Unter Uns!: Künstlerische Forschung - Biografie - Performance [1. Aufl.] 9783839426951

Interesting insights into the practice of artistic research through a series of performances on questions of the aging b

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Unter Uns!: Künstlerische Forschung - Biografie - Performance [1. Aufl.]
 9783839426951

Table of contents :
Inhalt
Vorwort: »Unter Uns! «Die Fortsetzung einer Performanceserie
PROJEKTDARSTELLUNG »UNTER UNS! DAS GENERATIONENPROJEKT«
Das Projekt — Die Fakten
Das Projekt — Die Episoden
Das Projekt — Forschungsinteressen und Arbeitsmethoden
Das Alphabet — als Materialgrundlage
Bildmaterial
Einleitung: Artistic Research, Künstlerische Forschung, Forschung in der oder durch die Kunst Eine Standortbestimmung für das Projekt »Unter Uns!«
KAPITEL 1 DARSTELLUNG UND SELBSTINSZENIERUNG
Perspektiven auf »Unter Uns!« — Zwischen Selbstinszenierung und dem Erscheinenlassen
Hörst du diese Stille? Interview mit Bettina Muckenhaupt Teil 1
Monolog Bettina, Barbara trifft Bettina, Episode 3
Hörst du diese Stille? Interview mit Bettina Muckenhaupt Teil 2
Regieanweisung. Bonus Track, Special Episode
Die falsche Realität
Ich will Monolog Felix, Felix trifft Felix, Episode 1
KAPITEL 2 UNMITTELBARKEIT, IMPROVISATION UND BERÜHRUNG
Und das ganz ohne Story, … oder?
Die Unmittelbarkeit
Briefe von Felix. E-Mail-Austausch in der Probenpause, Felix triff Felix, Episode 1
Notation — Bewegungsmaterial. Episode 1
Zwischen Wahrnehmung, Vorstellung, Einbildung und Denken
»Lieber Andrew, bitte vervollständigen …«Regieanweisung von Silke Z., Andrew trifft …, Special Episode
Über die Unmittelbarkeit
Notation — Bewegungsmaterial. Episode 2
Über die Unmittelbarkeit
Unkontrollierte Reflexion E-Mail von Felix Marchand an Silke Z
KAPITEL 3 POLITIK, THEATERRAUM UND BIOGRAFIE
Der ausgerenkte Arm
Alphabetdebatten. Notation, Felix trifft Felix, Episode 1
Warum autobiografische Performance? Interview mit Jess Curtis
Speedwriting
Die Freiheit der Anderen. Brief an Silke Z
Zuschauerbrief
KAPITEL 4 AGING BODY UND GENERATION
Generationenfragen
Bildmaterial
»Materialwiderstand« gegen The Aging Body — Einige Streiflichter
Über Aging Body
Vier Fragen an Barbara Fuchs
Mein Körper und ich
Facebook. Dialog, Nathalie trifft Katie, Episode 4
Treffen auf Unterschiede. Dramaturgische Überlegungen, Alexandra Dederichs, Justin trifft Stefan, Episode 5
Alphabetdebatten. Notation, Barbara trifft Bettina, Episode 3
Acht Fragen. Dialog, Jess trifft Angus, Episode 2
Bis die Show endet
Ohne Titel. Monolog Justin, Justin trifft Stefan, Episode 5
KAPITEL 5 SCHLUSSGESPRÄCH
Schlussgespräch »Unter Uns!«
Bildmaterial
Nachwort
Autorinnen und Autoren
Danksagung

Citation preview

Silke Z. (Hg.) Unter Uns!

Theater | Band 63

Silke Z. (Hg.)

Unter Uns! Künstlerische Forschung – Biografie – Performance (unter Mitarbeit von Philipp Schaus, Alexandra Dederichs und Maike Vollmer)

Publikation wurde gefördert von:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Alexandra Dederichs Korrektorat: Jennifer Niediek, Bielefeld Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2695-7 PDF-ISBN 978-3-8394-2695-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort: »Unter Uns!« Die Fortsetzung einer Performanceserie von Silke Z. | 11

P ROJEK TDARSTELLUNG »U NTER U NS ! D AS G ENERATIONENPROJEK T « Das Projekt — Die Fakten von Alexandra Dederichs | 17

Das Projekt — Die Episoden | 19 Das Projekt — Forschungsinteressen und Arbeitsmethoden von Silke Z. | 23

Das Alphabet — als Materialgrundlage | 29 Bildmaterial | 33 Einleitung: Artistic Research, Künstlerische Forschung, Forschung in der oder durch die Kunst Eine Standortbestimmung für das Projekt »Unter Uns!« von Maike Vollmer | 53

K APITEL 1 D ARSTELLUNG UND S ELBSTINSZENIERUNG Perspektiven auf »Unter Uns!« — Zwischen Selbstinszenierung und dem Erscheinenlassen von Philipp Schaus | 67

Hörst du diese Stille? Interview mit Bettina Muckenhaupt Teil 1 | 79

Ohne Titel Monolog Bettina, Barbara trifft Bettina, Episode 3 | 81

Hörst du diese Stille? Interview mit Bettina Muckenhaupt Teil 2 | 85

Regieanweisung von Silke Z., Bonus Track, Special Episode | 88

Die falsche Realität von Antonio Cabrita | 89

Ich will Monolog Felix, Felix trifft Felix, Episode 1 | 91

K APITEL 2 U NMITTELBARKEIT , I MPROVISATION UND B ERÜHRUNG Und das ganz ohne Story, … oder? von André Zimmermann | 97

Die Unmittelbarkeit von Felix Marchand | 101

Briefe von Felix E-Mail-Austausch in der Probenpause, Felix triff Felix, Episode 1 | 103

Notation — Bewegungsmaterial von Silke Z., Felix trifft Felix, Episode 1 | 115

Zwischen Wahrnehmung, Vorstellung, Einbildung und Denken von Andrew Morrish | 117

»Lieber Andrew, bitte vervollständigen …« Regieanweisung von Silke Z., Andrew trifft …, Special Episode | 121

Über die Unmittelbarkeit von Jess Curtis | 123

Notation — Bewegungsmaterial von Silke Z., Solo Jess, Jess trifft Angus, Episode 2 | 125

