Unternehmen Bourdieu: Ein Erfahrungsbericht 9783839447864

The »Bourdieu phenomenon« in a new light. In his long and close collaboration with Pierre Bourdieu, Franz Schultheis has

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Unternehmen Bourdieu: Ein Erfahrungsbericht
 9783839447864

Table of contents :
Inhalt
1. Wofür steht der Name Bourdieu?
2. In der Lehr-Werkstatt
3. Forschen mit Bourdieu
4. Soziologie publizieren. Bourdieu als Herausgeber
5. Öffentlicher Auftritt
6. Raisons d’agir. Bourdieu als Leitfigur der »Gauche de la Gauche«
7. Das Projekt »Für einen Raum der Europäischen Sozialwissenschaften«
8. Die Fondation Pierre Bourdieu
9. Bilanz. Was bleibt?
Literatur

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Franz Schultheis Unternehmen Bourdieu

Sozialtheorie

Franz Schultheis, geb. 1953, ist Professor für Soziologie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Zuvor lehrte er u.a. an den Universitäten St. Gallen, Genf, Neuchâtel und Paris V. Sorbonne. Nach der Promotion an der Universität Konstanz habilitierte er sich bei Pierre Bourdieu an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie der Kunst und der Kreativarbeit. Er ist u.a. Mitglied des Schweizer Wissenschaftsrates, Präsident der Fondation Pierre Bourdieu sowie Redaktionsmitglied von »Actes de la Recherche en Sciences Sociales«.

Franz Schultheis

Unternehmen Bourdieu Ein Erfahrungsbericht

Patricia Holder gilt großer Dank für das kritische, stets wohl informierte und stilsichere Lektorieren des Manuskripts. Dank gilt auch Stephan Egger für seine wertvollen Hinweise.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Korrektorat: Julia Bauer, Bielefeld Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4786-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4786-4 EPUB-ISBN 978-3-7328-4786-0 https://doi.org/10.14361/9783839447864 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Wofür steht der Name Bourdieu? | 9 2. In der Lehr-Werkstatt | 19 3. Forschen mit Bourdieu | 29 4. Soziologie publizieren. Bourdieu als Herausgeber | 49 5. Öffentlicher Auftritt | 71 6. Raisons d’agir. Bourdieu als Leitfigur der »Gauche de la Gauche« | 75 7. Das Projekt »Für einen Raum der Europäischen Sozialwissenschaften« | 89 8. Die Fondation Pierre Bourdieu | 97 9. Bilanz. Was bleibt? | 99 Literatur | 103

Ich kann sagen, dass ich wohl derjenige bin, der am beharrlichsten versucht hat, Kollektives zu schaffen und damit auch am meisten gescheitert ist. Diese fast resignierte Feststellung traf Pierre Bourdieu am Ende seines Lebens anlässlich einer Tagung in Cérisy.1 Sie bildet das Leitmotiv für die hier versuchte Annäherung an Bourdieu und den Kreis der mit ihm arbeitenden Wissenschaftler und Intellektuellen. Anhand der Erfahrungen aus einer langjährigen aktiven Teilhabe an diesem Kollektiv und seiner soziologischen Praxis soll herausgearbeitet werden, wie und warum die Idee, bzw. die »Realutopie«, wie Bourdieu zu sagen pflegte, eines »kollektiven Intellektuellen« von solch enormer Bedeutung für sein wissenschaftliches und politisches Wirken werden konnte und welches spezifische intellektuelle Ethos sich in ihr spiegelt. Gleichzeitig geht es auch darum, die Gründe des Scheiterns dieser Idee nachvollziehbar zu machen.

1 | Dieses Gespräch wurde mit großer Verspätung publiziert und deshalb bei der Rezeption Bourdieus kaum zur Kenntnis genommen (vgl. Bourdieu 2015, 339).

1. Wofür steht der Name Bourdieu?

Pierre Bourdieu zählt zu den herausragenden Vertretern der Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts. Sein umfangreiches Werk liegt in zahlreichen Übersetzungen vor und wird auch über die akademische Fachwelt hinaus breit diskutiert. Über die Hintergründe der fulminanten Karriere Bourdieus wurde viel spekuliert und geschrieben, zu seinen theoretischen Entwürfen und empirischen Forschungen liegt eine kaum noch zu überschauende Menge an Sekundärliteratur vor. Das »Phänomen« Bourdieu könnte also als ausreichend thematisiert und durchleuchtet gelten. Doch beschränkt sich dieses Phänomen wirklich auf das gedruckte Werk des Autors? Welche vielfältigen Aktivitäten gehen ihm voraus? Müsste man nicht auch die spezifische Praxis Bourdieu’schen Forschens, Vermittelns und Wirkens in den Blick nehmen – umso mehr, als dessen praxeologischer Ansatz immer wieder die gesellschaftliche Genese, Dynamik und Einbettung von »Werken«, z.B. in Literatur oder bildender Kunst, betonte? Wie Bourdieu oft – Marx paraphrasierend – feststellte, verkehren Texte ohne ihre Kontexte und werden bei der grenzüberschreitenden Rezeption aus ihren spezifischen soziohistorischen und kulturellen Zusammenhängen, in denen sie entstanden und eingebettet sind, herausgelöst. Durch die Dekontextualisierung gehen konkrete Bezüge verloren, verändern sich Konnotationen und verschieben sich Akzente von Stellungnahmen, die jeweils aus einer spezifischen Konfiguration des Feldes und einer bestimmten politischen Konjunktur heraus zustande kamen. Mehr noch: Mit seinem posthum erschienenen »Soziologischen Selbstversuch« hat Bourdieu selbst eine »soziobiographische« – was gerade nicht mit autobiographisch verwechselt werden darf – Objektivierung vorgenommen und einen Beitrag zum Verständnis der sozialen Möglichkeitsbedingungen seiner Biographie vorgelegt (Bourdieu 2002).

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Dort wird an verschiedenen Stellen, allerdings in aller Kürze und oft nur für Vertraute des französischen Feldes der Soziologie nachvollziehbar, angesprochen, für welche Form kollektiver Vernetzung und Kooperation der Name Bourdieu steht. Ohne die Vertrautheit mit diesem sozialen Feld und weitere Informationen zu dessen Strukturen und Funktionsweisen ist eine adäquate Einordnung der soziologischen Praxis Bourdieus kaum möglich. So ist etwa die für die Entwicklung seines Ansatzes seit den 1960er-Jahren prägende enge Zusammenarbeit einer kleinen Gruppe gleichgesinnter junger Forscherinnen und Forscher, Dissidenten des etablierten Mainstreams der französischen Soziologie wie auch der sich schon anbahnenden globalen Hegemonie USamerikanischer Theorie, trotz verschiedener Hinweise in Bourdieus Werk und in einschlägigen Interviews, außerhalb Frankreichs weitgehend unbemerkt geblieben. Auch die Namen wichtiger Wegbegleiter Bourdieus wie Jean-Claude Passeron, Abdelmalek Sayad oder Claude Chamboredon haben, sieht man von Luc Boltanski und Robert Castel ab, jenseits des »Bourdieu et al.« kaum Eingang in die ausländische Bourdieu-Rezeption gefunden.1 Dieser blinde Fleck dürfte zum guten Teil der vorherrschenden Rezeptionslogik geschuldet sein, die weiter dazu tendiert, singulären Genies zu huldigen.2 Auch die Zeitschrift »Actes de la Recher1 | Um diesem Manko Abhilfe zu schaffen, habe ich seit den 1990er Jahren Werke von Mitarbeitern Bourdieus in der Reihe »Edition Discours« bei UVK deutschsprachig publiziert. Bis zur Übertragung von »Der neue Geist des Kapitalismus« (2000) respektive »Die Metamorphosen der sozialen Frage« (2006) waren auch die Namen von heute rege rezipierten Autoren wie Luc Boltanski und Robert Castel diesseits des Rheins weitgehend unbekannt, und dies gilt in noch stärkerem Maße für Monique de Saint-Martin, Stéphane Beaud und Michel Pialoux, die hier erstmals in Deutsch vorgestellt wurden. 2 | Schaut man z.B. in das sich hinsichtlich »Leben – Werk – Wirkung« Bourdieus repräsentativ, wenn nicht gar ultimativ gebende »Bourdieu-Handbuch« (Fröhlich & Rehbein 2009), so wird man vergeblich nach einer Würdigung der enormen Bedeutung von »Actes de la Recherche« suchen. Man findet keinen Hinweis auf die von Bourdieu herausgegebene Buch-Revue »Liber« oder seine Reihe »Le sens commun«, keine Auseinandersetzung mit der ebenfalls von Bourdieu herausgegebenen, bis heute weiter existierenden Reihe »Raisons d’Agir«, obwohl diese für das politische Wirken Bourdieus rund um die sozialen Bewegungen der 1990er-Jahre von so zentralem Stellenwert war.

1. Wofür steht der Name Bourdieu?

che en Sciences Sociales« (ARSS), deren Gründung im Jahre 1975 in jeder Beziehung eine bahnbrechende Innovation kollektiver sozialwissenschaftlicher Produktionsformen darstellte, ist außerhalb Frankreichs weitgehend unbekannt geblieben. Ihre Entdeckung als eigentliches Flaggschiff des sozialwissenschaftlichen Kollektivs rund um Bourdieu steht aufgrund von Sprachbarrieren und den Zugangshürden zum französischen Feld der Soziologie noch aus. Gleiches gilt für das Unternehmen Liber, das Bourdieus Realutopie eines »internationalen kollektiven Intellektuellen« prototypisch inkarnierte. Nicht zuletzt bleibt auch Bourdieus Wirken als Professor am Collège de France, wo seine Vorlesungen seit 1980 regelmäßig von hunderten Zuhörern verfolgt wurden, der grenzüberschreitenden Rezeption weitgehend verborgen; ebenso wie der enorme Einfluss seiner Forschungsseminare an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences en Sciences Sociales (EHESS) auf mehrere Generationen junger Sozialwissenschaftler.

E ine unwahrscheinliche soziologische P r a xis »Mit Bourdieu arbeiten. Was heißt das?« »Wie war er als Mensch?« »Wie war der Umgang mit ihm?« Solche und ähnliche Fragen wurden mir im Laufe der Jahre immer wieder gestellt, sobald ein Hinweis auf meine Nähe zu ihm fiel. Aufgrund einer engen Zusammenarbeit, aber auch Freundschaft mit Bourdieu konnte ich von 1986 bis zu seinem Tod im Jahr 2002 intensive Primärerfahrungen auf diesem Gebiet sammeln, die ich bisher nur punktuell und beiläufig thematisiert habe. Keinen Hinweis auf so wichtige und enge Mitarbeiter wie Remi Lenoir, seit den 1990er-Jahren Leiter des Centre de Sociologie Européenne, Michel Gollac, und viele andere mehr. Bourdieu, der immer wieder das Konzept des »kollektiven Intellektuellen« zur Beschreibung der von ihm initiierten Form der Vernetzung von Forschenden unterschiedlicher Disziplinen und Forschungsfelder benutzte und diese z.B. in »La Misère du Monde« doch eigentlich auf exemplarische Weise vor Augen führte, erscheint deshalb bei dieser Form der verkürzten Rezeption als singuläres Genie »in splendid isolation«, ein Zerrbild, das ihm gewiss zuwider gewesen wäre. Immerhin findet sich im Handbuch ein kurzes Kapitel, das Bourdieus wissenschaftliche Produktionsweise treffend als »Eine Art Großunternehmen« benennt und diskutiert.

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Wenn in diesem Band eine Tour d’Horizon ausgewählter und signifikant erscheinender Einblicke eines teilnehmenden Beobachters vorgelegt wird, so geht es nicht primär darum, die angesprochene Neugier auf eine herausragende Figur der Sozialwissenschaften zu befriedigen. Die Frage nach der sozialen Einbettung dieser Soziologie und Bourdieus Rolle als wissenschaftlichem Entrepreneur ist vielmehr gerade deshalb von Bedeutung, weil die Rahmenbedingungen seines Schaffens und Wirkens diesseits des Rheins weitgehend unbekannt geblieben sind: Mit dem Namen Bourdieu wird in der Regel eben nur das Werk eines singulären Forschers und Autors identifiziert. Daneben gibt es aber noch eine andere Seite des »Phänomens« Bourdieu, die es zu erhellen gilt, wenn man dieses adäquat verorten, vielleicht sogar soziologisch »objektivieren« will. Ähnlich wie die visuelle Soziologie Bourdieus aus den Zeiten seiner ethnographischen Feldforschungen in Algerien wurde der Umstand, dass der Name Bourdieu von Anfang an für ein kollektives Unternehmen mit einer Vielzahl von Akteuren in wechselnder Zusammensetzung stand, bei der Rezeption bis weit nach seinem Tod weitgehend ignoriert. Hierfür mögen die unterschiedlichsten Gründe wie die angesprochene mangelnde Vertrautheit mit dem französischen Feld der intellektuellen Produktion, die geringe Kenntnis der Haus-Revue »Actes de la Recherche en Sciences Sociales« (ARSS), in der diese komplexe soziale Vernetzung Bourdieus offenkundig wird, oder aber auch die analog zur Welt der Kunst vorherrschende Verengung des Blicks auf den vermeintlich singulären Schöpfer eines Werks verantwortlich sein. Im vorliegenden Buch wird es darum gehen, diese Lücken ein wenig zu füllen und aus dem Binnenraum der Bourdieu’schen Unternehmung auf die mit seinem Namen verbundene soziologische Praxis zu blicken. Wenn Bourdieu in immer neuen Variationen des gleichen Themas auf den unweigerlich und unverzichtbar kollektiven Charakter der Hervorbringung von »Werken« verweist, so gilt dies nicht nur für die Sphäre der Kunst, in der die sozialen Möglichkeitsbedingungen ihres Entstehungsprozesses systematisch durch die Überhöhung der Signatur eines vermeintlich singulären Schöpfers verschwiegen bzw. verschleiert werden. In der Wissenschaft zeigen sich ähnliche blinde Flecken beim Rückblick auf die Entstehungsprozesse von Werken und die dort zur Geltung kommenden genealogischen Beziehungen zwischen einer Vielzahl von

1. Wofür steht der Name Bourdieu?

Akteuren. Dies erstaunt umso mehr, wenn es sich wie im Falle Bourdieus um einen Forscher handelt, der über mehr als vier Jahrzehnte seine Theorie der sozialen Welt aus der empirischen Feldforschung in enger Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden und Kolleginnen heraus entfaltete. Mit einem solchen Blick auf wissenschaftliche Praxis soll die Anerkennung von Bourdieus herausragender Rolle nicht geschmälert, sondern vielmehr neu akzentuiert werden. In meiner persönlichen Erfahrung zeichnet sich Bourdieu durch die Koexistenz zweier Rollen- und Handlungsmuster aus, die in einer klaren, wenn auch nicht rigiden zeitlichen Arbeitsteilung zum Ausdruck kamen. Tagsüber war er, von den Wochenenden und Ferien mal abgesehen, ein unablässig in soziale Prozesse und Konstellationen eingebundener Kommunikator: Er oszillierte zwischen administrativen Aufgaben in Zusammenarbeit mit den engsten Mitarbeiterinnen am Collège, allen voran Marie-Christine Rivière und Rosine Christin, über die auch der offizielle Kontakt zur »Außenwelt«, etwa die umfangreiche Korrespondenz, ablief, Teamsitzungen mit den Forschenden, dem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, Gesprächen bei Verlagen, nicht abreißenden Anfragen für Interviews, der Lektüre von Beiträgen für die von ihm herausgegebenen Revuen und Editionen und vielen anderen »öffentlichen« Pflichten. Zum Verfassen seiner zahlreichen Publikationen kam er erst, wenn er sich nach Hause an den Schreibtisch zurückzog und bis tief in die Nacht intensiv arbeitete. In diesem Buch beschäftigen wir uns mit Bourdieus Alltag am Centre. Mit seiner nächtlichen Produktivität wurde man als Mitglied seiner Forschungsgruppe in der Regel nicht nur durch die Lektüre der allmorgendlich ins Sekretariat mitgebrachten Manuskripte konfrontiert, die man, abgetippt und in Form gebracht, regelmäßig von ihm weitergereicht bekam. Oft genug erhielt man auch in den frühen Morgenstunden versandte Mails, in denen es z.B. um geplante Vorhaben, organisatorische Fragen oder öffentliche Stellungnahmen ging. Bindeglied zwischen Tag und Nacht war häufig aber auch der allmorgendliche Telefonanruf Bourdieus, bei dem er spontane Projektideen, strategische Fragen im Umgang mit den Medien, nächste Schritte der Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen, immer wieder aber auch Sorgen rund um das Centre und seine Mitarbeiter besprechen wollte.

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B ourdieu – Patron eines wissenschaf tlichen  U nternehmens In dem hier angelegten Porträt Bourdieus als Sozialforscher tritt dieser in der Rolle des »Patron« eines Kleinunternehmens, einer soziologischen Forschungswerkstatt, auf den Plan. Diese Bezeichnung mag zunächst überraschen, ja konsternieren. Tatsächlich aber wurde sie von engen Mitarbeitern, zuletzt etwa von Luc Boltanski (2008, 18), oft als halb humorige, immer aber respekt- und durchaus liebevolle Charakterisierung des Chefs dieser »Denkfabrik« verwendet. Dass der vom Begriff des »pater familias« abgeleitete Patron durchaus eine mit Macht ausgestattete Position kennzeichnet, die sich in unserem Fall aus einem beeindruckenden symbolischen Kapital und der damit einhergehenden Autorität ergibt, muss auch in unserem soziologischen Gruppenbild thematisiert werden. Wo eine solche Fülle symbolischen Kapitals in einer Person inkarniert ist, lassen sich Erfahrungen symbolischer Gewalt und Verletzung wohl kaum vermeiden: Auch Bourdieus beachtliche Verlustrate an engen Mitarbeitern über die Jahre verweist auf diese besondere sozialpsychologische Problematik. In den ersten Jahren seiner Existenz dürfte das »Unternehmen Bourdieu« nach den Erzählungen befragter Zeitzeugen in Sachen Corporate Identity Ähnlichkeiten mit einem »Startup« heutiger Machart gehabt haben, etwa in den hier hoch gehaltenen, wenn auch oft trügerischen Vorstellungen von einer Assoziation »auf Augenhöhe« und einem egalitären Zusammenwirken an einer gemeinsamen Sache. Schon damals erwies sich diese Unternehmensphilosophie als eine nach dem Prinzip des »als ob« kontrafaktisch hochgehaltene kollektive Illusion, die über noch so offenkundige Differenzen von Positionen, Rollen und Ressourcen der Gruppenmitglieder hinwegzutäuschen half. Was in dieser ersten Phase aufgrund des eher geringen Alters- und Statusunterschieds der Mitglieder, in etwa derselben Generation zuzurechnen und sozusagen eine »peer group«, durch den kameradschaftlichen Umgang miteinander noch stimmig und wirksam erschien, verlor im Laufe der Jahrzehnte die Plausibilität. Bei meinem Eintritt in diese Lebenswelt füllte Bourdieu die Rolle des souveränen Soziologie-Entrepreneurs aufgrund seines rasch gewachsenen symbolischen Kapitals mit all ihren Anrechten und Ansprüchen bereits unverkennbar aus.

1. Wofür steht der Name Bourdieu?

A ls Teilnehmer und B eobachter berichten Wie aber ist die hier von mir eingenommene Perspektive zu verstehen? Es wäre verführerisch, hier retrospektiv die Rolle eines distanzierten ethnographischen Beobachters zu behaupten. Die persönlichen Verstrickungen mit und in diesem Kollektiv, auch die affektive Bindung an und Identifikation mit Bourdieu und seinem Centre, lassen sich aber nicht abstreiten. Aus ihnen sind einige heute schon mehr als dreißig Jahre andauernde enge Freundschaften entstanden. Ebenso wenig zu leugnen sind die eigenen durch Immersion in dieses Soziotop – wenn auch weitgehend unbewusst – entstandenen habituellen Prägungen. Meine Publikationen tragen deutliche Spuren dieser intensiven und langjährigen soziobiographischen Erfahrungen. Jedoch handelt es sich dabei um eine Art akademischer Sekundärsozialisation: Dank eines Auslandsstipendiums der deutschen Studienstiftung konnte ich nach einem Jahr an der französischen Universität Nancy II mein Studium mit einer Licence-ès-Lettres abschließen. Beim Eintritt ins Centre im Alter von über dreißig Jahren brachte ich deshalb die nötige Sprachkompetenz mit. Durch das Magister- und Promotionsstudium an einer deutschen Universität war mein akademischer Habitus nachhaltig von einer anderen »Kultur« geprägt. Als »Kollege aus Deutschland« nahm ich im Centre eine Sonderstellung ein: dabei, aber doch nicht so ganz, Mitglied, aber kein normaler Mitspieler im Feld, etwa bei der Konkurrenz um Titel und Stellen. Der komfortable, ja privilegierte Status desjenigen, der nach den immer zeitlich begrenzten Präsenzen im Centre wieder »nach Hause« fuhr, erlaubte auch ein anderes persönliches Verhältnis zu Bourdieu. Er erzählte mir regelmäßig von seinen Sorgen rund um das Centre oder konkrete Mitarbeiter und sprach hierbei auch private Angelegenheiten an, die er aus Diskretionsgründen den Pariser Kollegen niemals so freimütig hätte weitergeben können. Die bleibende Fremdheit des intermittierenden Migranten, meine sprachlichen wie auch anderweitigen Besonderheiten, schienen eher der nationalen Zugehörigkeit zugerechnet worden zu sein, denn meiner sozialen Herkunft als Abkömmling einer bildungsfernen Familie aus der deutschen Provinz. Im Vergleich zu den leidvollen Erfahrungen, von denen Didier Eribon mit einem vergleichbaren Hintergrund zu berichten weiß (Eribon 2016), war das im Pariser Intellektuellen-Milieu ein beachtlicher Vorteil. Zwar schlug sich

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diese Zwitterrolle wohl auch in meinem Fall in einem »gespaltenen Habitus« – von dem Bourdieu in seinem Selbstversuch und Eribon in seinen daran angelehnten biographischen Rekonstruktionen sprechen – nieder, auf den die neue Umwelt allerdings mehrheitlich wohlwollend-nachsichtig reagierte. Die relative Fremdheit ging unvermeidbar mit einer gewissen Distanz zu den in der »communauté d’accueil« geltenden Spielregeln – der Volkskundler würde von »Sitten und Gebräuchen« sprechen, der heutige Sprachgebrauch von »Code of conduct« – einher. Sie erlaubte es mir, bestimmte ungeschriebene Gesetze zu missachten und jenseits des – gegen andere Institutionen relativ abgeschotteten – Centre de Sociologie Européenne zahlreiche Kontakte mit Forschern wie Bernhard Lahire, François de Singly oder Serge Paugam zu pflegen. Diese vielfältigen und oft konträren Außenperspektiven brachten die jeweils spezifischen Effekte des Feldes der französischen Soziologie zum Ausdruck und trugen auch zu einer gewissen kritischen Reflexivität in und gegenüber der Praxis am Centre bei. War es für einheimische Mitglieder des Centre nach dem Bruch mit Luc Boltanski »undenkbar«, mit ihm und den ihm nahestehenden Alain Desrosières und Laurent Thévenot Kontakte zu pflegen, konnte ich dies problemlos tun. Während dieser Jahre kooperierte ich nicht nur mit ihnen am Statistischen Bundesamt Frankreichs rund um die Frage des interkulturellen Vergleichs sozioprofessioneller Klassifikationen. Ich führte auch ein EU-Projekt mit Castels Groupe d’analyse du social et de la sociabilité (GRASS) durch, vertrat François de Singlys Professur an der Sorbonne, trug in Bernhard Lahires Forschungskolloquium in Lyon vor und publizierte bei ihm. Weiter hatte ich kollegiale Beziehungen zu Bourdieus »Erzfeind« Raymond Boudon, der Lehrbeauftragter am von mir geführten Departement de Sociologie an der Universität Genf tätig war, oder publizierte gemeinsam mit Serge Paugam oder Louis Chauvel. In der von mir herausgegebenen Edition Discours bei UVK veröffentlichte ich neben Bourdieus Werken auch Bücher von Luc Boltanski, Pierre-Michel Menger oder François de Singly: eine Mischung, die im französischen Kontext gewagt, wenn nicht sogar konsternierend gewirkt hätte. So weit die Offenlegung der Position, die ich als Autor innerhalb des beobachteten Gegenstandsbereichs eingenommen habe. Dieser wird nun anhand einer Reihe von unterschiedlichen Szenen aus der Alltagswelt des Centre de Sociologie Européenne einer dichten Be-

1. Wofür steht der Name Bourdieu?

schreibung unterzogen und analysiert. In einem ersten Schritt wird Bourdieus Rolle als – wie man heute sagen würde – »Coach« einer Forschungswerkstatt dargestellt und mit seinem Wirken am Collège de France kontrastiert. Darauf folgt eine Auseinandersetzung mit der Forschungspraxis am Centre und der zentralen Rolle von »Actes de la Recherche en Sciences Sociales« für die Durchsetzung von Bourdieus Konzeption des »kollektiven Intellektuellen«. In einem nächsten Schritt wird Bourdieu als Herausgeber von »Le sens commun«, einer Art »Ideal-Bibliothek« der Sozial- und Kulturwissenschaften vorgestellt und ausführlich auf die von ihm begründete europäische Buchrevue »Liber« eingegangen. Ein kurzes Kapitel mit Eindrücken zu Bourdieus Auftritten bei wissenschaftlichen Anlässen und öffentlichen Stellungnahmen leitet dann über zum für seine letzten Lebensjahre entscheidenden politischen Engagement als Intellektueller. Hier wird die von ihm gegründete Bewegung »Raisons d’agir« im Zentrum stehen und Bourdieu in seiner ihm ab 1995 mehr und mehr zugedachten und angetragenen Rolle als Leitfigur der französischen »Gauche de la Gauche« präsentiert. Abschließend wird es darum gehen, das gemeinsam mit Bourdieu initiierte Projekt »Für einen europäischen Raum der Sozialwissenschaften« und die daraus resultierenden Forschungen, wie auch die Gründung der seinen Namen tragenden Stiftung zu rekonstruieren.

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2. In der Lehr-Werkstatt

An einem Spätnachmittag im Oktober 1987 drängen sich rund dreißig Personen in einen kleinen Seminarraum des Maison des Sciences de l’Homme (MSH), am Boulevard Raspail in Paris. Es sind die Teilnehmenden an Bourdieus »Séminaire de l’Ecole des Hautes Etudes en Sciences en Sciences Sociales« (EHESS). Wenige Plätze bleiben frei, während einige Anwesende provisorische Sitzgelegenheiten auf der Heizung eingenommen oder weitere Stühle in den beengten Raum getragen haben. Bourdieu kommt in Begleitung seiner engsten Mitarbeiter, allen voran Patrick Champagne, der umgehend ein Tonband installiert und anschaltet. Nach einem kurzen Gruß in die Runde skizziert Bourdieu sofort die Intention und die Form des Seminars. Die Lehrveranstaltung soll sich als programmatisch, ja geradezu paradigmatisch für seine Auffassung von soziologischer Lehre erweisen, die sich wesentlich näher an der Praxis beruflicher Sozialisation und Qualifikation als am klassischen Modell akademischer Wissensvermittlung situiert. Das Programm des Seminars, das man als »Einführung in die soziologische Praxis« betiteln könnte, braucht hier nicht näher dargelegt zu werden. Es ist verfügbar in dem von Bourdieu in Zusammenarbeit mit Loic Wacquant vorgelegten Band »Réponses« (Bourdieu & Wacquant 1992), dessen zweiter Teil auf der Verschriftung des Tonband-Mitschnitts beruht. Bourdieu hatte diesen Text gemeinsam mit einem ausführlichen Interview bereits vorher bei Suhrkamp publizieren wollen. Beim zuständigen Lektor, dem ich das Projekt unterbreitete, stieß der Vorschlag aber auf Desinteresse. Das Vorhaben konnte dann später von Loic Wacquant erfolgreich zu einer französisch- und englischsprachigen Veröffentlichung gebracht werden. In seinem EHESS-Seminar stellte Bourdieu in weitgehend freier Improvisation seine forschungspraktischen Grundprinzipien vor.

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Ihm ging es um die Art und Weise, wie soziologische Forschung tatsächlich vor sich geht, und nicht darum, wie man sie oft idealisiert und von allen im Forschungsprozess durchlaufenden Irrungen und Wirrungen bereinigt zu präsentieren sucht. Bourdieu legte gleich zu Beginn die Spielregeln für die Teilnahme am Seminar auf den Tisch: Alle Teilnehmenden – mehrheitlich Doktoranden des Centre, aber auch Gasthörer und Studierende anderer Institutionen1 – sollten aus den eigenen Forschungsarbeiten, so vorläufig und unfertig sie auch scheinen mochten, eine Kurzpräsentation liefern und zur Diskussion stellen. Erwartet wurde keine »Show«, sondern die »einfache und bescheidene« Präsentation der Arbeit mit allen angetroffenen Schwierigkeiten und Problemen etc. Die Ermahnungen waren überflüssig: Bourdieu sollte dieses Seminar durch seine Haltung, seinen Kommunikationsstil, seine humorvollen – oft auch polemischen – Einlassungen und vor allem seine große Aufmerksamkeit für die präsentierten Forschungen und die konkreten Personen dahinter nachhaltig prägen. Seine Aversion gegen intellektuelle Selbstinszenierung, empirieferne theoretische Höhenflüge und konkurrenzorientiertes Gehabe, aber auch die ihm eigene Zurückhaltung und Bescheidenheit wurden zum kollektiven Stil. Wie ich aus vielen Gesprächen mit anwesenden Doktorierenden und GastforscherInnen, aber auch persönlich anlässlich meiner Habilitation bei Bourdieu erfahren konnte, war er ein äußert aufmerksamer Leser und Diskutant: Er munterte auf, wenn die Arbeit ins Stocken geriet, bot Anregungen für Verbesserungen und half bei ihm gelungen erscheinenden Dissertationen auch, diese zur Veröffentlichung zu bringen. Nicht nur aus den Danksagungen in diesen Büchern, sondern auch aus persönlichen Erzählungen wird deutlich, wie viel Zeit und Energie Bourdieu hierbei aufwendete. Dies im Übrigen gerade auch für Doktorierende wie Nathalie Heinich, die später in teils gehässigen Abrechnungen viel Mühe in Versuche der Singularisierung qua »Vatermord« investierten (vgl. Heinich 2007). Von Zeit zu Zeit traten von Bourdieu eingeladene »professeurs invités« wie 1987 etwa Harold Garfinkel auf. Im Zentrum des Seminars standen jedoch die Nachwuchsforschenden, die aus ihren 1 | Eine Minderheit der relativ regelmäßig Teilnehmenden waren Mitarbeitende Bourdieus oder ausländische Gastforscher. Zu ihnen gehörten neben Alois Hahn und mir z.B. auch Craig Calhoun und Nils Minkmar.

