keine gehabt hätte. Allein die Provinz Guangdong importierte von 1785 bis 1833 jedes Jahr durchschnittlich sechsmal so viel Rohbaumwolle aus Indien, wie Großbritannien zur Zeit der ersten Waterframe-Spinnmaschine von Richard Arkwright jährlich verbrauchte.16 Im Jahr 1805 wurden 25.000 Tonnen Baumwolle aus Britisch-Indien nach Kanton geliefert. Sie war und blieb deutlich billiger als chinesische Baumwolle. Die britischen Nettoimporte von Baumwolle beliefen sich damals auf knapp 27 Tonnen.17 Ein letztes Beispiel: 1815 entsprach das Volumen der indischen Baumwolle, das China via Kanton im13 Ebd., 275. 14 Ebd., 276. 15 Pomeranz in »TenYears after«, 22. 16 Elvin, Pattern of the Chinese Past, 312–313. Die Waterframe-Spinnmaschine wurde in den 1760er Jahren patentiert. 17 Bowen, »British Exports of Raw Cotton from India to China«, 115–116.

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Fiktive Nutzflächen

Tab. 48: Westeuropäische Imperien: Anteil in % der Kontinente an der Gesamtgröße (in Quadratmeilen) des Imperiums ca. 1775 Region

Imperien Spanisch

Portugiesisch

Niederländisch

Britisch

Französisch

Dänisch

Europa

3,9

0,9

2,5

11,3

81,8

99,1

Atlantische Inseln

0,1

0,1

-

3,9

-

-

Afrikanische Küste

0,0

9,1

38,0

2,7

0,7

-

93,7

89,6

22,5

59,3

17,4

0,9

2,4

0,2

37,0

22,8

-

-

4.937.994 3.666.777

651.533

788.846

259.627

15.580

Amerikanischer Kontinent Südostasien Gesamtgröße

Quelle: Shammas, »The Revolutionary Impact of European Demand for Tropical Goods‹, 167.

portierte, grob den britischen Baumwollimporten.18 Gemessen in Silber dürfte diese indische Baumwolle deutlich billiger gewesen sein als die aus Amerika; zumindest war sie es im Vergleich zur chinesischen Baumwolle.19 Noch dazu produzierte China selbst enorme Mengen sehr günstiger Baumwolle. Im 18. Jahrhundert war es noch der größte Baumwollproduzent der Welt. In den USA belief sich die Baumwollproduktion 1860 nach Dekaden wachsender Produktion und Exporte auf rund 860.000 Tonnen;20 in China waren es etwa zur selben Zeit, im Jahr 1870, 815.000 Tonnen. Pomeranz schätzt den chinesischen Verbrauch allein von Baumwollgarn um 1750 auf 2,8 bis 3,6 Kilogramm pro Kopf. Wenn wir annehmen, dass China damals 200 Millionen Einwohner hatte, wären das 560.000 bis 720.000 Tonnen Baumwollgarn.21 Warum verwandelte die Verfügbarkeit solcher gewaltigen Mengen eines bodenintensiven Rohmaterials die Provinz Guangdong, in der Kanton liegt, eigentlich nicht in eine Art chinesisches Lancashire? Wenn die Erklärung dafür lauten sollte, dass Guangdong keine Kohle hatte – warum 18 Parthasarathi, »Review Article: The Great Divergence«, 283–284. 19 1793/94 kostete indische Rohbaumwolle 10 bis 12 Taels (37,8 Gramm Silber) pro picul (60,4 Kilogramm). Rohbaumwolle aus China kostete 3 bis 5 Taels mehr. Laut zwei Quellen aus den Jahren 1804 und 1813 war indische Rohbaumwolle pro picul weiterhin rund 1 Tael billiger als solche aus Jiangnan. Vgl. Bowen, »British Exports of Raw Cotton from India to China«, 124–125. 20 William H. Phillips, »Cotton Gin«, EH.Net Encyclopaedia, Tab. 2. 21 Pomeranz, Great Divergence, 334–338.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

konzentrierte sich die Produktion dann nicht wenigstens auf größerer Stufenleiter in Manufakturen, also gewissermaßen in Fabriken ohne Dampfmaschinen? Pomeranz schreibt selbst: Um 1750 waren mindestens drei Großregionen – Lingnan, die südöstliche Küste und vor allem das untere Jangtsegebiet – auf die Zufuhr unterschiedlicher ökologisch sensibler Güter angewiesen. Alle drei importierten erhebliche Mengen Nahrungsmittel (im unteren Jangtsegebiet 13 bis 18 Prozent des Gesamtverbrauchs). Alle drei führten Holz ein […] und zumindest das untere Jangtsegebiet […] zudem große Mengen Bohnenkuchen aus der Mandschurei als Dünger.

Lingnan, fügt er hinzu, »importierte den Großteil seiner Baumwolle und begann im 19. Jahrhundert auch deutlich mehr Bohnenkuchen einzuführen.«22 In seinem Buch über die Agrarentwicklung in Jiangnan befasst sich Bozhong Li ein ganzes Kapitel damit, wie wichtig die Getreide- und Bohnenkuchenimporte aus anderen Landesteilen für die Wirtschaft jener Region waren.23 Robert Marks bemerkt über die Ökonomie des Perlflussdelta: »Ohne immer größere Zufuhr von außen war das System als Ganzes nicht tragfähig«.24 Glaubt man den Zahlen, die Vertreter der kalifornischen Schule in ihren Publikationen anführen, dann war Chinas Kerngebiet – zumindest in unserem Untersuchungszeitraum – in Wirklichkeit stärker von seiner inneren Peripherie abhängig als Großbritannien von seiner Peripherie in Übersee.

22 Ebd., 226. Vgl. auch ders., »Beyond the East-West Binary«, 583–584. 23 Li, Agricultural Developments in Jiangnan, Kapitel 6. 24 Marks, »Commercialisation without Capitalism«, 76.

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Innovation (statt Akkumulation) und fiktive Nutzflächen

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17. Innovation (statt Akkumulation) und fiktive Nutzflächen

Meine Hauptkritik am Ansatz der fiktiven Nutzflächen, soweit er den Import bodenintensiver Produkte als Rohmaterialien für die Industrie betrifft, ist allerdings grundlegender Art. Solche Importe waren meines Erachtens weniger Voraussetzung als Folge der Industrialisierung; die von Pomeranz behauptete Kausalbeziehung scheint mir sehr zweifelhaft. Goldstone schreibt dazu: Es stimmt natürlich, dass Baumwolle aus der Neuen Welt im Jahr 1800 zu einem wichtigen Input für die Textilindustrie Großbritanniens geworden war, die eine Vorreiterrolle für seine Industrialisierung spielte. Doch nicht Rohbaumwolle begründete den Aufstieg der Textilindustrie, sondern Innovationen der britischen Maschinerie; die Nutzung von Wasser- und Dampfkraft machte es lohnend, Baumwolle zu importieren, zu spinnen und zu Stoffen zu weben. Ohne diese Maschinerie wäre der Import von Rohbaumwolle nach England sinnlos gewesen, denn das Endprodukt wäre weitaus teurer gewesen als Baumwolltextilien aus Ländern wie Indien und China, die Rohbaumwolle anbauten. Profitabel war der Rohbaumwollimport – sei es aus Indien, Ägypten, der Türkei oder Amerika – aufgrund der neuen britischen Maschinerie.1

Was für Baumwolle gilt, gilt mutatis mutandis natürlich auch für andere bodenintensive Produkte, die Großbritannien einführte. Großbritannien importierte zu keinem Zeitpunkt große Mengen Baumwolle aus seinen Kolonien. Der Aufstieg der Baumwollproduktion in den USA wurde durch die britische Industrie ausgelöst und Großbritannien musste die amerikanische Baumwolle zu denselben Konditionen erwerben wie jedes andere Land.2 Warum also profitierten nicht andere Länder von dieser Gelegenheit, indem sie eine technische Revolution in der Baumwollverarbeitung einleiteten? Mokyr zufolge waren die wachsenden Baumwollimporte eindeutig »eine Folge, nicht eine Ursache, der technischen Entwicklungen in der Textilindustrie«.3 Dort waren beeindruckende Fortschritte zu verzeichnen. Der Preis von Rohbaumwolle fiel von 1784 bis 1830 von 2 Shilling auf 0,645 Pence – der Preis von Baumwollgarn dagegen von 10,9 auf 1,2 Shilling. Der sinkende Rohbaumwollpreis machte nur 14 Prozent der Verbilligung von

1 Goldstone, Why Europe, 67. 2 De Vries in »The Great Divergence after Ten Years«, 15. 3 Mokyr, Enlightened Economy, 150.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Baumwollgarn aus.4 Während die realen Kosten von Rohbaumwolle laut Robert Allen während des gesamten Zeitraums von 1760 bis 1836 nahezu konstant blieben, sanken die realen Herstellungskosten eines Pfunds Baumwollgarn von 7 auf 0,34 Pence.5 Der Preis von Baumwolltextilien sank so erheblich, dass nur die enorme, auch durch niedrigere Zölle und Transportkosten beförderte Ausweitung der Nachfrage ein Ende der Revolution in der Textilindustrie verhinderte. Bemerkenswerterweise wurde dieser strukturelle Niedergang der Terms of Trade der britischen Exporte offenbar nie beklagt – die Absatzmärkte für Industriegüter waren ausdehnungsfähig. Von 1819 bis zum Ende des Jahrhunderts machten Exporte nie weniger als 50 bis 80 Prozent des Werts der gesamten britischen Baumwolltextilproduktion aus.6 Für die benötigten Absatzmärkte sorgten in der Regel Innovationen – sie verbilligten die Güter, und die Nachfrage (im Inland und/oder Ausland) wuchs entsprechend: »Erfindungsgeist und Innovationen […] trieben Exporte und Handel an, nicht umgekehrt.«7 Großbritanniens fast ausschließlich aus Industriegütern bestehende Exporte verzeichneten fallende Terms of Trade, das heißt, sie verbilligten sich gegenüber seinen zunehmend auf Nahrungsmittel, Rohstoffe und Halbfertigwaren entfallenden Importen. So schritt die Industrie voran, und der Handel folgte ihr; poetischer formuliert: Der Handel war die Magd der Industrie.8 Großbritannien besaß im herstellenden Gewerbe bereits früh einen deutlichen komparativen Vorteil; spätestens ab den 1780er Jahren exportierte es überwiegend Industriegüter.9 Zunehmend Nahrungsmittel und Rohstoffe zu importieren und sich auf die eigenen Stärken zu konzentrieren, war ein Gebot der ökonomischen Vernunft. Großbritannien tat, was der Tendenz nach alle fortgeschrittenen Ökonomien tun: Es spezialisierte sich auf die Herstellung von Produkten mit hohem Wertzuwachs und importierte die dafür erforderlichen Materialien. Natürlich herrschte dabei Interdependenz und nicht eine Kausalkette wie beim Zusammenstoß von Billardkugeln, doch die von Pomeranz und vielen anderen Autoren vertretene These, Großbritannien sei auf ernsthafte malthusianische Schwierigkeiten zugesteuert und habe diese nur dank sei4 So beinahe wörtlich Eltis/Engerman, »Importance of Slavery«, 136, Anm. 42. 5 Allen, British Industrial Revolution, 185, 188, 208. 6 Zum Verhältnis von Textilexport und -produktion im 18. Jahrhundert: Blackburn, Making of New World Slavery, 522. Zum 19. Jahrhundert: Deane/Cole, British Economic Growth 1688–1959, 187. 7 Mokyr, Enlightened Economy, 165. 8 Vgl. zu dieser Interpretation Harley, »Trade: Discovery, Mercantilism and Technology«; Thomas/McCloskey, »Overseas Trade and Empire«; McCloskey, Bourgeois Dignity, bspw. Kap. 23–25. 9 Mokyr, Enlightened Economy, 167–168.

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Innovation (statt Akkumulation) und fiktive Nutzflächen

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ner Nahrungsmittel- und Rohstoffimporte schließlich umgehen – und sich industrialisieren – können, zielt an der entscheidenden Kausalbeziehung eindeutig vorbei. Die britische Agrarproduktion wurde während des Takeoffs substanziell gesteigert. Die Arbeitsproduktivität in der britischen Landwirtschaft war eine der höchsten der Welt, größer noch aber der Produktivitätsvorsprung der britischen Industrie. Es war daher nur logisch, sich auf die Industrie zu spezialisieren und Nahrungsmittel und Rohmaterialien zu importieren; schon David Ricardo wusste, dass ein Land, das sehr erhebliche Vorteile in der Maschinerie und Arbeitsfertigkeit besitzt und deswegen in der Lage ist, Waren mit viel weniger Arbeit als seine Nachbarn zu erzeugen, gegen diese Waren einen Teil des zu seiner Konsumtion benötigten Getreides einführen kann, sogar wenn sein Boden fruchtbarer ist und Getreide mit weniger Arbeit angebaut werden kann als in dem Lande, aus dem es eingeführt wurde.10

Für Europa insgesamt überzeugt die These, fiktive Nutzflächen in anderen Teilen der Welt hätten die Rettung gebracht und der Import bodenintensiver Güter habe die Industrialisierung ermöglicht, noch weniger. Die europäische Getreideproduktion verdreifachte sich in der Periode von 1815 bis 1913, während sich die Bevölkerungsgröße nur verdoppelte.11 Deutschland, das zum neuen Industriegiganten des Kontinents werden sollte, exportierte während des Großteils des 19. Jahrhunderts Getreide. Importe waren zudem nicht immer ein Anzeichen für Knappheit in Europa. Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts verhängte die britische Regierung Einfuhrzölle von fast 100 Prozent auf ausländisches Holz, während es aus den Kolonien zollfrei importiert werden durfte. So wurden die Preise von baltischem und skandinavischem Holz künstlich derart in die Höhe getrieben, dass Lieferungen aus Kanada von 1816 bis 1846 nie weniger als 60 Prozent, in den meisten Jahren sogar mehr als 75 Prozent aller britischen Rohholzimporte ausmachten – trotz der viel längeren Transportwege.12 In diesem Kontext muss auch die zentrale Bedeutung, die Pomeranz den fiktiven Nutzflächen beimisst, stark relativiert werden. Dass er sie ausdrücklich von Produktivitätssteigerungen trennt, ergibt wenig Sinn: Bei den fiktiven Nutzflächen Großbritanniens handelte es sich überwiegend um potenziell nutzbaren Boden. Dass er tatsächlich effizient genutzt wurde, verdankte sich eben jenen technischen und organisatorischen Veränderungen – und dem Anstieg der Gesamteinkünfte –, die den Kern des von uns als Industrialisierung bezeichneten Prozesses ausmachen. Kurz: Ohne Produk-

10 Ricardo, Grundsätze der politischen Ökonomie, 117. 11 Hugill, World Trade since 1431, 74–75. 12 Potter, »The British Timber Duties«.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

tivitätssteigerungen hätte es fiktive Nutzflächen kaum gegeben. Nicht diese brachten das moderne Wirtschaftswachstum hervor – es verhielt sich eher umgekehrt, und sie waren dabei allenfalls eine notwendige, niemals aber die hinreichende Bedingung. Diese These bedarf einer näheren Begründung, die hier wiederum anhand des britischen Falls und in Replik auf Pomeranz’ Ausführungen erfolgen soll. Will sich ein Land auf die Produktion von Industriegütern und Dienstleistungen spezialisieren, wird es in der Regel Nahrungsmittel und Rohstoffe importieren (müssen). Die gibt es jedoch nicht umsonst: Importe müssen bezahlt werden, und Großbritannien tat dies wie alle westlichen Industrienationen durch den Export von Industriegütern – nicht nur in seine Peripherie, sondern in alle Welt. Möglich war dies aufgrund einer effizienten Industrie, deren Produkte immer billiger wurden – weil Großbritannien über eine moderne, sich industrialisierende Wirtschaft verfügte. Mehr noch: Auch Produktion und Transport der aus den Regionen mit »ihren« fiktiven Nutzflächen importieren Güter wurden überwiegend von den westlichen Ländern finanziert.13 Besonders der Transport lohnte sich häufig nur aufgrund des Einsatzes moderner westlicher Technik. Die benötigten Arbeitskräfte wurden häufig ebenfalls weitgehend von den westlichen Ländern gestellt: Solange Sklavenhandel existierte, kauften sie Sklaven und brachten sie an die Orte, wo sie benötigt wurden, und als dies nicht mehr möglich war, deckten ihre in die sogenannten Siedlerkolonien auswandernden Einwohner den Arbeitskräftebedarf direkt.14 Um es nochmals an Großbritannien zu verdeutlichen: Einige britische Kolonien, vor allem natürlich Indien, sollten selbst für ihre Verteidigung und Verwaltung aufkommen. In anderen Fällen wurde dies aber nicht erwartet – etwa von den weißen Siedlerkolonien.15 Kurzum: Die aktive Rolle Westeuropas bei der »Schaffung der Neuen Welt« (Cain/Hopkins), also der Öffnung peripherer Gebiete zum Zweck ihrer Verwandlung in Exportregionen, war enorm.16

13 Zu den immensen britischen Auslandsinvestitionen im langen 19. Jahrhundert: Davis/Huttenback, Mammon and the Pursuit of Empire; O’Rourke/Williamson, Globalization and History, Kap. 12, sowie Cain/Hopkins, British Imperialism. 14 Zur europäischen Auswanderung in die Siedlerkolonien in Übersee: Chiswick/Hatton, »International Migration and the Integration of Labor Markets«. 15 Vgl. etwa Davis/Huttenback, Mammon and the Pursuit of Empire, Kap. 5. Sir Charles Adderley, ein vehementer Kritiker des Empire, behauptete 1860, Großbritannien trage vier Millionen Pfund zum Schutz der Kolonien bei, während diese selbst nicht einmal 40.000 Pfund beisteuerten. (146) 16 Cain/Hopkins, British Imperialism, Teil 3. Cain und Hopkins verwenden diesen Ausdruck in Kap. 9 nur mit Blick auf Südamerika, aber meines Erachtens besitzt er breitere Gültigkeit.

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Innovation (statt Akkumulation) und fiktive Nutzflächen

Tab. 49: Britischer Kapitalexport (durchschnittlicher Jahresbetrag, Annäherungswerte) Zeitraum

Mio. Pfund

Späte 1860er Jahre

40

Frühe 1870er Jahre

55

1875–1884

90

1900–1904

130

1905–1909

145

1910–1914

175

Quelle: Davis/Huttenback, mit Unterstützung v. Susan Gray Davis, Mammon and the Pursuit of Empire, 37.

Eine Vorstellung von den Größenordnungen bietet der Vergleich mit dem Nationaleinkommen Großbritanniens (Tab. 50). 1914 beliefen sich die gesamten britischen Auslandsinvestitionen auf rund 20 Milliarden Dollar bzw. 4 Milliarden Pfund, während das britische BIP rund 2,5 Milliarden Pfund betrug (Tab. 51). Tab. 50: Nationaleinkommen von Großbritannien Jahr

Mio. Pfund

1855

636

1860

694

1870

936

1880

1076

1890

1385

1900

1750

1914

1984

1915

2591

Quelle: Mathias, The First Industrial Nation, 457.

Die Hälfte der Auslandsinvestitionen floss in Länder, die Teil des britischen Empire waren, drei Viertel davon in die Dominions. Wie man in Tab. 51 sieht, übertrafen die gesamten Auslandsinvestitionen 1914 mit rund 4 Milliarden Pfund deutlich das Nationaleinkommen. Der Großteil entfiel auf Ei-

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Tab. 51: Britische Auslandsinvestitionen 1914 in Millionen Dollar. Knapp fünf Dollar entsprachen einem Pfund. Region

Mio. Dollar

Europa

1050

Nordamerika

7050

Lateinamerika

3700

Ozeanien

2200

Asien

3550 (die Hälfte davon in Indien)

Afrika

2450

Quelle: Woodruff, The Impact of Western Man, 154 und 156.

senbahnen, Häfen, Telefon- und Telegrafenlinien und ähnliche Sektoren.17 Um eine realistische Vorstellung von den Gesamtkosten zu gewinnen, die mit dem Besitz von Kolonien und fiktiven Nutzflächen einhergingen, müssen natürlich die Milliardenbeträge hinzugerechnet werden, die Großbritannien seit Beginn der Kolonisierung dafür ausgab, Kolonien zu erobern, sie gegen andere europäische imperialistische Länder zu verteidigen und seine Stellung im europäischen Staatensystem zu behaupten und wenn möglich zu verbessern. Auch die Auswanderung, insbesondere in die USA, die ebenfalls eine Art Auslandsinvestition und zugleich ein Mittel darstellte, sich der Überschussbevölkerung zu entledigen, erreichte enorme Größenordnungen. Für den Zeitraum von 1815 bis 1914 wird die Zahl der Auswanderer aus dem Vereinigten Königreich auf 22,6 Millionen geschätzt, weit mehr als jemals zuvor.18 In der Periode von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung bis zum Zweiten Weltkrieg kam es zur Entstehung einer veritablen »Anglo-Welt«.19 Die interkontinentale Migration nahm im Vergleich zu vorherigen Jahrhunderten eine vollkommen neue Dimension an (Graphik 12). Während die Kosten des formellen wie informellen Aufbaus des Empire von Pomeranz und den Anhängern seiner These allenfalls beiläufig erwähnt werden, werden seine Vorzüge als Quelle billiger, bodenintensiver Ressourcen übertrieben. Pomeranz suggeriert, Großbritannien habe von den verfügbaren fiktiven Nutzflächen deshalb so stark profitieren können, weil es 17 Näher hierzu: Cain/Hopkins, British Imperialism, Teil 3; Davis/Huttenback, Mammon and the Pursuit of Empire; Williamson/O’Rourke, Globalization and History, Kap. 11. 18 Harper, »British Migration and the Peopling of the Empire«, 75. 19 Belich, Replenishing the Earth.

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Innovation (statt Akkumulation) und fiktive Nutzflächen

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Quelle: Lucassen/Lucassen, »The Mobility Transition Revisited«, 356.

politische Machthebel gegenüber den betroffenen Länder besessen habe und ihre Wirtschaft nach Gutdünken habe organisieren können.20 Für viele Länder, die Großbritannien bodenintensive Rohstoffe und Nahrungsmittel lieferten, trifft dies jedoch nicht zu. Man denke nur an die Vereinigten Staaten, die ein sehr wichtiger Handelspartner der Briten waren, erhebliche Mengen britisches Kapital und viele britische Auswanderer anzogen und Großbritannien während des Take-offs als Hauptlieferant von Baumwolle dienten: Sie waren seit 1776 unabhängig. Nur bedingt trifft Pomeranz’ Behauptung auf die weißen Siedlerkolonien zu, die eine ähnliche Rolle für die britische Wirtschaft spielten und kaum einer wirklichen Macht des Mutterlandes unterstanden. Und überhaupt nicht gilt sie für die mittel- und osteuropäischen Länder, die Nahrungsmittel und Rohstoffe nach Großbritannien exportierten. Irland wiederum, in vieler Hinsicht eine Peripherie, nahm eine sehr spezifische Position ein. Die meisten Regionen, aus denen die Briten bodenintensive Rohstoffe und Nahrungsmittel bezogen, boten diese zu genau denselben Konditionen auch anderen (potenziellen) Abnehmern an. Insgesamt spielte der Markt für den britischen Handel mit anderen Teilen der Welt im 19. Jahrhundert eine größere, Zwang dagegen eine geringere Rolle, als Pomeranz annimmt. Entscheidend ist, dass andere Länder die Produkte der genannten »freien« Regionen im Prinzip ebenfalls hätten kaufen können. Warum »nutzten« 20 Vgl. etwa Pomeranz, Great Divergence, 7, 13, 24–25, 185–186, 188, 212–213, 264–265, 273, 296–297, zu Zwang, Ausbeutung und »nicht-einvernehmlichem« Handel in den Beziehungen Großbritanniens und Europas mit der Peripherie.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

nicht andere die fiktiven Nutzflächen? Warum sollte man gerade Großbritannien als ein Land hervorheben, das von umfangreichen fiktiven Nutzflächen derart profitiert habe, dass es zur ersten Industrienation wurde, wenn andere Länder ebenfalls Kolonien besaßen und in jedem Fall Güter auf dem Weltmarkt kaufen konnten? Wie passen einheimische fiktive Nutzflächen, also ungenutzte Ressourcen im eigenen Land, in dieses Bild – müssten sie nicht ein noch größerer Glücksfall sein? Wie soll man in dieser Hinsicht beispielsweise den Fall Russland deuten, das mit Sibirien über gewaltige fiktive Nutzflächen in seinem Reich verfügte? Warum sollte das Fehlen bestimmter Rohstoffe im eigenen Land ein so viel glücklicheres Los sein als ihr Besitz? Ist die folgende Behauptung von Morris, der Pomeranz’ Position vollständig teilt und sie zu ihrem logischen Endpunkt treibt, nicht in Wirklichkeit unsinnig? Er schreibt: »Die geografischen Gegebenheiten machten Baumwolle zur perfekten Industrie für Großbritannien. Weil der Rohstoff in Übersee wuchs, vermehrte er daheim nicht die Konkurrenz um Land.«21 Wäre demnach nicht Seide die perfekte Industrie für die Niederlande, Schafwolle für China und, sagen wir, Hanf für die Sahara-Regionen?

21 Morris, Wer regiert die Welt?, 479.

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Innovation: Technik und Wissenschaft

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18. Innovation: Technik und Wissenschaft

Dass Handel vielfältige positive Wachstumseffekte haben kann und jegliches Wachstum ohne Marktausdehnung schnell zum Erliegen kommt, würde niemand bestreiten, aber in keiner erdenklichen Form kann er der Motor des modernen Wachstums gewesen sein. Das moderne Wirtschaftswachstum resultierte nicht aus einem schlichten Aufhäufen von Ressourcen, sei es Boden, Arbeitskraft oder Kapital. Ebenso wenig war es einfach die Folge eines Prozesses zunehmender Spezialisierung auf beständig wachsenden Märkten. Welche Wirkung sie auch gehabt haben mögen, Akkumulation und Arbeitsteilung waren zwar zweifellos wichtig, aber nicht der Kern jener Art von Wachstum, die mit der Industrialisierung einsetzte. Investitionen und Investitionsraten stiegen ebenso substanziell wie die Spezialisierung. Doch die Produktion wuchs deutlich stärker, als es den aggregierten Investitionen und der Spezialisierung an sich entsprochen hätte. Der Hauptgrund dafür waren Innovationen, ein Sammelbegriff, der insbesondere Veränderungen im Charakter der Produktionsmittel und der Art und Weise ihrer Kombination bezeichnet. Am augenfälligsten sind immer technologische Innovationen gewesen, und die meisten Wissenschaftler sind sich bis heute darüber einig, dass Technik letztlich ausschlaggebend für die Industrialisierung – und die Great Divergence – war.1 Selbst die kalifornische Schule und andere Revisionisten können die enorme Bedeutung der Technik für die Great Divergence nicht übergehen, wenngleich Pomeranz sie für nicht wichtiger als fiktive Nutzflächen hält. Doch sie alle lehnen es ab, die damaligen technischen Durchbrüche im Westen auf einen weit zurückreichenden Vorsprung auf breiter Front zurückzuführen. Die These »überraschender Ähnlichkeiten« innerhalb Eurasiens beziehen sie auch auf Technik und Wissenschaft: Die traditionelle Dichotomie eines dynamisch voranschreitenden Westens und der statisch-rückständigen restlichen Welt ist aus ihrer Sicht auch in diesem Kontext nicht länger halt1 Vgl. Allen, Global Economic History, 27; Allen, Institutional Revolution, Kap. 9 und Schlussfolgerung; Mokyr, Enlightened Economy, 5; Epstein, Freedom and Growth, 172–173; Parthasarathi, Why Europe Grew Rich, 85. Eine Ausnahme ist Braudel, Sozialgeschichte, Bd. 3, 633.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

bar. So werden die östliche, insbesondere die chinesische Wissenschaft und Technik von ihnen rehabilitiert, sofern dies überhaupt nötig sein sollte – das Werk Joseph Needhams, der mehr als jeder andere zu zeigen versucht hat, wie fortgeschritten China in dieser Hinsicht gewesen sei, liegt schließlich schon länger vor.2 Eine solche Rehabilitierung findet sich in den Arbeiten aller Vertreter der kalifornischen Schule, am deutlichsten bei John Hobson, der sich geradezu daran weidet, die Rückständigkeit Europas und die östlichen Ursprünge der westlichen Zivilisation aufzuzeigen – einschließlich großer Teile der Wissenschaft und Technik, die die Voraussetzung der industriellen Revolution bildeten.3 Ähnlich, aber deutlich differenzierter hat Parthasarathi kürzlich die indische Wissenschaft und Technik rehabilitiert.4 Einige Revisionen waren in der Tat überfällig. Allerdings kann zugleich niemand, selbst die revisionistischsten Mitglieder der kalifornischen Schule nicht, die gewaltigen Auswirkungen bestimmter Erfindungen und Innovationen bestreiten, die wir mit der industriellen Revolution verbinden, insbesondere die der Dampfmaschine. Sie tun dies auch nicht. Was sie aber bestreiten, ist, dass diese Erfindungen und Innovationen auf eine grundlegende Besonderheit westlicher Gesellschaften und Ökonomien hindeuten. Zu diesem Zweck bedienen sie sich unterschiedlicher, häufig miteinander kombinierter Strategien. So erklären sie zum einen alle westlichen Innovationen zu etwas Kontingentem, zu Glücksfällen, die keiner genaueren Analyse bedürfen und, abgesehen von Goldstones Arbeiten, einer solchen folglich auch nie unterzogen werden. Diese Innovationen hätten demnach auch anderswo auftreten können – und mitunter wird aus den Reihen der kalifornischen Schule sogar behauptet, dies sei häufig auch der Fall gewesen. Eine andere Strategie besteht darin, westliche Erfindungen und Innovationen zu Lösungen für Probleme zu erklären, die es in anderen Teilen der Welt nicht gegeben habe. Technik und Wissenschaft gelten dabei als Antworten auf Herausforderungen – und unterschiedliche Herausforderungen führen zu unterschiedlichen Antworten. Aber welcher Strategie sie auch folgen: Bemerkenswert ist, wie wenig Autonomie die meisten Vertreter der kalifornischen Schule Wissenschaft und Technik zugestehen – 2 Vgl. die von Joseph Needham herausgegebene Reihe Science and Civilisation in China. Interessierte Leser mit weniger Zeit verweise ich auf Needham/Ronan, Shorter Science and Civilisation in China (5 Bde.; auf Dt. liegt vor: Wissenschaft und Zivilisation in China, Bd. 1), und die knappe Zusammenfassung von Temple, Genius of China. Kurze Einführungen in sein Denken bieten Needham, Grand Titration; ders., Clerks and Craftsmen in China and the West, sowie Finlay, »China, the West, and World History«. Die zahlreichen Studien von Mark Elvin – etwa Pattern of the Chinese Past und Another History – sind Pflichtlektüre. 3 Hobson, Eastern Origins of Western Civilisation, z.B. Kap. 9. 4 Vgl. etwa Parthasarathi, Why Europe Grew Rich, Teil 3.

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Innovation: Technik und Wissenschaft

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ebenso allerdings Forscher wie Morris und Parthasarathi, die darin bloße Reaktionen auf bestimmte wirtschaftliche oder politische Herausforderungen sehen –, und wie stark sie suggerierten, Erfindungen und Innovationen seien weitgehend unverbundene Einzelfälle gewesen, nicht Teil einer breiten und langfristigen Entwicklung, was sie meines Erachtens zweifellos waren. In dieser Hinsicht ist der Revisionismus eindeutig zu weit gegangen. Jede ernsthafte Analyse der jüngeren Geschichte globaler technologischer Entwicklungen würde zeigen, dass es in unterschiedlichen Teilen der Welt ungeachtet vieler Kontingenzen und noch zahlreicherer Wechselbeziehungen klar voneinander unterschiedene Entwicklungswege und Pfadabhängigkeiten gibt.5 Die Herausforderung für Historiker, die in dieser Hinsicht den Eurozentrismus widerlegen wollen, bestünde darin, eine Liste von Innovationen aus anderen Weltregionen und einer ähnlichen Zeitspanne vorzulegen, die die folgende Liste übertrifft. Es wird ihnen nicht gelingen. Tab. 52: Eine Liste von Erfindungen, die direkten Einfluss auf Produktionstechniken hatten und zu Innovationen in Westeuropa und den USA führten Energie 1700er 1740 1752 1765–1769 1774 1774 1781 1781–1786 1800 1800 1804 1815 1820–1880er 1820 1827 1827 1831 1840er

Mit Atmosphärendruck betriebene Dampfmaschine Leidener Flasche Blitzableiter und Experimente mit Elektrizität Verbesserte Dampfpumpen mit separaten Kondensatoren und späterer Nutzung von Reststrom Genau gebohrte Gusseisenzylinder für Dampfmaschinen Entwicklung großer Zylinder Verbunddampfmaschine Rotierende Bewegung Volta’sche Säule Verbunddampfmaschine Verbunddampfmaschine Verbunddampfmaschine patentiert Elektrischer Generator und Motor Das magnetische Feld wird entdeckt Hochdruck-Dampfkessel Wasserrad mit Hydraulik erzeugender Turbine Elektromagnetische Induktion Fortschritte bei hydraulischen Turbinen

5 Ich beschränke mich auf eine kleine Auswahl von Literatur: Adas, Machines as the Measure of Men; Friedel, Culture of Improvement; Headrick, When Information Came of Age; ders., Power over People; Lipsey/Carlaw/Bekar, Economic Transformations; McClellan/ Dorn, Science and Technology in World History; Mokyr, Lever of Riches; Pacey, Technology in World Civilization.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Metallurgie und maschinelles Werkzeug 1709 Verhüttung mit Koks 1720 Einsatzprozess bei Stahlproduktion 1740 Tiegel- oder Stahlguss 1740 Walzbearbeitung beim Stahlguss 1750 Kohlenstoff wird in Eisenerz entdeckt 1750 Schraubenzieher an einer Drehmaschine 1761 Luftzylinder 1770 Zug- und Leitspindeldrehmaschine 1774 Zufriedenstellende Gusseisenzylinder für Dampfmaschinen 1776–1780 Anwendung von Dampfkraft in Schmieden: erster Schmiedehammer 1783–1784 Verbesserung des Puddel- und Walzverfahrens 1829 Hochofen 1831 Hochofen 1833 Eisenverhüttung mit Anthrazitkohle 1833 Verfahren zur Silbergewinnung 1838–1841 Dampfbetriebener Fallhammer Industriechemikalien 1736 Neue Methode um Schwefelsäure herzustellen 1746 Bleikammerverfahren zum Herstellen von Schwefelsäure 1774 Entdeckung von Chlor 1785 Entdeckung von Chlorbleiche Eigenschaften 1787 Leblanc-Verfahren 1827 Absorptionstürme 1831 Kontaktverfahren Bergbau frühe 1700er 1800 frühe 1800er frühe 1800er 1807 1809 1813 1815/1816 1819–1821 1820er 1830er 1840er

Entwicklung der Entwässerung von Minen Hochdruckdampfmaschine ohne Kondensator Kristallografie Chemie im Zusammenhang mit Mineralogie Erster mechanischer Ventilator Reflexionsgoniometer Gesteinsbohrmaschine Sicherheitslampe Klärung der Mineralarten Polarisierung von Licht Belüftung Einführung hydraulischer Spülbohrköpfe

Transport und Kommunikation 1738 Eisenschienen ersetzen Holzschienen 1764 Einführung des Straßenbaus mit drei Schichten 1769 Cugnots Dampfwagen 1787 Die Severn, ein Kahn mit Gusseisenverkleidung wird gebaut 1790 Formsignale werden zur Kommunikation genutzt 1801 Trevithicks Dampfwagen 1803 Trevithicks Dampflokomotive 1807 Dampfschiff Clermont auf dem Hudson 1820er McAdam entwickelt seine Straßenbau Grundsätze

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Innovation: Technik und Wissenschaft

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Transport und Kommunikation (Fortsetzung) 1825 Stephensons Lokomotive läutet das Schienenzeitalter ein 1831 Gurneys Dampfwagen 1838 S.S. Great Western ermöglicht regelmäßige Atlantiküberfahrten 1838 Schiffsschraube Textilwaren 1733 1733 1764 1769 1779 1785–1787 1801–1802 1809 1813 1822 1825–1830 1826 1826–1829 1836 Landwirtschaft 1701 1750–1800 1782 1784/1786 1793–1794 1797 1800 1800er 1819–1822 1826 1830er-1850er 1831 1831–1833 1832 1840

Schnellschütze Erste Spinnmaschine Feinspinnmaschine: Spinning Jenny Spinnmaschine mit Wasserradantrieb: Waterframe Spinning Mule verbindet Spinning Jenny und Waterframe Funktionen Webmaschine Jacquard-Webmaschine Klöppelmaschine Gemusterte Spitze wird von Maschinen produziert Roberts Webmaschine Automatische Feinspinnmaschine Goulding Kondensator Ringspindel Cromptons aufwändiger Webstuhl Sämaschine Gezielte Tierzucht Sämaschine Dreschmaschine Baumwollentkörnungsmaschine Erster gusseiserner Pflug Heuwender Knochenmehldünger Entwicklung eines dreiteiligen, gusseisernen Pflugs mit standardisierten, auswechselbaren Teilen Erntemaschine Einführung und Verbesserung von Schalenhartguss-Pflügen Mähmaschine Erntemaschine mit erster erfolgreichen Schneideschiene Flachskämmmaschine Walzenvermahlung von Getreide

Quelle: Tuma, European Economic History, 229–237.

Am augenfälligsten sind Makroerfindungen – große theoretische Durchbrüche, die zu völlig neuen Technologien führen. In Wirklichkeit zeichnet sich technischer Fortschritt jedoch weniger durch punktuelle Durchbrüche aus, als er einen kontinuierlichen Prozess gradueller Verfeinerungen und Verbesserungen darstellt. Aus Sicht der Wirtschaftsgeschichte ist es kaum sinnvoll, von der Erfindung des Prinzips der Dampfmaschine, gefolgt von der Einführung des entsprechenden Apparats, auszugehen; vielmehr wurden bereits

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

existierende Maschinen ständig umgebaut und verbessert. So stieg beispielsweise die Effizienz von Dampfmaschinen im Lauf der Zeit erheblich: Nicht nur benötigten sie deutlich weniger Brennstoff zur Erzeugung derselben Kraftmenge, auch ihr Flächenbedarf und Hubvolumen gingen stark zurück.6 Infolgedessen sanken die realen Kosten der Dampfkraft drastisch: Der Einsatz von Drehmotoren verbilligte sich in Großbritannien vom frühen 18. Jahrhundert bis zur Mitte der 1840er Jahre um rund zwei Drittel, der von Pumpen um die Hälfte.7 Die angeführte, bei Weitem nicht vollständige Liste von Innovationen deckt eine solche Bandbreite von Feldern ab und ist so umfangreich, dass sich die Vorstellung, im Westen hätten sich zufällig ein paar Innovationen ergeben, als seltsam erweist. Entscheidend für unser Thema ist, dass der Westen vor allem in solchen Sektoren einen Vorsprung gewann und ausbaute, die das größte Potenzial für Produktivitätssteigerungen boten – zum Beispiel Energie, Kapitalgüter (Eisen, später Stahl und Baustoffe) und Rüstung. Damit soll keineswegs behauptet werden, er habe in jeder Hinsicht klar in Führung gelegen. Die britische Landwirtschaft etwa erzielte einen deutlich niedrigeren Flächenertrag als die chinesische. China war verdientermaßen für sein Porzellan- und Seidengewerbe berühmt; in seiner Wirtschaft wurde Vergeudung oftmals viel erfolgreicher vermieden als im Westen. Textilien und Stahl aus Indien – ein Land mit einer in vieler Hinsicht wohl noch beeindruckenderen Tradition des herstellenden Gewerbes – waren lange Zeit Spitzenklasse. Doch es ist schwer vorstellbar, wie Chinas Stärken in puncto Produktionsverfahren und Produkte – zumindest während der Qing-Herrschaft – einen Take-off zum modernen Wirtschaftswachstum hätten auslösen können. Das Land befand sich nicht auf einem Entwicklungspfad steigender Erträge und Synergien. Traditionelle Tätigkeiten effizienter, mit weniger Vergeudung, zu verrichten, bewirkt noch kein anhaltendes Wachstum. Es wäre zwar eindeutig falsch, Großbritannien einen allgemeinen Vorsprung zu attestieren, mindestens ebenso falsch aber, seinen Sprung nach vorn allein auf Kohle und Kolonien zurückzuführen. Die Welle britischer Erfindungen im 18. Jahrhundert kam gewiss nicht allein durch Zufall und Glück oder als schlichte Reaktion auf Herausforderungen zustande. Festzustellen ist vielmehr eine Serie von Innovationen auf breiter Front, eine immer schnellere, zeitlich und räumlich konzentrierte Akkumulation von Wissen.8

6 Wagenbreth/Düntzsch/Gieseler, Geschichte der Dampfmaschine, 94. 7 Allen, British Industrial Revolution, 173. 8 Vgl. etwa Weightman, What the Industrial Revolution Did for Us; ders., Industrial Revolutionaries.

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Innovation: Technik und Wissenschaft

Tab. 53: Innovationen in Wissenschaft und Technologie in China, 10. bis 19. Jahrhundert Jahrhundert

Anzahl der Innovationen

900–1000

29

1000–1100

38

1100–1200

27

1200–1300

34

1300–1400

37

1400–1500

18

1500–1600

36

1600–1700

43

1700–1800

7

1800–1900

2

Quelle: Goldstone, Why Europe?, 122.

Da sich höhere Produktivität vor allem durch technologische Durchbrüche ergab, brauchte es Menschen, die Werkzeuge, Geräte und Maschinen erfinden, herstellen, warten und reparieren konnten. In Europa gab es sie in großer Zahl, und mehr als in jedem anderen europäischen und erst recht außereuropäischen Land in Großbritannien. Das Land verfügte über erstaunlich viele Unternehmer/Ingenieure und hochqualifizierte Mechaniker. Die These einer einzigartigen technisch-wissenschaftlichen Kultur in Nordwesteuropa und namentlich in Großbritannien ist meines Erachtens nie widerlegt worden.9 Großbritannien hatte in der Tat eine »aufgeklärte Wirtschaft«, in der eine sehr pragmatische Verknüpfung von Theorie und Praxis herrschte und oftmals enge Beziehungen zwischen Wissenschaftlern, Ingenieuren, Mechanikern und Unternehmen bestanden. James Watt zum Beispiel kooperierte mit dem Unternehmer Matthew Boulton (1728–1809) und mit John Wilkinson (1728–1808), einem Werkzeugmacher und Industriellen, und war lange Zeit an der Universität von Glasgow tätig. In mehreren Teilen Großbri9 Vgl. etwa Goldstone, »Efflorescences and Economic Growth«, 353–389; ders., Why Europe, Kap. 8 und Schluss; Jacob, Scientific Culture and the Making of the Industrial West; dies./Stewart, Practical Matter; und natürlich Mokyr, Lever of Riches, Gifts of Athena und vor allem Enlightened Economy. Zur Position von Robert Allen, vgl. British Industrial Revolution, Kap. 10: »Die kulturellen Veränderungen zwischen 1400 und 1800 waren immens und der Tendenz nach Erfindungen förderlich.« (269) Parthasarathi behauptet für das Indien des 18. Jahrhunderts eine im Grunde sehr ähnliche Situation (Why Europe Grew Rich, insbesondere Kap. 7).

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

tanniens existierten dichte »Netzwerke der Innovation« (Dudley).10 Das Land bot das richtige institutionelle Umfeld für produktive Innovationen. Die These, dass Westeuropa und besonders Großbritannien in dieser Hinsicht einzigartig gewesen seien und sich ihr einzigartiger wirtschaftlicher Wachstumspfad ab dem 18. Jahrhundert zu einem Gutteil durch diese Kultur der Förderung nützlichen und soliden Wissens erklären lasse, scheint mir weiterhin gültig.11 In unserer heutigen Hightech-Wirtschaft sind Technik und Wissenschaft offenkundig eng verzahnt und wird allenthalben die Wichtigkeit von Forschung und Entwicklung betont.12 In den ersten Stadien der Industrialisierung mag die Wissenschaft eine weniger bedeutende Rolle gespielt haben, als oft behauptet worden ist. Doch bei aller Tüftelei, dem praktischen Ausprobieren und Experimentieren, waren Wissenschaft und vor allem wissenschaftliches Denken gewiss nicht unerheblich.13 Sie hatten entscheidenden Anteil an einigen Erfindungen während des britischen Take-offs – insbesondere an der wichtigsten: der Dampfmaschine –, kamen auch in anderen Produktionszweigen wie der Keramik zum Einsatz und wurden im Lauf der Zeit zweifellos immer wichtiger, um ein Versiegen des Innovationsflusses zu verhindern.14 Wie Ferguson, sicherlich zum Missfallen vieler Gegner des Eurozentrismus, bemerkt: »Jene, die den ›Eurozentrismus‹ verurteilen, als handelte es sich dabei um ein geschmackloses Vorurteil, haben ein Problem: Gemessen am Maßstab der Wissenschaftlichkeit war die wissenschaftliche Revolution ein durch und durch eurozentrisches Phänomen.«15 Selbstverständlich waren viele Beiträge zur wissenschaftlichen Revolution außereuro10 Dudley, Networks of Innovation. 11 Vgl. die Autoren und Publikationen in Anm. 9, S. 337. In dieser Hinsicht hoffe ich, dass die Ergebnisse des großen vergleichenden Forschungsprojekts am Department of Economic History der London School of Economics and Political Science mit dem Titel »Useful and Reliable Knowledge in Global Histories of Material Progress in the East and the West (URKEW)« meine Erwartungen bestätigen werden. Für einige Klarstellungen vgl. Patrick O’Brien, »The Needham Question Updated – A Historiographical Survey and Elaboration« auf der Website des Projekts an der LSE. Vgl. auch ders. »Historical Foundations«. 12 Wie wichtig die Wissenschaft für das Wachstum während Großbritanniens erster industrieller Revolution und für das moderne Wirtschaftswachstum im Allgemeinen war, ist weiterhin sehr umstritten. Ich teile die Position, die Joel Mokyr u.a. in Enlightened Economy vertritt. Ridley relativiert die Bedeutung der Wissenschaft stark: Sie sei ein Resultat der Technik, nicht umgekehrt (Wenn Ideen Sex haben, Kap. 8). 13 Davon geht erstaunlicherweise Deirdre McCloskey aus: Kap. 38 in ihrem ansonsten brillanten Buch Bourgeois Dignity trägt die Überschrift: »Die Ursache bestand nicht in der Wissenschaft«. 14 Zum unverzichtbaren Beitrag der Wissenschaft zur Erfindung der Dampfmaschine: Cohen, »Rise of Modern Science«; und Allen, Global Economic History, 35. 15 Ferguson, Der Westen und der Rest, 117.

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Innovation: Technik und Wissenschaft

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päischen Ursprungs. Sie entstand nicht ex nihilo und war sicherlich kein rein europäisches Phänomen, doch dass Entstehung und Take-off der modernen Wissenschaft im Westen stattfanden, lässt sich nicht bestreiten.16 Wer den – meines Erachtens vergeblichen – Versuch unternehmen wollte, dies zu widerlegen, müsste sich der Herausforderung durch folgende weitere Liste von Erfindungen (Tab. 54) stellen: Tab. 54: Die wichtigsten wissenschaftlichen Durchbrüche von 1530 bis 1789 in Westeuropa 1530 1543 1543 1546 1572 1589 1600 1604 1608 1609 1610 1614 1628 1637 1638 1640 1654 1662 1662

Paracelsus wendet erstmals Chemie auf die Gebiete der Physiologie und Pathologie an Nikolaus Kopernikus’ De revolutionibus orbium coelestium verkündet den heliozentrischen Aufbau des Sonnensystems Andreas Vesalius’ De humani corporis fabrica ersetzt Galens Anatomiebuch Agricolas De natura fossilium klassifiziert Mineralien und führt den Begriff »Fossil« ein Tycho Brahe hält die erste europäische Beobachtung einer Supernova fest Galileos Versuche mit fallenden Körpern (veröffentlicht in De Motu) revolutionieren die experimentelle Methodik William Gilberts De magnete, magnetisque corporibus beschreibt die magnetischen Eigenschaften der Erde und der Elektrizität Galileo entdeckt, dass ein frei fallender Körper seine Distanz proportional zum Quadrat der Zeit vergrößert Hans Lipperhey und Zacharias Janssen erfinden unabhängig voneinander das Teleskop Galileo führt die erste Nachthimmelbeobachtung mit einem Teleskop durch Galileo entdeckt vier der Jupitermonde und leitet ab, dass die Erde nicht das Zentrum des Universums ist John Napiers Mirifici logarithmorum canonis descriptio führt den Logarithmus ein William Harvey schreibt Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus worin er die Blutzirkulation genau beschreibt René Descartes’ La Géometrie (ein Appendix zu seinem Discours de la Méthode) begründet die analytische Geometrie Galileos Discorsi e dimonstrazioni mathematiche gründet die moderne Mechanik Pierre de Fermat begründet die Zahlentheorie Fermat und Blaise Pascal begründen die Wahrscheinlichkeitstheorie Robert Boyles Skeptical Chymist definiert Elemente und die chemische Analyse Boyle verkündet Boyles Gesetz, dass ein von einer fixen Menge Gas belegtes Volumen in einem Container umgekehrt proportional zu dessen ausgeübtem Druck ist

16 Eine komparative Analyse der Ursprünge moderner Wissenschaft in Europa bietet zum einen Cohen, How Modern Science Came into the World, sowie zum anderen, aus einer anderen Perspektive, Huff, Rise of Early Modern Science; ders., Intellectual Curiosity and the Scientific Revolution. Goldstone, A Peculiar Path.

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340 1669

1678 1687 1735 1738 1746 1755 1755 1785 1789

Teil 2: Erklärungen der Great Divergence Isaac Newton’s De analysi per aequationes numero terminorum infinitas bietet den ersten systematisch Überblick des Kalkulus, unabhängig von ihn wurde diese auch von Leibniz entwickelt. Antoni van Leeuwenhoek entdeckt Mikro-Organismen Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica führt die Gravitationsgesetze der universalen Gravitation und die Bewegungsgesetze ein Carl von Linnés Systema naturae erlaubt die systematische Klassifikation von Organismen nach Art und Gattung Daniel Bernoulli beschreibt das Bernoulli’sche Strömungsgesetz und formuliert die kinetische Theorie des Gases Jan-Étienne Guettard entwickelt die erste geologische Karte Joseph Black identifiziert Kohlenstoffdioxid Antoine Laurent de Lavoisier beschreibt den Vorgang der Verbrennung James Hutton’s Concerning the System of the Earth formuliert die Uniformitätstheorie der Entwicklung der Erde Lavoisiers Traite élémentaire de chimie begründet das Gesetz der Massenerhaltung

Quelle: Ferguson, Der Westen und der Rest der Welt, 114–116.

Die Entstehung der modernen Wissenschaft und der anhaltenden technologischen Entwicklung ist ein höchst komplexes Phänomen, das hier nicht eingehend analysiert werden kann. In Anlehnung an Goldstone17 beschränke ich mich stattdessen auf eine stark vereinfachte Zusammenfassung dessen, was geschah. Warum dies geschah, wäre eine andere bedeutsame Frage, die an dieser Stelle ausgespart bleiben muss – ich verweise hierzu auf die in den Anmerkungen genannte Literatur. Laut Goldstone wurden im Westeuropa der frühen Neuzeit Tradition und Religion mehr und mehr infrage gestellt, während ein Experiment und mathematisches Denken verknüpfender Wissensbegriff an Boden gewann. So wurde besonders in Großbritannien eine »Bacon’sche«,18 systematische Herangehensweise an Probleme vorherrschend, die Beobachtung, Erfahrung und Beweisregeln mit Instrumenten zum Messen und Überprüfen verband, denen dabei eine grundlegende Bedeutung zufiel. Hier wich ein Klima der Konformität und staatlich durchgesetzten Rechtgläubigkeit insbesondere nach der Glorreichen Revolution einem Klima von Toleranz und Pluralismus, in dem sich nicht einmal die offizielle anglikanische Kirche der Wissenschaft in den Weg stellte. Schließlich, und auch das gilt für das Großbritannien des 18. Jahrhunderts in besonderem Maß, förderten die engen sozialen Beziehungen zwischen Wissenschaftlern, Unternehmern, Ingenieuren und Handwerkern das Unternehmertum. Dass in Europa bis zum 18. Jahrhundert fast 150 Universitäten entstanden 17 Goldstone, Why Europe, 167–170. 18 Nach dem Philosophen Francis Bacon (1561–1626), der für empirische induktive Methoden in der Wissenschaft eintrat.

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Innovation: Technik und Wissenschaft

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waren und über eine Vielfalt von Themen breite öffentliche Debatten geführt wurden, dürfte ebenfalls – auch wenn die Universitäten häufig nicht gerade Pioniere der Wissenschaft waren! – Auswirkungen gezeitigt haben.19 Der Staat förderte in direkter wie indirekter Weise Innovationen, war selbst ein Nutznießer der Wissenschaften und, wahrscheinlich wichtiger noch, er bremste diese Entwicklungen nicht.20 Darin besteht ein bemerkenswerter Kontrast zu China im langen 18. Jahrhundert: Dort förderte die Regierung zwar häufig die Verbreitung optimaler Praktiken, aber sie bemühte sich schwerlich um bedeutende Innovationen und ermutigte auch die Bevölkerung nicht dazu.

19 Huff, Intellectual Curiosity and the Scientific Revolution, Epilog. 20 Vgl. etwa Caton, Politics of Progress; Spadafora, Idea of Progress.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

19. Produktivitätssteigerungen durch institutionelle und organisatorische Innovationen

In den Debatten über die Great Divergence und insbesondere die industrielle Revolution stehen meist technologische Innovationen im Vordergrund. Es wäre absurd, deren fundamentale Bedeutung zu bestreiten, aber systematische Forschungen über die produktivitätssteigernden Effekte von Managementinnovationen – von vielfältigen Neuerungen der Produktionsorganisation im weitesten Sinn –, wären ebenfalls sehr begrüßenswert. In entwickelten Gesellschaften sind überall Manager unterschiedlichster Art tätig, die teilweise unvorstellbar hohe Gehälter dafür beziehen, die Produktion effizienter und profitabler zu organisieren. Mit ihrem Fokus auf Rationalisierungen erreichen sie dies oft auch tatsächlich. Diese Form von Innovationen sollte in Analysen der Great Divergence meines Erachtens viel stärker berücksichtigt werden – mit Blick nicht nur auf die private Industrie, sondern auch auf Landwirtschaft und Dienstleistungen.1 Der Beitrag von Dienstleistungen zur modernen Wirtschaftsentwicklung wird bis heute unterschätzt, was angesichts ihres offenkundigen Gewichts erstaunt. Produktivitätssteigerungen beruhen in ihrem Fall häufig vor allem auf einer veränderten Arbeitsorganisation. Das Gleiche gilt für den Staatssektor, dessen Anteil am BIP eine strukturelle Wachstumstendenz aufweist und der in seiner Bedeutung für die Gesamtwirtschaft ebenfalls kaum zu überschätzen ist. Die Untersuchung von Institutionen und Arbeitsorganisation ist zwar unter Wirtschaftshistorikern geradezu eine Mode geworden, aber im Mittelpunkt steht dabei zumeist ihre Bedeutung für die »wirkliche« Wirtschaft – etwa als Voraussetzung für die Senkung von Transaktionskosten –, und weniger die Frage, wie wirtschaftlich effizient und produktiv die Institutionalisierung und Organisation eines bestimmten Verhaltens selbst ist. Konkret: Wir brauchen Studien darüber, wie Banken und Versicherungen Transaktionskosten senken können oder Bildungseinrichtungen das Humankapital verbessern, ebenso aber über die wirtschaftliche Effizienz und Produktivität der Institutionen selbst und die durch sie bewirkte direkte Einkommenssteigerung. Industrialisierung erschöpft sich nicht in einer durch technische Geräte gesteigerten Produktivität und das moderne Wirtschaftswachstum nicht in 1 Vgl. die klassische Studie von Pollard, Genesis of Modern Management.

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Produktivitätssteigerungen durch Innovationen

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der Entwicklung der Industrie. Folglich erstreckt sich auch der Unterschied zwischen Ländern, in denen modernes Wirtschaftswachstum herrscht, und solchen, wo dies nicht der Fall ist, nicht nur auf Industrie und Technik. In Studien über die Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums wird meines Erachtens ein bestimmter Teil der Produktion, nämlich die Industrie, oder allgemeiner: die Produktion materieller Güter und der Einsatz technischer Geräte, überbetont. Es gibt einen verbreiteten Fetisch des herstellenden Gewerbes, der den Eindruck nahelegt, andere Wirtschaftssektoren produzierten überhaupt nichts. Gemessen an der Wertschöpfung war der Dienstleistungssektor in sich industrialisierenden Ländern jedoch genauso groß und schon bald größer als das herstellende Gewerbe. Die Rolle von Institutionen und Arbeitsorganisation in und für sämtliche Wirtschaftszweige sowie von Sektoren jenseits der Industrie, insbesondere des Dienstleistungssektors, verdient weit mehr Beachtung, als ihr gewöhnlich beigemessen wird. Albert Feuerwerkers Bemerkung über die Bedeutung institutioneller Durchbrüche kann man nur beipflichten: »Ein institutioneller Durchbruch ist so viel wert wie ein Dutzend Textilfabriken oder Reedereien, die in der traditionellen Gesellschaft und ihrem Wertesystem verankert sind.«2 Max Weber betrachtete die zunehmende und durchgreifende Rationalisierung sämtlicher Lebensbereiche mit Recht als das Wesen der Modernisierung und der Besonderheit des Westens. Die Geburt des modernen Wirtschaftswachstums war so gesehen ebenso sehr eine institutionelle Revolution wie eine des Wissens und des Ressourcengebrauchs.3 Der Vorsprung sich industrialisierender Länder war eindeutig nicht nur technisch, sondern auch durch ständige institutionelle Innovationen begründet. Stärker zu berücksichtigen ist auch die staatliche Sphäre. Bei der Forschung für ein Buch über die Rolle des Staates in der britischen und der chinesischen Wirtschaftsentwicklung von 1680 bis 1850 stieß ich immer wieder auf enorme Unterschiede in der staatlichen Effizienz und Leistungsfähigkeit, sei es auf dem Gebiet des Finanz- und Geldwesens, der Steuererhebung, der Logistik, des Militärs oder der Erhebung und Nutzung von Informationen.4 In dieser Hinsicht würde der britische Staat zur Zeit des Take-offs – zumindest bis zum Ende der Napoleonischen Kriege – dem Vergleich mit jedem Staat der Welt ohne Weiteres standhalten. Die Zentralregierung hatte eine sehr starke Stellung in der britischen Gesellschaft. Sie verfügte bereits über sämtliche 2 Feuerwerker, China’s Early Industrialization, 242. 3 Diese These vertritt Allen, Institutional Revolution – zugleich ein interessanter Versuch zu zeigen, wie ein breiter, also über die Steckenpferde der Institutionenökonomen hinausgehender institutionalistischer Ansatz aussehen könnte. 4 Vries, A World of Surprising Differences.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Monopole, die dem vollentwickelten modernen bürokratischen Staat im Sinne Webers zugeschrieben werden: über das Gewaltmonopol sowie das Monopol der öffentlichen Verwaltung und der Erhebung öffentlicher Einnahmen. Von großer Bedeutung war dabei, dass tatsächlich allein die Regierung Einnahmen erhob, die man öffentliche nennen könnte, und sie beinahe vollständig in ihren Händen blieben. Keine Interessengruppe konnte sich vom Staat ernähren und öffentliche Gelder in private Kassen umlenken. Die Aristokraten erhoben keine Feudalabgaben, und 1534 war das Recht auf die Annaten und Zehnten vom Papst und den Klöstern auf die Krone übergegangen. Anglikanische Bischöfe zogen zwar mitunter Abgaben ein, aber sie durften sie nicht behalten. Steuern wurden nicht nur sehr effizient und ohne Ausnahmen erhoben – sie flossen auch beinahe vollständig in die Londoner Staatskasse. Die Möglichkeit, (semi-)feudale Macht- und Einnahmequellen zu nutzen oder zu schaffen, existierte nicht mehr, ebenso wenig wie feudale Befreiungen und Privilegien, etwa das beneficium und die Immunität. Es bestand auch keinerlei Privateigentum an militärischen Gewaltmitteln oder eine nennenswerte private Aneignung von Teilen der Verwaltung oder der Staatseinnahmen. Ebenso wenig existierten Feudalrechte oder auch nur die geringste Spur jener für den Feudalismus kennzeichnenden Grenzverwischung zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Trotz aller lokalen Selbstverwaltung verfügte der britische Staat über eine zentralisierte, zentripetale, einheitliche und effiziente Verwaltung.5 In sämtlichen öffentlichen Bereichen sah er sich keinerlei Konkurrenz mehr gegenüber. Sein Beitrag zur Rationalisierung der Gesellschaft ist kaum hoch genug einzustufen – erwähnt seien nur die Standardisierung von Zeit und Zeitmessung, der Maße im Allgemeinen, von Gewichten und Geld, der Qualität von Produkten und des Rechtssystems. Anführen ließen sich auch die zunehmende Erhebung und Nutzung von Statistiken und Behördendaten, die Kartografie und der Aufbau von Infrastruktur. Viele institutionelle Innovationen der Wirtschaft, etwa Chartergesellschaften, Aktien, die moderne Firma, die Bank of England und die Staatsanleihe, entstanden an der Schnittstelle von privater und öffentlicher Sphäre.

5 Vgl. die interessante Analyse von Macfarlane, »Cradle of Capitalism«, sowie ders., Invention of the Modern World, Kap. 9–11.