Über die Unmittelbarkeit von Bettina Muckenhaupt | 127

Unkontrollierte Reflexion E-Mail von Felix Marchand an Silke Z. | 128

K APITEL 3 P OLITIK , T HEATERRAUM UND B IOGRAFIE Der ausgerenkte Arm von Thomas Linden | 133

Alphabetdebatten Notation, Felix trifft Felix, Episode 1 | 136

Warum autobiografische Performance? Interview mit Jess Curtis | 141

Speedwriting von Silke Z. und Alexandra Dederichs | 146

Die Freiheit der Anderen Brief an Silke Z. von Dominik Siebel | 149

Zuschauerbrief von Peter Paefgen | 159

K APITEL 4 A GING B ODY UND G ENERATION Generationenfragen | 165 Bildmaterial | 167 »Materialwiderstand« gegen The Aging Body — Einige Streiflichter von Helga Blazy | 169

Über Aging Body von Bettina Muckenhaupt | 185

Vier Fragen an Barbara Fuchs Vier Antworten von Barbara Fuchs | 187

Mein Körper und ich von Nathalie Zietek | 189

Facebook Dialog, Nathalie trifft Katie, Episode 4 | 192

Treffen auf Unterschiede Dramaturgische Überlegungen, Alexandra Dederichs, Justin trifft Stefan, Episode 5 | 195

Alphabetdebatten Notation, Barbara trifft Bettina, Episode 3 | 197

Acht Fragen Dialog, Jess trifft Angus, Episode 2 | 201

Bis die Show endet von Angus Balbernie | 203

Ohne Titel Monolog Justin, Justin trifft Stefan, Episode 5 | 206

K APITEL 5 S CHLUSSGESPRÄCH Schlussgespräch »Unter Uns!« mit Felix Marchand, Alexandra Dederichs und Silke Z. | 211

Bildmaterial | 228 Nachwort von Silke Z. und Alexandra Dederichs | 231

Autorinnen und Autoren | 233 Danksagung | 241

Vorwort: »Unter Uns!« Die Fortsetzung einer Performanceserie

2008. Ich stehe an der Bar in einem Theater in Groningen, Holland. Die Performance ist gut gelaufen, wir sind entspannt. Felix und Felix stehen neben mir. »Hey Silke, wir wollen mal ein Stück über uns machen.« Das ist der Anfang. Die Idee zweier Darsteller, der eine Tänzer, der andere Schauspieler, sich auf der Bühne zu präsentieren, sich zu zeigen, anders soll es werden, ein bisschen peinlich vielleicht … »Wir wollen wir selbst sein dürfen auf der Bühne und nichts repräsentieren«, sagt Felix. Oha. Das braucht ein Außenauge, denke ich. Das braucht Regie, das braucht Choreografie und Dramaturgie. Das braucht ein Konzept. »Ok, machen wir«, sage ich. Der Startschuss fällt für ein Projekt, das bis heute andauert. Wir bilden ein künstlerisches Team und beginnen 2009 mit unserer künstlerischen Forschung »Unter Uns! Das Generationenprojekt«. Den Beginn eines Probenprozesses und die Entwicklung einer Performance möchte ich künstlerische Forschung nennen. Wir gehen in den Raum und haben Fragen dabei. Haben Aufgaben zu lösen, Experimente zu formulieren und wir dokumentieren die Ergebnisse. Dann gehen wir in die nächste Probe, den nächsten Tag, haben neue Fragen und vielleicht

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»Unter Uns!« Künstlerische Forschung — Biografie — Per formance

ein paar Antworten auf alte Fragen, wir diskutieren, pegeln aus, ob wir zufrieden sind mit der Forschungsreise. Der Dialog zwischen den »Außenaugen« und den »Performern« ist wesentlich für diese Forschungsreise. Was fühlt der Performer? Was sehen die Außenaugen? Was erzählt uns das, was wir sehen, spüren und empfinden? Wir gleichen ab. »Und? Bist du jetzt Du auf der Bühne? Geht das? Wie fühlt sich das an?«, fragt die Dramaturgin. »Was berührt uns beim Zusehen? Was berührt mich und warum?«, fragt die Choreografin. Einige Fragen tauchen immer wieder auf. Da ist die Frage nach dem Autobiografischen, dem Privaten. Geht das denn überhaupt? Können wir im theatralen Raum privat sein? Oder bedeutet »auf der Bühne stehen« nicht per se »öffentlich« zu agieren. Da ist die Frage nach der Lüge oder Wahrheit, der Fiktion oder der Realität? Haben wir eine Präferenz beim Zuschauen? Merken wir, wenn wir auf der Bühne »belogen« werden mit angeblich so privaten und echten Anekdoten? Wird das »Verhältnis« zwischen dem Zuschauer und dem Performer anders wahrgenommen – unverstellter –, wird es unmittelbarer, wenn die Wahrheit mit im Spiel ist? Sorgt das Authentische gar dafür, dass es ein größeres Identifizierungspotenzial für das Publikum mit den Darstellern gibt? Oder sind es die Altersgruppen, die für ein Identifizierungspotenzial sorgen? Die Generationen, die sich mit ihresgleichen verbunden fühlen, mitfiebern – und hat die Unmittelbarkeit vielleicht auch so gar nichts mit der Art und Weise der Performer oder gar mit einer Methode der Performance zu tun?