2. In der Lehr-Werkstatt

mehr oder weniger fortgeschrittenen Studien berichteten. Die Liste der bearbeiteten Forschungsthemen ist bunt und reicht von der »Modernität des Nationalismus«, »Die musikalischen Produktionen zur Zeit der Dreyfus-Affaire«, über »Die Produktion unterschiedlicher Genres von Rockmusik«, »Das literarische Feld nach 1940«, »Erkenntnistheorie bei Durkheim«, »Grundschullehrer und gewerkschaftliche Vertretung«, »Britische und französische Anthropologie« über »Das Feld ärztlicher Praxis« und »Bioethik-Kommissionen« bis zur »Evaluation im sowjetischen Bildungssystem«. Wie Bourdieu immer wieder betonte, war die enorme Vielfalt der Themen keineswegs als Gefahr zentrifugaler Dynamik und thematischer Verzettelung zu sehen. Ganz im Gegenteil erlaubte sie, wie er unterstrich, die Tragfähigkeit theoretischer Konzepte und methodologischer Zugänge an unterschiedlichsten Forschungsfragen zu erproben. Der Austausch über Gebiete, die auf den ersten Blick keinerlei Verbindung zueinander hatten, schuf für die Teilnehmenden tatsächlich einen erkennbaren heuristischen Mehrwert. Exemplarisch erwies er sich jeweils in der kollektiven Arbeit an der systematischen theoretischen Konstruktion und Durchdringung der verschiedenen Forschungsgegenstände. Aufgrund seiner herausstehenden Forschungserfahrung, aber auch in seiner Rolle als Urheber etlicher der in den jeweiligen Forschungen zur Anwendung kommenden soziologischen Konzepte, spielte Bourdieu hier eine Schlüsselrolle: dies aber immer mit der gebotenen Zurückhaltung und einem klar demonstrierten Respekt vor den oft noch so eigenwilligen Auslegungen des wissenschaftlichen Nachwuchses. Im Anschluss an die Sitzungen ging man regelmäßig in einer kleineren Gruppe in ein nahegelegenes Bistro oder Restaurant, wo die Diskussionen fortgesetzt wurden, die Rede aber auch das Centre und die dort laufenden Projekte betraf. In Gesprächen mit anderen Teilnehmenden war immer wieder zu hören, wie erfrischend und produktiv der Seminarstil im Gegensatz zu konventionellen Lehrveranstaltungen an französischen Universitäten empfunden wurde. Vor dem Hintergrund meiner eigenen – oft frustrierenden  – Studienerfahrungen in Nancy konnte ich das nur zu gut nachvollziehen. Tatsächlich stach die Bourdieu’schen Pädagogik in Form und Inhalt deutlich von der an französischen Hochschulen üblichen Praxis ab (vgl. hierzu Schultheis & Gipper 1995). Letztere zeichnete sich, und tut dies wohl trotz der vereinheitlichen Wirkungen der Bo-

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logna-Reform auch weiterhin, durch viel Frontalunterricht, geringen persönlichen Kontakt der Professoren mit ihren Studierenden und einem hohen Formalisierungsgrad des Unterrichts aus. Dass Bourdieu mit seiner unkonventionellen Art begeisterte, ist nicht weiter verwunderlich. Wie Bourdieu selbst festhielt, orientierte sich sein pädagogischer Stil mehr am Modell eines Sport-Trainers, der seiner »Mannschaft« sein über lange Jahre inkorporiertes Erfahrungswissen »in Aktion« vor Augen führt und für die eigene Praxis anwendbar macht. Als weitere Metapher diente Bourdieu die Werkstatt von RenaissanceKünstlern, in der Fähigkeiten – analog zum Sport-Training – aktiv vermittelt und durch die Aneignung eines vom Patron gepflegten »praktischen Sinns« sozusagen »am Werk« zur Geltung kommen. Der Kontrast zu Bourdieus Vorlesungen am Collège de France, die jeweils am nächsten Tag stattfanden, könnte größer nicht sein! Ein bis auf die letzte Treppenstufe besetzter Hörsaal mit VideoSchaltung in einen ebenfalls gut gefüllten Nebensaal wartete auf den Vortragenden. Durch eine Seitentür beim Rednerpult – die Bezeichnung »Katheder« passt hier noch gut – trat zunächst ein Saaldiener im grauen Kittel auf die Bühne, um Bourdieu lautstark mit einem »Monsieur le Professeur« anzukündigen. Wie sehr Bourdieu unter solchen Ritualen litt, konnte er nur schwerlich hinter einer unbeteiligten Miene verbergen. Es war ihm anzusehen, dass er sich an diesem so distinguierten akademischen Olymp fremd fühlte. Später gestand er mir in einem Gespräch, dass er schon Tage vor den Vorlesungen kaum noch schlafen konnte. Tatsächlich war Bourdieu hier im Gegensatz zum »Séminaire de l’EHESS« alles andere als ein Fisch im Wasser. An die Stelle freier Rede trat mehrheitlich ein Vortrag nach Manuskript, auch wenn Bourdieu sich nach den ersten Minuten des Warmwerdens mit dem Publikum, oft ausgelöst durch ein treffendes Bonmot, eine humorvolle Anspielung oder einen polemischen Seitenhieb gegen Kollegen, meist vom vorgefertigten Text löste und freier sprach. Je nach Tagesform gelang ihm das mehr oder weniger gut; oft genug verhedderte oder unterbrach er sich, verlor den Faden, nahm neuen Anlauf oder wechselte sogar das Thema. Auch diese Vorlesungen wurden von den Mitarbeitenden auf Band aufgezeichnet. Die Mitschnitte und Bourdieus Manuskripte ermöglichten es in den letzten Jahren, insgesamt vier umfangreiche Bände zu den Vorlesungen am Collège zu editieren – von »Über den

2. In der Lehr-Werkstatt

Staat« (2012), über »Manet« (2013) bis hin zur »Allgemeinen Soziologie« (2015 u. 2016). Das Collège de France ist unbestritten die prestigeträchtigste akademische Institution Frankreichs, an der mehr als fünfzig Professoren, über komplizierte Berufungsprozeduren inthronisiert, die unterschiedlichsten Disziplinen und Forschungsgebiete vertreten. Ihren Auftrag, Erkenntnisse in ihrem Entstehungsprozess zu vermitteln, setzte Bourdieu so um, dass er wichtige Publikationsprojekte und laufende Forschungen hier einem oft mehr als tausendköpfigen Zuhörerkreis als work in progress präsentierte. Bei meinem ersten Besuch dieser Vorlesungen im Jahre 1987 war ich nicht nur von Bourdieus erstaunlicher Verwandlung überrascht, dessen Auftritt so wenig zum geschätzten Habitus des »undisziplinierten Forschers und Theoretikers« zu passen schien. Ebenso unerwartet waren das Ritual und das Publikum: Ein guter Teil der Sitze wurde von distinguiert wirkenden Herren und Damen im Rentenalter eingenommen. Da die Vorlesungen am Collège öffentlich sind und eine hohe Reputation bei der Pariser Intelligenzija aufweisen, sind diese »Anlässe« auch für das Großbürgertum attraktiv geworden und entwickeln oft genug selbst einen mondänen Zug. Nahm man nach Ende der Vorlesung den Bus Richtung Maison des Sciences de l’Homme, so konnte man immer wieder den Kommentaren vornehmer älterer Damen lauschen, die sich etwa über Bourdieus Kleidungsstil austauschten. Bourdieus Malaise in diesen geheiligten Hallen stellte sich, wie er erzählte, gleich zu Beginn seiner Berufung bei seiner Antrittsvorlesung ein. Eigentlich war sie aber schon lang vorsehbar, da die völlige Inkompatibilität von Habitus hier und Institution und Rolle dort Bourdieu als Erstem bewusst sein mussten. So wichtig die höchste Konsekration, die ein Wissenschaftler in Frankreich erreichen kann, für Bourdieus weiteres Wirken auch sein sollte, so hoch war der Preis – die psychische Anspannung, aber auch enorme kognitive Dissonanzen –, den er in der Vorlesungszeit jede Woche zu zahlen hatte. Darüber hinaus war Bourdieu ein Mensch, dessen geringes Maß an Prätention im umgekehrten Verhältnis zu den oft genug über ihn verbreiteten, wenig wohlwollenden Fremdbildern stand: Regelmäßig von Selbstzweifeln befallen, brauchte er den ermutigenden und beruhigenden Zuspruch seiner Umgebung. Eine Szene aus Pierre Carles’ Film »La sociologie est un sport de combat«, in der Bourdieu im

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Gespräch mit mir die verheerende Vorstellung, die er gerade zuvor bei einem öffentlichen Vortrag an der Universität Neuchâtel geboten zu haben glaubte, in Worte fasst, bietet hierfür Anschauungsmaterial aus erster Hand. In der Regel war Bourdieu aber auch am Collège ein brillanter Redner. Er gab dem Publikum das Gefühl, an der Entstehung komplexer Gedanken- und Argumentationsgänge teilzuhaben, er erfand spontane Bonmots, spielte mit Konzepten auf eine Weise, die kritisch-reflexiv mit deren vermeintlich selbstevidenten Bedeutungen brach, und beendete seine Vorlesungen unter starkem Applaus. Dennoch haben wir es bei dem Bourdieu des Forschungsseminars unter geradezu intimen Interaktionsverhältnissen und dem Bourdieu der Massenvorlesung des Collège mit deutlich diskrepanten sozialen Rollenträgern zu tun. Und leider ist es der am Collège zur Distanz dem Publikum, aber auch sich selbst und dem eigenen Habitus gegenüber gezwungene Bourdieu, der das öffentliche Bild maßgeblich geprägt hat. Die Vorstellung eines unnahbaren und deshalb auch arroganten Intellektuellen wurde auch durch die Diskrepanz zwischen einer enormen Nachfrage und seinen zeitlichen Ressourcen und praktischen Möglichkeiten genährt: Bourdieu musste gezwungenermaßen »Abstand« wahren. Als Verteidigerinnen seiner Schutzzone fungierten Bourdieus Sekretärin Marie-Christine Rivière und seine langjährige Mitarbeiterin Rosine Christin. Dass sich Bourdieu nach den Vorlesungen am Collège schnell durch die Seitentüre »verdrückte«, wird nachvollziehbar, wenn man sich vor Augen führt, dass jeweils Dutzende von Hörerinnen und Hörern nach ihm Ausschau hielten, um ihn anzusprechen. Bourdieu pflegte über einen langen Zeitraum die Gewohnheit, seine Korrespondenz selbst handschriftlich zu führen, statt sie über sein Sekretariat abzuwickeln. Dass er diese Praxis angesichts des seit den 1980er-Jahren stetig wachsenden Echos und einem damit einhergehenden enormen Zuwachs an täglichen Anfragen nicht aufrechterhalten konnte, müsste nachvollziehbar sein. Auch das Seminar an der EHESS stieß bald an die vom Raum an der MSH und den angestrebten Formen des persönlichen Austauschs vorgegebenen Kapazitätsgrenzen. Schon Ende der 1980erJahre musste Bourdieu deshalb den Zugang über sein Sekretariat regulieren. Dass dies bei den Nicht-Zugelassenen den unschönen Eindruck einer geschlossenen Veranstaltung hinterlassen und Res-

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sentiments wecken konnte, wie sie im öffentlichen Raum zur Genüge transportiert wurden, liegt auf der Hand. Über seine offizielle Lehrtätigkeit am Collège und der EHESS hinaus war Bourdieu an zahlreichen Orten und Anlässen als Vermittler soziologischen Denkens aktiv. Sein Terminkalender war gefüllt mit auswärtigen Vorlesungen und Vorträgen an französischen und ausländischen Institutionen, an denen ich ihn des Öfteren begleiten konnte. Allein in seinem Jahresbericht des Lehrstuhls für Soziologie am Collège de France sind beispielhaft 25 Vorträge aufgelistet, die Bourdieu von Montreal, über Frankfurt, Freiburg, Oxford und Cambridge bis nach Berkeley führten. In einigen Fällen übernahm ich selbst die Rolle eines Vermittlers, der Bourdieu Anfragen aus der Schweiz, Deutschland oder auch von anderen französischen Universitäten persönlich vortrug. In der Regel sagte Bourdieu dann jeweils ohne langes Zögern zu. Rückte der Anlass näher, machte mir diese Rolle oft Gewissensbisse, denn ich kannte ja seine enorme zeitliche Beanspruchung aus der Nähe und wusste allzu gut, was ihn diese Freundschaftsbeweise kosteten. Aber auch für mich konnte die Teilhabe an Bourdieus Aktivitäten einen Preis haben, der nicht allein im Zeitaufwand für Reisen bestand. Anekdotischen Charakter hat da ein Vortrag vom 23.9.1993 am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen, das Bourdieu in Zusammenarbeit mit der Mission Historique Francaise eingeladen hatte. Bourdieu hatte mich gebeten, wie bei so vielen seiner Auftritte im deutschsprachigen Raum als Übersetzer zu fungieren. Dieses Mal sollte diese Routine-Aufgabe durch eine Spontanidee, mit der er mich zehn Minuten vor Beginn der Veranstaltung konfrontierte, einen geradezu surrealistischen Zug bekommen. Bourdieu sagte, die einige hundert Anwesenden im Saal des Instituts seien doch bestimmt mehrheitlich einigermaßen des Französischen mächtig und könnten mit Unterstützung durch mich seinem Vortrag »Für eine vergleichende Geschichte der Reproduktionsstrategie« im Originalton folgen. Ich sollte also doch einfach, jeweils in wenigen Sätzen, die groben Züge seines Vortrags, dessen Inhalte ich ja zur Genüge kenne, präsentieren und er dann jeweils seine eigenen Ausführungen anschließen. Mein Vertrauen in Bourdieu ließ mich trotz eines mehr als mulmigen Gefühls einwilligen. Es wurde zu einem Desaster vor vollen Rängen: Ich startete improvisierend mit einer Darstellung der Bourdieu’schen Theorie sozialer Reproduktion, die ich einigermaßen im Griff zu haben glaubte, nachdem

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ich das erstaunte Publikum kurz über unser Vorgehen informiert hatte. Bourdieu, der neben mir sitzend zuhörte, war von Anfang an irritiert, weniger wegen dem Inhalt, sondern wegen der ihm jetzt zu Bewusstsein kommenden Unmöglichkeit, so gegen den Strich zu verfahren. Er griff das Gesagte kurz auf, entwickelte stockend einen Gedanken und gab mir dann wieder das Wort. In der dritten Runde dieses absurden Pingpong gab er auf, entschuldigte sich beim Publikum mit »Desolé, ça ne va comme ça«, und wir wechselten in den üblichen Modus von Vortrag mit der für die Übersetzung notwendigen Pausen. Später, beim Abendessen, konnten wir über diese Episode nur noch lachen. Neben seiner Haltung in den Forschungsseminaren hinterließ Bourdieu bei mir als Lehrender den nachhaltigsten Eindruck anlässlich zweier Diskussionsveranstaltungen mit Gymnasialklassen. Auf die Anfrage eines Straßburger Lehrers, der von Bourdieus Teilnahme an einem Kolloquium an der dortigen Universität erfahren hatte, erklärte sich Bourdieu spontan bereit, eine der Soziologie gewidmete Unterrichtsstunde (dieses Fach wird an französischen Gymnasien tatsächlich angeboten!) zu besuchen. Es war ein unvergesslicher Moment, ihn sehr bereitwillig, zuvorkommend und interessiert auf alle denkbaren, auch persönlichen Fragen zu seiner Soziologie Antwort geben zu hören und die begeisterten Reaktionen der Schüler zu beobachten. Vielleicht tauchte Bourdieu in solchen Situationen wieder in seine – wenn auch kurze – Zeit als Gymnasiallehrer ein. Wie sich Jean Lallot, einer seiner damaligen Schüler, erinnert, tauchte Pierre Bourdieu im Herbst 1954 am Lycée Théodore de Banville in Moulins auf, wo er ein Jahr lang als Redner für Philosophie tätig sein sollte (Lallot 2005). »Pablo«, wie Bourdieu wegen seiner Initialen bald bei der Schülerschaft hieß, erwies sich als beliebter und geschätzter Pädagoge, der die Gymnasiasten mit seinen unkonventionellen Lehrmethoden begeisterte. Bourdieu führte hier über seinen Unterricht hinaus in der Mittagszeit ein philosophisches Atelier, in dem jeweils über ein spezielles Thema vorgetragen wurde. Er ermunterte seine Schülerinnen und Schüler, eine Klassen-Zeitung zu gründen und erklärte sich bereit, ihre Beiträge genauestens zu studieren und bei deren Verbesserung zu helfen. Der pädagogische Habitus Bourdieus reicht also weit in die Frühphase seiner Lauf bahn zurück: Er erweist sich als ein der für sein Werk und Wirken lebenslang strukturierendes Prinzip, das eine echte »Berufung« für diese Praxis nahelegt.

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Bourdieus pädagogisches Ethos zeigt sich auch in der Neueinschätzung eines von ihm zusammen mit Jean-Claude Chamboredon und Jean-Claude Passeron herausgegebenen Standardwerks der französischen Soziologie mit Titel »Der Beruf des Soziologen« (2011) (Frz.: 1968). Diese für eine ganze Generation von Soziologen prägende Einführung in die epistemologischen Grundlagen der Sozialwissenschaften war als Auftakt einer auf mehrere Bände ausgelegten Zusammenschau relevanter erkenntnistheoretischer und methodologischer Perspektiven und Positionen gedacht. Die Bandbreite reichte von ausgewählten Klassikern der Soziologie über naturwissenschaftliche Grundlagentexte bis hin zu Texten aus Philosophie und Linguistik. Sie wurden von den Herausgebern jeweils kurz gerahmt, kommentiert und verdichtet. Trotz des fulminanten Erfolgs des Einführungsbands nahm Bourdieu nach einem Seminar im Jahre 1987 in einem Gespräch mit Remi Lenoir, Louis Pinto, Dominique Merllié, Patrick Champagne und mir überraschend deutlich Abstand von diesem rückblickend durchaus als »Klassiker« zu bezeichnenden Werk. Bourdieu erläuterte uns die Notwendigkeit, das »Métier de Sociologue« anders zu vermitteln, ohne allerdings auf den Umstand einzutreten, dass die drei Autoren des Bands schon vor geraumer Zeit ihre Beziehungen zueinander abgebrochen hatten. Der pädagogische Duktus und apodiktische Ton, mit dem man von der eigenen erkenntnistheoretischen Position überzeugen wollte, erscheine ihm zunehmend unangebracht, ja er nerve ihn geradezu. Unter wiederholtem Verweis auf das Konzept der »rupture«, welches im »Métier de Sociologue« sehr nachdrücklich, um nicht zu sagen gebetsmühlenhaft formuliert worden war, schlug er den vier französischen Mitgliedern des Centre vor, auf der Grundlage des gemeinsamen Forschungsseminars ein neues Einführungsbuch zu schreiben. Mir wies er die Rolle eines Diskutanten dieses Projektes zu, bei dem die beteiligten Autoren jeweils an Beispielen aus ihrer eigenen Forschungspraxis in theoretische Perspektiven und erkenntnistheoretische Probleme des Forschens einführen sollten. Tatsächlich machten sich die Autoren nach langwierigen Aushandlungen ans Schreiben und dieses Buch, im Stile des von Bourdieu propagierten »kollektiven Intellektuellen« konzipiert und erarbeitet, erschien schließlich im Jahre 1999 unter dem Titel »Initiation à la pratique sociologique«. Obwohl es auf dem Buchmarkt erfolgreich war, konnte es keine mit »Le métier de Sociologue« auch nur annähernd vergleichbare Resonanz zu erzielen.

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3. Forschen mit Bourdieu D as P rojek t »L a M isère du M onde « Am 15.11.1989 lud Pierre Bourdieu über seine Sekretärin MarieChristine Rivière rund zwanzig Kolleginnen und Kollegen zu einer Besprechung in den Seminarraum der Maison des Sciences de l’Homme ein. Die Anwesenden kannten sich fast durchgängig als regelmäßige Teilnehmer am Forschungsseminar des Centre und Autorinnen der Zeitschrift »Actes de la Recherche en Sciences Sociales« (Actes). Bourdieu erschien leicht verspätet und ging ohne Umschweife auf den Grund der außerplanmäßigen Sitzung ein. Er käme gerade von einem Gespräch bei der Caisse des Dépots et Consignations (CDC), einer staatlichen Institution und Marktführer in der Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus in Frankreich sowie im Bereich der Stadtentwicklung und der Verkehrsinfrastrukturen. Die CDC verwaltet in erster Linie Renten- und Staatsgelder, die im öffentlichen und privaten Bereich investiert werden. Wie Bourdieu berichtete, hatte die CDC ihn für ein Forschungsprojekt zur aktuellen sozialen Lage im Land angefragt. Hintergrund war das zu dieser Zeit in den Medien omnipräsente Thema der »Exklusion« und der »sozialen Spaltung«.1 Bourdieu hatte spontan zugesagt, sich aber viel Freiheit bei der Konzeption und Durchführung ausbedungen. Er habe, so sagte er uns, ein mehr als unkonventionelles Projekt im Sinn, das bewusst und gezielt mit allen üblichen akademischen 1 | Bourdieu hatte schon in seiner Rolle als Sekretär des Centre unter Leitung Raymond Arons Erfahrungen in der Akquisition von Forschungsmitteln gesammelt, etwa bei der Finanzierung seiner Studie »Eine illegitime Kunst« durch das Unternehmen Kodak. Als das Projekt »Elend der Welt« startete, lief parallel bereits eine von der Caisse Nationale des Allocations Familiales (CNAF) finanzierte Studie zum Eigenheim.

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Regeln brechen sollte und für das er die Anwesenden gewinnen wolle. Die sozialwissenschaftliche Forschung solle in der Frage der Zugänglichkeit selbst demokratisiert werden; geplant sei eine Bottom-up-Betrachtung der aktuellen gesellschaftlichen Situation aus der Perspektive von Alltagsmenschen unterschiedlichster sozialer Herkunft und Positionen. En passant verwies er darauf, dass er eine ähnliche Forschung schon dreißig Jahre zuvor in Algerien erfolgreich praktiziert habe und an sie anknüpfen wolle.2 Ziel sei es, die gesellschaftlichen Widersprüche einer durch sozialdemokratische Regierungen geprägten Ära und deren Hypokrisie beim Umgang mit brennenden sozialen Fragen ans Licht zu bringen. Kurzum: Diese Forschung war von Anfang an politisch motiviert. Unter Verweis auf das von ihm häufig verwendete Konzept des »kollektiven Intellektuellen« schlug Bourdieu den Anwesenden vor, auf der Basis ihrer jeweiligen Erfahrungen und Zugänge Personen für Interviews zu gewinnen, deren Blick auf die gesellschaftlichen Realitäten jeweils singulär und subjektiv erschiene, aber immer auch kollektiv geteilte Erfahrungen auf exemplarische Weise repräsentieren könne. Bourdieu benutzte schon hier das später zum Leitmotiv gewordene Konzept des Verstehens, um den anvisierten Forschungsansatz zu präzisieren. Konkret verwies er auf die Forschungen Abdelmalek Sayads zur Lage der maghrebinischen Migranten und die Situation in den Banlieues sowie auf die Arbeiten Remi Lenoirs zu verschiedenen Professionen des Justizsektors. Dann öffnete Bourdieu die Diskussionsrunde und die Anwesenden machten spontane Vorschläge für denkbare Feldzugänge. Genannt wurden auch bereits mögliche Interviewpartner – vom Feuerwehrmann über einen Ladenbesitzer in den Banlieues bis hin zu einem Schuldirektor und einer Rentnerin. Bekannte, befreundete oder gar verwandte Personen für Interviews zu rekrutieren, schien vielen Beteiligten spontan als Verstoß gegen die geschriebenen und ungeschriebenen Konventionen empirischer Sozialforschung. Bourdieu betonte deshalb mehrfach, dass er mit diesem Vorgehen schon Erfahrung habe – etwa aus seinen ethnographischen Studien zum 2 | In einem Interview vom 26.9.1999 stellte Bourdieu im Rückblick auf ein von ihm im Jahre 1961 in Algerien geführtes Interviews mit einem Koch fest: »Haben Sie übrigens das Interview hinten in ›Travail et travailleurs‹ angesehen? Das könnte glatt ins Elend der Welt hineingehören.« (Vgl. Schultheis 2007, 141).

3. Forschen mit Bourdieu

Wandel der bäuerlichen Gesellschaft im Béarn, für die er in seiner Heimat z.B. seine Eltern und frühere Schulkameraden interviewt habe. Auch wenn diese erste Tour d’Horizon gegenüber dem vier Jahre später vorgelegten Werk bestenfalls ein spielerisches Brainstorming war, kamen doch schon Vorschläge auf den Tisch, die sich letztendlich durchsetzen sollten. Bourdieu erläuterte daraufhin in groben Zügen das ihm vorschwebende Bild einer Gesellschaftsstudie, die sich aus einer Reihe von ausführlichen Personenporträts mit darauf Bezug nehmenden soziologischen Analysen und Kommentaren zusammensetzen sollte. Diese Collage an Einzelstudien wäre dann durch eine theoretisch fundierte Strukturierung in eine kohärente Zusammenschau zu integrieren, umrahmt von einigen theoretischen Essays. Wir Anwesenden ließen uns schließlich von Bourdieus Enthusiasmus anstecken. Weitere Arbeitstreffen und -leistungen wurden verabredet, bei denen ich als Mitdiskutant wann immer möglich teilnahm.3 Immerhin konnten durch diese Initiation in die Forschungspraxis dieses Kollektivs die Grundlagen für eine später in Anlehnung an diesen Prototypen konzipierte Nachfolgestudie in Deutschland (vgl. Schultheis & Schulz 2004) und danach in Griechenland (vgl. Panayotopoulos & Schultheis 2015) geschaffen werden. Das an diesen Tagen konstituierte Forschungskollektiv wurde in der folgenden Woche von Bourdieu durch persönliche Kooptation weiterer Forschender ergänzt. Er lud z.B. zwei nahestehende Arbeitssoziologen, Michel Pialoux und Stéphane Beaud, ein, sich mit ihren Langfrist-Untersuchungen zum Wandel der Lage und der Selbstverhältnisse von Arbeitern beim Peugeot-Werk in Montbéliard am Projekt zu beteiligen (vgl. Schultheis 2004). Hier, wie in anderen Fällen, konnte sich Bourdieu direkt in dem von seiner Zeitschrift Actes gebotenen breiten Reservoir an einschlägigen Kandidaten bedienen. Von Michel Pialoux hatte Actes bereits zuvor Beiträge zur »Chronique Peugeot« publiziert, die mit ihrem soziologischen Ansatz bestens zum geplanten Projekt zu passen schienen. Insgesamt setzte sich der »kollektive Intellektuelle« bzw. »Autor« der Studie 3 | Die Zeit hierfür war dadurch begrenzt, dass ich an meiner Habilitation saß und darüber hinaus Drittmittel-Projekte leitete, die parallel zur Eigenheim-Studie Bourdieus von der Caisse Nationale des Allocations Familiales (CNAF) gefördert und später durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ko-finanziert wurden (vgl. Schultheis 1999).