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Letztgültige Ursachen: Institutionen

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20. Letztgültige Ursachen: Institutionen

Das Wesen des modernen Wirtschaftswachstums besteht darin, dass es anhaltend, manche würden sogar sagen: selbsttragend, und innovationsgetrieben ist. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Innovationen seine einzige Quelle gewesen wären. Auch die traditionellen Wachstumsmotoren leisteten weiter ihren Beitrag: mehr Input von Ressourcen, etwa fiktive Nutzflächen; mehr Input an Arbeitskraft, wenigstens zu Beginn des Prozesses; eine enorme Ausweitung und Vertiefung von Arbeitsteilung und Märkten, die nun vor allem dank der Revolutionen im Transport- und Kommunikationswesen sowie zusätzlicher Kapitalgüter tatsächlich globale Märkte wurden. Doch traditionelles Wachstum hat eine Tendenz zu sinkenden Erträgen. Innovation kann dem entgegenwirken, führt aber nur dann zu anhaltendem Wachstum, wenn sie Teil eines Systems, ein endogenisiertes Element der Wirtschaft, also kein gelegentlicher Zufall, sondern die Regel ist.1 Wären Innovationen mit Watts Dampfmaschine an ihr Ende gekommen, hätte es die Great Divergence nicht gegeben. Modernes Wirtschaftswachstum setzt eine Institutionalisierung von Verbesserungen voraus, die Schaffung und Optimierung einer Reihe von Regeln und Organisationen, die Erfindungen und Innovationen fördern. Die Frage lautet folglich, wodurch Innovation gefördert, organisiert und angetrieben wird. Um sie zu beantworten, müssen wir nach den tieferen, letztgültigen Ursachen des Wirtschaftswachstums suchen. Anhaltendes Wachstum ist nur in einem bestimmten stimulierenden Umfeld möglich, in dem Wandel und Innovation nicht nur akzeptiert, sondern gewollt und systematisch gefördert werden. Wie Erik Ringmar anmerkt, ist Wandel zu einem Wesensmerkmal des modernen Lebens geworden und nicht länger dem Einzelnen und dem Zufall überlassen, sondern in Institutionen und Strukturen verankert. Die Macht dieser Institutionen beruht vor allem auf ihrem Vermögen, Menschen zu 1 Morgan Kelly, »The Invention of Invention«, http://www.ucd.ie/economics/ research/papers/2005/WP05.15.pdf, Summary, 13. Der Ausdruck wurde von Alfred North Whitehead (1861–1947) geprägt: »Die größte Erfindung des 19. Jahrhunderts war die Erfindung der Methode des Erfindens.« (Wissenschaft und moderne Welt [1925], 117). Landes verwendet ihn ohne Erwähnung Whiteheads in Wohlstand und Armut, Kap. 4: »Die Erfindung des Erfindens«.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

einem bestimmten, vergleichsweise berechenbaren Verhalten in den Stand zu versetzen und zu veranlassen und sie zur Koordinierung ihrer Tätigkeiten zu bewegen. In der modernen Welt sind Institutionen in der Regel so beschaffen, dass sie die Gesellschaft in eine sich selbst transformierende Maschine verwandeln.2 Nicht zufällig ist die Periode unmittelbar vor und während des britischen Take-offs oft als Zeitalter des Wandels und Fortschritts, der Verbesserung und Aufklärung bezeichnet worden.3 Wie (gute) Institutionen zu definieren wären und wie wichtig sie tatsächlich sind, ist Gegenstand ausgiebiger Debatten. Ihnen jegliche Bedeutung abzusprechen, wäre falsch. In der Vergangenheit haben Wirtschaftshistoriker den Aufstieg des Westens vor allem durch Institutionen erklärt. Alle klassischen Erzählungen darüber gingen von einer Besonderheit der Funktionsweise und Organisation der westlichen Gesellschaft aus, seien es ihre Märkte oder Staaten, das Militär oder die Art und Weise der Produktion, Verbreitung und Nutzung von Wissen. So unterschiedliche Philosophen und Forscher wie Smith, Marx, Weber, Polanyi, Jones, Braudel, Wallerstein und Landes sowie ihre jeweiligen Anhänger waren bzw. sind letztlich Institutionalisten: Ihr Hauptaugenmerk liegt auf Institutionen wie Märkten, Staaten, Gilden, Firmen, Konzernen, der Familie und dergleichen. Das gilt im Grunde auch für die meisten Historiker. Deren traditionelle Auffassungen hat Ringmar eloquent in der Sprache des Institutionalismus reformuliert: Er unterstreicht die Einzigartigkeit europäischer Institutionen auf der Welt und illustriert dies durch einen Vergleich mit China, wo nie eine Institutionalisierung des Wandels stattgefunden habe. Die chinesische Gesellschaft vermochte demnach das bereits Bekannte immer effizienter zu nutzen, brachte aber keine Innovationen hervor: Ihre rationelle Anpassungsfähigkeit war beeindruckend, aber es habe ihr an Erfindungsgeist gemangelt.4 Sogenannte Eurozentristen sind mit Blick auf die Great Divergence allerdings beinahe definitionsgemäß Institutionalisten. (West-)Europa wies ihnen zufolge institutionelle Besonderheiten auf, die grundlegend für jegliche Erklärung der Great Divergence seien. Ferguson formuliert dies sehr deutlich: »Entscheidend war […] die institutionelle Kluft zwischen dem Westen und dem Rest der Welt. […] Auch die frühere Industrialisierung Europas entsprang überlegenen Institutionen.«5 Die Erklärung für die »geringen Fortschritte der fernöstlichen Reiche« sucht er vor allem auf institutioneller Ebene.6 Die meisten Institutionalisten folgen in dieser Frage einer 2 3 4 5 6

Ringmar, Why Europe Was First. Vgl. z.B. Borsay, »The Culture of Improvement« und Anm. 20, S. 341. Ringmar, Why Europe Was First. Darin zu China: Kap. 14–19. Ferguson, Wer regiert die Welt?, 46. Ebd., 57

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Letztgültige Ursachen: Institutionen

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von Weber geprägten Tradition: Die Great Divergence trat ihnen zufolge nicht recht spät, plötzlich und zufällig auf, sondern hatte ungeachtet ihrer offenkundigen Beschleunigung im 18. und 19. Jahrhundert tiefe Wurzeln und resultierte aus einer langen pfadabhängigen institutionellen Entwicklung.7 Einige eurozentrische Wissenschaftler allerdings bestreiten zwar nicht die Bedeutung bestimmter institutioneller Rahmenbedingungen, relativieren aber deutlich die Annahme einer direkten Beziehung zwischen institutionellen Veränderungen und der Entstehung von modernem Wirtschaftswachstum und Industrie. So weist Clark die These, Institutionen bzw. institutioneller Wandel hätten die Grundlage für die britische Industrialisierung geschaffen, ausdrücklich zurück.8 Wie Malthus will er nachweisen, dass in der damaligen Ära »Armut nicht das Produkt von Institutionen war und folglich [sic! PV: eine nicht ganz einwandfreie Logik] Veränderungen der politischen Institutionen das menschliche Leid nicht nennenswert lindern konnten«. Er geht sogar so weit zu behaupten, in der damaligen Zeit hätte »eine gute Regierungsführung im modernen Sinn […] den materiellen Lebensstandard kaum geändert oder sogar gesenkt«.9 Denn in einer gut regierten und gut organisierten Gesellschaft wäre die Bevölkerung gewachsen, was letztendlich zu Problemen geführt hätte.10 Angesichts der enormen Popularität des Institutionalismus unter Ökonomen erstaunt es, dass viele moderne Globalhistoriker Institutionen eher geringe Bedeutung für die Great Divergence beimessen. Besonders die Gegner des Eurozentrismus unter ihnen könnten sich in der Akzentsetzung kaum deutlicher von den Ökonomen unterscheiden. Dass irgendeine europäische Institution denen anderer Weltregionen »überlegen«, das heißt wirtschaftlich effizienter oder vorteilhafter gewesen sein könnte, ist offenbar unvorstellbar – und in ihren Augen inakzeptabel. Vertreter der kalifornischen Schule lehnen es beinahe durchweg ab, europäischen Institutionen besondere Bedeutung beizumessen.11 Die institutionellen Unterschiede waren ihnen zufolge gering, kaum relevant oder beides. Über Pomeranz’ Buch bemerkt Jones mit gutem Grund: »The Great Divergence ist äußerst materialis7 Ähnlich MacFarlane, Invention of the Modern World; Mitterauer, Warum Europa?; Van Zanden, Long Road to the Industrial Revolution und mit einem Fokus auf dem Nahen Osten: Kuran, Long Divergence. 8 Clark, Farewell to Alms, 10. Dort heißt es auch: »Institutionelle Erklärungen für die Great Divergence sind schwer haltbar.« (352) Vgl. auch im Index »institutions«. 9 Ebd., 33–34. 10 Auch McCloskey, Bourgeois Dignity, Kap. 33–35, und Findlay/O’Rourke, Power and Plenty, 349–350 haben Vorbehalte gegenüber dem vorherrschenden institutionalistischen Ansatz. 11 Jones, Cultures Merging, 120.

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tisch: Relative Ressourcenknappheit wird zur Grundlage der Weltgeschichte erklärt. Der Macht der Ideen wird keine Bedeutung beigemessen […], ebenso wenig wie den besonderen Charakteristika der europäischen Wissenschaft und Technik […] oder dem Staat und seiner Politik.«12 Was Frank über den Erklärungswert von Institutionen denkt, haben wir bereits gesehen. Wong räumt in China Transformed zwar die Existenz institutioneller Unterschiede zwischen China und Westeuropa ein – was in der Regel nicht zum Vorteil des Westens ausfällt –, betont jedoch, für das Wirtschaftswachstum und die Entwicklung vor der Industrialisierung sei dies kaum von Belang gewesen: »Die politische Ökonomie Europas brachte nicht die Industrialisierung hervor, und sie war auch nicht bewusst auf ihre Förderung ausgerichtet. Vielmehr schuf sie eine Reihe von Institutionen, die die Industrialisierung, sobald sie einmal begonnen hatte, zu fördern vermochten.«13

In seinem gemeinsam mit Rosenthal verfassten Buch Before and Beyond Divergence wird der Gedanke, westliche Kultur oder Institutionen könnten in irgendeiner Hinsicht »überlegen« [sic!, PV] gewesen sein, vehement zurückgewiesen: »Die politische Ökonomie des frühneuzeitlichen China war gezielter auf die Förderung von Wirtschaftswachstum ausgerichtet als die politischen Ökonomien Europas. […] Die Europäer können sich die zahllosen Entdeckungen, die zur industriellen Revolution führten, kaum als Verdienst anrechnen. In unserer Erzählung gibt es weder Helden noch Schurken; die Hauptrolle fällt den unbeabsichtigten Folgen politischer Konflikte zu.«14 Die Wahrscheinlichkeit einer Industrialisierung in Europa war demnach nicht etwa dank irgendeines intelligenten westlichen Plans deutlich höher als in China gewesen, sondern aufgrund unbeabsichtigter Folgen der Unterschiede zwischen ihren politischen Ökonomien.15 Geografisch orientierte Globalhistoriker wie Diamond oder Morris beziehen sich fast gar nicht auf Institutionen. Morris etwa hält allein Geografie und Individuen für ernstzunehmende Erklärungsfaktoren. Auch das ist 12 Jones, »Time and Culture in Old-World Economics«, 858. Siehe auch meine eigene Argumentation: Vries, »California School and Beyond«. 13 Wong, China Transformed, Kap. 6, insbesondere 142–151, Zitat auf 151. Man fragt sich unwillkürlich, wer die von Wong zurückgewiesenen Behauptungen je vertreten hätte. 14 Rosenthal/Wong, Before and Beyond Divergence, 109 und 127. Warum sich die Europäer diese Erfindungen kaum als Verdienst anrechnen können, vermag ich nicht nachzuvollziehen. Wieso sollte Watt nach vielen Jahren größter Anstrengung keine Anerkennung für seine Erfindung zustehen? Die abwertenden Äußerungen vieler Historiker und Sozialwissenschaftler, die selbst nur Worte produzieren, über Menschen, die etwas erfinden, finde ich immer wieder erstaunlich. Was Chinas Maßnahmen zur Wachstumsförderung betrifft: Solche vermag ich nirgends zu erkennen. 15 Rosenthal/Wong, Before and Beyond Divergence, 127.

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fragwürdig: Selbst wenn allgemein und in großer Zahl betrachtet tatsächlich alle Menschen gleich sind – ist es nicht eine schlichte Tatsache, dass eine Gruppe von Menschen in einer Stecknadelfabrik ceteris paribus eine höhere Produktivität erzielt als eine Gruppe, die keine Arbeitsteilung vornimmt? Institutionen bleiben im Großteil seines Buches vollständig ausgespart, und wo dies nicht der Fall ist, kann Morris sie nicht in seinen Ansatz integrieren und versucht dies auch gar nicht erst. Es mangelt ihm offensichtlich an einem wirklichen Verständnis ihrer Funktionsweise und möglichen Auswirkungen.16 Wenn alle Formen von Handeln, Institutionen, Kultur und Politik so irrelevant sind, wie Morris und einige andere Globalhistoriker uns glauben machen wollen, warum plädieren sie dann nicht konsequenterweise gleich dafür, sich mit Sozial-, Geistes- und Politikwissenschaften nicht länger zu befassen? Wenn die Gegenstände dieser Disziplinen belanglos sind und ihre Forschungsergebnisse folglich keinen Unterscheid machen können, wäre dies die logische Konsequenz.

16 Morris, Wer regiert die Welt?.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

21. Märkte und Eigentumsrechte

Die gleichsam klassische, traditionell wohl populärste institutionalistische Erzählung über den Aufstieg des Westens setzt diesen im Grunde mit der Durchsetzung des Marktes gleich. Die Industrialisierung gilt dabei als eine Beschleunigung dieses Prozesses durch die mit ihm einhergehenden technologischen Innovationen und Investitionssteigerungen. Letztlich bietet die Logik des Marktes als einer Innovationsmaschine demnach bereits eine hinreichende Erklärung für die Industrialisierung. Diese Auffassung gehört selbstredend zum Grundinventar der (neo-)klassischen Ökonomie und der an ihr orientierten Autoren. Institutionenökonomen, die gegenwärtig großen Einfluss unter Wirtschaftshistorikern genießen und sich häufig selbst als solche betätigen, setzen dabei zwar auch eigene Akzente, teilen diesen Erklärungsrahmen aber grundsätzlich. Auch sie suggerieren und behaupten mitunter ausdrücklich, was zum Beispiel schon John Hicks postulierte: Die industrielle Revolution – der Kern der Great Divergence – sei die logische Folge (institutioneller) Verbesserungen der Funktionsweise des Marktes, besonders auf dem Feld der Eigentumsrechte, gewesen.1 So schreiben Douglass North und Paul Thomas: »Die sogenannte industrielle Revolution ist letztlich einfach ein späterer Niederschlag innovativer Tätigkeiten, in denen sich die veränderte Zielrichtung wirtschaftlicher Anreize ausdrückt.«2 Bis 1700, so heißt es im Schlusssatz ihres Buchs The Rise of the Western World, hätten die mit der Glorreichen Revolution eingeführten institutionellen Veränderungen »der industriellen Revolution den Weg gebahnt«.3 Auch in der Theorie des institutionellen Wandels erklärt North ausdrücklich, Eigentumsrechte – die Zentralkategorie der meisten institutionalistischen Analysen – sowie Märkte böten die beste Erklärung für die britische industrielle Revolution.4 Acemoglu, Johnson und Robinson heben die Bedeutung von Eigentumsrechten und gut funktionierenden Märkten für das (moderne) 1 Vgl. Anm. 1, S. 132. 2 North /Thomas, »Economic Theory of the Growth of the Western World«, 1. Diese »veränderte Zielrichtung« führen sie vor allem auf die Glorreiche Revolution zurück. 3 North/Thomas, Rise of the Western World, 156. 4 North, Theorie des institutionellen Wandels, 170. Ebenso Wells/Wills, »Revolution, Restoration and Debt Repudiation«, 418; Olson, Rise and Decline of Nations, 78–83, 128; Dam, Law-Growth Nexus, 84.

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Märkte und Eigentumsrechte

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Wachstum in ihren Publikationen ebenfalls stets deutlich hervor und sehen die Glorreiche Revolution von 1688 als den entscheidenden institutionellen Meilenstein und Durchbruch, der ihm den Weg gebahnt habe. In Warum Nationen scheitern behaupten Acemoglu und Robinson einen direkten Zusammenhang zwischen Glorreicher und industrieller Revolution.5 Dass sich bestimmte Länder nicht industrialisieren, wird in ihrem Buch ein ums andere mal auf »extraktive Institutionen« zurückgeführt. In je eigener Weise behaupten auch Vertreter der einheitlichen und der neuen Wachstumstheorie, als Voraussetzung von Wissenszuwächsen, der Basis jeglicher Innovation, bedürfe es bestimmter institutioneller Arrangements, sei es ein freier Austausch und Wettbewerb von Ideen oder die gezielte Förderung von Forschung, Entwicklung und Bildung. Über die Bedeutung von Eigentumsrechten, wenigstens was geistiges Eigentum betrifft, besteht in ihren Reihen offenbar weniger Klarheit. Dass der Aufstieg des Westens ebenso wie die Industrialisierung in letzter Instanz mit der Durchsetzung des Marktes identisch sei, war unter Historikern und anderen Forschern schon immer eine verbreitete Annahme. In Jones’ Wunder Europa bietet sie zusammen mit »guter Regierungsführung« die entscheidende Erklärung.6 In seinem Buch Growth Recurring behauptet er: »Die Wirtschaftsgeschichte kann als Konflikt zwischen dem Interesse an Wachstum und dem Interesse an Rentenabschöpfung, also einer Verbesserung der eigenen Position zulasten der allgemeinen Wohlfahrt, verstanden werden.«7 Die Haupterklärung für die unterschiedliche Wirtschaftsleistung von Nationen liegt laut Jones in ihren Institutionen.8 Ähnlich argumentiert Mokyr in seinem beeindruckenden, hochgelobten Buch über die Geschichte der britischen Ökonomie von 1700 bis 1850: Ihr Wachstum lasse sich weitgehend damit erklären, dass sie »so sehr zu einer Laissez-Faire-Wirtschaft wurde, wie es auf dieser Welt nur möglich ist«, und sich »die Rentenabschöpfung […] ihrem Ende näherte«.9 Wie Mokyr betrachtet auch Landes »die Erfindung des Erfindens«, also institutionalisierte Innovation, als die Haupttriebkraft des Wachstums im Westen, deren Voraussetzung er in einem funktionierenden Marktmechanismus sieht.10 Ferguson zählt Wettbewerb und Eigentum – kurz: den Markt – ausdrücklich zu den »Killerapp5 Acemoglu/Robinson, Why Nations Fail, 197. Vgl. auch bspw. die Überschrift von Kap. 7: »Wie eine politische Revolution 1688 die Institutionen in England veränderte und zur industriellen Revolution führte«. 6 Jones, Wunder Europa, »Zusammenfassung und Vergleich«. 7 Ders., Growth Recurring, 1. 8 Ders., Cultures Merging, XI. 9 Mokyr, Enlightened Economy, 8. 10 Landes, Wohlstand und Armut, 75. So auch McCloskey, Bourgeois Dignity, »Vorwort und Danksagung«, sowie Kap. 44 und 45; Ringmar, Why Europe Was First, 6–12

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likationen«, mit denen der Westen »die übrige Welt« beherrschen konnte.11 Den Niedergang des Westens wiederum, Thema seines neuesten Buches, führt er kaum überraschend auf den Verfall von Institutionen zurück.12 Der Verweis auf den Markt – auf Wettbewerb, Eigentumsrechte und somit letztlich den Kapitalismus – ist in den vorherrschenden eurozentrischen Erklärungen des westlichen Wegs zum Wohlstand traditionell weit verbreitet.13 In Debatten über die Durchsetzung des Marktes im Westen wurde traditionell den Eigentumsrechten großes Gewicht beigemessen, die demnach nur dort bereits klar definiert und anerkannt waren. Beginnen wir unsere Analyse also mit einer Erörterung dieser Argumentation. In den Arbeiten der Institutionenökonomen, die in der globalen Wirtschaftsgeschichte am einflussreichsten sind – North, Acemoglu und ihre jeweiligen Koautoren –, erscheint die Rolle von Eigentumsrechten als absolut entscheidend.14 Wenn Jones den mangelnden Schutz von Eigentumsrechten zum Kern der vormodernen Wirtschaftsgeschichte Asiens erklärt und darin den Hauptgrund für den sehr späten Take-off der Region ausmacht, folgt er einem ähnlichen Argumentationsmuster und stellt sich wie Landes und die eben genannten Wissenschaftler in die Tradition der Theorie des orientalischen Despotismus, die nicht nur unter (neo-)klassischen Ökonomen und Verfechtern des Laissez-faire, sondern auch in marxistischen Kreisen seit jeher populär war.15 So bezog sich etwa Marx selbst in einem Brief an Engels zustimmend auf François Bernier, einen Autoren des 17. Jahrhunderts: »Bernier findet mit Recht die Grundform für sämtliche Erscheinungen des Orients – er spricht von Türkei, Persien, Hindustan – darin, dass kein Privateigentum existiert. Dies ist der wirkliche clef [Schlüssel] selbst zum orientialischen Himmel.«16 Engels stimmte Marx uneingeschränkt zu: »Die Abwesenheit des Grundeigentums ist in der Tat der Schlüssel zum ganzen Orient.«17 Für die erwähnten Vertreter der vorherrschenden Wirtschaftslehre und der Institutionenökonomie bieten klar definierte und anerkannte Eigen11 Ferguson, Wer regiert die Welt?, 44. 12 Ferguson, Der Niedergang des Westens. 13 Maßgebliche Titel neben den bereits genannten sind: Baechler/Hall/Mann(Hg,), Europe and the Rise of Capitalism; Bernstein, Birth of Plenty; Crone, Pre-Industrial Societies; Gellner, Pflug, Schwert und Buch; Jay, Road to Riches; Macfarlane, Riddle of the Modern World; Powelson, Centuries of Economic Endeavor; Rosenberg/Birdzell, How the West Grew Rich. 14 Eines von vielen Beispielen dafür: Acemoglu, »Growth and Institutions«. 15 Vgl. Jones Anm. 3, S. 61 und Landes, Wohlstand und Armut, bspw. 73 zu China, Kap. 11 zum indischen Mogulreich und Kap. 24 zur islamischen Welt im Allgemeinen. 16 Marx an Engels, 2. 6. 1853, in: MEW, Bd. 28, 254 [Hvhbg. i. Orig.]. 17 Engels an Marx, 6. 6. 1853, in: Ebd. 28, 255. Es ist bemerkenswert, wie beiläufig Marx und Engels von den von Bernier genannten Ländern, unter denen sich z.B. weder China noch Japan finden, zum »Orient«, ja »ganzen Orient« kommen.

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Märkte und Eigentumsrechte

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tumsrechte die entscheidende und beste Wachstumsbasis. Wirklich durchsetzen konnten sie sich in dieser Lesart erst im Goldenen Zeitalter der Niederlande und besonders mit der britischen Revolution von 1688. So betonen Acemoglu und Robinson ausdrücklich: »Bis zum 17. Jahrhundert in England waren extraktive Institutionen während der gesamten Geschichte die Norm.« Dies änderte sich offenbar mit der Glorreichen Revolution, der sie als dem »Wendepunkt« größte Bedeutung beimessen.18 Acemoglu und Robinson verstehen sie als Wegbereiter der Industrialisierung. Auch wenn die Bedeutung von Eigentumsrechten für jegliche Art von wirtschaftlicher Entwicklung an sich auf der Hand liegt, bemerkt McCloskey zurecht: »Eigentumsregeln wurden von vielen Gesellschaften hervorgebracht – tatsächlich von allen, denn andernfalls wären sie keine Gesellschaften gewesen, sondern ein Krieg aller gegen alle.«19 Die Vorstellung, zuvor habe es Eigentumsrechte in Europa nicht gegeben, ist kaum plausibel. Bereits im Römischen Reich existierten sie. Dort gab es übrigens auch schon Märkte für Arbeit und Kapital, bessere Finanzinstitutionen als im Frankreich des 18. Jahrhunderts und ein ähnlich hohes Pro-Kopf-Einkommen wie im Europa des 17. Jahrhunderts.20 Warum und wie genau sollten Eigentumsrechte also die britische Industrialisierung erklären können? Das ist keineswegs offensichtlich. Wenn Clark anmerkt, dass die »erforderlichen Institutionen […] bereits lang vor dem Beginn von Wachstum« in Großbritannien existierten, kann man ihm nur beipflichten.21 Leonard Dudley betont, dass Institutionen für die Welle von Innovationen, die den Kern der britischen industriellen Revolution ausmachten, keine hinreichende Erklärung bieten, da sich Großbritannien institutionell vom übrigen Nordwesteuropa nicht besonders unterschied.22 Noch deutlicher widerspricht der These der Institutionalisten, dass es – wenn wir Nick Crafts glauben dürfen – »zur Zeit der industriellen Revolution zu keiner wirklichen Verbesserung von Institutionen kam«.23 Und 18 Acemoglu/Robinson, Warum Nationen scheitern. Kap. 7 über die Glorreiche Revolution trägt die Überschrift »Der Wendepunkt«. 19 McCloskey, Bourgeois Dignity, 316 und 319. 20 Vgl. Manning/Morris, Ancient Economy; Temin, »Economy of the Early Roman Empire«. 21 Clark, Farewell to Alms, 10. Vgl. auch 352: »Institutionelle Erklärungen für die Great Divergence sind schwer haltbar.« Vgl. auch im Index »institutions«. Eindeutig geteilt wird diese These hinsichtlich der Existenz von Eigentumsrechten bereits lange vor 1688 von Macfarlane, Invention of the Modern World, Kap. 4, 9, 10. 22 Dudley, Mothers of Innovation, 51–52, 121–125 and 240–241. 23 Zitiert nach McCloskey, Bourgeois Dignity, 343. Allgemeine Bemerkungen dazu bietet Getzer, »Theories of Property and Economic Development«. Mit der Interpretation der Glorreichen Revolution und ihrer Folgen durch Acemoglu und Robinson befasse ich mich kritisch in »Does Wealth Entirely Depend on Inclusive Institutions and Pluralist Politics?« Damals kannte ich noch nicht den Aufsatz von Quinn, »The Glorious Revoluti-

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Julian Hoppit meint sogar, die berühmte Glorreiche Revolution habe keineswegs den Schutz von Eigentumsrechten verbesserte, sondern im Gegenteil dem nunmehr gestärkten Staat mehr Eingriffsmöglichkeiten eröffnet.24 Bemerkenswerterweise ging die Herausbildung gut geschützter Eigentumsrechte in Großbritannien eng mit Fällen von Enteignung einher. Heinrich VIII. schuf ein Grundeigentumsrecht gewissermaßen als Köder, um Land, das er sich bei der Auflösung der Klöster angeeignet hatte, zu seinen Preisen verkaufen zu können. Karl II. gewährte denjenigen Eigentumssicherheit, die bei den Zwangsverkäufen royalistischer Ländereien unter dem Commonwealth zugegriffen hatten.25 Dass Eigentum während der britischen Industrialisierung sehr gut geschützt war, ist unbestreitbar. Doch wie bereits Smith erkannte, bedeutet das natürlich, dass die Eigentumslosen keinen Schutz genossen: »Soweit der Privatrechte sichernde Staat der Sicherung von Eigentum dient, dient er in Wirklichkeit dem Schutz der Reichen vor den Armen – oder derjenigen, die etwas Eigentum besitzen, vor denen, die nichts haben.«26 In England stieg die Zahl der Verbrechen, die mit der Todesstrafe geahndet werden konnten, von 50 im Jahr 1689 auf 200 im Jahr 1800 – und dies betraf überwiegend verschiedene Formen von Diebstahl. Im Jahr 1800 war englisches Eigentum, wenigstens theoretisch, »durch das umfassendste System der Todesstrafe geschützt, das je erdacht worden war«.27 Dieser Schutz galt jedoch nicht jeglichem Eigentum und nicht unter allen Umständen. Robert Allen behauptet sogar: »Wachstum wurde auch durch die Macht des Parlaments gefördert [sic!, PV], Zwangsenteignungen zu beschließen. […] In Wirklichkeit bedeutete die Glorreiche Revolution, dass die bis 1688 nur zeitweilig gegebene ›despotische Macht‹ des Staates […] nun permanent existierte.«28 Durch zahlreiche Maßnahmen des Staates wurde »Eigentum aufgehoben, umverteilt, kurz: in es eingegriffen«.29 Monopole und Privilegien, von ihren Inhabern als Eigentum betrachtet, gerieten in Großbritannien unter Beschuss und waren beispielsweise in Frankreich weit besser (vielleicht zu sehr?) geschützt, d.h. bis zur Revolution als adliger und kirchlicher Besitz im großen Maßstab enteignet wurde. Die Macht des Parlaments verringerte in vieler Hinsicht den Schutz von Eigentumsrechten. In on’s Effect on English Private Finance«, demzufolge die privaten Zinssätze – die für Privatinvestoren entscheidend sein dürften – in Großbritannien nach dem Neunjährigen Krieg (1688–1697) stiegen. 24 Hoppit, »Compulsion, Compensation and Property Rights in Britain«. 25 Jones, Cultures Merging, 124. 26 Smith, Reichtum der Völker, 692. 27 Weisser, Crime and Punishment in Early Modern Europe, 138–139. 28 Allen, Global Economic History, 29; er zitiert hier Hoppit, »Patterns of Parliamentary Legislation«, 126. Vgl. auch Anm. 492, diese Seite. 29 Langford, Public Life and the Propertied Englishman, 146.

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Märkte und Eigentumsrechte

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Großbritannien erklärte William Pitt der Jüngere (1759–1806) ausdrücklich, die Regierung dürfe ihre Politik jederzeit ohne Entschädigung der Betroffenen ändern, da sie andernfalls keinerlei Wandel herbeiführen könne.30 Die verbreitete positive Hervorhebung von Eigentumsrechten lässt einen beinahe vergessen, dass sie die wirtschaftliche Entwicklung auch bremsen und mit dem öffentlichen Interesse in Konflikt geraten können. So wurden beispielsweise in der Provence, obwohl dies gewinnbringend gewesen wäre, keine Bewässerungsanlagen gebaut, weil Eigentumsrechte in Frankreich nicht zugunsten des Allgemeininteresses außer Kraft gesetzt werden konnten – was in Großbritannien etwa bei Einhegungen, Kanal- und Straßenbau durchaus vorkam.31 Bäuerliches Eigentum war in Frankreich insofern besser als in Großbritannien geschützt, als die Regierung stärker dafür Sorge trug, dass die Bauern nicht ihr Land verloren. Doch gerade das Verschwinden der (Klein-)Bauern als bedeutsamer gesellschaftlicher Klasse gilt inzwischen weithin als notwendige Etappe des wirtschaftlichen Fortschritts in Großbritannien, ja in sämtlichen Ländern,32 und umgekehrt ein Schutz ihres Eigentums wie etwa in Frankreich als bremsender Faktor. In China waren die Bauern unter der Qing-Regierung ebenfalls besser gegen Vertreibung geschützt als in Großbritannien. Dass dies seine Wirtschaftsentwicklung letztlich förderte, würden die meisten Ökonomen jedoch bezweifeln. Die Abschaffung der für Europas Ancien Régime so charakteristischen Monopole und Privilegien stellte de facto eine Form von Enteignung dar. Schadete dies der wirtschaftlichen Entwicklung? Schadete die Enteignung kirchlicher und adliger Ländereien während der Französischen Revolution der wirtschaftlichen Entwicklung? Auch die Sklavenhalter in den USA wurden bei der Abschaffung der Sklaverei nicht entschädigt – war dies der Wirtschaft insgesamt abträglich? Die Bedeutung der Enteignung war in der westlichen Wirtschaftsgeschichte viel größer als viele Institutionalisten dies gewöhnlich zugeben wollen.33 Ohne wirtschaftliche Entwicklung und das richtige institutionelle Umfeld könnten Eigentumsrechte sogar eine ungünstigere Situation herbeiführen als in vorkapitalistischen Gesellschaften.34 Wie so oft in der Geschichte sind die Zusammenhänge kompliziert, kontextabhängig und eine Frage von Ausmaßen. Die meisten Institutionalisten pflegen eine ziemlich vereinfachte und naive Vorstellung von der Dynamik wirtschaftlicher Entwicklung und namentlich des modernen Wirtschaftswachstums, wenn 30 Engerman/Sokoloff, Economic Development, 348. 31 Rosenthal, »Development of Irrigation in Provence«. 32 Siehe z.B. aus einer linken Perspektive Moore Jr., Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie. 33 Lorenzetti/Barbot/Mocarelli, Property Rights and their Violations, vor allem die Einführung. 34 Reinert, How Rich Countries Got Rich, 220–221.

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sie tatsächlich meinen, klar definierte und geschützte Eigentumsrechte sowie die »richtigen« marktfördernden Institutionen seien alles, was es dazu brauche. Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Trotz der genannten Einwände erklären die meisten (neo-)klassischen und institutionalistischen Ökonomen sowie die von ihnen beeinflussten Autoren den Aufstieg des Westens bis heute wesentlich damit, dass Eigentum in Westeuropa und besonders in Großbritannien während des Take-offs zumindest besser geschützt gewesen sei als irgendwo sonst auf der Welt. Aber war dies überhaupt der Fall? Unternehmen wir wiederum einen Vergleich mit dem Qing-Reich. Die mir bekannte Literatur spricht erwartungsgemäß stark dafür, dass Privateigentum dort durchaus normal war, auch wenn tatsächlich einige gewichtige Unterschiede zur Situation in Westeuropa existierten. Nehmen wir die Besitzrechte auf Land, die wichtigste Form von Eigentum. Gesicherte allgemeine Aussagen darüber fallen schwer. Das Thema ist derart komplex, dass ein Spezialist für chinesische Eigentumsrechte zu dem Ergebnis kam: »Das einzige Kennzeichen des Systems des Landbesitzes vor der Taiping-Ära [also vor 1850], das sich mit Gewissheit feststellen lässt, ist seine Komplexität.«35 Was dazu fraglos beitrug, war die verbreitete Unterscheidung zwischen Eigentums- und Nutzungsrechten für ein- und dasselbe Stück Land. Die darin implizierte Form von Miteigentümerschaft machte Vertreibungen nahezu unmöglich, zumal die Grundeigentümer die oftmals in Geldbeträgen fixierte Pacht aufgrund des starken Drucks von Gesellschaft und Gebräuchen allenfalls unter großen Schwierigkeiten anheben konnten. Solange der Bauer seine feste Pacht zahlte, konnte er ziemlich sicher sein, »sein« Land auch in Zukunft bestellen zu können. Noch komplizierter war die Situation, weil größere Grundstücke von den Eigentümern in der Regel in viele oftmals verstreute Pachtflächen zergliedert wurden, während die winzigen Haushalte einfacher Bauern oft aus mehreren separaten Parzellen bestanden. Es gab gewiss Unterschiede zur Situation in Großbritannien, die jedoch nicht annähernd so groß waren, als dass sie die Great Divergence erklären könnten. Insgesamt scheinen mir persönliche, absolute Eigentumsrechte in China weniger üblich als in Westeuropa gewesen zu sein. Das chinesische Eigentumsrecht war der Tendenz nach restriktiver und kollektiver. Zudem blieb das Konzept des »Verkaufs unter Vorbehalt« wichtig.36 Aber das sind Differenzen, keine fundamentalen Gegensätze. 35 Bernhardt, Rents, Taxes, and Peasant Resistance, 14. Allgemeine Analysen und Beispiele zu den sehr umfassenden Behauptungen in diesem Absatz finden sich in der Literatur, die in der folgenden Anm. aufgeführt ist, in Bernhardts Buch sowie in Huang, Peasant Economy and Social Change in North China; ders., Peasant Family and Rural Development in the Yangzi Delta, insbesondere Kap. 6. 36 Die Auffassung, individuelle Eigentumsrechte und unternehmerische Freiheiten seien im Qing-Reich stärker eingeschränkt gewesen als im damaligen Großbritannien,

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Was Rechtsschutz und Gesetz betrifft, sind sich Experten heute weitgehend einig, dass schriftliche Verträge im frühneuzeitlichen China durchaus üblich waren und keinen grundlegend anderen juristischen Status als in Westeuropa hatten.37 Um beispielsweise den Besitz eines Grundstücks nachzuweisen, brauchte man einen »wirklichen«, das heißt von einem Staatsbeamten besiegelten Vertrag. Erhielt man ein solches Siegel, musste man Grundsteuer zahlen, die als offizieller Beweis des Landbesitzes galt. Dies konnte dazu führen, dass Steuern »freiwillig« gezahlt wurden.38 Häufiger dürfte jedoch das Gegenteil vorgekommen sein: Um der Steuerpflicht zu entgehen, wurde auf offizielle Besitztitel verzichtet.39 Doch neben Eigentumsrechten und Privatverträgen sind auch Steuermanipulation und Korruption zu beachten, die einer tatsächlichen Verletzung von Rechten und Verträgen im Ergebnis recht nahekommen können. In dieser Hinsicht verschlechterte sich die Situation im Qing-Reich ab der zweiten Hälfte der Regierungszeit Kaiser Qianlongs rapide. Korruption wurde zu einem erheblichen Problem und wirkte sich gewiss negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung aus.40 Seit den späten 1970er Jahren erlebt China übrigens trotz mittelmäßiger Institutionen eine Phase enormen Wachstums. Wie auch immer: Das wirkliche Problem eigentumsrechtlicher Erklärungsansätze besteht darin, dass modernes Wirtschaftswachstum auch in Gesellschaften mit Eigentumsrechten viel zu häufig ausgeblieben ist, als dass man in diesen des Rätsels Lösung sehen könnte. Geistige Eigentumsrechte werden in diesem Zusammenhang stets besonders hervorgehoben. Ihr Schutz durch Patente gilt vielen Wissenschaftlern als grundlegende Wachstumsbedingung. Solche Patente begründen einen zeitlich befristeten Monopolanspruch auf die Nutzung einer wirklich neuartigen Idee. Während das Monopol in der vorherrschenden Wirtschaftslehre vertreten bspw. Gates, China’s Motor; Macauley, »A World Made Simple«; Mazumdar, Sugar and Society in China; Schurman, »Traditional Property Concepts in China«; Wakefield, Household Division and Inheritance in Qing and Republican China. Dass in dieser Hinsicht kaum Unterschiede zwischen beiden Ländern bestanden, meint Pomeranz, Great Divergence, 69–107. Buoye, Manslaughter, Markets, and Moral Economy, bietet eine interessante Analyse der gegensätzlichen Sichtweisen auf Eigentum und Besitz im China des 18. Jahrhunderts und weist darauf hin, dass die Perspektive der moralischen Ökonomie zwar weiter vertreten wird, aber im Niedergang ist. Zu nennen ist schließlich Isett, State, Peasant, and Merchant in Qing Manchuria, der vor allem die Eigentumsbeziehungen in der Mandschurei und China analysiert. Zu Grundeigentumsrechten in Großbritannien: Daunton, Progress and Poverty, Kap. 3 und 4. 37 Zur Rolle von Verträgen in der Wirtschaft des frühneuzeitlichen China: Zelin/ Ocko/Gardella, Contract and Property in Early Modern China. 38 Vgl. Osborn, »Property, Taxes and State Protection of Rights«, 120–159. 39 Darauf wies Mark Elvin in einem Vortrag auf der »Great Divergence Conference« hin (London School of Economics and Political Science, 26. 6. 2009). 40 Vgl. Anm. 11, S. 436.

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grundsätzlich natürlich keinen guten Ruf genießt, gilt es in diesem Fall gewissermaßen als notwendiges Übel – andernfalls bestünde für Erfinder schließlich die Gefahr, dass Nachahmer und Konkurrenten die Früchte ihrer Mühe ernten und so den (wirtschaftlichen) Anreiz zu Erfindungen zunichtemachen, da jeder sie sofort und kostenlos kopieren könnte. Doch der potenzielle Vorteil des Patents für den Erfinder – der unter anderem von Aufwand und Kosten seines Erwerbs sowie von der Dauer und den Bedingungen seiner Geltung abhängt – könnte natürlich gerade der Nachteil für die Gesellschaft als Ganze sein: Durch Patente begründete Monopole hemmen die gesamtwirtschaftliche Ausbreitung von Innovationen. North ist sich dessen bewusst, doch kaum hat er das Dilemma formuliert, vertritt er die meines Erachtens vorherrschende Position, indem er einen drastischen Gegensatz aufmacht: »Aber im Vergleich mit einem Zustand, in dem es überhaupt keinen Schutz gibt, steht der Wert irgendwelcher Eigentumsrechte an Erfindungen außer Frage.«41 Die Debatte ist jedoch nicht abgeschlossen. Matt Ridley bewertet Patente sehr zwiespältig: Er meint, dass sie für viele Erfinder unbedeutend gewesen seien, in jedem Fall mehr geschadet als genützt hätten und es keinen klaren Beweis dafür gebe, dass sie der Grund dafür sind, warum zu manchen Zeiten und an bestimmten Orten mehr Innovation stattfindet.42 William Rosen hingegen sieht gerade in Patenten den Hauptgrund dafür, dass das Großbritannien des 18. Jahrhunderts ein so fruchtbarer Boden für Erfinder und Innovatoren war, da diese somit rechtmäßig von ihren Ideen profitieren konnten.43 Joel Mokyr kommt in einem sehr ausgewogenen und sachkundigen Überblick über die Debatte zu dem Schluss, Patente hätten zwar nicht die grundlegende Bedeutung, die Institutionalisten ihnen gerne beimessen, seien aber auch nicht irrelevant gewesen.44

41 North, Theorie des institutionellen Wandels, 167–170, Zit. 170. 42 Ridley, Wenn Ideen Sex haben, Kap. 8: »Die Erfindung der Erfindung: Steigende Erträge nach 1800«. 43 Vgl. Rosen, The Most Powerful Idea in the World, in dem Patente sehr oft angeführt werden. Rosen wertet das Patentrecht als die machtvollste Idee der Welt, da sie, um Abraham Lincoln zu zitieren, »das Öl des Eigeninteresses ins Feuer der geistigen Schöpfungskraft« gegossen habe (324). 44 Joel Mokyr, »Intellectual Property Rights, the Industrial Revolution and the Beginnings of Modern Economic Growth«, http://acadia.law.northwestern.edu/searlecenter/ papers/Mokyr_industrial.pdf.

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Institutionen: Märkte und Varianten des vorindustriellen Kapitalismus

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22. Institutionen: Märkte und Varianten des 1 vorindustriellen Kapitalismus512

Eigentumsrechte werden deshalb als so wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung betrachtet, weil sie als notwendige Voraussetzung für die Entstehung einer Klasse von Unternehmern gelten, ohne die (zumindest kapitalistische) Entwicklung undenkbar wäre. Darin liegt ihre grundlegende Bedeutung. Wozu investieren, wenn man sich nicht wenigstens eines Teils der Erträge sicher sein kann? Unter Wirtschaftshistorikern bestand über viele Jahrzehnte hinweg ein – in der breiten Bevölkerung vermutlich bis heute existierender – Konsens darüber, dass Europa die Wiege des Kapitalismus bzw. wie man heute sagt: der Marktwirtschaft gewesen sei und sich ohne Rekurs auf dieses vermeintlich einzigartig europäische Phänomen keine überzeugende Geschichte des wirtschaftlichen Aufstiegs des Westens erzählen lasse. Anhänger wie Gegner des Kapitalismus waren sich einig, dass er in Europa – und nur dort – zur vollen Entfaltung gelangt sei und sich von dort aus immer größere Teile der Welt einverleibt habe. Vertreter der kalifornischen Schule und andere revisionistische globale Wirtschaftshistoriker bestreiten diese These heute vehement. In ihren Augen ist sie nur ein weiteres Beispiel für ein übertriebenes europäisches Gefühl der Einzigartigkeit. Dieser Einspruch beruht meines Erachtens auf einem gravierenden Missverständnis oder zumindest auf einem einseitigen Verständnis dessen, was sogenannte Eurozentristen unter Kapitalismus verstehen. Das ist insofern verzeihlich, als Kapitalismus, wie alle Schlüsselbegriffe der Sozialwissenschaften, ein viel debattierter, komplexer Begriff ist, der im Lauf der Zeit viele unterschiedliche, sich verschiebende Interpretationen erfahren hat.2 Persönlich verwende ich ihn im klassischen, letztlich Marxschen und Weberschen Sinn eines Wirtschaftssystems, das sich durch folgende Merkmale auszeichnet: erstens Privateigentum, auch und gerade an Kapitalgütern; zweitens Privatunternehmen; drittens die Kommodifizierung, also das »zur Ware werden«, von Gütern und Dienstleistungen 1 Betont sei, dass es hier um vorindustrielle Varianten des Kapitalismus geht und nicht um jene Geschichte des Kapitalismus, die in Hall/Soskice (Hg.), Varieties of Capitalism, erörtert werden. 2 Kocka, Geschichte des Kapitalismus; »Der Kapitalismus und seine Krisen in historischer Perspektive«.

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(Boden, Arbeitskraft, Kapitalgüter und Geld);3 sowie viertens durch einen formal freien, das heißt einvernehmlichen Austausch von Gütern und Dienstleistungen auf formalen oder abstrakten Märkten. Diese Merkmale betrachte ich als Conditio sine qua non dafür, eine Wirtschaft als kapitalistisch zu bezeichnen. Des Weiteren unterscheide ich zwischen vier maßgeblichen Varianten oder Interpretationen des Kapitalismus, die sich mit den Namen Adam Smith, Karl Marx, Max Weber sowie Fernand Braudel und Immanuel Wallerstein verbinden. Diese Unterscheidungen sind weder undurchlässig noch erschöpfend;4 sie sollen lediglich etwas Ordnung schaffen und meine kurze Analyse strukturieren. Die an Smith und die an den Marx des Kapital angelehnte Interpretation setzen insbesondere mit Blick auf Stellenwert und Folgen des Privateigentums an Kapital und Kapitalgütern sehr unterschiedliche Akzente. Anhänger von Smith heben den Austausch auf Märkten hervor und betrachten die Arbeitskraft weniger als eine Ware, die gekauft wird und sich verkaufen muss, sondern primär als etwas, das Akteure auf der Basis einer formal freien und rationalen Entscheidung für den höchstmöglichen Lohn verkaufen. Anhänger von Marx – und Weber – messen dem Privateigentum an Kapital und Kapitalgütern besondere Bedeutung bei, weil es eine Situation herbeiführt, in der Menschen, die nicht mehr über (ausreichende) Produktionsmittel für ihr Auskommen verfügen, faktisch gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und für andere Menschen Lohnarbeit zu verrichten. Anhänger von Smith betonen die Tatsache, dass die Arbeitskraft formal frei, Anhänger von Weber und Marx dagegen, dass sie in Wirklichkeit unfrei ist. In der Marxschen Interpretation des Kapitalismus liegt der Akzent auf Produktionsweisen und -verhältnissen sowie der besonderen Stellung, die die Arbeitskraft als eine sehr eigentümliche Ware in einem System asymmetrischer Produktionsverhältnisse einnimmt. Was immer Kapitalismus für Marxisten sonst noch bedeuten mag, sie verbinden mit ihm vor allem Klassen – Proletarier, die zum Überleben ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, und Kapitalisten, die sie beschäftigen – und Produktionsverhältnisse.5 Wie 3 Als Ware definiere ich hier der Einfachheit halber alles, was für den Austausch produziert wird, also zugleich Gebrauchs- und Tauschwert hat. 4 Anführen ließe sich auch Schumpeters Definition des Kapitalismus als »jene Form privater Eigentumswirtschaft, in der Innovationen mittels geliehenen Geldes durchgeführt werden«. Vgl. Anm. 18, S. 276. Dass dies die kalifornische These eines kapitalistischen Qing-Reichs stützen würde, scheint zweifelhaft: Auch ausgehend von Schumpeters Definition wäre das damalige China kaum als innovativ zu bezeichnen und Kredite spielten dort eine deutlich geringere Rolle für Innovationen als in Nordwesteuropa. 5 Vgl. etwa Robert Brenners Kritik des neosmithianischen Marxismus in »Origins of Capitalist Development« und »Property and Progress«, sowie seine in Anm. 8, S. 361 aufgeführte Publikation. Auf diese Position stützt sich die so genannte Brenner-These. Vgl. Aston/Philpin (Hg.), Brenner Debate.

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Marx formulierte: »[…] kapitalistische Produktions- und Akkumulationsweise, also auch kapitalistisches Privateigentum, bedingen [sic!, PV] die Vernichtung des auf eigner Arbeit beruhenden Privateigentums, das heißt die Expropriation des Arbeiters.«6 »Zur Verwandlung von Geld in Kapital muss der Geldbesitzer also den freien Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfinden, frei in dem Doppelsinn, dass er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, dass er andererseits andere Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.«7 Der von vielen Menschen erlittene Verlust von Produktions-, besser: Subsistenzmitteln, das heißt ihre »Proletarisierung«, ist nur die Kehrseite dessen, dass andere Menschen Kapital für Investitionen akkumulieren. Kapitalismus wie von Marx definiert kann nicht ohne Lohnarbeit existieren. Moderne Marxisten wie Robert Brenner vertreten diese Position, meines Erachtens mit Recht, bis heute: Die »Trennung von den Subsistenzmitteln«, so Brenner, sei »die unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung einer kapitalistischen Dynamik«.8 Die dergestalt Enteigneten »geraten in Abhängigkeit vom Markt«, und müssen sich, »um zu überleben, der Konkurrenz in der Produktion unterwerfen«.9 Dies verleiht allen kapitalistischen Ökonomien eine spezifische Logik und Dynamik, denn so sind alle Produzenten zu permanenter Produktivitätssteigerung oder wenigstens Kostensenkung gezwungen. In Debatten über den Aufstieg des Westens wird häufig auf Webers Reflexionen über den Kapitalismus Bezug genommen, die sich dabei zu einem ganz eigenen, vor allem mental-kulturelle Aspekte betonenden Bild des Kapitalismus verbinden. Webers Kapitalismus wird primär als eine Form von ökonomischer Rationalität dargestellt, und das Postulat eines Zusammenhangs von Calvinismus und Kapitalismus gilt als seine Hauptthese. Der »Geist des Kapitalismus« bildet jedoch nur ein Moment in Webers Gesamtinterpretation, die sich ansonsten fast vollständig mit der Marxschen deckt. Insofern kann die Tendenz, fast ausschließlich die – sicherlich gegebenen – Unterschiede zwischen beiden Theoretikern zu betonen, durchaus irreführend sein. Zur Rolle der »freien Arbeit« und der Bedeutung von Klassen nimmt Weber zum Beispiel exakt dieselbe Position wie Marx ein. So zählt er zu den Voraussetzungen des Kapitalismus unter anderem dies:

6 Marx, MEW, Bd. 23, 802. 7 Ebd., 183. 8 Brenner, »The Low Countries in the Transition to Capitalism«, 278, Anm. 2. Dieselbe Auffassung vertreten u.a. Isett in State, Peasant, and Merchant in Qing Manchuria und Meiksins Wood, Origin of Capitalism. 9 Brenner, »The Low Countries in the Transition to Capitalism«, 278.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

Freie Arbeit, das heißt, dass Personen vorhanden sind, die nicht nur rechtlich in der Lage, sondern auch wirtschaftlich genötigt sind, ihre Arbeitskraft frei auf dem Markt zu verkaufen. Im Widerspruch zum Wesen des Kapitalismus steht es, und seine Entfaltung ist unmöglich [sic! PV], wenn eine solche besitzlose und daher zum Verkauf ihrer Arbeitsleistung genötigte Schicht fehlt, ebenso, wenn nur unfreie Arbeit besteht.10

Unter »frei« versteht er wie Marx: »formal freiwillig, tatsächlich durch die Hungerpeitsche gezwungen«.11 Im Kapitalismus begegnen sich all diese freien ökonomischen Akteure – und hier sind sich Smith, Marx und Weber im Grunde einig – auf einem formalen, abstrakten Markt und treten auf Grundlage formal freier Entscheidungen in Austausch zueinander. Arbeiter verkaufen ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Arbeitgeber beschäftigen sie, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, aber auch um ständige Investitionen zu ermöglichen, mit denen sie der Konkurrenz anderer Kapitalisten standhalten können. Der Motor kapitalistischer Entwicklung besteht somit in ständiger Kapitalakkumulation zwecks dauerhafter Profitabilität. Unter einem kapitalistischen Regiment zwingt die Konkurrenz alle Akteure zu höchstmöglicher Effizienz. Um überprüfen zu können, ob sie sich tatsächlich effizient, in der Sprache der Ökonomen: »rational« verhalten, müssen insbesondere Kapitalisten, im Grunde aber alle Parteien kalkulieren können, und dies impliziert eine Form von Buchhaltung sowie die Monetarisierung sämtlicher wirtschaftlicher Tätigkeiten. Idealerweise impliziert es zudem die Trennung von Haushalt und Unternehmen. Auch darin sind sich Weber und Marx einig. Effektive Kalkulation erfordert Berechenbarkeit, die wiederum rationale, berechenbare Gesetze voraussetzt, ein Gedanke, den Weber sehr stark betont. Angesichts all dieser Voraussetzungen kann eine kapitalistische Wirtschaft nur in einer kapitalistischen Gesellschaft gedeihen. Ihre Logik kann sich nur dann wirklich entfalten, wenn die herrschenden Eliten sie tolerieren oder im Idealfall sogar fördern. Es bedarf somit einer Synergie zwischen der Wirtschaftsordnung (dem Kapitalismus im strikten Sinn) und der politischen Ordnung, die wir hier der Einfachheit halber »Staat« nennen. Die Rolle des Staates und der Macht im Kapitalismus bringt uns zu einer weiteren wichtigen Differenz zwischen den vier Deutungen, in diesem Fall primär zwischen den Anhängern Smiths und denjenigen, die der Argumentations10 Weber, Wirtschaftsgeschichte, Kapitel IV, 1: »Begriff und Voraussetzungen des Kapitalismus«, 240. In seiner berühmten Vorbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie [1920], die in vielen Ausgaben existiert, wird »die rational-kapitalistische (betriebliche) Organisation von (formell) freier Arbeit« [Hvhbg. i. Orig.] und die Existenz »eines bürgerlichen Betriebskapitalismus« ebenfalls stark hervorgehoben. Wie für Marx kann es auch für Weber keinen Kapitalismus ohne Lohnarbeit und Unternehmer geben. 11 Weber, Wirtschaftsgeschichte, 240.

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linie von Braudel und Wallerstein folgen. Smith sieht das Wesen des Kapitalismus im freien Markt, in der Logik der unsichtbaren Hand. Dort herrscht freier und gerechter Wettbewerb, alle Parteien zahlen die gegebenen Preise. Im Kapitalismusverständnis Braudels und Wallersteins spielen sichtbare Hände eine deutlich größere Rolle. Braudel behauptet sogar, dass »der Kapitalismus nur dort triumphiert, wo er mit dem Staat zusammenfällt, wo er zum Staat wird«,12 und definiert ihn als einen »Anti-Markt«. Im »real existierenden Kapitalismus« verbündeten sich Kapitalisten und Herrscher, Profit und Macht tendenziell. Statt einer unsichtbaren gebe es viele sichtbare Hände; Märkte seien zwar wesentlich, aber manipuliert und intransparent, zumal Kapitalisten beständig eine Monopolstellung anstrebten. Vor allem, aber gewiss nicht nur im frühneuzeitlichen Europa, funktionierte der »Kapitalismus« demnach weit eher wie Smiths »Merkantilsystem« als wie die von ihm beschriebene »kommerzialisierte Gesellschaft«.13 Sowohl Anhänger von Smith wie von Braudel und Wallerstein betrachten Märkte und Kapitalismus als Eckpfeiler der europäischen Wirtschaftsentwicklung und beide betonen, dass der Kapitalismus ein ausschließlich europäisches Phänomen gewesen sei. Doch wie diese kurze Darstellung zeigt, definieren sie Kapitalismus verwirrenderweise vollkommen gegensätzlich. Auch traditionelle Marxisten messen sichtbaren Händen meist erhebliche Bedeutung für den sogenannten Monopolkapitalismus bei, doch während sie diesen in der Regel mit dem »Spätkapitalismus« verbinden, sind Monopole und das Bündnis von Macht und Profit aus Sicht von Braudel und Wallerstein von Anfang an für den Kapitalismus wesentlich gewesen. Anders als im klassischen historischen Materialismus bildet der Kapitalismus in ihrem Werk nie eine klar unterschiedene Stufe in einer Abfolge von Produktionsweisen. Eine weitere Differenz besteht darin, dass sie dem Austausch weit mehr Gewicht beimessen, als es dem Geschmack traditioneller, die Produktion in den Mittelpunkt rückenden Marxisten entspricht.14 Nach dem Ansatz von Braudel und Wallerstein bildet der Kapitalismus ein Weltsystem – ein etwas verwirrender Begriff, der besagen soll, dass er mehr als ein Land umfasst und ein Eigenleben und eine Eigenlogik hat –, dessen bislang im Westen liegendes Zentrum hochentwickelt ist, sich auf Produktion und Export von Waren und Dienstleistungen mit hoher Wertschöpfung spezialisiert hat und über gutbezahlte und qualifizierte freie Arbeitskräfte sowie starke Staaten mit repräsentativen Organen oder Partizipationsmöglichkeiten für Eliten verfügt. In der Peri-

12 Braudel, Material Civilization and Capitalism, 64–65. 13 Näher hierzu: Vries, »Europe and the Rest. Braudel on Capitalism«. 14 Vgl. Anm. 5, S. 360.

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pherie besteht die exakt gegenteilige Situation.15 Entscheidend ist ihnen zufolge das Bündnis von Kapitalisten und Staat, und sei es in Gestalt jener »liaisons dangereuses«, von denen Charles Tilly (1929–2008) treffend sprach, in denen sich beide Seiten brauchen, mit Grund aber auch misstrauen, und das politische System (Staat) und das Wirtschaftssystem (Kapitalismus) sich in gewissem Maß überschneiden, ohne je identisch zu sein.16 Der Kapitalismus umfasst demnach per definitionem ein breiteres System von Gemeinwesen. Dies erkannte bereits Weber: Dieser Konkurrenzkampf [zwischen konkurrierenden Nationalstaaten, PV] schuf dem neuzeitlich-abendländischen Kapitalismus die größten Chancen. Der einzelne Staat musste um das freizügige Kapital konkurrieren, das ihm die Bedingungen vorschrieb, unter denen es ihm zur Macht verhelfen wollte. Aus dem notgedrungenen Bündnis des Staates mit dem Kapital ging der nationale Bürgerstand hervor, die Bourgeoisie im modernen Sinn des Wortes. Der geschlossene nationale Staat also ist es, der dem Kapitalismus die Chancen des Fortbestehens gewährleistet: Solange er nicht einem Weltreich Platz macht, wird also auch der Kapitalismus dauern.17

15 Diese Sichtweise von Braudel und Wallerstein wird von neomarxistischen Wissenschaftlern wie Arrighi geteilt. Vgl. etwa Arrighi, The Long Twentieth Century; ders., Adam Smith in Beijing. 16 Tilly, Coercion, Capital and European States, 58–61. 17 Weber, Wirtschaftsgeschichte, 288–289.

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Lohnarbeit und Weltsystem

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23. Lohnarbeit und Weltsystem: Warum das China der Qing nicht als kapitalistisch bezeichnet werden kann und die Ursprünge des Kapitalismus ausschließlich im Westen liegen Wie immer sie den Begriff auch genau interpretiert haben mögen, bis vor Kurzem teilten alle maßgeblichen Teilnehmer an den Debatten über den Aufstieg des Westens die Auffassung, dass der Kapitalismus eine westliche Besonderheit und Großbritannien ein hochentwickeltes kapitalistisches Land gewesen sei. Die These von den »überraschenden Ähnlichkeiten« innerhalb Eurasiens impliziert jedoch, dass der Kapitalismus kein ausschließlich oder auch nur typisch europäisches bzw. westliches Phänomen dargestellt habe. Wissenschaftler wie Pomeranz, Wong, Goody und Frank behaupten dies, wie im Folgenden zu diskutieren ist, in der Tat ausdrücklich. Da sie so mit einer langen und bewährten geschichtswissenschaftlichen Tradition brechen, stellt sich die Frage, was genau diese Behauptung besagt und wie sie begründet wird. Recht haben sie insofern, als manche Differenzen überzeichnet oder gar erfunden wurden. Ausschließlich Ähnlichkeiten hervorzuheben, heißt meines Erachtens jedoch, bedeutsame Unterschiede zu übergehen und somit den entgegengesetzten Irrweg anzutreten. Generell tendiert die revisionistische Literatur über die Great Divergence dazu, sich ausschließlich auf Smiths Kapitalismusverständnis und seine Betonung des Austauschs zu beziehen, um sodann – weitgehend zutreffend – zu behaupten, dass (dieser) Kapitalismus nicht einzigartig oder auch nur genuin europäisch gewesen sei. Berücksichtigt man jedoch auch die Ausführungen von Marx, Weber, Braudel und Wallerstein über den Kapitalismus, ergibt sich ein anderes Bild. Verdeutlichen möchte ich dies an zwei gewichtigen Unterschieden zwischen dem Westen, insbesondere Nordwesteuropa, und der restlichen Welt, die in diesem Kontext meines Erachtens wesentlich sind: erstens anhand der grundlegenden und außergewöhnlichen Rolle der freien Lohnarbeit im westlichen, namentlich britischen Kapitalismus, wie ihn Marx und Weber gefasst haben,1 und zweitens am spezifischen Bündnis von Macht 1 Hier ist natürlich Vorsicht geboten: Die vergleichende globale Forschung über die Bedeutung von Lohnarbeit hat gerade erst begonnen, und Europa gilt in dieser Beziehung vielleicht nur mangels Wissen über außereuropäische Regionen als Sonderfall. Sollte diese Forschung ergeben, dass in anderen Regionen ein ähnlich hoher Grad von Proletarisierung bestand, würde mich dies zwar überraschen – a priori auszuschließen ist dies aber selbstredend nicht. Wie erwähnt, weist heute eine wachsende Zahl von Forschern auf die Verbreitung von Lohnarbeit im spanischen Lateinamerika hin. Ein umfangreiches For-

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

und Profit sowie der Entstehung eines modernen Weltsystems mit Nordwesteuropa als Zentrum, also den für Braudel und Wallerstein zentralen Charakteristika des Kapitalismus.2 Beginnen wir mit einigen Anmerkungen über freie Lohnarbeit und die Tatsache, dass die kalifornische Schule sie im Allgemeinen kurzerhand ausblendet. Jack Goody spricht beständig von Kapitalismus und hat sogar ein Buch mit dem Titel Capitalism and Modernity verfasst, doch in keinem seiner letzten vier Bücher über »den Westen und den Rest der Welt« zeigt sich ein Bewusstsein der grundlegenden Bedeutung, die freie Lohnarbeit für Definitionen des westlichen Kapitalismus besitzt. Genausowenig vergleicht er systematisch Position und Status von Arbeitskräften in unterschiedlichen Teilen der Welt.3 Das Gleiche gilt für Pomeranz: Nirgends in seinem Magnum Opus befasst er sich explizit mit der Lohnarbeit und vergleicht sie systematisch mit anderen Formen von Arbeit, und nirgends werden die Produktionsweisen in Großbritannien und China verglichen. Begriffe wie »Proletariat« und »Proletarier« sucht man im Sachregister seines Buchs vergeblich. Pomeranz bezeichnet die Wirtschaft des Qing-Reichs als kapitalistisch, weil sie über Märkte für Verbrauchsgüter sowie in geringerem Maß für Boden und Geld verfügte und die Arbeitskräfte im juristischen Sinn des Worts überwiegend frei waren. Dies war dort sogar die Regel – stärker als in vielen Teilen Europas. Nirgends geht Pomeranz jedoch der Frage nach, ob es in China auch eine Masse von Arbeitskräften gab, die im zweiten grundlegenden Sinn des Worts »frei«, nämlich ihrer Subsistenzmittel beraubt waren. Er weiß zweifellos, dass dies nicht der Fall war,4 misst dem aber offenbar keine nennenswerte Relevanz für die Great-Divergence-Debatte bei. Aus denselben Gründen wie Pomeranz bezeichnet Wong das China der Qing als eine »kapitalistische« Marktwirtschaft oder – sein bevorzugter Ausdruck – als Ökonomie mit »Smith’scher« Dynamik.5 Parthasarathi behauptet, Indien sei in der frühen Neuzeit im Grunde ebenso kapitalistisch wie Europa gewesen, denn auch dort habe es einen sehr lebhaften, umfangreichen Gütertausch sowie Unternehmer und Kaufleute gegeben, die hochentwickelte Unternehmen führten und sich »rational« verhielten.6 Frank vertritt natürlich erneut eine Extremposition: Nachdem er den Großteil seines Lebens mit Angriffen schungsprojekt über globale Arbeitsverhältnisse führt das Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam durch: http://socialhistory.org/en/projects/history-labour-relations-1500– 2000. 2 Die Forschung über die politische Macht von Handelseliten in unterschiedlichen Teilen der Welt hat eine wesentlich längere Tradition. Vgl. Vries, »Governing Growth«. 3 Vgl. zu diesen vier Büchern Anm. 5, S. 15. 4 Vgl. Anm. 8, S. 367. 5 Wong, China Transformed, Teil I. 6 Vgl. etwa Parthasarathi, Why Europe Grew Rich, 80–85.