Vor wor t

Diesen und anderen spannenden Forschungsfragen begegnen wir in dem »Unter Uns!«-Entstehungs- und Entwicklungsprozess immer wieder. Egal ob Tänzer, Schauspieler, Alt oder Jung, Mann oder Frau, wir stoßen alle an wesentliche Fragen, die wir versuchen im Probenprozess zu diskutieren und zu beantworten, aber irgendwie merken alle, dass in einem Projekt, das in ein Bühnenstück münden soll, nicht der richtige Ort gegeben ist, dies zu verhandeln, den Fragen wirklich auf den Grund zu gehen. The show must go on! Aber jetzt! Jetzt ist die Zeit, diese »liegengebliebenen« Interessen aufzugreifen und ihnen einen Platz und Aufmerksamkeit einzuräumen. »Unter Uns! Das Buchprojekt«. Es soll Platz schaffen für die Äußerungen unserer Gedanken. Eine Plattform für die Erweiterung und der nächste Schritt unserer künstlerischen Forschung sein. Hier darf geäußert, gedacht und gedichtet werden. Der Kreis der »Unter Uns!«-Performer und Macher wird in diesem Buch um den Kreis einiger Wissenschaftler in relevanten Themenbereichen erweitert. Wir wachsen. Wir gleichen ab, wir stellen gegenüber, wir improvisieren, wir fixieren, wir suchen nach der Sprache, die ausdrückt, was uns im künstlerischen Prozess begegnet ist. Wir geben Preis, wir zeigen uns hier auch, wie wir uns auf einer Bühne nicht zeigen. 2014. Das Buch ist nicht über eine künstlerische Forschung, es ist künstlerische Forschung, es ist nicht über Biografie, es ist Biografie, und es ist nicht über Performance, es ist eine Performance. Silke Z.

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Projektdarstellung »Unter Uns! Das Generationenprojekt«

Das Projekt — Die Fakten von Alexandra Dederichs

Die Performancereihe »Unter Uns! Das Generationenprojekt« besteht insgesamt aus fünf Episoden, zwei Specials (»Making of« und »Bonus Track«) und dem großen Serienfinale »Das Treffen« mit allen 13 Darstellern. Aus allen Altersklassen wird exemplarisch jeweils eine Generation unter die Lupe genommen: Generationen der Teenager, Erwachsene, Elterngeneration, Mit-50er- und 60plus-Generation. Die einzelnen Episoden sind einstündige Tanzperformance-Stücke, die als Einzelaufführung für sich stehen oder als Module in unterschiedlichen Konstellationen kombiniert werden können. Inspiriert von der Machart der sogenannten »Daily-Soaps« ist das Präsentationsformat des Generationenprojektes geprägt durch den Charakter des Seriellen. Mit der Performanceserie »Unter Uns!« wird das serielle Format aus den Film- und Fernsehmedien in das analoge Theater übertragen. Das wöchentliche oder gar tägliche »Verfolgen« einer Serie wird hier in den Theaterraum transferiert. Der spezielle Fortsetzungscharakter ist bei »Unter Uns!« zusätzlich durch das Thema »Älter werden« gegeben. So kann beispielsweise mit der Episode 4 »Justin trifft Stefan« – Teenager U20 eine Serie begonnen werden, in der die Darsteller mit jeder Episode älter werden und dann bei Episode 6 »Andrew trifft …« – Männer Ü60 endet. Die zu verhandelnden Inhalte der Generationen werden in jeder Folge von den Darstellern ihrem Alter entsprechend neu definiert. Bewusst liegt hierbei das Interesse darauf, sich thematisch von der Seite des Individuellen dem Allgemeingültigen zu nähern.

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Projektdarstellung »Unter Uns! Das Generationenprojekt«

Persönliche und autobiografische Themen der Darsteller verweben sich mit Klischees und kulturell-gesellschaftlichen Aspekten der Generationenfrage zu einer individuellen und subjektiven Bestandsaufnahme. Die direkte authentische Darstellung der Performances, die zur Identifikation einlädt, trifft auf die abstrakte Sprache des Tanzes. Ein anderes interessantes Präsentationsformat ist der serielle Marathon und die Vorstellung, über einen langen Abend zu einem Performanceabend für die ganze Familie einzuladen. In jeder Episode (egal in welcher Reihenfolge präsentiert) kann sich jeweils ein anderes Familienmitglied wiederfinden und mit der darstellenden Generation identifizieren, während die anderen Familienmitglieder vielleicht eine gewisse Distanz zu den gezeigten Inhalten empfinden. Diese Art des Theatererlebnisses soll zu spannenden Dialogen zwischen den unterschiedlichen Altersgruppen führen.

Das Projekt — Die Episoden

Episode 1 Felix trifft Felix – Männer Ü30 An der Schnittstelle zwischen Albernheit und Verantwortung Felix Marchand und Felix Voigt treffen aufeinander, scheinbar dilettantisch in ihrer Spontaneität, und setzen sich mit einer Gesellschaft auseinander, die von Ungewissheit dominiert ist. Sie sind »Ü30« und sollten langsam für ihr restliches Leben vorsorgen. Sie stehen an einem Wendepunkt. Dabei sind sie komisch, dynamisch, intelligent und verzichten auf jegliche konventionelle Bewegung. Sie debattieren über Kinder, Fitnessprogramme, Zuhause, Ex-Freundinnen und ihre unsichere Zukunft. Premiere: 24. September 2009, Live Music Hall, Köln

Episode 2 Jess trifft Angus – Männer Ü50 Jess Curtis und Angus Balbernie sind weise, manchmal auch ein bisschen peinlich, aber meistens ehrlich und mutig. Sie wissen es oft besser als die anderen, denn sie haben es selbst erlebt. Sie können warten, haben ein Ziel, ohne es formulieren zu wollen. Sie haben noch Fragen, aber die Antworten sind ihnen ausgegangen. Das Leben ist zu kompliziert, als dass man seinen Sinn in ein paar Worte fassen könnte. Premiere: 06. Oktober 2010, Studio 11, Köln

Episode 3 Barbara trifft Bettina – alleinerziehende, arbeitende Mütter Ü40 Bettina Muckenhaupt und Barbara Fuchs sind sich einig: Die Kinder sind das Beste, was ihnen passiert ist! Was sind schon die Geldsorgen, die

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Projektdarstellung »Unter Uns! Das Generationenprojekt«

müden Ränder unter den Augen und der ständige Betreuungsbedarf im Vergleich zum Mutterglück. Sie betrachten sich dabei selbstironisch und bewegen sich immer an den Abgründen ihres Alltags. Premiere: 01. Dezember 2011, Orangerie-Theater im Volksgarten, Köln