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aus rund zwanzig Personen zusammen, die jeweils in spezifischen gesellschaftlichen Teilbereichen ihre Probanden rekrutierten und Interviews führten. Die Transkriptionen wurden von Bourdieu akribisch kommentiert und anschließend im Kollektiv ausführlich und kritisch diskutiert. Klar war von Anfang an, dass die eingebrachte Zeit und Arbeit noch keine Gewähr für die Aufnahme einer Fallstudie in das künftige Werk sein konnte. Letztlich wurden weniger als die Hälfte der vorgelegten Interviews und soziologischen Kommentierungen für geeignet befunden. Zum Teil lässt sich das auf den beschränkten, aber ja immer noch gewaltigen Gesamtumfang von fast 1000 Buchseiten zurückführen. Jeder, der Erfahrungen mit der Durchführung qualitativer Interviews sammeln konnte, weiß allzu gut, dass professionelle Expertise und theoretische Stringenz sich nicht automatisch in qualitätsvolle Interviews ummünzen lassen. Interessanterweise waren es ausgerechnet die im akademischen Betrieb arriviertesten Mitglieder des Teams, deren Beiträge besonders oft aussortiert wurden. Die besten Beiträge wurden nach Meinung Bourdieus von weiblichen Mitarbeitenden geliefert und in einem Fall obendrein noch von einer administrativen Angestellten des Centre ohne soziologische Ausbildung. Bemerkenswerterweise kann sich die enge Zusammenarbeit mit Bourdieu, das learning by doing in der soziologischen Forschungspraxis, in der Transmission eines Habitus niederschlagen, dessen soziologische Imagination und Sensibilität ohne akademische Zertifikate zum Tragen kommt. Und dies umso fruchtbarer, als er gepaart mit kommunikativer Kompetenz und unprätentiösem Auftreten die große Herausforderung einer Interviewführung zu bewältigen versteht! Wie aber lässt sich der soziale Zusammenhang hinter diesem außergewöhnlichen Projekt soziologisch interpretieren? Dass Bourdieu fraglos als Patron des Unternehmens wahrgenommen und akzeptiert wurde, auch von gestandenen Sozialwissenschaftlern der gleichen Generation, dürfte angesichts seiner Rolle als Initiant und seines herausragenden Status kaum überraschen. Prägend für die gesamte Dynamik war aber die Art und Weise, wie er diese Rolle im Projekt ausübte und füllte. In seiner eigenen Metapher könnte man hier von einem Trainer sprechen, der mit der über Jahrzehnte akkumulierten Erfahrung in der Praxis vor Augen führt, was Forschen heißt, mit welcher Haltung man »ins Spiel« gehen sollte, welche Anforderungen man an es und vor allem an sich selbst stellen muss,

3. Forschen mit Bourdieu

wie man in einer Situation nicht reziproker Kommunikation trotz fehlender »Augenhöhe« dem Gesprächspartner gegenüber den notwendigen Respekt erweist und sich die eigene Bringschuld für das gewährte Vertrauen bewusstmacht. Gleiches gilt für den Umgang mit den transkribierten Zeugnissen, die kritische Interpretation der erhobenen Daten und der kontinuierlichen Reflexion auf die eigene gesellschaftlichen Position im Verhältnis zu jener des Gegenübers. und die damit verbundenen Risiken ethnozentrischer Missverständnisse und Verzerrungen. Bourdieu exerzierte dies im Austausch mit dem Team stundenlang vor. Auch ohne Rückgriff auf methodologische Handbücher entwickelte sich so im praktischen Vollzug nach und nach eine kollektiv geteilte Haltung und Perspektive. Obwohl ein guter Teil der Teammitglieder seit mehr als zehn Jahren Erfahrung in der Zusammenarbeit mit ihrem »Trainer« hatten, erreichte die nachhaltige habituelle Prägung aber sogar bei ihnen eine neue Ebene: Wie er mir erzählte, war auch für Bourdieu selbst die Arbeit an diesem Werk die herausforderndste seiner ganzen Lauf bahn. Aber wenn hier ein »Patron« ein solches Unternehmen dermaßen dirigiert, kann dann überhaupt noch die Rede vom »kollektiven Intellektuellen« sein, oder handelt es sich um einen bloßen Euphemismus? Hierzu ist zu bemerken, dass Bourdieus Konzept des »kollektiven Intellektuellen« nicht unterstellen will, dass alle sozialen Rollen- und Statusunterschiede, dass jedwede Differenz im Erfahrungsreichtum und den intellektuellen Ressourcen einfach ausgeschaltet und vergessen werden können. Bourdieus herausragende Position und Funktion in diesem kollektiven Prozess lässt sich kaum bestreiten. Aber als Dirigent brauchte er sein Ensemble an engagierten und passionierten Mitstreiterinnen und Mitstreitern: Das produzierte »Werk« konnte nur durch die vereinten Kompetenzen und Kräfte hervorgebracht werden. Der Dirigent orchestriert die Vielzahl unterschiedlicher Expertisen zu einem harmonischen Gesamtklang, zu einem Werk, an dem er zwar maßgeblichen, aber nicht alleinigen Anteil hat. Mit dieser Aufteilung von Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und Ansprüchen schienen die Mitarbeiter des Teams jedenfalls keine besonderen moralischen Dissonanzen zu haben.

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Dass sich das Projekt schließlich doch über Jahre hinzog,4 war genau diesem Anspruch geschuldet, aus einer Vielzahl an Stimmen einen Chor zu formen, der nicht in Kakophonie endet, sondern eine stimmige Leistung erbringt, ein kleines soziologisches »Gesamtkunstwerk«.5 Der durchschlagende Erfolg des Buches, das schon im ersten Jahr nach Erscheinen mit einer Auflage von 100.000 Exemplaren verkauft und intensiv in den Medien diskutiert wurde, spricht für Bourdieus Intuition. Natürlich wurde das Werk von Beginn an unter »Bourdieu et al.« zitiert, oft genug ihm allein zugeschrieben, aber diese ja schon angesprochene soziale Rezeptionsästhetik ist nicht Bourdieu anzukreiden: Er tat sein Bestes, um das Team aus dem »Orchestergraben« herauszuholen und es am Erfolg teilhaben zu lassen. Wie bereits erwähnt konnte ich als an der Studie Beteiligter das Vorhaben entwickeln, diese gemeinsam mit einigen ehemaligen Studierenden ins Deutsche zu übertragen und auch hier die Idee des »kollektiven Autors« ein wenig in die Praxis umsetzen.6 Aus der nochmals intensivierten Auseinandersetzung entstand die Initiati4 | Es ist anzumerken, dass Bourdieu wie auch bei anderen Publikationen Teile der Studie in den beiden Jahren vor Erscheinen in Actes publiziert hat und somit das Terrain für die Rezeption vorbereitete. 5 | Der Begriff »Kunstwerk« mag hier fehl am Platze erscheinen. Betrachtet man jedoch den Einband der französischen Ausgabe, der von Gérard ParisClaves gestaltet wurde, so ist man von der ästhetischen Qualität durchaus beeindruckt. Auch publizierte eine Kunstzeitschrift einige Seiten des Manuskripts mit Bourdieus persönlicher Zeichensprache für das Markieren von Tonfall, Pausen, Unterbrechungen oder Betonungen in den von ihm bearbeiteten Transkripten. Schließlich kann auch darauf hingewiesen werden, dass alle Interviews im renommierten Pariser Theater der Cartoucherie als Bühnenstücke inszeniert wurden, die Bourdieu gemeinsam mit Mitarbeitenden, Regisseuren und Schauspielern gestaltete. 6 | Zur Vorstellung der deutschen Übertragung wählten wir signifikanter Weise die jesuitische Hochschule Sankt Georgen, die in der öffentlichen Debatte über gesellschaftliche Fragen durch ihren unverbrämt kritischen Ton in bester sozialkatholischer Tradition gegenüber dem in der deutschen Soziologie herrschenden Mainstream mit seinen Thesen zur Entstrukturierung der Gesellschaft und Fahrstuhl-Affekten nach oben als interessanter Ort erschien. Bei der Vorstellung des deutschen Pendants zur Studie im Jahr 2004 war Bourdieu leider schon nicht mehr unter uns.

3. Forschen mit Bourdieu

ve, ein vergleichbares Vorhaben im deutschen Kontext umzusetzen. An diesem von der DFG geförderten Projekt beteiligten sich – analog zum französischen Vorbild – ebenfalls rund zwanzig Sozialwissenschaftler aus den verschiedensten Regionen Deutschlands. Auch bei der Übertragung des Forschungsansatzes von der Analyse »französischer Verhältnisse« auf die »deutschen Zustände« erwies sich diese Art kollektiver Forschung als ebenso anregend wie aufwendig (vgl. Schultheis & Schulz 2004). Bourdieu stand der Idee einer solchen Übertragung sehr positiv gegenüber und begleitete das Projekt als Berater. Im Gespräch mit ihm konnten die zentralen soziohistorischen und sozialstrukturellen Differenzen zwischen beiden Ländern, die es zu berücksichtigen galt, herausgefiltert werden. Dazu zählten natürlich vor allem die Wiedervereinigung und ihre materiellen und symbolischen Konsequenzen, zu denen wir schon 1991 gemeinsam eine kleine Tagung in Berlin unter dem Titel »Die Mauer in den Köpfen« im Brecht-Haus organisiert hatten. Daneben aber auch ganz zentral die Unterschiede in den Bildungssystemen, der Zusammensetzung der Eliten und die markant voneinander abweichenden gesellschaftlichen Repräsentationen der Sozialstruktur – linksrheinisch der Fortbestand klassentheoretischer Perspektiven, rechtsrheinisch der seit den 1950erJahren in unterschiedlichen Spielarten fortbestehende Mythos der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«. Die oben berichteten Erfahrungen mit Bourdieu’scher Forschungspraxis aus einer Beobachter- und Diskutantenposition heraus sollten bald nach Fertigstellung von »La Misère du Monde« in der direkten Forschungskooperation zwischen Bourdieu und einem internationalen Netzwerk fortgesetzt werden.

F orschungspr a xis am C entre   de  S ociologie  E uropéenne 1998 lancierte die DG XII der EU-Kommission das Fünfte Programm für Forschung und technologische Entwicklung (TSER). Zu diesem Zeitpunkt hatte sich, wie später noch näher dargelegt, nicht zuletzt aufgrund der Resonanz auf die Publikation von »La Misère du Monde« und Bourdieus kontinuierlichen Interventionen in den öffentlichen Debatten, ein international zusammen gesetztes Netzwerk kritischer Sozialwissenschaftler rund um seine Person gebil-

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det. Auf der Suche nach einem konkreten Feld für die gemeinsame Forschung stießen wir auf die Ausschreibung dieses Programms und beschlossen, zwei Forschungsanträge zu erarbeiten. In Fortsetzung der kritischen Auseinandersetzung mit den Konsequenzen der neoliberalen Marktradikalisierung von »La Misère du Monde« sollte eine besonders markante gesellschaftliche Problematik fokussiert werden. Der Aufhänger für das erste Projekt wurde das gerade beschlossene erste transnationale sozialpolitische Programm der EU-Kommission zum Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit. Die unter dem Titel »La précarité des jeunes en Europe« anvisierte soziale Frage war zu dieser Zeit in Frankreich angesichts einer geradezu dramatisch hohen Jugendarbeitslosenquote virulent: Dass diese Problematik gerade unter der französischen Präsidentschaft in der EU-Kommission so prominent wurde, war also gewiss kein Zufall. Neben dem soziologisch wie gesellschaftspolitisch offenkundigen Problem war in unseren Diskussionen und Planungen für ein europäisches Vergleichsprojekt das von der EU-Kommission entwickelte Dispositiv der »Employability« ebenbürtig relevant. Es lag nahe, dass dieser vom neoliberalen Zeitgeist geprägte Begriff massive Auswirkungen auf die bislang vorherrschenden Vorstellungen wohlfahrtsstaatlicher Verantwortlichkeiten für die Inklusion der jungen Generation im Arbeitsmarkt haben würde. Wie und in welcher Form würde dieses erstmalig initiierte gesamt-europäische Programm sozialpolitischer Regulierung von den einzelnen nationalen Regierungen umgesetzt werden? Aus der Sicht soziologischer Komparatistik stellte sich hier die Frage, inwieweit die jeweilige nationale Pfadabhängigkeit wohlfahrtsstaatlichen Handelns bei der Implementierung des EU-Programms ihre Spuren hinterlassen würde und hier dann unterschiedliche nationalstaatliche Rationalitäten zum Vorschein kämen. Das zweite in Reaktion auf die Ausschreibung der DG XII TSER entwickelte Projekt bezog sich auf Loïc Wacquants These einer Metamorphose vom »sorgenden« zum »strafenden« Staat, die er selbst in seinen Arbeiten zum »Elend hinter Gittern« in den USA verfolgte. Als Thema wurden »Neue Formen staatlicher Regulierung von Devianz« gewählt. Hintergrund war die auch in Europa propagierte Broken-Windows-Theorie und die Nulltoleranz-Politik im Umgang mit Jugendkriminalität und -gewalt, die in Frankreich angesichts der Situation in den Banlieus einen konkreten Bezugspunkt fand.

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Dass beide Projekte rund um die Figur Bourdieus und sein Centre aus einem Guss sein sollten, war von Anfang an klar. Für das Projekt »Jugendprekarität« schlug Bourdieu mich als Hauptantragssteller und damit auch als Vertreter der deutschen Seite des Vergleichsprojektes vor. Da ich zu dieser Zeit schon an einer Schweizer Universität tätig und von dort aus nicht antragsberechtigt war, diente ein von mir 1994 gegründetes kleines Forschungszentrum in Konstanz, in Anlehnung an Bourdieus Centre »Zentrum für Europäische Gesellschaftsforschung« (ZEG) genannt, als institutionelles Standbein. Weitere Partner waren, ebenso wie beim zweiten Projekt, Frédéric Lebaron für Frankreich, Andrea Rea für Belgien und Nikos Panayotopoulos für Griechenland. Die Ideen zu beiden Vorhaben wurden zunächst im kleinen Kreis in Cafés entwickelt und dann mit dem versammelten Team ausführlich diskutiert. Diese Arbeit nahm mehrere Wochen in Anspruch und trotz der Vorlaufzeit kamen wir in den letzten Tagen vor der Abgabe in großen Stress. In der Nacht vor dem Abgabetermin in Brüssel – zu bestätigen mit Eingangsstempel vor Ort – arbeiteten wir bis drei Uhr ohne Unterbrechung. Bourdieu war an vorderster Front beteiligt und las jeden Teil der Anträge akribisch durch. Seine Präsenz in dieser Schlussphase, wie auch schon bei der Entwicklung der Projektidee, war nicht nur ausgesprochen motivierend, sondern auch produktiv, weil er im Arbeitsprozess bei der Formulierung des Antrages immer neue Forschungsfragen definierte. Ich brach schließlich mit dem ersten Flug von Paris nach Brüssel auf, um das Gesuch in letzter Minute noch fristgerecht einzureichen. Die Evaluation seitens der Expertenkommissionen der DG XII verlief positiv: Beide Projekte wurden bewilligt, was unserem Netzwerk eine komfortable Finanzierung für die nächsten Jahre sicherte. Wie das Forschen mit Bourdieu in diesem Rahmen konkret ablief, illustriert einer der von Pierre Carles in seinem Dokumentarfilm »La sociologie est un sport de combat« festgehaltenen Momente. Er zeigt das ForscherInnenteam um Bourdieu während einer intensiven Diskussion über geeignete sozialstatistische Indikatoren für die Auswirkungen der Globalisierung auf die gesellschaftlichen Lebenswelten und die Befindlichkeiten ihrer Bewohner. Einer der geprüften Indikatoren – Alkoholismus – erweist sich dabei zwar intuitiv für spontansoziologische Interpretationen signifikant, wird aber durch die verfügbaren statistischen Vergleichsdaten ad absurdum geführt. Reaktion: lautes Lachen und eine ganze Reihe von selbst-

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ironischen Kommentaren. Überhaupt wurde Forschung bei und mit Bourdieu nie mit asketischem Ernst und szientistischer Trockenheit betrieben. Sein spitzer Humor, begleitet von einer spürbaren Lust an Polemik und kameradschaftlichen Neckereien, machten aus den Projektsitzungen oft Musterbeispiele »fröhlicher Wissenschaft«. Ein anderes Beispiel für die von Bourdieu gepflegte Ironie findet sich in der im Auftrag der Redaktion der Zeitschrift »Les Inrockuptibles« am 16.12.1998 herausgegebenem Weihnachtsausgabe, für die er als Chefredaktor fungierte. Bourdieu wählte eine ironische Weihnachtskarte mit Aufschrift »Joyeux Bordel« als Titelblatt und versammelte in diesem Heft Beiträge seiner Mitarbeiter. Er selbst schrieb hier über Claire Brétechers treffsichere Ironie bei der Sezierung gesellschaftlicher Konventionen, ich lieferte auf seine Anfrage unter dem Titel »Du bordel chez les élèves modèles« einen Beitrag zur gesellschaftspolitischen Diskussion in Deutschland. Diese unbeschwerte Atmosphäre konnte aber auch von Verstimmungen über den schwerfälligen Fortgang der Projekte abgelöst werden, die deutlich machten, welchen hohen Ansprüchen Bourdieu sich und seine Umgebung aussetzte. Nie kam es aber meiner Erfahrung dazu, dass sich dieser – in der Regel berechtigte! – Unmut gegen die jüngeren Mitglieder des Teams richtete, denen gegenüber er sich immer ermutigend und motivierend zeigte. Die beiden TSER-Projekte fielen in die Zeit eines starken politischen Engagements. Gerade diese jüngeren Forscherinnen und Forscher waren deutlich mehr in Bourdieus Initiativen zur Mobilisierung und Verknüpfung unterschiedlicher sozialer Bewegungen rund um Raisons d’agir engagiert als die älteren, arrivierten Mitglieder des Kreises.7 Dieses Klima trug dazu bei, dass die Wahrnehmung der anvisierten sozialen Phänomene – Prekarität von Jugend in Europa hier und neue Formen der Regulierung von Devianz dort – und ihrer Wechselwirkungen stark von den US-amerikanischen Diskussionen geprägt wurde. Bei aller Kritik Bourdieus an den Tendenzen zum Umbau wohlfahrtsstaatlicher Inklusionslogiken in Frankreich, aber auch in Deutschland und Großbritannien, bremste er diese mit 7 | Hier ließe sich vermuten, dass Bourdieus neue öffentliche Rolle für die älteren Weggefährten ungewohnt wirken konnte, während die in dieser Phase zur Forschergruppe hinzugekommenen Nachwuchsforschenden gerade ihretwegen angezogen wurden.

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allzu großer Verve operierenden Pauschalisierungen immer wieder aus. Die soziohistorischen Differenzen der kapitalistischen Strukturen und Kulturen in Europa, so erinnerte er, schienen noch sehr weit von dieser importierten Negativfolie entfernt. Ein guter Teil der inhaltlichen Diskussion unseres internationalen Teams drehte sich um die theoretischen und methodologischen Probleme transnationaler Vergleiche. Aus ihnen entwickelte sich ein durchaus innovativer Ansatz zur Vermeidung artifizieller Vereinheitlichungen auf der Basis falscher Synonyme. Mehr als dreißig Mitglieder des Forschungsnetzwerkes, allen voran die beteiligten Doktoranden, erarbeiteten ein Glossar der für das Projekt einschlägigen Konzepte, bei dem Begriffe wie z.B. »Duales System der Berufsausbildung«, weitgehend inexistent in den meisten der beteiligten Länder, nicht einfach nach Standards gängiger Wörterbücher in die gemeinsame Arbeitssprache Französisch übersetzt, sondern ausführlich in ihren institutionellen und kulturellen Zusammenhängen verortet umschrieben wurden. Auf dieser Grundlage lieferten die Forschenden aus den Vergleichsländern dann Umschreibungen ihrer Bildungssysteme und deren funktionaler Äquivalente. Das rund tausendseitige Glossar verstand sich als eine Antwort auf Bourdieus ständige Mahnung zur epistemologischen Wachsamkeit bei interkulturellen Vergleichen, bei denen allzu oft, wie schon Durkheim unterstrich, »Unvergleichbares vergleichbar« gemacht wird. Die vielen im Doppel-Projekt engagierten Doktoranden erwiesen sich auch bei den Veröffentlichungen rund um die beiden Thematiken als äußerst produktiv. Bourdieu widmete den TSER-Forschungen eine Nummer von Actes, die Gérard Mauger koordinierte, ein Kollege, der sich besonders intensiv um die Jungforscher kümmerte. In dem Heft kam gleich eine ganze Reihe von ihnen zum Zug, während sich die älteren Forscher auch auf Wunsch Bourdieus zurückhielten. Dies war ein typischer Zug von Bourdieus sozialem Umgang, der den Nochnicht-Arrivierten immer eine bevorzugte Behandlung angedeihen ließ. Geradezu provokativ konnte diese Haltung werden, wenn sich Bourdieu beispielsweise bei einer Tagung durch die Hintertür davonstahl, um mit einer Gruppe junger Forscherinnen und Forscher ein Glas Wein zu trinken, während die »Honoratioren« vergeblich auf ihn warteten. Auch mit im französischen Feld der Soziologie noch randständigen ausländischen Forschenden ging er nach dem Seminar oft ostentativ zum Abendessen, statt sich um die vielen an-

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wesenden »Platzhirsche« der Pariser Intelligentsia zu bemühen, die teils eine bevorzugte Behandlung zu erwarten schienen. Bourdieu zeigte sich auch bei der Unterstützung von Forschungen jüngerer Kollegen stets hilfsbereit. Als Beispiel mag hier der Fall eines belgischen Projekts zur Transformation eines bis dahin von einem religiösen Orden geführten Krankenhauses in eine säkulare Institution dienen. Ich begleitete ihn auf der Reise nach Brüssel und nahm gemeinsam mit ihm an intensiven Diskussionen zur Frage des Arbeitsethos im Wandel von einer Logik der »Berufung« hin zu jener des konventionellen bürgerlichen »Berufsmenschentums« (Weber) teil. Wie in vielen vergleichbaren Situationen begeisterte Bourdieu durch seine engagierte Art der Gesprächsführung und die großzügig zur Verfügung gestellte Forschungserfahrung für ein Projekt, zu dem er in keiner persönlichen oder institutionellen Beziehung stand. Auch bei einem vom Konstanzer ZEG initiierten Vorhaben zum Thema »Möglichkeitsbedingungen und Barrieren eines gewerkschaftlichen Internationalismus am Fallbeispiel der Debatten zum Arbeitszeitverkürzung in Frankreich und Deutschland« aus den späten 1990er-Jahren stellte er sich bereitwillig als Ideengeber und Diskussionspartner zur Verfügung. Insgesamt lässt sich zu den beiden präsentierten Forschungsprojekten feststellen, dass sie mit einem eher mediokren Output an Ergebnissen und Publikationen endeten, was Bourdieu selbst angesichts der doch beachtlichen finanziellen Mittel aus Brüssel nachhaltig ärgerte. Immer wieder zog er den Vergleich zu seinen Forschungen aus den frühen 1960er-Jahren, in Algerien, dem Béarn und Lille, bei denen er mit minimalen Budgets bahnbrechende Studien abschließen konnte. Woran mag es gelegen haben? Im Rückblick scheint es, als ob diese Projekte von Beginn an in ein falsches Fahrwasser geraten waren, indem ein attraktives Angebot auf dem »Markt« der Forschung – hier die TSER-Ausschreibung der EU – zum Anreiz wurde, Mittel für die Anstellung junger Forscherinnen und Forscher zu akquirieren und ihnen eine materielle Sicherung zur Durchführung ihrer Promotion zu gewähren. Dass ein guter Teil der geförderten Doktoranden aus dem Kontext der Projekte heraus eine mittlerweile gesicherte akademische Karriere durchlaufen konnten, darf man zwar als Erfolg verbuchen. In den jeweiligen nationalen Forschungsgruppen machten sich die zentrifugalen Kräften nach dem erfolgreichen Einwerben der Forschungsmittel aber schnell bemerkbar. Zum

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einen hatte unser internationales Forschungsteam durch die räumliche Trennung nur wenig Gelegenheit zum unmittelbaren Austausch und zur aktiven Vergemeinschaftung. Bourdieu selbst bekam davon nur in gefilterten Dosen Kenntnis. Im Laufe des Forschungsprozesses nahm er sporadisch an verschiedenen Arbeitssitzungen teil, in der Regel, wenn sie in Paris stattfanden, und versuchte, mit seinen Inputs das Schiff auf Kurs zu bringen. Retrospektiv scheint es mir jedoch so, als ob der im Feld fehlende direkte Kontakt dazu führte, dass die schon beschriebene Rolle des Coaches hier nicht zum Tragen kommen konnte. Das gesamte Unternehmen in mehreren nationalen Equipen überstieg den unmittelbaren Einflussbereich seiner Person, bei den sporadischen Zusammenkünften konnte er seine charismatische Wirkung immer nur kurzfristig entfalten. Die von und mit Bourdieu initiierten europäischen Vergleichsstudien fanden dennoch Niederschlag in verschiedensten Publikationen. So war z.B. die Nummer 136-137 von Actes unter dem Titel »Nouvelles formes d’encadrement« (2001) dieser Forschung gewidmet und die unterschiedlichen beteiligten Forscherinnen und Forscher publizierten Ergebnisse ihrer Arbeiten in den jeweiligen nationalen Revuen. Die Gesamtbilanz blieb aber weit unter Bourdieus Erwartungen und trug zu einer spürbaren »Entzauberung« der Idee des »kollektiven Intellektuellen« bei, die sich auch im Engagement rund um Raison d’agir und die verschiedenen involvierten sozialen Bewegungen zeigen sollte. Hier bleibt zu bemerken, dass Bourdieu in dieser Spätphase seines Lebens an zu vielen Fronten gleichzeitig kämpfte: Durch seine enorme öffentliche Sichtbarkeit war er so gefragt, dass die umfängliche Immersion in ein neues Forschungsfeld zeitlich gar nicht möglich schien. In unseren regelmäßigen persönlichen Gesprächen äußerte er immer wieder seine Sorge über den Fortgang, machte Vorschläge zur Form der Zusammenarbeit oder neuen theoretischen Fokussierungen. Das allein reichte aber nicht, um eine lose Gruppe mit ihm als Ankerpunkt funktionstüchtig zu halten. Wie in Fellinis Film »Prova d’Orchestra« brach ohne den Dirigenten immer wieder Anarchie aus, jede Geige wollte die erste sein. Oft genug haben wir uns über dieses Problem ausgetauscht, oft genug hat Bourdieu mich motivieren wollen, das Ruder herumzureißen. Aber als Gleichem unter Gleichen fehlten mir die Legitimität und die Möglichkeiten, mich auf sein im persönlichen Gespräch gegebenes Votum zu berufen.

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Grundübel war hierbei von Beginn an wohl der folgende Umstand: Statt von einem autonom entwickelten, originären Forschungsinteresse auszugehen, sind wir gemeinsam Kompromisse eingegangen, um die Durchsetzungs- bzw. Erfolgschancen der Projekte im Hinblick auf die erwartbaren Evaluationskriterien der Brüsseler Institution so optimal wie möglich zu erfüllen. Die bis in die Sprache der Antragstellung hinein strategisch orientierte Forschungsdiplomatie erwies sich als effizient in Sachen Mittelakquisition, für die Gesamtanlage der Forschung und insbesondere die Haltung ihr gegenüber, aber leider als fatal. Vor dem Hintergrund dieser frustrierenden Erfahrungen entschied sich Bourdieu drei Jahre später, mit einem deutlich kleineren Team an nahestehenden ForscherInnen zu seinen Stammthemen zurückzukehren und nochmals ein europäisches Vergleichsprojekt nach seinen eigenen Regeln soziologischer »Kunst« aufzugleisen.

D as P rojek t »D ie E uropäer und ihre  B ildungseinrichtungen « Am 21. November 2001 sandte Pierre Bourdieu ein Resümee der am Vortag geführten gemeinsamen Gespräche an Frank Poupeau, einem jüngeren Forscher am Centre, und mich. Darin skizzierte er stichwortartig eine geplante europäische Vergleichsstudie zur Frage der nationalen Bildungssysteme und ihrer Wahrnehmung durch die Bevölkerungen der EU-Mitgliedsländer. Das Dokument ist nicht nur dahingehend von Interesse, dass Bourdieu gemeinsam mit uns hier noch zwei Monate vor seinem Tod ein großes empirisches Projekt konzipierte. Anlässlich der Veröffentlichung seines »Soziologischen Selbstversuchs« (Bourdieu 2002) – ein Jahr nach seinem Tod in deutscher Sprache erschienen und 2004 erstmals auf Französisch publiziert – wurde ja fleißig der Mythos bemüht, er habe diesen Text angesichts seines bevorstehenden Todes als eine Art Vermächtnis geschrieben. Jemand, der von einer schweren Erkrankung und einer nur noch kurzen Lebensspanne weiß, käme wohl kaum auf die Idee, ein mehrjähriges Projekt in Angriff zu nehmen. Darüber hinaus ist diese kurze Skizze als Einblick in Bourdieus Forschungspraxis in vielerlei Hinsicht signifikant, ja geradezu exemplarisch. Das zeigt sich zunächst einmal am Thema »Europäische Bildungssysteme«, zu dem Bourdieu schon 1985 einen Vorschlag

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für eine transnationale Forschungskooperation gemacht hatte, wie der archivierte Briefverkehr mit Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Ländern zeigt. Die Soziologie der Bildung und der Erziehungssysteme stellt zweifellos einen Forschungsschwerpunkt Bourdieus dar, der ihn über Jahrzehnte begleitete und viel Aufmerksamkeit in der französischen Wissenschaftsgemeinschaft und bei einem breiteren Publikum erzielte. Auch die Frage der »Vergleichbarkeit von Bildungssystemen«, so der Titel eines gemeinsam mit Jean-Claude Passeron 1967 verfassten Aufsatzes (Bourdieu & Passeron 1967), beschäftigte ihn schon frühzeitig. Die kritisch-reflexive Dekonstruktion statistischer Daten, produziert von Statistikern im Dienste staatlicher Institutionen, bildet in diesem Zusammenhang eine Kernaufgabe des »Métier de Sociologue«. Hier zeichnete sich bereits ab, dass ein soziologischer Vergleich gerade im Hinblick auf die sich stellenden erkenntnistheoretischen und methodologischen Probleme reizvoll erschien. In Frage stand auch die Tauglichkeit und Generalisierbarkeit der am Fall des französischen Bildungssystems entwickelten theoretischen Perspektiven im Hinblick auf andere nationale Kontexte: Denn oft genug wurde Bourdieu der Vorwurf gemacht, seine Soziologie sei doch eher eine »Ethnographie« Frankreichs und in spezifischen nationalen Traditionen und Strukturen verhaftet. Das damals geplante Projekt wurde nur eine Woche später zu den Akten gelegt. Eine kleine Gruppe, darunter auch ein Vertreter eines europaweit aktiven Umfrage-Instituts, das mit der Durchführung der Befragung betraut werden sollte, wartete vergeblich auf Bourdieu, der direkt von einer Untersuchung im Krankenhaus zu uns stoßen wollte. Er sagte das Treffen kurzfristig telefonisch ab und vermeldete ohne weitere Kommentare, dass er das Projekt nicht weiterführen werde. Zwei Monate später wurde nachvollziehbar, warum. Abgesehen davon, dass sich die im Dokument anvisierten Fragen wie ein Leitmotiv durch seine jahrzehntelangen Forschungen zogen, spiegelt sich Bourdieus Forschungspraxis besonders auch in der skizzierten Forschungskooperation wider. Schon die frühen Arbeiten zum Thema hatten kollektiven Charakter und wurden in Zusammenarbeit mit Jean-Claude Passeron, Yvette Delsaut, Luc Boltanski, Claude Grignon und vielen anderen in wechselnden Konstellationen durchgeführt. Bourdieus Netzwerk umfasste auch Kollegen verschiedener Universitäten und ForscherInnen unterschiedlicher Disziplinen. Beispielsweise bat er Jean Bollack, Pierre Vidal-Naquet

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oder François Bourricaud darum, seinen Fragebogen zum Thema »Die Studenten und ihre Einstellung zum Studium« in ihren Lehrveranstaltungen ausfüllen zu lassen. Die Forschung selbst fand an dem von Raymond Aron gegründeten und von Bourdieu in der Rolle eines Generalsekretärs faktisch geleiteten Centre de Sociologie Européenne statt. Und regelmäßig wurden zur Durchführung von Befragungen auch Studierende, insbesondere der Universität Lille, wo Bourdieu damals hauptsächlich unterrichtete, angestellt und oft auch während der Ferien am Centre beherbergt. Welche Aktualität hatte aber eine soziologische Vergleichsstudie zur Frage der Einstellungen der Europäer zu ihren jeweiligen nationalen Bildungssystemen im Jahr 2001? In der Folge der Bologna-Deklaration vom 19. Juni 1999 war in den europäischen Ländern auch der sogenannte »Bologna-Prozess« in Gang gesetzt worden, die die innere Verfasstheit, Funktionsweise und Philosophie der nationalen Hochschulsysteme radikal transformieren sollten. Zu den VerfechterInnen der »Reform« gehörte etwa die Weltbank: Sie setzte sich seit Mitte der 1990er-Jahre massiv dafür ein, dass das System der Hochschulausbildung von Grund auf verändert werden müsse, um den gegenwärtigen Anforderungen einer globalisierten Wirtschaft zu genügen. Hintergrund der postulierten Krise der europäischen Universitäten waren mit den schnell wachsenden Studierendenzahlen und deren veränderten Bildungsvoraussetzungen vor allem die Schwierigkeiten bei der Finanzierung von mehr Personal in der Lehre. Diese von oben oktroyierte und ohne Legitimation durch demokratische Verfahren innerhalb kürzester Zeit durchgesetzte Reform stülpte den in langfristigen historischen Prozessen herausgebildeten nationalen Bildungssystemen ein Einheitsmodell über. Seit Mitte der 1990er-Jahre hatte Bourdieu in vielen öffentlichen Interventionen vehement vor den Gefahren dieser schrittweisen Heteronomisierung der Bildungssysteme gewarnt. In dem geplanten Forschungsprojekt sollte es u.a. darum gehen, die auf dem Spiel stehenden nationalen akademischen Traditionen kritisch zu hinterfragen. Wie weiter unten aufgezeigt werden soll, wurde das beabsichtigte, dann aber durch Bourdieus Tod verunmöglichte Projekt von einem durch Bourdieu initiierten europäischen Forschungsnetzwerk weiterverfolgt. Unter dem Titel »Humboldts Albtraum  – Der Bologna-Prozess und seine Folgen« (Schultheis et al. 2008) veröffentlichte es Beiträge zum Thema, die während einer Tagung des Netzwerkes ESSE an der Universität Genf präsentiert worden waren.