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Lohnarbeit und Weltsystem

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auf den westlichen Kapitalismus verbracht hatte, behauptete er in seinen späten Jahren vehement, so etwas wie eine kapitalistische Produktionsweise gebe es gar nicht. Auch er stellt sich dabei nie wirklich die Frage, ob sich der Westen (zu Teilen) und der Osten im Hinblick auf die Kommodifizierung der Arbeitskraft, also proletarische Lohnarbeiter, die für Unternehmer arbeiten, nicht vielleicht substanziell unterschieden.7 Dass das China der Qing im Hinblick auf Verbrauchs- und Kapitalgüter eine Smithsche Ökonomie bzw., wie Smith selbst sagen würde, »kommerzialisierte Gesellschaft« war, soll gar nicht bestritten werden. Am Vorabend der britischen Industrialisierung im 18. Jahrhundert kauften und verkauften die Chinesen Güter in großem Umfang. Das China der Qing war mitnichten eine primitive, kaum monetarisierte Gesellschaft ohne Eigentumsrechte, deren Bevölkerung fast nur aus Subsistenzbauern bestanden hätte. Das ist ein Klischeebild, das zweifellos dekonstruiert werden musste. Doch eine Gesellschaft mit kaum ausgebildeter Kommodifizierung der Arbeitskraft, also weitgehend ohne proletarische Lohnarbeiter – und folglich bürgerliche Unternehmer –, als »kapitalistisch« zu bezeichnen, überdehnt den Begriff eindeutig. Mir ist keine Publikation über die chinesische Wirtschaftsgeschichte der frühen Neuzeit bekannt, die den damaligen Anteil der reinen Lohnarbeiter an der Arbeitsbevölkerung mit mehr als 5 Prozent veranschlagen würde. Erst kürzlich bemerkte Pomeranz selbst, sogar im hochkommerzialisierten Jangtsedelta hätten höchstens 15 Prozent der ländlichen Bevölkerung primär von Lohnarbeit gelebt.8 Ganz ähnlich war die Situation übrigens in Japan. Dort machten Lohnarbeiter noch 1879 gerade einmal 5 Prozent der Arbeitsbevölkerung aus.9 In dieser Hinsicht ist der Unterschied zwischen Großbritannien und China geradezu atemberaubend. Während es im China der Qing kaum Proletarier gab, waren sie im ländlichen Großbritannien bereits früh zur Norm geworden. Die dortige Proletarisierung war gewaltig. 1851 stellten Lohnarbeiter 73 Prozent der ländlichen Arbeitsbevölkerung in England. Laut Gregory King verfügten bereits 1688 zwei Drittel der Landbevölkerung über kein Land.10 Auch in den Städten war Lohnarbeit verbreitet. Zwischen Kindheit und Ehe außerhalb des eigenen Haushalts zu arbeiten, war nicht ungewöhnlich, ja beinahe die Regel. Von 1574 bis 1821 bestand die Bevölkerung der englischen Gemeinden zu 13,4 Prozent aus Hausangestellten und Lehrlingen.11 All dies 7 Frank, ReOrient, 332. Vgl. dort auch die Stichworte »capitalism« und »mode of production«, z.B. 330–332. 8 Pomeranz in »Ten Years after«, 23. 9 De Vries, »Industrious Peasants in East and West«, 112. 10 Overton, Agricultural Revolution in England, 178; Lindert/Williamson, »Revising England’s Social Tables«. 11 De Moor/Van Zanden, »Girl Power«, vor allem 11–16.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

war sehr ungewöhnlich in Qing-China, in Westeuropa hingegen ganz normal.12 Dieser grundlegende Unterschied zwischen einerseits China, Indien, Japan und andererseits Großbritannien, aber auch einigen anderen Regionen Westeuropas, kann selbst dann nicht kurzerhand übergangen werden, wenn er bis zur Industrialisierung keine großen Reichtumsunterschiede bewirkt haben oder sich letztlich als kaum erheblich für die Great Divergence erweisen sollte. Den Kapitalismus zu untersuchen, nicht aber Kapital und Arbeit, also Lohnarbeit, ist eigenartig – gleichsam so, als striche man aus Hamlet den Prinz von Dänemark. Ohne Analyse der Produktionsweisen ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Wirtschaften unmöglich. China hatte gewiss viele Märkte, aber eine kapitalistische Organisation des Produktionsprozesses kannte es nicht. Seine vorherrschende Produktionseinheit war der Haushalt, der nach einer durchaus anderen Logik funktionierte als ein Unternehmen, und zusammen bildeten diese Haushalte eine durchaus andere Wirtschaft. Der Kapitalismus, wie Marx und Weber ihn definierten – als ein Wirtschaftssystem, in dem Lohnarbeit die Norm darstellt –, ist eine europäische Erfindung: Nirgends auf der Welt war er im 18. Jahrhundert – nach heutigen Kenntnissen – so hochentwickelt wie in Großbritannien. Die Tatsache, dass Haushalt und Unternehmen in China gewöhnlich nicht getrennt waren, diese Trennung nach Marx und Weber aber eine Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise bildet, ist ein weiterer Grund dafür, die Wirtschaft des Qing-Reichs nicht als eine kapitalistische zu bezeichnen, wie die vergleichsweise geringe Rolle von Buchhaltung und Monetarisierung sowie schließlich der Umstand zeigen, dass die Berechenbarkeit und »Rationalität« seines Rechtssystems – laut Weber eine notwendige Bedingung für das effiziente Funktionieren des Kapitalismus – in jeder Hinsicht geringer waren als die des britischen. In dieser letzten Hinsicht sollte man allerdings nicht übertreiben: Wie Weber selbst bemerkt, machte Großbritannien nie das Römische Recht zur Grundlage seines Rechtswesens. Das britische common law war ein System des Fallrechts, das auf der Grundlage von Präzedenzfällen funktionierte. Bewusstes Handeln und Interpretation durch Gesetzgeber und Richter – Elemente, die Weber zufolge in einem vollentwickelten, rational-bürokratischen Rechtssystem soweit als möglich auszuschalten sind – blieben somit sehr wichtig.13

12 Etwa um 1750 war mehr als die Hälfte der Bevölkerung Europas (ausgenommen Russland) mehr oder weniger proletarisiert. Tilly, »Demographic origins«, 30–34. Ich bin davon überzeugt, das dies mehr ist als irgendwo anders in der Welt. 13 Dies legt wenigstens das Werk Webers insgesamt nahe – dem allerdings auch ein ambivalenter Blick auf die Rolle formeller staatlicher Gesetze in der Entwicklung des Kapitalismus bescheinigt worden ist. Vgl. etwa Cotterell, »The Development of Capitalism

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Lohnarbeit und Weltsystem

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Natürlich bestanden zwischen China und Großbritannien keine absoluten Differenzen, sehr wohl aber (erhebliche) Unterschiede in den Größenordnungen. Marx und Weber jedenfalls hätten die kalifornische These eines kapitalistischen Qing-Reichs sicherlich zurückgewiesen. Ob ein System wie in Großbritannien auf Lohnarbeit oder wie in China auf einer Produktionsweise von Haushalten basiert, muss meines Erachtens gewaltige Konsequenzen haben – nicht unbedingt was Armut und Reichtum betrifft, gewiss aber für die Richtung, in die sich eine Wirtschaft entwickeln oder eben nicht entwickeln kann und wird.14 Erstaunlich ist nicht nur die große Zahl von Proletariern und kapitalistischen Unternehmern in Großbritannien, sondern mehr noch, dass die Unternehmer der herrschenden Klasse des Landes angehörten. In keinem anderen wichtigen Land der Welt verfügten Kapitalisten über eine solche politische Machtposition wie in Großbritannien.15 Ihr Einfluss auf die Regierung nahm mit der Glorreichen Revolution von 1688 eindeutig zu, was deren großen Stellenwert in vielen Analysen der sozioökonomischen Geschichte Großbritanniens teilweise erklärt. Auch hier muss man sich jedoch vor Übertreibungen hüten: Bis 1832 bestand das Parlament mit deutlicher Mehrheit aus vermögenden Grundeigentümern, die sich zwar häufig wie Kapitalisten verhielten, aber nicht jene prototypischen Händler-Unternehmer waren, die einer verbreiteten Vorstellung zufolge nun das Land zu regieren begannen. Dennoch: Die hier und an anderen Stellen des Buches aufgezählten gewichtigen Differenzen zwischen der britischen und der chinesischen Produktionsweise müssen einfach einen Unterschied gemacht haben – und tatsächlich war dies auch der Fall. Auch Braudel und Wallerstein würden der These eines kapitalistischen Qing-Reichs angesichts ihres Kapitalismusbegriffs sicherlich nicht zustimmen. Ich habe zwei seiner Hauptmerkmale angeführt. Erstens das Bündnis von Macht und Profit. Händler besaßen laut Braudel und Wallerstein in den kapitalistischen Ländern der frühen Neuzeit beträchtlichen politischen Einfluss. Sie wurden in unterschiedlichster Weise von der Regierung unterstützt – beispielsweise durch Monopole –, die sie aber auch ihrerseits, vor allem finanziell, unterstützten. Derartiges lässt sich für China oder irgendeinen anderen wichtigen und wirtschaftlich fortgeschrittenen Staat außerhalb Europas nicht feststellen. Akteure, die sich wie Kapitalisten verhielten, and the Formation of Contract Law«. Zum britischen Recht: Macfarlane, Invention of the Modern World, Kap. 9–11. 14 Vries, Zur politischen Ökonomie des Tees, 97–111; ders., »Un monde de ressemblances surprenantes?«. 15 Einen einführenden Vergleich bietet Pearson, »Merchants and States«. Diese These einer grundlegenden Bedeutung bürgerlicher Herrschaft wird interessanterweise von marxistisch geprägten Wissenschaftlern wie Arrighi, Braudel, Brenner und Wallerstein ebenso vertreten wie von Institutionenökonomen wie North und Acemoglu.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

gewannen dort nie auch nur annähernd den politischen Einfluss, den sie in Großbritannien und anderen merkantilen Staaten Westeuropas ausübten; ein institutionalisiertes Bündnis zwischen ihnen und dem Staat gab es nicht. Vielmehr widersetzte sich der Staat dort gewöhnlich vehement der Herausbildung einer Klasse von Händlern, die seine Macht bedrohen könnten. Eine gute und bündige Illustration dafür bietet der Vergleich der Händler der britischen East India Company (EIC) mit den chinesischen Co-HongHändlern, ihren Geschäftspartnern in Kanton. Die EIC hatte eine Charta, die ihr in der alltäglichen Praxis ein eigenständiges Handeln ermöglichte; sie bildete eine formelle Organisation und konnte über Fremdkapital verfügen. Das Verhältnis zwischen dem Staat und den Händlern der Kompagnie war kein antagonistisches: Oft hatten sie gemeinsame Interessen und handelten auch gemeinsam. In China waren die Kaufleute, selbst wenn sie offiziell ein Monopol innehatten, in der Zusammenarbeit mit dem Staat stets Juniorpartner. Das gilt für die berühmten Salzhändler, ebenso aber für die HongHändler, die für den Handel mit Ausländern in Kanton zuständig waren. Im Vergleich zu den westlichen Handelsgesellschaften bildete ihr die Co-Hong nur einen schwach integrierten Verband. Sie hatten keine Charta, waren vom Staat abhängig und konnten nicht wie eine Aktiengesellschaft Fremdkapital anziehen. Auch gelang es ihnen nie wirklich, die Preise zu bestimmen oder den Zugang zum Nachschub vollständig zu kontrollieren. Ihre Versuche, einen solchen Monopolstatus zu erwerben, wurden von der Regierung in Peking und deren Vertretern in Kanton immer wieder unterdrückt. Man befürchtete, zu hohe Preise könnten die Ausländer abschrecken und so die Einkünfte der Regierung schmälern. Es war den Hong-Kaufleuten auch nicht erlaubt, kollektiv zu verhandeln und sich auf einen gemeinsamen Preis oder eine gemeinsame Strategie zu einigen; sie sollten immer separat mit Ausländern verhandeln. Von den Hoppos, den kaiserlichen Zoll-Superintendenten, wurden sie permanent kontrolliert und erpresst. Um ihre Macht weiter einzuschränken, gestand die Regierung ferner immer auch Außenseitern einen gewissen Anteil am Handel der Produkte zu, die unter das »Monopol« der Co-Hong fielen, in der Regel rund 30 Prozent. Das galt auch für Tee. Der Handel mit bestimmten Produkten wurde sogar vollständig liberalisiert.16 Auch wenn Paul van Dyke in einer neueren Studie das Bild einer permanenten und wirksamen staatlichen Kontrolle der Kaufleute, die in Kanton und Macao mit den Europäern Handel trieben, deutlich relativiert hat, bleiben die Unterschiede zwischen der Stellung chinesischer und briti16 Vries, Zur politischen Ökonomie des Tees, 78–91; Balazs, »China as Permanently Bureaucratic Society«; ders., »Birth of Capitalism in China«; Mann, »Liturgical Governance and the Merchant Class«.

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scher Händler in puncto Rechtsprinzipien und Autonomie durchaus bemerkenswert.17 Braudel führt China ausdrücklich als Beleg für seine These an, dass ein kapitalistischer Überbau nicht einfach der logische Fortsatz einer vitalen Marktwirtschaft sei. Ihm zufolge verfügte das frühneuzeitliche China zwar über eine gefestigte Marktwirtschaft, nicht aber über jene oberste Ebene des Wirtschaftslebens, die er als Kapitalismus bezeichnet.18 So schreibt er: »Die Kluft zwischen dem Westen und den übrigen Weltteilen hat sich erst spät aufgetan, wobei die noch immer bei vielen Zeitgenossen beobachtbare Tendenz, sie ausschließlich auf die ›Rationalisierung‹ der Marktwirtschaft zurückzuführen, offensichtlich eine unzulässige Vereinfachung darstellt.«19 Deutlich heißt es, in China habe sich »dem Kapitalismus der Staat in den Weg« gestellt und die »kaiserliche Verwaltung die Herausbildung hierarchischer Wirtschaftsstrukturen« unterbunden.20 Wallerstein, von Braudel stark beeinflusst, vertritt ähnliche Auffassungen: Ein Kapitalismus und all das, was mit ihm einhergeht, habe sich in China vor allem deshalb nicht entwickelt, weil es ein eigenständiges Reich gewesen sei, dessen Kaiser nicht im selben Maß wie die Herrschenden in Nordwesteuropa zu einer Zusammenarbeit mit Händlern genötigt war, so wie dort auch kein Drang oder Erfordernis zur Ausbeutung peripherer Regionen bestanden habe.21 Das zweite Hauptcharakteristikum des Kapitalismus besteht nach Braudel und Wallerstein darin, dass er ein supranationales Wirtschaftssystem mit Zentrum und Peripherie hervorbringt. Weder das China der Qing noch irgendein anderer hochentwickelter Staat außerhalb des Westens verwandelte sich wie Großbritannien und mehrere andere westliche Länder in das Zentrum eines Wirtschaftssystems; es entwickelte nie eine spezifische Arbeitsteilung mit peripheren Regionen inner- oder außerhalb seiner Grenzen. So wenig sich zwischen dem chinesischen Kerngebiet und anderen Regionen eine klare hierarchische Arbeitsteilung in der Produktion und dem Handel von Gütern herausbildete, kam es zu einer Spezialisierung, die zu unterschiedlichen Produktionsweisen in den Regionen je nach ihrer »Rolle« oder »Funktion« innerhalb einer Art von wirtschaftlichem »System« geführt hätte. Manche Regionen waren selbstverständlich wichtiger als andere, aber solche Unterschiede und ihre Auswirkungen waren ungleich geringer als im Fall Großbritanniens und seiner Peripherien. Das gilt bemerkenswerterweise

17 Van Dyke, Merchants of Canton and Macao. 18 Braudel, Sozialgeschichte, Bd. 2, 653–654. 19 Ebd., 138. 20 Ebd., 651, 142. 21 Vgl. Wallerstein, Das moderne Weltsystem, Bd. 1, Stichworte »China« und »Imperium«.

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auch in politischer Hinsicht: China mag sich als das von Tributstaaten umgebene Zentrum seiner Welt gesehen haben, doch es versuchte nicht einmal, diese Staaten wirklich zu beherrschen oder als Auffangbecken für seine Überschussbevölkerung zu nutzen. Pomeranz erwähnt diesen Unterschied zwischen China und westlich-kapitalistischen Ländern, erörtert ihn aber nicht weiter, obwohl er nicht-einvernehmlichem Außenhandel grundsätzlich erhebliche Bedeutung beimisst. Chinas politische Ökonomie war grundverschieden von der Großbritanniens, eines fiskal-militärischen, genauer: von Merkantilismus und Marine geprägten Staates, der ein Empire aufbaute. Eine knappe, aber sehr aufschlussreiche Beschreibung und Analyse der Hauptunterschiede zwischen der politischen Ökonomie westeuropäischer »kapitalistischer Staaten« und Chinas bietet Giovanni Arrighi (1937–2009) in Adam Smith in Beijing, und zwar sowohl mit Blick auf das Inland wie auf internationale Beziehungen.22 Dabei relativiert er die traditionelle Ansicht, Staaten und ein internationales Staatensystem seien etwas genuin Europäisches gewesen. Ihm zufolge bildete auch China in der frühen Neuzeit das Zentrum eines Staatensystems, das mit dem europäischen genügend Ähnlichkeit gehabt habe, um analytisch lohnend vergleichen zu können. Es bestanden jedoch auch gravierende Unterschiede. Die Dynamik des europäischen Systems war gekennzeichnet durch ständige Konkurrenz zwischen seinen nationalen Bestandteilen und eine Tendenz zur geografischen Expansion des Systems insgesamt sowie seiner wechselnden Zentren. Entscheidend dabei ist, dass ostasiatische Staaten keine Tendenz zum Aufbau überseeischer Imperien und einem Wettrüsten in der Größenordnung wie in Europa zeigten. Zumindest bis zu den 1760er Jahren zielte die Expansion der Qing darauf, schwer zu verteidigende Grenzen in eine befriedete Peripherie und Pufferzone gegen zentralasiatische Plünderer und Eroberer zu verwandeln. Im Westen herrschte dagegen ein ständiger und prinzipiell grenzenloser Expansionismus. Cecil Rhodes’ berühmter Satz: »Wenn ich könnte, würde ich die Planeten annektieren«, fand in China keine Entsprechung. China bildete das unangefochtene Zentrum eines ostasiatischen Staatensystems, doch seine Tributstaaten waren weder Kolonien noch die Peripherie eines chinesischen Zentrums. In Westeuropa bestand demgegenüber eher ein Kräftegleichgewicht mit mehreren Anwärtern auf die Vorherrschaft. Dass dieser Machtkampf nach außen gewendet wurde, so Arrighis – meines Erachtens korrekte – These, sei eine starke Determinante jener eigentümlichen Verbindung von Kapitalismus, Militarismus und territorialer Expansion gewesen, die die Globalisierung des europäischen Systems vorantrieb. Westeuropa hatte ein deutlich stärkeres Interesse am Fernhandel, 22 Arrighi, Smith in Beijing, Kap. 11: »Staaten, Märkte und Kapitalismus in Ost und West«, 385–434.

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der für den Kontinent generell mehr Bedeutung besaß als für den Osten. Im ostasiatischen System zeigte sich eine entgegengesetzte Dynamik, was angesichts der erfolgreichen Entwicklung Asiens als der damals größten Marktwirtschaft verständlich ist. Für China war die Kontrolle von Handelsrouten nicht annähernd so wichtig wie friedliche Beziehungen zu seinen Nachbarstaaten. Der Außenhandel wurde oftmals eher gebremst als gefördert. Wie bereits Smith bemerkte, hätte er durchaus umfangreicher sein können: Die große Ausdehnung des Chinesischen Reiches aber, die riesigen Einwohnerzahlen, die klimatische Vielfalt und infolgedessen die Vielfalt der Produktionen in den einzelnen Provinzen sowie die guten Verbindungen zwischen der Mehrzahl derselben durch Wasserstraßen machen den Binnenmarkt dieses Landes so groß, dass er allein ausreicht, um sehr bedeutende gewerbliche Produktionen in Gang zu halten und sehr erhebliche Unterteilungen der Arbeit zu gestatten. An Ausdehnung steht Chinas Binnenmarkt dem Markt aller Länder Europas zusammengenommen vielleicht nicht viel nach. Ein ausgedehnterer Außenhandel jedoch, der diesem großem Binnenmarkt noch den auswärtigen Markt der ganzen übrigen Welt hinzufügte, könnte, insbesondere wenn ein beträchtlicher Teil dieses Handels mit chinesischen Schiffen abgewickelt würde, kaum umhin, Chinas Fertigwarenerzeugnisse sehr stark zu vergrößern und die Produktivität der gewerblichen Produktion sehr zu steigern. Durch ausgedehntere Schifffahrt würden die Chinesen natürlich lernen, all die verschiedenen, in anderen Ländern eingesetzten Maschinen zu gebrauchen und selbst zu bauen und die sonstigen Verbesserungen in Gewerbe und Industrie zu übernehmen, die in den verschiedenen Teilen der Welt zur Anwendung kommen.23

Die europäische Dynamik brachte eine Reihe immer mächtigerer Staaten hervor, die sich mit dem Kapital und den Kapitalisten identifizierten. Dazu gab es in Ostasien keine Parallele. Sie führte außerdem zu einer militärischen Überlegenheit, die der Schlüssel zur Unterwerfung Asiens werden sollte. Bei allen Differenzen je nach Land und Zeitpunkt bildeten Ausbeutung und das Streben nach Peripherien im Sinne Wallersteins durchgängig ein wichtiges Element dieser überseeischen Expansion Europas.24 In der Regel versuchten die Europäer von Ausbeutung und ungleichem Tausch bestimmte Beziehungen durchzusetzen, durch die die Ökonomien ihrer überseeischen Besitzungen – wenn nötig durch rohe Gewalt – so beeinflusst und transformiert wurden, dass sie den Interessen der Zentren, die sie sich einverleibt hatten, dienten. Sie waren stets um die Herstellung einer Arbeitsteilung bemüht, in der sich das Zentrum auf die Produktion von Gütern mit hoher Wertschöpfung spezialisierte und die peripheren Regionen oftmals gezwungen wurden, sich auf die arbeitsintensive Produktion von Rohstoffen und Grundgütern mit geringer Wertschöpfung und niedrigen Einkommen 23 Smith, Reichtum der Völker, 666. 24 Die bis heute beste Einführung in Wallersteins Verständnis der Zentrum-Peripherie-Beziehungen, die der kapitalistischen Westen geschaffen habe, ist seine Studie Das moderne Weltsystem, Bd. 1. Sie können ihm zufolge auch jenseits formeller, »imperialistischer« Beziehungen wie zwischen Kolonie und Mutterland existieren.

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der dort beschäftigten unfreien Arbeiter zu spezialisieren. Um diese Arbeitsteilung aufrechtzuerhalten und die Profite in ihre Richtung zu lenken, setzten die Staaten des europäischen Zentrums ihre militärische und wirtschaftliche Macht ein. Ein sehr gutes Beispiel dafür – nur eines von vielen – sind die britischen Besitzungen in der Karibik. Ihre gesamte Produktionsweise wurde verändert und auf die britische Wirtschaft ausgerichtet: Die Arbeitskräfte (Sklaven) wurden von den Briten eingeführt, ihre Produkte, vor allem Zucker, und ein Großteil der Gewinne aus ihrer Herstellung nach Großbritannien exportiert, während Güter, die man vor Ort nicht produzierte, überwiegend aus oder via Großbritannien importiert wurden. Ein Gutteil der fiktiven Nutzflächen, die ihm zugutekamen und die laut Pomeranz so wichtig für seine Industrialisierung waren, hätte es ohne das Bündnis zwischen britischen Kapitalisten und britischem Staat nicht gegeben. Ganz anders stellte sich die Beziehung zwischen dem chinesischen Kerngebiet, der Mandschurei – die als Heimat der herrschenden Mandschu einen Sonderstatus besaß – und einigen neu erworbenen Gebieten dar.25 Sie war eindeutig keine Zentrum-Peripherie-Beziehung im Sinne Wallersteins und anderer Theoretiker des modernen Weltsystems. Neue Gebiete wie Taiwan, die Mongolei, Tibet oder Xinjiang wurden in keiner Weise gezwungen, ihre Wirtschaften in den Dienst Chinas zu stellen. Die neue Beziehung zum China der Qing löste keine fundamentalen Veränderungen ihrer Produktionsweise aus, und ihre Herren in China drängten auch nicht darauf.26 Migranten und zeitweilige Gäste, die es an die Grenzen des Kerngebiets zog, kopierten dort das China, aus dem sie kamen: Die Produktionsweisen sowie das Handels-, Transport- und Finanzwesen des Kerngebiets wurden, teilweise mit geringfügigen Anpassungen, reproduziert. Weder in den neu eroberten Gebieten noch in der inneren Peripherie – oder auch im Kerngebiet selbst – entstanden Plantagen zum Anbau von Zucker, Tee, Tabak, Seide oder Baumwolle.27 Möglichkeiten, von den neuen Gebieten zu profitieren, blieben häufig ungenutzt. Die Regierung widersetzte sich oft der Ansiedlung von Han-Chinesen in den peripheren Gebieten und der Binnen- wie Außenhandel der neuen Territorien wurde von ihr nicht gefördert. Wiederholt behinderte oder verbot sie gar den Abbau von Edelmetallen und Mineralien in Xinjiang sowie unterschiedliche Projekte, die zur Entwicklung der Region

25 Zur Situation in der Mandschurei: Reardon-Anderson, China’s Expansion Northward, und Isset, State, Peasant and Merchant. 26 Vgl. auch Wongs interessanten Bemerkungen zum »fraktalen« Charakter der chinesischen Gesellschaftsstruktur in China Transformed, 121–122. 27 Für Zucker konstatiert dies Mazumdar, Sugar and Society in China, für Tee Gardella, Harvesting Mountains, z.B. Kap. 2 und 4. Vgl. auch Vries, Zur politischen Ökonomie des Tees, 97–114.

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hätten beitragen können.28 Tibet war, zumindest im Westen, für seinen Reichtum an Mineralien bekannt. Das erklärt das westliche, genauer: britische Interesse an der Region. Der Qing-Staat verzichtete auf ihren Abbau und bot auch keine Förderung dafür an.29 Während des 18. Jahrhunderts versuchte er nicht nur, die Migration nach Taiwan strikt zu regulieren, sondern schränkte häufig auch dessen Handel ein.30 Was in der Mandschurei passierte, genauer: nicht passierte, ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich und soll hier als Beispiel dienen. Sie wurde nun etwas dichter besiedelt; die Frontier verschob sich nach Norden, und die Region wurde zu einer relativ entwickelten Provinz. Laut Yong Xue, Spezialist für chinesische Geschichte an der Suffolk University in Boston, hätte sie dem chinesischen Kerngebiet im langen 18. Jahrhundert jedoch immense fiktive Nutzflächen verschaffen und Kohle liefern können: »Das riesige mandschurische Neuland war ein unverhofftes Geschenk, ein geografischer Glücksfall für Jiangnan.«31 Die Region bot außerordentliche Naturreichtümer; der Umfang ihres Ackerlandes war gewaltig. Bis Russland in den 1850er Jahren einen Teil übernahm, umfasste die von den Qing beherrschte Mandschurei rund 1,2 Millionen Quadratkilometer – etwa doppelt so viel wie das damalige Frankreich. Während viele Wälder im chinesischen Kerngebiet Ende des 18. Jahrhunderts abgeholzt waren, blieb das mandschurische Land in scheinbar endlose Waldgebiete gehüllt. Pelztiere, Fisch und Austern gab es dort reichlich, und das Erdreich barg Gold und, wie man im späten 19. Jahrhundert entdeckte, Kupfer, Blei und Zinn. Außerdem war die Mandschurei für ihr Ginseng berühmt.32 Der springende Punkt ist jedoch, dass die Qing-Elite an all dem kein Interesse zeigte. Es wäre natürlich falsch zu behaupten, dass überhaupt nichts passierte. Das mandschurische Neuland versorgte das chinesische Kerngebiet mit Sojabohnen. Dies wäre jedoch in deutlich größerem Umfang und viel früher möglich gewesen. Nur zu deutlich wurde dies nach der Öffnung der Mandschurei, als sie sich zum größten Sojaproduzenten der Welt entwickelte.33 Auch hätte sie der Hauptstadt viel Getreide liefern können: Sie verfügte über hervorragenden Boden und ausreichend Wasser für Landwirtschaft; Ge28 Vgl. etwa Dabringhaus, Qing-Imperium, 77, 79; Fletcher, »Ch’ing Inner Asia c. 1800«, 66. 29 Vgl. etwa Dabringhaus, Qing-Imperium, 111–112; Teltscher, High Road to China. 30 Chang, »Chinese Migration to Taiwan«, 112. 31 Xue, »A ›Fertiliser Revolution‹?«, 219. 32 Reardon-Anderson, Reluctant Pioneers, 9, 103–104. 33 Xue, »A ›Fertiliser Revolution‹?«, 196–197, 218–219. Es ist bemerkenswert, dass die Qing-Regierung die – zum Schutz der mandschurischen Verbraucher eingeführten – Beschränkungen des Exports mandschurischer Sojabohnen und Bohnenkuchen auf dem Seeweg erst 1772 vollständig aufhob. Vgl. ebd., 202, 209.

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treide kostete dort nur halb so viel wie im chinesischen Kerngebiet. Das war damals durchaus bekannt, und es wurden auch Vorschläge gemacht, wie man das Potenzial der Region nutzen könne. Ein kaiserlicher Zensor namens He Qizhong tat dies beispielsweise bereits Mitte des 18. Jahrhunderts. Xue schreibt: Hätte die Qing-Regierung eine Reihe von landwirtschaftlichen Projekten in der Mandschurei koordiniert, anstatt die Einwanderung in die Region zu unterbinden, und wären die kommerziellen Institutionen Chinas effektiv genug gewesen, um jene umfangreichen Kapitalmengen dorthin zu lenken, die für die Entwicklung der Grenzgebiete und den Aufbau großer Plantagen wie im britischen Nordamerika erforderlich gewesen wären, dann hätte die Mandschurei beträchtliche Mengen Getreide nach Peking liefern können.34

Im 19. Jahrhundert erforderte Industrialisierung unweigerlich Kohle. Auch diese Ressource hätte die Mandschurei dem chinesischen Kerngebiet liefern können. 1745 berichtete der eben erwähnte Zensor von gewaltigen Kohlevorkommen in Fengtian (dem heutigen Liaoning), die recht an nah an Seehäfen gelegen waren. Er drängte darauf, dieses Geschenk der Natur auszubeuten, um dem Brennholzmangel in der Region abzuhelfen.35 Nichts dergleichen geschah. So kann man mit Sue nur zu dem Schluss kommen, dass die von der Mandschurei eröffneten Gelegenheiten verspielt wurden. Dafür lassen sich nach Sue unterschiedliche Gründe anführen, etwa Spannungen zwischen Han-Chinesen und Mandschu oder institutionelle Mängel des Ming- und des Qing-Staats. Doch was immer die genauen Gründe waren, festzustellen ist, dass die Regierung nicht willens war, jene Gelegenheiten zu ergreifen oder dies Privatunternehmern zu ermöglichen. Im Kapitalismus, wie ihn Braudel, Wallerstein und Arrighi verstehen, spielt der Staat eine bedeutsame, aktive Rolle. Glaubt man Pomeranz, dann waren Kohle und Kolonien die zwei Hauptgründe dafür, dass Großbritannien sich industrialisieren und China hinter sich lassen konnte. Die Ausbeutung beider wurde vom britischen Staat maßgeblich erleichtert und gefördert.36 Meine These lautet, dass auch China in gewisser Weise über Kohle und Kolonien verfügte, seine Regierung jedoch ein ernsthaftes Hindernis für ihre optimale Ausnutzung war. Anstatt ein Bündnis mit »kapitalistischen Unternehmern« einzugehen oder sie zu fördern, zügelte die chinesische Regierung sie gewöhnlich oder misstraute ihnen wenigstens. Was Kohle betrifft, so unterbanden die Qing-Herrscher oftmals die Gründung 34 Ebd., 220. 35 Ebd., 219. 36 Für Kolonien liegt dies natürlich auf der Hand. Wie die britische Regierung auch den Kohlebergbau – und die Eisenindustrie – förderte, zeigt bspw. Parthasarathi, Why Europe Grew Rich, 162–170.

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von Bergwerken oder wollten bereits bestehende wieder schließen.37 Staatliche Initiativen zur Eröffnung oder Modernisierung von Bergwerken blieben aus. Was die Ausbeutung neu einverleibter Gebiete oder der Mandschurei betrifft, kann man nur zu dem Ergebnis gelangen, dass viele Gelegenheiten ungenutzt blieben, ja nicht einmal in Betracht gezogen wurden. Versuche zu einer Kolonialpolitik, wie Europa sie betrieb, gab es nicht. Im Außenhandel tätige chinesische Kaufleute erhielten keine Unterstützung. Wong meint, der chinesische Staat habe in seine Peripherien eher investiert als ihre Ressourcen ausgebeutet.38 Obwohl entschiedener Revisionist, scheint letztlich auch er das klassische Bild einer statischen, konservativen Mandschu-Herrschaft zu teilen: »Der chinesische Staat zielte auf statische Effizienz und erreichte dies auch in gewissen Maß: Die besten verfügbaren Techniken sollten in einem riesigen Gebiet Verbreitung finden. In einer Welt begrenzter Möglichkeiten war dies ein sinnvolles Ziel.«39 Das kommt dem, was die von ihm gewöhnlich attackierten Eurozentristen schon immer behauptet haben, erstaunlich nahe!

37 Beispiele dafür im chinesischen Kerngebiet finden sich in Dixin/Chengming (Hg.), Chinese Capitalism, Stichworte »copper«, »copper mines«, »coal«, »coal mining«, silver« und »gold extraction«, sowie in Bd. 9 und 10 der Cambridge History of China, Stichworte »mining« und »mines«. 38 Wong, China Transformed, 148. 39 Ebd., 280.

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24. Märkte: Größen und Eigenschaften

Mit Ausnahme Braudels, der Chinas Marktwirtschaft ausdrücklich hervorhebt, teilen alle eben erwähnten Wissenschaftler unabhängig von ihrem jeweiligen (westlichen) Kapitalismusverständnis die Überzeugung, nirgends auf der Welt sei der Markt wichtiger und beherrschender geworden als in den westlichen Ökonomien. In all ihren Interpretationen spielt Kommodifizierung eine zentrale Rolle. Viele Forscher setzen den Aufstieg des Westens mit der Durchsetzung des Marktes gleich. Demnach müssen sie annehmen, in der übrigen Welt sei der Markt a) weniger wichtig gewesen, habe b) schlechter funktioniert oder sei c) nicht so stark gewachsen, oder sie kombinieren diese Annahmen. Trifft dies zu? Verfügten Großbritannien und Westeuropa über ausgedehntere und effizientere Märkte als die übrige Welt? Beginnen wir unsere kurze Erörterung mit einigen Anmerkungen zu den Binnenmärkten. England und Wales bildeten im 18. Jahrhundert einen zentralisierten, einheitlichen Territorialstaat. Geografie und Entfernung spielten natürlich eine Rolle, aber der freie Güterhandel wurde nicht durch administrative Hürden wie Zölle, Weggebühren oder spezifische regionale Regelungen behindert. In diesem Sinn bildeten sie tatsächlich einen integrierten Markt. 1707 wurde das aus England, Wales und Schottland bestehende Vereinigte Königreich Großbritannien gegründet. In vielerlei für unsere ökonomisch ausgerichtete Analyse relevanter Hinsicht blieb Schottland dabei während des hier erörterten Zeitraums ein separates Gebilde. Dies schmälerte jedoch nicht das Ausmaß, in dem sich in Großbritannien ein einheitlicher Markt herausbildete. Irland trat erst 1801 bei, womit das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland entstand. Bis die ehemalige Siedlerkolonie und ihre Kolonialmacht offiziell ein zusammenhängender Wirtschaftsraum wurden, dauerte es mehrere Jahrzehnte. Die Nationalisierung der Märkte, das heißt die Aufhebung innerer Zollschranken, die Einführung zahlreicher Standardisierungen und die gleichzeitige Errichtung von Hürden für ausländische Anbieter, war ein wichtiges Projekt aller merkantilistischen Regierungen. In Großbritannien wurde es im Lauf des 18. Jahrhunderts eindeutig mit Erfolg implementiert. In vielen anderen Teilen Europas machte die wirtschaftliche Vereinigung, also die Herstellung gleicher Rahmenbedingungen für alle Marktteilnehmer, weniger Fortschritte. In Frankreich war die nationale Integration am Vorabend der Revolution von 1789 noch weit von ihrem

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Abschluss entfernt. Dasselbe gilt für »Spanien«, das in mehrerer Hinsicht ein Flickenteppich blieb, und das Habsburger Reich. Deutschland und Italien existierten noch nicht einmal. Die kontinentaleuropäischen Binnenmärkte blieben bis weit ins 19. Jahrhundert hinein schwach integriert und zudem klein im Vergleich zu den prinzipiell riesigen Märkten der Großreiche der Qing, der Moguln und der Osmanen, die viel stärker eine politische Einheit bildeten.1 In den Beziehungen zwischen den europäischen Ländern blieb bis in die ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts eine merkantilistische Politik vorherrschend. Großbritannien war zum Zeitpunkt seines Take-offs ein merkantilistisches Land. Entgegen dem verbreiteten Bild eines britischen Reichs des Freihandels, neben dem Frankreich ein merkantilistischer Staat gewesen sei, praktizierte es in Wirklichkeit mehr und nicht weniger Protektionismus als die Franzosen.

Quelle: Nye, War, Wine, and Taxes, 4.

1 Mit Unterschieden der ökonomischen Integration in Westeuropa, gemessen an der Bedeutung innerer Zollgrenzen, soweit mit anderen Kriterien zur Messung wirtschaftlicher »Fragmentierung« befasst sich Dincecco, Political Transformations and Public Finances, Kap. 2. Auch hierin unterschied sich England: Es entwickelte bereits frühzeitig eine integrierte Wirtschaft und verfügte bis 1788 über einen größeren einheitlichen Binnenmarkt als bspw. Frankreich, das noch aus mehreren Zollgebieten bestand.

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Eingriffe, Regulation und Zölle waren im internationalen Handel derart üblich, dass die Annahme, unter Bedingungen des Freihandels wäre sein Umfang größer gewesen, kaum gewagt scheint. Der interkontinentale Handel wuchs rasant, was angesichts seines niedrigen Ausgangsniveaus nicht erstaunt. Der Handel mit dem Osten war wenigstens bis zum Ende des 18. Jahrhunderts stark von Monopolen und Eingriffen geprägt, auch wenn unterschiedlichste Formen privaten Handels Auftrieb gewannen. In Fernost besaß Europa bis zur Öffnung der Region im 19. Jahrhundert eine eher marginale Präsenz. Im transatlantischen Handel, der für Europa viel größere Bedeutung hatte und von westlichen Händlern dominiert wurde, spielten Chartergesellschaften eine deutlich geringere Rolle. Doch in der Regel taten europäische Regierungen, mit unterschiedlichem Erfolg, ihr Möglichstes, um ausländische Konkurrenten vom Handel mit ihren Kolonien auszuschließen. Im Pazifikhandel zwischen Ostasien und Nord- und Südamerika blieb die Bedeutung der Manila-Galeonen, also eines kontrollierten Handels, bis zu den 1820er Jahren immens.2 Die These, der Aufstieg des Westens sei mit der Durchsetzung des Marktes gleichbedeutend gewesen, ist somit deutlich einzuschränken: Die Märkte waren schwach integriert, der Außenhandel blieb weithin von Regulation und Zöllen bestimmt – und lag mitunter sogar in den Händen von Monopolisten –, und die Zahl der Marktteilnehmer war im Vergleich zu anderen Märkten auf der Welt nicht beeindruckend. Europa war ein Flickenteppich vieler kleiner »Staaten« und blieb dies lange Zeit. Das bringt uns zu der logischen Implikation der genannten These: In anderen Teilen der Welt müsste demnach die Marktökonomie deutlich schwächer entwickelt gewesen sein. Zumindest für China trifft dies nicht zu. Die Vorstellung, sein landwirtschaftlicher Sektor habe (fast) nur aus Subsistenzbauern, die sich dem Markt fernhielten, bestanden, ist ein Mythos. Welche Hürden den Außenhandel, zeitweilig, auch beschränkt haben mögen, in China existierte praktisch ein freier Binnenmarkt. Es bestanden kaum innere Zollschranken, und die (offiziellen) Zölle waren niedrig. In dieser Hinsicht muss die chinesische Binnenökonomie nicht schwächer, sondern stärker dem Smithschen Modell geähnelt haben als die europäische Wirtschaft insgesamt und sogar die meisten europäischen Volkswirtschaften. In China bestand ein dichtes Netz von Märkten. Der innerchinesische Fernhandel mit Reis hatte etwa einen deutlich größeren absoluten Umfang als der binneneuropäische Getreidefernhandel.3 Die Zahl der potenziellen Käufer und Verkäufer war nicht nur, wie sich von selbst versteht, wesentlich größer als in Großbritannien, sondern 2 Schurz, Manila Galleon; Legarda Jr., After the Galleons. 3 Zum chinesischen Marktsystem: Skinner, »Marketing and Social Structure in Rural China«. Zum Fernhandel in China und Europa: Pomeranz, Great Divergence, 34.

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auch größer als im gesamten britischen Empire einschließlich des Mutterlands. China allein hatte mehr Einwohner als Europa, Nord- und Südamerika und Afrika zusammen. Das Qing-Reich erreichte am Vorabend der industriellen Revolution ein genauso hohes Niveau der Marktintegration wie Europa.4 Im Prinzip müssen dort enorme Möglichkeiten für die Entwicklung einer sehr weitreichenden Arbeitsteilung und Spezialisierung bestanden haben. In bestimmten Sektoren fand dies auch statt. In Jingdezhen, während der Ming- und der Qing-Dynastie die Welthauptstadt der Porzellanherstellung, wurde der Produktionsprozess in mehr als siebzig Schritte zergliedert, die jeweils von ausgebildeten Handwerkern durchgeführt wurden.5 Auch Produktion und Vertrieb von Tee, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, waren hochgradig spezialisiert.6 Wäre die schiere Marktgröße das Fundament modernen Wirtschaftswachstums, dann hätte es zuerst im China der Qing auftreten müssen. Es ist zumindest keinesfalls klar, dass das Gesamthandelsvolumen in westlichen Ländern größer war als in anderen dicht besiedelten Weltregionen. Nicht zufällig haben sich Wirtschaftshistoriker, und besonders deutlich Mitglieder der kalifornischen Schule, von der Vorstellung eines reibungslosen und gleichsam natürlichen Übergangs von Smithschem zu modernem Schumpeterschen Wachstum weitgehend verabschiedet.7 Die Zusammenhänge sind jedoch ohnehin komplizierter. Die absolute Menge der für den Markt produzierten Güter war in China in der Tat gewaltig, doch ob ihr prozentualer Anteil an der Gesamtproduktion in den entwickeltsten Teilen des Landes höher oder niedriger als in Großbritannien war, was hier mindestens genauso relevant wäre, ist keineswegs ausgemacht. Da China weniger urbanisiert war, eine kleinere Mittelschicht hatte, Lohnarbeit dort weniger verbreitet war und es weniger exportierte, dürfte die Kommerzialisierung in Großbritannien umfangreicher und vielfältiger als in China gewesen sein. Worauf es für das moderne Wirtschaftswachstum dabei letztlich ankommt, ist nicht die Marktgröße an sich, sondern der erreichte Grad von Arbeitsteilung und Spezialisierung und somit der Diversifizierung der Produktion. Dass Chinas Märkte in dieser Hinsicht einen ähnlichen Effekt hatten wie die britischen, scheint mir zweifelhaft. Doch bislang haben wir nur die Warenmärkte betrachtet. Der Grundstückshandel unterlag in China einigen Einschränkungen, doch zumindest für große Ländereien existierte in Großbritannien erst recht kein freier Bo4 Shiue/Keller, »Markets in China and Europe«. In Indien waren die Märkte offenbar schwächer integriert: Studer, »India and the Great Divergence«. 5 Finlay, »Pilgrim Art«. 6 Vgl. etwa Gardella, Harvesting Mountains, 66, 68. 7 Ausdrücklich zurückgewiesen wird diese Auffassung bspw. von Pomeranz, Great Divergence (Stichwort ›markets‹), Wong, China Transformed, 13–31, und Wrigley, Continuity, Chance and Change, Kap. 4.

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denmarkt. Chinas Arbeitsmarkt mag recht frei gewesen sein, aber er war winzig und seine Bedeutung verglichen mit dem britischen marginal. Der chinesische Geldmarkt funktionierte weniger gut als der britische, sofern die Zinsraten ein verlässlicher Indikator dafür sind: Sie waren in China insgesamt deutlich höher. Der Umfang des chinesischen Außenhandels war beträchtlich, als Anteil am BIP jedoch vollkommen unerheblich: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lag er noch immer unter einem Prozent. Bis zur ersten Dekade des 19. Jahrhunderts verzeichnete China eine positive Handelsbilanz; zumindest akkumulierte es durch Warenverkäufe an die Europäer gewaltige Mengen Silber. In Texten von Globalhistorikern kursieren darüber viele Schätzungen, die meist stark übertrieben sind. Man kann die Schätzung wagen, dass ein Fünftel oder ein Viertel des vom späten 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert aus Lateinamerika ausgeführten Silbers via Europa oder auf den berühmten ManilaGaleonen direkt aus Acapulco nach China gelangte.8 In den Augen eines zeitgenössischen Merkantilisten muss China ein recht erfolgreiches Land gewesen sein. Doch zumindest was Wertumfang und Nebeneffekte betrifft, dürfte sich der Außenhandel nur schwach auf die chinesische Wirtschaft insgesamt ausgewirkt haben. Wenn auch gewiss kein abgeschottetes Land, war China weitgehend autark. Seine Importe, vor allem Silber und später Opium, stellten keine Herausforderung für die einheimische Produktion dar. Seine Exporte, etwa von Tee, konnten natürlich regionale Auswirkungen haben, waren gemessen am BIP jedoch verschwindend gering. Es bestand kein Antrieb, zu einer Art von Importsubstitution überzugehen. Es bestand auch keine »Handelseifersucht«, keine Konkurrenz mit anderen Handelsnationen und kein wirtschaftlicher Nationalismus oder Merkantilismus. Betrachtet man Märkte, dann ist nicht nur ihre Größe, sondern auch ihre genaue Funktionsweise zu berücksichtigen. Die meisten Wissenschaftler, die den Aufstieg Europas mit der Durchsetzung des Marktes gleichsetzen, meinen in Wirklichkeit freie und faire Märkte, also solche, auf denen der Wettbewerb nicht durch äußere politische Kräfte verzerrt wird und keine der Parteien genügend Gewicht hat, um die Preise zu manipulieren – kurz: Märkte, auf denen alle Parteien die gegebenen Preise zahlen müssen. Das ist natürlich ein Idealzustand, den es in der Geschichte nie wirklich gegeben hat. Der Markt für Verbrauchsgüter im Qing-Reich kam Smiths Ideal eines freien und fairen Wettbewerbs recht nahe. Die Märkte für Kapitalgüter und Geld waren weniger transparent und frei. Aber nehmen wir den Arbeitsmarkt genauer unter die Lupe, denn hier bestanden die meiner Ansicht nach größten Unterschiede. 8 Vgl. Anm. 15, S. 275. China exportierte übrigens Gold, allerdings in einem Wertumfang, der von seinen Silberimporten vollkommen in den Schatten gestellt wurde.

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Soweit ein Arbeitsmarkt in China existierte, umfasste er abgesehen von einigen Ausnahmen wie Strafgefangenen und Schuldknechten freie Arbeitskräfte. Angesichts des meist behaupteten Zusammenhangs von Kapitalismus, Lohnarbeit und Freiheit ist es erstaunlich, dass unfreie Arbeit für die britische Wirtschaft weitaus bedeutender war als für die chinesische. Auf den britischen Sklavenhandel sowie die Sklaven, die außerhalb des Landes arbeiteten, aber Güter für Großbritannien herstellten, sind wir bereits eingegangen. Aber der Nutzen, den die britische Wirtschaft aus unfreier Arbeit außer- wie innerhalb des Landes zog, erschöpfte sich darin nicht. Zehntausende Strafgefangene verrichteten in seinen Kolonien Zwangsarbeit. Insgesamt deportierte Großbritannien rund 50.000 Sträflinge, vor allem aus Irland, in seine nordamerikanischen Kolonien. Als das nicht länger möglich war, wurde Australien zum bevorzugten Zielort. Dorthin wurden von 1788 bis 1868 nicht weniger als 165.000 Strafgefangene zur Verrichtung harter Arbeit geschickt.9 Hinzu kam die Schuldknechtschaft. Bei diesem Arbeitsverhältnis verpflichtete sich der Arbeiter per Vertrag, einige Jahre als Knecht einem Herrn zu dienen, eine Stellung, die ihm kaum Freiheiten ließ.10 Einer Schätzung zufolge waren von den Europäern, die von 1700 bis 1775 in die dreizehn Kolonien auswanderten, die später die Vereinigten Staaten wurden, nur 152.000 freie Menschen, 52.000 Sträflinge und 104.000 Schuldknechte.11 Daneben wurden Zehntausende von Männern zum Dienst in der britischen Armee, insbesondere der Marine, gezwungen. Seemänner und alle sonstigen »die See nutzenden« Männer im Alter von 18 bis 55 Jahren unterlagen in Kriegszeiten der Zwangsrekrutierung durch die Marine. Diese Regelung wurde erst 1833 abgeschafft. Sehen wir uns einige Zahlen an. Während des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) wurden rund 185.000 Männer mindestens einmal auf ein Schiff der Royal Navy einberufen. Das waren etwa 9 Prozent aller erwachsenen Männer, vermutlich die Hälfte, also rund 90.000, wurde zwangsverpflichtet.12 Im Zeitraum von 1776 bis 1783 war rund ein Drittel der Dienstleistenden – etwa 80.000 Männer – zwangsrekrutiert worden.13 Auch bei der Einberufung in die Armee, die offiziell praktisch 9 Näher hierzu: Yang, »Indian Convict Workers«; Meredith/Oxley, »Condemned to the Colonies«; Bosma, »European Colonial Soldier«. 10 Zur genauen Bedeutung des Begriffs, vgl. den Eintrag »Indentured Servant« in der englischen Wikipedia. 11 Fogleman, »From Slaves, Convicts, and Servants to Free Passengers«, 71, Tab. A.3; Galenson, »Rise and Fall of Indentured Servitude«. Einen allgemeinen Überblick über die Entwicklungen nach der Abschaffung der Sklaverei im britischen Empire gibt Northrup, Indentured Labor. 12 Rogers, »Vagrancy, Impressment and Regulation of Labour«, 107–108. 13 Rodger, Command of the Ocean, 396.

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keine Zwangsrekrutierungen vornahm, spielte Zwang der einen oder anderen Art eine erhebliche Rolle.14 Doch auf welchen Wegen sie auch einberufen wurden: Sobald sie in der Armee oder Marine dienten, unterlagen die Männer einer drakonischen Disziplin.15 Das galt übrigens auch für Handelsschiffe, auf denen ebenfalls harte Arbeitsbedingungen herrschten.16 Wenn nötig, setzte die britische Armee in der Karibik und den nordamerikanischen Kolonien auch Sklaven ein.17 Die britischen Streitkräfte waren eine bedeutende Produktivkraft: Als Gemeinschaft »militärischer Arbeiter« dienten sie der Verteidigung und Expansion der britischen Wirtschaft. Zudem erfüllten sie im Ausland häufig nicht nur militärische Aufgaben, sondern wurden auch etwa beim Bau von Straßen und Festungen eingesetzt. Im Zuge des Versuchs einer »Erfassung der Welt« zwecks ihrer Befriedung und Zivilisierung sammelte die Marine zudem alle nur erdenklichen Informationen, etwa geografischer, botanischer und zoologischer Art.18 Laut den zuverlässigsten Schätzungen von Militärhistorikern diente während des Österreichischen Erbfolgekriegs einer von sechzehn, während des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs einer von acht und während der Koalitionskriege gegen Frankreich (1793–1815) sogar einer von fünf erwachsenen Männern in den britischen Streitkräften.19 Doch auch darin erschöpfte sich noch nicht der Nutzen, den die britische Wirtschaft aus Formen von Zwangsarbeit zog. Die Arbeits- und Armenhäuser zählten 1776 rund 90.000, 1850 rund 123.000 Insassen. Die Mehrheit von ihnen waren zwar nicht wie ursprünglich beabsichtigt körperlich leistungsfähige, ganztägig beschäftigte Erwachsene, dennoch beherbergten solche Einrichtungen ein stattliches Heer an Zwangsarbeitern.20 In den ersten Jahrzehnten der Industrialisierung arbeiteten Tausende von Waisen und anderen Kindern aus den Armenhäusern als »Lehrlinge« für Fabrikbesitzer und waren praktisch deren Eigentum. Sie waren vertraglich dazu verpflichtet, bis zur Volljährigkeit in ihren Fabriken zu arbeiten. In den späten 1790er Jahren stellten sie zum Beispiel ein Drittel der Arbeitskräfte in der Baumwolltextil-

14 Wie der Staat Männer zum Eintritt in die Streitkräfte zwingen konnte, zeigt James, Warrior Race, 296–301. 15 Zu Disziplin: Frykman, »Seeleute auf den europäischen Kriegsschiffen des späten 18. Jahrhunderts«; James, Warrior Race, 292–317. 16 Vgl. etwa Fink, Sweatshops at Sea. 17 James, Warrior Race, 300–301. 18 Vgl. etwa Bosma, »European Colonial Soldiers« und Way, »Klassenkrieg«, 85–114. Zu den vielfältigen Betätigungsfeldern der Royal Navy: Angster, Erdbeeren und Piraten. 19 Vgl. Emsley, British Society and the French Wars; Conway, »Britain and the Impact of the American War«. 20 Laut Daunton (Progress and Poverty, 454–455) nahmen sich viele Armenhäuser der Alten und der Kinder an, die nicht für sich selbst sorgen konnten.

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industrie.21 Auch der Status von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, besonders von Hausangestellten, war weit von dem einer freien Arbeitskraft im heute üblichen Sinn des Wortes entfernt. Das Gleiche gilt für Kinder, die zusammen mit Frauen das Gros der Arbeitskräfte in den neuen Fabriken stellten oder als Lehrlinge arbeiteten. Erwachsene Männer machten während des Zeitraums von 1835 bis 1870 nie mehr als ein Drittel der Belegschaften der Baumwoll- und Wolltextilfabriken aus.22 Und selbst der Status männlicher »freier« Arbeiter in Großbritannien war deutlich weniger frei als der moderner Beschäftigter mit einem Arbeitsvertrag; viel eher ähnelte er dem von Knechten.23 Lohnempfänger wurden als Untergebene betrachtet, die Dienst zu leisten hatten. Nicht zufällig schloss die Kategorie der Bediensteten oft nicht nur Hausangestellte im strikten Sinn, sondern auch Lehrlinge, Gesellen und Lohnempfänger ein. Ihre Arbeit wurde gewöhnlich als Eigentum des Herrn verstanden, und sie mussten sich permanent zur Verfügung halten. Die strafrechtlichen Sanktionen in der Arbeitswelt wurden von 1720 bis 1850 bemerkenswerterweise nicht gelockert, sondern verschärft. Das kapitalistische Großbritannien profitierte somit direkt oder indirekt von einer erheblichen Zahl unfreier Arbeitskräfte im Inland, auf See und im Ausland. Seymour Dreschers allgemeine Bemerkungen über den Kapitalismus treffen den Fall Großbritanniens im sehr langen 18. Jahrhundert ausgezeichnet: Der Kapitalismus war sehr unorthodox und pluralistisch in seinem Vermögen, selbst noch während des Jahrhunderts der Abschaffung der Sklaverei ab 1780 mit einer Bandbreite von Arbeitsformen zu koexistieren: mit Sklaverei, Schuldknechtschaft, Naturalpacht, Sträflingsarbeit, saisonaler Kontraktarbeit und Tagelöhnerei; mit widerrechtlich eingeschränkt und uneingeschränkt freier Arbeitskraft. Mit fortschreitender Zeit können wir heute klarer erkennen […], dass die ›Durchsetzung der freien Arbeit‹ während des klassischen Zeitalters der Industrialisierung in mancher Hinsicht ein Mythos ist.24

Unfreie Arbeit war für die britische Wirtschaft während der kapitalistischen Industrialisierung in jedem Fall erheblich wichtiger als für China, wo sie natürlich ebenfalls in unterschiedlichen Formen existierte, insgesamt aber nur marginale Bedeutung besaß. Global betrachtet war freie Arbeit die Ausnahme. Im Jahr 1772 waren schätzungsweise nur 4 Prozent der arbeitsfähigen Weltbevölkerung freie Arbeitskräfte – die übrigen 96 Prozent arbeiteten als Sklaven, Leibeigene, Schuldknechte und Vasallen.25

21 Vgl. Humphries, Child Labour in the British Industrial Revolution. 22 Evans, Forging of the Modern State, Tab. 423. 23 Vgl. Steinfeld, Invention of Free Labour; ders., Coercion, Contract and Free Labour; Deakin/Wilkinson, Law of the Labour Market. Vgl. Auch Lis/Soly, Worthy Efforts, 494–509. 24 Drescher, »Williams Thesis after Fifty Years«, 148. 25 Young, Present State of the British Empire, 20–21.

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25. Die Institution der Institutionen: Zur Rolle des Staates

Die vorherrschenden eurozentrischen Erklärungen messen dem Kapitalismus eine grundlegende Rolle für den Aufstieg des Westens bei. Kapitalismus impliziert die Existenz eines Staates. Selbst die vehementesten Verfechter eines wirtschaftlichen Laissez-faire würden dem zustimmen und einräumen, dass keine Institution besser für den Schutz des Eigentums, für Recht und Ordnung, die innere wie äußere Sicherheit sowie für Aufbau und Aufrechterhaltung einer materiellen und institutionellen Infrastruktur zu sorgen vermag. Acemoglu und Robinson betrachten die Existenz eines zentralisierten Staates, meiner Ansicht nach zurecht, als notwendige Voraussetzung jeglicher wirtschaftlicher Entwicklung.1 Weiter reicht der Konsens allerdings nicht: Wie wir gesehen haben, gibt es eine enorme Bandbreite nicht nur unterschiedlicher, sondern oftmals diametral entgegengesetzter Auffassungen darüber, wie ein wachstumsfördernder Staat aussehen und agieren würde – von vollständigem Laissez-faire bis zu zentraler Planung und Kontrolle, mit allen nur denkbaren Zwischenpositionen. Ich teile Erik Reinerts Auffassung, der drei Möglichkeiten dafür sieht, wie eine Regierung Wirtschaft und Wohlstand fördern kann: Sie kann Institutionen schaffen, zweitens selbst als eine – für die Einkommensverteilung zuständige – Institution agieren und drittens das Wirtschaftswachstum fördern. Diese dritte Rolle bestimmt Reinert näher, indem er der Regierung folgende Maßnahmen nahelegt: Sie sollte ihr Land auf die geeigneten Wirtschaftszweige verpflichten und in diesen Sektoren einen komparativen Vorteil schaffen, Infrastruktur aufbauen, für qualifizierte Arbeitskräfte sorgen und das Unternehmertum fördern, Nachfrage (besonders hochwertige) erzeugen, Wissen und Bildung fördern, ein funktionierendes Rechtssystem gewährleisten und schließlich als letztinstanzlicher Unternehmer und Kapitalist agieren.2 Besondere Bedeutung misst er Strategien zum Aufbau der richtigen Produktions-

1 Acemoglu/Robinson, Warum Nationen scheitern, passim. Vgl. dort Stichwort »state«. 2 Erik Reinert, »The Role of the State in Economic Growth«, Working Paper 5/1997, Sum Centre for Development and Environment University of Oslo, 1997. Laut Reinert muss der Staat auch an hohen Reallöhnen interessiert sein. Wie er richtig bemerkt, wurde dies erst spät zu einem Ziel von Regierungen.

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Die Institution der Institutionen: Zur Rolle des Staates

und Handelszweige bei, also solcher, die steigende Erträge sowie hohe Wertschöpfung und Gewinne bieten. Fast alle von ihm genannten Strategien wurden in der frühen Neuzeit bemerkenswerterweise von europäischen Entscheidungsträgern verfolgt, die wir gewöhnlich als Merkantilisten bezeichnen würden. Einig sind sich Historiker jedenfalls darüber, dass Großbritannien wenigstens bis zu den 1830er Jahren ein fiskal-militärischer, merkantilistischer und imperialistischer Staat war. Die britischen Steuersätze stiegen während des gesamten 18. Jahrhunderts, besonders während der Revolutions- und der Napoleonischen Kriege von 1793 bis 1815. Sie wurden schließlich die höchsten der Welt. Die britischen Staatschulden erreichten Ausmaße, neben denen die derzeitige Verschuldung von Ländern wie Griechenland und Spanien niedrig erscheint. Ein beachtlicher Teil der Staatsausgaben musste folglich für den Schuldendienst aufgewendet werden – von 1816 bis 1850 fast immer mehr als die Hälfte des Jahresbudgets. Pro Kopf hatte das Land eine erstaunlich hohe Zahl von staatlichen Verwaltungsangestellten. Die von ihm

Tab. 55: Finanzen Großbritanniens, 1580er-1815 1600 1650

1690

1730

1790

1815

Nom. BIP (£m)

46

57

130

320

Staatsverschuldung (£m)

3,1

51,4

244

745

6

100 1,2m

185 3m

220 20m

2,05

6

16

63

7

10,7

12,3

18,2

Ausgaben (£m)

4

5,5

16,8

112,9

Als % des BIP

9

10

13

35

Als % des BIP (jährliche Neuverschuldung) Steueraufkommen (£m) Als % des BIP

3,4

Steuer Aufschlüsselung • Verbrauchssteuer (£m / %) • Zoll (£m / %) • Direktbesteuerung (£m / %)

0,9 0,7 1,4

Ausgaben • Militär (£m / %) • Zivil (£m / %) • Zinsen (£m / %)

0,6 79k 2,3 39f 9,4 31f 30 61 15k 17f 13f 9 6k 44f 56f 28

30 3 23 1,6 47 1,5

49 7,5 26 6,3 25 3,6

43 23 36 36 19 30 21 21 34

Legende: k = Krieg, f = Frieden Quelle: Capie, »The Origins and Development of Stable Fiscal and Monetary Institutions in England«, 28.