Episode 4 und 5 (Doppelfolge) Nathalie trifft Katie/Justin trifft Stefan – Teenager U20 Sowohl Nathalie Zietek und Katie Huck als auch Justin Marsiglia und Stefan Henaku-Grabski springen zwischen den Extremen ihrer Generation: Amok, Rausch, Facebook, Porno oder Karriere, Sicherheit und Familie. Die Vier wagen sich als Amateure auf die Bühne, mit viel Mut, Power und Risikobereitschaft und geben sich so widersprüchlich wie die Welt, in der sie leben. Premiere: 08. März 2012, Orangerie Theater im Volksgarten, Köln

Special Episode Bonus Track – Caro und Tonio, Das Paar Zwischen Selbstdarstellung und Rolle treffen Caroline Simon und Antonio Cabrita im Bonus Track stellvertretend für die Anfang-30-Jährigen aufeinander. Wie bei einem Bonus Track für eine Film-DVD erzählen sie als Tonio und Caro von Backstagegeschichten und Anekdoten aus den anderen Episoden. Dabei bewegen sie sich zwischen Lüge und Wahrheit. Sind sie ein Paar? Premiere: 23. Juni 2012, Barnes Crossing Freiraum für TanzPerformanceKunst, Köln

Special Episode Andrew trifft … The making of Zwischen Altersstarrsinn, Narrenfreiheit und tatsächlicher Reife In dieser Spezialausgabe des Generationenprojekts trifft Andrew Morrish auf sich selbst und auf die künstlerische Leiterin Silke Z. Er improvisiert stellvertretend für die Männergeneration der Ü60-Jährigen und thematisiert dabei unter anderem die Endlichkeit des Daseins. Ein Dialog zwischen Improvisation und Live-Regie lässt die Zuschauer die Entscheidungen, die zur Entstehung der Performance notwendig

Das Projekt — Die Episoden

sind, in Echtzeit mitverfolgen. So erhalten sie einen Einblick in die Machart und Arbeitsweise der »Unter Uns!«-Serie. Premiere: 01. Juni 2012, Studio 11, Köln

Serienfinale »Unter Uns!« Das Treffen Im Finale trifft das gesamte Ensemble der »Unter Uns!«-Serie aufeinander. Die einzelnen Generationen begegnen sich hier in einer großen Abschlussrunde. Fragen, Themen aus den Episoden werden aufgegriffen und neu verhandelt. Wie treten die einzelnen Generationen in Beziehung? Was für Kontakte, Prozesse, Widersprüchlichkeiten, Konflikte stecken in der Begegnung der Generationen? Wir gehen der Frage nach der Bedeutung von Generationenbeziehungen und ihrer Eigendynamik für die Individuen und für die Gesellschaft nach. Premiere: 28. September 2012, Tanzhaus NRW, Düsseldorf

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Das Projekt — Forschungsinteressen und Arbeitsmethoden von Silke Z.

Wesentlich für »Unter Uns!« ist der spezielle Zugang zu persönlichem Material und relevanten Inhalten der Darsteller, um an den oben genannten individuellen Kern des Einzelnen zu gelangen. Hierzu wird sich einer Herangehensweise und Methode bedient, die im Folgenden kurz dargestellt wird. Ein wesentliches Ziel der Performanceserie ist es, eine möglichst große Nähe zwischen den Darstellern und dem Publikum herzustellen. Die Inhalte, die thematisiert werden, sollen das Publikum vor allem auf der emotionalen Ebene ansprechen. Die Frage nach dem »Wie« einer unmittelbaren Kommunikation und einem direkten Verhältnis zum Zuschauer hat hier eine zentrale Bedeutung und bildet ein Forschungsinteresse des Projekts. Wie müssen wir die Performance gestalten, um den Zuschauer unmittelbar anzusprechen und zu berühren? Ist dabei die Authentizität wichtig? Ist es die Wahrheit der eigenen Biografie, die uns berührt? Muss die Darstellung der Selbstinszenierung Platz machen? Aus den oben dargestellten Überlegungen und Fragen zu den Verhältnissen im theatralen Raum ergab sich die Notwendigkeit einer besonderen Konzipierung der Performanceserie. Diese Konzipierung umfasst vor allem Rahmenbedingungen, die vor Beginn des Probenprozesses Anwendung finden.

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Projektdarstellung »Unter Uns! Das Generationenprojekt«

Hierzu soll an dieser Stelle vorab ein Überblick und anschließend ausführlichere Informationen gegeben werden.

R AHMENBEDINGUNGEN 1. Die Themen einer Episode bestimmen die Darsteller. 2. Innerhalb einer Episode treffen zwei Vertreter einer Generation aufeinander. 3. Die Darsteller einer Episode sind von gleichem Geschlecht. 4. Freiheit in der Umsetzung der Themen. 5. In einer Episode treffen jeweils ein Tänzer und ein Schauspieler aufeinander. 6. Kurze Produktionszeit. 1. Die Themen einer Episode bestimmen die Darsteller. Die Themen, die in einer Episode verhandelt werden, sind von den Darstellern selbst bestimmt. Es werden, wie beim Volkstheater, Themen aus dem realen Alltagsleben der Darsteller aufgegriffen, um damit Empathie zu erzeugen und eine Identifikation des Publikums mit den Darstellern möglich zu machen. Barbara und Bettina (Episode 3), die mit Beruf und Mutterschaft ihre Probleme haben, geben in der Performance sehr persönliche Einblicke in ihr Privatleben. In diesem Zusammenhang enthalten die Titel der einzelnen Episoden in aller Direktheit die echten Namen der Darsteller. 2. Innerhalb einer Episode treffen zwei Vertreter einer Generation aufeinander. Es wird mit zwei Vertretern einer Generation innerhalb einer Episode gearbeitet. Damit soll ermöglicht werden, sich innerhalb einer Generation auszutauschen. Das Hauptinteresse bildet die intensive Suche nach relevanten Themen einer Generation und nicht die Suche nach Unterschieden zwischen verschiedenen Generationen.