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Europäisches Projekt (Pierre Bourdieu 21.11.2001), Projektskizze von Pierre Bourdieu Fragebogen an nationale Korrespondenten senden: Wie werden die Klassifikationen bei Ihnen zuhause konzipiert? Wer hat diese Klassifikation erstellt und wann? Sie sollen die Berufe genauestens festhalten. kleine geschichtliche und soziologische Berichte über ihr Land, um uns Interpretationswerkzeuge an die Hand zu geben, insbesondere für eine intelligente Kodifizierung der Berufe. — PS und FS — Zwei Ebenen, wie in Algerien: die große Erhebung und Unterstichprobe mit vertiefter Untersuchung von vier oder fünf Ländern. Für alle Länder würden mit Hilfe lokaler Experten vertiefende Sekundäranalysen der Fragebögen durchgeführt, die von einer Person aus jedem Land in Verbindung mit der Kerngruppe interpretiert werden; die Unterstichprobe wird aus den Gruppen von sich abhebenden Ländern gewählt. Beispiel einer Dissertation über die Taxonomien von Berufen in verschiedenen Ländern. Vokabular der europäischen Berufe, siehe Glossar. — Arbeit, die von Leuten in Aix-en-Provence über Manager in Frankreich und Deutschland gemacht wurde; vgl. Darbel: 1936 handelten die Angestellten ihre Konstituierung als soziale Gruppe aus, wobei sie die Arbeiterbewegung im Stich ließen. — Die Leute in den jeweiligen nationalen Kontexten müssen vertraglich angebunden und je nach Auftrag bezahlt werden, um Vermischungen zu vermeiden. Sie nehmen nicht am Projekt selbst teil, sie werden für je einen nationalen Beitrag vertraglich angestellt, aber nicht Vertragspartner. Umfrage mit zwei Ebenen: 1. Studium der Bildungssysteme in den verschiedenen Ländern, die Einstellungen ihnen gegenüber in Abhängigkeit von klassischen Variablen (Beruf, Alter etc.) und die Reaktionen auf Pläne zur Vereinheitlichung der Bildungssysteme und ihrer Liberalisierung (vgl. Jennar). 2. Reflexive Analyse anhand einer exemplarischen Studie: wir analysieren die Erhebungsinstrumente, die statistischen Kategorien, die Analysemethoden, z.B. werden logistische Regressionsmethoden mit geometrischen Datenanalysen verglichen Also zwei Arten von Profiten: Wir werden ein bestimmtes Problem besser beherrschen (vor allem regionale Variablen), und auch das Erkenntniswerkzeug. So werden in den Erkenntnisinstrumenten die Analysekrite-

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rien der üblichen Erhebungen einer Prüfung unterzogen: wie die nationale Variable. Was bedeutet zum Beispiel eine repräsentative Stichprobe? Das situiert sich ja auf nationalem Niveau. Damit wird die Streuung der nationalen Variablen getestet. Andere Variablen werden getestet: Religion, Region (beide mit einander verbunden), ethnische Herkunft, sozioprofessionelle Kategorien und vor allem das Bildungsniveau. — was Bildung angeht: Problem der Vergleichbarkeit der Diplome: Hier wird die Zahl der Studienjahre und Diplome usw. geprüft. — die sozioprofessionellen Kategorien testen: Konflikt bei Eurostat zwischen den französischen sozioprofessionellen Kategorien und Goldthorpe, der über die Verbürgerlichung der Arbeiterklasse gearbeitet hat. Wir erheben für jeden Befragten die Berufsbezeichnung, sammeln und kodieren auf verschiedene Weise, um die Ergebnisse zu vergleichen, die aus den unterschiedlich aufgebaut Klassifikationen (Französisch, Englisch, unsere eigenen) hervorgehen; s. Die feinen Unterschiede: Kodierung mit neuen Kategorien, die vom INSEE übernommen wurden. Je Kategorie: max. Differenz zu anderen Kategorien, min. zu anderen Kategorien (z.B.: neue Mittelschichten). Homogenitätsprüfungen können durchgeführt werden etc. Das kann übrigens ein gutes Thema für eine Dissertation abgeben: vergleichende Analyse weiblicher Berufe in Europa. Also wir machen gleichzeitig eine klassische Studie: Stichprobe, Repräsentativität, Fehlerquote, aber auch noch ein Niveau mehr: die Kategorien der Analyse, das amerikanische Modell etc.

Wenn Bourdieu in seiner Projektskizze von »Korrespondenten« spricht, so bezieht er sich auf ein lockeres Netzwerk von – meist jüngeren – Sozialwissenschaftlern verschiedener Nationalitäten, das sich im Lauf der Jahre um das Centre gebildet hatte. Für die meisten war ein Paris-Aufenthalt mit je spezifischen Anbindungen ans Centre, fast immer aber die Teilnahme an Bourdieus Forschungsseminaren zum Auslöser ihrer Kooptation geworden. Für das so entstandene Netzwerk hatte Bourdieu seit Mitte der 1990er-Jahre das Konzept des »kollektiven Intellektuellen« geprägt. Als »Antennen« in ihren jeweiligen Heimatländern sollten die »Korrespondenten« den gemeinsamen Fragebogen kritisch reflektiert in ihre Muttersprache übertragen und die Durchführung der empirischen Erhebung begleiten. Mindestens genauso wichtig sollte ihre Aufgabe als ethnographische Informanten sein: Sie bestand darin, die in ihren Ländern gebräuchlichen sozialstatistischen Klassifikationen der of-

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fiziellen Berufsbezeichnungen in ihrer Genese zu rekonstruieren, die daran beteiligten Institutionen und Akteure systematisch zu erfassen und die in der Kodifikation zur Geltung kommenden spezifischen Rationalitäten, politischen Konstellationen und symbolischen Setzungen nachvollziehbar zu machen. Die gesellschaftlichen Divergenzen bei der Kategorisierung von »Cadres« in Frankreich und »Angestellten« in Deutschland illustriert Bourdieus Anliegen exemplarisch (vgl. Schultheis et al. 1996, Schultheis 2005). Das Forschungsvorhaben war von Anfang an doppelbödig ausgelegt: Hinter der komplexen vergleichenden Analyse nationaler Bildungssysteme, insbesondere deren sozialer Selektivität beim Zugang zu schulischem Kapital, stand ebenbürtig das nicht minder komplexe Erkenntnisinteresse am Vergleich der nationalen Klassifikationen und deren symbolischer Ordnung gesellschaftlicher Statusgruppen. Das angesprochene Korrespondenten-Netzwerk hatte in den vorausgehenden Jahren auf diesem Gebiet schon des Öfteren erfolgreich zusammengearbeitet, etwa in Form eines Glossars nicht übersetzbarer nationaler Konzepte. Dieses institutionelle Dispositiv erwies sich als erfolgreich darin, künstliche interkulturelle Vergleiche zu vermeiden und zu einem kritisch-reflexiven Umgang mit der vergleichenden Methode zu gelangen. So sollte es im geplanten Projekt möglich werden, trotz der soziohistorisch gewachsenen Partikularitäten nationaler Klassifikationslogiken von Bildungstiteln und Berufsbezeichnungen zu einer soziologisch fundierten und handhabbaren Konstruktion von Äquivalenten für den angestrebten internationalen Vergleich zu gelangen. Dass es bei diesem Unternehmen – ob explizit oder implizit – immer auch um Konkurrenz zwischen verschiedenen soziologischen Traditionen ging, macht Bourdieus Hinweis auf die Differenz der französischen und britischen Berufsklassifikationen deutlich. Er selbst hatte ja in enger Zusammenarbeit mit Statistikern des INSEE maßgeblich an der Reform dieser Berufsstatistik mitgewirkt und dabei die in seinen eigenen empirischen Untersuchungen rund um das spätere Werk »La Distinction« entwickelten und erprobten Klassifikationen sozusagen »offizialisieren« können: Seit den späten 1980er-Jahren wurden sie für die legitimierte Form der Repräsentation sozialer Wirklichkeit, diejenige, die im Namen des Staates als öffentliche »Sta(a)tistik« operiert, benutzt (vgl. Schultheis 2005). Die Konkurrenz zu den von John Goldthorpe nicht minder prominent entwickelten Berufsklassifikationen hatte rund um die

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bei Eurostat zu etablierende gesamteuropäische Klassifikation oft zu heißen Diskussionen geführt. Bourdieus Idee, mit unterschiedlichen Kodierungen der empirischen Befunde die jeweilige Stringenz der Klassifikation zu testen, lief darauf hinaus, aus unserer Forschung auch Aussagen über die Legitimität und symbolische Macht unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Modelle abzuleiten. Zugleich bot die geplante systematisch vergleichende De- und Rekonstruktion nationaler statistischer Kategorien und das zu entwickelnde Äquivalenzmodell auch die Möglichkeit, die immer noch in nationalen Kontexten befangenen Sichtweisen auf gesellschaftliche Strukturen in ihrem »So-und-nicht-anders-Gewordensein« (Weber) nachvollziehbar zu machen und potentiell zu überwinden. So weit dieser Tour d’Horizon zu Bourdieus diversen Unternehmungen im Bereich sozialwissenschaftlicher Forschung. Parallel hierzu entwickelte er sehr strategisch und effizient die für die Vermittlung und Veröffentlichung von deren Befunden geeignete Plattformen. Und auch hier stand wieder das Prinzip kollektiven Handelns im Zentrum.

4. Soziologie publizieren. Bourdieu als Herausgeber D as F l aggschiff B ourdieus – »A ctes de l a R echerche en S ciences S ociales « Die 1975 von Bourdieu gegründete und in enger Zusammenarbeit mit Kollegen wie Luc Boltanski, Claude Chamboredon und JeanClaude Passeron betriebene Zeitschrift »Actes de la Recherche en Sciences Sociales« stellt ein Herzstück seiner soziologischen Praxis dar. Bourdieu wird auf dem Umschlag der Zeitschrift als »Direktor« genannt, nach seinem Tod als ihr »Gründer«. Tatsächlich war er aber sogar der eigentliche Eigentümer, weshalb er es sich auch erlauben konnte, die Revue in den ersten Jahren ohne ein Herausgeber- bzw. Redaktionskomitee zu führen. Diese institutionelle Besonderheit stieß von mancher Seite auf heftige Kritik, ließ Bourdieu aber ungerührt. Wie er in Gesprächen immer wieder betonte, war der Privatbesitz an diesem Mittel der Produktion und Zirkulation wissenschaftlicher Güter eine zentrale Voraussetzung der Autonomie von Actes – einer für seine Vision ihrer Aufgaben und Ziele unabdingbare Voraussetzung. Sie erlaubte es, der Zeitschrift ein unverwechselbares Gepräge und dauerhaft hohe Qualitätsstandards zu verleihen. Trotz der autokratisch anmutenden Verfügungsgewalt ist jede Nummer von Actes ein kollektives Produkt und das Ergebnis langer Diskussionen über die Themensetzung, die Kooptation von Autoren im In- und Ausland und die Beiträge, die vom Actes-Team bis heute kritisch begutachtet werden. Actes steht für das systematische Experimentieren mit unterschiedlichen Darstellungsformen, Gattungen, Stilelementen und Techniken. In der Kombination von Text, Photographie, Grafik, synoptischen Diagrammen, Quellenzitaten und Datenvisualisierungen trug die Zeitschrift maßgeblich zur Erneuerung des gängigen Re-

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pertoires sozialwissenschaftlicher Textproduktion bei. Als Vermittlerin einer eigenen Art des Sprechens über das Gesellschaftliche, die mit einer eigenen Montagetechnik soziale Strukturen in ihrer Komplexität mehrdimensional abzubilden sucht, kommt der Zeitschrift auch ein ganz wesentlicher Anteil an der Entwicklung sozialwissenschaftlicher Reflexivität in Bourdieus Werk zu. Bourdieus Konzept des »kollektiven Intellektuellen« fand in Actes von Beginn an seine materielle Grundlage. Wie Luc Boltanski in seinem Buch über ihre Gründerzeit erläutert (Boltanski 2008), nahm sich Actes in diesen frühen Jahren wie ein intellektuelles Laboratorium aus, in dem die Mitglieder unter Leitung des »Patron« Bourdieu mit Inhalten und Formen experimentierten, die radikal mit dem Kanon und den Konventionen des etablierten Wissenschaftsbetriebs brachen. Essays über »Heidegger und seine Sprache«, »Das Geschlecht der Philosophen«, »Comics« oder »Marx als Leser Balibars« (ARSS, 5-6) fielen völlig aus dem bis dahin üblichen Rahmen. Genauso unkonventionell war der systematische Gebrauch von Bildmaterialien (Photos, Skizzen etc.), Comic-Bildern, reproduzierten Dokumenten oder gerahmten Begleittexten, die der Revue einen ausgesprochen kreativen und innovativen Stil gaben. In den ersten Jahren ging die Arbeit an den Druckvorlagen der Zeitschrift buchstäblich von Hand vonstatten. Schere und Klebstoff dienten, wie im Archiv noch Nummer für Nummer dokumentiert, dem langwierigen Basteln des Layouts. Die Komposition wurde intensiv diskutiert; nichts wurde dem Zufall überlassen, sondern Seite für Seite nach einer optimalen Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Informationsträgern gesucht. Wie zeitaufwändig diese Arbeit war, wird offenkundig, wenn man sich exemplarisch das Dossier eines einzelnen Heftes von ARSS im Archiv Bourdieu zur Hand nimmt. Allein die anfallende Korrespondenz in Sachen Bildrechte, oft handschriftlich von Bourdieu geführt, muss tagelange Arbeit bedeutet haben. Actes sprach direkt eine breitere Leserschaft aus dem gesamten Feld der Sozial- und Humanwissenschaften an. Unterstützt von der Maison des Sciences de l’Homme und der École des Hautes Études, aber auch finanziert durch die rasch anwachsende Zahl an Abonnenten – ab den 1980er-Jahren rund 8000 –, konnte Actes ihre Autonomie komfortabel behaupten. In vielen Gesprächen mit Lesern der frühen Ausgaben zeigte sich mir immer aufs Neue, wie »revo-

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lutionär« und befreiend die Existenz dieser intellektuellen Plattform für die französische Leserschaft wirkte. Diesseits des Rheins blieb Actes trotz des seit »Die feinen Unterschiede« enorm gewachsenen Prestiges Bourdieus weitgehend unbeachtet. In einem gemeinsam mit Louis Pinto herausgegebenen Sammelband zum »Literarischen Feld« (1997) machten wir zumindest den Versuch, den kollektiven Charakter des Bourdieu’schen Unternehmens durch die Publikation von einschlägigen Beiträgen hierzulande völlig unbekannter Autoren aus der Zeitschrift transparent zu machen. Pierre Bourdieu selbst publizierte in Actes unermüdlich eigene Beiträge. Typischerweise gab er einige Zeit vor Erscheinen seiner Monographien in dieser Revue einen »Vorgeschmack« auf die laufende Forschung. Wie die gemeinsam mit Stephan Egger bei Suhrkamp herausgegebenen »Schriften« Bourdieus verdeutlichen, handelt es sich nicht einfach nur um Doubletten: Die Artikel in Actes erscheinen eher als Vorstudien, die dann weiter ausgefeilt wurden. Die in vierzehn Bänden präsentierten Schriften verdeutlichen mit ihren vielen Tausend Druckseiten – weit überwiegend aus Actes stammend – die Produktivität und die Geschwindigkeit, wie konzentriert und schnell Bourdieu seine Beiträge verfasste. Oft trat er dabei in Ko-Autorenschaft mit Mitarbeitenden wie Luc Boltanski, Jean-Claude Passeron, Yvette Delsaut oder Patrick Champagne auf. Die erstaunliche Produktivität und die große Themenvielfalt der Bourdieu’schen Beiträge illustriert die nachfolgende Liste seiner Actes-Texte aus den ersten beiden Jahrgängen der Zeitschrift: • Wissenschaftliche Methode und soziale Hierarchie der Gegenstände (1/1975) • Der Couturier und sein Kniff. Beitrag zu einer Theorie der Magie (mit Yvette Delsaut) (1/1975) • Flaubert, oder die Erfindung des Künstlerlebens (1/1975) • Titel und Stelle (mit Luc Boltanski) (2/1975) • Die Kategorien professoralen Verstehens (mit Monique de SaintMartin) (3/1975) • Der Fetischismus der Sprache (mit Luc Boltanski) (4/1975) • Kritik des literarischen Diskurses (5-6/1975) • Die politische Ontologie des Martin Heidegger (5-6/1975) • Die autorisierte Sprache. Anmerkung zu den sozialen Bedingungen der Effizienz des rituellen Diskurses (5-6/1975) • Die Marx-Lektüre (5-6/1975)

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• Das Spezifikum des wissenschaftlichen Feldes und die gesellschaftlichen Bedingungen des Fortschritts der Vernunft (1/1976) • Der praktische Sinn (1/1976) • Die Produktion der herrschenden Ideologie (mit Luc Boltanski) (2-3/1976) • Die königliche Wissenschaft und der Fatalismus des Wahrscheinlichen (mit Luc Boltanski) (2-3/1976) • Die Professoren des Institut d’Etudes Politiques (mit Luc Boltanski) (2-3/1976) • Mit gleichen Waffen: die Parade der Objektivität und die problematische Forderung (2-3/1976) • Das wissenschaftliche Feld (2-3/1976) • Formen der Herrschaft (2-3/1976) • Chinesisches Spiel. Anmerkungen zu einer sozialen Kritik des Urteilens (4/1976) • Anatomie des Geschmacks (mit Monique de Saint-Martin) (5/1976) Dieser verblüffende Output an durchweg innovativen theoretischen, methodologischen und empirischen Beiträgen verdeutlicht nicht nur, dass Bourdieu sich mit Actes ein Gefäß geschaffen hatte, das die völlig autonome Veröffentlichung seiner Produktionen erlaubte. Er veranschaulicht auch, wie sehr die Idee des kollektiven Forschens die Form des Publizierens in Actes prägte. Vielleicht lässt sich hier eine Parallele zu Durkheims »L’Année Sociologique« sehen, welche ja auch von einer starken Führungspersönlichkeit auf der einen und einem um diese gruppierten Kollektiv von Forschenden auf der anderen Seite geprägt war. Eine andere Parallele findet sich in den Zeiten der Aufklärung in Gestalt der Encyclopédie, die Bourdieu des Öfteren im Gespräch als Vorbild für sein Verständnis kollektiven Forschens nannte. Die Analogie betrifft nicht nur die gemeinschaftliche Akkumulation wissenschaftlichen und intellektuellen Kapitals, sondern auch die Mischung von konzeptuellen Beiträgen sozialphilosophischen Anspruchs hier und Artikeln über Arbeitsinstrumente, also vermeintlich profane alltagsweltliche Fragen da. Bourdieu, der in den verschiedensten Zusammenhängen die Losung Flauberts zitierte, nach dem »Kunst« darin bestand, »das Banale gut zu malen«, machte aus der Entgrenzung der Sphären akademisch als legitim angesehener und »populärer« Gegenständen ein Grundprinzip von Actes.

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Ab den 1980er-Jahren führte Bourdieu doch ein Redaktionskomitee für Actes ein, dem ich von Beginn an und bis heute fortdauernd angehören durfte.1 Bei der sporadischen Teilnahme an den Redaktionssitzungen konnte ich das Funktionieren des Actes-Teams aus nächster Nähe beobachten. Alle Anwesenden konnten spontan Ideen für ein mögliches Themenheft vorbringen. Diese wurde dann im Hinblick auf ihre sozialwissenschaftliche Relevanz, ihre Aktualität und ihr innovatives Potential ausführlich diskutiert. Sobald sich ein Konsensus zugunsten eines Themas herausschälte, dachte man gemeinsam darüber nach, welche Beiträge aus dem eigenen Kreis, dem Umfeld des Centre oder seitens anderer interessanter ForscherInnen anvisiert werden konnten. Häufig übernahm ein für die gewählte Thematik besonders durch eigene einschlägige Forschung für die Koordination einer Nummer prädestinierte Autorenschaft die Federführung und wurde in dieser Rolle entsprechend gewürdigt. Die nachfolgende Auswahl an Titeln illustriert die Vielfalt der behandelten Forschungsgegenstände solcher Themenhefte: • • • • • • • • • • • • • •

Sozialkapital (31) Politik denken (74) Forschungen über Forschung (74) Die Liebe zu Namen (78) Der Raum des Sports (79/80) Männlich-weiblich (83/84) Erziehung und Gesellschaft (86/87) Die Avantgarden (88) Ökonomien der Moral (94) Einsätze des Fußballs (103) Anatomie des philosophischen Geschmacks (109) Musik und Musiker (110) Literatur und Politik (111/112) Die amerikanische Ausnahme (138/139)

In der Regel dauerte es mehrere Monate, wenn nicht Jahre, bis die kritische Masse an Manuskripten vorlag, die inhaltlich in den ge1 | Unter anderem übernahm ich das Schreiben von Kurzrezensionen zu den deutschsprachigen Veröffentlichungen für die Actes-Rubrik »livres lus – livres à lire« und half beim Akquirieren von deutschsprachigen Beiträgen und der Betreuung der Übersetzungen.

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steckten thematischen Rahmen passten. Und hier begann dann für Bourdieu ein weiterer wichtiger Arbeitsschritt von enormem Zeitaufwand. Zeit seines Lebens erschien in Actes kein Beitrag, der nicht über seinen Schreibtisch und durch sein kritisches Lektorat gegangen wäre.2 Durch diesen Arbeitsstil kam es zu dem bei der Leserschaft und den Rezipienten von Actes weitgehend geteilten Eindruck eines jeden Beitrag umgehend anzumerkenden Erscheinungsorts: Actes entwickelte eine inhaltliche und formale Kohärenz mit einem sofort in die Augen springenden Diskurs. Ihren Autorinnen und Autoren lieferte sie im Laufe der Jahre eine Art Corporate Identity als Teil eines Kollektivs an kritisch-reflexiven Sozialwissenschaftlern. Dieser wissenschaftliche und intellektuelle Stil hat sich mittlerweile längst zu einem Habitus verfestigt: Auch nach dem Tod des Gründers und Direktors konnte Actes weiterhin die von ihm gesetzten hohen intellektuellen Ansprüche halten und im Kollektiv – ganz im Sinne Bourdieus – weiter wirken. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Textes im ersten Halbjahr 2018 liegen immerhin 219 Nummern der Revue vor.

»L e sens commun « – B ourdieus  W ahlverwandtschaf ten Bourdieus Karriere als Autor begann in den frühen 1960er-Jahren mit der Zusammenarbeit mit dem Verlag »Les Editions de Minuit«. Der kleine Pariser Verlag fand damals vor allem durch Editionen von 2 | Wie intensiv Bourdieu persönlich die Beiträge lektorierte, konnte ich selbst in der Schlussphase der Arbeit an einem Beitrag für Actes aus nächster Nähe mitverfolgen (s. Schultheis 2000). So schrieb er mir im August 2001 aus den Ferien im Béarn: »… wenn Ihr Text auch nur in provisorischer Form lesbar ist, senden Sie ihn mir. Ich habe gerade mehr Zeit zur Verfügung als nach meiner Rückkehr.« Bei Actes gab es einige ungeschriebenen Spielregeln, die ich durch meine zunehmende Vertrautheit mit Bourdieu zu beherrschen lernte, aber Außenstehenden weitgehend verborgen blieben. Hierzu zählte z.B. das Prinzip, Bourdieus Namen möglichst wenig zu nennen und seine Werke bei den Literaturangaben weitgehend auszusparen. Zu meiner Aufgabe gehörte manchmal auch, diese Prinzipien freundschaftlich zu vermitteln, um Beiträge für Actes publizierbar zu machen, in denen Bourdieu besonders ausgiebig zitiert und paraphrasiert wurde.

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Werken wie Becketts »Oh les beaux jours« Beachtung. Mit seinem Direktor war Bourdieu bald auch freundschaftlich verbunden. Bourdieu gründete früh eine eigene Reihe mit dem Namen »Le sens commun« – im akademischen Betrieb und intellektuellen Milieu von Paris geradezu eine Provokation und für Bourdieu von programmatischer Bedeutung. Er publizierte hier viele Werke: von seiner frühen Algerien-Studie über die bildungssoziologischen Forschungen der 1960er-Jahre, »Die Liebe zur Kunst« und seiner Arbeit über Photographie bis hin zu »Die feinen Unterschiede« und »Der Staatsadel«. Bemerkenswert ist an »Le sens commun« jedoch weniger, dass Bourdieu die eigenen Bücher hier sukzessive platzieren konnte, sondern dass er mit dem Programm eine nach persönlichem »Geschmack« zusammengestellte »Ideal-Bibliothek« realisierte. Diese schnell auf viele Dutzend Titel anwachsende Reihe beherbergte u.a. die französischen Klassiker Durkheim, Mauss und Halbwachs, aber auch Bücher von Cassirer und Panofsky. Letzterer wurde von Bourdieu selbst ins Französische übertragen. Unter den vielen anderen klassischen Beiträgen zur Soziologie, Ethnologie, Anthropologie, Geschichtswissenschaft, Philosophie oder Literaturwissenschaft finden sich Autoren wie Erving Goffman, Jack Goody, Basil Bernstein oder Richard Hoggart. Daneben veröffentlichte Bourdieu auch Studien seiner Mitarbeitenden Luc Boltanski, Patrick Champagne, Francine Muel-Dreyfus oder Louis Pinto. Diese Herausgebertätigkeit war sehr zeitaufwendig, aber lohnenswert: Bourdieu ermöglichte hier den traditionellerweise gegenüber den sozialwissenschaftlichen Traditionen anderer Länder abgeschotteten und stark selbstreferentiellen französischen Sozial- und Humanwissenschaften die Öffnung für internationale zeitgenössische Diskurse. Wichtig war aber auch, dass er an die für seine eigene soziologische Theorie so prägende Durkheim-Schule anknüpfte und ihre wichtigsten Vertreter nach der langen Verdrängung durch den strukturalistischen Mainstream wieder diskussionsfähig machte. Wie bei Actes erschuf Bourdieu auch mit »Le sens commun« eine Art Chor sozial- und kulturwissenschaftlicher Stimmen, die einen für den Herausgeber nach eigenem Empfinden stimmigen Zusammenklang repräsentierten und sich in ihren Positionen wechselseitig stärkten. Auch hier war Bourdieu also wieder als Chef d’Orchestre am Werk. In den 1990er-Jahren wechselte Bourdieu nach Unstimmigkeiten mit der Verlagsleitung mit seinem Werk »Das Elend der Welt« zu

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Seuil, einem Verlag, der bis heute zu den tonangebenden in Frankreich zählt. Hier gründete Bourdieu unter dem Namen »Collection Liber« dann eine neue Reihe, in der auch die Bände »Méditations Pascaliennes«, »Die männliche Herrschaft« und »Die sozialen Strukturen der Ökonomie« erschienen. Bei Seuil änderte Bourdieu die über rund drei Jahrzehnte gepflegte Praxis der Herausgeberschaft und publizierte neben eigenen Arbeiten vorwiegend die Texte jüngerer Mitarbeiter wie Frédéric Lebaron, Olivier Christin oder Vincent Dubois. Nach dem Tod seines engen Freunds Abdelmalek Sayad, seinem Begleiter seit den Algerienjahren und Mitarbeiter am Centre, machte sich Bourdieu daran, dessen unvollendetes Werk »La double absence« publizierbar zu machen. Aus einer Vielzahl handschriftlicher Manuskripte zu diversen Themen der Migrationsforschung komponierte Bourdieu eine Monographie, die unter dem Namen Sayads 1999 ebenfalls in der Reihe Liber erschien – Freundschaftsdienst, Trauerarbeit und Hommage zugleich.