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mobilisierten Heere waren groß, seine Flotte die größte der Welt.3 Der britische Staat agierte durchaus protektionistisch: Unerwünschte Importe wurden mit hohen Zöllen und sogar Einfuhrverboten belegt, bestimmte Exporte dagegen subventioniert.4 Im Inland versuchte die Regierung – wie alle merkantilistischen Regierungen – einen freien und integrierten Binnenmarkt zu schaffen. Auch wenn sie dabei natürlich lokale Interessen berücksichtigen und pragmatisch vorgehen musste, gelang ihr dies weitgehend. Das heißt nicht, dass sie eine Politik der Nichteinmischung verfolgt hätte. Auch die Binnenwirtschaft wurde durchaus reguliert, allerdings bei Weitem nicht so umfassend wie der Außenhandel.5

3 Weitere Angaben und umfangreiche Literaturhinweise bietet Vries, »Staatsfinanzen Chinas und Großbritanniens im langen 18. Jahrhundert«. Eine neuere Debatte über den britischen Merkantilismus, deren Ergebnisse ich im vorliegenden Text nicht berücksichtigen konnte, findet sich in The William and Mary Quarterly 69 (2012) 1, 3–70. 4 Zu Zöllen und Einfuhrverboten: Nye, War, Wine, and Taxes. Zu Exportsubventionen: Hoppit, »Bounties, Economy and State in Britain«. 5 Gauci (Hg.), Regulating the British Economy.

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Der britische und der chinesische Staat

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26. Der britische und der chinesische Staat

Versuchen wir wiederum, durch einen Vergleich von Großbritannien und China den Stellenwert zu bestimmen, den ein bestimmter Faktor, in diesem Fall Charakter und Rolle des Staates, für die Erklärung der Great Divergence haben könnte. Dass Großbritannien zum Zeitpunkt seines Take-offs ein fiskal-militärischer, merkantilistisch-imperialistischer Staat war, ist eine Tatsache, der Ökonomen und Wirtschaftshistoriker bei der Erklärung der Great Divergence Rechnung tragen müssen. Binnenwirtschaftlich war China mindestens so sehr, meines Erachtens in mancher Hinsicht sogar stärker als Großbritannien eine Marktwirtschaft, in der freier und fairer Wettbewerb herrschte. Für den Außenhandel gilt sicherlich, dass die Regierung weder chinesischen noch ausländischen Händlern zu viel Macht und Spielräume zubilligen wollte und sie folglich in Schach hielt. Insgesamt wurde er aber nicht stärker verzerrt und reguliert als in Großbritannien. In jedem Fall besaß er für China viel geringere Bedeutung als für die britische Wirtschaft. Im Folgenden wird fast nur die Rolle des britischen Staates behandelt, da er gemessen an Steuersätzen und -erhöhungen, staatlicher Kreditaufnahme und Schuldentilgung sowie der Zahl ziviler Beamter und Militärangehöriger weit mehr Gewicht als der chinesische hatte und auch deutlich stärker in die Wirtschaft eingriff, um die Produktion zu fördern und so seine Einkünfte und Macht zu mehren. Die Philosophie, der die chinesischen Herrscher in dieser Zeit folgten, kann am besten als »agrarischer Paternalismus« bezeichnet werden.1 Recht und Ordnung sowie das Militär waren zweifellos wichtig. Aber die Regierung befand sich in keinem Rüstungswettlauf und kümmerte sich auch nicht um den Aufbau einer schlagkräftigen Marine. Bis in die 1810er Jahre führte das Land mehr Edelmetall ein, als es ausführte, weshalb die Regierung keinen Grund sah, sich wegen der Exporte Sorgen zu machen, wie dies ihre europäischen Gegenspieler taten. Die Landwirtschaft wurde als Basis von Wirtschaft und Gesellschaft angesehen. Die Herrscher 1 Zum agrarischen Paternalismus in chronologischer Reihenfolge: Leonard/Watt (Hg.), Security and Wealth; Will, »Chine moderne et sinologie«; ders., »Développement quantitatif et développement qualitatif en Chine«; Dunstan, Conflicting Counsels; Wong, China Transformed; ders., »Political Economy of Agrarian Empires«; Deng, Premodern Chinese Economy. Schließlich sei hingewiesen auf Antony/Leonard (Hg.), Dragons, Tigers, and Dogs, sowie Dunstan, State or Merchant?.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

verstanden es als ihre Pflicht, die Existenzgrundlage ihres Volks zu garantieren, also die Sicherheit und den Wohlstand ihrer Untertanen zu schützen. Sie nahmen sich daher zurück und sahen den Auftrag des Staates in der Verwaltung und Wahrung des Wohlstands, nicht in seiner Kontrolle und Abschöpfung. Leichte Besteuerung und geringe Eingriffe in die lokalen Angelegenheiten waren Folgen dieser Ansicht; die Maxime lautete: »Kontrolle aus der Ferne« durch eine »schlanke Verwaltung«.2 Die Vorstellung, beim China der Qing habe es sich zumindest auf zentralstaatlicher Ebene um eine »orientalische Despotie« mit einer riesigen, alles beherrschenden Bürokratie, großer Armee und erdrückender Steuerlast gehandelt, wird kaum mehr vertreten; in jedem Fall ist sie unhaltbar. Der Staat bremste wirtschaftliche Innovationen und Privatunternehmen viel weniger, als in der eurozentrischen Literatur stets behauptet worden ist. Der springende Punkt ist, dass er auch nicht viel zu ihrer Förderung unternahm und im Lauf der Zeit schwächer und ineffizienter – und somit tatsächlich zu einem Wachstumshindernis – wurde. China betrieb zudem keinen Merkantilismus und Aufbau von Peripherien.3 Der Take-off Großbritanniens stellt die Wissenschaft vor eine veritable Herausforderung: Wie konnte das Land zur ersten Industrienation und zum Pionier des modernen Wirtschaftswachstums werden, wenn es doch als fiskal-militärischer, merkantilistischer Staat gegen derart viele Grundsätze der vorherrschenden Wirtschaftslehre verstieß? Selbst Mokyr, nach dessen Überzeugung Großbritannien zu wirtschaftlicher Vorherrschaft gelangte, weil es sich später zu einer Laissez-faire-Ökonomie entwickelte, räumt dies ein: Am Vorabend der industriellen Revolution war die britische Wirtschaft in vieler Hinsicht weiterhin protektionistisch und merkantilistisch und wuchs »nicht wegen, sondern trotz der institutionellen Rahmenbedingungen«. Erst nach 1815 schritt der neue Liberalismus langsam voran und gewann das Wachstum an Tempo. Dennoch sei sie vergleichsweise besser positioniert und gerüstet gewesen als andere europäische Nationen.4 Wenn selbst Mokyr meint, dass sich der neue Liberalismus nach 1815 nur allmählich durchgesetzt habe, kann man gewiss annehmen, dass Großbritannien zum Zeitpunkt des Take-offs noch immer ein merkantilistischer und fiskalmilitärischer Staat war. Seine Einschätzung, es sei »besser positioniert und gerüstet« gewesen, teile ich, sofern dies nicht bedeuten soll, es sei weniger

2 Leonard, Controlling from Afar, Kap. 2. 3 Vgl. meine in Anm. 15, S. 260 und 4, S. 343 aufgeführten Publikationen. 4 Mokyr, Enlightened Economy, 12, 25, 153. Dort heißt es auch: »All das soll nicht bedeuten, die britische Gesellschaft sei für Wirtschaftswachstum und technischen Fortschritt perfekt geeignet gewesen. Verglichen mit dem übrigen Europa scheinen die Vorteile Großbritanniens jedoch offensichtlich.« (68)

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Der britische und der chinesische Staat

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merkantilistisch als etwa Frankreich oder die Niederlande gewesen. Insgesamt war dies nicht der Fall; eher gilt das Gegenteil. Nach meiner Ansicht war Großbritannien wenigstens bis zu den 1830er Jahren in zu vieler Hinsicht zu merkantilistisch, um die traditionelle Behauptung eines durchweg entwicklungshemmenden Charakters des Merkantilismus zu akzeptieren, auch wenn diese Anklage im Anschluss an Adam Smith bis heute von vielen Ökonomen und manchen Historikern vertreten wird. Ein Forscher, der auf Mokyrs Argumentationslinie behauptet, Entwicklung und Wachstum der britischen Wirtschaft seien trotz des Merkantilismus erfolgt, ist John Nye: Der Aufbau des Empire – mit all seinen Implikationen – rentierte sich ihm zufolge für das merkantilistische Großbritannien nicht und sollte als insgesamt ineffektiv betrachtet werden. Es stellt sich ihm die Frage, wie sich Großbritannien trotz solcher ineffizienten und unter dem Strich kostspieligen Eingriffe entwickeln konnte.5 Auch Goldstone fragt sich, ob moderne Wirtschaften trotz (und nicht wegen) des Wachstums moderner Staaten entstanden seien.6 McCloskey wertet die gewaltigen Ausgaben für merkantilistische Maßnahmen – insbesondere für die ständigen Kriege und den Unterhalt einer gewaltigen Marine – weitgehend als Geldverschwendung, insofern Großbritannien die von ihm benötigten Güter unter Vermeidung dieser Kosten auch auf dem Weltmarkt hätte kaufen können.7Angesichts der Tatsache, dass militärische Konflikte und Handelskriege in der frühen Neuzeit die Regel und nicht die Ausnahme waren, erscheint mir das etwas naiv. Ronald Findlay und Kevin O’Rourke vertreten eine sehr eigene, prononcierte Position, die meiner Analyse als Ausgangspunkt dienen wird.8 Die Rolle der Macht in der globalen und namentlich der europäischen Wirtschaftsgeschichte ist ihnen klar bewusst: Gewalt, Merkantilismus und Imperialismus seien notwendige Voraussetzungen und Elemente der britischen Industrialisierung gewesen. In einer ständigen Handelsexpansion erkennen sie den entscheidenden Grund dafür, dass sich die britische industrielle Revolution von früheren Blütezeiten unterschied. Diese Handelsexpansion sei weitgehend eine Konsequenz der erfolgreichen Regierungsstrategie gewesen, den britischen Handel – wenn nötig mit Gewalt – zu fördern und den anderer Länder zu behindern. Merkantilismus, Krieg und der Aufbau des Empire förderten demnach allesamt den Handel und somit die Industrie. Findlay und O’Rourke wissen gleichwohl, dass aufgrund der immensen Kosten dieser Politik einer gewaltsamen Markterweiterung keineswegs klar war, 5 6 7 8

Nye, War, Wine and Taxes, 24, 24–25 und 112. Goldstone, »A Historical, not Comparative Method«, 270. McCloskey, Bourgeois Dignity 222–225. Findlay/O’Rourke, Power and Plenty, 351–352.

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ob Merkantilismus, Krieg und Empire sich rein finanziell betrachtet tatsächlich lohnen würden. In einer vollkommenen Welt, so machen sie wiederholt deutlich, wäre der Marktmechanismus die effizienteste Wirtschaftsform und die neoklassische Theorie die beste Erklärung für seine Effizienz. Eine Welt des Laissez-faire hätte Wachstum und Entwicklung demnach stärker gefördert – doch eine solche Welt war, wie Findlay und O’Rourke sogleich hinzufügen, keine realistische Alternative. Das ist natürlich richtig. Es ist daher sinnlos zu behaupten, dass Großbritannien als ein Staat des Laissez-faire wesentlich leistungsfähiger gewesen wäre.9 Meiner Ansicht nach wäre der Verzicht auf merkantilistische Politik für einen Staat im frühneuzeitlichen Europa geradezu selbstmörderisch gewesen. Alle europäischen Staaten waren (mehr oder weniger) merkantilistisch und ihre herrschenden Klassen beinahe ausnahmslos Anhänger des Merkantilismus. Das bedeutet, dass es eine Alternative zu ihm nicht gab und man nur hoffen konnte, ein erfolgreicher Merkantilist zu sein. Doch ob vermeidbar oder nicht, die gewaltigen Kosten der fiskal-militärischen und merkantilistischen Politik lassen sich leicht aufzeigen. Im Fall von Krieg und Aufbau des Empire ist dies offensichtlich, im Fall der vom Merkantilismus implizierten protektionistischen Maßnahmen und Monopole weniger, doch wie bereits einige Beispiele verdeutlichen, müssen ihre Kosten ebenfalls beträchtlich gewesen sein. Die Weizenpreise in Großbritannien zählten zu den höchsten in Europa. Dennoch wurden bis in die 1760er Jahre, gefördert durch Ausfuhrsubventionen, erhebliche Mengen Weizen exportiert.10 Nach den Napoleonischen Kriegen wurden die berühmt-berüchtigten Korngesetze eingeführt, um billige Importe abzuwehren; erst 1846 wurden sie aufgehoben. Von 1768 bis 1782 waren mit Ausnahme von Ingwer sämtliche Importe aus der britischen Karibik in Großbritannien teurer als auf dem Weltmarkt, weil die karibischen Grundeigentümer begünstigt wurden.11 Noch in den 1820er und 1830er Jahren löste die Privilegierung karibischer Zuckerpflanzer und Raffineriebesitzer gegenüber indischen Wettbewerbern hitzige Debatten aus.12 Der Protektionismus verteuerte auch den Tee. In den 1770er Jahren verkauften die niederländische und die englische Ostindienkompagnie ihn durchschnittlich noch zu annähernd denselben Preisen. Doch bis zu den 1820er Jahren sank der Preis für Tee in den Niederlanden um zwei Drittel, in England nur um ein Viertel. Laut dem bekannten schottischen Orientalisten John Crawfurd zahlten die britischen Verbraucher von 1819 bis 1829 beinahe doppelt so viel für ihren Tee wie die Ameri9 10 11 12

So Mokyr, Enlightened Economy, 159. Ebd., 150. Thomas/McCloskey, »Overseas Trade and Empire«, 98. Kumagai, Breaking into the Monopoly, z.B. 207.

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kaner. 1830 behaupteten Experten in einem Bericht des Untersuchungsausschusses über die EIC und den Handel zwischen Großbritannien, Ostindien und China, das Handelsmonopol der Gesellschaft auf den chinesischen Tee bürde der Allgemeinheit zusätzliche Kosten von 1 Million bis 2,6 Millionen Pfund auf.13 Auch protektionistische Maßnahmen gegen indische Textilproduzenten mögen zwar den Aufbau einer einheimischen Baumwolltextilindustrie gefördert haben, steigerten aber natürlich die Lebenshaltungskosten der britischen Verbraucher und schränkten ihre Auswahl ein. Sie blieben auch länger in Kraft als oft angenommen wird; noch 1830 galt beispielsweise eine Sondersteuer auf bedruckten Kattun.14 Um ein letztes Beispiel zu nennen: Die Einfuhrzölle für Eisen verfünffachten sich von 1688 bis 1759.15 Wie immer sich solcher Schutz bestimmter Interessengruppen langfristig auf die Produktion ausgewirkt haben mag, den Verbrauch förderte er kurzfristig sicherlich nicht. Dass er die Entwicklung einheimischer Industrien gefördert hat, wie mit Blick auf die britische Baumwollindustrie häufig suggeriert oder ausdrücklich behauptet wird, ist mitnichten klar. Wäre diese Industrie nicht so innovativ geworden, hätten die Vertreter der vorherrschenden Wirtschaftslehre dafür zweifellos den »Protektionismus« verantwortlich gemacht. Wie sich Protektionismus auswirkt, hängt offenbar vom Kontext ab. In der Praxis implizierte der Merkantilismus sehr häufig Monopole. Diese führten gewöhnlich nicht nur zu höheren Preisen, sondern konnten auch Innovationen hemmen. So behauptet Ralph Davis, dass die EIC aufgrund ihres Monopols auf technische Neuerungen verzichtet habe, die ihr eine Senkung der Frachtsätze erlaubt hätten.16 Ob sich das britische Empire lohnte, ist naturgemäß schwer zu entscheiden, aber es ist deutlich geworden, wie kostspielig es für die breite Masse der Steuerzahler war. Für die britische Gesamtwirtschaft überstiegen zumindest die direkten finanziellen Kosten des Empire vermutlich seinen Nutzen. Über den Zeitraum von 1846 bis 1914 behauptet Patrick O’Brien: »Für eine nicht unerhebliche Zahl von Briten (außerhalb und innerhalb einiger sehr mächtiger Gruppen) lohnte sich das Empire. Gezeigt werden sollte hier, dass die gewaltigen Staatsausgaben für den imperialen Herrschafts- und Verteidigungsapparat weder hinreichend noch notwendig für das Wirtschaftswachstum von 1846 bis 1914 waren.«17 Auch für andere Zeiträume werden die

13 Zu diesen Zahlen: ebd., 208–209, 139, 150 (Anm. 112). Zu Crawfurds Berechnung: Crawfurd, Chinese Monopoly Examined, 87. Crawfurd war ein erbitterter Gegner der EIC (vgl. ebd., xvii). 14 Kumagai, Breaking into the Monopoly, z.B. 256. 15 Parthasarathi, Why Europe Grew Rich, 168–170. 16 Davis, Rise of the English Shipping Industry, 265. 17 O’Brien, »Costs and Benefits of British Imperialism«, 200.

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Vorteile des Empire der Tendenz nach über-, seine Kosten dagegen unterschätzt.18 Eine große und überdies wachsende Zahl von Forschern, darunter O’Brien, meint jedoch, die Kosten für den Verbraucher – der Hauptgrund für Smiths vehemente Angriffe auf das Merkantilsystem und den fiskal-militärischen Staat – seien durch unterschiedlichste Vorteile ausgeglichen worden. Trotz theoretischer Vorbehalte nehmen zum Beispiel Findlay und O’Rourke offenbar an, dass die britische Strategie eines Bündnisses von Macht und Profit in der Praxis letztlich aufging. Dieser Auffassung sind auch Braudel, Wallerstein und Arrighi, die den Aufstieg des Westens mit dem eines westlichkapitalistischen Weltsystems ineinssetzen, in dem Macht und Profit Hand in Hand gingen. Kapitalismus ist für sie geradezu gleichbedeutend mit Monopol und Manipulation, geheimen Absprachen und Zwang. Die Überlegenheit des Kapitalismus führen sie wesentlich darauf zurück, dass er eine konzentrierte Akkumulation in den Händen einer kleinen Gruppe von Kapitalisten förderte, die ihrerseits – ohne ihre Handlungsspielräume einzubüßen – den Staat stärkten. Insbesondere Wallerstein geht davon aus, dass das moderne Weltsystem gesellschaftliche Kosten und private Gewinne verursache: »Der Kapitalismus beruht auf der ständigen Absorption von ökonomischen Verlusten durch politische Gebilde, während der ökonomische Gewinn an ›private‹ Besitzer verteilt wird.«19 Das Wesen des Kapitalismus besteht für Wallerstein und ähnlich denkende Theoretiker in Akkumulation und Markterweiterung. Die Beziehung zwischen Akkumulation und internationalem Handel einerseits, Investitionen und Industrie andererseits – wie wichtig sie auch gewesen sein mag – war allerdings im Hinblick auf Akteure und investiertes Kapital nie eine direkte. Selbst Braudel, der den Kapitalismus häufig explizit als ein Phänomen des Austauschs und nicht der Produktion definiert (was faktisch natürlich auch Wallerstein und Arrighi tun), bestreitet die Existenz solcher direkten Beziehungen zu Beginn der britischen Industrialisierung; Handelskapital und Händler spielten in seinen Augen nur eine marginale Rolle für den industriellen Take-off in Großbritannien.20 Doch eine separate Erklärung für die Industrialisierung oder die Entstehung des modernen

18 Eine gesamteuropäische Analyse, in der auch der britische Fall eingehend erörtert wird, bietet O’Brien/Prados de la Escosura, Costs and Benefits of European Imperialism. 19 Wallerstein, Das moderne Weltsystem, Bd. 1, 519. Gleichwohl meinte Wallerstein – zumindest in den 1970er Jahren –, dass der Kapitalismus Wachstum erzeugt, und bemerkte über »die moderne Welt«, es sei »trotz all ihrer Grausamkeiten […] besser, dass sie entstanden ist« (530). 20 Zu Braudels Kapitalismusverständnis und der Great Divergence: Vries, »Europe and the Rest. Braudel on Capitalism«.

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Wirtschaftswachstums findet sich in den Modellen der drei Theoretiker ebenfalls nicht. Beides stellt aus ihrer Perspektive keinen wirklichen Bruch in der Geschichte des westlichen Kapitalismus dar. Wissenschaft, Technik und Innovation, die eine grundlegende Rolle für die Great Divergence gespielt haben, treten in ihrer Analyse als exogene Variablen auf und bleiben der eigentlichen historischen Darstellung äußerlich. Auch Frank betonte, als er noch für die Dependenztheorie warb, welche Möglichkeiten zur Akkumulation die gegebene politische Ökonomie des Westens bot. In ReOrient hat sich der Akzent verschoben, aber deutliche Spuren dieser Auffassung zeigen sich in dem hohen Stellenwert, den er der Aneignung amerikanischen Silbers durch die Europäer beimisst. Auch Pomeranz postuliert einen Zusammenhang zwischen Merkantilismus und Great Divergence, wenn er dem nicht-einvernehmlichen Handel und den – meist in Kolonien gelegenen – fiktiven Nutzflächen große Bedeutung für den Aufstieg des Westens zuschreibt. Aber auch das haben wir bereits erörtert. Kurz gesagt gibt uns die Weltsystemtheorie in ihren unterschiedlichen Spielarten, einschließlich der ganz eigenen Variante von Pomeranz, wenig Aufschluss über die direkten Ursachen der Great Divergence, auch wenn sie zu einer allgemeinen Erklärung dafür, wie die Kluft zwischen Arm und Reich entstehen und sich derart vertiefen konnte, fraglos viel beitragen kann. Man muss allerdings kein Anhänger irgendeiner Form der Weltsystemtheorie sein, um die unauflöslichen Zusammenhänge zwischen fiskal-militärischem Staat, Merkantilismus, Empire und wirtschaftlicher Entwicklung freizulegen. Robert Allen etwa weist auf mögliche Vorzüge des Merkantilismus hin und hält es für denkbar, dass die Ausgaben des britischen Staates das Wirtschaftswachstum förderten. So wäre es ihm zufolge von Vorteil für Frankreich gewesen, hätte Louis XIV. (1638–1715) über mehr Geld für den Aufbau einer großen französischen Flotte verfügt. Allen bemerkt eine »Standardstrategie« nachholender Entwicklung: Schaffung eines einheitlichen Binnenmarkts, Schutz dieses Markts vor ausländischer Konkurrenz, Aufbau eines gut funktionierenden Bankenwesens sowie eines breiten Bildungssystems.21 Die ersten zwei Maßnahmen waren natürlich exakt das Programm der Merkantilisten. Parthasarathi hält die systematische Förderung einheimischer Hersteller und Händler durch die merkantilistische Politik für wesentlich, um die britische Industrialisierung und den Niedergang des herstellenden Gewerbes in Indien zu erklären.22 In diesem Kontext ist besonders auf Publikationen von Patrick O’Brien, als Kritiker der Weltsystem-

21 Allen, Global Economic History, 29, 41–42. 22 Vgl. Parthasarathi, Why Europe Grew Rich, sowie Vries, »Review-Article: Why Europe Grew Rich«.

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analyse bekannt, David Ormrod und William Ashworth hinzuweisen.23 Sie betonen weniger die Akkumulation an sich als vielmehr Schutz und Förderung der Produktion und des Handels sowie die (künstliche) Erweiterung von Märkten. Ihre Position läuft auf die These hinaus, dass die politische Ökonomie Großbritanniens selbst dann, wenn sie – was offensichtlich scheint – viele britische Verbraucher kurzfristig belastete, sich auf die längerfristige gesamtwirtschaftliche Entwicklung und besonders die Produktion positiv ausgewirkt haben könnte. In einer bemerkenswerten Passage aus einer neueren Publikation von O’Brien heißt es: Unsere […] Spekulation lautet, dass sich die erste industrielle Revolution in wichtigen Aspekten plausibel als ein paradigmatisches Beispiel für erfolgreichen Merkantilismus darstellen lässt und dass die unbeabsichtigten Folgen der Revolution in Frankreich [massive langjährige Kriege, die Großbritannien gewann, PV] positiv, ja vielleicht maßgeblich zu ihrer schlussendlichen Konsolidierung und Weiterentwicklung beitrugen.24

Ashworth wertet die Auswirkungen der britischen protektionistisch Wirtschaftspolitik bis zu den 1840er Jahren eindeutig positiv: »Wenn es einen einzigartigen englischen/britischen Industrialisierungspfad gegeben hat, dann war er weniger von einer dem Unternehmertum und der Technik besonders förderlichen Kultur geprägt als von einem institutionellen Rahmen, der sich vor allem durch Verbrauchssteuern und Zollmauern auszeichnete.« Großbritanniens industrielle Entwicklung war seines Erachtens: weniger das Resultat einer besonderen einheimischen Mentalität und der Gabe einer auf Veränderung und Beherrschung der Natur ausgerichteten ›Naturforschung‹; vielmehr lässt sich argumentieren, dass sie sich vor allem einer nationalen Industriepolitik durch Zollmauern verdankte, der Fähigkeit, ausländische (vor allem asiatische) Produkte zu kopieren und später weiterzuentwickeln, der beispiellosen Ausbeutung afrikanischer Sklavenarbeit, umfangreichen Kohlevorkommen, dem Handelsmonopol mit dem britischen Nordamerika, aggressiver militärischer Stärke und nicht zuletzt einem relativ effizienten Steuerwesen.25

Wie bereits Friedrich List erklärte, mag Protektionismus einem Land, genauer: seinen Verbrauchern zwar einen Preis abverlangen, kann ihm langfristig aber durch die Steigerung produktiver Kapazitäten und somit des Wachstumspotenzials auch Vorteile einbringen.26

23 Vgl. O’Brien, »Contributions of Warfare with Revolutionary and Napoleonic France«; Ormrod, Rise of Commercial Empires; Ashworth, Customs and Excise. 24 O’Brien, »Contributions of Warfare with Revolutionary and Napoleonic France«, ›Schluss‹. 25 Ashworth, Customs and Excise, 382, 379 und ders., »Revenue, Production and the Early Modern English/British Fiscal-State«. 26 Zu Lists Auffassungen: Bachinger/Matis, Entwicklungsdimensionen des Kapitalismus, Kap. 3.1.

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Dass die meisten Briten noch bis in die ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts Merkantilisten waren und von der Regierung die Förderung der nationalen Wirtschaft erwarteten, ist eine bemerkenswerte Tatsache, die man nicht einfach übergehen kann. Definiert man Merkantilismus als eine Form von Wirtschaftsnationalismus, die die Macht der Nation mit der ökonomischen Stärke des Staates verbindet, dann war die britische Regierungspolitik nahezu durchgängig merkantilistisch. Dass Reichtum von Macht abhing und umgekehrt, war für jedermann offensichtlich. Alle politisch Verantwortlichen in der Periode 1650–1750 waren der Ansicht, dass Englands Reichtum ohne die Stärke zur Verteidigung des Handels und des Landes, seine Verteidigungsstärke wiederum ohne Handel und Reichtum nicht lange währen würde.27 Sogar Smith meinte, in der politischen Ökonomie gehe es um Reichtum und Macht des Staates, und auch er befürwortete die Navigationsakte.28 In den Jahrzehnten nach Erscheinen seines Magnum Opus blieb die Situation unverändert. In einem Memorandum für die königlichen Minister vom 31. März 1800 heißt es: »Es ist offenkundig, dass sich die gegenwärtige Stärke und Vorherrschaft dieses Landes den Mitteln verdanken, die ihm aus dem Handel und seiner Seestreitmacht erwachsen, und beide sind untrennbar miteinander verbunden.«29 Praktisch jeder, der in der Außen- und Wirtschaftspolitik etwas zu sagen hatte, hätte dem zugestimmt. Zumindest dem Gedanken nach war das Empire ein kommerzielles und kein territoriales Unternehmen. Dass es in Wirklichkeit eine Tendenz zur territorialen Expansion hatte, ging auf Entscheidungen zurück, die an seinen Rändern getroffen wurden. Daniel A. Baugh bringt es auf den Punkt: Das ›Empire‹, das diesen Zwecken dienen sollte, lässt sich am ehesten als ein ›maritim-imperiales System‹ verstehen, denn sein Wert wurde nicht in Territorien und Dominions, sondern im Seehandel gesehen. Aus der Perspektive der ›Politik der See‹ war der Besitz von Kolonien vorteilhaft, weil sie Exportgüter produzierten und Absatzmärkte für englische Waren boten, was beides den Handel förderte; sie dienten dem Schutz und der Aufrechterhaltung ausländischer Marinestützpunkte und sie trugen dazu bei, die Zahl der Schiffe

27 Baugh, »Maritime Strength and Atlantic Commerce«, 188. 28 Die Navigationsakte war laut Smith »dem Außenhandel oder der Steigerung des Wohlstandes, den dieser schaffen kann, nicht förderlich«. Dennoch schienen ihm die Bestimmungen »so weise, als wären sie alle von gründlichst erwogener Einsicht diktiert«, wofür er folgenden Grund nannte: »Da aber die Landesverteidigung viel wichtiger ist als der Wohlstand, ist die Navigationsakte doch vielleicht die weiseste aller handelsrechtlichen Maßnahmen Englands.« (Reichtum der Völker, 474–475) Man beachte auch, dass Smith im Titel seines Buchs explizit von Völkern beziehungsweise Nationen spricht. 29 Zit. n. O’Brien/Engerman, »Exports and the Growth of the British Economy«, 177. Verfasser des Memorandums war Henry Dundas, Vorsitzender der Kontrollbehörde der EIC.

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und Seemänner unter englischer Herrschaft zu vergrößern. Jenseits dessen mussten Kolonien aus politischer Perspektive als eine potenzielle Last gesehen werden.30

Die Kosten von Kriegen und Protektionismus mögen enorm gewesen sein, aus Sicht des Parlaments lohnten sie sich aber offenbar: Von dem Vetorecht, das ihm laut Verfassung bei Kriegsausgaben zustand, machte es nie Gebrauch.31 David Robinson, ein politischer Kommentator, warnte 1825 vor den Gefahren (!) der Freihandelspolitik, die eine Katastrophe für Großbritannien sei: Die größten Fortschritte erzielten unsere Manufakturen, wenn sie solcher (ausländischen) Konkurrenz am wenigsten ausgesetzt waren. Unsere Baumwollmanufakturen brachten die größte Vielfalt an Artikeln hervor und erreichten die stärksten Preissenkungen, als solche Konkurrenz vollkommen unbekannt war. Unsere Eisengüter und einige andere Erzeugnisse, die noch vor wenigen Jahren von deutlich minderer Qualität als die anderer Länder waren, konnten in gänzlicher Abwesenheit von Konkurrenz auf ein allen Teilen der Welt ebenbürtiges und mitunter höheres Niveau gebracht werden. Unter einem System, das solche Konkurrenz gezielt vermied, das den Ausländer eifersüchtig von unserem heimischen Markt fernhielt, haben wir in der Produktion allen Nationen den Rang abgelaufen […] und uns zur führenden Industrienation der Welt gemacht.32

Unter Merkantilismus sollte man nicht einfach eine zwanghafte Fixierung auf Edelmetalle und Handelsbilanzen verstehen, sondern ein viel breiteres Bündel an Maßnahmen, deren gemeinsamer Kern in dem Ziel besteht, die nationale Wirtschaft – vor allem im Interesse des Staates – zu fördern.33 Wie sich die Vor- und Nachteile der Staatenkonkurrenz und ihrer spezifischen Austragung in Europa gegeneinander abwägen lassen, scheint mir ein insofern unlösbares Problem zu sein, als sie ein Motor wirtschaftlicher Entwicklung und Innovation in der damals gegebenen Welt war, zu der uns der Vergleichsmaßstab der Alternativen in einer friedlichen Welt des freien und fairen Wettbewerbs fehlt. Die Rolle von Zwang und massiver Gewalt in der europäischen Geschichte hat manche Wissenschaftler derart fasziniert, dass sie einen positiven Zusammenhang zur wirtschaftlichen Entwicklung gesehen haben. Zu nennen sind hier etwa Werner Sombart (1863–1941), der sich ausgiebig mit der engen Beziehung zwischen Krieg und Kapitalismus befasste, John Nef (1899–1988), der über Krieg und menschlichen Fortschritt 30 Baugh, »Maritime Strength and Atlantic Commerce«, 186. 31 Allen, Global Economic History, 28. 32 Zit. n. Ashworth, Customs and Excise, 374–375. 33 Allgemeine Darstellungen des Merkantilismus, die seine Orientierung auf Produktion und Wettbewerb herausarbeiten und zudem umfangreiche Literaturhinweise bieten, sind Magnusson, Mercantilism; ders., Mercantilism. Critical Concepts in the History of Economics, sowie Publikationen von Reinert (vgl. Anm. 1, S. 403 und 24, S. 97). Zu Großbritannien verweise ich auf die Titel in Anm. 23, S. 396 sowie The William and Mary Quarterly 69 (2012) 1, 3–70.

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schrieb, oder Frederic Lane (1900–1984), der dem Zusammenhang zwischen Krieg, organisierter Gewalt, Protektionismus und wirtschaftlicher Entwicklung nachging.34 Mit der Rolle des Militärs für die wirtschaftliche Entwicklung und Industrialisierung befassten sich auch der Begründer der Weltgeschichte William H. McNeill in seinem Buch The Pursuit of Power35 sowie später Linda Weiss und John Hobson, laut denen Europa von ständiger Konkurrenz bis hin zu Krieg vorangetrieben wurde, während Chinas mangelnder »Wille zur Entwicklung« vor allem in der Abwesenheit von Krieg gründete.36 Der spanische Historiker Rafael Torres Sánchez wertet es als Fakt, dass »die Europäer nicht aufgrund längerer Friedenszeiten und trotz Krieg, sondern mit ihm wachsen konnten«.37 Das ist eine interessante, ja provokante These, wenn wir den Befund der Debatte zuliebe als zutreffend werten – was sich nicht von selbst versteht, denn wenigstens das 19. Jahrhundert war eine Periode mit vergleichsweise wenigen Kriegen in Europa. Dass Krieg unterschiedlichste Gewinne – Beute, Reparationen oder Eroberungen – abwirft, dass ein Land durch die Zerstörung der wirtschaftlichen Kraft und Lebensfähigkeit seiner Rivalen die eigene Konkurrenzposition verbessert und ein Krieg die Wirtschaft an die äußersten Grenzen ihres Potenzials treibt, ist ein naheliegender Gedanke. Aber natürlich sind auch die Nachteile und Kosten von Kriegen nur zu leicht nachzuweisen. Eine detaillierte, systematische Analyse der Auswirkungen von Vorbereitung, Führung und Folgen von Kriegen ist zweifellos eines der größten Desiderata der globalen Wirtschaftsgeschichte.38 Die potenziell für die Wirtschaft positiven Effekte eines Krieges – zumal wenn er auf fremdem Boden stattfindet und gewonnen wird –, lassen sich an der bemerkenswerten Tatsache ablesen, dass die US-Wirtschaft während des Zweiten Weltkrieges jährlich um fast 10 Prozent wuchs.39 Viele diesbezügliche Fragen scheinen jedoch weiter offen zu sein und werden vermutlich nie abschließend beantwortet werden. Um die heilsamen Effekte massiver Militärausgaben zu unterstreichen, hat Arrighi den Begriff des »militärischen Keynesianismus« eingeführt, definiert als »Praktik, durch die Militärausgaben das Einkommen der Bürger des Staats anzu34 Sombart, Krieg und Kapitalismus; Nef, War and Human Progress; Lane, Venice in History. 35 McNeill, Pursuit of Power, Stichwort »Industrial Revolution«. 36 Weiss/Hobson, States and Economic Development, Kap. 2–3, insbes. 60–61, 83–87. Die Autoren folgen hier Überlegungen von Crone, Pre-Industrial Societies, Teil 2. 37 Torres Sánchez, War, State and Development, Klappentext. 38 Wie eine solche Analyse aussehen könnte, hat Patrick O’Brien mit seiner Untersuchung darüber gezeigt, wie die Kriege gegen das revolutionäre und napoleonische Frankreich die britische industrielle Revolution gefestigt und vorangetrieben haben. O’Brien, »Contributions of Warfare«. 39 Milanovic, Haves and Have-Nots, 144.

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heben und dadurch die Steuereinnahmen und die Fähigkeit zur Finanzierung neuer Runden der Militärausgaben zu erhöhen«.40 Der Begriff scheint mir unglücklich gewählt zu sein. Keynesianismus bedeutet kreditfinanzierte Staatsausgaben. Insofern wäre es hilfreich gewesen, wenn sich Arrighi ausdrücklich und systematisch mit der staatlichen Kreditaufnahme befasst hätte. In meinem Verständnis ist Keynesianismus ein Mittel zur Bekämpfung mangelnder Nachfrage und Investitionen. Die Frage lautet daher, wie effektiv die britischen Militärausgaben in dieser Hinsicht waren. Um dies zu beurteilen, muss man zwischen den zu ihrer Finanzierung herangezogenen Einkünften differenzieren. Das Gros der regulären britischen Staatseinnahmen bestand aus Steuern, die im sehr langen 18. Jahrhundert durchgängig größtenteils auf Verbrauchssteuern und Zölle auf mehr oder weniger gewöhnliche Konsumgüter entfielen. Wie ein Geldtransfer von einfachen Verbrauchern an das Militär umfangreiche zusätzliche Einkünfte generieren soll, erschließt sich mir nicht. Ohne diese Steuern hätten die Verbraucher, zumindest die meisten von ihnen während des Großteils der Zeit, das entsprechende Geld mühelos anderweitig ausgegeben. Steuerzahlungen von Reichen zur Finanzierung des Militärs könnten der Wirtschaft – und letztlich dem Steueraufkommen – dagegen tatsächlich zugutegekommen sein, denn solches Geld wäre möglicherweise nicht anderweitig ausgegeben worden. Optimal ist der Effekt natürlich dann, wenn das Militär den gesamten Betrag in die britische Wirtschaft reinvestiert. In einem solchen Szenario können Steuern dazu beitragen, einem Mangel an Nachfrage und Investitionen entgegenzuwirken. Noch effektiver war die Mobilisierung andernfalls vielleicht brachliegenden Geldes wahrscheinlich auf dem Wege staatlicher Kreditaufnahme oder eines ausgiebigen direkten Gebrauchs der Notenpresse. Da Staatsanleihen gehandelt werden konnten, vergrößerten sie zugleich die Geldmenge. Nur in diesem Fall kann meines Erachtens tatsächlich von einem keynesianischen Effekt die Rede sein. Durch solche Maßnahmen kann Geld geschaffen und der Umfang von Investitionen und Verbrauch gesteigert werden. Dass dadurch ein starker keynesianischer Impuls zustande kam, lässt sich allerdings bezweifeln. Wer der Regierung Geld lieh, tat dies nicht umsonst, sondern wollte es verzinst zurückbekommen. Ein beträchtlicher Teil der Staatsausgaben entfiel daher stets auf den Schuldendienst. Zu diesem Zweck wurden vor allem allgemeine Verbrauchsteuern erhoben, die den Konsum drosselten. Staatsanleihen bedeuten somit im Grunde nur einen zeitlichen Aufschub von Steuern, die zweifelhafte Auswirkungen auf den Verbrauch haben,

40 Arrighi, Smith in Beijing, 334. Vgl. auch ders., Long Twentieth Century, Stichwort »Military Keynesianism«.

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und können in der Regel nur in einer wachsenden Wirtschaft zurückgezahlt werden.41 Wie immer sich die Staatsverschuldung auf unterschiedliche frühneuzeitliche Ökonomien insgesamt ausgewirkt haben mag, auffällig ist, dass kaum jemand sie damals, als positive, gewissermaßen keynesiamische Maßnahme gegen Investitionsmangel und Unterkonsumtion sah. In Großbritannien galt sie überwiegend als notwendiges Übel. Smith etwa sprach von einem »verderblichen System«. David Hume meinte: »Die Nation muss entweder den Staatskredit zerstören oder der Staatskredit zerstört die Nation.« Beide hielten die Staatsverschuldung für schädlich – zumal in der Höhe, die sie in Großbritannien erreicht hatte.42 Isaac de Pinto (1717–1787), ein niederländisch-jüdischer Gelehrter und Anteilseigner der niederländischen VOC, war in dieser Hinsicht eine klare Ausnahme. Er erklärte: »Die Inlandsausgaben eines Monarchen, oder des Staates fließen in die Nation zurück, fördern und verbessern sie. Die Nation als Ganze zahlt diese Ausgaben, genauer: Sie verleiht das Geld zu ihrem eigenen Vorteil.« Kredite, so fügte er hinzu, könnten »zusammen mit den Schulden auch den […] Reichtum und die Zirkulation steigern«.43 Der Schriftsteller Samuel Taylor Coleridge (1772–1834) schrieb 1809 in einem Essay über »die gemeinen Irrtümer, die Steuern und Besteuerung betreffend«, die Staatsschuld habe in jenem Jahr als Wachstumsmotor der Nationalökonomie gewirkt.44 Der erste bedeutende Ökonom, der ein ausführliches Loblied auf die Staatsverschuldung anstimmte, war jedoch Friedrich List. »Das Staatskreditsystem«, so List, sei eine »der schönsten Schöpfungen der neueren Staatskunst und ein Segen für die Nationen.«45 Marx maß der Staatsschuld große Bedeutung für die Entwicklung des Kapitals bei: Die öffentliche Schuld wird einer der energischsten Hebel der ursprünglichen Akkumulation. Wie mit dem Schlag der Wünschelrute begabt sie das unproduktive Geld mit Zeugungskraft und verwandelt es so in Kapital […] Die Staatsgläubiger geben in Wirklichkeit nichts, denn die geliehene Summe wird in öffentlich leicht übertragbare Schuldscheine verwandelt, die in ihren Händen fortfungieren, ganz als wären sie ebenso viel Bargeld.46

41 Bonney, »Introduction«, 14–15. Ein großer Teil der Staatsschulden wurde indes nie abbezahlt, wodurch die zirkulierende Geldmenge weiterhin eine »vergrößerte« blieb. 42 Die Zitate von Smith und Hume sowie anderer Kommentatoren finden sich in Hoppit, »Checking the Leviathan«, und Rothschild, »The English Kopf«, 39. Zu Debatten über die Staatsschuld im Großbritannien des 18. Jahrhunderts, insbesondere zu Humes Auffassungen: Hont, Jealousy of Trade, Kap. 4. 43 de Pinto, Essay on Circulation and Credit, 20–21. 44 Zit. n. »A Debt to Coleridge«, The Economist, 19. 5. 2012, 19. Coleridges Essay ist inzwischen in dem Google eBook The Friend. A Series of Essays, London 1812 verfügbar. 45 List, Das nationale System der politischen Ökonomie, 265. 46 Marx, MEW, Bd. 23, 782–783.

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Insgesamt scheint mir der Begriff des Militärkeynesianismus, der einen sich selbst verstärkenden positiven Kreislauf in Gang setzen soll, zumindest im Kontext des frühneuzeitlichen Wachstums eher unterbestimmt zu sein. Wenn damit – wie offenbar mitunter bei Arrighi – gemeint ist, dass Militärausgaben hervorragende Investitionen zur Förderung des Handels und des Aufbaus des Empire gewesen seien, mag dies zwar stimmen, hat aber wenig mit Keynesianismus zu tun. Wenn überhaupt, dürften sich Beispiele für militärischen Keynesianismus weit eher in Westeuropa gefunden haben – in China, dem sämtliche Eigenschaften eines fiskal-militärischen Staates wie dem britischen fehlten, mit Sicherheit nicht. Die Debatte darüber, welche politischen Maßnahmen und welche Gestalt des Staates Wachstum am stärksten fördern, ist noch nicht abgeschlossen. Doch die Argumente dafür, dass Regierungen in jedem Fall mehr tun sollten, als den wirtschaftlichen Akteuren Anreize und gleiche Rahmenbedingungen zu bieten, und mehr noch die Belege dafür, dass erfolgreiche Staaten in der Vergangenheit auch tatsächlich weit mehr getan haben, setzen sich zunehmend durch. Ich zitiere Sophus Reinert: »Die historischen Beweise für eine britische Industrie- und Militärpolitik, die die langfristige Wirtschaftsentwicklung – wenngleich mit wesentlich komplexeren Mitteln als nur durch Schutzzölle zugunsten der einheimischen Industrie – erfolgreich förderte, sind so erdrückend, dass die Beweislast bei den neoklassischen Ökonomen liegt, deren Auffassungen dem widerspricht.«47

47 Reinert, Translating Empire, 7.

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War Großbritannien während der Industrialisierung ein Entwicklungsstaat?

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27. War Großbritannien während der Industrialisierung ein Entwicklungsstaat?

Unter Wirtschaftshistorikern und Ökonomen, die die wirtschaftliche Entwicklung über einen längeren Zeitraum eingehend studiert haben, setzt sich zunehmend das Konzept eines pro-aktiven entwicklungsfördernden Staats und folglich auch eine positivere Sichtweise merkantilistischer Strategien durch. Dagegen halten zahlreiche klassische Ökonomen und Neoinstitutionalisten, starken historischen Befunden zum Trotz, erstaunlicherweise an der Überzeugung fest, dass sich der Staat im Idealfall auf die Förderung des Marktes beschränkt. Zwei Theoretiker des »Entwicklungsstaats«, die über exzellente Kenntnisse der Wirtschaftsgeschichte verfügen, verdienen meiner Ansicht nach besondere Beachtung, zeigen sie doch, in welche Richtung sich die Forschung künftig bewegen sollte: Erik Reinert und Ha-joon Chang. Reinert sieht die Grundlage für den Aufstieg des Westens in seiner Vielfalt und einer ständigen Rivalität und Nachahmung unter den Staaten, die zu merkantilistischen Formen der Konkurrenz geführt habe. Dies wirkte sich ihm zufolge positiv aus. Er sieht den Merkantilismus als Basis jedes erfolgreichen Kapitalismus,1 sozusagen als »die Krücke, mit der der Kapitalismus laufen lernte« (Herbert Norman).2 Die Produktion von Primärgütern sei eine Sackgasse der Entwicklung und verhelfe Ländern aufgrund sinkender Erträge nicht zu Wohlstand. Weil die Merkantilisten dies verstanden hätten, betonten sie, dass man die »richtigen«, also keine einfachen Güter, sondern solche mit hoher Wertschöpfung produzieren und exportieren müsse. Sie wussten laut Reinert, dass sich Länder auf Produktion und Export von Gütern mit steigenden Erträgen konzentrieren und die Gleichheitsannahme aufgeben sollten, da eben nicht alle wirtschaftlichen Tätigkeiten qualitativ gleich seien: Eine Wirtschaft entwickle sich nur durch ständige Weiterentwicklung und Diversifizierung ihrer Produktion. Es erschien ihnen vollkommen rational, junge Industrien zu diesem Zweck zu schützen. Den Merkantilisten fehlte das Vertrauen auf komparative Vorteile, wie es klassische Ökonomen und Freihandelsverfechter empfehlen. Sie nahmen an, wenn 1 Reinert, »How Rich Nations Got Rich. Essays in the History of Economic Policy«, Working Paper 2004/01, Sum Centre for Development and Environment, University of Oslo 2004, 13. 2 Norman, Japan’s Emergence as a Modern State, 110.

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dies auf die Produktion von Primärgütern hinauslaufe, seien oftmals sinkende Erträge die Folge; außerdem biete sie kaum positive Verkettungs- oder Lerneffekte. Ebenso wussten sie Reinert zufolge, dass ein uneingeschränkter Wettbewerb die Gewinne – und folglich die Akkumulation – gewöhnlich begrenzt und werteten Monopole daher nicht zwangsläufig als entwicklungshemmend. Mit teils anderer Akzentsetzung und insgesamt weniger vehement hat auch der südkoreanische Ökonom Ha-joon Chang zu zeigen versucht, dass die Behauptungen der vorherrschenden Wirtschaftslehre und des Washington Consensus über Wirtschaftswachstum und die diesbezügliche Rolle des Staates nicht mit der historischen Bilanz übereinstimmen und dies auch nicht können. In seinem bekanntesten und in unserem Kontext relevantesten Buch Kicking Away the Ladder hat er überzeugend nachgewiesen, dass Länder dann zu Reichtum gelangten, wenn sich ihre Regierungen nicht auf die Herstellung gleicher Rahmenbedingungen und eines Systems von Anreizen beschränkten, sondern die Wirtschaft durch gezielte Eingriffe in eine bestimmte Richtung zu lenken versuchten. Aus Changs zahlreichen Beispielen lässt sich schlussfolgern, dass kein einziges bedeutendes Land reich wurde, indem es den Ratschlägen von Adam Smith, (neo-)klassischen Ökonomen oder Institutionalisten wie North oder Acemoglu und ihren Koautoren folgte. Alle reichen Industrieländer entwickelten ihre Wirtschaften hinter Zollmauern und schützten ihre junge Industrie, weshalb es ungerecht wäre, wenn sie anderen Ländern jene »Leiter« des Protektionismus verweigern, die sie selbst in der Regel erst auf einem bestimmten Wohlstandsniveau wegstießen. Praktisch alle heute entwickelten Länder, so Chang, »ergriffen Maßnahmen zum Schutz ihrer jungen Industrien«, und er fügt hinzu: »Es waren bemerkenswerterweise das Vereinigte Königreich und die USA, die vermeintlichen Heimstätten der Freihandelspolitik, die die protektionistische Zollpolitik am aggressivsten betrieben.«3 Kein bedeutendes Land wurde je durch bloßes Vertrauen auf den Markt, komparative Vorteile oder exportgetriebenes Wachstum reich. In einer hochproduktiven, entwickelten Wirtschaft wie dem damaligen Großbritannien mögen Smiths Ideen Sinn ergeben haben, und selbst dort wurden sie erst viele Jahrzehnte nach ihrer Formulierung vollständig umgesetzt – in einem armen Land bewirken sie mehr Schaden als Nutzen. Viele Institutionen, die von der vorherrschenden Institutionenökonomie als notwendige Wachstumsbedingungen betrachtet wurden, entstanden zudem in Wirklichkeit erst, als die Wirtschaft bereits wuchs und ein gewisser Wohlstand existierte; kurz: Sie waren häufig eher Folge oder Symptom als Ursache.4 3 Chang, Kicking away the Ladder, 59. 4 Ebd., Kap. 3.

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War Großbritannien während der Industrialisierung ein Entwicklungsstaat?

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Eine Analyse des merkantilistischen Großbritannien als Entwicklungsstaat wäre sicherlich aufschlussreich. So war das Land bis zum Ende des langen 18. Jahrhunderts gewiss kein Entwicklungsstaat in dem Sinne, dass die Regierung viel Geld dafür ausgegeben hätte, etwas zu »entwickeln«. Patrick Colquhouns Schätzungen von 1814 implizieren, dass während der langen Herrschaftszeit von George III. nur 0,5 Prozent der gesamten Staatseinnahmen auf Ziele verwendet wurden, die man heute vielleicht als Entwicklung definieren würde.5 Ebenso wenig gab es einen Generalplan, den eine Art britisches MITI entwickelt hätte.6 Vieles war Improvisation und Glück und die meisten Regierungsmaßnahmen dienten weniger der Entwicklung der Wirtschaft als der Stärkung des Staates. Doch wie sich zeigt, ist ein starker Staat eine notwendige Voraussetzung jeglicher effektiver Wirtschaftspolitik und ökonomischer Entwicklung. Da diese Behauptung oft dahingehend missverstanden wird, dass ein starker Staat zwangsläufig schwache Einwohner impliziere, empfiehlt es sich, im Anschluss an Linda Weiss und John Hobson zwischen verschiedenen Dimensionen staatlicher Macht zu differenzieren.7 Wesentlich ist ihre Unterscheidung zwischen »despotischer Macht« einerseits, »infrastruktureller« oder »organischer Macht« andererseits. Diese Unterscheidungen stammen nicht von ihnen: Eingeführt wurden sie von Michael Mann, der die Begriffe infrastruktureller und despotischer Macht verwendet, und von John Hall, der von »organischer« staatlicher Macht spricht.8 Despotische Macht bezeichnet jene Maßnahmen, die die Herrschenden ergreifen können, ohne sich auf eingespielte, institutionalisierte Aushandlungsprozesse mit Gruppen der Zivilgesellschaft einlassen zu müssen – im Grunde also das Ausmaß, in dem Herrscher mit ihren Untertanen willkürlich verfahren können. Davon zu unterscheiden ist die infrastrukturelle oder organische Macht, die sich als das Vermögen der Herrschenden definieren lässt, die Zivilgesellschaft zu durchdringen und politische Entscheidungen auf ihrem Territorium auch logistisch umzusetzen, was natürlich umfangreiches Wissen auf Seiten des Staates impliziert. Diese zwei Arten von Macht unterscheiden sich deutlich und stehen meist in umgekehrtem Verhältnis zueinander: Staaten mit ausgeprägter despotischer Macht waren in der Regel infrastrukturell schwach und umgekehrt.9 Nur ein infrastrukturell oder organisch starker Staat kann seine politischen Entscheidungen auch implementieren und so die Wirtschaft verändern. Dies 5 O’Brien, »Political Preconditions for the Industrial Revolution«, 128. 6 MITI ist die Abkürzung für das japanische Ministerium für Internationalen Handel und Industrie. 7 Weiss/Hobson, States and Economic Development, 6–8. 8 Mann, »Autonomous Power of the State«; ders., Geschichte der Macht, Bd. 1 u. 2., passim; Hall, Powers and Liberties, 133–144. 9 Mann, »Autonomous Power of the State«.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

war in Großbritannien der Fall, wo der Staat keine von der Gesellschaft getrennte, ihr gleichsam gegenüberstehende Kraft, sondern eindeutig in sie eingebettet war und Aushandlungsprozesse zwischen beiden stattfanden. Sehr wichtig muss in dieser Hinsicht die Existenz eines Parlaments gewesen sein, das allen einflussreichen Personen des Landes einen institutionellen Rahmen für solche Aushandlungsprozesse bot, deren Ergebnisse grundsätzlich von allen als bindend betrachtet wurden. Dies stellte einen erheblichen Vorteil gegenüber der Situation in China dar, wo dem Staat selbst dann, wenn er gemessen an seinen Ansprüchen gut funktionierte – was ab 1780 kaum noch der Fall war –, eine gesellschaftliche Einbettung fehlte und die von den Herrschenden verkündeten Maßnahmen nicht immer breite Unterstützung fanden. Institutionen in infrastrukturell starken Staaten sind nicht nur legitimiert, sondern auch flexibel und anpassungsfähig. Im britischen Fall ließe sich gewissermaßen als Beweis dafür die Tatsache anführen, dass der Staat dank einer Kombination von Unterdrückung und Flexibilität nicht unter der enormen Belastung durch Krieg und Industrialisierung zusammenbrach. Diese Flexibilität, die sich während des Prozesses von Industrialisierung und wirtschaftlicher Modernisierung als sehr wichtig erwies, bedeutete indes nie, dass die Regierung diesen Prozess beenden wollte oder ihn ablehnte. Wie wichtig der Staat für den Wohlstand tatsächlich geworden ist und dass sich seine Maßnahmen nicht auf die Förderung des Marktes beschränken, zeigt Tabelle 25, S. 148. Die dort aufgeführten Länder zählen ausnahmslos seit Jahrzehnten zu den reichsten der Welt. Entgegen den Behauptungen klassischer Ökonomen ist der Anteil des Staates am BIP in allen Fällen sehr hoch – offenbar sind umfangreiche Staatstätigkeit und Wohlstand durchaus vereinbar und tut der Staat in reichen Wirtschaften weit mehr, als nur den Markt zu fördern.

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Das europäische Staatensystem und die Entwicklung der Zivilgesellschaft

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28. Das europäische Staatensystem und die Entwicklung der Zivilgesellschaft: Zur Nicht-Monopolisierung der Quellen gesellschaftlicher Macht Bisher haben wir den Staat als die Institution der Institutionen und seine (mögliche) Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung erörtert. Im Falle Europas lassen sich seine Entstehung und Entwicklung jedoch nicht isoliert betrachten: Mehr als irgendwo sonst auf der Welt bestand zwischen den europäischen Staaten eine systematische Interaktion. Europas Dynamik seit dem Hochmittelalter wird so häufig damit erklärt, dass es kein Reich, sondern ein von starker Konkurrenz geprägtes Staatensystem war – ein »führerloser Verbund«, wie Michael Mann formuliert hat –, dass man beinahe von einem Gemeinplatz sprechen kann.1 David Landes zufolge »stellten der Untergang Roms und der ihm folgende Zustand der Schwäche und Zersplitterung für Europa einen großen Glücksfall dar«.2 Das Verhalten der diesem führerlosen Verbund angehörenden Staaten kann weitgehend durch die Konkurrenz zwischen ihnen erklärt werden, die vor allem in ihrer gewaltsamsten und radikalsten Form – als Krieg – starken Einfluss auf die Staatenbildung hatte.3 Welche Bedeutung sie auch für das ökonomische Wachstum gehabt haben mag, sie wurde unzweifelhaft eine maßgebliche Triebkraft der Entwicklung. Das Staatensystem zeichnete sich jedoch nicht nur durch Konkurrenz zwischen Staaten aus; die Parzellierung der Souveränität existierte nicht nur auf der obersten Ebene. Wie Mann gut gezeigt hat, wurden die – politischen, weltanschaulichen, wirtschaftlichen und militärischen – Quellen gesellschaftlicher Macht in den von einer feudalen Hinterlassenschaft geprägten Regionen Westeuropas während des Mittelalters und der frühen Neuzeit nie mehr von einem Staat monopolisiert, der nicht in irgendeiner Weise institutionellen Einschränkungen unterlegen hätte.4 Die Herrschenden in Westeuropa mussten stets Übereinkünfte mit der Bevölkerung finden. Solche Aushandlungsprozesse führten zu einer Situation, die schließlich Nationen hervorbrachte, in denen sich alle vier Quellen gesellschaftlicher Macht miteinander verbanden – und eben dies verlieh den westeuropäischen Nationen 1 Mann, Geschichte der Macht, Bd. 1, 397. 2 Landes, Wohlstand und Armut, 53. 3 Vgl. dazu Tilly, Coercion, Capital and European States. Eine sehr interessante Studie, die Tillys Logik an ihre Grenzen treibt, ist Porter, War and the Rise of the State. 4 Mann, Geschichte der Macht, Bd. 1 u. 2.

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ihre enorme Kraft.5 Nicht nur zwischen, auch innerhalb von Staaten herrschte Konkurrenz. Dies versetzte die Bevölkerung in eine Lage, in der sie Wahl- und Einspruchsmöglichkeiten hatten und unterschiedlichste Freiheiten, Privilegien und somit Schutz erlangen konnten, die natürlich in letzter Instanz ebenfalls vom Staat abhingen.6 Das ständige Zusammenspiel von (ziviler) Gesellschaft und Regierung gilt als eine Quelle der infrastrukturellen Stärke westlicher Staaten. Wie wichtig dabei die Existenz von »inklusiven Institutionen« und »Vertrauen« war, haben namentlich Acemoglu, Robinson und Putnam in ihren Analysen der Ursprünge von Wachstum und Entwicklung betont. In vielen Publikationen über den Sonderweg Europas wird nicht nur seine besonders starke Zivilgesellschaft hervorgehoben, sondern der europäischen Gesellschaft auch ein sehr »offener« und »durchlässiger« Charakter zugeschrieben. Das ist – meines Erachtens zurecht – nicht unwidersprochen geblieben, denn eine solche Behauptung ist zu einseitig und positiv.7 Braudels These, zumindest der westliche Kapitalismus – der gewöhnlich als Hauptmotor des Wirtschaftswachstums gilt – habe gerade deshalb aufblühen können, weil die westliche Gesellschaft in gewissem Sinn weniger offen und durchlässig als andere Zivilisationen einschließlich der chinesischen gewesen sei, halte ich für vollkommen zutreffend. In Studien über die »Einzigartigkeit« der westlichen Gesellschaften stehen zu oft ausschließlich Konzepte wie »Rechte« und »Schutz« im Vordergrund. Ausgeblendet wird dabei zumeist, dass die Rechte und der Schutz, die bestimmte Personen oder Gruppen beanspruchten, durchaus negative Implikationen für andere Personen und Gruppen haben konnten – so etwa unterschiedlichste Privilegien, die den Nicht-Privilegierten naturgemäß Rechte und Schutz vorenthielten. All dies gilt fraglos auch für das frühneuzeitliche Großbritannien, dessen gesellschaftliches Umfeld den Kapitalisten eine unablässige Akkumulation nicht nur erlaubte, sondern ihnen dabei oftmals auch Schutz, Förderung und Hilfe bot. Die Reichen und die Mächtigen gingen häufig Bündnisse ein. Wir sind gut beraten, den Anteil von Privilegien, Protektion, Ausschluss, Hierarchien und Manipulation am Aufstieg des Westens stärker zu berücksichtigen und uns weniger der Ideologie zu überlassen, seine Ursache seien Gleichheit und gleiche Rechte, Schutz und soziale Mobilität für alle sowie Freiheit und fairer Wettbewerb gewesen.8 Auch hier sollte man sich vor starken Verallgemeinerungen hüten, die Kontexte und Größenordnungen ausblenden. 5 Ebd., Bd. 2. 6 Hirschman, Abwanderung und Widerspruch. 7 Für diese Tendenz stehen bspw. diverse Publikationen von Ernest Gellner, John A. Hall, Alan Macfarlane und Michael Mann über den Aufstieg des Westens. 8 Vgl. dazu Braudel, »Origines sociales du capitalisme«; ders., Dynamique du capitalisme.