Silke Z.: Das Projekt — Forschungsinteressen und Arbeitsmethoden

3. Die Darsteller einer Episode sind von gleichem Geschlecht. Um diese intensive Suche möglichst nicht zu stören, sind die Darsteller einer Episode von gleichem Geschlecht. Dafür ausschlaggebend ist die Annahme, dass so ein grundsätzliches Verständnis für die Themen des gleichen Geschlechtes gegeben ist. 4. Freiheit in der Umsetzung der Themen. Die Themenwahl wird vorab nicht zensiert und die Umsetzung der einzelnen Themen auf der Bühne nicht formal eingeschränkt. Sprache und Bewegung sind gleichermaßen wichtig und willkommen. 5. In einer Episode treffen jeweils ein Tänzer und ein Schauspieler aufeinander. Die einzelnen Episoden werden jeweils von einem Tänzer und einem Schauspieler bestritten. Der Dialog verspricht dadurch interessanter zu werden, weil die Kommunikation der Darsteller untereinander sehr direkt, aber auch abstrahiert ablaufen kann. Viele Themen eignen sich einfach nicht zur Verarbeitung mit dem Medium der Bewegung und über andere Inhalte spricht man lieber nicht öffentlich. Da, wo die Sprache an ihre Grenzen stößt, kann der Körper übernehmen. 6. Kurze Produktionszeit. Die Produktionszeit der Episoden wird kurz gehalten. Zum einen soll damit verhindert werden, dass sich persönliches Material der Darsteller »abnutzt« und eine zu große Distanz zu den generierten Inhalten entsteht. Zum anderen sollen die Begegnungen der Darsteller untereinander »frisch« bleiben. Die Spontaneität, die ja auch einer Improvisation innewohnt, wird auf diese Weise geschützt. Wiederholungen werden vermieden. Dennoch muss das szenische Material geprobt und teilweise einstudiert werden. Schritte werden gelernt und reproduziert. Die Rahmenbedingung der kurzen Probenzeit trägt außerdem dazu bei, relativ schnelle Entscheidungen bei der Materialauswahl zu treffen.

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Projektdarstellung »Unter Uns! Das Generationenprojekt«

Darüber hinaus gehört zur Konzeption eine spezielle Arbeitsweise, die sowohl gezielt zur Vorbereitung als auch im Probenprozess angewendet wird.

Z UR A RBEITSWEISE Zur Materialbeschaffung notieren die mitwirkenden Schauspieler und Tänzer vorab die Themen, die sie zurzeit beschäftigen. Diese Notation passiert in einem einheitlichen Schema. Das Alphabet eignete sich sehr gut als solches zur Entwicklung von zunächst geschriebenem Material/ Brainstorming. Die Aufgabe an die Mitwirkenden lautet also: Was fällt dir – inhaltlich für dich relevant – zum Buchstaben A ein usw. Dabei sind die Darsteller nicht eingeschränkt in der Art und Weise der Wortwahl, wohl aber in der Anzahl der Wörter – es sollen keine Sätze gebildet werden, sondern prägnante Schlagwörter (A: Abitur, B: Betreuungsproblem, C: Cholesterinspiegel). Diese Notationen werden als Ausgangspunkt und Materialquelle genutzt. Diese Materialquelle ist die Grundlage für erste gemeinsame Improvisationen im Probenraum. Die Darsteller improvisieren mit dem Inhalt ihrer eigenen Buchstaben. Lediglich das Medium der Improvisation ist vorgegeben. Zur Auswahl stehen: Bewegung, Sprache, Körperbilder (Image) und ein Mix aus allen drei Kategorien. Zusätzliche Unterscheidung findet zwischen einer Soloimprovisation oder einer Duoimprovisation (z.B. ein Dialog, eine Debatte) statt. Diese Improvisationen werden von außen dokumentiert durch Mitschriften und Tonaufzeichnungen. Anschließend wird das Material selektiert und ausgewählt. Einige prägnante Schlagwörter aus der Improvisation werden weiterentwickelt. Teilweise wird aus den Improvisationen so eine reproduzierbare Komposition erarbeitet und bestimmte Parameter der Improvisation festgelegt. So entstehen einzelne Szenen, die zu einem Stück zusammengebaut werden.

Silke Z.: Das Projekt — Forschungsinteressen und Arbeitsmethoden

Diese Auswahl wird unter zwei wesentlichen Gesichtspunkten getroffen. Zum einen nach der Emotionalität des Materials; das bedeutet, dass das Material auf Anhieb berührt und Gefühle beim Betrachter auslöst. Das kann über eine intensive Körperlichkeit geschehen oder durch eine Unvollkommenheit der Bewegungen, die eine Verletzlichkeit des Darstellers zeigt. Zum anderen nach dem Potenzial einer Möglichkeit der Identifikation für den Betrachter. Außerdem wird das Material nach einer Art gesellschaftlicher Relevanz und damit einer unverstellten und unmittelbaren Kommunikationsmöglichkeit mit den Zuschauern »abgetastet«. Eine Art gesellschaftliche Relevanz wird von außen zunächst einmal behauptet, z.B. kann das Thema Betreuungsbedarf in der Episode Barbara trifft Bettina, alleinerziehende arbeitende Mütter als ein Thema angesehen werden, mit welchem sich viele allleinerziehende Mütter beschäftigen (müssen). Außerdem hat es in der Gesellschaft einen hohen »Bekanntheitsgrad«, ist ein »populäres« Thema und wird so auch von den nicht direkt »betroffenen« Zuschauern verstanden und eingeordnet werden können. Die Auswahl, die in den jeweiligen Episoden getroffen wird, ist also immer eine Mischung aus ganz persönlich-berührendem Material (körperlich und sprachlich) und Material, das in der Gesellschaft aktuell Thema ist. Im zweiten Schritt, dem der Fixierung des Materials, wird erneut genau geprüft, ob die zwei beschriebenen wesentlichen Kriterien (Emotionalität und Identifikation) Stand halten können oder ob durch die Einstudierung und Fixierung z.B. die Emotionalität des ursprünglichen Materials verloren geht. Diese Arbeit an der Fixierung und Festlegung der einzelnen Szenen entsteht immer in einem Dialog mit den Darstellern. Von außen geben wir Rückmeldung über das, was wir in den Wiederholungen der ursprünglich improvisierten Szenen sehen und spüren. Das gleichen wir dann ab, indem wir die Darsteller fragen, wie es sich anfühlt, etwas zu tun oder zu sagen. Es ist immer von großer Bedeutung, wenn das Material für den »Darsteller« erschlafft, und es ist dann Aufgabe der Regie, Wege zu suchen, die dem Darsteller ermöglichen Material lebendig zu halten.