L iber – ein intellek tuelles A benteuer Bei unserer Tour d’Horizon rund um Pierre Bourdieus Wirken verdient »Liber – Europäische Buchrevue« in mehrfacher Hinsicht einen besonderen Stellenwert. Zum einen aus dem banalen Grund, dass diese Facette seines intellektuellen Schaffens trotz der enormen Bedeutung, die er ihr persönlich beimaß, in der Rezeption so gut wie unsichtbar geblieben ist. Des Weiteren, weil diese Revue über einen Zeitraum von fast zehn Jahren (1989-1998) eine enorme Investition an Zeit und Energie erforderte und für Bourdieu kulturpolitisch wie intellektuell einen zentralen Stellenwert hatte. Insbesondere aber auch, weil dieses Projekt auf exemplarische Weise veranschaulicht, in welchem Maße Bourdieu disziplinäre Grenzen hinter sich ließ bzw. ständig überschritt. Hier richtete er seinen soziologischen Blick auf eine breite Palette unterschiedlichster Gegenstände und versuchte mittels Liber besonders nachdrücklich seine »Realutopie« vom internationalen kollektiven Intellektuellen praktisch umzusetzen. Wie zu sehen sein wird, scheiterte dieses Vorhaben letztlich ungeachtet des enormen Einsatzes von Bourdieu und einer kleineren Gruppe von Mitarbeitenden wie Pascale Casanova, Isabelle Kalinowski und mir. Nichtsdestotrotz trug das Experiment aber auch produktiv zu anderen kollektiven Unternehmungen bei und stellte für

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das erst nach Bourdieus Tod realisierte Netzwerk »Für einen Raum der europäischen Sozialwissenschaften« (ESSE) mit seiner starken Orientierung an der Erforschung transnationaler Zirkulation kultureller Güter gewissermaßen ein erstes Übungsfeld dar. Im Archiv Pierre Bourdieus ist dessen umfangreicher Schriftverkehr mit einer Vielzahl an Korrespondenten, wie auch Dokumente verschiedenster Art – von Programmentwürfen oder Budgetberechnungen bis zu Sitzungsprotokollen der Redaktion – einsehbar. Hintergrund des Projekts Liber war die Idee, dass die nationalen Felder literarischer, sozialwissenschaftlicher und intellektueller Produktion weiterhin selbstgenügsam nebeneinander existierten und Übersetzungen, wenn überhaupt, oft nur mit zeitlicher Verspätung angeboten und zur Kenntnis genommen wurden. Signifikanter Weise spricht Bourdieu in seiner Ankündigung der geplanten Revue in einem Brief an Wolf Lepenies anlässlich einer gerade in Paris stattgefundenen Tagung von französischen und deutschen Philosophen von einer »erschreckenden«, ja sogar »gefährlichen« Abschottung der beiden nationalen Diskurstraditionen, gegen die das Projekt Liber sich explizit wenden sollte. Es ging dabei um die Schaffung eines europäischen Netzwerks von »Künstlern und Wissenschaftlern«, die sich einer am US-amerikanischen Vorbild der New Yorker Review of Books orientierten Tribüne – einer europäischen Buchrevue – bedienen sollten, um einen autonomen transnationalen Raum für die freie Zirkulation kultureller und intellektueller Güter zu schaffen. In Bourdieus Sicht unterlagen die nationalen Felder intellektueller Produktion in zu hohem Maße der öffentlichen Rezeptions-, Legitimations- und Deutungsmacht und oft auch der »Zensur« einer bestimmten Form des Journalismus, die den von Bourdieu als »MedienIntellektuelle« bezeichneten Typus des Intellektuellen favorisierte. Die Geschichte des Unternehmens Liber im engeren Sinne – Bourdieu hatte sich schon zuvor in vielfältiger Weise für eine Internationalisierung des wissenschaftlichen und intellektuellen Austauschs eingesetzt – beginnt am 28.11.1985 mit dem »Collège des Artistes et Savants« (CASE) zum Thema Europa, an dem u.a. auch Norbert Elias teilnahm. Im Vorfeld des Treffens hatte Bourdieu verschiedene bekannte ausländische Multiplikatoren um die Nennung potentiell Interessierter angefragt. Von deutscher Seite etwa wurden ihm von Nina Grunenberg (Die Zeit), Joachim Fest, Wolf Jobst Siedler, Walter Jens, Hans Maier, Hartmut Hentig, Werner Schmalenbach, Ernst-Jaochim Mestmäker und Joaching Frowein genannt.

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Anlässlich dieses Collèges wurde die Idee zu einer europäischen Buchrevue diskutiert und dann von Bourdieu im Sitzungsprotokoll persönlich an eine Reihe von europäischen Intellektuellen  – von Pierre Boulez, über Georges Canguilhem, Georges Dumézil, Norbert Elias, Jürgen Habermas, Wolf Lepenies bis Claude Simon – kommuniziert. In seinem handschriftlichen Anschreiben bat Bourdieu die Beteiligten um etwaige Ergänzungen und fragte an, ob man sich an diesem Projekt beteiligen wolle. Am Austausch mit Wolf Lepenies ist interessant, dass dieser auf das Konzept sehr skeptisch reagierte: »A most attractive idea, but there is at least one big problem: who will do the work?« Wie nachfolgend zu sehen sein wird, sollte es Bourdieu sein, der die Arbeit unter großem persönlichem Einsatz lange Zeit auf sich nahm. Lepenies’ Skepsis wird von ihm damit begründet, dass ein zuvor in Deutschland in Angriff genommenes Projekt »Berlin Review of Books« gescheitert war. Bourdieu rät er zu einem »Brainstorming« im kleinen Kreis. In einem Schreiben an Andrea Ferrarresi vom 6.6.1986 fragt Bourdieu, ob dieser in Sachen europäische Buchrevue »mit den Leuten von Indice« gesprochen habe. Und von diesem Zeitpunkt beginnt das Vorhaben konkretere Formen anzunehmen, denn gemeinsam mit Gian Giacomo Migone von der Universität Turin und Herausgeber dieser italienischen Revue sollte Bourdieu in den folgenden Jahren die zentrale Achse des Unternehmens Liber bilden. Tatsächlich hatte Indice bereits im Tandem mit The Times Literary Supplement (TLS) unter dem Titel Lingua Franca eine gemeinsame Beilage ins Leben gerufen. Sie sollte europäischen Wissenschaftlern, Intellektuellen und Literaten eine Plattform bieten, um eine breite Leserschaft zu finden. Publiziert in italienischer und englischer Sprache hatte Lingua Franca bereits eine Auflage von 50.000 Exemplaren, als Gian Giacomo Migone (Indice) und Jeremy Treglown (TLS) Bourdieu als dritten Herausgeber hinzunahmen. Gemeinsam wollten sie ab 1989 eine Revue starten, für die zwei weitere große Zeitungen aus Deutschland und Frankreich als Partner gewonnen werden sollten. Ziel dieses intellektuellen Abenteuers war, wie es in einem Schreiben Bourdieus heißt, »… für alle Europäer zeitgleich relevante Informationen über neue Ideen, Experimente und Errungenschaften in unterschiedlichsten Feldern – von den Künsten bis zu den exakten Wissenschaften – zugänglich zu machen.« Weiterhin heißt es in der Absichtserklärung: »Die Zeitschrift wird pluralistisch

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in ihrer Perspektive und Ansätzen sein und mehr auf Qualität als auf Meinungen setzen.« Zu den für die ersten vier Ausgaben vorgesehenen Themen zählten »Bewegungen Europäischen Denkens«, »Literatur, Sprache und Minderheit«, »Europäische Blicke auf Amerika« und »Architekten«. Später sollten Themen wie »Arbeit«, »Oper«, »Nord-Süd«, »Religionen und Politik«, »Psychoanalyse« und »Kunst« hinzukommen. Die Kosten für die bei den ersten vier Nummern notwendigen Übersetzungen übernahm die Pariser Maison des Sciences de l’Homme, Indice und TLS sollten sich um Subventionen bei den jeweiligen nationalen Regierungen und der EU bemühen. Was die anvisierten Inhalte der künftige Revue betrifft, so skizziert dieses erste Programm das Profil folgendermaßen: • Debatten: je ein Beitrag über eine jüngere Kontroverse von europäischer Bedeutung mit fundierten Informationen über thematisch einschlägige Publikationen. • Profil einer kulturell bedeutsamen Persönlichkeit. • Essay eines führenden Autors zum Thema der jeweiligen Ausgabe. • Neue Probleme und Methoden. Übersichtsbeitrag betreffend jüngerer Publikationen zu wissenschaftlichen Fragen oder innovativen künstlerischen Entwicklungen. • Gedichte oder literarische Essays.3 Die verschiedenen nationalen Ausgaben sollten in Design und editorischem Gehalt identisch sein. Als Zielpublikum wurde der »educated general reader« anvisiert. Auch wenn diese Revue ab Mai 1989 schließlich unter anderem Namen als »Liber – Europäische Buchrevue« erscheinen sollte, so finden sich in diesem embryonalen Zustand schon alle künftigen Charakteristika. In den folgenden Jahren arbeitete das Dreigespann Bourdieu, Migone und Treglown an der Schaffung einer breiteren Basis für ihre Revue. Unter anderem versuchten sie, die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und Libération zu kooptieren. Letztere wurde schließlich durch Le Monde ersetzt. Geplant war, ein kleines Zentralbüro in Paris anzusiedeln, wo in Teilzeit tätige Mitarbeitende die Koordination übernehmen sollten. Der Business Manager von Indi3 | Archives Pierre Bourdieu.

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ce hatte ein provisorisches Budget erstellt, das die jährlichen Kosten auf 170.000 Pfund bezifferte. Die einzelnen nationalen Redaktionen würden die eigenen Kosten für redaktionelle Beiträge selbst tragen. In einem Schreiben vom 03.10.1988 an Bourdieu berichtet Jeremy Treglown, dass Frank Schirrmacher von der FAZ die Teilnahme am Projekt nun definitiv zugesagt habe und bittet ihn, nun auch den endgültigen französischen Partner zu benennen. Am 21.10.1988 heißt es dann, Le Monde sei bereit mitzumachen. Hier fällt auch erstmals der Name Catherine Cullen als künftige Managerin des Pariser Zentralbüros. Sie wurde im November 1988 aus einem Kreis von insgesamt fünf Bewerbern ausgewählt. Ihre Aufgabe sollte in der Koordination der Aktivitäten in den einzelnen nationalen Redaktionen bestehen. Am 6.1.1989 schlägt Daniel Vernet von Le Monde ein Treffen in Turin Ende Januar vor, um letzte technische Fragen zu klären. Hier wird Liber endgültig geboren und getauft. Der Umstand, dass Bourdieu tatsächlich hochrangige Printmedien für seine Idee gewinnen konnte, verweist auf das beachtliche symbolische Kapital, das zu dieser Zeit schon mit seinem Namen verbunden war. Angesichts der Radikalisierung Bourdieu’scher Interventionen nach 1995 lässt es sich kaum vorstellen, dass ein solches Bündnis damals einer konservativ-liberalen Zeitung wie der FAZ noch wünschenswert erschienen wäre. Neben anderen »ausländischen Korrespondenten« von Liber bot Bourdieu auch mir eine Mitarbeit an diesem Unternehmen an. Hierfür legte er einen Leitfaden vor, der die neu kooptierten Autorinnen und Autoren für das spezifische Profil von Liber, seine Orientierungen und Ziele, sensibilisieren und eine gemeinsame Perspektive auf relevante Themen fördern sollte. Er umfasste Fragen wie: • Bücher: Welches sind die auf Ihrem Gebiet in jüngster Zeit publizierten Bücher? Können Sie uns eine Liste senden? Wer wäre in Ihrem oder einem anderen Land geeignet, diese Bücher zu besprechen? • Debatten – Ereignisse des kulturellen Lebens: Welche Probleme stehen aktuell im Zentrum der intellektuellen Debatten, z.B. Ökologie, … Wer sind die Protagonisten dieser Debatten? Namen, Aktivitäten, Kennzeichen? • Finden sich wichtige Momente auf dem Gebiet des literarischen Lebens (Roman, Poesie, Theater etc.) und im Feld der Kunst (z.B.

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• •

Rehabilitation eines verkannten Künstlers, Sonderausstellungen, Entdeckung eines Künstlers oder einer Schule etc.) Gibt es wichtige Ereignisse im Bereich der Medien (neue Literatur-Recherchen, neue wissenschaftliche Journals) oder im Verlagswesen wie etwa die Übernahme von Avantgarde Verlagen durch Großverlage, Entstehung oder Verschwinden von Reihen, Auftreten eines neuen Verlags? Was sind Ihrer Meinung nach Themen und Gebiete, die für die Wissenschaftler, Künstler oder Schriftsteller Ihres Landes von Interesse sein könnten? Welches sind die jungen Künstler, Schriftsteller, Philosophen oder Forschenden, die man im Ausland noch nicht kennt und die es zu entdecken gälte? Indem man sie um Texte bittet oder über ihre Arbeiten schreibt? Finden sich interessante europäische Initiativen: mehrsprachige Redner oder Ko-Editionen, multikulturelle Vorhaben? Gibt es Autoren (Künstler, Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler etc.) der Gegenwart oder Vergangenheit, die Ihnen fälschlicherweise verkannt erscheinen und von denen Sie meinen, dass man über sie bekannt machen sollte?4

Dieser Fragekatalog spiegelt für mich sehr gut den Geist des Unternehmens Liber wider. Formuliert wurde er von Bourdieu, der die Korrespondenten von Liber auch in Gesprächen auf das gemeinsame intellektuelle Projekt einzustimmen suchte. Mit mir verabredete Bourdieu, dass ich verschiedene potentielle Autoren für Liber kontaktieren, Vorschläge für Buchbesprechungen machen und zu geplanten Themen mit geeigneten Gesprächspartnern Interviews führen solle. U.a. sprach ich mit dem Direktor der Maison des Sciences de l’Homme, Clemens Heller, über Barrieren bei der grenzüberschreitenden Mobilität von Forschenden, und mit dem Verleger André Schifferin, der als Verlagsdirektor von Pantheon Books 1990 vom Random-House-CEO Alberto Vitale wegen einer unzureichenden Gewinnspanne gefeuert worden war. In der Praxis sah das Projekt Liber in seiner Startphase wie ein – sowohl finanziell wie organisatorisch und intellektuell – ausgesprochen aufwendiges Unternehmen aus. Büroräume wurden angemietet, ein Kurierdienst per Motorrad verband sie mit dem Collège. Zu 4 | Archives Pierre Bourdieu.

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den regelmäßigen Redaktionssitzungen reisten die von den jeweiligen Partner-Medien für Liber delegierten Redakteure mit ihren Vorschlägen für die nächste Ausgabe an. Die ausgewählten Beiträge gingen dann in die Übersetzung in die jeweils anderen Sprachen – ein ebenfalls finanziell aufwendiger Prozess. Für die ersten Nummern konnten prominente Autorinnen und Autoren rekrutiert werden, die Liber neben seinem – in allen Sprachen und Medien gleichbleibenden – ästhetischen Erscheinungsbild ein durchaus anspruchsvolles eigenes Profil gaben. Neben den eingeworbenen Essays wurde sukzessive mit thematischen Rubriken experimentiert wie »Unübersetzbares«, »Kleine Nationen«, »Embleme und Stereotypen« oder »Europäische Ethnographie«, an der auch ich beteiligt war. Hier konnte ich dann auch persönlich erleben, wie konfliktträchtig die Themenfindung und Begutachtung von Beiträgen für Liber sein konnten. Der bereits erwähnte Beitrag über die deutschen Burschenschaften fand zwar mehrheitlich die Zustimmung der Redaktion, stieß aber auf klare Ablehnung bei den FAZ-Redaktoren, was angesichts des kritisch-ironischen Tons des Texts nicht weiter verwundert. Publiziert wurde er auf Druck Bourdieus trotzdem. Leider war aber von Anfang an Sand im Getriebe. Der schwerfällige bürokratische Betrieb, sowohl in den Pariser Büros wie auch in der zeitraubenden Konsensfindung zwischen den weit entfernt in ihren Stammredaktionen wirkenden Mitarbeitenden wurde von Bourdieu von Beginn an beklagt. Auch fand er den finanziellen Aufwand für das Zentralbüro ungebührlich. Das Zerwürfnis, das dann bald zur definitiven Auflösung des Bündnisses führen sollte, nahm seinen Auftakt mit einer massiven Kritik, die Joachim Fest im Namen der FAZ gegenüber Bourdieu am Pariser Zentralbüro äußerte. Hier hieß es: »The Central Office is vague and not rigorous in the preparation of the ›master‹ copy of Liber.« Im Antwortschreiben von Catherine Cullen wird dann transparent, mit welchen enormen Problemen ein Projekt wie Liber unausweichlich zu kämpfen hatte: In Paris trafen kurz vor Redaktionsschluss noch Beiträge verschiedener Partnermedien ein, die übersetzt und an die anderen Mitspieler verschickt werden mussten. Die neuen Beiträge mussten im »Master« auf Kosten schon integrierter Beiträge platziert werden, was bei den sie akquirierenden Redaktionen Unmut auslöste. Die Übersetzungen in je vier andere Sprachen nahmen je unterschiedlich viel Platz ein, was die Wunschvorstellung von einem einheitlichen Layout an

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ihre Grenzen stoßen ließ. Ein in den Tagen vor Redaktionsschluss zwischen Le Monde und El Pais bereits etablierter Kompromiss für die definitive Form wurde dabei hinfällig. Die Redakteure der FAZ reklamierten häufig Details wie fehlende Angaben über Buchseiten der besprochenen Bücher. Das Zentralbüro erhielt aber eben eine oft mangelhafte Vorlage seitens der Partner oder Korrespondenten und konnte die fehlenden Angaben unmöglich alle nachrecherchieren. Pikanterweise zeigten sich gerade die FAZ-Redakteure selbst in solchen Fällen manchmal wenig kooperativ. Wie Cullen an Fest schreibt, erhielt sie auf ihre Nachfrage nach Ergänzungen des Öfteren von Gustav Seibt und Frank Schirrmacher die Antwort: »We have no time to deal with such minor problems.« Die Bitte, doch eine andere Person bei der FAZ für solche »minor problems« zu delegieren, blieb ohne Reaktion. Cullen schreibt weiter, dass jede der fünf Redaktionen andere Erwartungen an die Koordination und Produktion der gemeinsamen Beilage habe und ihrer Meinung nach die FAZ schlicht Liber »totally prepared« serviert bekommen wolle, was für die anderen, allen voran TLS, nicht in Frage käme, da man dort aktiv in den Gestaltungsprozess involviert sein wolle. Während nach Cullen El Pais und Indice am kooperativsten mitwirkten und die kohärentere Version von Liber publizierten, überließe Le Monde dem Zentralbüro schlicht freie Hand. Weiterhin betont Cullen an die Adresse von Fest und seinen Liber-Delegierten, dass die Partner mit den meisten Beiträge für Liber offenkundig das positivere Verhältnis zum Zentralbüro unterhielten – implizit auch eine Kritik am geringen Input der FAZ. In Bezug auf die Entscheidungskompetenzen für die Inhalte der einzelnen Ausgaben bemängelte Cullen, dass diese alleine bei den Herausgeber-Sitzungen lägen, ohne dass man Bourdieu Manövrierraum ließe, bei der Endabstimmung der Nummer noch Veränderungen vorzunehmen. Um aus dieser verfahrenen Lage herauszukommen, schlagen Bourdieu und Cullen nach Absprache mit Le Monde in diesem Schreiben vor, zuerst eine französischsprachige Version jeder Nummer fixfertig zusammen- und diese dann den anderen Partnern zuzustellen. Hierbei müsse man aber Bourdieu die Kompetenz einräumen, Entscheidungen über letzte Veränderungen – z.B. zur Länge der Übersetzungen in den einzelnen Sprachen etc. – selbstständig zu treffen. Schließlich spricht Cullen mit großem Nachdruck von den enormen Koordinationsproblemen, die die Zusammenarbeit

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von Partnern aus fünf Ländern mit sich bringt. Sie plädiert dafür, die ursprüngliche Idee von Liber »as a truly European paper in its own right« nicht dem wohlfeilen Weg eines »Patchwork« von Artikeln aus verschiedenen Zeitungen zu opfern. Dieses Schreiben illustriert eine Ironie der Geschichte dieses realutopischen intellektuellen Projekts, das an genau den Problemen interkultureller Kommunikations(un)fähigkeit scheitern sollte, gegen die es angehen wollte. Bald sollten bestimmte Projektpartner den hohen finanziellen Aufwand als Grund für ihren Austritt aus dem Verbund nach nur eineinhalb Jahren Laufzeit angeben. Dieser mag eine Rolle bei der Beendigung von Liber gespielt haben, darf aber die mindestens ebenso gewichtigen Inkompatibilitäten politischer Stile und intellektueller Ansprüche nicht vergessen machen. Dass Bourdieu für seinen realutopischen Entwurf eines transnationalen intellektuellen Mediums mit explizit zeitgeist- und kapitalismuskritischer Orientierung bei den Vertretern der FAZ nicht unbedingt prädestinierte Weggenossen fand, dürfte eigentlich auf der Hand liegen. Auch Le Monde entwickelte zu diesem ja auch teuren Pionierversuch schnell eine ambivalente Haltung; treue Gefolgschaft fand Bourdieu nur bei der Redaktion von Indice. In soziologischer Perspektive könnte man retrospektiv von einer Konsensfiktion an der Wiege von Liber sprechen. Die internationale Reputation Bourdieus hatte eine Mannschaft ins Boot gebracht, die sich in der Fahrtrichtung nicht wirklich einig war. Das frühzeitige Ende des Projekts – besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende! – hatte zumindest die positive Konsequenz, dass Bourdieu nun Liber ohne Kompromisse im Selbstverlag weiterführte. Statt aufzugeben, entschied er sich nun, mit Indice in Kooperation mit seinen Actes de la Recherche weiterzumachen.5 Nach einer ersten Phase dieser Kooperation, während der Liber jeder Ausgabe von Actes beilag, konnte das Projekt sukzessive neue Partner rekrutieren: in alphabetischer Ordnung in Bulgarien, Deutschland, Griechenland, Italien, Norwegen, Rumänien, Spanien Tschechoslowakei, Türkei und Ungarn. Die Redaktionsarbeit wurde in Paris zentralisiert, so wie es Bourdieu und Cullen im Schreiben an die der FAZ vorgeschlagen hatten, und fand in den Büros des Collège statt. Die Beiträge der Partner aus ihren Ländern wurden 5 | Siehe hierzu Bourdieus Editorial Liber continue in: Liber. Revue Européenne des livres (Paris; Beilage zu den Actes RSS), Nr. 7, September 1991.

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übersetzt und nach Entscheidung der Pariser Redaktion in den französischsprachigen Prototypen aufgenommen, der auch als Vorlage für die Publikation in der jeweiligen Landessprache in die beteiligten Länder diente. Leider erwies sich das Ideal freien Austauschs und kollektiver Teilhabe an der Produktion von Liber oft als realitätsfern. Bourdieu beklagte sich regelmäßig im persönlichen Gespräch darüber, dass die Partner in den meisten beteiligten Ländern zwar bereitwillig die französischsprachigen Texte übernahmen, sich aber beim Akquirieren eigener Beiträge sehr passiv verhielten. Oft genug mussten wir von Paris aus potentielle Beitragende in anderen europäischen Ländern direkt anschreiben, um sie als Autoren zu gewinnen. Bourdieu hatte mich gebeten, die deutschsprachige Ausgabe von Liber zu betreuen, weshalb ich selbst Erfahrungen mit den konstitutiven Problemen eines so anspruchsvollen und organisatorisch wie finanziell aufwendigen Unternehmen machen konnte. In dieser Funktion organisierte ich dann 1992 in Berlin auch eine Tagung der »Freunde von Liber« mit Titel »Die Mauer in den Köpfen«, an der Bourdieu das Programm seiner »realistischen Utopie« vom autonomen Raum der Zirkulation intellektueller Güter auf den Punkt brachte: »Das Ausland ist oft ein Ort der Freiheit, der Dissidenz, des Bruchs. Und indem sie sich für eine Einigung des weltweiten intellektuellen Feldes und für die Überwindung der Barrieren der freien Zirkulation von kulturellen Produzenten und ihren Gütern einsetzen, können die Intellektuellen wirkungsvoller zum Fortschritt von Freiheit und Vernunft beitragen.« (Bourdieu 2002a, 277) Ohne von einem Verlag vertreten und beworben zu werden, war die Sichtbarkeit von Liber viel zu gering, um eine feste Leserschaft zu gewinnen. Über Mundpropaganda konnte zwar in Deutschland ein kleiner Kreis von Abonnenten rekrutiert werden, tragfähig war die Ausgabe in deutscher Sprache aber bei Weitem nicht und das Resultat im Verhältnis zum Aufwand verschwindend gering. Nur selten konnte man auch Autoren wie z.B. Volker Braun, Peter Glotz oder Petra Brasselmann durch persönliche Kontaktaufnahme für einen Originalbeitrag gewinnen. Deshalb entschieden wir uns nach wenigen Jahren, das Erscheinen von Liber in vier jährlichen Ausgaben durch ein neues Format zu ersetzen und ausgewählte Beiträge in einem Liber-Jahrbuch in deutscher Sprache zugänglich zu machen. Aufgrund mangelnder Nachfrage mussten wir aber auch dies schon nach zwei Jahren aufgeben. Auch die französische Ausgabe

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wurde schließlich nach neun Jahren beharrlichen und ermüdenden Weitermachens eingestellt. Aber welches Licht wirft nun dieses intellektuelle Abenteuer auf Bourdieu als Person und Patron eines im Geiste des kollektiven Intellektuellen geführten kleinen Unternehmens? Zunächst einmal ist in der Retrospektive auf diese sehr bewegte Geschichte noch einmal auf den enormen Einsatz Bourdieus für die Sache, für seine »realutopischen« Entwürfe und ein trotz allem Scheitern doch bemerkenswertes Projekt zu verweisen. Aus meiner Sicht hat Bourdieu während dieser Jahre einen großen Teil seiner Zeitressourcen in Liber investiert und das Projekt mit einem unglaublichen persönlichen Engagement vorangetrieben. Er schrieb etwa regelmäßig potentielle Autoren an, um sie persönlich zum Verfassen eines Originalbeitrags zu bewegen. Gestützt auf einem nur kleinen Kreis an MitarbeiterInnen, allen voran Pascale Casanova, übernahm er selbst mehrere Rollen und Aufgaben, die ansonsten arbeitsteilig auf verschiedenen Schultern lasten. Darunter auch die eines sehr fleißigen und produktiven Lieferanten von Essays, Dialogen mit ausgewählten Gesprächspartnern und einer enormen Zahl an Besprechungen von Büchern der verschiedenen Gattungen und Disziplinen, wie die nachfolgende kleine Auswahl illustriert: • • • • • • • •

Jacques Lacan: Le séminaire Pierre Vidal-Naquet: Les juifs, la mémoire et le présent Adolf Grünebaum: La psychanalyse à l’épreuve Emmanuel Lizcano: Imaginario colectivo y creacion matemàtica, E. Castelnuovo: Stained-Glass, Workshops, Techniques and Masters Joan Estruch: Opus Dei Marc Fumaroli: La diplomatie de l’esprit Maurice Goldring: Pleasant the scholar’s life: Irish intellectuals and the construction of the nation state • Virginie Linhart: Des Minguettes à Vaulx-en-Velin Wie aus dieser Aufzählung zu ersehen ist, nahm sich Bourdieu die Zeit, Literaturen aus verschiedensten Ländern in Originalausgabe zu lesen und sich in noch so fern scheinende wissenschaftliche, intellektuelle oder politische Fragen zu vertiefen. Daneben nutzte er Liber als Plattform für kritische Essays, in denen es z.B. um die Rolle der Intellektuellen, die Frage der transnationalen Zirkulation von kulturellen Gütern oder den gesellschaftlichen Status der Homose-

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xualität ging. Nachfolgend auch hierfür eine kleine Auswahl an von Bourdieu geschriebenen Beiträgen: • L’intraduisible (Unübersetzbares) • La responsabilité des intellectuels (Die Verantwortung der Intellektuellen) • Les murs mentaux (Die Mauer in den Köpfen) • Comment sortir du cercle de la peur ? (Wie den Teufelskreis der Angst durchbrechen?) • Betrachtungen eines Unfranzosen (in dt.) • Le pouvoir symbolique des intellectuels (Die symbolische Macht der intellektuellen) Erstaunlicherweise ist diese wichtige Facette des Bourdieu’schen Wirkens heute im Kollektivgedächtnis seiner Anhängerschaft so gut wie inexistent, während sonst auch noch so marginale Details rund um seine Person auf Interesse stoßen. Vielleicht liegt es daran, dass sich die einschlägige Bourdieu-Rezeption rein disziplinär ausschließlich an seiner Tätigkeit als Sozialwissenschaftler orientiert, gegebenenfalls noch das politische Engagement des späten Bourdieu der Erwähnung wert findet. Das Projekt Liber hatte so vielfältige transnationale und transdisziplinäre Stoßrichtungen und verknüpfte zeitkritische, gesellschaftspolitische, literaturwissenschaftliche, kunstsoziologische, philosophische und kulturwissenschaftliche Perspektiven und Diskurse so unkonventionell, dass es alle herkömmlichen Kategorisierungen sprengte. Die Person Bourdieus kommt im Spiegel von Liber jedoch mit ihrer ganzen intellektuellen Vielschichtigkeit und ihrer Vielfalt an Interessen und Kompetenzen plastisch zur Geltung. Trotz des Scheiterns dieser Realutopie war deshalb die Teilhabe an diesem Versuch, den internationalen kollektiven Intellektuellen ins Leben zu rufen, sehr bereichernd. Aus ihm entwickelten sich in den späten 1990er-Jahren alternative Formen der Internationalisierung intellektuellen Engagements rund um die die Bewegung Raison d’Agir und kurz nach Bourdieus Tod auch das Forschungsnetzwerk ESSE, die der Frage nach den Barrieren einer transnationalen Zirkulation kultureller und wissenschaftlicher Güter in der von Liber vorgespurten Bahn nachgingen.