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Das europäische Staatensystem und die Entwicklung der Zivilgesellschaft

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In Verbindung mit einem allgemeinen Klima der Konkurrenz förderte diese spezifische Stellung der westeuropäischen Bevölkerungen zweifellos die Dynamik. Die infrastrukturelle Stärke und aktive Wirtschaftspolitik westlicher Staaten wäre ohne die Konkurrenz zwischen und innerhalb von Staaten undenkbar gewesen, so wie der Aufstieg des Westens zu Macht und zu Reichtum meines Erachtens ohne die Präsenz solcher starken Staaten unmöglich gewesen wäre. Angesichts der Tatsache, dass sich viele Fälle institutionellen, organisatorischen, technischen und wissenschaftlichen Fortschritts direkt oder indirekt auf Europas Grundstruktur der Konkurrenz zurückführen lassen, würde auch ich in dieser Struktur, zusammen mit dem Aufstieg von Wissenschaft und Technik, insoweit er ein eigenständiger Faktor war, die letztgültige Erklärung für den Aufstieg des Westens sehen – sofern eine solche Kategorie denn sinnvoll ist, was sich natürlich ernsthaft bezweifeln lässt. Die Tatsache, dass Europa ein von Konkurrenz geprägtes Staatensystem bildete, dessen westlicher Teil nicht von despotischen Kaisern oder auch nur Herrschern regiert wurde, brachte natürlich auch immense Kosten und Nachteile mit sich. Für den, der sie sehen wollte, waren sie offensichtlich. Wie sehr die politische Konkurrenz auch dazu beigetragen haben mag, eine bestimmte Produktion, Konsumtion und Innovation zu stimulieren und Gesellschaften bis an ihre Grenzen zu treiben – und ihnen so vor Augen zu führen, wo diese Grenzen lagen –, ihre spezifischen Formen in Europa, nämlich Merkantilismus und Krieg, würde kein zurechnungsfähiger Ökonom als ein insgesamt wirtschaftlich rationales Verhalten betrachten. Letztendlich förderten sie meiner Ansicht nach Entwicklung und Wachstum, und ob sich die ökonomische Entwicklung ohne sie schneller vollzogen hätte, werden wir nie wirklich wissen. Was wir dagegen wissen, ist, dass Gesellschaften in dem Maße ein Take-off erschwert wurde, wie ihnen jene den Westen kennzeichnende, institutionell koordinierte Verbindung der unsichtbaren und der sichtbaren Hand der Konkurrenz fehlte. Die Konkurrenz und die unterschiedlichen Varianten ihrer Institutionalisierung waren meines Erachtens für den Aufstieg des Westens letztendlich von fundamentaler Bedeutung, doch ihre wirtschaftliche Gesamtauswirkung auf sämtliche konkurrierende Parteien vollzog sich weitgehend indirekt und war nahezu ein unbeabsichtigter Nebeneffekt. Wong und Rosenthal beobachten meiner Ansicht nach treffend, dass der Nutzen der Kriegführung – und wie ich hinzufügen würde: des Merkantilismus, also des normalen Modus’ internationaler Wirtschaftskonkurrenz – tatsächlich »indirekt, zufällig und mit immensen Kosten verbunden« war und selbst die aus der politischen Fragmentierung erwachsenden Vorteile »unbeabsichtigt, ja unvorhergesehen« waren.9 9 Rosenthal/Wong, Before and Beyond Divergence, 126, 5.

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29. Kultur und Wachstum: Die kulturelle Einzigartigkeit des Westens – ob und wie sie sich messen lässt

In der Literatur über Wirtschaftswachstum stößt man in der Regel auf zweierlei kulturelle Erklärungsmuster für Reichstumsunterschiede: Das eine bezieht sich auf sehr generelle, allumfassende Eigenschaften, die eine Kultur als Ganze kennzeichnen sollen, das andere auf ganz bestimmte kulturelle Eigenschaften und ein ganz bestimmtes, konkretes Verhalten. Dieselbe Dichotomie findet sich in der Literatur über die Great Divergence. Da der problematische Charakter der zweiten Argumentationsstrategie bereits in Teil I, Kapitel 9 aufgezeigt wurde, beginne ich mit einigen Bemerkungen zur ersten Strategie im Kontext der Great-Divergence-Debatte und werde sie hier auch ausführlicher behandeln. Wie jedem kritischen Leser sogleich auffällt, mögen die »tiefen« kulturellen Erklärungen schlussendlich zwar in der Tat die »letztgültigen« Schlüssel zur Erklärung des jeweiligen Phänomens bieten, ihre Tiefe ist jedoch nur um den Preis einer erheblichen Einbuße an konkreter Erklärungskraft zu haben. Sie mögen grundlegend sein, bleiben aus eben diesem Grund aber meist sehr unbefriedigend, wenn es die genauen Ursachen der Great Divergence, wie sie an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt auftrat, zu fassen gilt. Illustrieren wir dies erneut beispielhaft durch einen Vergleich Chinas mit Großbritannien oder in diesem Fall mit dem Westen im Allgemeinen. Joseph Needham, der vermutlich stärker als jeder andere Forscher seine Leser von der »Genialität Chinas« zu überzeugen versuchte, stellte die chinesische Kultur als eine Art Gegenpol zur Kultur Europas dar. Während der Westen aus seiner Sicht von Natur aus einer permanenten Instabilität, einer schizophrenen, schöpferischen Spannung unterworfen war, tendierte China stets zu einem homöostatischen Gleichgewicht. Der Westen zeichnete sich laut Needham durch eine Mentalität der Dominanz, ja gewissermaßen eine faustische Seele aus, die sich in der Ausbeutung der Natur, Vorstellungen von kultureller Überlegenheit, politischer Konfrontation mit anderen sowie einem unstillbaren Drang zum Krieg ausdrückte; China dagegen bevorzugte die Kooperation. Das westliche Denken sei »maskuliner«, das heißt strenger und auf Gewissheit ausgerichtet gewesen, während China eher feminine Eigenschaften wie Gleichheit und Anpassungsfähigkeit verkörpert habe; es sei ein eher mechanisches, das chinesische dagegen ein eher organi-

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sches Denken gewesen.1 Im Anschluss an chinesische Forscher behauptete er auch, die Wissenschaft Chinas sei vorwiegend praktisch, die westliche Wissenschaft vorwiegend theoretisch ausgerichtet.2 Vielleicht lag Needham richtig mit diesen gegensätzlichen Charakterisierungen, die in faszinierender Weise zeigen, dass der Verteidiger der chinesischen Kultur par excellence letztlich genau denselben Gegensatz diagnostizierte wie Max Weber, angeblich der Eurozentrist par excellence. So schrieb Weber: »Der konfuzianische Rationalismus bedeutete rationale Anpassung an die Welt. Der puritanische Rationalismus: rationale Beherrschung der Welt.«3 Diese rationale Beherrschung der Welt resultierte aus der Erfindung der modernen Wissenschaft und ihren vielfältigen technischen Anwendungen, die ebenfalls insofern mit einer bestimmten westlichen Rastlosigkeit zusammenhängen könnten, als sich das abendländische Denken auf jüdisch-christliche und klassische Gedanken und Argumentationsweisen gründete, die in vieler Hinsicht unvereinbar waren und sich mit zunehmenden Kontakten mit anderen Welten und Weltanschauungen immer schwieriger aufrechterhalten ließen. Aus dieser Situation entstanden ein prinzipieller Skeptizismus und die Suche nach neuen Grundlagen gesicherten Wissens. Die Besonderheit Europas bestand in dieser Hinsicht darin, dass es mit einer ständigen epistemischen Ungewissheit, mit fortwährenden epistemischen Herausforderungen konfrontiert war. Auch in dieser Beziehung ruhte Europa nie in sich.4 Doch wie bei allen umfassenden kulturellen Gegensätzen und Erklärungen lautet die entscheidende Frage natürlich auch hier: Was genau bedeutet all das für eine konkrete, also historische Erklärung der Great Divergence? Die von Needham so nachdrücklich betonte Rastlosigkeit Europas ist ein klassischer Topos. Bereits William McNeill, der Begründer der modernen Weltgeschichte, erkannte darin das Wesen Europas und seine »wahrhaftige Einzigartigkeit«.5 Ricardo Duchesne widmet in seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel The Uniqueness of Western Civilization ein ganzes Kapitel der »Rastlosigkeit des abendländischen Geistes« und ein weiteres der »ständigen Schöpfungskraft der abendländischen Denkweise«.6 Selbst wenn 1 Kurz zusammengefasst wird diese Deutung Needhams von Finlay, »China, the West, and World History«. Zu seinem Verständnis westlicher und chinesischer Wissenschaft: Cohen, Scientific Revolution, 418–488. Einen sehr prägnanten Vergleich des westlichen und des chinesischen Denkens sowie eine Analyse der Ursachen dieser Gegensätze bietet Needham in The Grand Titration, 119–120. 2 Vgl. etwa Cohen, Scientific Revolution, 428, 439, 442, und Lin, bspw. »Needham Puzzle«. 3 Weber, Wirtschaftsethik der Weltreligionen, 476. 4 Vgl. zu dieser These das Buch von Dengjian Jing, das bei Princeton University Press in Vorbereitung ist. 5 Vgl. etwa McNeill, Rise of the West, 539. 6 Duchesne, Uniqueness of Western Civilization, Kap. 4 und 6.

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Charles Murray in seiner hochumstrittenen, aber faszinierenden und provokanten Geschichte der menschlichen Errungenschaften damit Recht haben sollte, dass herausragende Leistungen in Kunst und Wissenschaft gehäuft im Westen auftraten: Welche genauen Ursachen und Folgen hätte dies dann?7 Kaum eine Publikation über den Aufstieg des Westens versäumt es auf die Tatsache hinzuweisen, dass Westeuropa kein Reich, sondern ein dynamisches, von Konkurrenz beherrschtes Staatensystem mit einer dynamischen Kultur gewesen sei. Ein häufig erwähnter kultureller Faktor, der für die spezifische wirtschaftliche Entwicklung Westeuropas gewiss eine Rolle gespielt hat, war seine relative Offenheit für äußere Einflüsse, also die Bereitschaft, in anderen Zivilisationen nach Ideen und Praktiken zu suchen und sie sich zu eigen zu machen. Solche Offenheit fördert, wie viele Wissenschaftler bemerkt haben, Innovationen.8 Gemeint ist damit natürlich nicht jene allgemeine Haltung, die wir heute Toleranz und Respekt gegenüber dem Anderen nennen würden, sondern eine sehr pragmatische Einstellung, in der sich Information, Wissen und Macht zunehmend miteinander verbanden, wenn es sich das als nützlich Betrachtete anzueignen galt. Nirgends auf der Welt hatte interkontinentaler Austausch gleich welcher Art eine solche Bedeutung wie in Westeuropa, so wie auch nirgends auf der Welt eine solche Menge von Informationen über so zahlreiche Weltregionen gesammelt und ausgewertet wurde und derart viele Menschen der Überzeugung waren, solches Wissen sei Macht. Der italienische Dichter Tommaso Campanella (1568–1639) bemerkte bereits 1599 in seinem Werk La monarchia di Spagna: »Die Welt zu kennen, heißt sie bereits halb zu besitzen.«9 Was Headrick über das 19. Jahrhundert schreibt, gilt auch für frühere Perioden: »Die Europäer in allen Teilen der Welt waren besser über die Ereignisse auf anderen Kontinenten unterrichtet als die eingeborene Bevölkerung über ihre Nachbarn.«10 Der Umgang der Europäer insbesondere mit den Menschen in ihren Kolonien, aber auch mit anderen Fremden war von einem einzigartig starken Drang geprägt, sie zu erforschen, beherrschen und sich zunutze zu machen, der beispielsweise im Reich der Mitte, im Guten wie im Schlechten, beinahe gar nicht vorhanden war.11 Interkontinentaler Handel und Empire einerseits, der Aufstieg der Wissenschaft oder, vorsichtiger formuliert, die Anhäufung nützlichen und gesicherten Wissens über den Anderen andererseits,

7 Murray, Human Accomplishment. 8 Vgl. bspw. Anm. 41–43, S. 162 9 Zit. n. Gruzinski, Les quatre parties du monde, 157. 10 Headrick, Tools of Empire, 208. Auch in dieser Hinsicht bestand ein gewaltiger Unterschied zwischen dem frühneuzeitlichen Nordwesteuropa und dem China der Qing. 11 Vgl. zu diesem Drang Abernethy, Dynamics of Global Dominance, z.B. 39.

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waren eng verflochten.12 In westlichen Ländern besaßen solche Informationen nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht größte Bedeutung, und Regierungen wie Privatpersonen zeigten starkes Interesse daran, sie zu sammeln.13 Auch in dieser Beziehung hatte es bedeutsame Implikationen, dass Europa eine Einheit in der Vielfalt bildete: Es bestand aus zahlreichen eigenständigen, aber miteinander konkurrierenden Laboratorien, in denen Ideen entstehen, übernommen und geprüft werden konnten. Dies war ohne Frage ein Vorteil.14 Zugegeben: China umfasste Millionen konkurrierende Individuen und viele verschiedenen Regionen. So gesehen besteht kein Grund zu der Annahme, dass es per se weniger Dynamik erzeugt habe. Doch auch diese Millionen von Chinesen waren nicht »alles unter dem Himmel«. Als Han hatte die überwältigende Mehrheit von ihnen häufig dieselben Ideen und Interessen. Die Menschen im Qing-Reich lebten nicht in einer so vielfältigen Welt wie viele Europäer auf ihrem parzellierten kleinen Kontinent, der über zahlreiche überseeische Verbindungen und Kolonien verfügte. Entscheidend in dieser Hinsicht ist weniger die zahlenmäßige Größe von Gesellschaften, sondern ihre Vielfalt sowie der Charakter und die Leichtigkeit des Verkehrs in expandierenden Netzwerken.15 Dauerhafte oder zumindest recht statische kulturelle und systemische Eigenschaften können sicherlich zur Erklärung allmählich entstehender Reichtumsunterschiede beitragen, bieten meines Erachtens aber keine hinreichende Erklärung für die vergleichsweise plötzliche und weitreichende historische Veränderung, die wir Great Divergence nennen. In dieser Hinsicht scheint ein Ansatz wie der von Goldstone vielversprechend: Er weist darauf hin, wie unterschiedlich östliche und westliche Gesellschaften auf die großen revolutionären Erhebungen der frühen Neuzeit reagierten – während die Antwort im Osten meist konservativ ausfiel, ließ sie in Großbritannien ab 1688 ein Klima des Fortschritts und Wandels entstehen.16 Die Schwierigkeit, Veränderung durch etwas Statisches zu erklären, zeigt sich auch bei Bezügen auf das Christentum, genauer: das westliche Christentum als einem Grundzug des Westens und einer Quelle seiner außergewöhnlichen Geschichte, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Solche Bezüge sind traditionell verbreitet gewesen und werden, wenn auch weniger direkt, 12 Zum Zusammenhang von Wissen und Empire im frühneuzeitlichen Großbritannien, vgl. z.B. Drayton, Nature’s Government; ders., »Knowledge and Empire«. Zur Situation in den Niederlande, vgl. z.B. Cook, Matters of Exchange. 13 Vgl. Anm. 13, S. 249. 14 Mokyr, »Intellectual Origins of Modern Economic Growth«, 342. 15 Dudley, Mothers of Innovation. Vgl. auch ders., Information Revolutions. 16 Goldstone, Revolution and Rebellion, Kap. 5 und ders., »The Divergence of Cultures: Enlightenments and Conservatism in Europe and the Old World«, Working Paper no. 10–73, December 2010, Mercatus Center George Mason University.

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bis heute hergestellt. So weist Needham, um auf diesen faszinierenden Denker noch einmal zurückzukommen, der Vorstellung, dass die Natur wie eine Maschine nach Gesetzen funktioniere, grundlegende Bedeutung für die Entstehung des westlichen wissenschaftlichen Denkens zu. Sie ist ihm zufolge insofern westlichen, genauer: christlichen Ursprungs, als das Christentum einen himmlischen Gesetzgeber kennt: Gott schafft die Gesetze, denen alle Natur gehorcht. Da es eine solche Figur des Schöpfergotts im chinesischen Denken nicht gebe, mangele es diesem auch an Vertrauen in die Entschlüsselbarkeit der Naturgesetze.17 Deepak Lal zufolge war es »ein ›Paket‹ aus kosmologischen Glaubensvorstellungen, politischer Dezentralisierung und dem ›griechischen Geist der Wissbegierde‹«, das dem Westen ein prometheisches Wachstum einbrachte und seinen Aufstieg begründete: Die Geburtshelferin jenes prometheischen Wachstums war die christliche Kirche. Der von ihr unwillentlich beförderte Individualismus ist der einzigartige kosmologische Glaubensinhalt des Abendlands […] eine unbeabsichtigte Folge des Aneignungsdrangs der Kirche [der zu Individualismus und einer Umwälzung des Rechts führte, PV] […] Dass technische und wissenschaftliche Entwicklungen allein nicht ausreichten, um die industrielle Revolution hervorzubringen, zeigt deren Ausbleiben im China der Song, wo diese Voraussetzungen ebenfalls gegeben waren.18

Auch die Existenz eines spezifisch westeuropäischen Heirats- und Familienmusters, das einem individualistischen und marktorientierten Verhalten als förderlich gilt, ist auf das Christentum, genauer: die katholische Kirche zurückgeführt worden, die im 12. Jahrhundert das beidseitige freie Einvernehmen im kanonischen Recht zur Grundlage der Ehe erklärte. Das relativ hohe Heiratsalter der Europäer – oft gingen der Eheschließung einige Jahre Arbeit außerhalb der elterlichen Familie und die Gründung eines eigenen Haushalts voraus –, führte zudem zu einer verhältnismäßig gleichberechtigen Stellung der Ehepartner.19 Diese Charakteristika blieben im Kern auch dann bestehen, als sich die Situation unter anderem mit der Reformation änderte. Die Bedeutung rechtlicher Entwicklungen ist kaum zu überschätzen, doch wie weit sie Ursache oder Wirkung waren, ist naturgemäß schwer zu entscheiden.

17 Näher hierzu: Cohen, Scientific Revolution, 453–455. Needham behauptete übrigens ebenfalls, unter günstigeren Bedingungen hätten auch die Chinesen Wissenschaft und Technik entwickeln können: Clerks and Craftsmen, 82. 18 Lal, Unintended Consequences, 173–174. 19 Moor/van Zanden, »Girl Power«. Westeuropa wies bereits im Mittelalter »schwache« Familienstrukturen auf. Vgl. etwa Lynch, Individuals, Families and Communities. Zu den positiven Auswirkungen solcher Familienstrukturen auf die Entwicklung der Marktwirtschaft: De Vries, Industrious Revolution, 10–18.

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Was den Rekurs auf das Christentum noch problematischer macht, ihn oftmals jedes konkreten Inhalts beraubt, ist die Tatsache, dass in der westlichen Gesellschaft sehr vieles in der einen oder anderen Weise christlich ist und das Christentum je nach Zeit und Ort viele verschiedene Bedeutungen hatte – genannt seien nur die Unterschiede, ja deutlichen Gegensätze zwischen Katholizismus und Protestantismus. Goody, der die Vorstellung eines europäischen Sonderwegs entschieden ablehnt, wertet es gleichwohl als eine außergewöhnliche Entwicklung, dass die italienische Renaissance einen Übergang zum Säkularen in Europa institutionalisierte, der zu einem bleibenden Merkmal seiner geistigen Landschaft wurde. Um zu erklären, warum dies im Westen und nicht im Osten geschah, weist er der Rolle von Kaufleuten, die zur Verbreitung von Kenntnissen des Lesens, Schreibens und Rechnens beitrug, eine bedeutende Funktion zu.20 Im Grunde bedeutet dies, dass Goody, sofern er eine langfristige Erklärung für den Aufstieg des Westens überhaupt akzeptiert, diese nicht im Christentum, sondern gerade in seiner Zurückdrängung sieht. Viele Forscher haben die These vertreten, die Moderne habe mit der Renaissance oder der Reformation begonnen und sei vom Katholizismus bekämpft worden; Thomas Woods behauptet in How the Catholic Church Built Western Civilization das exakte Gegenteil.21 Rodney Starks These, das Christentum sei die Verkörperung der Vernunft und der Ursprung von Freiheit, Kapitalismus und westlichem Erfolg, wird gewiss auf Vorbehalte stoßen, besonders bei den vielen Wissenschaftlern, die das Wesen des westlichen Sonderwegs und der Moderne gerade in der Aufklärung sehen.22 Historische Soziologen wie Michael Mann und John Hall wiederum nehmen einen stärker sozialwissenschaftlichen Blickwinkel ein: Das Christentum stiftete demnach pazifizierende Normen und Konsens und hielt durch ein weltanschauliches Gefüge aus Macht und Vertrauen das mittelalterliche Europa – nicht nur seine Eliten – zusammen. Mann geht so weit zu behaupten, es sei die notwendige Grundlage sämtlicher historischer Entwicklungen in Europa seit dem frühen Mittelalter gewesen.23 Liest man Victor Hansons Why the West Has Won, dann erscheinen westlicher Individualismus, Rationalismus und solche pazifizierenden Normen in weniger positivem Licht: Er verweist auf die »im Vergleich zu asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Traditionen außerordentliche Tötungskraft der westlichen Kultur im Kriegszustand«, und behauptet, die Existenz einer besonderen Kultur des Kriegs im Westen erkläre dessen Aufstieg zur Macht, 20 Goody, Eurasian Miracle, 94–105. 21 Woods, How the Catholic Church Built Western Civilization. 22 Stark, Victory of Reason. 23 Mann, Geschichte der Macht, Bd. 2, Kap. 15: »Europäische Konklusionen«. Etwas zurückhaltender ist Hall, Powers and Liberties, 123.

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was natürlich auch zur Erklärung seines Reichtums beitragen würde.24 An dieser Stelle muss die Anmerkung genügen, dass mir ein Ansatz, der nicht so sehr die christlichen Glaubensinhalte als ihre Funktionen und Folgen hervorhebt, vielversprechender erscheint.25 Die Liste der außergewöhnlichen Züge, die Europas christlicher Kultur zugeschrieben worden sind, ließe sich mühelos fortsetzen. Der springende Punkt dabei ist weniger, ob man die Annahme eines europäischen Sonderwegs in einem oder allen diesen Aspekten akzeptiert und ob sie sich überhaupt beweisen ließe. Das wäre meines Erachtens zwar in vieler Hinsicht möglich. Entscheidend ist aber das durchgängige Problem, einen konkreten Zusammenhang zur Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums herzustellen. Viele wenn nicht gar die meisten mit der Great Divergence befassten Globalhistoriker, vor allem die erklärten Gegner des Eurozentrismus unter ihnen, betrachten offenbar jeden Rekurs auf die Kultur – und in dieser Hinsicht auch Institutionen – als eurozentrische Überheblichkeit oder gar unverhohlenen Rassismus, wenn es Reichtumsunterschiede zwischen dem »Westen« und dem »Rest der Welt« zu erklären gilt. Der Gedanke, dass irgendetwas an der westlichen Kultur Wachstum besonders begünstigt haben könnte, ist für sie inakzeptabel. Morris folgt explizit einem nahezu rein materialistischen Ansatz, um zu erklären, warum der Westen herrscht bzw. geherrscht hat, und behauptet, kulturelle Werte und Überzeugungen seien »vollkommen unwichtig«, da »die Ursache für die Vormachtstellung des Westens nur im Materiellen« zu suchen sei.26 Angesichts seiner recht eigenartigen Behauptung, dass »die Geschichte des Denkens im Osten und im Westen in den letzten 5000 Jahren einen weitgehend übereinstimmenden Verlauf genommen hat«, ist dies weniger überraschend, als es klingen mag.27 Menschen sind in seinen Augen »schlaue Schimpansen«, die neugierig sind und der Umwelt Energie entziehen. Entscheidend ist aus seiner Sicht, »dass große Menschengruppen im Gegensatz zu einzelnen Individuen alle ziemlich gleich sind«.28 Bei gleicher geografischer Lage und Herausforderung hätten sich andere Menschen genauso entwickelt wie die Westeuro24 Hanson, Why the West Has Won. Die entgegengesetzte Position vertritt Lynn, Battle. Interessant und im Kontext des vorliegenden Buchs recht relevant ist Thompson, »Military Superiority Thesis«. 25 So zum Beispiel Davids, Religion, Technology, and the Great and Little Divergences. 26 Morris, Wer regiert die Welt?, 38. Auf S. 547 heißt es: »Kultur und freier Wille können […] die Gesetze der Biologie, Soziologie und Geographie nie auf Dauer übertrumpfen.« Und auf S. 591: »Selbst wenn in […] der Neuzeit alles, was man sich vorstellen kann, anders verlaufen wäre […], selbst dann hätten die tieferen, in Biologie, Soziologie und Geographie verankerten Triebkräfte die Geschichte in ungefähr die gleiche Richtung getrieben.« 27 Ebd., 544. 28 Ebd., 35. Vgl. auch 38, 534.

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päer: »Wäre genügend Zeit gewesen, so hätten die Dinge im Osten sicher die gleiche Richtung genommen, und es hätte auch hier eine eigene industrielle Revolution stattgefunden. Doch die geografischen Bedingungen begünstigten nun einmal den Westen.«29 Diamond hält die Behauptung von Besonderheiten der Europäer für rassistisch: »Die am häufigsten vorgebrachte Erklärung [für die erheblichen internationalen Reichtumsunterschiede, PV] geht mehr oder weniger explizit von biologischen Unterschieden zwischen den Völkern aus. […] Heute wird Rassismus in der westlichen Gesellschaft von breiten Schichten der Bevölkerung nach außen hin abgelehnt. Insgeheim oder unbewusst hegen jedoch immer noch viele Menschen (vielleicht sogar die meisten!) rassistische Vorstellungen.«30 Frank wird wie üblich sehr deutlich: »Europa zog sich nicht an seinem eigenen wirtschaftlichen Schopf aus dem Sumpf, und erst recht nicht dank irgendeiner europäischen ›Einzigartigkeit‹ von Rationalität, Institutionen, Unternehmergeist, Technik, Genialität, in einem Wort: der Rasse.«31 Goody hat in den vergangenen Jahren gleich vier Bücher geschrieben, um zu zeigen, dass der Westen bis zur industriellen Revolution im Grunde nichts Besonderes gewesen sei, und um jene »eurozentristischen oder okzidentalistischen Verzerrungen in einem Großteil der westlichen Geschichtsliteratur« zu bekämpfen, die auf einen westlichen »›Diebstahl‹ der Errungenschaften anderer Kulturen auf dem Weg zu (insbesondere) Demokratie, Kapitalismus, Individualismus und Liebe« hinausliefen.32 Wie Landes treffend bemerkt, sind kulturelle Erklärungen in der Debatte über Reichtum und Armut nicht besonders populär: »Ein Hauch von Rasse und Vererbung, eine Aura der Unabänderlichkeit haftet dem Konzept an.«33 Es ist faszinierend zu beobachten, wie weit viele westliche Intellektuelle dabei gehen, ihrer eigenen Kultur jegliche positive Besonderheit abzusprechen.34 29 Ebd., 540. Vgl. auch 482: »Newton, Watt und ihre Kollegen waren wohl keine größeren Geister als Cicero, Shen Kuo und ihre Kollegen; sie grübelten nur über anderen Problemen.« In derselben Weise argumentieren Wong und Rosenthal, Before and Beyond Divergence, 126–127; Partharasati, Why Europe Grew Rich, »Einleitung«, bspw. 1–3, und Marks, Ursprünge der modernen Welt, 143. 30 Diamond, Arm und Reich, 22–23. Die letzte Behauptung ist unwiderlegbar: Bestreitet man öffentlich, ein Rassist zu sein, wird Professor Diamond behaupten, im Privaten sei man sehr wohl einer; bestreitet man auch dies, wird er sagen, dass man unbewusst einer sei. 31 Frank, ReOrient, 4. 32 Vgl. Goody, Capitalism and Modernity; ders., Theft of History; ders., Eurasian Miracle; ders., Renaissances. Zit. aus dem Klappentext von Theft of History. Weitere Beispiele: Blaut, Coloniser’s Model of the World; ders., Eight Eurocentric Historians, Stichwort »racism«; Hobson, Eastern Origins of Western Civilisation, Kap. 1. 33 Landes, Wohlstand und Armut, 517. 34 Viele Beispiele bietet Duchesne, Uniqueness of Western Civilisation, Kap. 1.

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Es gibt allerdings auch Ausnahmen: Verschiedene Autoren haben auf die Rolle von »Vertrauen« im westlichem Wirtschaftswachstum hingewiesen. Auf die Great-Divergence-Debatte hatten sie kaum einen, um nicht zu sagen: gar keinen Einfluss.35 Eine sehr wichtige Ausnahme ist natürlich Landes selber, der in einem Buch, von dem mehr Exemplare verkauft wurden als von allen Publikationen der kalifornischen Schule zusammen, folgende berühmt-berüchtigte Behauptung aufstellte: »Wenn wir aus der Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung etwas lernen, dann dies: Kultur macht den entscheidenden Unterschied.«36 Während sein Buch in der Öffentlichkeit hochgelobt wurde, gelangten Historiker und Sozialwissenschaftler überwiegend zu dem Urteil, Landes habe seine starke Betonung der Arbeitsethik nicht schlüssig begründet, sofern dies überhaupt zu leisten sei. Thomas Sowell unterstrich in Conquests and Cultures (1999) wiederholt die zentrale Rolle der Kultur, die er als eine Art Humankapital versteht, die oft mehr Einfluss auf das wirtschaftliche Niveau hat als der gegebene materielle Wohlstand, natürliche Ressourcen oder einzelne Genies.37 Für ihn sind »die Offenheit einer gegebenen Kultur für Ideen und Innovationen sowie ihr Vermögen, solche Fortschritte aufzugreifen und weiterzutreiben, von entscheidender Bedeutung«.38 In Gregory Clarks sehr kontrovers diskutierten A Farewell to Alms (2007) nimmt Kultur dagegen eine zentrale Rolle für die Erklärung der Great Divergence ein, auch wenn er sie ausdrücklich als eine abhängige Variable begreift.39 Zwar folgte er Landes’ Ansicht, »dass die Europäer eine besonders wachstumsfördernde Kultur hatten«.40 Clark lehnt es jedoch generell ab, Kultur als Erklärungsfaktor zu bemühen, also als »Triebkräfte außerhalb der ökonomischen Sphäre anzuführen«, da dies »das Problem lediglich eine Stufe zurückverlagert«. Aus seiner Sicht »können Weltanschauungen die wirtschaftlichen Einstellungen von Gesellschaften verändern. Doch sie sind ihrerseits auch ein Ausdruck grundlegender Einstellungen, die teil-

35 Peyrefitte, Du ›miracle‹ en économie; ders., La société de confiance; Fukuyama, Konfuzius und Marktwirtschaft. Interessant ist ferner Frevert (Hg.), Vertrauen. Mit Leonard Dudleys neuestem Buch Mothers of Innovation scheint das Thema wieder auf die Tagesordnung gelangt zu sein. 36 Landes, Wohlstand und Armut, 517. Kurz darauf heißt es, dass »die Kultur die entscheidende Rolle spielen kann« (523). In welchem Sinne Landes der westlichen Kultur die entscheidende Rolle zuschreibt, wurde bereits durch mehrere Zitate deutlich: Vgl. S. 351–352 und 417–418. 37 Sowell, Conquests and Cultures, 334–335. Viele ähnliche Behauptungen finden sich in Kap. 6. 38 Sowell, Conquests and Cultures, 361. 39 Clark, »Economists in Search of Culture«, 161. 40 Clark, Farewell to Alms, 11.

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weise aus der wirtschaftlichen Sphäre erwachsen.«41 Mit dieser Einschränkung behauptet er, Großbritannien sei deshalb die erste Industrienation geworden, weil bürgerliche Werte oder solche der Mittelschicht dort bedeutsamer und gesellschaftlich stärker verbreitet gewesen seien als sonst irgendwo. Gemeint sind damit Werte wie Geduld, harte Arbeit, Erfindungsgeist, Innovationsorientierung, Ehrlichkeit, Rationalität, Neugier und Lernen, Sparsamkeit, Weitsicht und Verhandlungsbereitschaft. Sie machten Großbritannien laut Clark zu einer vergleichsweise friedlichen, umsichtigen, alphabetisierten und gebildeten Nation.42 Den Verbreitungsgrad dieser Werte erklärt er mit einem Mechanismus der natürlichen Auslese.43 Einige Zitate genügen, um einen Eindruck von Clarks sehr originärer Denkweise zu vermitteln. In England entstand ihm zufolge eine Gesellschaft, welche die Werte der Mittelschicht mit einem sich von Generation zu Generation fortsetzenden Erfolg belohnte«. Daher lasse sich »mutmaßen, dass Englands Vorteil in einer raschen kulturellen, und vielleicht auch genetischen, Verbreitung der Werte der wirtschaftlich Erfolgreichen in der ganzen Gesellschaft bestand«.44 Die Briten – und nicht nur sie – seien genetisch (sic!) kapitalistisch geworden: »Der Triumph des Kapitalismus in der modernen Welt könnte folglich ebenso sehr in unseren Genen wie in Weltanschauung oder Rationalität begründet sein« – bzw. in einem »Überleben des Reichsten«.45 Auch Robert Allen, der vor allem für seinen Fokus auf relative Faktorkosten bekannt ist, blendet in seinem Buch über die britische industrielle Revolution aus globaler Perspektive die Bedeutung von Kultur keineswegs aus. Wie bereits zitiert, schreibt er: »Die kulturellen Veränderungen zwischen 1400 und 1800 waren immens und der Tendenz nach Erfindungen förderlich.«46 Diese Veränderungen untersucht er aber nicht näher. Joel Mokyr ist zwar mitunter ein nüchterner Ökonom, versteht die industrielle Revolution aber gleichwohl im Grunde als »Folge der von der Aufklärung und der wissenschaftlichen Revolution gelegten gesellschaftlichen und geistigen Fundamente«. Die Antworten auf die Fragen, warum sich Großbritannien zuerst industrialisierte und warum große Teile Europas nachzogen, seien letztlich beide »nicht in der Geografie, sondern auf der Ebene des Wissens und der Institutionen zu suchen«. Es brauchte »ein aufgeklärtes Zeitalter, um das moderne Zeitalter der Industrie und des Überflusses hervorzubringen«; es 41 Ebd., 183. 42 Ebd., 8, 11, 166, 183–184. 43 Vgl. bspw. Galor/Moav, »Natural Selection and the Origin of Economic Growth«; Galor, Unified Growth Theory, Kap. 7. 44 Clark, Farewell to Alms, 8, 271. 45 Clark/Hamilton, »Survival of the Richest«. 46 Allen, British Industrial Revolution, 269.

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war »die Aufklärung, die Europa auf einen anderen, in die wirtschaftliche Moderne führenden Pfad brachte«.47 Ähnliche Ansichten vertritt Goldstone, wie wir mehrfach gesehen haben. Auch McCloskey meint, materielle wirtschaftliche Kräfte könnten nicht den anschwellenden Strom des modernen Wirtschaftswachstums erklären, der einigen Ländern der Welt binnen nur zwei Jahrhunderten solchen Reichtum eingebracht habe. Ihr zufolge »lag die Ursache der industriellen Revolution in Innovationen (nicht Investitionen oder Ausbeutung)«, die wiederum »aus Gesprächen, Ethik und Ideen« hervorgegangen seien. Dazu habe es eines Wandels der Weltanschauung bedurft, also »sich wandelnder Formen des Diskurses über Märkte, Unternehmen und Innovation«, denn »Wirtschaft findet im Kopf der Menschen statt«.48 So stimmt sie einen Lobgesang auf bürgerliche Tugenden wie Liebe, Vertrauen, Hoffnung, Mut, Mäßigung, Umsicht und Gerechtigkeit an. Ursache der britischen Industrialisierung sei ein Wandel dessen gewesen, »was England wollte, was es belohnte und wertschätzte«.49 Auch in der Wirtschaftsgeschichte gibt es neuerdings offenbar einen gewissen cultural turn. Zumindest ist Kultur für Historiker, die sich mit wirtschaftlicher Entwicklung befassen, wieder ein Thema geworden. Joyce Appleby veröffentlichte 2010 ein Buch über den Kapitalismus mit dem Titel The Relentless [sic, PV] Revolution [Die unerbittliche Revolution], in dem sie ihn deutlich als ein einzigartig westliches Phänomen und »als eine Kultur« betrachtet: Er sei »ebenso sehr eine Frage von Werten und Ideen wie von Angebot, Nachfrage und Bilanzen«.50 In Fergusons Der Westen und der Rest der Welt spielt Kultur eine zentrale Rolle, wie seine sechs westlichen »Killerapplikationen« zeigen: Wettbewerb, Wissenschaft, Eigentumsrechte, Medizin, Konsumgesellschaft und Arbeitsethik. Der Titel von Duchesnes ebenfalls 2011 veröffentlichtem Buch spricht für sich selbst: The Uniqueness of Western Civilization [Die Einzigartigkeit der westlichen Zivilisation]. Es ist ein vehementer und weitgehend gerechtfertigter Angriff auf all diejenigen, die die Bedeutung von Kultur kurzerhand übergehen und der europäischen jegliche bedeutsame Einzigartigkeit absprechen. Alle kulturellen Erklärungsmuster, ob sie sich nun auf allgemeine oder spezifische Charakteristika beziehen, kranken bis heute aber an der Vagheit des Kulturbegriffs. Wie lassen sich die kulturellen Konzepte operationalisieren? Wie kann man sie messen und überzeugend nachweisen, dass sie in bestimmten Regionen, Staaten oder Zivilisationen stärker präsent waren als in 47 Mokyr, Enlightened Economy, 11–12, 487 und 489. 48 McCloskey, Bourgeois Dignity, Zitate auf 6, 8. 49 Dies., »Review of Clark, Farewell to Alms«, 148. Zu den bürgerlichen Tugenden: dies., Bourgeois Virtues. 50 Appleby, Relentless Revolution, Klappentext.

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anderen? Wie kann man überzeugend nachweisen, dass sie tatsächlich relevanten und konkreten Einfluss auf die Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums hatten? Die wichtigste direkte Triebkraft dieses Wachstums waren Innovationen. Doch sind die in der Debatte um die Great Divergence angeführten »westlichen« Werte erstaunlicherweise eher konformistisch als innovationsfördernd.51 Dasselbe ließe sich über das Vertrauen sagen, dem oft große Bedeutung für die Entwicklung zuerkannt wird. In dieser Hinsicht scheinen die Ansätze von Mokyr und Dudley, die grundsätzlich nach direkten Beziehungen zwischen Kultur und Innovation suchen, am vielversprechendsten. Die Wirkung von Werten hängt stark vom Kontext ab, und wie sie gebündelt werden, ergibt häufig keine konsistente Argumentation – etwa wenn Clark zugleich Innovationsgeist, Rationalität, Sparsamkeit und Umsicht des britischen Bürgers lobt oder Ferguson den Westen dadurch gekennzeichnet sieht, dass er eine »Konsumgesellschaft« und »ein materielles Leben« hervorgebracht habe, »in dem die Erzeugung und der Erwerb von Kleidung und anderen Gebrauchs- und Verbrauchsgütern eine wichtige wirtschaftliche Rolle spielen«. Dies ist nämlich kaum vereinbar mit der von ihm ebenfalls als westliche »Killerapplikation« angeführten »Arbeitsethik«, worunter er bestimmte »moralische Leitlinien und eine Arbeitsweise« versteht, »die unter anderem auf dem Protestantismus beruht und den Zusammenhalt der dynamischen und potentiell instabilen Gesellschaft […] gewährleistet«.52 Wenn von Kultur die Rede ist, werden zeitlich und räumlich konkrete Aussagen häufig vermieden. Wie genau lassen sich zum Beispiel McCloskeys’ – und Clark’s – bürgerliche Werte auf das Wirtschaftswachstum, und wichtiger noch im Kontext meiner Analyse: auf die Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums beziehen? Und wenn sie eine solche grundlegende Bedeutung besitzen, warum hatten sie dann in anderen Weltregionen und anderen historischen Perioden so geringe Folgen? Welcher konkrete Zusammenhang besteht zwischen der Great Divergence und der Kultur Europas? Selbst in den Arbeiten von Clark, einem methodisch anspruchsvollen Ökonomen, bleiben die Rekurse auf Kultur als Erklärungsfaktor letztlich sehr unbefriedigend. Seine Behauptung, bestimmte Verhaltensmuster würden genetisch übertragen und Kultur lasse sich auf eine Art Epiphänomen demografischer und wirtschaftlicher Trends reduzieren, ist höchst unplausibel, und mir sind keinerlei Tatsachen bekannt, die sie plausibler machen würden. Abgesehen davon: Unterscheiden sich Großbritannien und Länder, in denen das moderne Wirtschaftswachstum nicht – oder wesentlich spä51 Vgl. zu Adam Smiths Auffassungen darüber die kurzen Bemerkungen in Milgate/ Stimson, After Adam Smith, 83–84. 52 Ferguson, Wer regiert die Welt?, 45.

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ter – auftrat, in der gesellschaftlichen Verbreitung bestimmter »Mittelschichtsgene« tatsächlich so klar? Clarks Anhaltspunkte können schwerlich als Beweis gelten. Und wichtiger noch: War die Mentalität der Reichsten und Angepasstesten im vorindustriellen Großbritannien überwiegend tatsächlich eine bürgerliche? Meine Antwort ist: nein. Zu Reichtum zu kommen oder das Leben eines Reichen zu führen, erforderte im 16. Jahrhundert vermutlich (wenn überhaupt!) eine ganz andere Disposition als in einer sich industrialisierenden oder gar industriellen Welt. Krieg und Krieger prägten der Entwicklung der britischen Gesellschaft ihren Stempel auf. Was immer die Briten sonst noch gewesen sein mögen, sie waren auch eine »Rasse von Kriegern«. Die Unabhängigkeit des britischen Staats und seines Empire gründete sich gewiss nicht in erster Linie auf bürgerliche Werte wie Ehrlichkeit, Neugierde, Lernen, Sparsamkeit, Umsicht oder Verhandlungsbereitschaft, sondern war weitaus stärker von Gentlemen bestimmt, die sich für eine Führungsrolle auserwählt sahen und in Begriffen von Mut, Ehre, Selbstachtung und Gleichmut gegenüber der Gefahr dachten.53 Solche Gentlemen und ihre Werte spielten auch für den sogenannten gentlemanly capitalism in Großbritannien eine wesentliche Rolle. Seine Hauptakteure waren gewiss keine nüchternen, hart arbeitenden, von Zeitersparnis besessenen Männer, wie Weber sie schilderte. Das Ethos des neuen Geldadels im Dienstleistungssektor ähnelte in seiner charakteristischen Verbindung von Laienhaftigkeit und Leistung weit eher dem der Aristokratie. Wenn auch sicher nicht arbeitsscheu, genossen seine Angehörigen die Freiheit von ständiger Arbeit, verabscheuten jegliche »Tyrannei der Uhr«, die ihre Existenz als Gentlemen infrage gestellt hätte, und bewegten sich in einer Welt, in der Muße und Arbeit oft kaum unterscheidbar waren.54 Durch welche Mechanismen sich Werte verbreiteten, welche Werte in Großbritannien tatsächlich vorherrschten und wie sie sich zur Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums verhielten, beschreibt Clark nur sehr vage. Seine Hervorhebung von Disziplin bietet allerdings eine interessante Hypothese, die insbesondere wenn man sie auf die Bedeutung des Humankapitals im Allgemeinen erweitert und auf das Wirtschaftswachstum und die unterschiedlichen Wachstumsraten von Ländern bezieht, eine systematischere Überprüfung verdient. Kulturelle Erklärungsmuster werden in diesem Kontext fast immer mit Weber assoziiert, der jedoch weit weniger Kulturalist war, als die ständigen Verweise auf seine Protestantismus-These nahelegen, die in Wirklichkeit nur

53 James, Warrior Race. Die Charakterisierung der führenden Gentlemen findet sich auf S. XIV. 54 Ich paraphrasiere hier weitgehend Cain/Hopkins, British Imperialism, Kap. 3.

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einen geringen Teil seines Werks ausmacht.55 Wie die Publikationen von Appleby, Duchesne, Ferguson und Landes zeigen, ist Webers Werk bis heute prägend für Autoren, die sich mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Westens befassen. Appleby hält ihn für beeindruckender als Smith oder Marx, weil er »Zufälle und unbeabsichtigte Konsequenzen in der Entstehung des Kapitalismus« herausarbeite.56 Neben Forschern, die sich vor allem auf die Thesen des deutschen Soziologen über Calvinismus und Kapitalismus weiterhin zustimmend beziehen,57 gibt es heute eine wachsende Zahl von Wissenschaftlern wie Clark, die, angeregt von Weber oder nicht, im Zusammenhang mit Wirtschaftswachstum Themen wie Arbeitsethik und Disziplin untersuchen. Europa in der frühen Neuzeit – wenn nicht schon früher – als eine »disziplinierende« Gesellschaft zu beschreiben, ist geradezu ein Allgemeinplatz geworden. Bei diesem Vormarsch der Disziplinierung spielten Calvinisten und andere Protestanten eine bedeutende Rolle. In protestantischen Ländern, wenn auch nicht nur dort, wurde die Zahl der Feiertage meist eingeschränkt und die Produktion entsprechend gefördert. Aber auch in anderer Weise wirkte sich der Aufstieg des Protestantismus recht konkret und direkt auf die Ökonomie aus.58 So stärkten etwa die aus einigen Ländern anderer Konfession vertriebenen Protestanten die Wirtschaft ihrer (protestantischen) Aufnahmeländer, da sie Geld, Qualifikationen und soziale Netzwerke mitbrachten. Der Protestantismus brach auch die wirtschaftliche Macht der katholischen Kirche – vor allem in puncto Grundbesitz und Erhebung von »Steuern« –, was dem Staat und den Käufern der enteigneten Güter oder Ländereien zugutekam. Insofern hatte er unter anderem in Großbritannien, den Niederlanden und Preußen gewichtigen Anteil an der »ursprünglichen Akkumulation«. Ebenso trug er maßgeblich zur Entstehung stärker bürokratischer, »rationaler« und repräsentativer Staaten bei. Von Weber inspiriert sind auch einige Analysen institutioneller und juristischer Besonderheiten des Westens.59 Weber schrieb bekanntlich auch dem 55 So zum Beispiel Blaut, Eight Eurocentric Historians, 29, und Parthasarathi, Why Europe Grew Rich, Stichwort »Weber, Max«. 56 Appleby, Relentless Revolution, 18. 57 Zu dieser These: Weber, »Protestantische Ethik«. Allgemeinere Überlegungen zur »Entfaltung der kapitalistischen Gesinnung« unternimmt er z.B. in Wirtschaftsgeschichte, Kap. 4–9. Eine neuere »Anwendung« ist Jacob/Kadane, »Weber’s Protestant Capitalist«. Eine kritische Überprüfung, die kaum empirische Belege für Webers These ergab, ist Delacroix/Nielsen, »The Beloved Myth«. Die Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften widmet sich in Heft 3/2012 ausschließlich Webers Protestantismus-These. 58 Zum Zusammenhang von Protestantismus und Wirtschaftsentwicklung: Gorski, Disciplinary Revolution; ders., »The Little Divergence«. 59 Vgl. Collins, Weberian Sociological Theory, Kap. 2–3. Collins meint Weber sei der Ansicht gewesen, dass »die institutionellen Voraussetzungen für den Kapitalismus in einem besonderen Teil des mittelalterlichen Europa, nämlich der Kirche entwickelt

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Recht eine grundlegende Bedeutung für die Entwicklung zu, und auch darin sind ihm einige Wissenschaftler gefolgt, etwa Harold Berman – der allerdings zu Recht fordert und selbst versucht, über Weber wie Marx hinauszugehen – und Toby Huff. Berman sieht in dem, was er die »päpstliche Revolution« des Hochmittelalters nennt, den großen Wendepunkt der modernen europäischen Rechtsgeschichte: Sie habe die Tradition des modernen westlichen Rechts und seiner unterschiedlichen Systeme begründet, deren erstes kein anderes als das kanonische Recht gewesen sei, das sich vom weltlichen trennte und seine eigene Rechtsprechung geltend machte. Neben dem kanonischen nennt Berman mehrere Formen des weltlichen Rechts: Feudalrecht, grundherrschaftliches Recht, Handels-, städtisches sowie königliches Recht. Das Bemerkenswerte sieht er darin, dass diese rechtlichen Traditionen nationale Grenzen überschritten und sich das Recht in Europa zu einer Rechtswissenschaft entwickelte, die Berman sogar als einen »Prototyp der Wissenschaft« bezeichnet. Das Recht war demnach von maßgeblicher Bedeutung für die Herausbildung des modernen Staates in Europa und eine grundlegende Voraussetzung des europäischen Kapitalismus. Die europäische Rechtstradition speist sich laut Berman beinahe ausschließlich aus europäischen Quellen und war weltweit einzigartig. Huff nimmt eine weniger umfassende rechtshistorische Perspektive ein und konzentriert sich auf die spezifischen Beziehungen zwischen Recht, Körperschaften – vor allem Universitäten – und der Entwicklung von Wissen.60 Doch unabhängig von Fokus und Zielsetzung wird die Bedeutung von Recht und Rechtswissenschaft in der Geschichte Europas sowie die Allgegenwart studierter Juristen, die ihren Lebensunterhalt als Anwälte verdienten, jeden Historiker erstaunen. In keiner Zivilisation der Welt waren sie so wichtig wie in Europa. Das Recht zu verstehen und zu vergleichen, ist meiner Auffassung nach überaus wichtig für die globale Wirtschaftsgeschichte und ein bislang unterentwickeltes Forschungsfeld. Man kann nur hoffen, dass der Aufschwung der Globalgeschichte bald auch die globale Rechtsgeschichte erreicht.61

wurden« und »der bürgerliche Kapitalismus, den wir für die ›Reinform‹ halten, aus den Trümmern des mittelalterlichen religiösen Kapitalismus hervorging«. Laut Collins sah er Klöster als Proto-Fabriken mit einer disziplinierten Arbeiterschaft und machte unter den Zisterziensern gar eine »protestantische Ethik ohne Protestantismus« aus. 60 Zu Huffs Auffassungen und seinem Bezug auf Weber, vgl. bspw. Intellectual Curiosity, Stichwort »Weber, Max«. 61 Einige Literaturhinweise finden sich in Cooter/Schafer, Solomon’s Knot und Ma/Van Zanden, Law and long-Term economic change. Ein sehr interessanter Versuch, globale Rechtsgeschichte zu schreiben, sind die Arbeiten von Lauren Benton: http://history. as.nyu.edu/object/laurenbenton.html

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Kultur spielt eine Rolle

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30. Kultur spielt eine Rolle – doch wie lässt sich das überzeugend nachweisen?

Das Problematische an kulturellen Erklärungen ist weniger, dass sie nicht plausibel wären – sie sind dies meines Erachtens durchaus, denn Kultur(en) und Institutionen eines Landes stehen oft in enger Beziehung zueinander und die Bedeutung von Institutionen für die Wirtschaftsentwicklung ist unbestreitbar. Wenn Kultur irrelevant wäre, warum erforderte die nachholende Entwicklung von Ländern dann einen solchen kulturellen Wandel? Das Problem besteht vielmehr in der immensen Schwierigkeit, solche Erklärungen empirisch zu belegen und genau aufzuzeigen, wie bestimmte kulturelle Eigenschaften das moderne Wirtschaftswachstum fördern oder hemmen. Dass Kultur das Wohlstandsniveau eines Landes beeinflussen kann, steht allerdings außer Frage und ließe sich an vielen Beispielen demonstrieren. Verdeutlichen möchte ich dies anhand einiger kultureller Eigenschaften des Qing-Reichs, die in Großbritannien nicht oder in deutlich geringerem Maß gegeben waren, wobei mein Anspruch nur darin besteht zu zeigen, in wie vielfältiger Weise sich Kultur direkt auf eine Ökonomie auswirken kann. Auf zentralstaatlicher Ebene muss die Entscheidung für eine kleine, schlanke und günstige Regierung ebenso wirtschaftliche Folgen gezeitigt haben wie das damit verbundene niedrige Steuerniveau, die – bis weit ins 19. Jahrhundert bestehende – Ablehnung öffentlicher Verschuldung sowie die Strategie einer weitgehenden Zurückhaltung in der Binnenökonomie, die sich beispielsweise im Fehlen einer Zentralbank und einer staatlichen Prägung von Silbermünzen zeigte. In China herrschte zudem eine gewisse Überheblichkeit gegenüber der Außenwelt, da man sich für »alles unter dem Himmel« hielt und folglich nicht immer Offenheit für ausländische Ideen oder Interesse an Auslandsreisen zeigte, auch wenn es von Nutzen gewesen wäre. Es bestand einfach weniger Neugierde an der Außenwelt, die folglich eine geringere Herausforderung darstellte. Aufgrund dieser Einstellung existierte auch keine Außenpolitik im europäischen Sinne. China praktizierte keinen Wirtschaftsnationalismus, eiferte nicht anderen Ländern nach, betrieb weder Merkantilismus noch den Aufbau eines Empire, wie Großbritannien es tat. All das war selbstredend nicht allein eine Folge kultureller Differenzen, aber Kultur spielte dabei gewiss eine Rolle. Chinas herrschende Qing-Eliten waren insofern überwiegend konservativ eingestellt, als sie den Status Quo zu bewahren suchten und sich deutlich

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

stärker an der Vergangenheit als an einer unbekannten, vermeintlich besseren Zukunft orientierten. Ideen des Fortschritts und der Aufklärung waren deutlich weniger verbreitet als später in Großbritannien. In den Augen der herrschenden Eliten bildete die Landwirtschaft den wichtigsten Wirtschaftszweig und das Rückgrat der Gesellschaft. Sie idealisierten das traditionelle Landleben und den bäuerlichen Haushalt mit seiner klaren Arbeitsteilung: Die Männer pflügten, die Frauen webten. Die Bemühungen der Zentralregierung, die Entstehung einer über große Höfe mit landlosen Arbeitskräften verfügenden Grundeigentümerklasse zu unterbinden, waren recht erfolgreich; ihre Maßnahmen sollten verhindern, dass Bauern ihr Land verlieren. Teilbares Erbe war nahezu die Regel und wurde vom Gesetz gefördert oder gar erzwungen. Die Familie bildete, in welcher genauen Größe und Form auch immer, den Eckpfeiler der Gesellschaft und wurde auch als solcher anerkannt. Die Produktion fand weitgehend im Haushalt statt, und es wurde weithin missbilligt, wenn Frauen mit Fremden oder für sie arbeiteten. Der gesellschaftliche Verkehr war weniger formalisiert und gesetzlich geregelt als in Großbritannien, wo Recht und Rechtsanwälte zum gewöhnlichen Leben gehörten. Es bestand eine Tendenz, die Dinge informell und persönlich zu halten; man lebte in einer eher von allgemeinen Normen als von geschriebenen Gesetzen geprägten Welt. Familie und Unternehmen waren gewöhnlich nicht getrennt. Was den gesellschaftlichen Status betrifft, standen die Inhaber staatlicher Gelehrtengrade über Angehörigen des Militärs und der Berufsstände. Es ließen sich weitere kulturelle Differenzen nennen, die eine Rolle gespielt haben müssen, deren exakte Bedeutung für die Great Divergence jedoch schwer zu bestimmen ist. Um zu zeigen, dass »Werte« keineswegs unerheblich sind, möchte ich nur zum letztgenannten Thema der Bewertung von Tätigkeiten und Berufen einige konkrete Informationen anführen. Was als ehrenwerter Beruf gilt und was nicht, kann immensen Einfluss auf das Wirtschaftsleben haben.1 Im Qing-Reich gab es eine verblüffende Zahl von Menschen, die sich auf die Staatsprüfung vorbereiteten, um Beamter oder wenigstens Mitglied des so genannten Adels zu werden. Auf makroökonomischer Ebene muss dies sehr unrationell gewesen sein, auch wenn es für die Prüfungskandidaten selbst insofern rational gewesen sein mag, als es sich im – immer selteneren – Erfolgsfall lohnte und sie ohnehin keine besseren Optionen für sich sahen.2 So setzte das Gros der begabten 1 Allgemein hierzu: Baumol, »Entrepreneurship, Productive, Unproductive and Destructive«; Murphy/Shleifer/Vishny, »Allocation of Talent«. 2 Wie ertragreich Bildung im China der Qing auf gesellschaftlicher, d.h. Makroebene, und für den Einzelnen war, versuchen Xuyi, Péter Földvári und Bas van Leeuwen in einem Beitrag zur Historical Economics Conference (Japan, September 2012) zu analysieren (»Human Capital in Qing China: Economic Determinism or a History of Failed Opportunities?«, abgerufen auf der Website von Bas van Leeuwen an der Universität Utrecht).

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Männer im Qing-Reich weiter auf die Teilnahme an den Staatsprüfungen, die viele Jahre intensivster Vorbereitungen erforderten. 1800 verfügte das Reich nur über 20.000 Beamtenstellen, denen nicht weniger als 1,4 Millionen Inhaber höherer und niedriger Gelehrtengrade gegenüberstanden!3 Nach der großen Taiping-Rebellion (1851–1864) zählte China 1,5 Millionen diplomierte Gelehrte und drei Millionen Kandidaten für die zweijährliche Zulassungsprüfung.4 Wer die Prüfung nicht bestand, konnte sich Posten oder wenigstens Titel mit zunehmender Leichtigkeit kaufen. Bis 1800 war die Zahl der Inhaber gekaufter Titel auf schätzungsweise 350.000 gestiegen, und mit der wachsenden Finanznot des Staates im 19. Jahrhundert nahm sie noch zu.5

Demnach gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass Bildung die Gesamtproduktivität verbessert habe. Für den Einzelnen gelte – unter Berücksichtigung der zu erwartenden Entlohnung, der Lebenserwartung und der Wahrscheinlichkeit, zu bestehen –, dass »die Teilnahme an Prüfungen für niemanden, der sich rational entschied, lohnend war«. »Der Mangel an finanziellen Anreizen« habe »die Mehrheit der Bevölkerung davon abgehalten und so dazu beigetragen, die Stellung der Elite zu befestigen« (17). In Wirklichkeit gab es in der Qing-Ära Millionen von Chinesen, die an den Prüfungen teilnahmen oder sich auf sie vorbereiteten. Offenbar handelten sie irrational und ließen sich davon nicht abhalten. Doch macht die Tatsache, dass sie im Unterschied zu den Autoren nicht nur die offiziellen Einkommen ausgebildeter »Beamten« vor Augen hatten, sondern wussten, dass die tatsächlichen Einkommen häufig um ein Vielfaches höher waren, ihr Verhalten nicht vielleicht etwas weniger irrational? 3 Rowe, China’s Last Empire, 52. 4 Elman, Cultural History of Civil Examinations in Late Imperial China, 584. 5 Rowe, China’s Last Empire, 114.

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Teil 2: Erklärungen der Great Divergence

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Teil 3: Warum nicht China? Eine Welt überraschender Unterschiede

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Warum Großbritannien? Warum der Westen? Zu diesen Fragen ist im vorliegenden Buch bereits einiges gesagt worden. Die Great Divergence in der uns bekannten Form hätte es jedoch nicht gegeben, wäre das moderne Wirtschaftswachstum an einem anderen Ort entstanden oder hätte die restliche Welt den Westen rasch eingeholt. In der Great-Divergence-Debatte geht es um die Ursachen des britischen und später westlichen Take-offs, ebenso aber um die Gründe dafür, dass so viele Länder keinen Take-off erlebten und in den Rückstand gerieten. Die Frage, warum Großbritannien zum Vorreiter wurde, der Rest des Westens nachzog und die übrige Welt lange Zeit abgehängt blieb, ist unter anderem deshalb erneut zu einem wichtigen, ja brennenden Thema der Wirtschaft- und Globalgeschichte geworden, weil einige Wissenschaftler heute nachdrücklich behaupten, dass der Westen letztlich gar nicht so außergewöhnlich gewesen sei. Mehrere Ökonomien, besonders in Ostasien, wiesen aus ihrer Sicht solche Ähnlichkeiten mit Großbritannien am Vorabend der industriellen Revolution auf und waren so hochentwickelt, dass die britische Industrialisierung im Grunde nur durch eine Art deus ex machina namens Kontingenz erklärt werden kann. Solche Behauptungen sind besonders mit Blick auf China vertreten worden. Sie haben eine neue Debatte ausgelöst und das Bild des Aufstiegs des Westens, wenigstens in wirtschaftlicher Hinsicht, deutlich verändert. Das war überaus heilsam, doch es gibt meines Erachtens gute Gründe für die Behauptung, dass der Revisionismus zu weit gegangen ist. Chinas Wirtschaft funktionierte nicht nur durchaus anders als die westeuropäischen und namentlich die britische, sondern war auch weniger entwickelt als von den Revisionisten angenommen. Dort bestand nur ein Bruchteil der Chancen auf Industrialisierung wie in Großbritannien. Eine Entwicklung des Qing-Reichs zum Pionier der Industrialisierung war aus mehreren Gründen praktisch ausgeschlossen. Selbst sein Potenzial für eine zügige nachholende Entwicklung war meines Erachtens im 19. Jahrhundert – auch ohne äußere Einmischungen – verschwindend gering. Mein letztlich negatives Urteil über Chinas Wirtschaftspotenzial – zumindest im Vergleich zum Westen – stützt sich auf die Überzeugung, dass die von der kalifornischen Schule vertretene These überraschender Ähnlichkeiten der britischen und der chinesischen Wirtschaft einfach nicht über-

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zeugend ist. Zugegeben: Beide waren vorindustrielle Ökonomien und unterlagen folglich malthusianischen Schranken, und als solche waren beide insofern recht entwickelt, als sie auf je eigene Weise gewissermaßen das Beste aus ihren Möglichkeiten machten. Doch wie betont werden muss: Sie taten dies auf je eigene Weise. Abgesehen von den eben genannten sehr allgemeinen Ähnlichkeiten hätten sie unterschiedlicher kaum sein können. Beginnen wir mit der Landwirtschaft, dem in allen vorindustriellen Ökonomien größten Sektor. Festzustellen sind grundlegende Unterschiede in der durchschnittlichen Größe der Höfe und ihrer Ab- oder Zunahme, in der Bedeutung von Skaleneffekten, dem Einsatz von Tieren, Arbeitskräften außerhalb der Familie und Lohnarbeitern sowie den Energiequellen. In Großbritannien spielten nicht-menschliche Energiequellen, nämlich Tiere, Wind, Wasser und bereits frühzeitig auch Kohle eine weitaus wichtigere Rolle. Grundlegende Unterschiede sind ebenso in der Organisation des Heimgewerbes festzustellen: Während in Großbritannien das Verlagssystem verbreiteter war, herrschte in China das sogenannte Kaufsystem vor. Der Verstädterungsgrad war ebenfalls unterschiedlich hoch und nahm in China ab, in Großbritannien zu; die Städte in beiden Ländern unterschieden sich zudem in Charakter und Funktion. Arbeitskraft war in Großbritannien teurer und knapper, Lohnarbeit dagegen viel verbreiteter. Dort konnten auch mehr Arbeitskräfte lesen, schreiben und rechnen, und der Qualifikationsbonus war niedriger. Großbritannien verfügte über mehr Mechaniker; Unternehmer, Wissenschaftler, Ingenieure, Handwerker und Tüftler standen in engerem Kontakt zueinander. Chinas Verbrauchernachfrage veränderte sich substanziell, woran ausländische Güter jedoch einen geringeren Anteil hatten. Was den akkumulierten Überschuss betrifft, verfügten im Prinzip beide Länder über ausreichende finanzielle Mittel für einen Take-off. In Großbritannien besaß die Masse der Bevölkerung jedoch mehr Kaufkraft und orientierte sich stärker am Markt. Wirtschaft und Gesellschaft waren wesentlich offener, was den Austausch von Gütern, Menschen und Ideen mit Gesellschaften rund um den Globus anbelangt. Bündnisse zwischen den wirtschaftlich und den politisch Mächtigen waren dort weitaus üblicher. Großbritannien war wenigstens bis in die 1820er Jahre ein fiskal-militärischer, merkantilistischer Staat, das China der Qing nicht. Die britische Regierung verfügte über deutlich mehr Steuereinnahmen und andere Einkünfte, weil die Bevölkerung bereit war, sie zu unterstützen und ihr Geld zu leihen. Das Steuerwesen des Landes war effizienter. Das Gleiche gilt für das Geld- und Finanzwesen. Im Unterschied zu China verfügte Großbritannien über ein System fester Anleihen, eine Nationalbank und staatliches Papiergeld. Seine Verwaltung war effizienter und weniger korrupt als die chinesische. Es hatte eine starke Armee und die stärkste Marine der Welt. Seine Regierung förderte die meisten wirtschaftlichen Innovationen. Das Land besaß ein aus-

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geprägtes Gefühl nationaler Identität, Einheit und Verpflichtung und, mit Acemoglu und Robinson gesprochen, vergleichsweise inklusive Institutionen. Kurzum: Großbritannien und China waren während des sehr langen 18. Jahrhunderts vollkommen unterschiedliche Gesellschaften mit vollkommen unterschiedlichen Wirtschaften. Ihnen überraschende Ähnlichkeiten zuzuschreiben, weil beide Ökonomien organische waren, mag als Augenöffner zu Beginn einer Debatte geeignet sein. Allzu große Erklärungskraft haben die Ähnlichkeiten nicht. Nicht nur existierten erhebliche strukturelle Differenzen, die beiden Länder und ihre Ökonomien steuerten auch eindeutig in unterschiedliche Richtungen: Die britische Wirtschaft wies deutlich mehr Anzeichen von Wandel und Verbesserungen auf, während die chinesische auf eine Involution zusteuerte. Der revisionistische Blick auf Chinas Wirtschaft im sehr langen 18. Jahrhundert hat sich jedenfalls als viel zu positiv erwiesen. China unterschied sich zu dieser Zeit nicht nur deutlich von Großbritannien, sondern war auch ärmer und besaß weniger Entwicklungspotenzial. Die revisionistische Behauptung, Teile Chinas seien am Vorabend der britischen Industrialisierung ebenso reich gewesen wie die wohlhabendsten Teile Westeuropas, scheint mittlerweile widerlegt. Auch Behauptungen, China sei »der Silberfriedhof der Welt« gewesen, mussten deutlich eingeschränkt werden. Und die Behauptung schließlich, dass China zu dieser Zeit, im 18. Jahrhundert, eine hochentwickelte Wirtschaft gewesen sei und »der Weltmarkt mit chinesischen Erzeugnissen überflutet [sic! PV] wurde«, ist schlicht haltlos.1 Bereits in den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts, also vor dem industriellen Take-off in Großbritannien und vor der politischen Kolonisierung des Landes, wies seine Exportstruktur Merkmale einer peripheren Ökonomie auf. Der Porzellanexport war aufgrund der europäischen Importsubstitution deutlich zurückgegangen – die Europäer stellten nun ihr eigenes Porzellan oder Ersatzgüter her. Dasselbe gilt für Seidentextilien: Ihr Export verlor an Bedeutung, stattdessen wurde nun zunehmend Rohseide ausgeführt. Chinas Baumwollstoffe, die nankeens, konnten mit den britischen letztendlich nicht konkurrieren. Bereits Jahrzehnte vor dem ersten Opiumkrieg war das Land zu einem Exporteur von Tee – auf den der Löwenanteil seiner Ausfuhren entfiel –, anderen Halbfertigwaren und Rohstoffen geworden.2 Die Opiumimporte, unmittelbarer Anlass jenes Kriegs, wurden eindeutig zu einem erheblichen Problem. Opium entwickelte sich zu Chinas Hauptimportgut. Sein Preis stieg tendenziell, während die Hauptexportgüter des Landes tendenziell billiger wurden. Das war für ein peripheres Land während des Han1 Marks, Ursprünge der modernen Welt, 30. 2 Vgl. zu dieser These das Kapitel »Märkte und Handelsmuster« in Deng, Chinese Maritime Activities.