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Projektdarstellung »Unter Uns! Das Generationenprojekt«

Es gibt anfängliche impulsive Improvisationen, die phantastisch sind, die bis ins kleinste Detail notiert werden und dennoch nicht rekapituliert werden können. Das Gefundene ist einfach verschwunden, erschließt sich nicht mehr und alle Versuche, es dennoch auszugraben, sind zum Scheitern verurteilt. Dann kann es eine Möglichkeit sein, mit bestimmten Rahmenbedingungen und kleineren Regeln und Absprachen eine Szene – auch in der Performance – improvisiert zu lassen. Dann wird in den Proben immer wieder herausgearbeitet, was das Wichtige an dem Material ist (z.B. eine physische Unvollkommenheit) und jede Improvisation wird daraufhin überprüft und gemeinsam besprochen. Der hier beschriebene Arbeitsprozess ist auch ein Prozess des EntstehenLassens und des Loslassens, immer im Dialog mit den Darstellern.

Das Alphabet — als Materialgrundlage F ELIX TRIFF T F ELIX — M ÄNNER Ü30 A – Albern sein B – Bauen C – Christus befragen D – Denken F – Frustriert im Bett liegen bleiben G – Gute Laune verbreiten H – Hokuspokus I – Sich irren J – Jammern K – Katastrophenfilme anschauen L – Liebe M – Masturbieren N – Nieten als Freunde haben O – Obszöne Witze reißen P – Peinlich sein Q – Querelen ertragen R – An Reinkarnationen glauben S – Schlecht sein T – Termine sausen lassen U – Ultralaut Musik hören V – Sich volllaufen lassen W – Wissen X – Aktenzeichen xy gucken Y – Yps-Hefte kaufen Z – Nach den Zeugen Jehovas suchen

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Projektdarstellung »Unter Uns! Das Generationenprojekt«

J ESS TRIFF T A NGUS — M ÄNNER Ü50 A – alone B – beating C – creation D – dying E – ending F – fucking tired of art institutions G – genius H – helpless I – injury J – joy K – kinetic L – leaving M – memories N – never gave up O – orpacity P – pain Q – queer R – rage S – sad T – tangled V – vanish W – wasted X – xerox Y – yes Z – zen

B ARBAR A TRIFF T B E T TINA — M ÜT TER Ü40 A – Alkohol B – Betreuungsbedarf C – Computer D – Demut E – Endhaltestelle F – Frauenarzt G – Gottlos

Das Alphabet — als Materialgrundlage

H – Haare I – Insel J – Jahre K – Kochrezepte L – Latte Macchiato M – Mama N – Nichts O – Ortswechsel P – Ping Pong Q – Quote R – Rasur S – Schwund T – Trennung U – Unheil V – Versicherungen W – Wut X – XY-Chromosom Y – Yoga Z – Zart

N ATHALIE TRIFF T K ATIE — TEENAGER U20 A – Anfangen B – Brüste C – Cool sein D – Depression E – Eltern F – Facebook G – Geld I – Individualität J – Jetzt K – Kleinigkeiten L – Leistung M – Meinung N – Naivitäten P – Politik Q – Qualität & Quantität

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Projektdarstellung »Unter Uns! Das Generationenprojekt«

R – Rebellieren S – Szene T – Träumen U – Unsicherheit V – Vorbild W – Wiederholen Z – Zusammenreißen

J USTIN TRIFF T S TEFAN — TEENAGER U 20 A – Arbeit B – Berufswahl C – Chaos D – Discos E – Erfolg F – Freunde G – Genießen H – Hass I – Intelligenz J – Justiz K – Krankheiten L – Liebe M – Marken N – Narben O – Offenheit P – Party Q – Qualitäten R – Rollen übernehmen S – Schauspiel T – Training U – Unglück V – Versagen W – Wahnsinn X – Xylometazolinhydrochlorid Y – Z – Zentral-Abitur

Bildmaterial

Auf den folgenden Seiten finden Sie Bildmaterial zu den jeweiligen Episoden. Da es sich um bewegtes Material handelt, finden Sie außerdem einen Vimeo-Link zu jeder Aufführung. Mit diesem Link und dem Passwort watch_it können Sie alle Arbeiten bei Vimeo im Internet ansehen.

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Felix trifft Felix, Episode 1, 2009//vimeo.com/54003545//Foto: © Meyer Originals

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Felix trifft Felix, Episode 1, 2009//vimeo.com/54003545//Foto: © Meyer Originals

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Jess trifft Angus, Episode 2, 2010//vimeo.com/27809135//Foto: © Meyer Originals

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Jess trifft Angus, Episode 2, 2010//vimeo.com/27809135//Foto: © Meyer Originals

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Barbara trifft Bettina, Episode 3, 2011//vimeo.com/52262799//Foto: © Meyer Originals

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Barbara trifft Bettina, Episode 3, 2011//vimeo.com/52262799//Foto: © Meyer Originals

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Nathalie trifft Katie, Episode 4, 2012//vimeo.com/38537757//Foto: © Meyer Originals

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Nathalie trifft Katie, Episode 4, 2012//vimeo.com/38537757//Foto: © Meyer Originals

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Justin trifft Stefan, Episode 5, 2012//vimeo.com/38537757//Foto: © Meyer Originals

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Justin trifft Stefan, Episode 5, 2012//vimeo.com/38537757//Foto: © Meyer Originals

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Special Episode, Bonus Track – Caro und Tonio, 2012//vimeo.com/45024098//Foto: © Meyer Originals

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Special Episode, Bonus Track – Caro und Tonio, 2012//vimeo.com/45024098//Foto: © Meyer Originals

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Special Episode, Andrew trifft …The making of, 2012//vimeo.com/44849748 & vimeo. com/44929357//Foto: © Meyer Originals

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Special Episode, Andrew trifft …The making of, 2012//vimeo.com/44849748 & vimeo. com/44929357//Foto: © Meyer Originals

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Serienfinale »Unter Uns!« Das Treffen, 2012//vimeo.com/51271913//Foto: © Meyer Originals