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R aisons d ’agir – E dition 1996 entstand rund um das politische Engagement Bourdieus und seine Bemühungen, die Idee des kollektiven Intellektuellen umzusetzen, die Idee, sich mit einer eigenen Schriftenreihe Präsenz in den öffentlichen Debatten zu verschaffen. Die analog zur initiierten sozialen Sammlungsbewegung ebenfalls »Raisons d’agir« betitelte Reihe sollte Beiträge aus der internationalen Gesellschaftsforschung und -diagnose präsentieren, die sich bewusst in aktuelle politische Debatten einmischten und zu jenen Fragen Stellung bezogen, die für das Denken und Handeln in einer Demokratie ausschlaggebend schienen.  Soziologen, Historikerinnen, Ökonomen, Philosophinnen, aber auch Journalisten, Schriftstellerinnen und Künstler sollten hier das Wort ergreifen, um im Stile der klassischen englischen »pamphlets« den vermeintlichen Evidenzen und Konsensfiktionen des massenmedialen Zeitgeistes wie auch den sogenannten Sachzwängen des neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsbildes Gegenfeuer zu geben. Den Auftakt machte Bourdieu mit »Über das Fernsehen«, einer kritischen Auseinandersetzung mit journalistischen Praktiken der inquisitorischen Ausgrenzung »störender« Stimmen und Stellungnahmen. Die in Raisons d’agir veröffentlichten Texte waren thematisch zugespitzte Arbeiten und verstanden sich als intellektuelle Waffen und Instrumente kritischer Argumentation für eine breite Leserschaft. Sie werden bis zum heutigen Tag in diesem Geiste fortgeführt – mittlerweile ist die Reihe auf immerhin 45 Bände angewachsen. Die Idee zu diesem Publikationsprojekt selbst spiegelt in geradezu idealtypischer Weise die dem Konzept des »kollektiven Intellektuellen« zugrundeliegende Vorstellung einer engagierten Wissenschaft wider. Angesichts der Komplexität gesellschaftlicher, ökonomischer, kultureller oder ökologischer Fragen war nach Bourdieus Auffassung die traditionelle Rolle des »totalen Intellektuellen«, der zu Allem und Jedem mit der ihm zugesprochenen oder von ihm selbst prätendierten Autorität und Kompetenz das Wort ergriff, längst obsolet geworden. Diesem elitären Führungsanspruch setzte Bourdieu die Haltung entgegen, dass nur ein Kollektiv politisch engagierter Wissenschaftler­Innen mit je spezifischer Expertise in Arbeitsteilung eine zeitgemässe Organisationsform für intellektuelles Engagement darstellen konnte. Bei aller Unterschiedlichkeit teilten die behandel-

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ten Fragen und Themen das gemeinsame Verständnis engagierter Wissenschaft. Diese öffentlichen Interventionen sollten außerdem leicht zugänglich, d.h. in einer Sprache verfasst sein, die nicht nur für den kleinen Kreis anderer »Experten« auf dem jeweiligen Gebiet verständlich war und somit eine relativ breite Leserschaft erreichen konnte. Weiterhin sollte der erstaunlich günstige Ladenpreis von zehn Francs durchschnittlich, das entsprach damals in etwa dem Gegenwert von drei Euro, die Zugänglichkeit auch für finanziell schlecht ausgestattete Interessierte erleichtern. Diesem Zweck diente auch die Strategie, dieses Büchlein nicht nur in Buchhandlungen, sondern auch an Bahnhofskiosken zu vertreiben – eine Idee, die sich schnell als durchschlagender Erfolg erwies. Manche Bände verkauften sich in Auflagen von mehr als 50.000, im Ausnahmefall von »Les nouveaux chiens de garde« von Serge Halimi gar mehr als 100.000 Exemplaren. Alle AutorInnen verzichteten auf Honorare. Produziert wurden die Bände in den Büros des Centre de Sociologie Européenne, von weitgehend den gleichen Mitarbeitenden, die auch für »Actes« verantwortlich waren oder sich in der sozialen Bewegung mit gleichem Namen engagierten. Auch ging es bei diesem zunächst für manche BeobachterInnen geradezu utopisch erscheinenden Unternehmen von Beginn an darum, eine internationale Plattform zu schaffen und dies nicht nur bei der Rekrutierung von Autoren wie Keith Dixon (GB) oder Rick Fantasia (USA), sondern auch durch das Bemühen, diese Bücher in anderssprachigen Editionen zu präsentieren. In diesem Sinne konnte der Konstanzer Universitätsverlag, bei dem u.a. Bourdieus »Das Elend der Welt« erschienen war, für Übersetzungen gewonnen werden. Gemeinsam mit Bourdieu gab ich hier eine ganze Reihe an deutschsprachigen Bänden heraus, allerdings mit einem deutlich geringeren öffentlichen Erfolg. Dabei wurde den jeweiligen fremdsprachigen Editionen die Autonomie eingeräumt, selbst Autoren zu rekrutieren, die in der Lage waren, zu den sich je nach Land in spezifischer Weise stellenden Fragen einen Beitrag zu leisten, was bei der deutschsprachigen Ausgabe mehrfach der Fall sein sollte. Einige Zeit nach Gründung der Edition Raisons d’agir kam dann noch eine zweite Buchreihe mit Namen »Raisons d’agir Cours et Travaux« hinzu. Ebenfalls im Selbstverlag produziert, sollte sie gerade jüngeren WissenschaftlerInnen die Möglichkeit bieten, ihre Forschungen zu präsentieren. Auch hier ging es darum, Verfügungs-

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gewalt über die Produktionsmittel wissenschaftlicher Publikationen zu gewinnen und sich von den mehr und mehr kommerziell agierenden etablierten Verlagen zu emanzipieren. Auch diese Reihe existiert bis heute und produziert jährlich mehrere Monographien kritischer Sozialwissenschaften.

5. Öffentlicher Auftritt

Im Lauf meiner langjährigen Zusammenarbeit mit Bourdieu hatte ich viel Gelegenheit, ihn im Umgang mit der Öffentlichkeit, sei es beim Publizieren, bei Medienauftritten oder in Form von Interviews aus der Nähe beobachten zu können. Nachfolgend sollen hier noch einige Schlaglichter auf diese Aktivität geworfen werden, um den Habitus Bourdieus in der Praxis etwas greif barer zu machen. Sie beruhen jeweils auf singulären, auf den ersten Blick disparat erscheinenden Episoden; sprechen jedoch zumindest in meiner Erinnerung an diese Momente durchaus für die Bourdieu kennzeichnende Haltung. Am nachhaltigsten, wenn auch durchaus ambivalent bleibt mir ein Gespräch zwischen Pierre Bourdieu und Günther Grass in Erinnerung, das von Arte ausgestrahlt und von der Süddeutschen Zeitung publiziert wurde. Zu diesem Projekt kam es, nachdem mir Bourdieu eines morgens beim Café erzählte, er habe in der Nacht noch eine Sendung über Günther Grass gesehen und sei von dessen Haltung in Fragen der Migration beeindruckt. Ich erzählte ihm darauf aus meiner eigenen Kenntnis mehr zu diesem deutschen Schriftsteller, und nach und nach kristallisierte sich die Idee heraus, ein Gespräch im Stil des Austauschs zwischen Bourdieu und Haacke anzubahnen. Ich nahm über dessen Verlag Kontakt zu Grass auf, der spontan Interesse an dieser Idee äußerte. Nur zog sich dann die Vorbereitung dieses Zusammentreffens mit komplizierten Absprachen bei verschiedenen Sendern und Printmedien1 so lange hin, dass ein spektakuläres Ereignis dem Projekt eine neue Färbung gab. 1 | Ein Grund war nicht zuletzt auch die hohe Honorarforderung seitens Grass, die Bourdieu gar nicht nachvollziehen konnte, ihn dann aber gegen seinen Willen auch mit einschloss.

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Grass wurde der Literatur-Nobelpreis kurz vor dem endlich fest terminierten Treffen verliehen. Für das Gespräch, das in Grass’ Atelier bei Lübeck stattfinden sollte, reisten Bourdieu und ich über Hamburg an. Bei der Ankunft waren wir von dem riesigen Aufgebot der Medienleute fast schon eingeschüchtert: mehrere Übertragungswagen im Hof des Hauses, das Atelier mit zahlreichen Kameras und vielen Mitarbeitenden des Senders mehr als überfüllt, große Hektik überall. Bourdieu, ein wie gesagt sehr bescheidener, ja schüchterner Mensch, schien schon vor dem Start nervös, woran auch die freundlich-joviale Begrüßung durch den Hausherrn nichts änderte. Dann wurden die beiden Intellektuellen für das Gespräch fernsehgerecht platziert: Grass in seinem gewohnten hohen Ohrensessel mit Pfeife im Mund, als Hausherr ganz in seinem Element, und der sich immer unbehaglicher fühlende Bourdieu auf einem einfachen Stuhl gegenüber. Als frisch gekürter Nobelpreisträger war Grass hier für Bourdieu kein Gesprächspartner auf Augenhöhe. Er dominierte auch physisch gegenüber dem deutlich kleineren Bourdieu, atmosphärisch durch seine nonchalante körperliche Hexis, verbal nicht nur dank der gerade erhaltenen höchsten Weihen, sondern auch durch das Heimspiel im deutschsprachigen Kontext, und schließlich auch symbolisch als der Hausherr, der den Gast empfängt und den Ton und die Richtung der Konversation vorgibt.2 Das Gespräch war für Bourdieu in jeder Beziehung eine Tortur. Als wir endlich wieder aus dem engen Raum ins Freie traten, sagte er mit großem Nachdruck: »Diese Aufzeichnung darf nicht gesendet werden!« Nach einem Glas Wein mit Grass und seiner Frau im Wohnzimmer des Hauses und beim Abendessen in deren Stammlokal entspannte sich Bourdieu nach und nach. Auf dem Rückflug nach Paris am nächsten Morgen war das Schlimmste vergessen und wir sprachen mehr über andere Projekte und Pläne als über das Ge2 | Grass hatte freundlicherweise die deutsche Ausgabe von »Das Elend der Welt« (Bourdieu et al. 1997) auf dem Tisch platziert und begann das Gespräch auch mit wohlwollenden Anmerkungen zum Buch. Als er aber im weiteren Verlauf fragte, warum in diesem Werk so wenig gelacht wurde – vielleicht dachte er da an die in seiner »Blechtrommel« ja omnipräsente Verbindung von Tragik und Ironie – verschlug es Bourdieu endgültig die Sprache und er konnte nicht wirklich wieder Fuß fassen. Pierre Carles, der Macher von »La sociologie est un sport de combat« hat das gesamte Geschehen aufgenommen und in seinem Dokumentar-Film verarbeitet.

5. Öffentlicher Auf tritt

schehene. En passant sei aber auch noch als Anekdote angefügt, dass Bourdieu einen Umschlag vom Vortag öffnete und dort einen Scheck über ein nicht unbeträchtliches Honorar fand. Sichtlich geniert teilte er mir mit, diese Summe stünde ihm ja nur zur Hälfte zu und trotz meiner Gegenwehr setzte er letztlich diese Idee von Verteilungsgerechtigkeit auch durch – eine Haltung, die als typisch für die sprichwörtliche Großzügigkeit Bourdieus gelten darf. Großzügig zeigte er sich aber auch, wenn es um Rechte an seinen Werken ging. Für verschiedene deutschsprachige Übertragungen arrangierte er Sonderkonditionen, häufig auch ohne irgendeine vertragsmäßige Absicherung und ohne Tantiemen. Für eine ganze Reihe an Interviews, die wir im Laufe der Jahre führten – sei es über Jean-Paul Sartre, Max Weber, seine Zeit in Algerien oder aktuelle Fragen wie Islamophobie in einem Interview mit Titel »Sprechende Turbane«, stand er stets bereitwillig und ohne Zeitdruck zur Verfügung. Auch sein gesamtes Photoarchiv gab er mir ohne irgendeinen Beleg mit auf den Weg in die Schweiz und ließ mich trotz anfänglichen Zögerns beim Umgang damit frei gewähren. Last but not least mag hier noch ein weiteres Beispiel für Bourdieus großzügigen Umgang mit dem eigenen Werk Erwähnung finden, welcher durchaus exemplarischen Charakter hat. Ich legte ihm ein gemeinsam mit meinem Kollegen Stephan Egger erarbeitetes Publikationsprojekt vor, bei dem es um die bereits erwähnten »Gesammelten Schriften« in vierzehn Bänden ging. Bourdieu schaute sich die lange Liste an einzubeziehenden Artikeln einige Minuten an und gab dann ohne irgendwelche Rückfragen sein Einverständnis. Großzügig war Bourdieu immer auch, wenn man ihn um Teilnahme an einer Tagung oder einem Seminar bat – dies trotz seiner enormen zeitlichen Beanspruchung, die hoffentlich angesichts der oben gebotenen Einblicke in seinen Alltag nachvollziehbar wird. Oft genug spielte ich den Vermittler für Anfragen seitens der unterschiedlichsten Institutionen und wog jeweils gemeinsam mit Bourdieu ab, inwieweit sich die Investition an Zeit und Energie für seine Anliegen lohnen konnte. Hiermit verbunden waren regelmäßige Reisen im In- und Ausland und jeweils im Umfeld der gegebenen Anlässe viele Anfragen für Interviews. In Erinnerung an solche Reisen kann davon berichtet werden, dass Bourdieu dann regelmäßig schon zum Frühstück im Hotel Interviews gab, manchmal mehrere nacheinander. Nach seinen Interventionen wurde er von einer langen Warteschlange an Leuten belagert, die ihn um einen Beitrag zu

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einer Tagung oder einer Publikation bitten, oder auch nur ein früheres Zusammentreffen in Erinnerung rufen wollten. All das ließ er gleichmütig lächelnd über sich ergehen, aber wenn ich ihn dann bei der Rückreise erschöpft im Flugzeug oder Zug sitzen sah, konnte ich mir das schlechte Gewissen für die beachtlichen Beanspruchungen nicht verkneifen.

6. Raisons d’agir. Bourdieu als Leitfigur der »Gauche de la Gauche«

Im Juni 2001, zur Zeit, als Pierre Bourdieu an seinem »Soziologischen Selbstversuch« arbeitete, erzählte er mir in einem Interview am Collège de France von den Anfängen seiner Karriere als Soziologe in Algerien und als Gründer einer kleinen Forschungsgruppe im Paris der frühen 1960er-Jahre. Er erinnerte sich mit einem gewissen Bedauern an das Ensemble an stillschweigenden Regeln, das sich die Gruppe auferlegt hatte und dem man sich – ebenso stillschweigend – unterwerfen musste. Seine persönlichen Freiräume, so Bourdieu, habe er sich erst viel später wieder zu erobern gewusst. Eine erstaunliche Feststellung, wenn man bedenkt, dass doch er selbst der Initiator und Vordenker dieses Kollektivs war und diese ungeschriebenen Regeln oft wie eine Externalisierung des ihn kennzeichnenden Ethos erscheinen! Zu diesem Ensemble an Regeln gehörte nicht nur der radikale Verzicht auf alles, was den spezifischen Gestus des Intellektuellen Pariser Prägung ausmachte: vom Salon-Philosophieren über das aufmerksamkeitsheischende Anbiedern an die Medien, den erbaulichen Moralismus der Revue »Esprit«, bis hin zum preziösem Essayismus und dem »Radical Chic« wohlfeiler revolutionärer Posen. Dem setzte die Gruppe ein fast schon asketisch anmutendes rigoroses wissenschaftliches Credo entgegen. Auch wenn z.B. ihre Studien in den Zeiten von Mai 1968 den studentischen Protest auf den Pariser Straßen nährten – »Die Erben« zählte zu den Pflichtlektüren der 68er – und die Gruppe der Studentenbewegung Sympathie entgegenbrachte, was u.a. auch den Bruch zwischen Bourdieu und Aron mit verursachte, so ging man nicht selbst auf die Straße. Stattdessen diagnostizierte man nüchtern und oft auch kritisch Ursachen und

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Beweggründe der Ereignisse. In seinen persönlichen Aufzeichnungen, wohl Notizen für den »Soziologischen Selbstversuch«, findet man folgende Hinweise auf das von Bourdieu erfahrene Dilemma, zwischen »Engagement und Distanzierung« (Elias) eine angemessene Balance zu finden: »Ich selbst wurde auch Opfer dieses Moralismus der Neutralität, des Nicht-Einmischens als Wissenschaftler. Ich verbot mir selbst, zu Unrecht, gewisse evidente Konsequenzen aus meinen Forschungen zu ziehen. Mit der Gewissheit, die das Alter verleiht, auch mit der Anerkennung und vor allem unter dem Druck dessen, was ich als eine wirkliche politische Dringlichkeit ansehe, wurde ich dazu gebracht, selbst auf politischem Terrain zu intervenieren. Wie könnte man denn von der gesellschaftlichen Welt sprechen, ohne zugleich Politik zu machen. Man könnte sogar sagen, ein Wissenschaftler macht umso mehr Politik, wie er denkt, es nicht zu tun.« (2002, 67) Und dann, am 12.12.1995 plötzlich ein vermeintlich unerwartet radikaler Bruch mit diesen Prinzipien, als Bourdieu an der Gare de Lyon eine spektakuläre Rede vor streikenden Bahnangestellten hielt (vgl. Bourdieu 1995)? Diese Rede wird allgemein als Schlüsselereignis, als biographische Konversion Bourdieus von einer rigoros szientistischen, kritisch distanzierten Haltung hin zum politischen Agitator interpretiert. Hierbei wird die Bedeutung dieses Ereignisses weit überhöht. Zunächst muss daran erinnert werden, dass Bourdieus Soziologie durch und durch als Herrschaftssoziologie und somit als radikale Gesellschaftskritik mit starken politischen Implikationen und Intentionen verstanden werden muss: Schon in Algerien stellte er seine Forschung in den Dienst der Kritik am Kolonialismus bzw. der antikolonialistischen Befreiungsbewegungen. Vom politischen Gehalt her änderte sich also Mitte der 1990er nichts und Bourdieu hatte schon Jahre zuvor die Rolle eines öffentlich agierenden Intellektuellen eingenommen, z.B. bei den zahlreichen Petitionen, die er unterschrieb und publizierte. Dennoch stimmt es, dass das Bild Bourdieus, der vor Streikenden mit Flüstertüte in der Hand im öffentlichen Raum politisch agiert, ein Novum war. Es wurde von vielen Kommentatoren mit dem Hinweis auf Parallelen zu Jean-Paul Sartres Rolle als öffentlichem Intellektuellen, von Bourdieu ja kritisch analysiert, genüsslich in den Medien ausgebreitet. Und tatsächlich kam es ab 1995 zu einer massiven Verlagerung des Engagements und der Alltagspraxis Bourdieus hin zu einer »eingreifenden« Wissenschaft unter dem Leitmotiv »Raisons d’agir«

6. Raisons d’agir

(Gründe zu handeln). Zu seinem kritischen Verhältnis zur Sozialfigur des »totalen Intellektuellen« äußerte Bourdieu sich u.a. in einer Radiosendung unter dem Titel »Der totale Intellektuelle als soziales Phänomen.« (Radio Bremen, 16. April 2000; vgl. auch Bourdieu & Schultheis 2000) Wie lässt sich diese Konversion zu einer unumstrittenen Leitfigur sozialer Protestbewegungen in Frankreich erklären? Obwohl ich in diese Prozesse auf vielfältige Weise direkt involviert war, kann ich nur spekulativ auf ein ganzes Ensemble von miteinander verwobenen Transformationen des Status, der Haltung und der Praxis Bourdieus verweisen. Auch hier handelte es sich um eine durch und durch kollektiv getragene Metamorphose. Wenn Bourdieu in den vielen öffentlichen Darstellungen immer wieder als eine Schlüsselfigur der Dezember-Proteste in Frankreich präsentiert wird, so muss man in soziologischer Sicht an die von ihm geteilte These Max Webers erinnern, nach der der charismatische Führer nicht als solcher Träger einer außeralltäglichen Qualität sui generis ist: Diese Qualität wird qua Zuschreibung seitens der ihn tragenden Gruppierung kollektiv hervorgebracht. Nachfolgend soll die Emergenz dieser neuen Rolle Bourdieus im Hinblick auf ihre soziohistorischen Möglichkeitsbedingungen aus unterschiedlichen  – nicht konkurrierenden, sondern interdependenten – Perspektiven beleuchtet werden. Hierbei kommen verschiedene konjunkturelle Dynamiken in den Blick, die in ihrem Zusammentreffen kumulativ wirkten und eine neue Konstellation ermöglichten. Zunächst ist festzuhalten, dass Bourdieu am 12.12.1995 gerade erst aus seiner Heimat, dem Béarn, nach Paris zurückgekommen war und von den Ereignissen der Streikwelle überrascht wurde. Eine Gruppe engagierter Vertreter linker Gewerkschaften und sozialer Bewegungen drängte ihn, das Wort zu ergreifen. Diejenigen, die ihn näher kannten, können sich unschwer vorstellen, wie wenig er die ihm zugedachte Rolle gesucht hatte. Dennoch lässt sich hier von einem Kairos, einem Schlüsselmoment sprechen, in dem eine außergewöhnliche gesellschaftliche Situation und ein spezifischer Habitus wie füreinander bestimmt aufeinandertrafen. Wenn auch durch eine Verkettung von Zufällen zustande gekommen, nimmt sich das Ereignis vom Gare de Lyon retrospektiv als ein Wendepunkt aus. Mit seinem eigenen Konzept der »biographischen Illusion« kann hier aber nur davor gewarnt werden, diese Rollen-Konversion zum öffentlichen Intellektuellen als eine biographisch vorherbe-

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stimmte, geschweige denn intentional und strategisch herbeigeführte misszuverstehen. Zu den Möglichkeitsbedingungen dieser Transformation gehört aber auch Bourdieus Erfolgsgeschichte als Wissenschaftler und Intellektueller. Bis Anfang der 1980er-Jahre hatten Bourdieu und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an vielen verschiedenen Fronten für die Durchsetzung ihrer spezifischen Vorstellung vom »Beruf des Soziologen« – einem Paria in der Welt des Homo Academicus, wie Bourdieu immer wieder betonte – und dessen Emanzipation kämpfen müssen. Spätestens mit seiner Berufung ans Collège de France und dem kurz zuvor erreichten durchschlagenden Erfolg von »Die feinen Unterschiede« erreichte Bourdieu eine öffentliche Sichtbarkeit, die es ihm erlaubte, den selbst auferlegten strengen Code of Conduct hinter sich zu lassen und ein neues Kapitel seiner Biographie aufzuschlagen. Das völlig mit akademischen Spielregeln brechende Werk »Elend der Welt« markiert einen ersten Schritt, wobei er eigentlich nur in Form und Ton, nicht aber in der Sache einen Wandel in Gang setzte, denn an der Radikalität der gesellschaftskritischen Stoßrichtung seiner Forschungen hatte sich ja nichts geändert. Selbst in der Wahl der Methoden und der sozialtheoretischen Perspektive kann in seiner Erforschung der verschiedenen Formen sozialen Elends – von den algerischen Umsiedlungszentren bis in die Pariser Banlieues nicht im Geringsten von einem Bruch gesprochen werden. Anders formuliert konnte Bourdieu das im wissenschaftlichen Feld akkumulierte symbolische Kapital als einer der weltweit bedeutendsten Sozialforscher und -theoretiker in die neue Rolle des öffentlich agierenden Intellektuellen einbringen und so deren Legitimität untermauern. Hierbei spielte die enorme Medien-Resonanz auf den Auftritt am Gare de Lyon eine wichtige Rolle. Von Le Monde bis Libération, von Nouvel Observateur bis L’Humanité stilisierten die französischen Medien Bourdieu fast unisono als Sprachrohr der Streikbewegten und schon bald auch als Personifikation der neuen »Gauche de la Gauche«, ein Konzept, das die links von der Parti Socialiste situierten Gruppierungen auf einen Nenner brachte. Auch die bürgerlichkonservative Seite stimmte in diesen Chorgesang ein, wenn auch mit pejorativen Konnotationen. Dass Bourdieus Arbeiten auch von konservativen Politikern ernst genommen wurden, zeigte sich z.B. im Umstand, dass Chirac im Mai 1995 als Präsident mit dem Pro-

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gramm antrat, »die sozialen Bruchstellen« offensiv anzugehen und diesbezüglich auch einen Brief an Bourdieu adressierte. Weiterhin ist an die soziohistorische Konstellation Mitte der 1990er-Jahre zu erinnern. Gekennzeichnet durch die Enttäuschung über den Verrat der europäischen Sozialdemokratie im Dreigestirn von Jospin, Blair und Schröder bildete sie die Hintergrundfolie sowohl für die französischen Streikbewegungen wie auch die zunehmenden kritischen öffentlichen Interventionen Bourdieus. Schon die Studie »Das Elend der Welt« war, wie bereits erwähnt, explizit als Kritik an der neoliberalen Politik Jospins konzipiert und wurde von den verschiedenen linken Lagern in Frankreich auch so rezipiert. Hierdurch schien Bourdieu für viele Vertreter dieser Bewegungen geradezu prädestiniert, die Rolle eines Vordenkers und prominenten Wortführers zu spielen. Nicht zuletzt hatte auch Bourdieus realutopisches Modell des kollektiven Intellektuellen mittlerweile durch die Erfahrungen mit Liber, insbesondere aber mit den Forschungen rund um »Das Elend der Welt« ausreichend Kontur und Konkretion gewonnen, um im Projekt Raisons d’agir erfolgversprechend zur Anwendung kommen zu können. Er selbst formulierte seine Hinwendung zu einer eingreifenden Form soziologischer Praxis so: »Der kollektive Intellektuelle, der Ökonomen, Soziologen, Historiker usw. vereinigt, ist eine Instanz, die mit allen Mitteln der Wissenschaft ein aktuelles politisches Problem anpackt und steht sowohl der Politik, die von ihren Experten umgeben ist, als auch dem unverantwortlichen Intellektuellen (den ich als ›negativen Intellektuellen‹ bezeichne) gegenüber, der zu allen Problemen des Augenblicks Stellung bezieht, ohne andere Instrumente als sein individuelles Urteilsvermögen, d.h. sehr oft seine Vorurteile. Ich hatte lange Zeit die Schaffung dieses kollektiven Intellektuellen gefordert, der 1981 zum ersten Mal an der Frage Polens zum Einsatz kam. Wenn mir die Intervention auf politischem Boden seit den 1990er-Jahren notwendiger als je zuvor erschien, dann deshalb, weil mir die neoliberale Politik (getarnt als ›Globalisierung‹) eine beispiellose Bedrohung für die Zivilisation darstellte und weil dieser Bedrohung, die einen Teil ihrer Stärke einem intellektuellen Herrschaftseffekt verdankte (ich denke dabei insbesondere an die Rolle der Ökonomie und der Ökonomen), ein angemessener Widerstand entgegengesetzt werden musste.« (Bourdieu 2001) Gegen die gängige Lesart von der Bedeutung der Rede am Gare de Lyon ordnen wir hier einer Tagung an der Universität von Gre-

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noble im Dezember 1997 eine Schlüsselrolle für die Entstehung von Raisons d’agir (rd’a) als sozialer Protestbewegung zu. Diese stand unter dem Thema »Prekarität« (ihr Titel war »Rencontres européennes contre la précarité«) und Bourdieu hielt hier einen für die Idee einer Sammelbewegung unterschiedlichster sozialer Bewegungen geradezu programmatische Rede, die folgendermaßen einsetzte: »Prekarität ist heutzutage allgegenwärtig. Beinahe überall hat sie identische Wirkungen gezeigt, die im Extremfall der Arbeitslosen besonders deutlich zutage treten: die Destrukturierung des unter anderem seiner zeitlichen Strukturen beraubten Daseins und der daraus resultierende Verfall jeglichen Verhältnisses zur Welt, zu Raum und Zeit. Prekarität hat bei dem, der sie erleidet, tiefgreifende Auswirkungen. Indem sie die Zukunft überhaupt im Ungewissen lässt, verwehrt sie den Betroffenen gleichzeitig jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allem jenes Mindestmaß an Hoffnung und Glauben an die Zukunft, das für eine vor allem kollektive Auflehnung gegen eine noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist.«(Bourdieu 1998a, 96) Programmatisch waren der Anlass und das Statement in mehrfacher Hinsicht: Anders als das Ereignis am Gare de Lyon, das sich auf konkrete arbeits- und sozialrechtliche Forderungen einer begrenzten Population von Arbeitnehmern bezog, wurde die Veranstaltung in Grenoble von Bourdieu gemeinsam mit den dortigen Bewegungen konzipiert. Das gewählte Thema zielte auf eine grundlegende Kritik des neoliberalen Um- bzw. Abbaus sozialstaatlicher Sicherungssysteme und seiner Konsequenzen in Form der Prekarisierung breiter Bevölkerungskreise. Auch war das Treffen strategisch als »europäisch« etikettiert und schrieb sich deshalb viel treffender in die Bourdieu’sche Realutopie transnationaler politischer Aktivierung ein. Sie sollte sich in den folgenden Jahren in Form eines starken Engagements Bourdieus bei Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in Nachbarländern wie Deutschland, der Schweiz, Belgien, aber auch Griechenland niederschlagen. Weiterhin war in Grenoble der Anspruch auf Aktivierung eines internationalen kollektiven Intellektuellen schon deutlich greif bar. Unter den über tausend Teilnehmern fanden sich nicht nur VertreterInnen mehrerer europäischer Länder, sondern auch künftige AutorInnen der bei diesem Anlass ins Leben gerufenen Reihe Raisons d’agir, die als Plattform zu den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Fragen geplant wurde.