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delsbooms im 19. Jahrhundert eine sehr ungewöhnliche und missliche Kombination.3 Wenn die Opiumimporte so störend waren, warum wurden sie dann nicht gestoppt? Man stelle sich vor, chinesische Dschunken versuchten, in Newcastle Opium zu verkaufen. Chinas wachsende Opiumimporte sind nicht nur ein klarer Beweis für die britische Gier und Skrupellosigkeit – aber wer braucht den schon? –, sondern belegen auch die Schwäche des chinesischen Staates und, nicht zu vergessen, die heimliche Zusammenarbeit vieler Chinesen mit den Briten.4 Ebenso kann man fragen, warum die chinesische Wirtschaft, wenn sie tatsächlich so weit entwickelt war, wie von der kalifornischen Schule behauptet, den Abfluss von Silber, der das Land besonders im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts traf, nicht durch neue Produkte auszugleichen vermochte. Der Abfluss von Silber, der in beinahe jedem Text über Chinas Schwierigkeiten erwähnt wird, verursachte in der Tat große Probleme. Auch das ist überraschend: Gemessen am BIP war er eher gering.5 Die Tatsache, dass Silber das Land verließ und so Chinas Währungsreserven aufgezehrt wurden, wäre mit mehr Erfindungsreichtum zu bewältigen gewesen; ein Silberabfluss dieser Größenordnung hätte kein Problem sein müssen, hätte das Land über einen gut organisierten, effizienten Staat verfügt. Großbritannien bewältigte im Güterhandel weit größere Exportdefizite. Dasselbe gilt für die oft erwähnten Kosten von Kriegen einschließlich Reparationen. Im gesamten Zeitraum von 1843 bis 1899 musste China 713 Millionen Tael Reparationen zahlen – jährlich durchschnittlich rund 12 Millionen Tael bzw. pro Kopf ein bis anderthalb Gramm Silber.6 Die Auslandsschulden der Regierung, ebenfalls Thema großer Debatten und von Historikern wie Zeitgenossen als erhebliches Problem gewertet, wuchsen von 1861 bis 1898 auf insgesamt rund 270 Millionen Tael. Das ist deutlich weniger als ein Tael bzw. 37 Gramm Silber pro Kopf.7 Im Vergleich zu dem, was damals im Westen normal geworden war, waren dies verschwindend geringe Summen.8 Der Grund dafür, dass relativ unbedeutende finanzielle 3 Williamson, Trade and Poverty, 33–34. 4 Lovell, Opium War, Kap. 11. 5 Vgl. Lin, China Upside Down. 6 Kent Deng, »Miracle or Mirage? Foreign Silver, China’s Economy and Globalisation from the Sixteenth to the Nineteenth Centuries«, http://www.lse.ac.uk/collections/ economicHistory/GEHN/GE HNPDF/KentDengSILVER.pdf. Deng stützt sich bei diesen Zahlen auf Zhao Dexin, Dictionary of Chinese History (1990), 874–880. Die damaligen Wertschwankungen des Tael sind in dieser Berechnung berücksichtigt. 7 Kent Deng, »Sweet and Sour Confucianism«, Beitrag zur »Tenth Global Economic History Conference«, Washington, September 2006, 36–37. 8 Frankreich musste nach der Schlacht von Waterloo Reparationen zahlen, die sich zusammen mit weiteren Zahlungen auf rund 20 Prozent seines BIP, also etwa 300 Gramm Silber pro Kopf, beliefen (White, »Making the French Pay«). Preußens Zahlungen an Na-

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Forderungen und Verluste zu gewaltigen Problemen führten, waren mangelhafte Institutionen. Was sich tatsächlich verheerend auf Chinas Ökonomie auswirkte, war der Taiping-Aufstand, der für jede Wirtschaft und Gesellschaft eine Katastrophe gewesen wäre.9 Die Tatsache, dass die über ein Reich mit rund 400 Millionen Einwohnern gebietenden Qing während des ersten Opiumkriegs nicht die Briten aus dem Land zu werfen vermochten, die sie über eine Distanz von mehreren Tausend Meilen mit ein paar Tausend Mann angriffen, wollen wir gar nicht erst erörtern. Chinas Wirtschaft und insbesondere sein Staat waren offenbar doch nicht so hochentwickelt, intakt und stark; zumindest hielten sie einer faktisch eher schwachen Bedrohung nicht stand. Der Staatsapparat wurde im Lauf der Zeit sogar noch schwächer; im 19. Jahrhundert vermochte die Regierung häufig nicht einmal das absolute Minimum dessen zu erfüllen, was man von jeder Regierung erwarten würde. Viele der auftretenden Probleme hatten mit der sehr schwachen finanziellen Basis der Regierung zu tun.10 Die Verwaltung war ernsthaft unterbesetzt und -bezahlt sowie für die eher technischen Seiten ihrer Arbeit häufig unterqualifiziert. Aufgrund dieses Personalund Finanzmangels blieb das Gros der regulären Arbeit Angestellten und Boten überlassen, die offiziell nicht im Staatsdienst standen und auch nicht von der Regierung, sondern von ihrem unmittelbaren Arbeitgeber und häufiger noch von der Bevölkerung bezahlt wurden. Die Zahl der tatsächlich kriegstauglichen Soldaten war erstaunlich gering; ihre Bezahlung, Ausbildung und Disziplin waren mangelhaft und verschlechterten sich noch. Für die breite Bevölkerung begann der chinesische Staat die schlechteste aller Welten zu verkörpern. Offiziell nur gering besteuert, musste sie in Wirklichkeit erhebliche Beträge an einen Staat – genauer: an seine offiziellen und halboffiziellen Vertreter – entrichten, der öffentliche Aufgaben wie die Verwaltung des Speichersystems, die Unterstützung landloser Bauern sowie die Gewährleistung von Infrastruktur und Sicherheit immer weniger zu erfüllen vermochte. Außerdem differenzierte das Steuersystem zwischen Regionen, was an sich kein Problem sein muss, in diesem Fall aber für Komplikationen sorgte und die wohlhabenden, sich entwickelnden Regionen in gewissem Maß bestrafte. Es differenzierte auch zwischen sozialen Gruppen: Während Reiche oft verschont wurden, mussten viele gewöhnliche Einwohner wesentpoleon zwischen 1806 bis 1812 waren mindestens eine halbe Milliarde Franc bzw. 225 Gramm Silber pro Einwohner Preußens (Macdonald, A Free Nation Deep in Debt, 333). Die britischen Staatsschulden beliefen sich unmittelbar nach den Napoleonischen Kriegen auf mehr als 800 Millionen Pfund – rund 4,4 Kilogramm Silber pro Einwohner Englands, Wales’, Schottlands und Irlands. 9 Deng, China’s Political Economy in Modern Times, Kap. 4. 10 Vgl. Vries, »Staatsfinanzen Chinas und Großbritanniens im langen 18. Jahrhundert«.

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lich mehr als die offiziellen Sätze zahlen. Ein beträchtlicher Teil der Steuern wurde weiterhin in Naturalien entrichtet – ein enorm kostspieliges und betrugsanfälliges System. Am wichtigsten war die Grundsteuer, was das Steuerwesen recht unflexibel machte. Viele Flächen wurden gar nicht besteuert. Insgesamt gaben die Steuereinnahmen der Regierung bei Weitem nicht die erforderlichen Mittel in die Hand, um das Land in eine bestimmte Richtung zu lenken – hätte sie dies denn gewollt, was offenbar nicht der Fall war. Da weder die Steuern erhöht noch Kredite aufgenommen wurden, musste sie improvisieren. Es mangelte ihr an institutionellen Voraussetzungen, um schnell und effektiv auf Notsituationen zu reagieren. Illegale und außerrechtliche Praktiken waren gang und gäbe, Beschwerden über Korruption und Betrug sehr verbreitet. Oft wurden Eigentumsrechte nicht wirklich respektiert und mitunter klar verletzt. Ab den 1780er Jahren verschlechterte sich die Situation. Den Vertretern der kalifornischen Schule gelingt es erstaunlicherweise, das bereits während des gesamten 18. Jahrhunderts endemische, sich ab dem Ende der Herrschaftszeit von Kaiser Qianlong nur noch verschärfende Problem der Korruption an keiner Stelle zu erwähnen.11 Nirgends in ihren Büchern ist etwas über dieses bestens dokumentierte Phänomen zu lesen. Die Qing-Regierung wurde in der Tat zu einem Teil des Problems und nicht der Lösung. Aber sie war natürlich nicht das einzige Problem. Gemessen an der Welle von Erfindungen und Innovationen in Wissenschaft und Technik, aber auch auf institutioneller und organisatorischer Ebene, die Großbritannien erlebte, zeichnete sich das Qing-Reich von Beginn des langen 18. Jahrhunderts an eher durch Stillstand aus. China konnte auf wissenschaftlichem und mehr noch technischem Gebiet sicherlich Erfolge vorweisen, aber Wandel und Fortschritt wurden unter den Qing eindeutig nicht wie im Westen zu einer zunehmend institutionalisierten Normalität. Es mag die Druckerpresse, den Kompass, das Schießpulver, Papiergeld und vieles andere erfunden haben, doch während der 250-jährigen Herrschaft der Qing blieben wirkliche Innovationen weitgehend aus; weder im Bergbau (sei es in der Drainage oder Belüftung) noch in der Eisenproduktion, der sehr arbeitsintensiven Bewässerung oder dem Reisschälen fanden Durchbrüche statt. Auffällig scheint mir ebenso der fast vollständige Mangel an bedeutenden institutionellen Innovationen im Vergleich zu Großbritannien mit seinen finanziellen, politischen und militärischen »Revolutionen« zu sein. Auch wenn China die Effizienz bestehender Praktiken vielleicht weiterhin hervorragend zu steigern verstand – was meines Erachtens immer weniger der Fall 11 Vgl. etwa Park, »Corruption in Eighteenth-Century China«; Ni/Van, »High Corruption Income in Ming and Qing China«; Chen, »Needham Puzzle Reconsidered«; Tuan-Hwee Sng, »Size and Dynastic Decline«.

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war –, blieben große Innovationen, die es auf einen neuen Entwicklungspfad gebracht hätten, aus: Das Land bewegte sich nicht in eine neue Richtung. Selbst wenn man von der breiten Schumpeterschen Definition ausgeht und die unterschiedlichen Formen von Innovation berücksichtigt, war China verglichen mit Großbritannien nicht sehr innovativ. Nach den Eroberungen unter Kaiser Qianlong (Regierungszeit: 1736– 1795) stand das Reich auch vor Problemen der Überdehnung: Es war zu groß geworden, um in derselben Weise, mit denselben Ressourcen und derselben Zahl von Beamten wie in der Vergangenheit effizient regiert zu werden. In mehreren Regionen, besonders entlang der Grenzen Kernchinas und in seiner neuen Peripherie, kamen Spannungen zwischen Han-Siedlern und der ursprünglichen Bevölkerung auf. Und schließlich verursachte die Überbevölkerung Probleme. Die Lage Chinas in der Spätphase der Qing mag mitunter zu düster und malthusianisch gezeichnet worden sein, doch das Bevölkerungswachstum verursachte tatsächlich erhebliche Schwierigkeiten: Viele Bauernhöfe wurden zu klein, viele Anbauflächen ausgelaugt, und es traten gravierende Umweltschäden auf. Alle in den einschlägigen Lehrbüchern genannten Faktoren des Niedergangs konnten nur deshalb wirksam werden, weil China von vornherein zu schwach war. William Rowe bemerkt treffend: Dennoch ist es unbestreitbar, dass um die Wende zum 19. Jahrhundert, von Herrschern wie Untertanen mit Sorge beobachtet, systemische Mängel des Qing-Reichs zutage traten, sodass das Auseinanderdriften im 19. Jahrhundert nicht bloß in einem wachsenden Rückstand relativ zu Europa, sondern zugleich in einem immanenten und absoluten Niedergang der Leistungsfähigkeit Chinas bestand.12 […] Tatkraft und Moral der Verwaltung wiesen schon lange vor diesem Datum (1795) besorgniserregende Anzeichen auf.13

Die Behauptung, das Qing-Reich sei ein Land der guten Regierungsführung gewesen, ist insofern viel zu positiv. Laut Wong und Rosenthal setzten die Fehlentwicklungen erst mit den ausländischen Interventionen im 19. Jahrhundert ein, insbesondere als China – namentlich nach dem Krieg mit Japan – zu Reparationszahlungen gezwungen wurde. Zu einem Zeitpunkt, als die Kriegslust des Westens und die für ihn damit verbundenen Kosten und Schäden zurückgingen, habe China mehr für Kriege ausgeben müssen und stärker unter ihnen gelitten. Diese Perspektive ist sehr fragwürdig. Zunächst einmal waren die Feldzüge Kaiser Qianlongs kostspieliger als der erste Opiumkrieg, und in jedem Fall erlebten die europäischen Staaten beispielsweise mit den Napoleonischen Kriegen ungleich größere und kostspieligere 12 Rowe, China’s Last Empire, 149–150. 13 Ebd., 88. Deng, China’s Political Economy in Modern Times, zeichnet in Kap. 3 mit dem bezeichnenden Titel »Der verschwindende Staat und seine Folgen« ein noch negativeres Bild.

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militärische Konflikte als das damalige China. Der für China bei Weitem verheerendste Konflikt des 19. Jahrhunderts war der Taiping-Aufstand, für den nicht in erster Linie Europäer haftbar gemacht werden können, auch wenn europäische Mächte nach Ausbruch der Turbulenzen eingriffen – und zwar um die Qing-Regierung zu retten. Die Reparationen pro Kopf, die häufig als wichtige Ursache der chinesischen Notlage benannt werden, waren im Vergleich zu den von europäischen Kriegsverlierern gezahlten Summen verschwindend gering.14 Dem britischen und später westlichen Take-off ging in der Tat, wie Frank bemerkte, ein »Niedergang des Ostens« voraus, auch wenn sich seine Ursachen und sein zeitlicher Verlauf je nach Region unterschieden.15 Beschränken wir uns auf die Ökonomie, dann können wir für Indien feststellen, dass es einen signifikanten Anteil am Welttextilmarkt an Großbritannien verlor, noch bevor dessen Industrie einen klaren technischen Vorsprung gewann, in jedem Fall vor 1800. Indiens Wettbewerbsfähigkeit litt unter Entwicklungen im eigenen Land, die Preise und Löhne in die Höhe trieben. Für China gilt, dass seine Porzellan- und Seidentextilexporte schon in den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts zurückgingen. Im Osmanischen Reich setzte der Niedergang des produzierenden Gewerbes erst später, in den 1830er Jahren, ein. Allerdings war dort ein deutlicher Verfall der politischen und militärischen Macht festzustellen.16 Das iranische Reich der Safawiden brach im Grunde bereits 1722 zusammen.

14 Beispiele hierfür S. 434–435. 15 Frank, ReOrient, 264–276. 16 Näher zum Niedergang des asiatischen produzierenden Gewerbes: Williamson, Trade and Poverty, Kap. 5–7.

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Abschließende Bemerkungen

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In diesem Buch wurden neuere wirtschaftstheoretische Thesen über Charakter und Ursachen des modernen Wirtschaftswachstums mit den Erklärungen globaler (Wirtschafts-)Historiker für die Great Divergence verglichen, die gewöhnlich als Folge der ersten Manifestation jenes Wachstums gilt. Gestützt auf diese theoretischen Einsichten und meine wirtschaftshistorischen Kenntnisse habe ich die gegenwärtigen Erklärungen für die Great Divergence auch bewertet. Die Great Divergence wurde als Beginn der tiefen Spaltung zwischen reichen und armen Ländern in der globalen Wirtschaftsgeschichte definiert und für Großbritannien und China, unsere zwei Fallbeispiele, grob auf den Zeitraum von 1680 bis 1850 datiert. Zu erklären war der Take-off zum modernen Wirtschaftswachstum, der diese Spaltung verursachte. Dabei habe ich zwischen »unmittelbaren« und »letztgültigen Ursachen« unterschieden. Erstere wurden in den Produktionsfaktoren ausgemacht: in Boden (hier weiter gefasst als »Geografie« und »natürliche Ressourcen«), Arbeitskraft (im Hinblick auf Quantität, Qualität, Kosten sowie – weniger üblich – Massenkonsum) und Kapital (insbesondere im Hinblick auf seine erforderliche Akkumulation) sowie in der Allokation dieser Faktoren durch Arbeitsteilung, Spezialisierung und Tausch. Auffassungen über die Bedeutung von Innovationen, aus Sicht der meisten modernen Ökonomen das Wesen modernen Wirtschaftswachstums und seine wichtigste unmittelbare Ursache, wurden separat erörtert. Bei den letztgültigen Ursachen standen Auffassungen über die Bedeutung von Institutionen und Kultur im Vordergrund. In einem nächsten Schritt wurden den Positionen von Ökonomen die Erklärungen von (Global-)Historikern für die Great Divergence gegenübergestellt. Es standen die Annahmen, Argumentationslinien und Behauptungen im Vordergrund, die mir in Analysen und Debatten etwa der letzten zwei Jahrzehnte begegnet sind. Grund für diesen zeitlichen Rahmen ist die Tatsache, dass sich die lange währende Debatte über den »Aufstieg des Westens« seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre grundlegend verändert hat. Anstatt einen chronologischen Überblick zu bieten oder den Verlauf der Debatten nachzuzeichnen, wurden all diese Annahmen, Argumentationslinien und Behauptungen analysiert, verglichen und überprüft. Ziel war es, eine allgemeine thematische Analyse der Erklärungen für die Great Divergence zu bie-

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Abschließende Bemerkungen

ten, wie sie durch den Take-off zum modernen Wirtschaftswachstum in bestimmten Teilen der Welt verursacht wurde. In den Beispielen und eingehenderen Analysen haben wir uns zum einen Großbritannien, die erste Industrienation und der Pionier des modernen Wirtschaftswachstums gewidmet, zum anderen, stellvertretend für die Regionen, in denen solches Wachstum ausblieb, dem China der Qing. China wurde als Kontrastbeispiel gewählt, weil es – ob zu Recht oder Unrecht – zusammen mit Großbritannien und dem übrigen Westeuropa bislang im Mittelpunkt der Great-Divergence-Debatte steht. Berücksichtigt wurden aber auch andere Teile der Welt, hilft dies doch bei der Beurteilung der Gültigkeit und Reichweite jener Annahmen, Herangehensweisen und Behauptungen, auf die man in Debatten über Westeuropa und das Qing-Reich trifft.

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Geografie

1. Geografie

Soweit sich wirtschaftswissenschaftliche Wachstumstheorien mit Geografie befasst haben, lag der Akzent lange Zeit auf der »Geografie der Armut«, also darauf, wie sie Armut verursacht und dem Wachstum Grenzen setzt. Kurz gesagt standen unterschiedliche geografische Erklärungsansätze dafür im Vordergrund, warum ein Land nicht reich ist. Globalhistoriker waren für die potenziell wachstumshemmenden Auswirkungen von Geografie natürlich schon immer sensibilisiert, zumal sie fast ausnahmslos stark von Malthus’ Ansichten über Wachstumsgrenzen geprägt sind. Eine unter Ökonomen verbreitete Variante dieses Denkmusters besteht darin, den »Fluch der Rohstoffe« und die »holländische Krankheit« hervorzuheben, zwei Begriffe, die bemerkenswerterweise eine negative Korrelation zwischen guter Ressourcenausstattung und Wirtschaftsentwicklung unterstellen. Beide Begriffe haben auch (andere) Sozialwissenschaftler sowie über Wachstum und Entwicklung forschende Historiker beeinflusst. Das gilt auch und mehr noch für die Dependenztheorie und die Weltsystemanalyse, die unter ihnen schon immer mindestens soviel Zuspruch wie unter Wirtschaftswissenschaftlern fanden. Charakteristisch für arme »periphere« Länder ist demnach eine Spezialisierung auf die Produktion von Rohstoffen, die einem strukturellen Verfall der Terms of Trade ausgesetzt seien. Dies gilt als Ursache für ihre Armut verglichen mit jenen Ländern, die auf das herstellende Gewerbe und Dienstleistungen spezialisiert sind und das »Zentrum« der Weltwirtschaft bilden. Dependenztheorie und Weltsystemanalyse nehmen keinen geografisch verengten Blickwinkel ein: Als mindestens genauso wichtig werten sie internationale und nationale Machtbeziehungen, ohne die die geografische Ressourcenausstattung nicht zwangsläufig negative Folgen haben müsste. Unterschiedliche Ressourcenausstattungen und Spezialisierungen sollen in diesen Ansätzen allerdings weniger den Take-off der reichen Länder erklären, sondern primär, warum zumindest in den meisten armen Ländern keine nachholende Entwicklung stattfand. Viele Historiker und Sozialwissenschaftler folgen bis heute verschiedenen Varianten des Denkmusters von Zentrum und Peripherie, demzufolge bestimmte Beziehungen zwischen den Weltregionen und ihre unterschiedlichen Spezialisierungen das internationale Reichtumsgefälle erklären können. Der Gedanke einer »Entwicklung der Unterentwicklung« ist dort weiterhin sehr verbreitet.

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Abschließende Bemerkungen

Unter Wirtschaftswissenschaftlern findet heute die These eines durchgängigen Verfalls der Terms of Trade von Primärgütern keinen wirklichen Rückhalt mehr. Das bedeutet nicht, dass sie die potenziell negativen Folgen einer entsprechenden Spezialisierung durchweg bestreiten würden – im Gegenteil: Es wird zunehmend anerkannt, dass komparative Vorteile kurzfristig gesehen zwar mitunter gute Gründe für die Spezialisierung auf Produktion und Export von Rohstoffen bieten, dies aber die weitere Entwicklung stark beeinträchtigen kann. Während in bestimmten rohstoffreichen Regionen prosperierende und entwickelte Ökonomien entstanden, war dies weit häufiger nicht der Fall. Jeffrey Williamson bemerkt sicherlich zu Recht, (einer) der Nachteil(e) der Produktion von Primärgütern liege weniger in problematischen Terms of Trade als in starken Preisschwankungen. Das erklärt fraglos manche Probleme rohstoffexportierender Länder. Doch wenn heutige Wirtschaftstheoretiker das geringe Wachstum und die schwache Entwicklung mancher Länder auf ihre Spezialisierung zurückführen, dann aufgrund der damit verbundenen sinkenden Erträge: Sie bewirkt in der Regel wenig Wertschöpfung, erfordert wenig Humankapital und hat kaum Verkettungseffekte oder sonstige positive Auswirkungen. Eine entwickelte Ökonomie lässt sich auf dieser Grundlage nicht aufbauen. Will ein Land zu Wohlstand gelangen, dann muss es sich auf Produkte spezialisieren, die hohe Wertschöpfung, starke Verkettungseffekte sowie positive Nebeneffekte mit sich bringen und die folglich viel Humankapital erfordern. Zudem benötigt es eine verhältnismäßig starke Marktposition. In einem frühen Entwicklungsstadium muss es nicht zwangsläufig von Nachteil sein, wenn sich ein Land auf Produktion und Export von Primärgütern konzentriert, bei denen es über einen komparativen Vorteil verfügt – im Gegenteil, lassen sich so doch die erforderlichen Mittel für die Förderung von Wachstum generieren. Tatsächlich eintreten wird Wachstum aber nur dann, wenn diese Mittel einer allgemeinen Strategie der Diversifizierung und Höherentwicklung der Produktion dienen, die die Exportsektoren mit der übrigen Wirtschaft verbindet und eine zu starke Abhängigkeit von ausländischem Kapital und Know-how vermeidet. Ob eine solche Strategie möglich ist und ob sie Teil einer breit angelegten Politik werden kann und wird, hängt immer auch von den gegebenen Institutionen ab. In Verbindung mit bestimmten extraktiven Institutionen muss sich eine starke Rohstoffabhängigkeit langfristig negativ auf Wachstum und Entwicklung auswirken. Auch wenn die meisten Ökonomen insofern einräumen würden, dass Geografie von Bedeutung, ja mitunter ein grundlegendes Wachstumshindernis ist, sind sie sich weitgehend einig darüber, dass Wachstum nicht von ihr abhängt. Ganz anders stellt sich die Situation in der Globalgeschichte dar. In den Publikationen von Globalhistorikern liegt das Augenmerk häufig auf der

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Geografie

»Geografie des Reichtums«, also darauf, wie die Geografie in der einen oder anderen Weise dem Westen zu Reichtum verholfen habe. In den Arbeiten einiger Mitglieder der kalifornischen Schule ist diese Akzentsetzung besonders ausgeprägt. Es ist von »geografischem Glück«, »glücklichen geografischen Zufällen«, »ausschlaggebenden Zufällen der Geografie«, »unverhofften Vorteilen durch Brennstoffe, Naturfasern und vielleicht sogar Nahrungsmittel« und vielfach von »günstig gelegenen Kohlevorkommen« und »fiktiven Nutzflächen« die Rede. Geografie wird zumindest als eine sehr wichtige Ursache der Great Divergence gewertet. Einige von uns angeführte Ökonomen und Wirtschaftshistoriker wie Stanley Engerman, Kenneth Sokoloff, Daron Acemoglu, Simon Johnson und James Robinson konzentrieren sich in ihren Analysen wirtschaftlicher (Nicht-)Entwicklung hingegen auf mutmaßliche Zusammenhänge zwischen der Ressourcenausstattung im weitesten Sinn des Wortes, der Herausbildung bestimmter Institutionen und der daraus folgenden Entstehung pfadabhängiger Teufelskreise oder positiver Zirkel der Entwicklung. Ihr Ansatz scheint wesentlich vielversprechender zu sein als der geografische Determinismus von Wissenschaftlern wie Diamond und Morris. Letztlich ausschlaggebend sind aus ihrer Sicht Institutionen. Auch dieser Ansatz weist jedoch Probleme auf. Nicht immer sind solche Studien frei von dem geografischen Determinismus, den sie eigentlich ablehnen, und nicht immer geben sie der Kontingenz genügend Raum. Zudem gehen sie bislang eher von Annahmen über Reichtum, Armut, Ungleichheit und soziale Strukturen in den jeweils erörterten Regionen als von gesicherten Fakten aus – insofern könnte es sich herausstellen, dass ihre Analysen, besonders im Falle Lateinamerikas, auf Sand gebaut sind. Bis jetzt sind sie außerdem zu oft von oberflächlichen Verallgemeinerungen und statischen Entweder-oder-Vergleichen zwischen isolierten Punkten in der Geschichte geprägt, die die Entwicklung im Zeitraum dazwischen und häufig auch das menschliche Handeln ausblenden. Doch solche Mängel sind bei bedeutenden Thesen wohl unvermeidlich; entscheidend ist, ob sie sich beheben lassen. Die Wechselbeziehungen zwischen Geografie und Institutionen dergestalt hervorzuheben, ist sicher fruchtbar. Eine begrenztere, aber konkretere Weise, Zusammenhänge zwischen Geografie und Wirtschaftsentwicklung aufzuzeigen, die mir – wie im Vergleich zwischen der britischen Weizenund der chinesischen Reiswirtschaft hoffentlich deutlich wurde – sehr aufschlussreich scheint, besteht darin, von bestimmten Grundnahrungsmitteln auszugehen, die zum Kern einer spezifischen Produktionsweise werden. Diese wiederum begünstigt bestimmte Entwicklungspfade und hemmt andere. Hier geht es nicht um zwangsläufige Entwicklungen, sondern um Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten, Abhängigkeiten oder allenfalls Logiken. In der Geschichte kommt es immer auf Kontexte an. Reisanbauregio-

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Abschließende Bemerkungen

nen zum Beispiel entwickeln sich nicht zwangsläufig wie das untere Gebiet am Jangtse; Weizenanbauregionen nicht zwangsläufig wie Südengland. Meiner Ansicht nach kann Geografie im weitesten Sinne des Wortes, einschließlich Lage und Ressourcenvorkommen, zweifellos ein gewichtiger Erklärungsfaktor für Reichtum und Armut sein. Allgemeingültige, eindeutige Kausalbeziehungen zwischen bestimmten geografischen Faktoren und Reichtum oder gar Entwicklung hat jedoch noch niemand nachweisen können – und daran wird sich auch nichts ändern. Für anhaltendes, substanzielles Wirtschaftswachstum stellt Geografie bestenfalls eine notwendige Bedingung, niemals aber eine hinreichende oder auch nur wichtige Erklärung dar – dafür ist sie schlicht zu statisch. Selbst wenn sie Herausforderungen oder Möglichkeiten bietet und zur Entstehung von Wachstum beiträgt: sein Andauern kann sie für sich genommen nicht hinreichend erklären. Mit Blick auf die zentrale Frage, warum Großbritannien und später Westeuropa der Take-off gelang, China dagegen nicht, bietet die Literatur meines Erachtens keine überzeugenden Belege für eine ausschlaggebende Rolle geografischer Faktoren. Sicherlich verfügte Großbritannien über einige Vorteile. Als Insel war es relativ gut vor Krankheiten geschützt und schwer zu erobern. Es benötigte nur ein kleines stehendes Heer – baute andererseits aber eine gewaltige Flotte auf, die weit größer war als zur bloßen Verteidigung notwendig. Transport und Kommunikation im Inland wie mit der übrigen Welt wurden ihm geografisch erleichtert, und die Neue Welt lag in relativer Nähe. Großbritannien besaß außerdem viel Kohle, wurde nicht von schweren Naturkatastrophen heimgesucht, und sein Klima war nicht ungünstig für wirtschaftliche Unternehmungen. All das ist gewiss nicht unerheblich und kann unter den richtigen Bedingungen und bei effektiver Nutzung sogar ausgesprochen hilfreich sein, aber eine hinreichende Erklärung für die Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums bietet es nicht. Dasselbe gilt für die geografischen Bedingungen im übrigen Westeuropa. Ebenso weithergeholt wäre es, das Ausbleiben einer Industrialisierung in China auf geografische Faktoren zurückzuführen. Chinas Geografie war eine ganz andere als die britische, aber dass sie insgesamt ungünstiger gewesen wäre, ist keineswegs ausgemacht.

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Arbeitskraft und Konsum

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2. Arbeit(-skraft) und Konsum

Über die Rolle der Arbeitskraft für das moderne Wirtschaftswachstum (bzw. seine Entstehung) besteht unter Ökonomen zumindest dort kein klarer Konsens, wo es um die Auswirkungen ihres Umfangs und ihrer Kosten geht. Die Vorteile einer großen und wachsenden Bevölkerung und Zahl von Arbeitskräften werden in der Literatur ebenso behandelt wie ihre Nachteile; die oft daraus resultierenden niedrigen Löhne gelten den einen als günstig, den anderen als ungünstig. In Debatten über wirtschaftliche Entwicklung folgt das eine Lager der Argumentation Ester Boserups, während es das andere eher mit Thomas Robert Malthus hält: Die einen werten, wie in der neuen Wachstumstheorie üblich, Bevölkerungswachstum als innovationsfördernd, die anderen attestieren ihm negative Auswirkungen, da niedrige Löhne den Anreiz zu Innovationen zunichtemachten. Viele Ökonomen haben die potenziell positiven Auswirkungen hoher Löhne hervorgehoben: Sie böten einen Ansporn zu Innovationen, ermöglichten eine Verbesserung des Humankapitals und stärkten die Binnennachfrage. Viele andere halten dagegen niedrige Löhne und ein großes Arbeitskräfteangebot für günstiger, da sie höhere Profite ermöglichen. Auch die mit der Great Divergence befassten Historiker scheinen hier geteilter Meinung zu sein, wobei die Mehrheit wohl insofern an einer malthusianischen Perspektive auf die vorindustrielle Welt festhält, als sie mit Blick auf die damaligen Grenzen des Wachstums eher die problematische Seite des Bevölkerungswachstums als seine Vorzüge unterstreicht. Werden ihm solche zuerkannt, dann oft mit der Begründung, dass sich in einer größeren Bevölkerung mehr kluge Köpfe fänden und die Wahrscheinlichkeit von Erfindungen und Innovationen entsprechend steige. Insgesamt scheint starkes Bevölkerungswachstum häufiger Folge als Ursache von Wachstum gewesen zu sein. Dass es grundsätzlich zu mehr Innovationen führt, lässt sich durch empirische Studien kaum oder gar nicht belegen. Es gibt andererseits eine ganze Reihe von Gegenbeispielen dafür, wie ein Rückgang der Bevölkerung oder des Arbeitskräfteangebots mit einem hohen Innovationsniveau einhergeht. Ein allgemeingültiger Zusammenhang zwischen demografischer und wirtschaftlicher Entwicklung existiert offenbar nicht, und Bevölkerung und Arbeitskraft sind ohnehin vage Kategorien. Zumindest als Ausgangspunkt der Analyse scheint eine Untersuchung der

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Abschließende Bemerkungen

Lohn- und Einkommensniveaus aufschlussreicher zu sein, da sie konkretere Indikatoren für Arbeitskräftemangel darstellen. Die zuletzt deutlichste These über den Zusammenhang von Lohnniveau und Innovationsrate hat – ausdrücklich mit Blick auf die Entstehung der Great Divergence – Robert Allen vertreten: Großbritanniens Take-off sei durch hohe Löhne in Verbindung mit relativ billiger Energie und niedrigen Zinsraten zustande gekommen. Eine einzigartige Kombination von Faktorausstattungen brachte das Land demnach auf einen kapital-und energieintensiven Pfad, auf dem ihm westeuropäische Länder leichter als andere folgen konnten. Dieser Ansatz ist zweifellos vielversprechend und die unterschiedlichen Faktorausstattungen und -kosten in Großbritannien und China – und vielen anderen Ländern – können sicher viel zur Erklärung ihrer unterschiedlichen Wirtschaftsgeschichte beitragen. Unter den spezifischen Bedingungen Großbritanniens im 18. Jahrhundert könnten Faktorausstattung und -kosten tatsächlich Anreize zur Mechanisierung geboten haben, doch selbst in diesem Fall sind einige Vorbehalte angebracht. Die Mechanisierung fand nicht in den Hochlohnregionen des Landes statt, und Arbeits- wie sonstige Faktorkosten bieten für sich genommen keine hinreichende Erklärung für seinen Take-off. Auch Lagefaktoren zum Beispiel spielten aus diversen Gründen eine wichtige Rolle. Allens These über Faktorkosten, besonders sein Akzent auf der Bedeutung hoher Löhne, lässt sich zudem nicht dahingehend verallgemeinern, dass grundsätzlich ein Zusammenhang zwischen Hochlohnniveau und modernem, kapitalintensivem Wachstum bestünde. Allerdings zeigen seine Analysen, dass auch die von Mokyr vertretene gegenteilige Behauptung zumindest stark einzuschränken ist, wonach sich »erfolgreiche Ökonomien auf eine elastische Zufuhr billiger Arbeitskräfte stützten«.1 Allens allgemeine Behauptung wiederum, niedrige Löhne versperrten einem Land den Weg zur Industrialisierung, scheint übertrieben. Sehen wir uns diesen mutmaßlichen Zusammenhang kurz an. Im britischen Kontext können die aus europäischer und globaler Perspektive gesehen relativ hohen Löhne – die gemessen am Landesniveau relativ niedrig waren – sowie die niedrigen Energie- und Finanzierungskosten, zusammen mit einer günstigen Lage, den Weg zur Industrialisierung zu großen Teilen erklären. Es bereitet jedoch keine Schwierigkeiten, mehrere wichtige Industrieregionen in Westeuropa anzuführen, die sich nicht durch hohe, sondern – gemessen am Rest des Landes – niedrige Löhne auszeichneten. Auch dies kann also zweifellos zur Industrialisierung führen. In diesem Buch wurden vor allem die Überlegungen von Kaoru Sugihara – der im Kern ähnlich argumentiert wie Kaname Akamatsu – erörtert, demzufolge ein arbeitsintensiver, auf Fleiß und niedrigen Löhnen basierender spezifisch ost1 Mokyr, »Dear Labor, Cheap Labor and the Industrial Revolution«, 195.

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Arbeitskraft und Konsum

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asiatischer Weg zum modernen Wirtschaftswachstum existiert. Jedoch war die Intensivierung der Arbeit, heute oft »Revolution des Fleißes« genannt, in Wirklichkeit ein Phänomen, das in vielen Regionen Eurasiens vor und während der ersten Phasen ihrer Industrialisierung auftrat. Sie mag in Ostasien stärker vorangetrieben worden sein, was eine Industrialisierung jedoch für sich genommen nicht wahrscheinlicher machte. Auch Teile Nordwesteuropas, vor allem Großbritannien in den Dekaden vor der Industrialisierung, erlebten einen Prozess der Arbeitsintensivierung, allerdings im Kontext einer nicht wie in Ostasien auf Haushalten, sondern auf Individuen basierenden zunehmenden Teilung der Arbeit. Dies konnte zu größeren Produktivitätssteigerungen führen, erlaubte es doch eine effizientere Allokation der Arbeit und eine – insgesamt – effizientere Marktintegration der Individuen. Es ist prinzipiell denkbar, dass Großbritannien dadurch leichter den Weg zur Industrialisierung einschlagen konnte als Ostasien. Das erste Land, das den ostasiatischen Weg zur Industrialisierung beschritt, war das Japan der Zeit nach der Meiji-Restauration von 1868. Dieser Weg war nicht nur in seinem Fall, sondern in allen uns bekannten Fällen nur in Verbindung mit kapitalintensiveren Hochlohnvarianten der wirtschaftlichen Modernisierung in anderen Regionen möglich, bei denen er Anleihen machte und mit denen er interagierte. Entscheidend ist meines Erachtens jedoch, dass arbeitsintensive Wege zur Industrialisierung, die auf einem »unbegrenzten Arbeitskräfteangebot« beruhen, eine nachholende Entwicklung zwar möglich machen, es aber höchst unwahrscheinlich ist, dass die Intensivierung der Arbeit für sich genommen einen eigenständigen Take-off zum modernen Wachstum bewirkt – und einen solchen wollen wir in diesem Buch erklären. Die spezifische arbeitsintensive Industrialisierung, die viele Ökonomen in Ostasien, aber auch in anderen Regionen ausgemacht haben, kann nie mehr als eine Übergangsphase zur Entstehung substanziellen, anhaltenden Wachstums und Wohlstands sein. Der Reichtum »reifer«, entwickelter Ökonomie beruht auf einem enormen Produktivitätsniveau, das durch keinen Fleiß der Welt jemals erreicht werden kann. Solche Ökonomien sind per definitionem auf den Einsatz relativ umfangreicher Kapitalgüter und großer Energiemengen pro Kopf angewiesen. Trotz ihrer grundsätzlichen Bedeutung ist die (mutmaßliche) Existenz eines asiatischen, ja jeglichen arbeitsintensiven, auf Fleiß beruhenden Wegs zur Industrialisierung für unsere Erklärung des Take-off im Westen unerheblich; sie bietet allenfalls eine partielle Erklärung für die nachholende Entwicklung bestimmter Regionen mit großem Arbeitskräfteangebot. Neben der gesteigerten Verausgabung von Arbeit werden in der Literatur über die frühneuzeitliche Revolution des Fleißes häufig noch zwei weitere Elemente genannt: eine zunehmend qualifizierte Erwerbsbevölkerung und Veränderungen der Konsummuster, die laut Jan de Vries zumindest im Falle

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Abschließende Bemerkungen

Nordwesteuropas und seiner nordatlantischen Ableger aufs Engste mit der vermehrten Arbeit verknüpft waren. Dass nicht nur Kosten und Zahl, sondern auch die Qualifikationen der Arbeitskräfte für das Wirtschaftswachstum relevant sind, liegt auf der Hand. Viele Ökonomen messen heute dem sogenannten Humankapital und somit dem Bildungs- und Qualifikationsniveau eine kaum zu überschätzende Bedeutung für das moderne Wirtschaftswachstum bei. Die meisten globalen (Wirtschafts-)Historiker hingegen zeigen gegenwärtig an Fragen der Arbeitskraft bemerkenswert wenig Interesse. In den Publikationen der kalifornischen Schule jedenfalls sucht man vergeblich nach Erörterungen ihrer Qualität im Sinne von Qualifikationen oder ihrer Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt. Ablauf, Erfordernisse und Organisation der Produktion zu untersuchen – also das, was man früher Produktionsweisen nannte –, scheint überhaupt außer Mode geraten zu sein. Der Fokus hat sich eindeutig von der (Organisation der) »Produktion« zum (Gewinn aus dem) »Austausch« verschoben. Das ist überraschend und kaum zweckdienlich: Wie will man die Entstehung des modernen, durch immense Veränderungen der Produktionsmethoden und -organisation gekennzeichneten Wirtschaftswachstums erforschen, ohne sich mit der Produktionssphäre zu befassen? Ohne bestimmte Qualifikationen und Kenntnisse wären diese immensen Veränderungen undenkbar gewesen. Das spezifische Humankapital, das der »industrielle Revolution« genannte Durchbruch erforderte, war in Westeuropa und besonders in Großbritannien eher vorhanden als in der übrigen Welt. Es wäre interessant zu untersuchen, ob und wie weit dies darauf zurückzuführen ist, dass Westeuropa und vor allem Großbritannien und die Niederlande die reichsten Teile der Welt waren. Außerdem – aber das betrifft letztlich die institutionelle Ebene – standen in Westeuropa und wiederum ganz besonders in Großbritannien mehr Menschen als in anderen Teilen der Welt dem Arbeitsmarkt als Lohnarbeiter zur Verfügung. Dies ermöglichte eine effizientere Spezialisierung und Allokation der Arbeit als in einer Situation, in der die Arbeitskräfte überwiegend in ein auf Haushalten beruhendes Produktionssystem eingebunden blieben. Und es förderte die Akkumulation von Kapital und Kapitalgütern, von der es seinerseits gefördert wurde. Die Existenz eines ausgedehnten Arbeitsmarktes erleichterte grundsätzlich auch die Konzentration von Arbeitskräften (und somit der Produktion) sowie die Nutzung von Skaleneffekten. Außerdem waren dadurch mehr Menschen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse auf den Kauf von Gütern und Dienstleistungen angewiesen, was wiederum die Entstehung profitabler, großer Produktionseinheiten begünstigte. Die Ausdehnung des Verbrauchsgütermarktes ist von fundamentaler Bedeutung; erfolgreiche Industrialisierung hat einen wachsenden Massenmarkt für (Fertig-)Güter zur Voraussetzung. Jan de Vries’ Deutung der Re-

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Arbeitskraft und Konsum

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volution des Fleißes als Übergangsphase zum modernen Wirtschaftswachstum, entstanden durch eine Reallokation der Arbeit, die ihrerseits eine Reaktion auf den Wandel der Verbrauchernachfrage gewesen sei, bietet offenbar eine fruchtbare Hypothese, die zumindest den längst überfälligen Schritt vollzieht, die Nachfrageseite systematisch in die Analyse zu integrieren. Modernes Wirtschaftswachstum kann nur in einem Umfeld andauern, das man heute Konsumgesellschaft nennen würde. In modernen Wirtschaften erschöpft sich der Konsum weniger denn je in einer passiven Absorption dessen, was zufällig produziert wurde; er ist vielmehr ein zunehmend aktives, die Produktion stimulierendes und lenkendes Moment geworden. Die frühneuzeitlichen Veränderungen des Verbraucherverhaltens besonders in Nordwesteuropa (namentlich in Großbritannien und den Niederlande) waren so ausgeprägt, dass sie als »Revolution des Verbrauchs« bezeichnet worden sind. Die für unsere Analyse entscheidende Frage lautet erneut, ob dies etwas ausschließlich Westliches war, das dazu beigetragen haben könnte, dass das moderne Wirtschaftswachstum zuerst in Großbritannien auftrat und sich ohne große Hindernisse auf andere westeuropäische Länder ausbreitete. Wie sich zeigt, waren substanzielle Veränderungen im Verbraucherverhalten, nicht anders als die Revolution des Fleißes, kein ausschließlich europäisches Phänomen, sondern traten in mehreren hochentwickelten Ökonomien der frühen Neuzeit auf. Doch was im Westen, zumindest in Großbritannien vor sich ging, wies meines Erachtens wiederum einige Besonderheiten auf, die erhebliche Konsequenzen für die ökonomische Entwicklung hatten und eine Industrialisierung in Großbritannien wahrscheinlicher machten. In der britischen Revolution des Verbrauchs spielten importierte (halb-)luxuriöse Konsumgüter eine große Rolle, die anfangs vor allem von einem – zumindest an Gesellschaften außerhalb Westeuropas gemessen – relativ großen Bevölkerungssegment mit mittleren Einkommen gekauft wurden. Dies löste einen Prozess der Importsubstitution aus, der für die Erklärung der Great Divergence großes Gewicht besitzt und ohne den es in Großbritannien keine – oder zumindest eine völlig andere – industrielle Revolution gegeben hätte. Außerhalb des Westens, wie wir wiederum vor allem für China gezeigt haben, blieb ein solcher Prozess aus und war auch nicht nötig, da die meisten »neuen«, halbluxuriösen Konsumgüter dort nicht importiert wurden. Im westlichen, vom Merkantilismus bestimmten Kontext musste die rasch wachsende Nachfrage nach ausländischen Fertigerzeugnissen zwangsläufig Bemühungen nach sich ziehen, Güter wie Seide, Baumwolltextilien oder Porzellan selbst zu produzieren und so den Abfluss von Edelmetallen zu stoppen, mit denen sie bezahlt wurden. War dies im Inland nicht möglich, wurde es häufig in Kolonien oder anderen Regionen versucht, gegenüber denen man einen Machthebel besaß. Die Offenheit der westeuropäischen Ökonomien, die sich in einem relativ hohen

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Abschließende Bemerkungen

Anteil der Importe und Exporte an der Gesamtwirtschaft ausdrückte, spielte ebenfalls eindeutig eine Rolle. Für Westeuropa stellten Importe eine größere Herausforderung dar. Importsubstitution wurde zwar auch in anderen Regionen praktiziert, allerdings erst nach dem industriellen Take-off des Westens, als man auf dessen Exporte reagieren musste. Dies war beispielsweise für Japans Industrialisierung wichtig. Dass China vor seiner Öffnung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Importsubstitution einen Industrialisierungsprozess hätte einläuten können, ist sehr unwahrscheinlich.

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Akkumulation

3. Akkumulation

Akkumulation war traditionell ein sehr wichtiges, lange Zeit sogar das beherrschende Thema in Studien über Wirtschaftswachstum. Dass Wachstum Investitionen in mehr und möglichst auch bessere Kapitalgüter erfordert und dies wiederum Geld und Ressourcen, steht außer Frage. Dennoch hat das Thema Akkumulation seinen zentralen Stellenwert in der wirtschaftswissenschaftlichen Wachstumsforschung zusehends eingebüßt. Natürlich braucht man für Investitionen beträchtliche Kapitalsummen. In der heutigen globalen Wirtschaft stellt der Zugang zu Kapital, insbesondere bei annehmbaren Gewinnaussichten, meist aber keine sehr große Hürde dar. Viele mit der Great Divergence befasste Wissenschaftler messen der Kapitalakkumulation und dem Reichtumsniveau zu Beginn des Prozesses jedoch offenbar weiterhin zentrale Bedeutung bei. Wie die zahlreichen Vergleiche zwischen dem Reichtum, genauer: dem Einkommen der Nationen unmittelbar vor dem Take-off zeigen, fasziniert viele von ihnen nach wie vor primär die Frage, wie es dem Westen gelang, sich die für die Industrialisierung erforderlichen Mittel in Gestalt von Geld, Ressourcen und Arbeitskraft zu verschaffen. In der Globalgeschichte scheint der – im ökonomischen Jargon gesprochen – Kapitalfundamentalismus weiterhin sehr lebendig zu sein. Mit Blick auf die Great Divergence rücken viele Globalhistoriker den »Beitrag der Peripherie« in den Vordergrund – besonders diejenigen, die in der Tradition der Dependenztheorie und der Weltsystemanalyse arbeiten, neuerdings aber auch die Anhänger der kalifornischen Schule, die den »fiktiven Nutzflächen« großes Gewicht beimisst. Was die Akkumulation als solche betrifft – die Kapitalsummen, die Großbritannien für den ersten Take-off brauchte und die andere Länder dafür ebenfalls benötigt hätten –, ist das Ergebnis eindeutig: Auch wenn die Kritiker des »Kapitalfundamentalismus« die Schwierigkeit, Kapital für Produktionsinnovationen zu mobilisieren, generell etwas unterschätzt haben mögen, waren die für den im Mittelpunkt unserer Analyse stehenden Take-off zum modernen Wirtschaftswachstum erforderlichen Kapitalsummen relativ gesehen so klein, dass sie prinzipiell nicht ein so erhebliches Problem gewesen sein können, wie die ältere Literatur oftmals vermuten lässt. Sie hätten in mehreren Gesellschaften ohne Zweifel aufgebracht werden können. Zugegeben: Mit dem Anbruch der zweiten industriellen Revolution ab 1850, im

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Abschließende Bemerkungen

Grunde aber bereits mit dem Beginn des Eisenbahnbaus, stiegen die Kapitalanforderungen und die »Kosten« nachholender Entwicklung deutlich. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte Großbritannien den Take-off bereits vollzogen. Angesichts der Verfügbarkeit immenser Ressourcen in allen fortgeschrittenen organischen Ökonomien der Welt sowie der niedrigen Kapitalanforderungen des britischen Take-offs bin ich davon überzeugt, dass diese Anforderungen – bestimmte Mengen an Geld, Ressourcen und Menschen – für einige Gesellschaften keineswegs ein unüberwindliches Problem darstellten. Das für einen Take-off wie in Großbritannien nötige Geld aufzutreiben, so lautet eine These des Buchs, war kein großes Hindernis. Die erforderlichen Mittel waren in Großbritannien vorhanden und wurden schließlich recht mühelos mobilisiert, und dies wäre auch in China und anderen fortgeschrittenen organischen Ökonomien möglich gewesen. Der erste Take-off war in Wirklichkeit recht günstig. Akkumulation war nicht das wirkliche Problem und bot auch nicht zwangsläufig eine wirkliche Lösung. Viele der reichsten Länder der vorindustriellen Welt, darunter (Teile von) China, Japan und Indien, waren nicht so mittellos, dass sie sich in einer Armutsfalle befunden hätten. Andere Länder wie Spanien und Portugal hatten viel akkumuliert, aber blieben recht arm und industrialisierten sich erst recht spät. Die Niederlande waren bis in die 1820er Jahre vermutlich nicht ärmer als Großbritannien und blieben auch danach vergleichsweise reich – ihr Take-off fand jedoch recht spät statt. Hinzu kommt, dass der Kern der Great Divergence die Entstehung eines anhaltenden und substanziellen Wachstums war. Ein solches Wachstum kann per definitionem nicht allein durch zusätzliche Kapitalinputs zustande kommen, auch wenn sie gewiss eine Rolle spielten. Der Motor des modernen Wirtschaftswachstums besteht nicht in der Quantität der akkumulierten Ressourcen, sondern in der Qualität des in der Produktion eingesetzten Kapitals. Solches Sachkapital bestimmter Qualität ist selbstredend nicht umsonst zu haben, meist aber auch nicht unerschwinglich. Die Kosten des Humankapitals sind letztlich viel höher. Es gibt verschiedene Arten von Akkumulation, deren Auswirkungen und Potenzial sich voneinander unterscheiden. Grob differenzieren kann man zunächst zwischen einer Akkumulation durch Renten, die auf dem Gebrauch von Macht – sei sie politisch, wirtschaftlich oder beides – beruht, und einer Akkumulation durch Profite, die auf Einkünften aus freiem und fairem Wettbewerb auf dem Markt beruht. Diese trennscharfe Unterscheidung ist in der Realität natürlich alles andere als trennscharf, als erste Annäherung aber durchaus hilfreich. In einem nächsten Schritt lässt sich danach unterscheiden, ob Renten bzw. Profite im Inland oder im Ausland erzielt werden. (Global-)Historiker tendieren dazu, die Rentenabschöpfung im Ausland stärker zu beachten als die im Inland stattfindende. Diese Akzentsetzung hat insofern eine gewisse Logik, als man behaupten könnte, eine Ak-

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Akkumulation

kumulation innerhalb des Westens bewirke letztlich nur eine Art interne Reallokation, mache ihn insgesamt aber nicht reicher als die übrige Welt, auch wenn man so die Notwendigkeit einer »ursprünglichen Akkumulation« (Marx) im Inland, um die Investitionsmittel für eine Steigerung der Produktion zu gewinnen, gewiss unterschätzen würde. Die Rentenabschöpfung im Ausland hat Grenzen und gewährleistet für sich genommen nie ein anhaltendes Wachstum, wie es in der reichen Welt mittlerweile seit vielen Jahrzehnten existiert. Sogar dort, wo sie gemessen an den notwendigen Investitionen von beträchtlichem Umfang war, bietet sie keine hinreichende Erklärung für den Reichtum des Westens. Modernes Wachstum entsteht nicht durch ursprüngliche Akkumulation, auch wenn diese in bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten gewiss zu ihm beigetragen hat. Der Westen wurde nicht einfach durch Zwang und Ausbeutung im Ausland, etwa durch Sklavenhandel und -arbeit oder die Aneignung lateinamerikanischer Edelmetalle, entwickelt, reich und schließlich industrialisiert. Einer solchen These widersprechen die Korrelationen zwischen Rentenabschöpfung im Ausland und wirtschaftlicher Entwicklung, sowohl was die Länder, die akkumulierten Mengen als auch die Chronologie betrifft. Dasselbe gilt für die Profite, die westliche entwickelte Länder im Handel mit weniger entwickelten Ländern erzielten. Für das von unterschiedlichen Ländern erreichte Niveau der Akkumulation wird gewöhnlich dem Außenhandel großes Gewicht beigemessen. Die Entwicklung des Handels, besonders des Außenhandels, gilt oft als wesentlich für die Wirtschaftsentwicklung. Nahezu alle merkantilistischen Maßnahmen fußten auf dieser Überzeugung. Natürlich würde niemand die Bedeutung des Handels bestreiten. Ohne Absatzmärkte für zunehmende Gütermengen ist anhaltendes Wachstum nicht möglich; die Spezialisierung auf hochproduktive Sektoren setzt eine Rohstoffzufuhr voraus; die optimale Nutzung von Skaleneffekten erfordert in der Regel wachsende Märkte. Doch all das macht den Handel nicht zum Motor modernen, anhaltenden Wachstums. Ohne Innovationen stößt er an Grenzen: Er vermittelt dann lediglich den Austausch von Produkten, die innerhalb der Schranken der gegebenen Produktionsweise hergestellt werden, hebt die Wirtschaft aber nicht auf ein höheres Niveau und mündet letztlich, wie bereits Smith bemerkte, in einem stationären Zustand. Hinzu kommt, dass der Austausch von Waren jeder Art – also auch von Dienstleistungen, Geld und Arbeitskraft – eine wirtschaftliche Tätigkeit ist: Personen, Unternehmen oder Länder, die stärker von ihm profitieren, sind offenbar leistungsfähiger und Handelsgewinne – abgesehen von außergewöhnlich günstigen Situationen, die meist nicht lange andauern – folglich eher Teil des zu Erklärenden als der Erklärung. Einkünfte und Akkumulation sind in der Binnenwirtschaft meist deutlich größer als in der Außenwirtschaft, ob sie sich nun Zwang oder Profiten ver-

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Abschließende Bemerkungen

danken. Welche Rolle spielten also die Binnenmärkte? Klassische Darstellungen des Aufstiegs des Westens erschöpfen sich oft in einer Geschichte der Durchsetzung des Marktes. Klassische Marxisten heben mit gutem Grund die spezifische Logik und Dynamik eines Typus kapitalistischer Akkumulation hervor, den sie weiterhin als einen einzigartig westlichen verstehen. Aus ihrer Sicht kommt es weniger auf die akkumulierten Mengen als auf die Logik und Dynamik der Akkumulation an. Beispiele für umfangreiche Akkumulation unter nichtkapitalistischen Bedingungen gibt es zur Genüge. Um zu akkumulieren, braucht man keinen Kapitalismus – im Gegenteil: er erschwert dies sogar oft. Sie messen zwar der ursprünglichen Akkumulation, die im Grunde eine Form von Rentenabschöpfung darstellt, erhebliche Bedeutung bei, rücken aber die Mechanismen der kapitalistischen Produktionsweise in den Vordergrund. Wesentlich für die Logik und Dynamik der Akkumulation in kapitalistischen Marktwirtschaften und eine conditio sine qua non derselben sind demnach die Proletarisierung der Arbeitskraft, durch die einfache Produzenten ihre Subsistenzmittel verlieren, und ein Prozess permanenter Konkurrenz, in dem Profite durch die Senkung der Arbeitskosten sowie durch Investitionen in mehr und bessere Kapitalgüter erzeugt werden. Märkte im In- wie Ausland sind somit auch für sie in mehrerlei Hinsicht viel wichtiger als reine Akkumulation. Akkumulation basiert auf Profiten. Auf Märkten, die sich durch freien und fairen Wettbewerb auszeichnen, sinken die Profite mit zunehmender Konkurrenz tendenziell, was all diejenigen, die den Aufstieg des Westens mit der Durchsetzung eben solcher Märkte gleichsetzen, natürlich vor ein Problem stellt. Freie Märkte bieten ständige Herausforderungen und erfordern Dynamik und Wandel, hemmen jedoch andererseits eine Akkumulation auf großer Stufenleiter. Wie immer mehr Marxisten und Anhänger Schumpeters betonen, ist der Wettbewerb in sogenannten kapitalistischen Wirtschaften in Wirklichkeit kein vollkommen freier und fairer, sondern durch unterschiedlichste Arten von Monopolisierung gekennzeichnet, ohne die die Gewinne zu niedrig und unsicher wären.