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Serienfinale »Unter Uns!« Das Treffen, 2012//vimeo.com/51271913//Foto: © Meyer Originals

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Probenskizzen, Serienfinale 2012

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Probenskizzen, Serienfinale 2012

Einleitung: Artistic Research, Künstlerische Forschung, Forschung in der oder durch die Kunst Eine Standortbestimmung für das Projekt »Unter Uns!« von Maike Vollmer

Artistic Research oder auch: Künstlerisches Forschen, Practice-Led oder Practice-Based Research in Arts, Forschung als Kunst und Kunst als Forschung, Forschung in, über und für die Kunst – diese und weitere Begriffe und Wendungen haben seit einiger Zeit im Kunstbetrieb, an künstlerischen Hochschulen und Akademien Konjunktur. Was schnell unter dem Begriff »Artistic Research« zusammengefasst wird, weist tatsächlich nicht nur diese terminologischen Unterschiede auf: Wer im Labor mit der chemischen Zusammensetzung bestimmter Farben experimentiert, betreibt eine andere Forschung als derjenige, der sich in Archiven vergräbt, Texte wälzt und mit dem recherchierten Material eine Installation erarbeitet, oder derjenige, der sich eine Woche lang mit einer Gruppe von Wissenschaftlern und Künstlern in einem »Künstlerlabor« einschließt und forscht. Artistic Research ist eine künstlerische Praxis und damit ein Teil kultureller Produktion, der vielfältige Formen annehmen kann. Genauso vielfältig wie die Praxis sich zeigt, scheint auch der theoretisch-wissenschaftliche Diskurs über künstlerische Forschung zu sein, der häufig in die künstlerische Praxis performativ eingearbeitet wird, genauer: in einem selbst-reflexiven Zug von ihr erforscht wird. Durch ihre kollaborativen Arbeitsformen und ihre Methoden überschreitet künstlerische Forschung die Grenzen der Disziplinen und stellt in diesem Zuge wiederum wissenschaftliche Forschungsmethoden und Standpunkte in Frage.

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Künstlerische Forschungsprozesse arbeiten an Diskursgrenzen und bringen bestimmte kulturelle Grundannahmen (z.B. der medialen Wahrnehmung, der Geschlechterverhältnisse, der Formen der Arbeit, der Subjekt-Objekt-Beziehung) zur Sichtbarkeit. Darüber hinaus gehen sie selbstreflexiv vor, indem sie ihre eigenen Produktionsbedingungen stets ausstellen, beleuchten, einsetzen, zeigen und in Frage stellen – um hier nur eine Möglichkeit der Selbstreflexivität zu nennen.1 Das Projekt »Unter Uns!« der Kölner Choreografin Silke Z. ist eine paradigmatische künstlerische Forschungsarbeit: ein themenorientiertes, inhaltlich motiviertes und überaus reflektiertes Vorgehen kombiniert mit der Entwicklung entsprechender Forschungsmethoden sowie spezifischen Strategien der Sichtbarmachung gesellschaftlicher Annahmen über das Altern, über den Begriff der Biografie und die Arbeit auf der Bühne. In der Auseinandersetzung mit diesem künstlerischen Forschungsprojekt möchte ich es im Folgenden von drei Perspektiven aus betrachten: Erstens möchte ich die Ebene derjenigen künstlerischen Praxis, die themenorientiert arbeitet, beleuchten und daraufhin ihre Verschränkung mit den spezifischen medialen Bedingungen aufzeigen. Auf dieser Ebene untersucht das Projekt »Unter Uns!« der Choreografin Silke Z. das Themenfeld von Biografie, Generation und Altern, welches sich mit dem Körper als Medium und als Forschungsobjekt verschränkt. Daraus hervorgehend möchte ich diejenige Ebene der künstlerischen Forschung aufzeigen, auf der die Künstler das Konzept und die medialen Bedingungen der Möglichkeiten der eigenen Praxis, des Forschens, untersuchen. Sie stellt die Frage nach der Medialität und Materialität der Forschungsarbeit, also die Frage: Welche Rolle spielen Medien (in diesem konkreten Fall: die Bühne/der Bühnenraum) und ihre spezifische Medialität im Forschungsprozess? Diese Perspektive bildet gewissermaßen das Pendant zur ersten: Hier steht nicht die Thematik im Vordergrund, diese ist aber in die Erforschung der medialen Bedingungen eingebunden. Die 1 | Aufgabe der künstlerischen Forschung könnte es nämlich auch sein, über Selbstreflexivität zu forschen. Das Infragestellen der Produktionsbedingungen, der Bedingungen der Möglichkeiten der eigenen Forschung jedoch scheint mir konstitutiv für künstlerische Forschung zu sein. Dies kann ich an dieser Stelle nicht weiter ausführen.