6. Raisons d’agir

Während des Treffens wurden eine Vielzahl an künftigen Interventionsformen diskutiert und auch schon organisatorische Fragen geklärt. U.a. wurde eine kleine Gruppe von Mitarbeitern, darunter Franck Poupeau, Pierre Rimbert und ich, mit Koordinationsaufgaben am Centre betraut. Rückblickend kann durchaus behauptet werden, dass dieses Treffen einen zündenden Charakter hatte und mit seiner engagierten Atmosphäre einen Prozess der Vergemeinschaftung von Wahlverwandten, bis dahin räumlich getrennt an je partikularen sozialen Fragen arbeitenden Bewegungen, ermöglichte. Die bereits präsentierte Buchreihe Raisons d’agir fand hier nicht nur mit Bourdieus Rede (später unter dem Titel »Prekarität ist überall« im Band Gegenfeuer erschienen) einen Auftakt, sondern es wurden bereits die in relativ schneller Folge erscheinenden Publikationen wie »Die Evangelisten des Marktes« (Keith Dixon) oder »Wenn die Staaten zugunsten von Multinationalen Unternehmen abdanken« (Raoul-Marc Jennar und Laurence Kalafides) geplant. Aus diesen Treffen resultierten verschiedene konkrete Initiativen wie die Zusammenarbeit von Raisons d’agir mit der Europäischen Arbeitslosenbewegung, dem »Internationalen Komitee zur Unterstützung der algerischen Intellektuellen«, dem »Verein für kritische Auseinandersetzung mit dem Höheren Bildungswesen« und Vertreterinnen der Frauenbewegung. Eine herausragende Bedeutung für die folgenden Jahre sollte der kleinen linken Gewerkschaft SUD und ihrer Vertreterin Annik Coupé zukommen, mit der Raisons d’agir ganz besonders intensive Zusammenarbeit pflegte. Nach der Rückkehr nach Paris trat mit der sehr zeitintensiven Arbeit für Raisons d’agir seitens Bourdieu und einigen wenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Centre bald auch eine geradezu generationsspezifische Arbeitsteilung im Centre an den Tag. Die 50- bis 60-Jährigen, die sich stark über Actes de la Recherche und ihre individuellen Forschungsinteressen definierten, engagierten sich mit Ausnahme von Gérard Mauger nur wenig für Raisons d’agir bzw. wurden von Bourdieu erst gar nicht dafür mobilisiert. Die an den künftigen Aktivitäten von Raisons d’agir maßgeblich Beteiligten gehörten mehrheitlich der Altersgruppe der 25- bis 30-Jährigen an und waren schon zuvor stärker politisch aktiv. Unser kleines Team besprach sich regelmäßig mit Bourdieu zu Fragen anstehender Ereignisse wie der Teilnahme an einschlägigen Anlässen im In- und Ausland.

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Bourdieu erhielt ab den späten 1990er-Jahren eine unglaubliche Masse an Einladungen zu gesellschaftspolitischen Meetings, sei es von Gewerkschaften oder Protestbewegungen vieler verschiedener Länder. Um diese Nachfrage überhaupt bewältigen zu können, mussten Prioritäten gesetzt werden. Hierbei griff man regelmäßig auf Kollegen aus den jeweiligen Ländern als ethnographische Informanten zurück, um die Relevanz der anvisierten Anlässe einigermaßen einschätzen zu können. Die Jahre nach dem Auftakt in Grenoble waren durch eine intensive Reisetätigkeit von und mit Bourdieu gekennzeichnet. U.a. organisierte Raisons d’agir in Athen, Wien, Frankfurt, Brüssel oder Straßburg Tagungen mit oft sehr großer Teilnehmerzahlen von bis zu 1000 Personen. Diese Reiseaktivitäten konnten dank der laufenden EU-geförderten Forschungsprojekte relativ problemlos finanziert werden. Hinzu kamen etliche offizielle Einladungen, z.B. seitens deutscher oder griechischer Gewerkschaften, die ein besonders reges Interesse an der Arbeit von Raisons d’agir an den Tag legten. Aber was heißt das Engagement für Raisons d’agir konkret, wenn es hier um Bourdieus Praxis als Wissenschaftler und Intellektueller geht? Wie schon erwähnt zeichnete sich Bourdieus Alltag durch ein unglaubliches Arbeitspensum aus. Zu den zahlreichen zeitaufwendigen Aktivitäten kamen nun noch diese zusätzlichen Belastungen: Reisen und oft mehrtägige Aufenthalte in fremden Städten, Vorbereitung der zugesagten Vorträge zu sehr unterschiedlichen Fragen und für je spezifische Publika, Interviews mit Journalisten und reger Austausch mit Teilnehmern der Veranstaltungen. Wieder bietet Pierre Carles’ Dokumentarfilm einige aufschlussreiche Einblicke in diesen abwechslungsreichen Alltag. Carles und seine Camera begleiteten uns auf vielen Reisen und wurden ein so selbstverständlicher Teil des Teams, dass man sie gar nicht mehr bewusst zur Kenntnis nahm. Carles’ Film versucht gezielt die Alltagspraxis Bourdieus als engagiertem Intellektuellen einzufangen, ihn auch in Momenten der Erschöpfung und der Frustration authentisch ins Bild zu setzen. Viele im Film nicht festgehaltene Eindrücke ließen sich noch zur Sprache bringen. Oft fanden ganztägige Tagungen mit Vorträgen Bourdieus statt, manchmal gar zwei am gleichen Tag zu unterschiedlichen Themen. Hierbei achtete er immer darauf, den Spezifika des jeweiligen Gastlandes und des Zuhörer-Kreises inhaltlich so gut wie möglich gerecht zu werden. Die »Gegenfeuer«-Bände (1998) dokumentieren

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etliche der im Dienst von Raisons d’agir gehaltenen Vorträge und bieten Einblick in die Vielfalt der behandelten Themen. Darüber hinaus publizierte Bourdieu viele politische Statements gemeinsam mit wechselnden Ko-Autoren in französischen oder ausländischen Zeitungen; von Le Monde über Libération bis zu Le Monde Diplomatique, von der Süddeutschen Zeitung über den Wiener Standard bis zum schweizerischen Tagesanzeiger. Auch die von Bourdieu initiierten oder zumindest gezeichneten Petitionen in Printmedien nahmen ab Mitte der 1990er-Jahre mit der zunehmenden Dynamik von Raisons d’agir deutlich zu. Hier eine kleine Auswahl von mehreren Dutzend Interventionen nach Themen: • • • • • • • • • • • • • • •

Arbeitslose und prekäre Gefängnisinsassen (1998) Arbeitslosigkeit (1997) Aufruf für eine Reduktion der Arbeitszeit (1997) Aufruf zu Generalstände, der sozialen Bewegung (1996) Aufruf zur Reduktion der Arbeitszeit (1997) Freiheit für Toni Negri (1997) Für das freie Wort (1997) Für die Unabhängigkeit des Senders ARTE (2000) Für ein humanistisches, mehrsprachiges und an kultureller Diversität reiches Europa (1997) Für eine alternative Strategie des Telekommunikation Sektor (1997) Für eine Rettung der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (1998) Für Gerechtigkeit bei Arbeitsunfällen (1998) Sans papiers (1998) Visa für Algerier (1997) Ziviler Widerstand: für das Recht, in Würde zu sterben (1999)

Für Bourdieus Vorstellung vom »kollektiven intellektuellen« fand sich im Jahre 1960 rund um die heftigen politischen Auseinandersetzungen um die Algerien-Frage ein geradezu idealtypisches Vorbild. Im Februar 1960 wurden etwa zehn Mitglieder des sog. »Unterstützungsnetzwerk« des antikolonialistischen Kampfes, das vom Philosophen Francis Jeanson, geführt wurde, in Paris verhaftet. Dies führte zu einer Mobilisierung eines bedeutenden Teils der Intelligenz. In einer Erklärung zum Recht auf zivilen Ungehorsam im

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Algerienkrieg, die gemeinhin als »Manifest der 121« bezeichnet wird (nach der Anzahl ihrer Erstunterzeichner) rief man dazu auf, diese Erklärung zu unterzeichnen. Am 5. September wurde die Erklärung mit den bereits erhaltenen 121 Namen veröffentlicht, allerdings nicht in der Presse, die sich so einem riskanten Unternehmen verweigerte. Sie zirkulierte von Hand zu Hand.1 Im Jahr 2000 gab sich Raisons d’agir mit dem damals vom deutschen Team am Zentrum für Europäische Gesellschaftsforschung in Konstanz organisierten und im Internet verbreiteten Aufruf für eine Charta 2000 ein Manifest, das den Weg zu einem Treffen der sozialen Bewegungen Europas im Herbst ebnen sollte. Ihr Wortlaut war:

CHARTA 2000 Für die Einberufung von Generalständen der sozialen Bewegung in Europa Jene soziale Bewegung, wie sie zumindest in Europa während der letzten Jahre erkennbar wurde, steht vor einer wichtigen Entscheidung. Will sie eine feste, anerkannte und ernstzunehmende Größe werden, dann ist es unabdingbar, all die betroffenen Gruppen, zunächst auf europäischer Ebene, in einem noch zu gründenden Netzwerk zu sammeln und mit einander ins Gespräch zu bringen, einem Netzwerk, das in der Lage wäre, diese Kräfte zu bündeln, ihre Ziele aufeinander abzustimmen und schließlich ein gemeinsames Vorgehen zu erarbeiten: Gewerkschaften, die Bewegung der Arbeitslosen, Obdachlosen oder Staatenlosen, Frauengruppen, Homosexuelle, Umweltvereinigungen und viele andere. Denn diese Bewegungen haben trotz aller ihrer Unterschiede, trotz der manchmal bestehenden Meinungsverschiedenheiten, zumindest eines gemeinsam: sie verteidigen jene, die heute von der neoliberalen Politik immer mehr einem ungewissen Schicksal preisgegeben werden, und greifen gleichzeitig all die gesellschaftlichen Probleme auf, die diese Politik dabei zurückgelassen hat. Es sind dies Probleme, die auch und gerade von den sozialdemokratischen Parteien verharmlost oder verdrängt werden, von sozialdemokratischen Regierungen, die sich gegenwärtig vor allem darum bemühen, die bestehende Wirtschaftsordnung zu verwalten und hinter einem letzten Rest staatlicher Handlungsfreiheit verschanzen, und sich dabei immer bedenkenloser mit den wachsenden gesellschaftlichen Ungleichheiten, mit allgemeiner

1 | M. Péju, Le procès du réseau Jeanson. Paris: La Découverte, 2002.

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Arbeitslosigkeit und der Polarisierung ganzer Bevölkerungsgruppen abgefunden haben. Gerade deshalb brauchen wir eine wirkliche kritische Gegenmacht, die imstande ist, diese Probleme immer wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen, durch neue, insbesondere symbolische Formen des Handelns, um immer wieder, wie es auch in Seattle geschehen ist, die grundlegendsten Wünsche der Bürger zum Ausdruck zu bringen. Weil diese Bewegung mit konservativen und restaurativen Kräften zu tun hat, Kräften, die sich insbesondere mit ihren Versuchen eines Abbaus, wenn nicht gar der letztendlichen Zerstörung des »Wohlfahrtsstaates« auf eine Wiederherstellung der Vergangenheit richten, muss sie eine mächtige Bewegung sein, die erst dann, wie die sozialen Bewegungen des neunzehnten Jahrhunderts, Staaten und Regierungen drängen könnte und müsste, wirksame Maßnahmen für eine Kontrolle der Finanzmärkte zu ergreifen und eine gerechtere Verteilung des Reichtums der Nationen, in ihnen und zwischen ihnen durchzusetzen. Deshalb schlagen wir vor, bis Ende des Jahres 2000 Generalstände der sozialen Bewegungen in Europa einzuberufen, mit dem Ziel, eine gemeinsame Charta auszuarbeiten und Grundlagen für eine internationale Struktur zu schaffen, die alle möglichen organisatorischen und intellektuellen Formen des Widerstandes gegen die neoliberale Politik bündelt, gleichzeitig aber ihre Unabhängigkeit gegenüber den Parteien und Regierungen, insbesondere gegenüber den Regierungsparteien bewahrt. Eine solche Sammlung all jener Kräfte, die in ihrem tagtäglichen Kampf gegen die verhängnisvollsten Auswirkungen der neoliberalen Politik ein praktisches Wissen um deren zerstörerisches Potenzial und die kreativen Möglichkeiten eines dagegen aufgebrachten Widerstandes erworben haben, könnte auf diese Weise einen gemeinsamen schöpferischen Prozess in Gang bringen und so den vielen Menschen, die sich in dieser Welt nicht mehr erkennen, eine realistische Utopie eröffnen, in der sich durchaus manche unterschiedliche und eigenständige, aber dennoch auf gemeinsame Ziele hinwirkende Bemühungen im Kampf um ein selbstbestimmtes Leben wiederfinden und verbünden könnten. Wir bitten Sie, diesen Aufruf mit Ihrem Namen zu unterstützen. Er wird am 1. Mai 2000 der europäischen Öffentlichkeit vorgestellt und versteht sich als ein erster Schritt zur Einberufung von Generalständen der sozialen Bewegungen Europas im September 2000, die einen offenen Austausch und Entschließungen für ein gemeinsames Vorgehen sozialer Bewegungen in sämtlichen europäischen Ländern ermöglichen sollen. Pierre Bourdieu, Collège de France, 11 place Marcelin Berthelot, 75231 Paris Cedex 05, France www.msh-paris.fr/agir

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Zentrum für Europäische Gesellschaftsforschung e.V., Kreuzlinger Str. 11, 78462 Konstanz Dieses Manifest, hervorgegangen aus vielen Diskussionen in den verschiedensten europäischen Ländern während der letzten Jahre, versteht sich als Versuch, die intellektuellen und institutionellen Voraussetzungen für eine Sammlungsbewegung aller kritischen und progressiven Kräfte in Europa ins Leben zu rufen. Es wird zum 1. Mai in Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und anderen Ländern Europas, Lateinamerikas und Asiens veröffentlicht und sollte der Beginn einer großen gemeinsamen Anstrengung sein, Grundsätze für echte politische Alternativen zu einer neoliberalen Politik zu erarbeiten, die sich heute, auch unter sozialdemokratischen Regierungen, immer weiter durchsetzt, und vor allem auch die organisatorischen Rahmenbedingungen für ein gemeinsames Vorgehen gegen diese Politik zu schaffen. Ein erster Schritt dazu wird der während einer Reihe von Arbeitstreffen auszuarbeitende Entwurf einer europäischen Sozialcharta sein, und in den nächsten Monaten dann die Einberufung einer großen Versammlung aller sozialen Bewegungen in Europa. Alle, die sich für dieses Vorhaben einsetzen wollen, das bereits von vielen Vertretern aus den Gewerkschaften und anderen Organisationen, von Künstlern, Schriftstellern und Wissenschaftlern unterstützt wird, möchten wir bitten, ihre Unterschrift, auch mögliche Vorschläge und Bemerkungen, über die Adresse www.raison.org weiterzuleiten. Dort stehen Ihnen weitere Informationen zur Verfügung, unter anderem die vorläufige Liste der Unterzeichner. Pierre Bourdieu

Innerhalb weniger Tage wurde dieser Aufruf von mehreren Tausend Personen unterzeichnet und im Wortlaut in verschiedenen Ländern und Sprachen reproduziert. Diese positive Resonanz gab dem ganzen Unternehmen Auftrieb, der sich durch eine konkrete historische Konstellation noch verstärkte. Die Charta 2000 wurde nämlich – abgesehen von der Ankündigung im Internet – nicht zufällig im März 2000 erstmals in Österreich publiziert.2 Die Idee hierzu ergab sich 2 | Der Text erschien unter dem Titel »Charta 2000. Für die Einberufung von Generalständen der sozialen Bewegungen in Europa« in einem Sonderheft der von der IG Kultur Österreich herausgegebenen Zeitschrift Kulturrisse (Sonderheft Sektor3/Kultur, März 2000, S. 129-131; vgl. Bourdieu et al. 2000) unter dem Titel »Opposition bilden!«

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aus einer Solidaritäts-Videobotschaft Bourdieus mit Titel »Für ein Österreich als Vorreiter des sozialen Europas«, die Bourdieu mit meiner Hilfe und sehr rudimentären technischen Mitteln angefertigt und für die Konferenz »Sektor3/Kultur« der IG Kultur Österreich vom 31.3.2000 zur Verfügung gestellt hatte. Hintergrund war die Bildung einer österreichischen Regierung unter Beteiligung der rechtspopulistischen FPÖ unter Haider, die europaweit zu empörten Reaktionen und auch politischen Sanktionen führte. In Österreich selbst kam es zu einer starken Mobilisierung von politischem Protest unter dem Sammelbegriff »Demokratische Offensive«. Bourdieus Video-Botschaft stieß mit ihrem solidarisch-ermutigenden Ton auf ausgesprochen positive Resonanz. Und angesichts der spezifischen politischen Konjunktur im Lande schien es uns auf Seiten Raisons d’agir geboten, die Lancierung der Charta 2000 als Manifest der Generalstände der sozialen Bewegungen Europas an diesen Ort zu verlegen. Nach langen Vorbesprechungen des Teams am Collège de France fuhr ich nach Wien, um die Möglichkeiten einer engen Zusammenarbeit mit den Koordinatoren der dortigen Protestbewegungen auszuloten. Wir kamen überein, vom 10. bis 12. November eine gemeinsame Tagung zu veranstalten. Gemeinsam mit Bourdieu formulierte ich dann in Paris Vorschläge zur Gestaltung des Programms »Raisons d’agir – Wiener Widerstandskonferenz« im November 2000, die in Wien weitgehend übernommen wurden. So bestechend die Idee auch scheinen mochte, die österreichische Protestbewegung als Resonanzboden und Sprungbrett für die Lancierung der Charta 2000 zu nutzen, so schwierig war sie logistisch umzusetzen. Mehrere Dutzend Mitglieder von Raisons d’agir von Paris oder anderen europäischen Standorten wie Athen oder Brüssel nach Wien zu bringen, war nicht nur kostspielig, sondern auch arbeitsaufwendig. Die Erwartungen waren auf beiden Seiten groß und, wie sich zeigen sollte, letztlich auch unrealistisch. Die Tagung selbst war von den Wiener Aktivisten bestens vorbereitet, unsere Gruppe wurde sehr gastfreundlich empfangen und Bourdieus Vortrag mit dem Thema »Für eine Renaissance der Europäischen Aufklärung« ausgesprochen positiv aufgenommen.3

3 | Der Vortrag (französischer Titel: Pour une renaissance de l’Aufklärung européenne) fand als »Wiener Vorlesung« im Rahmen der Tagung »Raisons

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Schon im Vorfeld wurde Bourdieu für eine ganze Reihe an Interviews angefragt und ließ diese bereitwillig über sich ergehen. Viele Wiener Intellektuelle suchten das Gespräch mit ihm, und in den verschiedenen Podiumsdiskussionen, an denen er teilnahm, erwies er sich den österreichischen Gastgebern als gut informierter Gesprächspartner. Doch am zweiten Tag zeigten sich mehr und mehr Risse in der Fassade eines vermeintlich solidarisch transnationalen Anliegens. Auf Seiten der österreichischen Bewegten war eine starke Selbstbezüglichkeit der Stellungnahmen und Problemdefinitionen zu spüren: Zu stark war man mit dem eigenen innenpolitischen Problem beschäftigt, um sich dem Thema einer Europäischen Sammelbewegung um soziale Fragen widmen zu können. Schlimmer war aber noch, wie mir Bourdieu in den Pausen vertraulich vermittelte, dass einige der anwesenden Pariser Intellektuellen sich durch eine distanzierte, unsensible, wenn nicht arrogante Art und Weise über die Einlassungen der Wiener Veranstalter äußerten. Bourdieu zeigte sich schon in Wien von diesen Erfahrungen ernüchtert und angesichts des enormen Aufwands für die Vorbereitung und Durchführung des Anlasses frustriert. Im Gespräch stellte er hierzu fest: »Manchmal denke ich bei mir, ich könnte es doch so locker haben. Warum mache mir das Leben so kompliziert?« Der realutopische Entwurf eines kollektiven Intellektuellen scheiterte an den Realitäten eines weiterhin in den je eigenen ethnozentrischen Relevanz- und Plausibilitätsstrukturen befangenen kulturspezifischen intellektuellen Habitus. Schon vor der Rückreise war deutlich zu spüren, dass einige der Risse, die sich in diesen zwei Tagen aufgetan hatten, nicht mehr zu kitten sein würden. Die so erwartungsvoll gestartete Aktion musste zu einem guten Teil als gescheitert angesehen werden. Vor dem Hintergrund dieser frustrierenden Erfahrungen redimensionierte Bourdieu seine Vorstellung des kollektiven Intellektuellen. In dem ihm noch verbleibenden Lebensjahr engagierte er sich zwar unverändert für die Publikationsreihe Raisons d’agir, zog jedoch die Aktivitäten auf einen stark verkleinerten Kreis von Vertrauten zurück. Seine Planung für eine große europäische Vergleichsstudie, von der gleich die Rede sein wird, illustriert dies auf sehr beredte Weise.

d’agir – Wiener Widerstandskonferenz« am Abend des 11. November 2000 im Künstlerhaus Wien statt.

7. Das Projekt »Für einen Raum der Europäischen Sozialwissenschaften«

Nachdem Bourdieu Anfang Dezember 2001 erfahren musste, dass die ihm verbleibende Lebenszeit sehr begrenzt sein würde, stoppte er zwar umgehend die Arbeit am Vorhaben »Die Europäer und ihre Bildungseinrichtungen«, ging aber trotz seines prekären Gesundheitszustands umso beharrlicher daran, seine Hinterlassenschaft zu ordnen. Dabei kam einem schon lange diskutierten und geplanten Projekt eine ganz wesentliche Rolle zu, das nun unter dem Vorzeichen großer Dringlichkeit vorangetrieben wurde. Im Lauf des Monats arbeiteten wir gemeinsam an der Konzeption eines europäischen Netzwerkes, dem er den Titel »Für einen europäischen Raum der Sozialwissenschaften« geben wollte. Hatte er sich lange Zeit gesträubt, diese Organisation direkt mit seinem Namen verbunden zu sehen, so ließ er sich angesichts der veränderten Lage davon überzeugen, diese Haltung zu überdenken. Es ging Bourdieu darum, die Grundlagen für einen Fortbestand des von ihm rund um sein Werk und seine Praxis vereinten kollektiven Intellektuellen zu schaffen. In den nächsten zwei Monaten arbeiteten wir fast täglich in langen Telefongesprächen an dieser Frage, und am 5. Januar 2002 konnte ich auf der Grundlage meiner Gesprächsnotizen folgende Zusammenfassung der Projektidee ausformulieren und an ihn senden:

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Projekt: »Für einen Raum der europäischen Sozialwissenschaften« Stand der Dinge: Die Lage der zeitgenössischen europäischen Sozialwissenschaften ist durch die Existenz zahlreicher Abschottungen gekennzeichnet, die die Schaffung einer echten wissenschaftlichen Gemeinschaft und Formen des offenen und fruchtbaren Austausches verhindern. Auch heute noch lassen die nach wie vor sehr starken nationalen Spaltungen Forscher aus unterschiedlichen nationalen Kontexten einander ignorieren, selbst wenn sie an sehr ähnlichen Forschungsfragen und theoretischen Ansätzen arbeiten. Immer noch scheinen sich die nationalen Wissenschaftsgemeinschaften um Debatten und Themen zu gruppieren, deren Ursprünge auf die lang jährige Geschichte der jeweiligen nationalen Wissenschaftsfelder zurückgehen. Das gleiche gilt für die disziplinäre Arbeitsteilung: Auch wenn Forscher aus verschiedenen Disziplinen der Sozial- und Humanwissenschaften oft dieselben theoretischen Paradigmen, ähnliche erkenntnistheoretische Grundlagen und ein oft weitgehend kompatibles methodisches Instrumentarium teilen, haben sie es bisher nicht geschafft, ein gemeinsames Feld der Zusammenarbeit, des Austausches und der offenen und lebendigen Debatte zu schaffen, das es ihnen ermöglicht, die verschiedenen Sozial- und Humanwissenschaften zusammenzuführen. Unter den verschiedenen theoretischen paradigmatischen Ansätzen, die im europäischen Raum und weit darüber hinaus präsent sind, scheint sich der am Centre de Sociologie entwickelte in besonderer Weise für die Kristallisation und Vereinheitlichung eines wahrhaft europäischen sozialwissenschaftlichen Feldes zu eignen. Erstens handelt es sich um einen der international am weitesten verbreiteten und am meisten diskutierten Ansätze in den zeitgenössischen Sozialwissenschaften. Das heute vorliegende Werk, das in Bezug auf seine große Zahl an Monographien und Hunderten von Artikeln ebenso umfangreich ist wie in Bezug auf seine thematische Breite und Vielfalt an empirischen Objekten, wurde nicht nur in die Mehrheit der anderen europäischen Sprachen übersetzt, sondern hat bereits wichtige Feldeffekte hervorgerufen, und viele Forschergruppen, die in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext und in ihren jeweiligen Sprachen an und mit diesem Ansatz weiterarbeiten. Weiterhin scheint dieser Ansatz prototypisch in der besten europäischen Tradition der theoretischen Reflexion verwurzelt zu sein, und eine originelle und fruchtbare Synthese dessen zu bieten, was verschiedene wichtige nationale Theorietraditionen kennzeichnet. Deshalb erlaubt er es uns nicht nur,

7. Das Projekt »Für einen Raum der Europäischen Sozialwissenschaf ten«

die künstlichen Spaltungen zwischen den Werken eines Marx, eines Durkheim, eines Weber, oder eines Elias zu überwinden und die tiefen und essentiellen Wahlverwandtschaften zwischen ihnen hervorzuheben. Auch könnte dieser Forschungs- und Theorieansatz den großen Vorteil mit sich bringen, die künstlichen Trennungen zwischen den Disziplinen durch die Integration anthropologischer und philosophischer Fragen, soziologischer und ethnologischer wie auch historischer Ansätze in einer einzigen kohärenten Perspektive aufzulösen. Als Symbol und Motor für eine Strategie der transnationalen Öffnung des sozialwissenschaftlichen und intellektuellen Raums eignet er sich auch, da das seit rund dreißig Jahren wirkende Forschungszentrum Bourdieus den Namen »Centre for European Sociology« trägt und dieser internationale Anspruch auch für das von die publizierte Revue Actes de la Recherche kennzeichnend ist. Es erscheint daher vertretbar, dass das Werk Bourdieus, die beträchtliche internationale Resonanz, die es begleitet, seine konsequente Verwurzelung in den besten europäischen theoretischen Traditionen, von denen es eine originelle Synthese liefert, sowie sein transdisziplinärer Charakter es zu einem geeigneten Konvergenzpunkt für ein Projekt zur Schaffung eines europäischen sozialwissenschaftlichen Raums macht. Ein Projekt: Es ginge also darum, eine Idee zu verwirklichen, die bereits mehrfach zwischen vielen Forschern diskutiert wurde, die das oben skizzierte theoretische Universum teilen, obwohl sie je unterschiedlichen nationalen Kontexten angehören. Diese Idee zielt darauf ab, eine internationale Vereinigung zu schaffen, deren Ziel es wäre, sich der Vermittlung und Verbreitung einer solchen Vision der sozialen Welt und ihrer theoretischen und methodischen Grundlagen zu widmen, den zahlreichen Forschern, die bereits wissenschaftlich und intellektuell durch dieses theoretische Paradigma vereint sind, eine reale Sichtbarkeit und einen sozialen Zusammenhalt trotz bestehender geographischer und sozialer Entfernungen zu ermöglichen, die sie bisher daran hindern, sich zu begegnen, auszutauschen und sich als Wegbegleiter zu betrachten.