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Spezialisierung und Tausch

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4. Spezialisierung und Tausch

Die beständig wiederkehrende Interpretation des Aufstiegs des Westens als Durchsetzung des Marktes stützt sich auf die Logik eines Wachstumsmodells, das im Wesentlichen bereits von Adam Smith entwickelt wurde: Unter Bedingungen eines (im Idealfall) vollkommenen Wettbewerbs steigern Arbeitsteilung und Spezialisierung die Produktion. Späteren Adaptionen zufolge sind Innovationen ein beinahe »natürliches« Ergebnis solchen Wettbewerbs. Ceteris paribus werden die Grenzen des Wachstums nach Smith durch die Marktgröße gesetzt: Sie bestimmt das Ausmaß der möglichen Spezialisierung. Die Marktgröße wiederum wird demnach durch Technik, nämlich Transport- und Kommunikationsmittel, durch institutionelle Arrangements, insbesondere das Ausmaß der Handelsbarrieren, sowie durch die Einkommen bestimmt. Sie hängt außerdem von der Faktorausstattung und Größe des Landes ab. In den vergangenen Jahrhunderten zunehmender Globalisierung haben sich die Märkte enorm ausgedehnt, doch selbst heute treiben die meisten Länder aus mehreren Gründen vor allem mit dem nahegelegenen Ausland Handel. Dass Spezialisierung und Austausch Wachstumsquellen sein können, wird niemand bestreiten. Für die Erklärung der Great Divergence aber hat die gängige Behauptung, der Westen habe über größere und/oder besser funktionierende Märkte verfügt und dies habe seine einzigartige Entwicklung ausgelöst, weitgehend ihre Plausibilität eingebüßt. Im Vergleich zum chinesischen Reich waren die westlichen Länder sehr klein und ihre Märkte kennzeichnete oftmals eine nur schwache Integration. Das frühneuzeitliche Großbritannien stellte dabei eine Ausnahme dar: Kein europäischer Binnenmarkt war stärker integriert. Doch verglichen mit China, ja selbst mit einigen chinesischen Regionen, verfügte es schwerlich über eine beeindruckende Einwohnerzahl. Selbst bei Berücksichtigung aller Kolonien oder, noch weiter gefasst, aller wichtigen Handelspartner war der britische Markt eher klein. Im Falle des Verbrauchsgütermarktes – gewissermaßen der Ort, an dem über die erste industrielle Revolution entschieden wurde –, war die absolute Größe für die beginnende Industrialisierung offenbar nicht ausschlaggebend. Gegenüber China besaß Großbritannien hier keinen Vorteil. Im Außenhandel bestanden tatsächlich erhebliche Unterschiede, was seine relative Größe, sein Wachstum und den Charakter der gehandelten Güter anbelangt. Auch wenn

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Abschließende Bemerkungen

dies für sich genommen keine Erklärung für den britischen Take-off bietet, sind die Differenzen zu beinahe allen Ländern auf der Welt und besonders zu den großen Reichen sehr deutlich. Was die mit wachsendem Handel gewöhnlich einhergehenden Skaleneffekte betrifft: Es ist keineswegs sicher, dass westliche Länder die größten Märkte hatten. Großbritannien verfügte zwar über einen gut funktionierenden offenen Binnenmarkt und ein großes Empire, doch verglichen mit den Marktregionen in einem Land wie China bildete auch beides zusammen nur einen kleinen Markt. Natürlich kommt es auch darauf an, wie schnell der Handel wächst, ob dies zu Engpässen führt und welche Eigenschaften die gehandelten Waren haben. In dieser Hinsicht könnte sich Großbritannien tatsächlich in einer günstigeren, das heißt größere Herausforderungen bietenden Lage befunden haben, da sein Handel breiter gefächert war und mehr Engpässe erzeugte als die recht gleichförmigen und weitgehend reibungslos funktionierenden Marktsysteme in China. Es ist oft behauptet worden, Großbritannien habe zu seinem Vorteil über eine sehr offene Wirtschaft verfügt. Da Offenheit in diesem Kontext jedoch unterschiedliche Bedeutungen und Konnotationen haben kann, gilt es zu differenzieren. Tatsächlich entwickelte Großbritannien im Lauf des 18. Jahrhunderts insofern eine offene Wirtschaft, als seine Importe und Exporte einen erheblichen Anteil des BIP ausmachten und das absolute Handelsvolumen rasch zunahm. Es importierte nicht nur zahlreiche Produkte, sondern auch Wissen, Technologien, Fähigkeiten und Menschen. Das war zwar nicht einzigartig, aber eine solche Offenheit bot eindeutig viel stärkere Anreize, als sie in großen Reichen wie dem China der Qing oder auch einem Land wie Frankreich existierten. Der anfangs erhebliche Anteil von Fertiggütern an den britischen Importen stellte das nationale Gewerbe vor eine Herausforderung und führte zur Importsubstitution – die so erfolgreich war, dass Großbritannien zuvor importierte Produkte sogar in großem Umfang zu exportieren begann. Was wir heute seine »industrielle Revolution« nennen, wäre ohne umfangreiche Importe und Exporte nicht möglich gewesen. Dass eine solche Offenheit sehr positive Auswirkungen auf die Wirtschaft haben kann, ist leicht einzusehen. Unter Offenheit werden in diesem Kontext jedoch häufig auch niedrige Handelsbarrieren verstanden – und Großbritannien in diesem Sinn als offen zu bezeichnen, wäre wenigstens für den Zeitraum bis zu den 1830er Jahren sehr wohlwollend. Das ist angesichts der festen Überzeugung vieler Ökonomen, Freihandel sei wachstumsfördernd, Protektionismus dagegen wachstumshemmend, eine natürlich bemerkenswerte Feststellung, die uns dazu nötigt, diese lange Zeit vorherrschende und noch heute geläufige Vorstellung anhand der Wirtschaftsgeschichte zu überprüfen. Lange Zeit lehrte die Handelstheorie, Länder sollten sich gemäß ihrer komparativen Vorteile spezialisieren und dabei möglichst wenige Handels-

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Spezialisierung und Tausch

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barrieren errichten: Bei freiem und fairem Wettbewerb steigere die Wahl der richtigen Spezialisierung die Effizienz und Einkünfte aller beteiligten Länder. Großbritannien verfügte beim Take-off tatsächlich über einen komparativen Vorteil bei Fertiggütern und im Dienstleistungssektor; dass es sich auf ihre Produktion für den Export konzentrierte und Rohstoffe und Nahrungsmittel, bei denen es einen geringeren oder gar keinen komparativen Vorteil verzeichnete, importierte, war eine rationale Entscheidung. Doch kann diese Strategie den britischen Take-off nicht erklären. Dass das Wachstum ohne sie rasch versiegt oder zumindest zurückgegangen wäre, ist gewiss von Bedeutung, aber eine andere Frage. Für Großbritannien funktionierte diese Strategie nach einer langen merkantilistischen und protektionistischen Periode sehr gut. Doch bedeutet dies, dass eine entsprechende Spezialisierung damals für alle Länder vorteilhaft war oder gewesen wäre? Von den 1820er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg erlebte der Welthandel aus mehreren Gründen einen Boom. Diese Ära der Globalisierung war jedoch zugleich die Ära der Great Divergence. Für (noch?) nicht industrialisierte Länder wäre es laut der vorherrschenden Wirtschaftslehre ratsam gewesen, sich gemäß komparativer Vorteile zu spezialisieren und mit den so erzielten Einkünften ihre Wirtschaften aufzuwerten. Welcher genauen Strategie sie auch folgten, es gibt tatsächlich klare Beispiele dafür, dass Länder von einer wachsenden Integration in die Weltwirtschaft profitierten – so etwa die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Neuseeland und, trotz erheblicher Unterschiede in puncto Faktorausstattung und Institutionen, auch Japan, die erste asiatische Industrienation. In vielen später zur Dritten Welt zählenden Ländern verlief die Entwicklung dagegen sehr ungünstig: Sie spezialisierten sich ebenfalls ihren komparativen Vorteilen entsprechend, wurden aber wirtschaftlich abgehängt. Offenbar konnte sich die Zunahme des Welthandels und der globalen Handelsintegration je nach Region unterschiedlich auswirken. Folgt man neueren wirtschaftshistorischen Analysen, dann wurden solche Länder nicht in erster Linie aufgrund eines Verfalls ihrer Terms of Trade wirtschaftlich abgehängt. Auch wenn sie unter den starken Preisschwankungen ihrer Primärgüterexporte gelitten haben mögen, bestand der Kern des Problems darin, dass sie keine Aufwertung zu Produkten mit höherer und wachsender Wertschöpfung sowie einem höheren Wissensanteil vollzogen, sondern freiwillig oder unfreiwillig weiterhin einfache Güter mit niedriger Wertschöpfung herstellten. Es gibt langfristig günstige und ungünstige Formen der Spezialisierung, doch Wirtschaften sind nicht gezwungen, an den ungünstigen festzuhalten, nur weil sie sie einmal gewählt haben. Ob primärgüterproduzierende Länder ihre Produktion aufgewertet und sich entwickelt haben oder nicht, mag unterschiedliche Gründe gehabt haben, aber Politik und Institutionen fielen dabei zweifellos stark ins Gewicht. Um zu einer höherwertigen Produktion

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Abschließende Bemerkungen

überzugehen, müssen die Produktionsstrategien innerhalb einer Volkswirtschaft koordiniert werden, und selbst dann ist dies unter Bedingungen offenen, internationalen Wettbewerbs keine leichte Aufgabe – zumal bei einem kleinen Binnenmarkt. Es verwundert daher nicht, dass es immer auch Ökonomen gab, die für Protektionismus zugunsten bestimmter, insbesondere industrieller Sektoren wenigstens bis zum Erreichen internationaler Wettbewerbsfähigkeit eintraten – das bekannte Plädoyer für den Schutz junger Industrien. Diese Strategie sieht vor, die Wirtschaft zunächst gegen Importe abzuschirmen, die zuvor importierten Güter selbst herzustellen, sie später wenn möglich zu exportieren und die so erzielten Einkünfte für eine Aufwertung zu Gütern mit höherer Wertschöpfung und höherem Wissensanteil zu nutzen. Obwohl dies häufig als nachholende Entwicklungsstrategie betrachtet wurde, läuft es in Wirklichkeit auf genau das hinaus, was Großbritannien, die erste Industrienation, etwa in weiten Bereichen der Textilproduktion selbst praktizierte und was offenbar fast alle reichen Länder während des Take-offs getan haben. Meiji-Japan ist in dieser Hinsicht insofern eine Ausnahme, als es die genannten Stufen ohne nennenswerten Schutz seiner entstehenden Industrien durchlief – internationale Verträge ließen dies nicht zu. Die Behauptung, um auf einen Wachstumspfad zu gelangen, müsse sich eine Wirtschaft durch den Abbau von Handelsbarrieren so weit wie möglich öffnen, wird gegenwärtig von einer wachsenden Zahl von Ökonomen infrage gestellt und von Wirtschaftshistorikern scheint sie widerlegt worden zu sein. Es gibt viele Beispiele für offene Wirtschaften, die unterentwickelt geblieben sind, und für geschützte, stärker abgeschottete, deren Situation sich eindeutig verbesserte und in denen ein Wachstum einsetzte. Eine offene Wirtschaft kann zwar in mehrerer Weise vom Handel profitieren und sich entwickeln, doch es gibt zahlreiche, im Falle sich entwickelnder wie entwickelter Ökonomien sogar mehr Beispiele dafür, dass sie sich erst nach einer protektionistischen Phase öffneten und auf dem Weltmarkt behaupten konnten. Das bedeutet nicht, dass Protektionismus eine Gewähr für Erfolg wäre – mitnichten. In vielen Ländern profitierten von ihm nur Unternehmen, die nicht wettbewerbsfähig waren und Renten abschöpften, während er Verbraucher wie andere Unternehmen belastete. Ob Protektionismus nützt oder schadet, hängt weitgehend von Kontext, Art und Dauer der Maßnahmen ab. Auch in diesem Fall gibt es offenbar günstige und ungünstige Varianten. Wichtige Faktoren scheinen diesbezüglich die Stärke des Staates und seine Wirtschaftspolitik insgesamt zu sein. Das Großbritannien der Industrialisierung war als Staat und Nation infrastrukturell stark und konnte unterschiedlichste, mitunter schmerzhafte, Maßnahmen ergreifen, die als wirtschaftlich notwendig galten. Zudem war es in der internationalen Wirtschaft eher Akteur als Objekt des Handelns anderer. Dass Länder, die ihre

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Spezialisierung und Tausch

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Wirtschaft erfolgreich modernisierten, starke Staaten und Nationen waren, deren Regierungen ausreichende Unterstützung mobilisieren konnten und in denen ein ausreichender Konsens für die Implementierung weitreichender ökonomischer Veränderungen existierte, ist gewiss kein Zufall. Über Offenheit und Wachstum lassen sich weitere Aussagen treffen. Wettbewerb auf Märkten, im Inland wie im (und aus dem) Ausland, verleiht einer Wirtschaft Dynamik. Er bringt Herausforderungen mit sich, die früher oder später eine Reaktion hervorrufen müssen. Moderne, hochintegrierte Wirtschaften zeichnen sich durch institutionalisierte systematische Forschung aus und verwenden immense Mengen an Geld, Arbeitskräften und Ressourcen auf die Förderung von Bildung, Wissenschaft und Technik. In einem solchen Rahmen muss die Wettbewerbsdynamik im Sinne Smiths beinahe zwangsläufig Innovationen im Sinne Schumpeters hervorbringen. Bis zur Entstehung der modernen Wissenschaft und der modernen Forschung und Entwicklung war ein solcher Übergang keineswegs selbstverständlich, wie etwa die Niederlande und deutlicher noch das Qing-Reich demonstrierten. Wettbewerbsdruck wirkt sich auch nicht immer in derselben Weise auf die Produktionsmethoden aus; seine Folgen hängen zumindest teilweise davon ab, wie der Produktionsprozess organisiert ist. In dieser Hinsicht ist es für die Erklärung des Take-offs in Großbritannien nicht unerheblich, dass Lohnarbeit und Arbeit außerhalb des Familienverbands dort im Vergleich zu anderen Wirtschaften so verbreitet waren. Die Produktion war stark von Lohnarbeitern und diese waren wiederum stark vom Arbeitsmarkt abhängig. Der Prozess der »Proletarisierung« verlieh dem westlichen und besonders dem britischen Kapitalismus meiner Ansicht nach eine einzigartige Dynamik: Die hohen Löhne der britischen Proletarier, ihre permanente Verfügbarkeit für und Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt sowie vom Markt für Verbrauchsgüter machten Großbritannien abermals zu einem weit aussichtsreicheren Kandidaten für Produktionsinnovationen und Industrialisierung als China und jedes andere Land der Welt. Die Einführung arbeitssparender Innovationen im Produktionsprozess ist umso wahrscheinlicher, je mehr die »Unterhaltskosten« der Arbeitskräfte von den Unternehmern getragen werden müssen und je höher die Löhne sind. Verfügen die Arbeitskräfte neben dem Lohn noch über andere Subsistenzmittel, ist der Druck zur Senkung der Arbeitskosten gewöhnlich weniger akut. Auch dürfte es in der Regel leichter sein, fremde Arbeitskräfte zu entlassen als ein Familienmitglied dazu aufzufordern, den Haushalt zu verlassen und sich anderswo Arbeit zu suchen.

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Abschließende Bemerkungen

5. Innovation

Modernes Wirtschaftswachstum existiert aufgrund anhaltender Innovationen. Dies scheint gegenwärtig die communis opinio unter Ökonomen zu sein, selbst unter Institutionalisten, die Innovationen an sich zwar nicht besonders hervorheben, ihre Verstetigung aber ausdrücklich nur unter den richtigen institutionellen Rahmenbedingungen für möglich halten. Ökonomen, die an die überwältigende Macht des Marktes glauben, sehen in ihm eine Innovationsmaschine, die durch Wettbewerb gleichsam von Natur aus Innovationen hervorbringe. Sie denken oftmals in evolutionären Begriffen wie »Selektion« und »Überleben des am meisten Angepassten«.1 Anhänger der einheitlichen Wachstumstheorie wiederum verstehen Wissenszuwächse als eine recht direkte Folge von Bevölkerungswachstum und insofern ebenfalls als eine Art Naturphänomen. Vertreter der sogenannten neuen Wachstumstheorie sind häufig eher skeptisch, was einen direkten Zusammenhang zwischen Marktkonkurrenz und Zunahme des (angewandten) Wissens betrifft. Sie betonen dessen Charakter als letztlich nicht-monopolisierbares Gut: Wer in Wissen investiere, könne sich die Erträge nicht ohne Weiteres vollständig aneignen, weshalb Einzelpersonen wie Unternehmen grundsätzlich zögerten, die hohen Kosten seiner Produktion und Verbreitung in Bildung, Forschung und Entwicklung zu tragen. Da es aus ihrer Sicht somit keineswegs gewiss ist, dass der Marktmechanismus als solcher ausreichend Humankapital, Erfindungen und Innovationen hervorbringt, weist die neue Wachstumstheorie in dieser Beziehung dem Staat eine wichtige Rolle zu. In der einen oder anderen Weise betonen aber letztlich alle modernen Wachstumstheoretiker die wesentliche Rolle von Innovationen. Einige Forscher wie Joel Mokyr und Jack Goldstone, die sich mit der industriellen Revolution aus einer globalen Perspektive befassen, sind sich der fundamentalen Bedeutung von Innovationen und ihrer Voraussetzungen durchaus bewusst und berücksichtigen sie gebührend. Andere auf dem Gebiet der Globalgeschichte sehr einflussreiche Wissenschaftler wie André 1 Solche und ähnliche Auffassungen finden sich in den Arbeiten so unterschiedlicher Wissenschaftler wie Veblen, Hayek, Schumpeter, Friedman und neuerdings auch in Publikationen einer eigenen Schule evolutionärer Ökonomen: http://en.wikipedia.org/wiki/ Evolutionary_economics.

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Innovation

Gunder Frank, Kenneth Pomeranz, Roy Bin Wong und zuletzt Ian Morris blenden die Rolle eines permanenten Innovationsprozesses dagegen nahezu vollständig aus; sie behandeln Innovationen eher beiläufig als eine Reihe von isolierten, naheliegenden Reaktionen auf offenkundige Herausforderungen, als Produkt der Notwendigkeit – »Mutter aller Erfindung« – oder gar schlichten Zufalls. Die geschichtlichen Tatsachen widersprechen dem: Das Wesen von Innovationen in modernen Wirtschaften besteht darin, dass sie einen anhaltenden und umfassenden Prozess darstellen – der zu anhaltend und umfassend ist, als dass er eine bloße Reaktion auf Herausforderungen oder kurzerhand Zufall sein könnte. Innovationen, ja selbst Erfindungen bloß als ökonomisch rationale Reaktion auf Anreize zu deuten, wäre ohnehin falsch. Oft waren sie gar keine Antwort auf eine klare wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern zum Beispiel Ergebnis von Neugierde, während viele Notwendigkeiten nie die »notwendigen« Erfindungen hervorriefen. Die Nachlässigkeit und recht oberflächliche Erklärungsweise vieler Globalhistoriker in dieser Frage steht wiederum in verblüffendem Gegensatz zu den Entwicklungen in der Wirtschaftstheorie, die Innovationen mehr und mehr als das begreift, was sie tatsächlich sind: als ein überaus komplexes Phänomen. Die Great Divergence wäre ohne anhaltende Innovationen, das heißt anhaltende technische und wissenschaftliche Entwicklung undenkbar gewesen. Auch wenn modernes Wirtschaftswachstum gewiss mehr umfasst, steht außer Frage, dass es ohne ständige Innovationen rasch versiegt wäre. Die These, dass sich der Westen im 18. Jahrhundert von der »restlichen Welt« deutlich unterschied und aufgrund der Verfügbarkeit und Weiterentwicklung jener Arten von nützlichem, gesichertem Wissen, das zu modernem Wachstum führen kann, in einer deutlich besseren Ausgangsposition für einen Take-off befand, ist mittlerweile hinreichend belegt. Trotz aller revisionistischen Bemühungen der vergangenen Jahrzehnte sehe ich keinen Grund dafür, sie zu revidieren. Besonders mit Blick auf die Diskussionen in der neuen Wachstumstheorie ist außerdem bemerkenswert, dass der britische Staat selbst wenig zur Förderung von Humankapital unternahm und die Entwicklung nützlichen, gesicherten Wissens nur selten selbst vorantrieb. Allerdings widersetzte er sich dem auch nicht und schuf vielmehr ein sehr günstiges Klima für die Entwicklung und Anwendung solchen Wissens, womit er bereits mehr tat als die meisten außereuropäischen Staaten. Die Behauptung, Marktkonkurrenz führe gewissermaßen von selbst zu Innovationen, wird wie gesagt von den historischen Fakten nicht immer gestützt, wie der Fall des Qing-Reichs und in geringerem Maße auch der Niederlande im langen 18. Jahrhundert zeigen. Man muss sich außerdem vergegenwärtigen, dass ein Großteil des vorindustriellen Wachstums und der vorindustriellen Innovationen in Europa ohnehin nicht wirklich Smiths Theorie ent-

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Abschließende Bemerkungen

sprachen, da der zunehmende Austausch – zumindest mit dem Ausland – überwiegend weder frei noch fair, sondern merkantilistisch organisiert war. Was den Charakter von Innovationen betrifft, sind zwei weitere Bemerkungen zu ihrer Bedeutung für das moderne Wirtschaftswachstum im Allgemeinen und für die Great Divergence im Besonderen zu machen. Erstens: Es wäre ein gravierender Fehler, sie auf technischen Wandel zu reduzieren. Auch institutionelle Innovationen im weitesten Sinn tragen, wenngleich oft mit technischem Wandel verbunden und in ihren Auswirkungen insofern schwer zu isolieren, erheblich zur Verbesserung der Produktivität bei – ein Phänomen, das Historiker und Ökonomen gerade erst zu untersuchen beginnen. Auf institutioneller Ebene war der Westen im sehr langen 18. Jahrhundert – und meines Erachtens schon viel früher – weit innovativer als die übrige Welt. Jeder Vergleich für diesen Zeitraum zeigt, dass das QingReich in dieser Hinsicht sehr statisch, Großbritannien hingegen sehr dynamisch war. Zweitens: Ständige Innovationen auf wissenschaftlicher, technischer und institutioneller Ebene erfordern ihrerseits einen bestimmten institutionellen Rahmen – sie florieren nur in einer sozialen Struktur, in der Wandel die Norm und die Gesellschaft zu einer »sich selbst transformierenden Maschine« (Erik Ringmar) geworden ist.2 Wichtiger als die genauen Eigenschaften von Institutionen ist vermutlich, dass sie flexibel sind. Auch in dieser Hinsicht befand sich Großbritannien gegenüber China im Vorteil.

2 Ringmar, Why Europe Was First, Kap. 3.

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Institutionen: Märkte, Eigentumsrechte und Staaten

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6. Institutionen: Märkte, Eigentumsrechte und Staaten

Wenn es eben hieß, dass Historiker und Ökonomen den Beitrag institutioneller Innovationen zur Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums gerade erst zu würdigen beginnen, muss dies vielen Lesern merkwürdig vorgekommen sein: Die vorherrschende Lehre zur Erklärung langfristiger makroökonomischer Entwicklungen dürfte schließlich inzwischen der (neo-)institutionalistische Ansatz sein. Viele Ökonomen – vermutlich die klare Mehrheit –, aber auch viele Historiker erkennen heute in institutionellen Differenzen erklärtermaßen den Hauptgrund für Reichtum und Armut der Nationen. Und es wäre ja auch merkwürdig, spielten Institutionen als dauerhafte Systeme anerkannter und eingebetteter sozialer Regeln, die soziale Interaktionen strukturieren, keine bedeutende Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung. Was sollte diese Entwicklung langfristig bestimmen, wenn nicht die Art und Weise, in der Wirtschaft und gesellschaftliches Leben organisiert sind? Die Schwierigkeit besteht natürlich darin, zu entscheiden, welche Art von Institutionen unter welchen Bedingungen Wachstum fördert, und – sehr wichtig – Methoden zur exakten Messung oder wenigstens Schätzung ihres Gewichts zu entwickeln. Institutionen, die zumindest einen gewissen Einfluss auf die Wirtschaft gehabt haben könnten, gibt es viele. Die meisten Ökonomen und nicht wenige Historiker berücksichtigen in der Erklärung langfristigen makroökonomischen Wandels jedoch nur eine kleine Zahl. Unter Vertretern der vorherrschenden Wirtschaftslehre, einschließlich der (Neo-)Institutionalisten, bestehen kaum Zweifel daran, wie wachstumsfördernde Institutionen verfasst sein müssen. Im Vordergrund stehen hier weiterhin der Markt – keine natürliche Ordnung, wie viele Ökonomen oft einfach annehmen, sondern etwas von Menschen Gemachtes und somit eindeutig eine Institution – und alle gesellschaftlichen Vorkehrungen, die sein optimales Funktionieren gleich einer unsichtbaren Hand ermöglichen. Hervorgehoben werden somit institutionelle Voraussetzungen des produktiven Sektors, nicht aber institutionelle Vorkehrungen innerhalb des Produktionsprozesses von Gütern und Dienstleistungen. Da sich die meisten Institutionalisten nur auf »fördernde« und »einschränkende«, das heißt Voraussetzungen bildende Institutionen beziehen, musste sich auch unser Überblick über die gegenwärtigen Debatten weitgehend darauf beschränken. Im Mittelpunkt standen dabei die zwei In-

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Abschließende Bemerkungen

stitutionen, die – meines Erachtens zurecht – noch immer als die wichtigsten gelten: Markt und Staat. Wenn es um die idealen Entstehungsbedingungen von Wachstum geht, nennen Institutionalisten immer wieder Märkte, auf denen freier und fairer Wettbewerb herrscht, sowie einen Staat, der diesen durch »gute Regierungsführung« ein von unlauterer Einmischung freies Wirkungsfeld schafft. Große Bedeutung messen sie in dieser Beziehung klar definierten und gut geschützten Eigentumsrechten bei, die nur der Staat garantieren könne. Dass Rechtstaatlichkeit, das Gewaltmonopol und eine gewisse Zentralisierung des Staates wichtig sind, scheint mir so offensichtlich zu sein, dass es nicht eigens erörtert werden muss. Auch wenn sie den Begriff zunehmend vermeiden, behaupten Institutionalisten im Grunde, was es für modernes Wirtschaftswachstum damals wie heute brauche, sei eine Marktwirtschaft – oder ein Kapitalismus, wie man früher sagte – à la Adam Smith. Viele jüngere, überaus erfolgreiche Erzählungen über den Aufstieg des Westens gehen noch immer von solchen Annahmen aus. Angesichts neuerer empirischer Befunde über die Wirtschaftsgeschichte unterschiedlicher Weltregionen in der frühen Neuzeit und dem 19. Jahrhundert ist dies erstaunlich. Um mit dem Schlüsselbegriff der institutionalistischen Wirtschaftslehre zu beginnen: Den Eigentumsrechten, einschließlich den geistigen, wird zu viel Gewicht für die Erklärung der Great Divergence beigemessen. Eigentum wurde in vielen Gesellschaften geschützt, auch lange vor dem Take-off in Großbritannien schon. Selbst dort scheint chronologisch wie geografisch kein besonders starker Zusammenhang zwischen Eigentumsrechten und modernem Wachstum bestanden zu haben. Dass Eigentumsrechte eine notwendige Voraussetzung für anhaltendes substanzielles Wachstum sind, scheint mir eine plausible These zu sein – hinreichend für ein solches sind sie allerdings gewiss nicht. Auch ist keineswegs klar, dass die viel gelobte Glorreiche Revolution, in den Augen vieler Institutionalisten ein Wendepunkt der globalen Wirtschaftsgeschichte, tatsächlich ihren Schutz verbesserte. Was Märkte als Erklärungsfaktor des modernen Wirtschaftswachstums betrifft, genauer: Märkte, wie die vorherrschende Wirtschaftslehre sie sich vorstellt, also Systeme freien und gerechten Tauschs, scheint die Lage viel komplexer und in mehrerer Hinsicht durchaus anders zu sein als von Anhängern dieser Lehre seit jeher behauptet. Um diese Differenz zwischen Theorie und Wirklichkeit adäquat aufzuzeigen, empfiehlt es sich, im Hinblick auf Inhalt, Grund und Bedingungen des Austauschs zwischen unterschiedlichen Arten von Märkten zu differenzieren. In der ersten Hinsicht kann man zwischen Waren, Dienstleistungen, Kapital – im Sinne von Sachkapital wie Investitionsmitteln – und Arbeitskraft unterscheiden. Bei den Gründen für eine Teilnahme am Markt besteht ein grundlegender Unterschied zwischen Produzenten, die vorwiegend Subsistenzwirtschaft treiben und lediglich Überschüsse verkaufen, um Geld für bestimmte lebensnot-

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Institutionen: Märkte, Eigentumsrechte und Staaten

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wendige Dinge und die Begleichung von Steuern zu erhalten, anderen, die sich (in gewissem Maß) am Marktgeschehen orientieren, und schließlich solchen, die über keine eigenen Subsistenzmittel mehr verfügen, und gänzlich vom Markt abhängig sind. Mit Blick auf die Bedingungen des Austauschs unterscheiden die meisten Wissenschaftler zwischen Märkten, auf denen freier und fairer Wettbewerb herrscht und alle Parteien die gegebenen Preise zahlen müssen, und solchen, auf denen unterschiedlichste Arten außerökonomischen Zwangs und wirtschaftlicher Macht das Verhalten beeinflussen, auch wenn ihnen bewusst ist, dass diese Unterscheidung viel zu statisch und mitunter sogar irreführend ist. »Abstrakte« Märkte für Konsumgüter und Dienstleistungen bildeten sich im Lauf der Zeit offenbar nicht nur im Westen, sondern zum Beispiel auch im Qing-Reich heraus. Möglicherweise waren sie dort sogar entwickelter oder zumindest im Gesamtumfang größer. Auch Märkte für Kapitalgüter existierten nicht nur in Europa. Zwischen den britischen und den chinesischen Märkten für Waren, Dienstleistungen und Kapitalgüter bestanden meines Erachtens, auch wenn dies schwer zu beweisen ist, klare Unterschiede. Um zu erklären, warum es einen britischen, nicht aber einen chinesischen Take-off gab, waren sie allerdings zu gering. Bemerkenswerte Unterschiede lassen sich dagegen bei den Arbeitsmärkten feststellen. Lohnarbeit war nach heutigen Kenntnissen im Westen insgesamt deutlich verbreiteter als in der übrigen Welt und offenbar nirgends so normal – und teuer – wie in Großbritannien. Was schließlich die Geldmärkte betrifft, funktionierten sie den Zinsraten nach zu urteilen in Großbritannien wesentlich besser als in China. Legt man als Kriterium zugrunde, wie weit das Wirtschaftsleben auf dem Markt stattfand, dann war Großbritannien folglich insgesamt die höher entwickelte Marktwirtschaft. Die hier entscheidende Frage ist die nach dem Zusammenhang von Märkten und modernem Wirtschaftswachstum. Dessen Entstehung war gewiss eng mit einem zunehmenden Austausch von Waren im weitesten Sinn, das heißt von Verbrauchs- und Kapitalgütern, Arbeitskraft und Geld verbunden. Wachsende Verbrauchsgütermärkte können ein Anreiz für (industrielle) Innovationen sein und dem gesteigerten Produktionsumfang den nötigen Absatz bieten. Ökonomien, in denen modernes Wachstum herrscht, importieren meist zunehmende Mengen an Nahrungsmitteln und Rohstoffen. In einer solchen Ausdehnung von Märkten lag aber nicht die Ursache des modernen Wirtschaftswachstums, wie wir für die britische Industrialisierung gezeigt zu haben hoffen. Viele Länder hatten genauso große oder sogar deutlich größere Märkte als Großbritannien. Wachsende Absatzmärkte waren außerdem weitgehend eine Folge sinkender Preise aufgrund von Innovationen und ermöglichten zugleich die Finanzierung zunehmender Importe. Was Kapitalgüter betrifft, ist nur schwer oder gar nicht zu ent-

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Abschließende Bemerkungen

scheiden, ob die britische Wirtschaft insgesamt kapitalintensiver als die chinesische war, doch gemessen an bestimmten fixen Kapitalgütern wie Tieren, Geräten und Nutzfläche pro Hof war sie es eindeutig. Nicht unerheblich in dieser Hinsicht ist auch, dass es in Großbritannien eine wachsende Tendenz zur Nutzung von Skaleneffekten gab, nicht aber in China. Die Unterschiede zwischen ihren Arbeits- und Geldmärkten waren bedeutsam und machten eine Industrialisierung in Großbritannien ebenfalls wahrscheinlicher als in China. Aus Aussagen über Märkte werden schnell solche über den Kapitalismus. Dass der Kapitalismus eine westliche Erfindung war, die im Westen auch zuerst zur Reife gelangte, galt lange Zeit als unbestreitbare Tatsache. Das hat sich geändert. Die meisten Vertreter der kalifornischen Schule zum Beispiel würden ausdrücklich behaupten, auch das China der Qing sei kapitalistisch gewesen – im Wesentlichen deshalb, weil es unzweifelhaft eine kommerzielle Gesellschaft war. So zu argumentieren heißt auszublenden, dass Kapitalismus weit mehr umfasst als Märkte für Verbrauchsgüter. Was immer er sonst noch bedeuten mag, der Begriff bezeichnet in jedem Fall ein System von Produktion und Austausch, das sich durch dreierlei auszeichnet: Märkte nicht nur für Konsum-, sondern auch für Kapitalgüter, Arbeitskraft und Geld; eine bestimmte Organisation der Produktion, die auf die Akkumulation von Profiten auf diesen Märkten ausgerichtet ist; und schließlich ständige Investition dieser Profite in Kapitalgüter. Nach dieser Definition waren Großbritannien und die Niederlande im 18. Jahrhundert, bei allen Unterschieden zwischen ihnen, und in geringerem Maße auch der Großteil des übrigen Westeuropa so viel kapitalistischer als die übrige Welt, dass man sie letztlich als die einzigen kapitalistischen Regionen auf der Welt bezeichnen muss. Nirgendwo sonst gab es einen so großen Arbeitsmarkt, so viele mittlere und große Unternehmen und so niedrige Zinsraten. Der Vergleich mit China ist frappierend: Dort gab es kaum reine Lohnarbeiter, die Zinsraten waren sehr hoch, die Produktion fand überwiegend in nach wie vor über eigene Subsistenzmittel verfügenden Haushalten statt und umfangreiche produktive (Re-)Investitionen blieben weitgehend aus. Ein Übergang zur Industrie war in China angesichts dieser Produktionsweise weitaus unwahrscheinlicher als in Großbritannien. Sehr wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass in Großbritannien nicht nur eine im eben beschriebenen Sinne kapitalistische Marktwirtschaft existierte, sondern auch, gewissermaßen als Überbau, eine im Sinne Braudels und Wallersteins kapitalistische Ebene des Wirtschaftslebens. Auf den Kommandohöhen der britischen Wirtschaft, namentlich im Finanzwesen, im Fernhandel und in den staatlichen Interessensphären, galten kaum die gewöhnlichen Regeln des Marktes. Üblich waren dort vielmehr Monopole, mangelnde Transparenz, Bündnisse zwischen wirtschaftlichen und politi-

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Institutionen: Märkte, Eigentumsrechte und Staaten

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schen Interessengruppen sowie Regulierungen. Der Kapitalismus dieses Anti-Marktes war keineswegs eine bloße Fortsetzung des Marktkapitalismus: Er besaß Regeln und Logik eigener Art. Die Funktionsweise dieser obersten Ebene ebenso wie die Tatsache, dass sie neben einer »gewöhnlichen« Marktwirtschaft existierte, war wiederum einzigartig für Westeuropa und muss weitreichende ökonomische Folgen gezeitigt haben. Dies mag zwar nicht die Ursache der Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums gewesen sein, dessen Dauerhaftigkeit aber wäre ohne die dort entspringenden institutionellen Innovationen schwer vorstellbar. Diese Mischung aus Freiheit, Regulierung und sogar Zwang prägte auch Teile des britischen Arbeitsmarkts, im Inland und mehr noch im Empire. Viele Globalhistoriker – natürlich vor allem die Gegner des Eurozentrismus, die jeden Gedanken einer Besonderheit der europäischen Gesellschaft zurückweisen – beziehen sich nie auf Institutionen. Andere, die meist als Eurozentristen gelten, tun dies zwar, argumentieren dabei aber ganz ähnlich wie neoklassische und institutionalistische Ökonomen: Eigentumsrechten, Märkten und einer guten Regierungsführung, durch die der Staat dem freien Markt die richtigen Rahmenbedingungen und Anreize gibt, messen sie größte Bedeutung bei. Das bringt uns zu einigen abschließenden Bemerkungen über den Staat. Das erstaunliche Ergebnis unserer vergleichenden empirischen Analyse kann nur lauten, dass Großbritannien, die erste Industrienation, während seines Take-offs wenigstens bis zu den 1830er Jahren – und in mancher Hinsicht noch länger – ein fiskal-militärischer, merkantilistischer und imperialistischer Staat war, der beinahe alles tat, was ein an Wachstum interessierter Staat laut der vorherrschenden Wirtschaftslehre nicht tun sollte. Steuern wie Staatsschulden waren sehr hoch. Es existierte ein umfangreicher Verwaltungsapparat und die Regierung griff ausgiebig in die Wirtschaft ein. Die Ausgaben für Heer und Marine waren schwindelerregend. Es herrschte ein ausgeprägter Protektionismus, und das Land war nicht gerade eine Demokratie. Wie all dies den Übergang zum modernen Wirtschaftswachstum im Einzelnen gefördert oder doch zumindest nicht blockiert hat, ist weiter Gegenstand von Debatten. Doch zu welchen Ergebnissen diese auch führen mögen: Dass die frühneuzeitliche Wirtschaftsgeschichte Europas die Geschichte der Durchsetzung eines Marktes im Sinne Adam Smiths gewesen sei, ist ein Mythos, zumindest was den Außenhandel betrifft. Großbritannien hatte während des Take-offs mit einem Nachtwächterstaat wenig gemein. Das gilt auch für die anderen westlichen Länder, die im 19. Jahrhundert zum Take-off übergingen, ja tatsächlich für alle bedeutenden Länder, denen dies überhaupt je gelang. Alle sich entwickelnden, das heißt im Prozess des Take-offs begriffenen Länder können als »Entwicklungsstaaten« bezeichnet werden, sofern man den Begriff nicht zu wörtlich und mit seinen aus dem 20. Jahrhundert stammenden Konnotationen

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Abschließende Bemerkungen

nimmt. Sie alle waren wirtschaftlich sehr aktiv, interventionistisch und auf Wachstumsförderung ausgerichtet. Wie genau solche Staaten funktionieren, welche Art von Eingriffen Erfolg hat und welche nicht, wie genau und unter welchen Bedingungen wachstumsfördernde Maßnahmen effektiv sind – das alles muss noch viel eingehender untersucht werden. Was Wirtschaftshistoriker aber zweifelsfrei gezeigt haben, ist, dass das endlos wiederholte Mantra der vorherrschenden Wirtschaftslehre über die idealen Wachstumsbedingungen in all seinen Varianten kaum etwas mit dem zu tun hat, was in vielen Perioden der Geschichte tatsächlich geschehen ist. Kaum ein Staat, wenn überhaupt einer, hat sich je damit begnügt, die notwendigen Voraussetzungen des Wirtschaftslebens zu schaffen – alle haben es zu steuern versucht. Adam Smith soll einmal bemerkt haben: »Es bedarf wenig mehr, um einen Staat von der niedersten Barbarei zum höchsten Grad des Reichtums zu befördern, als Frieden, niedrige Steuern und eine annehmbare Rechtsverwaltung.«1 Der Fall Großbritannien bietet dafür schwerlich eine Bestätigung. Während der Periode von 1688 bis 1815 führte das Land meistens Krieg, und die Steuern war mitnichten niedrig; sie stiegen steil an, und die Staatsschuld ebenso. Die britische Rechtsverwaltung mag annehmbar gewesen sei – relativ gesehen und an den niedrigen Standards der damaligen Zeit gemessen. Staat und Wirtschaft waren eng verflochten, in mehreren Wirtschaftsbereichen verfügte der Staat über eine starke Präsenz. Großbritannien war während der Industrialisierung ein infrastrukturell starker Staat mit beeindruckenden logistischen Fähigkeiten. Es war auch eine starke Nation, ja das damals stärkste, leistungsfähigste Gemeinwesen überhaupt. Der britische Staat war ein janusköpfiger: Während er sich aus den lokalen Angelegenheiten des Landadels und dem Binnenhandel heraushielt, griff er vehement in alle Bereiche ein, die nach seinem Urteil das nationale Interesse betrafen. Die Unterschiede zu China sind abermals verblüffend. Der Qing-Staat war nie infrastrukturell stark und wurde im Lauf der Zeit, besonders ab den 1780er Jahren, sogar noch schwächer. Zeitweise vermochte er nicht einmal jenes Minimum an Aufgaben zu erfüllen, das man von einem Staat erwarten könnte. Als Nation war China noch schwächer. So bestanden enorme Differenzen zu Großbritannien, und zwar zunehmend zum Nachteil Chinas. Was infrastrukturelle Stärke betrifft, gab es von circa 1780 bis 1850 keinen Staat auf der Welt, der sich mit dem britischen hätte messen können. Doch nicht zufällig waren alle den Take-off vollziehenden westlichen Staaten, ausnahmslos alle, wesentlich stärker als China, ebenso wie der einzige asiatische Staat, der im 19. Jahrhundert den Durchbruch schaffte oder wenigstens im Begriff dazu stand: Japan.

1 Vgl. Anm. 41, S. 144.

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Institutionen: Märkte, Eigentumsrechte und Staaten

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Aufgrund permanenter Konkurrenz und der zahlreichen Kriege konnten sich die europäischen Staaten, sofern ihnen am eigenen Fortbestand gelegen war, Schwäche und einen Verzicht auf die Förderung ihrer Wirtschaft nicht leisten. Auch wenn diese militärische, politische und wirtschaftliche Konkurrenz kaum eine freie und faire war, war sie doch eine von gegenseitigem Nacheifern geprägte Form von Konkurrenz. Dies war nicht nur für das internationale Agieren der meisten europäischen Staaten, sondern auf vielen Ebenen auch für die Gesellschaften Westeuropas charakteristisch, da »die Quellen der sozialen Macht« (Michael Mann), sei es Politik, Ideologie, die Wirtschaft oder militärische Macht, meist nicht monopolisiert waren. Die Konkurrenz gab der Bevölkerung einen gewissen Handlungsspielraum und Schutz, da sie so über die Möglichkeit verfügte, das Land zu verlassen und Einspruch zu erheben. Europas Dynamik beruhte zu großen Teilen auf dieser Konstellation, in der bestimmte Staaten international die Oberhand gewinnen mochten, die anderen aber, um nicht gänzlich von der Landkarte zu verschwinden, zu ständiger Weiterentwicklung gezwungen waren, und in der der Staat – wiederum besonders deutlich im Nordwesten – ständig einen Interessenausgleich mit den Eliten im eigenen Land suchen musste. All diese Aushandlungsprozesse brachten im Westen eine Situation hervor, in der schließlich Nationen entstanden, in denen sich – und darin gründete ihre enorme Kraft – alle vier Quellen der gesellschaftlichen Macht miteinander verbanden. Der Aufstieg des Westens in all seinen Facetten, einschließlich der wirtschaftlichen Great Divergence, hatte seine fundamentale Ursache in dieser Nicht-Monopolisierung, aber engen Wechselbeziehung der Quellen gesellschaftlicher Macht zwischen wie innerhalb von Staaten und in ihren je nach Kontext unterschiedlichen Auswirkungen. Sie trieb Westeuropas Dynamik an, durch die eine wirtschaftliche Modernisierung möglich wurde – und beim richtigen Zusammentreffen von Umständen auch stattfand.

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Abschließende Bemerkungen

7. Kultur

Ohne die »richtigen« institutionellen Arrangements ist langfristiges substanzielles Wirtschaftswachstum nicht möglich, bilden sie doch seine wesentliche Triebkraft. Dass sie Bestand haben können, wenn sie mit der Kultur der jeweiligen Gesellschaft unvereinbar sind, ist schwer vorstellbar. Insofern stellt auch Kultur eine letztgültige Ursache der Wirtschaftsentwicklung dar, es ließe sich sogar behaupten: mehr noch als Institutionen. Kultur existiert nicht im luftleeren Raum: Sie durchzieht die Gesellschaft, von deren Entwicklung sie ihrerseits stark geprägt wird. In der Wirtschaftswissenschaft scheint die Berücksichtigung von Kultur zurzeit eine Renaissance zu erleben, auch wenn die Bemühungen, sie tatsächlich in Erklärungsmodelle zu integrieren, in Forschung wie Theorie verständlicherweise rar gesät sind – schließlich wurden schon viele Thesen über ihre Bedeutung aufgestellt, die sich aber als sehr schwer belegbar erwiesen. Ein Historiker, der sich mit dem wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisstand über den Einfluss von Kultur vertraut machen will, wird keine eindeutige Antwort finden, erst recht keine, die ihm eine klare Forschungsstrategie, Methoden und empirische Ergebnisse an die Hand geben würde. In der Praxis lassen sich zwei Ansätze ausmachen. Der erste geht davon aus, dass sich Gesellschaften (oder Zivilisationen, ethnische Gruppen, Staaten etc.) durch bestimmte allgemeine kulturelle Eigenschaften auszeichnen, die ihre wirtschaftliche Lage erklären. Er mag in anderen Kontexten wertvoll sein, doch für die konkrete Beantwortung der zentralen Frage dieses Buches scheint er ungeeignet. Großbritannien und China (oder auch West und Ost) in Gegensätzen wie innovativ und konservativ, rastlos und in sich ruhend, individualistisch und kollektivistisch oder protestantisch und konfuzianisch zu beschreiben, ist nicht unbedingt unsinnig, unbegründet oder gar falsch, wie viele Gegner des Eurozentrismus offenbar meinen, bedeutet aber, auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau zu verallgemeinern und allumfassende Kategorien zu verwenden, aus denen sich (nahezu?) keine operationalisierbaren Variablen für zeit- und ortsspezifische, direkte Erklärungen unseres Gegenstands gewinnen lassen. Soweit man eher intuitiv auf der Grundlage bestimmter Indikatoren und Indizien urteilt, war die britische Kultur am Vorabend der Industrialisierung eindeutig offener für Wandel und Innovation und stärker von einer Faszination für »Fort-

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Kultur

schritt«, »Verbesserung« und die Anwendung nützlichen, gesicherten Wissens geprägt. In diesem Kontext führt kein Weg an Max Weber vorbei. Seine kulturtheoretische These, im Westen seien die Rationalisierung der Wirtschaft (lies: Kapitalismus) und des öffentlichen Lebens (lies: der rationale, bürokratische Rechtsstaat) sowie die Beherrschung von Natur und Gesellschaft (lies: Technik und Wissenschaft) weiter getrieben worden als in der übrigen Welt, scheint mir weiterhin eine ernst zu nehmende, nirgends widerlegte These zu sein, die überprüfbare Hypothesen erlaubt und mehr systematischvergleichende, empirische Forschung verdienen würde. Der zweite Ansatz arbeitet dagegen mit spezifischen Konzepten, die ganz bestimmte Verhaltensweisen, Dispositionen und Fähigkeiten beschreiben. Deren Auswirkungen hängen stark vom Kontext ab – sofern sie sich für die von uns untersuchten Zeiträume und Regionen überhaupt bestimmen und messen lassen. Das ist bereits für die heutige Gesellschaft sehr schwierig, obwohl Forscher dabei auf umfangreiche Datenbanken, Studien und Umfragen zurückgreifen können. Bemühungen zur Sammlung und Auswertung geeigneten Materials, um vergleichende Thesen über kulturelle Eigenschaften wie Fleiß, Disziplin, Sparsamkeit, Vertrauen, Innovationsbereitschaft etc. zu überprüfen, stecken noch in den Kinderschuhen. Ob dies je in einem Umfang möglich sein wird, der eine hinreichende empirische Basis bieten würde, ist ungewiss. Für vorindustrielle Gesellschaften aber, die noch keine Statistiken kannten, scheint es unmöglich zu sein, genügend gesicherte Informationen zur Erhärtung allgemeiner Thesen zu erhalten.

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Abschließende Bemerkungen

8. Schlussbemerkung über Großbritannien und China

Was ich in diesem Buch im Sinne einer konkreten historischen Analyse unternommen habe, ist nicht einfach eine, in Kenntnis der weiteren Geschichte vorgenommene Anordnung historischer Daten, sondern eine systematische vergleichende Analyse der Geschichte Großbritanniens und Chinas auf Grundlage der neueren Forschung und im Lichte dessen, was uns die Wirtschaftstheorie über die Quellen und Motoren des modernen Wirtschaftswachstums lehrt. Es wurde erörtert, welche Bedeutung für dieses Wachstum Geografie, Arbeitskraft, die Akkumulation von Sach- und Geldkapital, Märkte und die Allokation der unterschiedlichen Produktionsfaktoren, Innovationen, Institutionen und Kultur besitzen. Dabei wurden enorme Unterschiede zwischen dem Westen und der übrigen Welt deutlich. Bei keinem der genannten Faktoren war die Situation im Qing-Reich während des sehr langen 18. Jahrhunderts modernem Wirtschaftswachstum förderlicher als in Großbritannien; in den meisten Fällen galt das klare Gegenteil. Die Behauptung der kalifornischen Schule, die fortgeschrittenen Regionen Eurasiens hätten »überraschende Ähnlichkeiten« aufgewiesen, ist jenseits einer extremen Abstraktionsebene, auf der sie alle als vorindustrielle, organische Ökonomien gelten können, wenigstens für Großbritannien und China unhaltbar. Gestützt auf Wirtschaftstheorie und die neuesten Forschungsergebnisse von Ökonomen und Historikern konnte die in diesem Buch vorgelegte komparative historische Analyse meines Erachtens zweierlei zweifelsfrei beweisen. Die erste Lektion lautet, dass die Entstehung des modernen Wirtschaftswachstums in Großbritannien weitaus wahrscheinlicher war als in China. Meiner Ansicht nach war es praktisch ausgeschlossen, dass sich das QingReich zur ersten Industrienation der Welt hätte entwickeln können – oder auch nur rasch aufholen. Großbritannien besaß bessere Voraussetzungen für einen Take-off als jedes andere Land der Welt. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass der britische Take-off zwangsläufig gewesen wäre; es bedeutet nur, dass er in Westeuropa und namentlich in Großbritannien wahrscheinlicher war als irgendwo sonst. Großbritanniens Industrialisierung und allgemeiner seine wirtschaftliche Modernisierung können als logische oder doch zumindest denkbare Fortsetzung jenes Pfads betrachtet werden, den es bereits früher beschritten hatte: eines Pfads gekennzeichnet

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Schlussbemerkung über Großbritannien und China

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durch hohe Löhne, kapital- und energieintensive Produktion und umfangreichen Einsatz von Lohnarbeit, die Ausnutzung von Skaleneffekten in Produktion und Austausch, durch Spezialisierung und Importsubstitution, die Ausrichtung nützlichen, gesicherten Wissens an der Produktion sowie durch Innovationsbereitschaft. Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung der Ökonomien Großbritanniens und Chinas, dann wird deutlich, dass die Great Divergence zumindest im Falle dieser beiden Länder nicht, wie Peter Perdue und viele andere behaupten, »das späte, plötzliche und unvorhergesehene Ergebnis eines glücklichen Zusammentreffens von Umständen im späten 18. Jahrhundert« war, sondern »eine aus tiefen Ursachen entstehende, langsame Evolution (…), die im Lauf von Jahrhunderten aus allein im frühneuzeitlichen Europa gegebenen Bedingungen hervorging« – was sie ausdrücklich bestreiten.1 Die Wirtschaftsentwicklung der beiden Länder verlief nicht ähnlich, sondern vollkommen unterschiedlich; ihr Auseinanderdriften im Lauf der frühen Neuzeit hatte tiefe Ursachen und war wenigstens im gewöhnlichen Sinne des Wortes nicht glücklichen Umständen geschuldet. Die zweite Lektion lautet, dass die vorherrschende Wirtschaftstheorie mit ihrem Fokus auf freie Märkte, fairen Wettbewerb sowie marktfördernde Institutionen – darunter ein möglichst schlanker Staat –, für die Erklärung der Great Divergence bestenfalls unerheblich ist und in den meisten Aspekten fehl geht. Großbritannien sowie alle nach ihm den Take-off vollziehenden Länder waren, insbesondere in ihren internationalen Beziehungen, keine Laissez-faire-Staaten. Der britische Staat war wenigstens vor und während des Take-offs kein schlanker Staat, sondern griff proaktiv in die Wirtschaft ein. Er lässt sich am treffendsten als ein »merkantilistischer« oder sogar als »Entwicklungsstaat« charakterisieren, sofern man diese Begriffe nicht zu strikt auslegt. Die Debatte über die Great Divergence ist weiter offen. Die in ihr vertretenen Behauptungen sind oftmals kühn, aber nicht empirisch solide belegt. Es gibt gute Gründe zu erwarten, dass viele Thesen modifiziert oder verfeinert werden müssen und sich die Parameter der Debatte deutlich verschieben könnten. Was in diesem Buch aber hoffentlich deutlich wurde, ist, dass die globale Wirtschaftsgeschichte und die ökonomische Theorie viel voneinander lernen können. Die Wirtschaftswissenschaft ist keine Schatztruhe voller Gesetze, sondern ein Kasten voller Werkzeuge. Historiker, die auf diese Werkzeuge verzichten, handeln unklug, mehr noch aber Ökonomen, die die Geschichte übergehen. In letzter Instanz entscheidend ist immer der Kontext, das heißt die Geschichte.

1 Perdue, China Marches West, 537.

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Verzeichnis der Grafiken und Tabellen

Verzeichnis der Grafiken und Tabellen

Grafik 1 und 2: Entwickelte und aufstrebende Volkswirtschaften

12

Grafik 3: Realeinkommen pro Kopf in internationalen Dollar von 1990

20

Grafik 4: Realeinkommen in verschiedenen europäischen Städten, 1500–1914

29

Grafik 5: Reales BIP pro Kopf von China und Vereinigtem Königreich in internationalen Dollar von 1990

46

Grafik 6: Die Lohnstückkosten von Beleuchtung 1800–2000

64

Grafik 7: Nationen im Vergleich, basierend auf Vermögen pro Person in Tausend Dollar im Jahr 2008, in konstanten US-Dollars von 2008, durchschnittlicher Jahreswert

66

Grafik 8: BIP in Europa 1000–1900 in internationalen Dollar von 1990

73

Grafik 9: Pro-Kopf-BIP in Europa 1000–1900 in internationalen Dollar von 1990

73

Grafik 10: Die Spannung zwischen Realeinkommen (von ungelerten Bauarbeitern) und Bevölkerung im vorindustriellen Europa

79

Grafik 11: Der ansteigende Energieverbrauch seit dem Anfang der Industrialisierung (in Milliarden Tonnen)

218

Grafik 12: Europäische Auswanderung in andere Kontinente

329

Grafik 13: Durchschnittliche Zolleinnahmen als Teil aller Importe von Frankreich und Großbritannien, 1820–1910

379

Tab. 1: Regionale Kaufkraft in prozentualen Anteilen an der weltweiten Kaufkraft

11

Tab. 2: Anteil der europäischen Bevölkerung (ohne Russland) an der Weltbevölkerung

19

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Verzeichnis der Grafiken und Tabellen

477

Tab. 3: Anteil Europas (ohne Russland) am weltweiten BIP

19

Tab. 4: Durchschnittliches reales Pro-Kopf-Einkommen in internationalen Dollar (1990) in den Jahren 1820 und 1913

19

Tab. 5: Die Kolonien westeuropäischer Länder, der Vereinigten Staaten und Japans

20

Tab. 6: Anteile an der Weltproduktion von Industriegütern, 1750–1900 (%)

21

Tab. 7: Industrialisierungsgrad, 1750–1900 (gemessen am Vereinigten Königreich im Jahr 1900 = 100)

21

Tab. 8: Dampfkraft (in tausend PS)

22

Tab. 9: Regionale Verteilung des Welthandels, 1876–1913 (in %)

22

Tab. 10: Ausbau des Schienennetzes (in km)

23

Tab. 11: Erfindungen und Innovationen pro Land von 1750–1950 (% an der Gesamtzahl)

23

Tab. 12: Reales BIP pro Kopf (gemessen am Vereinigten Königreich im Jahr 1820 = 100)

30

Tab. 13: Wachstumsraten des realen BIP pro Person (% pro Jahr) in europäischen Ländern, 1500–1870

30

Tab. 14: Indikatoren für den Vorsprung Großbritanniens Mitte des 19. Jahrhunderts

32

Tab. 15: Reales Pro-Kopf-Einkommen in internationalen Dollar von 1990

32

Tab. 16: Subsistenzquotient ungelernter Arbeiter in Europa, Amerika und Asien, der das Verhältnis von Einkommen und Lebenshaltungskosten von auf dem Existenzminimum anzeigt

42

Tab. 17: Reales BIP pro Kopf und »Human Development Index« unterschiedlicher Länder

66

Tab. 18: Produktionsleistung verschiedener Bereiche der britischen Wirtschaft, 1750–1900 (bezogen auf 1750 oder 1800 = 1) und die Bevölkerung Großbritanniens

69

Tab. 19: Zusammensetzung des BIP und der erwerbsaktiven Bevölkerung je Wirtschaftssektor in Großbritannien

69

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Verzeichnis der Grafiken und Tabellen

Tab. 20: Die europäischen Bevölkerungszahlen von 1300–1870 (in Tsd.)

71

Tab. 21: Lebenserwartung in Europa und Ostasien bis zum 19. Jahrhundert

72

Tab. 22: Geschätztes BIP pro Kopf in internationalen Dollar von 1990

78

Tab. 23: Der Qualitätsindex wirtschaftlicher Tätigkeiten

97

Tab. 24: Gute und schlechte Exporttätigkeiten

99

Tab. 25: Öffentliche Ausgaben, % des BIP 1870–2009

148

Tab. 26: Verstädterungsraten in Europa und Teilen Asiens, 1500–1890: Bevölkerung von Städten mit 10.000 oder mehr Einwohnern als prozentualer Anteil der gesamten Bevölkerung

203

Tab. 27: Vorindustrieller Energieverbrauch in England/ Wales und China (in %)

218

Tab. 28: Ländervergleich: Reales BIP in internationalen Dollars (1990) pro Kopf

238

Tab. 29: Energieverbrauch und Realeinkommen

239

Tab. 30: Alphabetisierung in Europa, 1500 und 1800: Prozentualer Anteil der erwachsenen Bevölkerung, der mit eigenem Namen unterschreiben konnte

242

Tab. 31: Vorindustrieller Gini-Koeffizient und Abringungsrate

266

Tab. 32: Geschätzter Jahresdurchschnitt (in Tonnen) von Produktion und Transport von Silber und Silberäquivalenten, 1501–1800

273

Tab. 33: Nominallöhne ungelernter Arbeiter (Gramm Silber pro Tag)

274

Tab. 34: Transporteure von Sklaven

277

Tab. 35: Zielorte der Sklaventransporte

277

Tab. 36: Arbeitszweige der Sklaven (erste Beschäftigung in der Neuen Welt)

278

Tab. 37: Direkte und indirekte Gewinne im Dreieckshandel in den 1770ern: Eine für die britische Wirtschaft sehr optimistische Schätzung

283

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Verzeichnis der Grafiken und Tabellen

479

Tab. 38: Exporte und Importe als Teil des BIP (in %)

289

Tab. 39: Handel mit Rohstoffe: Regionale Anteile, 1876–1913 (in %)

296

Tab. 40: Handel mit Industriegütern: Regionale Anteile, 1876–1913 (in %)

296

Tab. 41: BIP Wachstum und Zusammensetzung der Exporte von 1870 bis 1939

297

Tab. 42: De-Industrialisierung: Textilimporte in der Dritten Welt (in %)

298

Tab. 43: Das Entwicklungsmodell von Akamatsu

305

Tab. 44: Zwei Idealtypen von Protektionismus im Vergleich

312

Tab. 45: Auslandshandel Großbritanniens (ohne Irland), 1784–1846 in Millionen Pfund Sterling

315

Tab. 46: Dampf-PS und PS pro Person in Form von Arbeitseinheiten.

316

Tab. 47: Regionen und ihre Bedeutung für den britischen Handel in Millionen Pfund und prozentualem Anteil am gesamten Handel

319

Tab. 48: Westeuropäische Imperien: Anteil in % der Kontinente an der Gesamtgröße (in Quadratmeilen) des Imperiums ca. 1775

321

Tab. 49: Britischer Kapitalexport (durchschnittlicher Jahresbetrag, Annäherungswerte)

327

Tab. 50: Nationaleinkommen von Großbritannien

327

Tab. 51: Britische Auslandsinvestitionen 1914 in Millionen Dollar

328

Tab. 52: Eine Liste von Erfindungen, die direkten Einfluss auf Produktionstechniken hatten und zu Innovationen in Westeuropa und den USA führten

333

Tab. 53: Innovationen in Wissenschaft und Technologie in China, 10. bis 19. Jahrhundert

337

Tab. 54: Die wichtigsten wissenschaftlichen Durchbrüche von 1530–1789 in Westeuropa

339

Tab. 55: Finanzen Großbritanniens, 1580er-1815

387

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Ortsregister

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Afrika 11, 15, 19, 22, 35, 40, 49, 50, 93, 95, 115, 163, 171, 184, 206–207, 269–270, 281, 286, 301, 319, 321, 328, 381 – südlich der Sahara 11 Alt Kastilien 266 Amsterdam 29, 42, 224, 229, 274 Anhui 72 Antillen 318 Antwerpen 29, 42, 229, 274 Argentinien 38, 95 Asien 9, 11, 14–15, 19, 22, 31, 35, 38, 40–43, 47, 60–62, 78, 95, 168, 177, 203, 232–233, 237, 254, 268, 273–274, 276, 286, 288, 291, 300, 304, 317, 319, 328, 352, 373 Atlantik 171, 179, 276 Australien 66, 95, 271, 383, 459 Balkan 71 Baltikum 173, 273, 318 Barbados 185 Belgien 22–23 30, 71, 148, 203, 242, 246, 270–271, 289 Bengalen 43, 253, 274 Bihar 266 Bogota 42, 274 Böhmen 71 Bolivien 38 Bologna 201, 225 Boston 42, 274, 375 Brasilien 12, 96, 149, 188, 190, 232, 266, 269, 277–278, 317 BRIC (Brasilien, Russland, Indien, China) 11, 149 Britisches Empire 45, 78, 268, 281, 294, 309–310, 317, 327–328, 372, 381, 391–395, 397, 402, 412, 422, 425, 458, 469 Byzanz, 266

Cadiz 291 Ceylon 190, 253 Charlestown 190 Chile 38, 266 China 9, 12, 15, 20–21, 34, 39, 40f., 43, 45–47, 52, 59, 60–62, 72, 78, 80, 105, 131, 143, 149, 155, 167, 169, 172–173, 175, 177, 178–181, 190, 192, 197–199, 202–204, 207–208, 211–213, 217–221, 223–225, 228232, 234–236, 238–239, 242–243, 250, 251, 253–254, 257–258, 262–264, 266–268, 271, 286, 299, 300, 310, 313, 320–323, 330, 332, 336–337, 341, 346, 348, 355–357, 366–374, 376, 378, 380–383, 385, 389–390, 393, 399, 402, 406, 410–411, 413, 425, 427, 431–438, 441–442, 446, 448, 451–452, 454, 457–458, 461, 464, 467–468, 470, 472, 474–475 Cornwall 226 Dänemark 72, 271, 277, 289, 297 Delhi 43, 274 Deutschland/Deutsche Staaten 20–23, 32, 66, 71–72, 148, 181, 203, 239, 242, 246, 248, 270, 289, 297, 325, 379 England und Wales 71, 78, 203, 218, 266, 289–290, 310, 316, 378 Eurasien 17, 31, 169, 170, 173–174, 331, 365, 449, 474 Fengtian (heutiges Liaoning) 376 Ferner Osten/Fernost 13, 170, 273, 290, 380 Florenz 29, 42, 274 Frankreich 20–23, 30, 32, 39, 52, 66, 70–72, 148, 179, 181, 185–186, 195, 203, 205, 213, 239, 242, 245–246,

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Ortsregister 253, 259, 266, 270, 277, 281, 288–289, 297, 309–310, 353, 354–355, 375, 378–379, 384, 391, 395–396, 458 Genua 229 Georgetown 190 Großbritannien 10, 11, 13, 20, 22–23, 25, 27, 29, 31–35, 39–41, 43, 45–47, 52, 56–57, 59, 65–66, 68–69, 74, 78, 80–81, 95, 105, 115, 125, 128, 139, 142–143, 148, 151, 159, 168–169, 172, 175, 177, 179–181, 186–187, 192, 194–198, 200–203, 205–207, 210, 212–220, 222–228, 230, 234, 237, 242–246, 249–255, 257–261, 265, 267, 270–271, 276–277, 279–282, 284–289, 292–294, 299, 308–310, 313–318, 320, 322–330, 336–338, 340, 353–356, 358, 365–372, 374, 376, 378–381, 383, 385, 387, 389–394, 396, 398, 401, 404–406, 408, 410, 413, 419, 421–423, 425–426, 431–434, 436–438, 441–442, 446, 448–451, 453–454, 457–461, 464, 466–470, 472, 474–475 Griechenland 297, 387 Guadeloupe 185 Guangdong 320, 321 Habsburger Reich 21, 23, 379 Haiti 50, 185 Havanna 258 Hindustan 352 Hong Kong 11 Indien 9, 12, 20–21, 34, 47, 55, 60–62, 149, 173, 175, 177, 190, 250–251, 253, 263–264, 266–267, 270, 284, 294, 298–300, 310, 317, 320, 323, 326, 328, 336, 366, 368, 395, 438, 454 Indischer Ozean 171 Indonesien 161, 298 Irland 71, 203, 227, 287, 315, 329, 378, 383, 435 Italien/Italienische Staaten 21–23, 30, 71, 131, 148, 203, 211, 242, 297, 379 Jamaika 258, 277 Jangtse, Unterlauf des 43, 193, 274, 299, 322, 446

Japan 10–11, 19–21, 31, 34, 62, 66, 72, 80, 91, 105, 148–149, 180, 203, 219, 232, 234, 236–239, 242, 252, 257, 266, 268, 271, 286, 299–300, 304–306, 310–311, 367, 368, 437, 449, 452, 454, 459–460, 470 Java 266 Jiangnan 322, 375 Jingdezhen 381 Kaiserkanal 173 Kalifornien 14 Kanada 37, 66, 92, 95, 148, 182–183, 185–189, 207, 271, 296, 302, 325, 459 Kanton 288, 320–321, 370 Kap 288 Karibik 161, 182–183, 185, 187, 189–190, 253, 277, 307, 316–317, 374, 384, 392 Kenia 163, 266 Kolumbien 38 Koromandelküste 264 Krakau 272 Kroatien 71 Kuba 149, 185, 277 Lancashire 224, 226–227 Lateinamerika 11, 19, 22, 37–39, 42, 50, 95–96, 182–183, 264, 274–276, 300, 303, 312–313, 317, 328, 382, 445 Leiden 200 Leipzig 42, 274 Levante 266, 273 Lianghuai 262 Liaoning 72, 376 Lingnan 322 London 29, 36, 42, 72, 121, 200, 202, 215, 224–225, 227, 229, 243, 258, 272, 274, 344 Louisiana 191 Macao 370 Madrid 29, 42, 179, 274 Mailand 29, 42, 274 Mandschurei 179, 322, 374–377 Maryland 42, 274 Mittelmeerraum 13, 28, 179 Mexiko 38, 96, 185, 189, 298 Mongolei 179, 307, 374

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Ortsregister

Mogulreich 62, 80, 266, 269, 299, 309–310, 379 Myanmar 149 Naher/Mittlerer Osten 11, 13, 16 Nanking 299 Neapel 42, 266, 274 Neuseeland 95, 271, 459 Newcastle 100, 224, 434 New York 64, 229 Niederlande 10–11, 22, 24–25, 30, 41, 52, 71, 78, 81, 91, 131, 148, 161, 186, 200, 203, 205, 215, 217, 224–225, 228–229, 238, 242, 245, 248, 257, 262, 266, 270–271, 276–277, 288, 289–291, 309, 320, 330, 353, 391–392, 423, 450–451, 454, 461, 463, 468 Nigeria 65 Nordafrika 44 Nordamerika 22, 36, 37, 42, 253, 274, 277–278, 283, 291, 300, 319, 328, 376, 396 Nordkorea 149 Norditalien 140, 201, 225, 229 Nordwesteuropa 12–13, 38–39, 42, 78, 80, 236–237, 241, 243, 254, 265, 274–275, 296, 337, 353, 360, 365–366, 371, 449–451 Norwegen 66 Österreich 22, 71, 148, 171, 242, 248, 289, 297 Osmanisches Reich 36, 61–62, 252, 254, 267, 269, 286, 298, 379, 438 Ostasien 15, 72, 190, 214, 217, 233, 234, 236–237, 303, 312–313, 373, 380, 431, 449 Oxfordshire 226 Ozeanien 22, 328 Pakistan 21 Paris 29 Peking 43, 72, 179, 274, 370, 376 Persien/Reich der Safawiden 252, 269, 352, 438 Peru 38, 100, 185, 189, 266 Philadelphia 42, 274 Plassey 62, 310 Plymouth 258 Polen 30, 71, 242

Portugal 37, 71, 93, 167, 203, 269–270, 275–277, 297, 309, 320, 454 Potosí 38, 42, 274 Preußen 287, 423 Provence 355 Römisches Reich 11, 78, 266, 353 Rotes Meer 278 Rotterdam 288 Russland 12, 21–23, 30, 65, 71, 149, 206–261, 276, 287, 297, 330, 375 Safawiden, Reich der/Persien 252, 269, 352, 438 Sahara 278–279, 330 Saint-Dominique 270, 278 Sankt Petersburg 28, 142 Saudi-Arabien 65–66 Schottland 71, 203, 226–227, 258, 310, 316, 378 Schweden 22, 30, 72, 148, 253, 289, 297 Schweiz 71, 91, 148, 171, 203, 269, 270 Siam 266 Sibirien 330 Singapur, 11 Skandinavien 71, 203 Slawonien 71 Song-China 11, 40, 58, 80, 222, 414 South Carolina 190 Sowjetunion 150 Spanien 22–23, 30, 37, 39, 71, 93, 100, 116, 148, 179, 203, 205, 242, 269, 270, 275–277, 289, 297, 309, 317, 320, 379, 387, 454 Südkorea 11, 50, 155 Südserbien 266 Surat 263 Swahili-Küste 278 Taiwan 11, 155, 264, 271, 374–375 Texas 191 Tibet 179, 374–375 Toskana 266 Transsylvanien 71 Triest 28, 142 Türkei 11, 30, 323, 352

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Ortsregister Ungarn 71, 242 USA/Vereinigte Staaten 12, 20–23, 36–37 41, 45, 64–66, 95, 129, 148, 150, 182–183, 185–191, 207, 216, 234, 239, 245, 265, 269–271, 277, 281, 285–287, 291, 294, 296–297, 302, 304, 315–317, 321, 323, 328–329, 333, 355, 383, 404, 459

West Riding 226, 227, 259 Westindische Inseln 319 Wien 29, 42, 274, 307 Xinjiang 179, 374 Zentralafrikanische Republik 50 Zentral-/Mittel- und Osteuropa 11, 28, 287

Valencia 42, 274 Venezuela 66 Vereinigtes Königreich 12, 20–21, 30, 32, 46, 238–39, 260, 289290, 293, 296–297., 328, 378, 404 Vizekönigreich Neuspanien 266

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Personenregister

Personenregister

Abel, Wilhelm 80 Abramovitz, Moses 114 Acemoglu, Daron 35, 49–50, 52, 60–61, 129, 132, 134, 136–138, 140–142, 145–146, 154, 182–184, 264, 301, 350–353, 386, 404, 408, 433, 445 Akamatsu, Kaname 303–305, 448 Allen, Douglas 75–76, 135, 171, 174, 182, 249 Allen, Robert 28, 35, 42–44, 49, 78, 104, 108, 201, 215–217, 222–229, 237, 241, 272, 324, 354, 395, 419, 448 Amin Khan, Mahmed 264 Amsden, Alice 108 Anstey, Roger 280 Aoki, Masahiko 154 Arrighi, Giovanni 372, 376, 394, 399, 400, 402 Ashworth, William 396 Austin, Gareth 35, 184 Bairoch, Paul 36, 54, 202, 293–294, 311 Barro, Robert 141 Baugh, Daniel A. 397 Baumol, William 120, 122, 129–130 Beinhocker, Eric D. 80 Berman, Harold 424 Bernier, François 352 Blackburn, Robin 281–282, 284, 307 Blaut, James 57, 61 Boserup, Ester 102, 211, 213, 447 Boulton, Matthew 337 Bowen, William 130 Boyle, Robert 339 Braudel, Fernand 26, 55, 75, 80, 167, 202, 229, 291, 346, 360, 363, 365–366, 369, 371, 376, 378, 394, 408, 468 Bray, Francesca 190, 192, 194–195

Brenner, Robert 361 Brewer, John 257, 259 Bryant, Joseph M. 51 Campanella, Tommaso 412 Cardwell, Donald 131 Chang, Ha-joon 109, 403–404 Chua, Amy 162, 203 Clark, Gregory 79–80, 87, 103, 125, 210–211, 230, 250–251, 347, 353, 418–419, 421–423 Coclanis, Peter 61 Cole, William 289 Coleridge, Samuel Taylor 401 Colquhoun, Patrick 91, 317, 405 Cowen, Tyler 109, 127, 129, 130 Crafts, Nick/Nicolas 68, 211, 353 Crawfurd, John 392 Crosby, Alfred 243 Davis, Ralph 393 de Pinto, Isaac 401 De Soto, Hernando 136 De Vries, Jan 24–25, 234, 236, 237, 449–450 Deane, Phyllis 289 Diamond, Jared 31, 49, 100, 169, 170, 173–174, 176, 348, 417, 445 Dobado-González, Rafaél 207 Domar, Evsey 113, 186, 206 Duchesne, Ricardo 411, 420, 423 Dudley, Leonard 245–246, 338, 353, 421 Easterlin, Richard 108 Easterly, William 146, 262 Elliott, John 161 Elvin, Mark 40, 221–225, 230 Engerman, Stanley 49, 134, 139, 182, 184–186, 189–190, 192, 264, 301, 445

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Personenregister Ferguson, Niall 54, 61, 156, 338, 346, 351, 420–412, 423 Fernandez-Armesto, Felipe 16, 171 Feuerwerker, Albert 343 Findlay, Ronald 161, 300–301, 308, 311, 391–392, 394 Flynn, Dennis O. 275 Fogel, Robert 70 Forbes Harrod, Henry Roy 113 Foucault, Michel 247–248 Friedman, Milton 144, 147 Galbraith, John Kenneth 147 Galor, Oded 48, 55, 79, 103, 135, 209, 212 García-Montero, Héctor 207 Gellner, Ernest 54 George III. 178, 405 Gerschenkron, Alexander 57, 117 Ghafur, Mulla Abdul 263 Gilboy, Elizabeth 252 Giráldez, Arturo 275 Gladwell, Malcolm 246 Goldstone, Jack 16, 109, 241, 323, 332, 340, 391, 413, 420, 462 Goody, Jack, 31, 47, 51, 58, 365–366, 415, 417 Grafe, Regina 39 Gunder Frank, Andre 15, 52, 134–135, 223, 241, 275, 348, 365–366, 395, 417, 438, 463 Habakkuk, John 216 Hajnal, John 142 Hall, John 54, 405, 415 Hanson, Victor 415 Harley, C. Knick 26, 69 Harrison, Lawrence 153 Hayami, Akira 232 Headrick, Daniel 412 Heckscher, Eli 105, 299 Heinrich VIII 354 Helpman, Elhanan 87, 264 Herbst, Jeffrey 207 Hicks, John 144, 256, 350 Hobsbawm, Eric 33 Hobson, John 16, 52–53, 55, 332, 399, 405 Hodgson, Geoffrey 132–135, 154 Hofstede, Geert 152

Hoppit, Julian 354 Huang, Philip 197, 221, 223–225 Huff, Toby 424 Hume, David 106, 401 Hunt, E.H. 225 Hutton, James 340 Innis, Harold 92 Irigoin, Alejandra 39 Jevons, William Stanley 77 Jin, Dengjin 56 Johnson, Simon 49, 134, 136, 182–184, 264, 350, 445 Jones, Charles I. 103 Jones, Eric 10, 40, 54, 60–61, 152, 155–156, 168–170, 173–175, 211, 214, 346–347, 351–352 Joseph II 250 Kangxi Kaiser 40 Karl II 354 Kealey, Terence 128 Keynes, John Maynard 107, 111, 116, 147, 159 King, Gregory 367 Komlos, John 210 Kremer, Michael 103 Krugman, Paul 114, 121, 147, 150, 160 Kuran, Timur 36 Kuznets, Simon 57 Lal, Deepak 153, 170, 414 Landes, David 51, 55, 57, 60–61, 97, 154, 211, 214, 217, 247, 346, 351–352, 407, 417–418, 423 Lane, Frederic 398 Le Roy Ladurie, Emmanuel 80 Leonardi, Robert 140 Levi, Margaret 145 Lewis, W. Arthur 103–104, 117, 229 Li, Bozhong 217, 322 Lipperhey, Hans 339 List, Friedrich 121, 396, 401 Louis XIV. 70, 395 Lucas, Jonathan 191 Lucas, Robert 125, 153 Macfarlane, Alan 54 Malanima, Paolo 80, 234, 237

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Personenregister

Malthus, Thomas 70–71, 74, 77, 100, 102, 107, 198, 219, 347, 443, 447 Mandeville, Bernard 106 Mann, Michael 54, 170, 405, 407, 415, 471 Marglin, Stephen 248 Marks, Robert 16, 53, 170, 241, 322 Marx, Karl 26, 72, 74, 107, 115–116, 118, 135, 198, 201, 346, 352, 359–362, 365, 368–369, 401, 423–424, 455 Mathias, Peter 259 McCloskey, Deirdre 110, 125, 353, 391, 420–421. McNeill, William H. 162, 203, 399, 411 Mills, Terence 211 Mintz, Sidney 190 Mishra, Pankaj 54 Mitch, David 245 Mokyr, Joel 54, 104, 129, 139, 155–156, 217, 226, 229, 252, 323, 351, 358, 390–391, 419, 421, 448, 462463 Morris, Ian 50, 53, 169–170, 176–178, 330, 333, 348–349, 416, 445, 463 Mumford, Lewis 249 Mun, Thomas 106 Murray, Charles 412 Nanetti, Raffaella 140 Napier, William 258 Needham, Joseph 228, 332, 410–411, 414 Nef, John 398 Newcomen, Thomas 226 Nieboer, Herman J. 186 North, Douglass 126, 132–133, 136, 138, 140, 144–145, 154, 205206, 350, 352, 358, 404 Nunn, Nathan 49, 278 Nye, John 391 O’Brien, Patrick 393–396 O’Rourke, Kevin H. 161, 300–301 308, 311, 391–392, 394 Ohlin, Bertil 105, 299 Olivares, Graf von 269 Olson, Mancur 140, 142, 145, 209 Ormrod, David 396 Pamuk, Sevket ¸ 36 Papin, Denis 181 Paracelsus 339

Parthasarathi, Prasannan 27, 54, 177, 180, 250, 332–333, 366, 395 Perdue, Peter 15–16, 58, 475 Pétré-Grenouilleau, Olivier 278 Petty, William 102 Pieterszoon Coen, Jan 161 Piore, Michael 111 Pitt der Jüngere, William 355 Pomeranz, Kenneth 10, 14–15, 17, 41, 45, 170, 177–178, 180–181, 202, 241, 307, 314, 318, 320–326, 328–331, 347, 365–367, 372, 374, 376, 395, 463 Porter, Michael E. 100 Porter, Roy 243 Postan, Michael 80 Prebisch, Raúl 94–96, 295 Pritchett, Lant 109 Putnam, Robert 140, 408 Qianlong Kaiser 40, 178, 357, 436–437 Qizhong, He 376 Rapp, Richard T. 161 Reinert, Erik 97, 99–100, 135, 149, 301, 386, 403–404 Reinert, Sophus 402 Ricardo, David 71–72, 105, 120–121, 299, 325 Ridley, Matt, 103, 128, 209, 358 Ringmar, Erik 345–346, 464 Robinson, David 398 Robinson, James 35, 49–52, 60–61, 90, 129, 134, 136–138, 140–142, 145–146, 154, 182–184, 264, 350–351, 353, 386, 408, 433, 445 Rodrik, Dani 88, 132, 138–139, 141, 150 Romer, David 150 Rosen, William 358 Rosenthal, Jan-Laurent 140, 199–201, 224, 348, 409, 437 Ross, E.A. 229 Rostow, Walt 33, 57, 116 Rowe, William 437 Sachs, Jeffrey 91, 117, 134 Samuelson, Paul 147 Sassen, Saskia 202 Schumpeter, Joseph Alois 107, 109, 123–125, 128, 151, 158, 276, 312, 437, 456, 461

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Personenregister Shaw, William 135 Simon, Julian Lincoln 51, 103, 135, 208, 211, 213, 445 Singer, Hans Wolfgang 94–96, 295 Smith, Adam 25–26, 56, 72, 74, 83, 87, 89, 106, 118–121, 124, 143, 150, 157–159, 178, 191, 201, 236, 302, 346, 354, 360, 362–363, 365, 367, 373, 380, 382, 391, 394, 397, 401, 404, 423, 455, 457, 461, 463, 466, 469–470 Sokoloff, Kenneth 49, 134, 139, 182, 184–186, 189–190, 192, 264, 301, 445 Solow, Robert 124, 147 Sombart, Werner 398 Sowell, Thomas 109, 418 Stark, Rodney 415 Stasavage, David 172 Stiglitz, Joseph 265 Studer, Roman 171 Sugihara, Kaoru 217, 232–234, 237, 240, 448 Szostak, Rick 139 Temple, William 106 Thomas, Paul 350 Thomas, Robert 205–206 Tilly, Charles 364 Todd, Emmanuel 142 Torres Sánchez, Rafael 399 Trevithick, Richard 226, 334 Tvedt, Terje 175 Van der Woude, Ad 24–25 Van Dyke, Paul 370 Vanderbilt, Cornelius 64

Waley-Cohen, Joanna 204 Wallerstein, Immanuel 26, 55, 99, 167, 286, 346, 360, 363, 365366, 369, 371, 373–374, 376, 394, 468 Warsh, David 127 Watt, James 158, 226, 337, 345 Weber, Max 26, 53, 55, 58, 140, 163, 201, 247, 249, 343–344, 346–347, 359–362, 364–365, 368–369, 411, 422–424, 473 Weisdorf, J.L. 237 Weiss, Linda 399, 405 White, Colin 139, 293 Wildavski, Aaron 140 Wilkinson, John 337 Williamson, Claudia 133 Williamson, Jeffrey 38, 133–134, 294–295, 297–298, 300–301, 304, 444 Wong, Roy Bin 140, 199–201, 224, 241, 348, 365–366, 377, 409, 437, 463 Woods, Thomas 415 Wright, Gavin 92 Wright, John 279 Wright, Robert 128 Wrigley, E.A. 26 Yanikkaya, Halit 311, 313 Yifu Lin, Justin 212 Yong, Xue 375–376 Yongzheng Kaiser 40 Young, Arthur 106 Yuan, Ruan 263 Zanden, Jan Luiten van 217, 244 Zheng, He 178

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Sachregister

Sachregister

Agglomerationseffekte 98 Agrarischer Paternalismus 389 Akademien 244 Akkumulation 76, 113–114, 116–120, 122, 215, 226, 255–256, 264, 268–269, 291, 307–310, 314, 331, 336, 394–396, 404, 408, 441, 450, 453–456, 468, 474 – ursprüngliche 115–118, 257, 268–269, 272, 276, 401, 423, 455, 456 Alkohol 81 Alphabetisierung(sgrad) 242, 245 Angestellte (siehe auch Bürokraten) 435 Anglikanische Bischöfe 344 Anglikanische Kirche 340 animal spirits 159 Annaten 344 Arbeitsethik 110, 418, 420–421, 423 Arbeitshäuser 248 Arbeitsintensität 90, 105, 130, 193–195, 214, 217, 232–234, 236–239, 299, 303, 373, 436, 448–449 Arbeitskraft 35, 72, 75, 99, 102, 104, 108, 117, 187–190, 193197, 205–208, 213–217, 219, 221–222, 224, 226–227, 229–230, 233, 236–237, 239, 241, 244–248, 250–251, 287, 300–302, 306, 315, 318, 326, 331, 345, 360–363, 366–367, 374, 383–386, 426, 432, 441, 447–448, 450, 453, 455–456, 461, 466–468, 474 – ›unbegrenztes Angebot‹ (W.A. Lewis) 103, 217, 229, 300, 449 – fiktive 315, 318 Arbeitsteilung 74, 83, 94, 96, 102, 119–120, 150, 201, 209, 236, 251, 295, 300, 304, 306, 331, 345, 349, 371, 373–374, 381, 426, 441, 457 Armee 207, 306, 383–384, 390, 432 Armenhäuser 248, 384

Armutsfalle 216, 229, 231, 256, 261–262, 454 Aufklärung 243, 346, 415, 419–420, 426 Aufstieg des Ostens 14, 60, 233 Aufstieg des Westens 9–10 15–16, 18, 25–26, 28–29, 46–47, 52–55, 60, 109, 117, 122, 126, 170, 176, 205, 268, 271, 292, 311, 314, 346, 350–351, 356, 359, 361, 365, 378, 380, 386, 394–395, 403, 408–409, 412, 414–415, 423, 431, 441, 456–457, 466, 471 Auslandsinvestitionen 31, 261, 305, 327–328 Auslandsschulden 434 Bank of England 344 Banken/Bankwesen 32, 108, 117, 119, 202, 302, 342, 395 Baumol’sche Kostenkrankheit 130 Baumwolle 69, 188, 190–191, 193, 254, 285, 292, 318, 320–324, 329–320, 374 Bedingungen – hinreichende Bedingung/Erklärung/ Voraussetzung 23, 101, 142–143, 192, 209, 223, 275, 294, 326, 350, 353, 393, 413, 446, 448, 455, 466 – notwendige Bedingung/Voraussetzung 44, 101, 141–143, 151, 158, 209, 245, 294, 302, 304, 326, 359, 368, 386, 391, 393, 404–405, 415, 446, 455, 466, 470 Beitrag der Peripherie 453 Berechenbarkeit 76, 362, 368 Bergbau 181, 189, 260, 278, 284, 334, 436 Bewässerung 181, 193, 196, 230, 436 Bevölkerungsdichte 38, 60, 170–172, 184, 206, 209, 211–212, 214, 220 Bevölkerungswachstum 78–80, 102–103, 107, 126–127, 208–211, 219–221, 318, 437, 447, 462

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Sachregister Bildung 11, 24, 44, 65, 74, 108–109, 111, 127, 141, 190, 208, 213, 240–242, 244–245, 312, 351, 386, 461–462 Bodenintensität 193, 321, 323, 325, 328–329 Bruttoinlandsprodukt 11–12, 19, 30, 46–47, 50, 63, 65, 67, 69, 73, 109, 120, 141, 147–148, 185, 239, 251, 257, 260–261, 270–271, 280, 282, 284–285, 289–290, 292–294, 297, 299, 310, 327, 342, 382, 387, 406, 434, 458 Boserupianische Effekte 210 Buchhaltung 109, 362, 368 Bücher 58, 68, 243, 366, 417, 436 Bürgerliche Tugenden 420 Bürokraten 435 Calvinismus, Calvinisten 361, 423 Cardwell’sches Gesetz 131 Cash crops 188–189 Ceteris paribus 113–114, 155, 175, 215, 229, 231, 239, 307, 349, 457 Chartergesellschaft 291, 344, 380 Christentum 413–415 Co-Hong, Co-Hong-Kaufleute 370 Columbian Exchange 172, 179 Common law 368 Dampfkraft 22, 25, 32, 75–76, 80, 177, 200, 234, 314–315, 318, 323, 334, 336 Dampkraftsklaven 315–316, 318 Deindustrialisierung 95, 298–300 Dependenz (theorie) 93–96, 100, 104, 116, 304, 395, 443, 453 Despotismus, orientalischer 61–62, 197, 352, 390 Determinismus, geografischer 90, 167, 171, 197–198, 445 Dienstleistungssektor 27–28, 98, 113, 130, 202, 215, 227, 343, 422, 459 Disziplin, Disziplinierung 110, 240, 247–248, 250–251, 384, 422–423, 435, 473 Diversifizierung 302, 381, 403, 444 Dividende, demografische 105 Drainage 181, 436 Dreieckshandel 282–284 Dritte Welt 21, 96, 99, 290, 293–295, 298, 303, 311, 313, 459

Druckerpresse 436 Duale Ökonomie 94, 104 Dünger 193, 195, 221, 322 Edelmetalle 93, 100, 103, 185, 189, 268–270, 272–273, 275–276, 374, 389, 398, 451, 455 Eigentumsrechte 49, 61, 132–133, 136–138, 142, 145, 184, 187, 205–207, 214, 350–359, 367, 420, 436, 465–466, 469 – geistige 127, 143, 466 Einfuhrverbote 120, 253, 388 Einfuhrzölle 295, 325, 393 Eisen 76, 82, 253, 336, 393 Eisenbahn 27, 32, 124 Eisenerz 91, 334 Eisenindustrie 180, 200, 227, 376 Empire (s. auch Reich) 45, 78, 268, 281, 294, 309–310, 317, 327–328, 372, 381, 391–395, 397, 402, 412, 422, 425, 458, 469 encomienda 189, 207 Energie 68, 74–76, 128, 200, 216–217, 223–224, 238–239, 246, 293, 314, 333, 336, 416, 448 – intensität 171, 197, 215, 224, 240, 448, 475 Enteignung (s. auch Expropriation) 115, 196, 354–355 Entwicklungsstaat 149, 307, 403, 405, 469, 475 Epidemien 70 Erklärungen, letztgültige 153, 180, 246, 409, 410 Europäische Stadt 29 Europäischer Sonderweg 15, 250, 415–416 Europäisches Wunder 31, 60 Eurozentrismus 52, 55, 61, 333, 338, 347, 416, 469, 472 Existenzminimum (s. auch Subsistenz) 38, 42–43, 71, 79, 81, 107, 193 Exportgetriebenes Wachstum 404 Expropriation (s. auch Enteignung) 361 Fabrik 25, 27, 111, 199–200, 233–235, 244, 248–249, 256, 262, 306, 322, 384–385

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Sachregister

Faktorausstattung 99, 105, 153, 170, 176, 182–184, 186, 206, 215–217, 225–226, 228, 233, 241, 299, 301303, 305–306, 448, 457, 459 Faktorpreise, Faktorkosten 199, 228, 419, 448 Familie 43, 70, 157, 186, 193–194, 198, 220, 233, 235, 248, 251, 264, 273, 346, 414, 426, 432 Feldfruchtdeterminismus 184, 186 Fiskal-militärischer Staat 151, 372, 387, 389–390, 394–395, 402, 432, 469 Flachs 318 Fortschritt 16, 55, 79–80, 82, 97–98, 124, 127, 129, 135, 158, 169, 177, 208, 209, 210, 211, 245, 292, 302, 305, 323, 333, 335, 346, 355, 378, 398, 409, 413, 418, 426, 436 Freie Arbeit 28, 37, 206, 385, 361, 362, 385 Freihandel 120, 121, 307, 311, 379, 380, 458 frontier 82, 187, 375 Gänseschwarm-Modell 303 Gelehrtengrade 426–427 Geografie 48, 50, 57, 90–91, 100–101, 134, 167, 169–171, 173–177, 179–180, 182, 184, 192, 198–199, 207, 301, 348, 378, 419, 441, 443–446, 474 Gewaltmonopol 143, 344, 466 Gewürze 292 Gilde 143, 199–201, 225, 243–244, 346 Ginseng 375 ›Gleichgewichtsfalle auf hohem Niveau‹ 221–222, 224, 230 Gleichheitsannahme 97, 403 Globalisierung 27, 54, 294–295, 299–300, 310, 313–314, 372, 457, 459 Glorreiche Revolution 34, 205, 340, 350–351, 353–354, 369, 466 Gold 121, 181, 269, 272, 375 ›Große Spezialisierung‹ 295 Grundeigentum 352 Gute Regierungsführung 145, 147, 347, 351, 437, 466, 469 Han Chinesen 374, 376 Handel 12, 15–16, 22, 64, 92, 117, 120–122, 144, 146, 161, 168, 171, 185, 203, 209, 256, 259–260, 263, 268–270,

276, 281–284, 286–296, 300, 303–304, 306–310, 313, 319–320, 324, 329, 331, 370–371, 373, 375, 380, 391, 393–397, 402, 455, 457–458, 460 – Interkontinental 28, 286, 288, 290–293, 309, 380, 412 – unsichtbarer 31 Handelsbarrieren 310, 313, 457–458, 460 Handelseifersucht 382 Handelsgesellschaften 161, 291, 370 Handelsintensität 312 Hanf 318, 330 Harrod-Domar Modell 113 Haushalt 43, 142, 171, 193–194, 198, 213, 233, 236, 244, 251, 356, 367–368, 414, 426, 461 – Trennung Haushalt/Unternehmen 157, 362, 368 Heckscher-Ohlin Theorem 215 Heimarbeit 234 Heiratsmuster, westeuropäisches 61, 142 Holländische Krankheit 93, 300, 443 Holz 82, 179–180, 217, 314, 320, 322, 325 – Holzmangel 177, 180 – Holzimporte 318 Homo oeconomicus 156–158 Hoppo 370 Humankapital, menschliches Kapital 12, 33, 65–66, 82, 99, 105, 108–110, 126, 141, 241, 244–245, 247, 264, 306, 342, 418, 422, 444, 447, 450, 454, 462–463 Hunger, Hungernöte 62, 70, 81, 219 Imperialismus 16, 36, 47, 52, 116–117, 172, 179, 391 Importsubstitution 149, 252–255, 292, 302–305, 382, 433, 451–452 Indigo 253 Individualismus 142, 414–415, 417 Industrialisierung 10–11, 24–27, 33–34, 36, 40–41, 44–45, 47, 51–53, 56, 58, 63, 74, 78, 80–81, 91, 95–96, 104–105, 108, 114–115, 117, 119, 125, 135, 139, 142, 144, 168, 170, 172, 177, 199, 200, 210, 212–213, 215–219, 222, 224–228, 230, 232–240, 243–244, 253, 255–257, 260261, 268, 279, 282, 290, 292–295, 297, 299–300, 302, 310–312, 323, 325,

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535

Sachregister 331, 338, 342, 346–348, 350–351, 353–354, 367–368, 374, 376, 384–385, 391, 394–395, 399, 403, 406, 420, 431, 433, 446, 448–453, 457, 460–461 467–468, 470, 472, 474 Industrie 26, 28, 59, 98–100, 121, 149, 200, 220, 225–227, 230, 233, 235, 238–239, 248, 254, 259, 268, 284, 295, 298, 300, 302–303. 309, 312, 323–326, 330, 342–343, 347, 373, 393–394, 402–404, 419, 438, 460, 468 Industrielle Revolution 11, 16, 27–28, 35, 53–56, 58, 68, 75, 77, 80, 82, 87, 114, 119, 129, 135, 139, 159, 174, 177, 210, 212, 215–216, 224–226, 228, 232–234, 245, 252, 255–257, 262, 265, 282, 292, 298, 308, 314, 332, 342, 348, 350–351, 353, 381, 390–391, 396, 414, 417, 419–420, 431, 450–451, 453, 457–458, 462 Industriegüter 21, 96, 210, 295–296, 298–299, 303, 308, 324, 326, industrious revolution (s. auch Revolution des Fleißes) 232 Industriepolitik 150, 396 Ingenieure 109, 244, 337, 340, 432 Innovation 9–10, 12, 23–24, 26–27, 33, 53, 61, 68, 69,74, 76–27, 82, 89, 94, 97–98, 101–104, 109–110, 112, 115, 117–120, 122–131, 135, 137–139, 141, 153, 158, 163, 173, 175, 192, 201–202, 210–215, 223, 225–226, 228–230, 239, 241, 245–246, 267, 276, 293, 302, 307–309, 323–325, 327, 329, 331–333, 335–338, 341346, 350–351, 353, 358, 360, 390, 393, 395, 398, 409, 412–413, 418–421, 432, 436–437, 441, 447–448, 453, 455, 457, 461–465, 467, 469, 472–475 – Innovationsfeindlichkeit 77, 94, 129 Institutionen 10, 24, 34–36, 50, 61, 77, 81, 83, 89, 100, 109–110, 131–145, 152–156, 163, 174, 176, 182184, 192, 205–206, 208, 228, 244, 271, 293, 301, 303, 306, 310, 342–349, 351–353, 356–357, 359, 376, 386, 404, 406–407, 416–417, 419, 425, 435, 441, 444–445, 459, 464–465, 469, 472, 474–475 – extraktive 37–38, 61, 137–138, 184, 207, 351, 353, 444

– inklusive 137, 140, 142, 184, 408, 433 – repräsentative 137, 172, 184, 363, 433 Institutionalismus 346, 347 Institutionenökonomen 264, 350, 352 Intelligenzija 109 Involution 103, 197, 221–222, 235, 433 Kaffee 81, 188, 292 Kakao 292 Kalifornische Schule 16–17, 34, 43, 241, 322, 331–332, 347, 359, 366, 381, 418, 431, 434, 436, 445, 450, 453, 468, 474 Kanonisches Recht 414, 424 Kapital 82, 89, 95, 99, 111, 113–115, 127, 131, 140, 160, 168, 175, 195, 199, 216–217, 222, 224, 226, 233, 244, 256–257, 262, 282, 302, 306, 312, 329, 331, 353, 360–361, 364, 368, 373, 394, 401, 441, 444, 450, 453–454, 466 – fixes 82, 222, 256–257, 259, 261, 468 – flüssiges 82, 256, 260–262 – natürliches 65 – soziales 82, 140, 245 Kapitalfundamentalismus 114–115, 123, 453 Kapitalintensität 185, 188, 195, 198, 214, 216, 225, 233–234, 238–240, 448–449, 468 Kapitalismus 25–26, 36, 53, 58, 109–110, 115–116, 120, 123–124, 129, 139, 147, 158, 167, 202, 229, 276, 304, 352, 359, 360–368, 371–372, 376, 383, 385–386, 394–395, 398, 403, 408, 415, 417, 419–420, 423–424, 456, 461, 466, 468–469, 473 – Handelskapitalismus 25, 293 – Industriekapitalismus 25–26, 107, 265 – Staatskapitalismus 149 Kapitalkoeffizient 113 Kapitalmarkt 244, 259 Kataster 249 Katholizismus, katholische Kirche 414–415, 423 Kaufsystem 235, 432 Klassen 72, 74, 99, 106, 157, 160, 187, 207, 355, 359–361, 369370, 392, 426

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Sachregister

Körperschaften 424 Kohle(bergbau) 25, 33–34, 45, 69, 74–75, 77, 91, 100, 170, 177, 179–181, 217–218, 224, 226–228, 230, 314, 318, 320–321, 336, 375–376, 432, 446 Kolonien 20, 34, 39, 45, 50, 91, 170, 178, 183, 185, 189–190, 253–254, 269–271, 276–278, 281, 291, 293–294, 302, 316–317, 323, 325–326, 328, 330, 336, 372, 376, 380, 383–84, 395, 397–398, 412–413, 451, 457 Kolonialismus 36, 116–117, 178, 271, 294 Kommodifizierung 359, 367, 378 komparative Vorteile 92, 95, 105, 120, 186, 298–299, 301–302, 313, 324, 386, 403–404, 444, 458–459 Kompass 436 Konkurrenz (s. auch Wettbewerb) 56, 74, 98, 117, 123–124, 128, 151, 160, 162, 169, 176–177, 199, 201, 225, 298, 303, 330, 344, 361–362, 372, 382, 395, 398–399, 403, 407–409, 412, 456, 471 Konsum – -gesellschaft 112, 420–421, 451 – -muster 248, 252, 255, 449 – Revolution des 112, 265, 267 Kontingenz 51–52, 333, 431, 445 Korruption 62, 357, 436 Kredit 111, 119, 172, 276, 360, 401, 436 Krieg 16, 34, 68, 81, 92, 96, 108, 147, 161, 178, 185, 199–200, 229, 238, 259, 262, 270, 275, 305, 310, 328, 353, 383–384, 387, 391–392, 396, 398–399, 406–407, 409–410, 415, 422, 433–434, 437, 459, 470–471 Kriegsausgaben 260, 398 Kultur 10, 48, 57, 89, 110, 133–134, 152–156, 162–164, 169–170, 244–245, 307, 337–338, 348–349, 396, 410–412, 415–421, 425, 441, 472, 474 Kulturelle Erklärungen 154, 163, 410, 417, 420, 422, 425 Kunstdünger 27 Kupfer 375 Laissez-faire 62, 143, 149, 351–352, 386, 390, 392, 475 Landessprache 246 Leibeigenschaft 206–207 Liberalismus 390

Lohn, Löhne, Lohnniveau, s. Pro-KopfEinkommen Lohnarbeit(er) 38, 43, 186–188, 194, 196–198, 207, 214, 219, 236, 244, 248, 251, 360–361, 365–369, 381, 383, 432, 450, 461, 467–468, 475 Macht 10, 40, 50, 56, 76, 116, 127, 137, 141, 145, 155, 162, 189, 203, 206–207, 268, 271, 329, 345, 348, 354, 362–365, 369–370, 374, 389, 391, 394, 397, 405, 407, 409, 412, 415, 423, 438, 454, 462, 467, 471 – despotische 354, 405 – infrastrukturelle 405 – organische 405 Makroerfindungen 124, 335 Malthusianer 76–77, 79, 80, 82, 103, 219 Malthusianische Ökonomie 23, 56, 80 Malthusianische Schranken 25, 45, 70, 74, 78, 220, 282, 314, 432 Management 127, 251 ›Manna das vom Himmel fällt‹ 120, 126 Marginalistische Revolution 157 Marine, Flotte (britische) 75, 180, 258–259, 372, 383–384, 388389, 391, 432, 446, 469 Markt 35, 64, 74–75, 89, 94, 98, 111, 119–120, 123–124, 128, 132, 134–136, 138–139, 143–151, 157–160, 188–189, 222, 230, 235, 243, 246, 260, 265, 267, 281, 292–293, 295, 300, 305, 307, 309, 312, 329, 331, 345–346, 350–353, 359–363, 366, 368, 373, 378–382, 395, 398, 403–404, 406, 420, 432, 454–458, 461–462, 465–469, 474 – abstrakter 360, 362, 467 – formaler 360, 362 – freier 10, 83, 120, 124, 141, 149, 302, 363, 380, 382, 456, 469, 475 – vollkommener 99, 119, 149 Marktintegration, 171, 378, 380–381, 449 Marktausweitung 124, 128, 236, 307, 345, 391, 394, 396 Marktwirtschaft 25, 206, 306, 359, 366, 371, 373, 378, 389, 456, 466–469 Massenprodukte, Massengüter 168, 173, 188, 199

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Sachregister Mechaniker 244, 337, 432 Meiji Japan, Meiji Restauration 91, 242, 304, 306, 449, 460 Merkantilismus 34, 56, 151, 160, 176, 253, 268, 372, 388, 390–393, 395–398, 403, 409, 425, 451 Migration 326, 328, 375 Mikroerfindungen 124 Militärischer Keynesianismus 260, 399, 402 Mineralien, Mineralische Rohstoffe 94, 293, 339, 374–375 Modernisierung 16, 53, 58, 104, 115–116, 140, 172, 306, 343, 377, 406, 449, 471, 474 Monetarisierung 362, 368 Monopol 74, 81, 120, 128, 143, 145, 150, 262, 281, 286, 344, 354–355, 357–358, 363, 369–370, 380, 392–394, 404, 468 monopolistische Konkurrenz 151 monopolistische Praktiken 124 nachholende Entwicklung 57, 113, 250, 303–305, 395, 425, 431, 443, 449, 454 Nachzügler 33, 69 Napoleonische Kriege 68, 161, 260, 290, 310, 343, 387, 392, 437 Nationalbank 432 Nationalisierung der Märkte 378 Nationalismus 57, 382 Nationalstaaten 168–169, 172, 364 Navigationsakte 120, 281, 397 Neoklassische Ökonomie/Wirtschaftswissenschaft, 150, 350, 402 Netzwerke 155, 246, 338, 413, 423 Nicht-einvernehmliche Geschäfte 309 Nicht-Monopolisierung der Quellen gesellschaftlicher Macht 407, 471 Niedergang des Ostens 223, 438 Non-rival goods 126 Notwendigkeit als Mutter der Erfindung 102, 177, 182, 463 Nullsummenspiel 120, 128 Nutzflächen, fiktive 287, 314, 318, 320, 323, 325–326, 328, 330–331, 345, 374–375, 395, 445, 453 Nützlichkeit der Armut 106, 127

Öl 33, 218, 239 Offenheit 128, 146, 203, 246, 308–311, 313, 412, 418, 425, 451, 458, 461 Ökonomie (s. auch Wirtschaft) 9, 15, 17–18, 23–25, 27, 29, 33, 36, 45, 56, 64–65, 68–69 72, 74, 77, 90, 94, 96, 99, 102, 104, 112, 117, 124, 126, 142, 149, 154, 158, 160, 175, 177, 189, 193, 201, 214, 217, 220–221, 226, 229, 232–233, 241–242, 262, 268, 270, 276, 282, 292, 294, 304–305, 307, 322, 332, 348, 351, 361, 366–367, 372–373, 378, 390, 395–397, 401, 423, 425, 431, 433, 435, 438, 444, 448–449, 451, 460, 467, 475 – fortgeschrittene 35, 304, 324 – fortgeschrittene, organische 24, 80, 262, 307, 454 – organische 74, 318, 433, 474 – vorindustrielle 44, 76, 79, 221, 432, 474 Oligopol 150 Opium 254, 299, 382, 433–434 Opiumkriege 40, 310, 433, 435, 437 Organisationen 132–133, 136, 140, 345 Ostasiatischer Entwicklungspfad 105, 217, 220, 232–234, 238–240, 336, 449 Ostindienkompagnie – Englische 292, 392 – Niederländische 264, 273, 288, 290, 292 Päpstliche Revolution 424 Papiergeld 432, 436 Parlament 354, 369, 398, 406 Patent 143, 357, 358 Peripherie (s. auch Zentrum) 90, 95–96, 208, 253, 268, 285–287, 297–298, 303, 310, 314, 318, 322, 326, 329, 371–374, 377, 390, 437, 443 Pfadabhängigkeit 48, 50, 90, 150, 184, 208, 333 Plantagen(wirtschaft) 51, 185, 188, 190–192, 208, 253, 258, 270, 283–284, 316, 374, 376 Planwirtschaft 149–150, 312 Porzellan 253–254, 292, 336, 433, 451 Positiver Zirkel der Entwicklung 50, 137, 184, 192, 216, 445 Preisschwankungen (s. auch Volatilität) 96

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538

Sachregister

Primärprodukte (s. auch Rohstoffe) 36, 96, 295 Primogenitur 143 Privateigentum 115, 344, 352, 356, 359–361 Privilegien 136, 312, 344, 354–355, 392, 408 Produktionsfaktoren 89, 102, 113, 123, 206, 214–216, 223, 227, 230, 441, 474 Produktionsweise 10, 116, 136, 171, 182, 197–198, 201, 220, 233, 257, 279, 360, 363, 366–369, 371, 374, 445, 450, 455–456, 468 Produktivität 27, 67–68, 76, 82, 91, 98, 104, 120, 122, 130, 170, 174, 187, 194, 197, 230, 236, 247, 251, 299, 337, 342, 349, 373, 464 Pro-Kopf-Einkommen /Löhne 10–11, 18–20, 28–29, 32, 36, 38, 44, 46–47, 65, 71, 78–79, 185, 201, 209, 213–214, 229, 238–239, 257, 261, 269–271, 298, 301, 353 Proletarier/Proletarisierung 198, 360, 361, 365–367, 369, 456, 461 Protektionismus 121–122, 162, 253, 303, 307, 311–312, 379, 392393, 396, 398–399, 404, 458, 460, 469 Protestantismus 241, 415, 421–423 Protoindustrialisierung/Protoindustrie 199, 235–237 Qing-China 39, 40, 52, 59, 61–62, 80, 178–179, 196, 198, 202–203, 211, 213, 220, 230, 235, 251–252, 310, 336, 355–357, 365–369, 371, 374–376, 379, 381–382, 390, 413, 425–427, 431–432, 436–437, 442, 458, 461, 463–464, 467–468, 470, 474 Qualifikationsbonus 244, 432 Rationalität, Rationalisierung 55, 140, 157–159, 172, 247, 249, 342–344, 361, 368, 371, 417, 419, 421, 473 Rationale Erwartungen 159 Recht 109, 142, 344, 357, 368, 386, 389, 408, 414, 424, 426 Rechtsstaatlichkeit 141, 146 Reich (s. auch Empire) 11, 21, 23, 36, 60–62, 78, 131, 168, 172, 252, 254, 266–268, 286, 298, 310, 330, 346, 353,

356–357, 366, 368–369, 371, 373, 379, 381–382, 395, 407, 412–413, 425–427, 431, 435–438, 442, 457–458, 461, 463–464, 467, 474 Re-export 289 Reis 188, 190–194, 198, 380 Reiswirtschaft 192–195, 197, 445 Religion 48, 340, 416 Renten 72, 94, 120, 137, 145, 206, 264, 268, 454, 460 – Abschöpfung 77, 81, 100, 137, 303, 351, 454–456 Reparationen 185, 399, 434, 438 repartimiento 207 Residuum (nach Abramovitz) 114, 125 Ressourcen 66, 68, 72, 75, 77, 81–83, 90, 92–93, 100, 103, 105, 123, 127–128, 137, 167–168, 171, 174, 178–179, 183, 196–197, 217, 219–222, 232, 236, 256–266, 264, 299–301, 306–307, 309, 328, 330–331, 345, 348, 377, 418, 437, 441, 453–454, 461 Revolution des Fleißes (s. auch industrious revolution) 112, 232, 234–237, 292, 449, 451 Rohstoffe (s. auch Primärprodukte) 36, 92–96, 105, 200, 201, 290, 293, 295–297, 301, 324–326, 329–330, 373, 433, 443–445, 455, 459, 467 – ›Fluch der Rohstoffe‹ 93, 95, 189, 300, 443 Rüstungswettlauf 389 Rum 281 Sachkapital 65, 125–126, 454, 466 Say’sches Gesetz 111 Schießpulver 436 Schuldknechte, Schuldknechtschaft 186, 383, 385 Schutz junger Industrien 303, 460 Schwitzbudenarbeit 234 Seide 193, 254, 292, 330, 374, 433, 451 Sichtbare, Unsichtbare Hände 159, 363, 409, 465 Silber 38, 181, 216, 225, 254, 262–263, 272–275, 288, 321, 382, 395, 434 Sinkende Erträge, 89, 95, 99, 127, 197, 209, 221, 236, 239, 345, 403–404, 444

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Sachregister Skaleneffekte, Skalenerträge 97–98, 102–103, 131, 186, 188, 194–195, 197–198, 219, 233, 432, 450, 455, 458, 468, 475 Sklavenarbeit 188, 191, 277, 281–282, 317–318, 396 Sklavenhaltergesellschaften 185, 187 Sklavenhandel 35–36, 49, 269, 278–285, 326, 383, 455 – Abschaffung 317 Sklaverei 36, 49, 51, 186, 190, 206–207, 279, 282, 284, 318, 385 – Abschaffung 37, 187, 191, 317, 355, 385 Sojabohnen 375 Sparen, Sparsamkeit 111, 113, 117, 123, 163, 233, 247, 419, 421–422, 473 Spezialisierung 36, 76, 83, 89, 94–97, 103, 113, 119–121, 124, 128, 158, 184, 209, 215, 233, 236, 244, 299, 301, 307–308, 331, 371, 381, 441, 443–444, 450, 455, 457, 459, 475 Staat 10, 39, 55, 57, 61, 105, 127–128, 136–138, 143, 145–147, 149–151, 161–162, 180–181, 196, 198, 207, 215, 249–251, 261–262, 292, 306, 310, 341, 343–344, 348, 354, 362–364, 369–372, 374–377, 379, 386–390, 392, 394–395, 397–399, 401–408, 422–424, 427, 432, 434–435, 460, 462–463, 466, 469–471, 475 – Staatsanleihen 259, 261, 276, 344, 400 – Staatsausgaben 387, 393, 400 – Staatskreditaufnahme 389, 400, 401 – Staatsschuldendienst 387, 389, 400 – Staatsverschuldung 147, 160, 260, 387, 401, 425, 469 Staatensystem 48, 131, 328, 372, 407, 409, 412 Stadtstaaten 172 Standardisierung 76, 249, 344, 378 Stahl 76, 336 Statistik 63, 148, 249, 287, 344, 473 Steigende Erträge 99, 113, 121, 126–127, 150, 209, 297, 336, 358, 387, 403 Steuern 39, 144, 189, 207, 253, 262, 275, 292, 306, 344, 357, 387, 400–401, 423, 436, 467, 469–470

Strafgefangene 383 Subsistenz (s. auch Existenzminimum) 316 Subsistenzquotient 42 Synergie 97–99, 103, 128, 246, 336, 362 Tabak 81, 188, 190, 193, 254, 285, 292, 374 Take-off, 10, 12–13, 33, 34, 36, 40–41, 45, 69, 80, 91, 107, 112, 115, 117, 141, 151, 178, 201, 210, 212–213, 225, 233, 238, 244–245, 257, 264–265, 270–271, 275–276, 279, 286, 293–294, 301, 307, 309, 311, 329, 336, 338–339, 343, 346, 352, 356, 379, 389–390, 394, 409, 431–433, 438, 441–443, 446, 448–449, 452–454, 458–461, 463, 466–467, 469–470, 474–475 Tausch, ungleicher 116–117, 286, 294, 307, 309, 373 Technik 9, 11, 16, 40, 81–82, 101, 115, 123, 125, 129, 177, 208, 211, 222, 228, 230, 244, 318, 326, 331–332, 338, 343, 348, 377, 395–396, 409, 417, 436, 457, 461, 473 Tee 81, 190, 193, 253–254, 292, 299, 370, 374, 381–382, 392–393, 433 Telefon 27, 64, 328 Telegraf 27, 328 Terms of Trade 94–96, 295, 299, 300–301, 324, 443–444, 459 Teufelskreis 36, 50, 94, 138, 184, 192, 445 Textilien, Textilproduktion 45, 177, 284, 292, 335–336, 393, 460 Torf 74, 217, 224 Tributstaaten 372 Überdehnung 143, 437 Unfreie Arbeit 38, 184, 186, 207–208, 318, 362, 383, 385 Uhr(en) 249, 422 Ungleichheit (Einkommen/Vermögen) 39, 49, 94, 138, 182, 264–266, 445 Universitäten 114, 243, 337, 340–341, 424 Unternehmer 57, 108–110, 117, 124, 129, 145, 158, 163, 199, 210, 215–216, 229–230, 241, 244, 250, 267, 306, 337, 340, 359, 366–367, 369, 376, 386, 432, 461

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Sachregister

Urbanisierung (s. auch Verstädterung) 24, 81, 196, 199, 202, 381 Ursachen – letztgültige 87, 125, 152–153, 345, 441, 472 – unmittelbare 87, 125, 131, 134, 208, 210, 441 Verbrauchs, Revolution des 292, 451 Verbrauchsgüter, Markt (s. auch Massenprodukte/Massengüter) 366, 382, 421, 450, 457, 461, 467–468 Verbrauchssteuern 387, 396, 400 Verbundeffekte 97, 131 Verkettungseffekte 94, 189, 282, 285, 302, 404, 444 Verlagssystem 235–236, 432 Vermögen 65, 108, 140, 158, 182, 187, 189, 226, 257, 259, 262–264, 345, 385, 405, 418 Verstädterung, Verstädterungsgrad (s. auch Urbanisierung) 28, 201–203, 432 Vertrauen 82, 140, 160, 246, 403–404, 408, 414–415, 418, 420, 421, 473 Volatilität (s. auch Preisschwankungen) 99, 444, 459 Washington Consensus 144, 150, 404 Wasserkraft 74, 169, 191, 200, 323 Waterframe Spinnmaschine 320, 335 Weizenwirtschaft 192–193, 195, 198 Welt-System 55, 116–117, 363, 365–366, 374, 394 Wertabschöpfung 312 Wertschöpfung 28, 282, 290, 302, 343, 363, 373, 387, 403, 444, 459, 460 Wettbewerb (s. auch Konkurrenz) 74, 83, 97–98, 119–120, 122, 128, 131, 143, 145, 157, 160, 281, 306, 308, 312, 351–352, 363, 382, 389, 398, 404, 408, 420, 454, 456–457, 459–462, 466–477, 475 Wettbewerbsvorteile 100 Williams-These 279, 282 Windenergie, Windkraft 33, 74 Wirtschaft (s. auch Ökonomie, organische) 16, 24, 27–28, 31, 33, 39, 45, 59, 60, 69, 74, 88–89, 94, 108, 109, 111, 113, 119, 123–124, 128–129, 134, 145–149, 156, 159–160, 163, 172, 177, 179, 181,

189, 192, 198, 202–203, 210, 214–217, 219, 221–222, 224–228, 232–235, 241, 251, 254, 270, 282–283, 285, 290, 302, 308, 310, 313, 316, 320, 322, 326, 329, 336–338, 342, 344–345, 351, 355, 360, 362, 366, 368–369, 374, 380, 382–386, 389–391, 397–401, 403–405, 420, 423, 431–435, 444, 453, 455, 458, 460–461, 465, 468–470, 473–475 – vorindustrielle 193, 197 Wirtschaftsnationalismus 162, 307, 397, 425 Wirtschaftswachstum 9, 28, 56, 80, 87, 89, 92–93, 100–102, 105, 108–110, 132, 135–136., 138–139, 142, 152–153, 157, 174, 176, 182, 184, 190, 192, 216, 348, 386, 393, 395, 404, 408, 410, 418, 421–423, 446, 450, 453, 472 – extensives-intensives 18, 80, 301 – modernes 9–10, 12, 18, 23–27, 31, 33, 36, 40, 45, 48, 53, 56, 59, 62–63, 70, 72, 76, 78, 83, 87, 89, 101, 104, 106, 108, 110–111, 122–123, 125–126, 136–137, 143–144, 153, 158, 163–164, 172–174, 188, 205, 212–213, 220, 232, 256, 268, 272, 275, 293–294, 307–309, 326, 331, 336, 342–343, 345, 347, 355, 357, 381, 390, 395, 416, 420–422, 425, 431, 441–442, 446–447, 449–451, 453–454, 462–467, 469, 474 – prometheisches 123–124, 414 – Schumpeter’sches 26, 123, 381 – Smith’sches 26, 83, 124, 366, 381 – Solow’sches 124 – traditionelles/vormodernes 25 Wachstumstheorien 111, 113, 443 – endogene 126, 209 – einheitliche 209, 211–213, 351, 462 – neue 102, 126–127, 135, 150, 162, 241, 351, 447, 462–463 Wissen 55, 77, 83, 89, 94, 97–98, 108, 124–128, 131, 134, 153, 162, 207, 209, 210, 212, 230, 241, 243244, 313, 336, 338, 343, 346, 386, 405, 411–412, 419, 424, 458, 462–463, 473, 475 Wissenschaftliche Revolution 338, 419 Wolle 95, 318

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Sachregister Zehnten 344 Zeitungen 243 Zentrum (s. auch Peripherie) 47, 170, 177, 202, 217, 225, 303, 310, 363, 366, 371–374, 443 Zinsen 387 Zinseszins 48, 116 Zinsraten 215, 222, 224, 276, 382, 448, 467–468 Zentrale Planung 143, 149, 386

Zivilgesellschaft 139–140, 405, 407–408 Zoll, Zölle 120, 149, 253, 300, 303, 324, 370, 378–380, 387–388, 400 Zuchthäuser 248 Zucker 81, 188, 190, 192–193, 253–254, 281, 284–285, 292, 320, 374 Zugtiere (Büffel, Ochsen, Pferde) 63, 76, 168, 194 Zwangsarbeit 189, 383–384 Zwangsrekrutierung 383–384

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Wenn Sie weiterlesen möchten Gerd Koenen

Was war der Kommunismus? Die kommunistischen Bewegungen und Staatsgründungen im 20. Jahrhundert, ihre ursprüngliche Dynamik und ihr rascher Zerfall, stellen sich als eines der schwierigsten Kapitel dieses »Jahrhunderts der Extreme« (Eric Hobsbawm) dar. Gerd Koenen versteht den Kommunismus als ein konstitutives Element der großen Tendenzen dieses Zeitalters und versucht ihn in diesem Sinne zu »historisieren«. Wie und warum waren Kommunisten in der Lage, inmitten ihres epochalen Scheiterns dennoch ihrer Welt und Zeit einen so prägenden Stempel aufzudrücken? Und wie bilanziert sich ihr historisches Wirken – nicht zuletzt aus der Perspektive der postkommunistischen Entwicklungen und der kapitalistischen Weltkrise 2009? »Gerd Koenen hat ein selten dichtes, gedankenreiches und pointiert geschriebenes Buch vorgelegt.« Rolf Hosfeld, Deutschlandradio Kultur »Kenntnisreich, tiefgründig, einsichtig legt er Eigenarten und Entwicklung des Kommunismus zwischen seinem Kernreich, der UdSSR, und China, Südamerika, Europa dar.« Immo Sennewald, blog.literaturwelt.de »... kompetent und prägnant ...« Erhard Eppler, Süddeutsche Zeitung

Jörn Leonhard / Ulrike von Hirschhausen

Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert

Noch immer dominiert der Nationalstaat unser historisches Bewusstsein. Die Großreiche Europas waren dagegen bereits in den Augen der Zeitgenossen anachronistische Gebilde. Aber Empires prägten die Geschichte Europas weit länger und stärker als die historisch relativ späte Erfindung des Nationalstaats. Ulrike v. Hirschhausen und Jörn Leonhard zeigen, wie die Habsburgermonarchie, das Zarenreich, das Osmanische Reich und das Britische Empire im 19. Jahrhundert auf die Vielfalt ihrer Herrschaftsstrukturen und Ethnien reagierten und sich so zugleich mit dem Modell des Nationalstaates auseinandersetzten.

Rebekka Habermas / Alexandra Przyrembel (Hg.)

Von Käfern, Märkten und Menschen Kolonialismus und Wissen in der Moderne

Ohne die Kolonien wäre die europäische Wissensgeschichte anders verlaufen. Nicht nur die Entwicklung der Zoologie oder Ethnologie war aufs engste mit der Kolonialgeschichte verwoben, auch die erfolgreiche Bekämpfung von damals in Europa auftretenden Krankheiten wie Cholera und Malaria wäre ohne das Wissen aus den Kolonien kaum möglich gewesen. Entlang faszinierender Einzelschicksale, aber auch durch Einblicke in Dokumente und Zeugnisse aus der Kolonialgeschichte zeigt der Band, wie ein erstaunlich reiches Wissen nach Europa gelangte und den Fortschritt des 19. Jahrhunderts entscheidend beeinflusste.

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525310472 — ISBN E-Book: 9783647310473

Schriftenreihe der FRIAS School of History Band 7: Chris Lorenz / Berber Bevernage (Hg.)

Breaking up Time Negotiating the Borders between Present, Past and Future 2013. 274 Seiten, mit einer Grafik, gebunden ISBN 978-3-525-31046-5 Auch als eBook erhältlich

Geschichte kommt ohne Zeit nicht aus – doch was ist historische Zeit? Diese Frage ist selten gestellt und noch weniger beantwortet worden. In diesem Buch analysieren prominente Historiker und Philosophen aus einer globalen Perspektive, wie Gesellschaften und mit ihnen Historiker Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft voneinander unterscheiden und miteinander in Beziehung setzen. Zentral sind dabei die Fragen, inwiefern Historiker Geschichte selbst aktiv gestalten und welche ethischen und politischen Konsequenzen sich daraus ergeben.

Band 6: Maurus Reinkowski / Gregor Thum (Hg.)

Helpless Imperialists Imperial Failure, Fear and Radicalization 2013. 211 Seiten mit 5 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-31044-1 Auch als eBook erhältlich

Das Zeitalter des Hochimperialismus wurde bisher als Zeitraum unangefochtener ökonomischer, technologischer und militärischer Überlegenheit der europäischen Kolonialmächte gesehen.

»Helpless Imperialists« beleuchtet den bisher in der Forschung kaum beachteten Aspekt imperialer Frustration und geht dem Zusammenhang zwischen dem Scheitern imperialer Projekte und dem Verlust imperialer Routine und Gewalt nach. Die englischsprachigen Beiträge des Bandes untersuchen das Phänomen des Scheiterns in den deutschen Kolonialgebieten ebenso wie im späten Osmanischen Reich und den Kolonien Südostasiens.

Band 5: Jan Eckel / Samuel Moyn (Hg.)

Moral für die Welt? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren 2012. 396 Seiten mit einem Diagr., gebunden ISBN 978-3-525-31045-8 Auch als eBook erhältlich

Der Band untersucht die globale Konjunktur der Menschenrechtspolitik bei Staaten und nicht-staatlichen Organisationen in den 1970er Jahren. Die Proteste gegen die Apartheid und gegen südamerikanische Militärdiktaturen, die Außenpolitik Jimmy Carters und die Dissidentenbewegung in Osteuropa – bereits diese wenigen Beispiele zeigen, dass der Menschenrechtsgedanke in den 1970er Jahren weltweit an Bedeutung gewann. Der Band untersucht die Voraussetzungen, Formen und Auswirkungen dieser Entwicklung. Alle Beiträge setzen sich dabei mit der Leitfrage auseinander, inwiefern sich die 1970er Jahre als eine qualitativ neuartige Phase in der Geschichte der Menschenrechte begreifen lassen.

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525310472 — ISBN E-Book: 9783647310473

Schriftenreihe der FRIAS School of History Band 4: John Krige / Helke Rausch (Hg.)

American Foundations and the Coproduction of World Order in the Twentieth Century 2012. 301 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-31043-4 Auch als eBook erhältlich

Dieser Band untersucht die Verflechtungen zwischen Politik und Wissenschaft im 20. Jahrhundert am Beispiel der großen US-amerikanischen Stiftungen.

Band 3: Marie-Janine Calic / Dietmar Neutatz (Hg.)

The Crisis of Socialist Modernity The Soviet Union and Yugoslavia in the 1970s 2011. 231 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-31042-7

Die westliche Industriemoderne stieß in den 1970er Jahren an ihre Grenzen. Ein ausgeprägtes allgemeines Krisenbewusstsein war die Folge. Wie aber stellte sich die Lage in den sozialistischen Staaten dar? Trifft die Charakterisierung dieses Jahrzehnts als Epoche des Übergangs auch auf die Gegenentwürfe zur kapitalistischen Moderne zu? Die Beiträge gehen dieser Frage anhand von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der beiden Vielvölkerstaaten Jugoslawien und Sowjetunion nach und zeigen, dass sich beide in einer verborgenen Krise befanden.

Band 2: Jörn Leonhard / Christian Wieland (Hg.)

What Makes the Nobility Noble? Comparative Perspectives from the Sixteenth to the Twentieth Century 2011. 396 Seiten mit 22 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-31041-0 Auch als eBook erhältlich

Die Geschichte des Adels in Europa ist häufig »zweigeteilt« betrachtet worden: Für die Frühe Neuzeit spricht man meist von »Herrschaft«, für das 19. und 20. Jahrhundert vom »Kampf ums Obenbleiben«. Die Beiträge dieses Bands überschreiten bewusst die Grenze zwischen Vormoderne und Moderne. Aus der Perspektive des Adels heraus stellen sie die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen der Neueren Geschichte auf neue Weise. Anhand der Kategorien Recht, Politik und Ästhetik werden wesentliche Handlungsfelder und Modi der adligen Selbstdarstellung und Selbstbehauptung analysiert.

Band 1: Jörn Leonhard / Ulrike von Hirschhausen (Hg.)

Comparing Empires Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century 2. Auflage 2012. 556 Seiten mit 19 Abb., geb. ISBN 978-3-525-31040-3

In einem systematischen Vergleich wird die Bedeutung multiethnischer Großreiche für die Geschichte der europäischen Moderne neu bestimmt.

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525310472 — ISBN E-Book: 9783647310473