Bourdieu reagierte auf die ihm hier explizit zugewiesene Rolle als Schlüsselfigur zunächst zurückhaltend, ließ sich dann aber damit beschwichtigen, dass diese Zuschreibungen ja nicht durch ihn selbst und leider auch nicht mehr zu seinen Lebzeiten zur Sprache kommen sollten. Mit dem Projekt »Pour un espace des sciences sociales Européennes« (kurz: ESSE) wurde ein von Bourdieu seit Mitte der

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1980er-Jahre beharrlich verfolgtes und prototypisch durch die europäische Buchrevue Liber verkörpertes Projekt fortgeschrieben. Die Arbeit an der Realisierung begann wenige Wochen nach Bourdieus Tod in einer kleinen Arbeitsgruppe, zu der auch Remi Lenoir, Patrick Champagne, Franck Poupeau und Louis Pinto gehörten, am Collège de France. Sie zog sich über mehrere Monate hin und mündete schließlich in einen Antrag an die Adresse des 6. Rahmenprogramms der EU. Dies war eine riskante Angelegenheit, da Bourdieu mich als Koordinator bestimmt hatte und ich zu dieser Zeit bereits außerhalb der EU, nämlich an der Universität Genf in der Schweiz tätig war. Bis zur letzten Minute blieb ungewiss, ob die Schweiz über bilaterale Abkommen Zugang zum 6. Rahmenprogramm erhalten würde, aber es gelang.1 Mehr als 120 Forscherinnen und Forschern aus vierzehn Ländern hatten sich diesem Vorhaben angeschlossen, ein Dutzend darunter übernahm Funktionen als Contractors und damit Verantwortung für spezifische Module. Diese waren in zwei große Stränge geordnet, die sich den europäischen Sozial- und Humanwissenschaften einerseits und der Frage der transnationalen Zirkulation literarischer Güter andererseits widmeten. Die zuständigen Forscher und Forscherinnen hatten alle bereits mit Bourdieu gearbeitet und in den Revuen Actes und Liber einschlägige Beiträge veröffentlicht. Die mit ihm entwickelte Programmatik wurde also bei ESSE konsequent umgesetzt. Im Antrag an die DGXII der EU-Kommission stellten wir ESSE mit folgendem Steckbrief vor: Unser Projekt zielt darauf ab, die Möglichkeitsbedingungen und Wege der Verwirklichung eines europäischen Forschungsraums in den Sozial- und Humanwissenschaften zu analysieren und die Hindernisse für seine Entstehung zu identifizieren. Durch eine systematische vergleichende Betrachtung der Geschichte der Sozial- und Geisteswissenschaften in den einzelnen nationalen Kontexten Europas werden Grundlagen geschaffen, interkulturelle Konvergenzen und Divergenzen innerhalb des europäischen Raums zu identifizieren und die Hindernisse und Filter aufzuzeigen, die den freien Ideenfluss bisher verhindert oder behindert haben. 1 | In der Schweiz wurde dieser Erfolg – wir waren die ersten schweizerischen Koordinatoren eines solchen Vorhabens – als bemerkenswert genug wahrgenommen, um ihm in den Abendnachrichten des Fernsehens einen eigenen Beitrag zu widmen.

7. Das Projekt »Für einen Raum der Europäischen Sozialwissenschaf ten«

Ziel dieses zu öffnenden Raums ist es, die sozialen Bedingungen für einen rationalen Dialog zwischen den Teilnehmern zu fördern. Zu diesem Zweck sollen die erkenntnistheoretischen Grundlagen für einen echten Komparatismus entwickelt werden, denn nur so kann ein Beitrag zur Schaffung eines europäischen sozialwissenschaftlichen Forschungsraums geleistet werden. Dies ist von wesentlicher Bedeutung, denn die europäischen Sozialwissenschaften hinken den raschen Veränderungen der sozialen Realitäten im Zuge der Globalisierung und der Schaffung eines supranationalen europäischen Raums hinterher. Um den Hindernissen, die dem entgegenstehen, was wir heute zu Recht von den Sozialwissenschaften erwarten dürfen, kritisch-reflexiv entgegen zu treten, schien es uns, dass zwei wissenschaftlich integrierte Projekte parallel und koordiniert durchgeführt werden sollten: eine breit angelegte vergleichende Studie über ein vermeintlich selbstverständliches internationales Thema: die Produktion und Verbreitung literarischer und künstlerischer Werke in Europa; eine Studie über die Entstehung des sozialwissenschaftlichen Raums in Europa, dessen Autonomie in Bezug auf wirtschaftliche und politische Faktoren in den einzelnen nationalen Kontexten relativ gering scheint. 2

Die Erkenntnisinteressen von ESSE spiegelten sich direkt in einer von Bourdieu selbst konzipierten, wenn auch erst kurz nach seinem Tod erschienenen Nummer von Actes (Nr. 145, 12/2002) mit dem Titel »Der internationale Verkehr der Ideen«. Den Auftakt machte der Abdruck eines von ihm bereits am 30.10.1989 in Freiburg gehaltenen Vortrags mit programmatischem Charakter. Damals skizzierte Bourdieu das »Programm einer Wissenschaft der internationalen Beziehungen in kulturellen Angelegenheiten«, inspiriert durch den Wunsch, zu einer Internationalisierung des intellektuellen Lebens beizutragen (2002, 10). Das Programm von ESSE griff viele der hier formulierten Gedanken direkt auf und setzte sie in seinen thematischen Modulen so um, dass ihnen einschlägig bewanderte Forscher und Forscherinnen in international und interdisziplinär gemischten Arbeitsgruppen vertiefend nachgehen konnten. In der für ESSE charakteristischen transversalen Frage nach den Möglichkeitsbedingungen und Barrieren der transnationalen Zirkulation kultureller Güter bestand Parität zwischen der Beschäftigung mit sozialwissenschaftlichen und literarischen Werken. Auch hier spiegelte sich also 2 | Aus dem Antrag an die Adresse der DG XII der E.U., 6. Rahmenprogramm: https://www.cordis.europa.eu/project/rcn/80739_en.html

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die für Bourdieus Forschung seit den 1960er-Jahren feststellbare intensive Untersuchung des literarischen Feldes auf der einen und den Strukturen und Dynamiken der Sozialwissenschaften auf der anderen Seite, die mit den gleichen sozialtheoretischen Perspektiven und Methoden erfolgte. Die praktische Umsetzung dieses Forschungsprogramms mit über 100 Forschenden aus vielen verschiedenen Ländern und Institutionen lässt sich am besten nachvollziehen, wenn man sich den Web-Auftritt von ESSE anschaut.3 Er bietet einen systematischen Überblick über die unterschiedlichen Gefäße und Inhalte des Forschungsnetzwerkes. Wie dieser Überblick über die Zusammensetzung des Netzwerks an Personen, Forschungsinstitutionen, thematisierten Schwerpunkten und Gefäßen (Summer Schools, Werkstattgespräche, Tagungen etc.) zeigen dürfte, handelte es sich um ein ausgesprochen komplexes Unternehmen. Von zentraler Bedeutung war – auch auf expliziten Wunsch Bourdieus – die Konzentration auf die Nachwuchsförderung. Nach seinen Vorstellungen ließ sich das Ideal eines von nationalen Ethnozentrismen befreiten wissenschaftlichen Habitus am ehesten über die Arbeit mit Nachwuchsforschern und -forscherinnen erreichen. Ein wichtiges Prinzip bei der Zusammensetzung der einzelnen Module und Anlässe war deshalb, dass auf einen Senior- immer auch ein Juniorforscher, in der Regel eine Doktorandin oder ein Doktorand, kommen sollte. Speziell diesem Ziel dienten die drei Summer Schools auf der griechischen Insel Tinos: Um die zwanzig Teilnehmende aus allen beteiligten Ländern arbeiteten dort eine Woche lang zu einer Forschungsfrage wie z.B. »Analyse gesellschaftlicher Felder«, wobei immer eine kleine Gruppe von ausgewiesenen Forscherinnen und Forschern auf dem jeweiligen Gebiet als Coaches fungierten. Arbeitssprachen waren Französisch und Englisch. Schon zu Zeiten Bourdieus erfolgreich erprobt, ermöglichten die Summer Schools eine systematische interkulturelle Kommunikation, bei denen alle Teilnehmenden als ethnographische Informanten miteinander in Austausch traten. Wieder ging es darum, einander kulturelle Spezifika nationaler Klassifikationssysteme oder »unübersetzbarer« Konzepte zu vermitteln und sie in ihren soziohistorischen Entstehungszusammenhängen zu rekonstruieren. Vor Beginn der Genfer Tagung zu den europäischen Hoch3 | ht tps://pierrebourdieuunhommage.blogspot.com/2011/03/actesdes-colloques-esse.html

7. Das Projekt »Für einen Raum der Europäischen Sozialwissenschaf ten«

schulsystemen nach Bologna z.B. erfragten wir systematisch statistische Eckdaten, institutionelle Strukturen und spezifische Praktiken betreffend akademischer Prüfungen, Stipendien und des jeweiligen Kanons an Pflichtliteratur in sozialwissenschaftlichen Fächern. Die Angaben dienten bei der Tagung als gemeinsame Reflexionsgrundlage. Um die Transparenz und die Vergleichbarkeit noch zu erhöhen, entwickelten die Koordinatoren Instrumente wie z.B. »Prototypen« von Kurzbeschreibungen, die die einzelnen Beitragenden als Modell für ihre Präsentationen nutzen konnten. Tagungen und Workshops wie diese wurden in der Regel an wechselnden Orten abgehalten, um dem europäischen Charakter des Netzwerks und seinen Anliegen Rechnung zu tragen: von Berlin über Straßburg, Paris und Brüssel bis Lüttich, von Athen über Venedig bis nach Genf und Amsterdam. Die gewählten Forschungsgegenstände spiegelten die mit Bourdieu rund um Actes und Liber bearbeiteten Themen wie »Die Gate-Keeper beim Import-Export kultureller Güter«, »Das Verhältnis zwischen europäischen und US-amerikanischen Sozialwissenschaften«, »Übersetzung und internationale Zirkulation der Ideen«, »Vergleich der europäischen Bildungssysteme«, »Nationale Berufsklassifikationen im Vergleich« oder »Unübersetzbare Konzepte«. Leider zeigte sich bald, dass die einzelnen Module trotz aller guten Intentionen ein hohes Maß an Selbstreferenz und Selbstgenügsamkeit entwickelten, eine Entwicklung, vor der Bourdieu früh gewarnt hatte. Dies mag daran gelegen haben, dass hier jeweils Teilnehmer zusammenfanden, die mit ähnlichen Forschungsthemen befasst, schon vorher miteinander im Austausch standen, aber auch am Umstand, dass jedes dieser Module gezielt auf eine eigene Publikation hinarbeitete. Gemessen an den publizierten Forschungsbeiträgen lässt sich rückwirkend aber durchaus von einem Erfolg des Netzwerks sprechen. Fragt man aber nach den erreichten Synergien der verschiedenen Forschungsteams, ist die Bilanz eher bescheiden. Zwar fanden sich in allen Diskussionen, Forschungsberichten und Publikationen sehr konvergente theoretische Perspektiven und konzeptuelle Werkzeuge, zu einer kohärenten Zusammenschau kam es aber kaum. Entschuldigen lässt sich dieses Manko zum Teil damit, dass jede Forschungsgruppe mit ihrem eigenen Thema und Veröffentlichungsprojekt ausgelastet war und viel Zeit in die Übersetzung von fremdsprachigen Beiträgen ins Französische floss. Auch die Brüsseler Forschungsbü-

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rokratie erwies sich als ausgesprochen fordernd. Schon der Start von ESSE verzögerte sich wegen formaler Schwierigkeiten um fast ein Jahr. Die dem Projekt zugewiesene Scientific Officer war selbst neu bei der DG XII, was dazu führte, dass für alle Arbeitspakte exakte »Deliverables« definiert und sämtliche angekündigten Publikation genau datiert werden mussten. Für die Angestellten der EU-Kommission mag das selbstverständlich sein – die Uhren wissenschaftlichen Arbeitens ticken auf jeden Fall nicht nach dieser bürokratischen Rationalität. Jedenfalls hätte sich hier, wie auch bei den Verhandlungen mit den zuständigen Financial Officers der Brüsseler Institution reichlich Anschauungsmaterial für die gemeinsam mit Bourdieu für die Zeitschrift Liber konzipierte Rubrik »Homo Bürokratius« finden lassen, die administrative Barrieren des wissenschaftlichen Arbeitens an exemplarischen Fällen illustrieren sollte. Das Netzwerk ESSE wurde für einen Zeitraum von vier Jahren von der EU finanziert. Voraus gingen viele Monate der Vorbereitung, der Planung, Kooptation von rund 120 Mitgliedern und der Formulierung des Antrags durch eine kleine Gruppe am Collège. Auch nach dem Förderzeitraum wurde noch an den gemeinsamen Forschungen weitergearbeitet, z.B. veröffentlichte die Gruppe »Unübersetzbares« unter dem Titel »Les concepts nomades« deutlich später zwei Bände (der letzte erschien erst 2016). Die rund um ESSE entstandene Dynamik internationaler Vernetzungen konnte also durchaus nachhaltige Effekte erzielen. Gleiches gilt für ein 2012 organisiertes Seminar auf der griechischen Insel Tinos, das an die Praxis der dort abgehaltenen Summer Schools anschloss. Insbesondere bei den Summer Schools konnten oft dauerhafte Netzwerke von Nachwuchsforschenden aufgebaut werden, aus denen eine nicht unbeträchtliche Zahl an interessanten Initiativen und Veröffentlichungen im Geist der Idee des »internationalen kollektiven Intellektuellen« hervorgingen. In den kurz vor seinem Tod geführten Gesprächen stellte Bourdieu von Anfang an klar, dass das künftige EU-Projekt ESSE kein Selbstzweck sein und nach Abschluss zu den Akten gelegt werden sollte. Vielmehr war es für uns beide als Sprungbrett für eine umfassendere und dauerhaftere Form der internationalen Vernetzung gedacht und geplant: Das Netzwerk ESSE sollte mit seinen mehr als einhundert Mitgliedern den Kern einer künftigen Stiftung bilden, die dessen Idee schon im Namen »Fondation Pierre Bourdieu – Pour un Espace des sciences Sociales Européennes« weitertrug.

8. Die Fondation Pierre Bourdieu

Am 12. März 2005 fand im Genfer Kulturzentrum »Grütli« der Gründungsakt der »Stiftung Pierre Bourdieu: Für einen Raum der europäischen Sozialwissenschaften« statt. Die Veranstaltung, bei der Freunde Bourdieus wie Robert Darnton oder Jean Ziegler ihm eine Hommage entrichteten, wurde von einer Ausstellung der fotographischen Zeugnisse aus der Algerienzeit Bourdieus begleitet. Das zahlreiche Publikum bestand aus den eigens angereisten Mitgliedern des Netzwerkes ESSE, welches hier ja seine Überführung in eine dauerhafte Organisationsform erfahren sollte, und einer großen Zahl an SympathisantInnen der Bourdieu’schen Theorie. Gleich nach dem feierlichen Festakt begann dann der Alltag der frisch geborenen Stiftung, für deren Präsidium Bourdieu mich und seinen Sohn Jérôme, Ökonom und Directeur de Recherche an der École Normale Supérieure in Paris, bestimmt hatte. Weiterhin hatte er Craig Calhoun und Nikos Panayotopoulos als Mitglieder des Stiftungsrats vorgeschlagen. Das bescheidene Stiftungskapital stammte aus den Erlösen der Buchreihe Raisons d’agir. Die Akkreditierung der Stiftung nach Genfer Recht sollte sich als ausgesprochen zeitaufwendig und kostspielig erweisen. Auch stieß Bourdieus nachgelassener Wunsch, die Stiftung nicht in Paris, sondern unter meiner Leitung in Genf anzusiedeln, begreiflicherweise nicht überall auf Verständnis, geschweige denn Begeisterung. Hintergrund dieser Entscheidung war eine bei Bourdieu spätestens seit den enttäuschenden Erfahrungen in Wien im Jahr 2000 spürbare Distanz und Skepsis gegenüber bestimmten sozialen Verkehrsformen im intellektuellen Milieu von Paris. Sie bewog ihn wohl auch dazu, seinen »Soziologischen Selbstversuch« zuerst in deutscher Sprache herauszubringen (Bourdieu 2002).

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Auch die Akquisition finanzieller Unterstützungen nach dem Versiegen der Brüsseler Projektfinanzierung im Jahre 2008 erwies sich als frustrierend. Anfragen bei Stiftungen wie der Latsis-Foundation in Genf stießen auf höfliche Absagen, sieht man einmal davon ab, dass Spirou Latsis nach einem ausführlichen Gespräch immerhin Mittel für ein Projekt »Spurensicherung in Algerien – zur Rekonstruktion der Bourdieu’schen Feldforschung in Algerien« und später für eine analog zu »La Misère du Monde« im krisengeschüttelten Griechenland durchgeführte Studie bereitstellte. Darüber hinaus kam die Stiftung finanziell nie auf den bekannten »grünen Zweig«. Ihre Aktivitäten beschränkten sich auf wenige begrenzte Projekte wie die Betreuung des fotographischen Archivs in Zusammenarbeit mit der damals von Christine Frisinghelli geleiteten österreichischen Kunstzeitschrift Camera Austria. Auf Basis des rund 700 Photos umfassenden Archivs konnten Ausstellungen an verschiedensten Orten der Welt, von Seoul bis London, Hamburg bis Athen, Tokyo bis Marseille organisiert werden, die auf rege Resonanz stießen: Die dazu vorliegende Buchpublikation »In Algerien« (Schultheis & Frisinghelli 2002), herausgegeben in Zusammenarbeit mit Camera Austria, liegt mittlerweile in sieben Sprachen vor. Ein weiterer Erfolg der Stiftung war die Herausgabe einer deutschsprachigen Edition der »Gesammelten Schriften« Bourdieus. Das eigentliche Ziel jedoch, das Forschungsnetzwerk ESSE zu verstetigen und lebendig zu erhalten, wurde weitgehend verfehlt. Ohne ein Minimum an finanzieller Unterstützung lässt sich ein solches Vorhaben kaum verwirklichen. Auch die Idee, die Website der Fondation als Plattform für den internationalen Austausch zwischen den Mitgliedern des ESSE-Netzwerkes zu nutzen, stieß schnell an Grenzen. Wie schon beim Projekt Liber waren die zeitlichen Ressourcen der angefragten Forschenden knapp, und nach einer kurzen, optimistisch stimmenden Anlaufzeit verliefen die entsprechenden Versuche im Sande. Einen der Lichtblicke stellt das bereits erwähnte Forschungsseminar auf der Insel Tinos zur Frage der Arbeitslosigkeit im Mittelmeer-Raum dar: Hier konnten nochmals Forscherinnen und Forscher aus allen Anrainer-Staaten versammelt werden, um die Idee des internationalen kollektiven Intellektuellen zeitweilig zu reaktivieren.

9. Bilanz. Was bleibt?

Auf die Frage »Für was steht der Name Bourdieu?«, die wir eingangs unserer kleinen Studie stellten, versuchten wir mit einer Tour d’Horizon durch verschiedene Sphären der soziologischen und intellektuellen Praxis dieses weltbekannten Autors ein weitgehend unbekanntes Bild zu skizzieren. Allgemein be- und anerkannt als Verfasser bahnbrechender sozialwissenschaftlicher Werke, wurde Bourdieu hier in ein anderes, weitgehend unbekanntes Licht gesetzt, für das sein Konzept des »kollektiven Forschers und Intellektuellen« als Leitmotiv fungiert. Aus der Sicht eines an seinem Unternehmen über viele Jahre teilhabenden Beobachters wurde anhand von Zeugnissen aus unterschiedlichsten Bereichen des Wirkens Bourdieus nachvollzogen, welche Bedeutung die von ihm immer aufs Neue initiierte und animierte kollektive Arbeit in Forschung, Lehre und politischem Engagement hatte. Hierbei sollte verdeutlicht werden, aus welchen forschungspraktischen und forschungsethischen Überzeugungen sich Bourdieus Engagement für seine über Jahrzehnte hartnäckig verfolgte »Realutopie« speiste. Zugleich sollten aber auch die Grenzen aufgezeigt werden, an die dieses kontinuierliche Experimentieren und Umsetzen eines höchst anspruchsvollen Ideals immer wieder stieß, weshalb wir gleich zu Beginn auf Bourdieus resignativ anmutende Bemerkung verwiesen, er habe sich wohl am meisten für diese Idee eingesetzt und sei auch am meisten an ihr gescheitert. Wir fragten, inwieweit dieses pessimistische Urteil zutrifft und rekonstruierten Kapitel für Kapitel mit Blick auf die unterschiedlichen Bereiche der Umsetzung dieses realutopischen Modells die jeweiligen sozialen Dynamiken dieses Engagements. Tatsächlich lässt sich Bourdieus (selbst-)kritische Einschätzung an vielen dieser Beobachtungen bestätigen bzw. plausibilisieren. Immer wieder gerieten die von Bourdieu in den verschiedenen Phasen seines Werde-

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gangs und den unterschiedlichen Praxisfeldern initiierten Netzwerke in Krisen, nahmen langjährige freundschaftliche Kooperationen manches Mal ein jähes Ende. In meinen vielen persönlichen Gesprächen mit Bourdieu konnte ich immer wieder heraushören, wie persönlich betroffen und verletzt er durch solche Brüche und Krisen seiner biographischen Flugbahn als Animateur von Forscherinnen und Forschern war. Diese betrifft zu allererst den Bruch der so engen freundschaftlichen Beziehung mit Luc Boltanski, aber auch Jean-Claude Passeron und Jean-Claude Chamboredon. Später folgten ähnliche, wenn auch weniger dramatische und schwerwiegende Brüche mit anderen Personen seines Umfelds, oft begleitet von gehässigen öffentlichen Attacken gegen ihn. Wie soll man sich erklären, dass ein so eng verschworener Kreis von Gleichgesinnten wie die an der Wiege von Actes gestandenen Forschenden plötzlich auseinanderbricht und später MitarbeiterInnen, die manchmal über Jahrzehnte eng mit Bourdieu zusammengearbeitet hatten, plötzlich auf Distanz gehen. Aus der Sicht des gegenüber dem Pariser Feld der Soziologie relativ unabhängigen Betrachters zeichnet sich hier immer wieder ein bestimmtes Muster ab. Diese abrupten Trennungen kamen signifikanter Weise gerade dann zustande, wenn ein Mitglied des Kollektivs durch eine wichtige eigenständige Publikation hervor- bzw. aus dem Schatten Bourdieus trat. Manchmal scheiterte das um seine Person versammelte Kollektiv aber auch an widrigen organisatorischen Bedingungen, etwa bei den erläuterten EU-Großprojekten, bei denen die Zusammenarbeit von Forschergruppen aus vielen verschiedenen Ländern aufgrund der geographischen Distanz und schwierigen Kommunikation zu starke zentrifugale Kräfte entfaltete. In anderen Fällen wie z.B. beim Projekt Liber lag es wohl eher an der überdimensionierten Ambition eines kosten- und zeitverschlingenden Unternehmens. Und in anderen Bereichen des Bourdieu’schen Engagements für die Durchsetzung des kollektiven Intellektuellen waren es nicht zuletzt »gruppendynamische« und durchaus »persönliche« Konflikte, die zu Frustrationen führten. Aber reichen diese negativ besetzten Erfahrungen aus, um abschließend zu einem resignativen Schluss zu gelangen? Keineswegs. Auf die abschließende Frage »Was bleibt?« lassen sich rückblickend viele Spuren finden und sichern, in denen Bourdieus Einsatz für eine kollektive Praxis sozialwissenschaftlicher, intellektueller und

9. Bilanz. Was bleibt?

politischer Arbeit dauerhafte Prägungen hinterlassen hat. Dies betrifft zu allererst all jene, die das Privileg hatten, an diesen Unternehmen teilhaben zu dürfen und von Bourdieus außergewöhnlichen Fähigkeiten als »Trainer« in Sachen »Soziologie als Beruf« profitieren zu können. Über mehrere Jahrzehnte hinweg prägte Bourdieu in dieser Rolle ForscherInnen mehrerer Generationen mit vielfältigem kulturellem Hintergrund. Die von ihm praktizierte Idee des kollektiven wissenschaftlichen Forschens hat bei allen, die ich in den letzten dreißig Jahren aus diesem Zusammenhang heraus kennenlernen und befragen konnte, bleibende Prägungen hinterlassen. Von Finnland bis Griechenland, Portugal bis Russland, USA bis Japan oder Brasilien bis Algerien ging eine beachtliche Zahl an – insbesondere jungen – Forschenden durch Bourdieus außergewöhnliche »Schule«. Im Geiste der Realutopie des »kollektiven Forschers« geprägt, finden sich an den verschiedensten akademischen Institutionen der Welt heute Fortführungen dieses Modells, man denke etwa an die Projektteams, die in Österreich, Griechenland, Portugal oder Deutschland inspiriert von den kollektiven Forschungen unter Bourdieus Leitung Replikationen von »Das Elend der Welt« unternahmen. Viele der Menschen, die bei Bourdieu für mehr oder weniger lange Zeit ins »Training« gehen durften, schöpften in ihrem weiteren Werdegang als Dozierende und ForscherInnen aus dieser Erfahrung, oft mehr habituell geprägt als bewusst, Modelle ihrer eigenen künftigen Praxis und vermittelten sie an die nächste Generation weiter. Besonders positive Erwähnung – auch als Gegenargument an Bourdieus negativer Sicht auf das vermeintliche Scheitern seines Projekts der »kollektiven Intellektuellen« – verdient hier »Actes de la Recherches en Sciences Sociales«. Diese Revue wird bis zum heutigen Tag sehr erfolgreich in dem von Bourdieu und seinem Team in den 1970er-Jahren entwickelten Geist und Stil kollektiv fortgeführt. Gleiches gilt für die Reihe Raisons d’agir, in der Bourdieus Idee, kleine kritische und leicht zugängliche Taschenbücher von wissenschaftlichen Experten schreiben zu lassen, fortlebt, und die Reihe »Cours et Travaux«, in der weiterhin soziologische Studien insbesondere junger Nachwuchswissenschaftler publiziert werden. Bourdieu wurde mit seinem Tod das Schicksal aller großen Autoren zuteil: Sein Werk wurde kanonisiert, seine Person zum »Klassiker«. Aber über dieses in vielen Sprachen rezipierte Werk hinaus hinterlässt sein Wirken, vermittelt über das von ihm hartnäckig ver-

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Unternehmen Bourdieu

folgte und unablässig praktizierte Modell der kollektiven Produktion von Wissenschaft, dauerhafte Spuren in der Praxis all Jener, die am »Unternehmen« dieses Patrons mitarbeiten durften.

Literatur

Boltanski, Luc: Rendre la réalité inacceptable. Paris: Demopolis 2008. Bourdieu, Pierre: Ein soziologischer Selbstversuch. Frankfurt a.M. 2002. Bourdieu, Pierre: Gegenfeuer. Konstanz 1998a. Bourdieu, Pierre (Hg.): Liber – Internationales Jahrbuch für Literatur und Kultur, Bd. 1. Konstanz 1998c. Bourdieu, Pierre (Hg.): Liber – Internationales Jahrbuch für Literatur und Kultur, Bd. 2. Konstanz 1999. Bourdieu, Pierre: Manet. Une révolution symbolique. Paris 2013. Bourdieu, Pierre: Sociologie Générale, Vol. I. Paris 2015. Bourdieu, Pierre: Sociologie Générale, Vol. II. Paris 2016. Bourdieu, Pierre: Sur l’Etat. Paris 2012. Bourdieu, Pierre et al.: Charta 2000. Für die Einberufung von Generalständen der sozialen Bewegungen in Europa. Kulturrisse, Sonderheft Sektor3/Kultur, März 2000, S. 129-131. Bourdieu, Pierre et al.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz: UVK 1997. Bourdieu, Pierre; Passeron, Jean-Claude: La comparabilité des systèmes d’enseignement. In: Bourdieu, Pierre; Passeron, Jean-Claude (Hg.), Education, développement et démocratie. Paris 1967. DOI: https://doi.org/10.1515/9783111413846-003 Bourdieu, Pierre; Passeron, Jean-Claude: Soziologie als Beruf. Berlin 1991. DOI: https://doi.org/10.1515/9783110856477 Bourdieu, Pierre: »Je suis ici pour dire notre soutien … Combattre la technocratie sur son terrain«. In: Libération, 14. Dez. 1995, S. 7 (dt. in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 41. Jg., Heft 2, S. 177-179).

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Unternehmen Bourdieu

Bourdieu, Pierre: Liber continue. In: Liber. Revue Européenne des livres (Beilage zu Actes RSS), Nr. 7, September 1991. Paris. Bourdieu, Pierre: Prekarität ist überall. In: Bourdieu, Pierre, Gegenfeuer. Konstanz: UVK 1998b, S. 96-102. Bourdieu, Pierre: Secouez un peu vos structures!. In: Le symbolique et le social. La réception internationale de la pensée de Pierre Bourdieu. Actes du Colloque de Cerisy-la-Salle. Liège 2015, S. 325341. DOI: https://doi.org/10.4000/books.pulg.2503 Bourdieu, Pierre; Schultheis, Franz: Ein Gespräch mit Pierre Bourdieu über Jean-Paul Sartre: Der totale Intellektuelle. In: Süddeutsche Zeitung, 15.4.2000 (frz.: Entretien sur Sartre. In: L’Année sartrienne, no. 15, Paris 2001, S. 194-207). Heinich, Nathalie: Pourquoi Bourdieu. Paris 2007. Lallot, Jean: Pablo. In: Mauger, Gérard (Hg.), Rencontres avec Bourdieu. Paris 2005, S. 25-30. Lebaron, Frédéric; Schultheis, Franz: Vers un État social européen? Les enseignements de la politique européenne de lutte contre le chômage des jeunes (1997-2001). In: Repenser la solidarité. Presses Universitaires de France, 2011, S. 873-886. Panayotopoulos, Nikos; Schultheis, Franz (Hg.): Η οικονομία της αθλιότητας: Ελλάδα 2010-2015 [The economy of misery: Greece 2010-2015]. Athen: Athina-Futura 2015. Schultheis, Franz: Body and Soul: German students’ associations. LIBER-A European Review of Books-The Times Literary Supplement, Nr. 2/1990, S. 13-14. DOI: https://doi.org/10.3917/puf.pau​ ga.2011.01.0873 Schultheis, Franz: Bourdieus Wege in die Soziologie. Konstanz 2007. Schultheis, Franz: Etappen einer Anti-Autobiographie. In: Bourdieu, Pierre, Ein soziologischer Selbstversuch. Frankfurt 2002, S. 133- 151. Schultheis, Franz: Familien und Politik. Konstanz 1995. Schultheis, Franz: Un inconscient universitaire fait homme: le Privatdozent. Actes de la recherche en sciences sociales, 2000, 135. Jg., Nr. 1, S. 58-62. Schultheis, Franz; Frisinghelli, Christine (Hg.): Pierre Bourdieu. In Algerien. Graz: Camera Austria 2004. Schultheis, Franz; Pinto, Louis (Hg.): Streifzüge durch das literarische Feld. Konstanz 1997. Schultheis, Franz; Schulz, Kristina (Hg.): Gesellschaft mit begrenzter Haftung: Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag. Konstanz 2005.

Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand

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Sabine Hark, Paula-Irene Villa

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