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Fragen sind also: Was bedeutet es, auf der Bühne zu forschen? Wieso eignet sich die Performance als Forschungsinstrument und zur Darstellung des Resultats? Konkret für das Projekt »Unter Uns!«: Was bedeutet hier Unmittelbarkeit der Kommunikation auf der Bühne? Eignet sich die Bühne in besonderem Maße zur Erforschung des Themas Generation und Biografie? Was bedeutet es, sich selbst oder Teile der eigenen Biografie auf der Bühne »darzustellen«, gibt es ein Mehr an Authentizität als in anderen Medien? Und drittens sollen Tendenzen des wissenschaftlich-theoretischen Diskurses über künstlerische Forschung knapp umrissen werden, um einen theoretischen Standpunkt zu dem Projekt »Unter Uns!« einzunehmen und gleichzeitig Rückschlüsse über künstlerische Forschung/Artistic Research im Allgemeinen zu machen. Es handelt sich hier um eine heuristische Trennung der Ebenen. Sie ist vielmehr eine Vorgabe der Perspektiven auf die Forschungsarbeit als eine wirkliche Trennung. Ziel ist es, die diffuse Verwobenheit von künstlerischer Praxis und theoretischem Diskurs sichtbar zu machen: Die drei Ebenen – themenorientierte künstlerische Praxis und mediale Reflexion, sowie die Reflexion über den eigenen Arbeitsprozess in der künstlerischen Forschung und der wissenschaftlich-theoretische Diskurs – überlagern sich im künstlerischen Forschungsprozess. Sie sind gleichzeitig »aktiv« und greifen ineinander: Die Künstler entwickeln ihre Strategie der Sichtbarmachung entlang einer Thematik, die Strategie wiederum ist nicht unabhängig vom Medialen zu denken und die forschenden Künstler sind sich durchaus darüber bewusst, dass es einen Diskurs über Artistic Research gibt und sie Teil desselben sind. Sie begreifen sich als Forschende und handeln als Forschende. Der theoretische Diskurs über Artistic Research steht nicht außerhalb der künstlerischen Praxis, man könnte auch sagen: Theorie und Praxis sind hier nicht voneinander zu trennen. Dies ist möglicherweise genau der Punkt, an dem es zur Diffusion kommt. Man möchte glauben, es gäbe drei Gruppen von Beteiligten: erstens Künstler, die einer wie auch immer gearteten künstlerischen Praxis nachgehen (und gar nicht von sich behaupten zu forschen); zweitens forschende Künstler, deren Forschungsgegenstände sowohl gesellschaftliche Diskurse sind als auch in einem selbstreflexiven Zug die Kunst und die eigene Praxis; und drittens Kritiker, Kuratoren und wissenschaftliche Forscher, die wiederum über künstlerische Forschung reflektieren und diese untersuchen. In künstlerischer Forschung trennen sich diese Grup-

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pen jedoch nicht (was sich auch an dem hier vorliegenden Band zeigt). Durch die kollaborative Arbeitsform (auch an diesem Band) verweben sich künstlerisches Forschen und der theoretische Diskurs schon über die Beteiligten.

THEMATISCHE F ORSCHUNG — THEMENORIENTIERTES F ORSCHEN »Unter Uns! Das Generationenprojekt« – so lautet der Titel des Projektes, das Anlass für diesen Band ist. Über drei Jahre (2009-2012) forschte die Kölner Choreografin Silke Z. gemeinsam mit 13 Darstellern zum Themenfeld Generation, Altern und Biografie. Dabei geht sie nach einer strikten Versuchsanordnung vor: Jeweils zwei Vertreter einer Generation treffen aufeinander, zunächst im Forschungs- und Probenprozess und danach auf der Bühne, im Resultat. Das Aufeinandertreffen dieser Generations-Stellvertreter nennt die Choreografin »Episode«. Als Episode fügt sich das einzelne Stück in den größeren Forschungsrahmen ein. Nach drei Regeln werden die Darsteller ausgewählt: Erstens müssen beide von gleichem Geschlecht sein. Zweitens sollte sich das Paar aus jeweils einem Tänzer und einem Schauspieler zusammensetzen. Drittens sollte das biologische Alter im selben Jahrzehnt liegen (Generation Ü50, beispielsweise).2 Ziel der Forschung ist es, über jeweils zwei Darsteller etwa gleichen Alters Gemeinsamkeiten einer Generation herauszufiltern und somit eine Generation zu umreißen, zu umschreiben, darzustellen. Es soll nicht ex negativo die eigene Generation durch Abgrenzung zu einer anderen definiert werden. Es geht nicht darum zu zeigen, wie eine andere 2 | Die Choreografin weicht zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt ihrer Forschungsarbeit von dieser strikten Versuchsanordnung ab, z.B. sehen wir in den Special-Episoden einmal ein heterosexuelles Paar, ein anderes Mal den über 60 Jahre alten Andrew Morrish mit der Choreografin selbst. Wieso entscheidet sie, die Anordnung zu ändern? Liegt es daran, dass die Themenschwerpunkte sich verschoben haben? Ging es zu Anfang um die Frage der Generationen, des Alterns, der Biografie, so liegt das Interesse möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt auf Fragen der Medialität auf der Bühne (Unmittelbarkeit) und der Frage der Authentizität und der Reflexion des eigenen Forschungsprozesses.

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Generation sich verhält, bewegt, sprachlich ausdrückt, welche Werte sie hat. Es geht darum, über die eigene Biografie, über die individuellen Erfahrungen die gemeinsamen und über diese schließlich die Erfahrungen der eigenen Generation aufzudecken und mitzuteilen. Silke Z. gibt in ihrer Versuchsanordnung zur Erforschung dieser Thematik zwei Medien zur Auswahl, um die Erfahrungen mitzuteilen: Analog zu der Vorgabe, einen Tänzer und einen Schauspieler pro Episode zu wählen, stehen hier als Medien Bewegung/Tanz und Sprache zur Verfügung.3 Im Folgenden möchte ich die Medien Bewegung/Tanz und Sprache in ihrem jeweiligen Verhältnis zur Biografie betrachten. Biografie (griech. ơƨƮƢƯƠƴрƠ, von ơрƮư bíos = Leben, gráphein = schreiben) bedeutet wörtlich übersetzt: das Leben schreiben. Die Biografie ist die mündliche oder schriftliche Beschreibung eines Lebenslaufes. Wird das eigene Leben beschrieben, spricht man von Auto-Biografie. Sicher müssen wir in Bezug auf das Projekt »Unter Uns!« sagen, dass es sich eher um autobiografisches Material handelt denn um Auto-Biografien. Es geht hier ja keineswegs darum, den Lebensweg eines Darstellers nachzuzeichnen, sondern die Fragmente der Biografien der Darsteller, die hier sprachlich und tänzerisch übermittelten Erfahrungen, sind schlichtweg Ausgangsmaterial innerhalb der Forschungsarbeit über die verschiedenen Generationen. Wie ist nun eigentlich das Verhältnis zwischen dem Leben Schreiben (Biografie) und der Bewegung zu fassen? Was bedeutet es, wenn das Biografische nicht in Sprache gefasst, sondern in Bewegung, in Tanz verfasst wird? Ich möchte dieses Verhältnis über eine Gemeinsamkeit von Biografie und Bewegung beleuchten: Vergegenwärtigen wir uns, dass Bewegung auf der Bühne (und auch in der Probe) nicht als einzelne zu betrachten ist, sondern immer nur als ein Aufeinanderfolgen von Bewegungen, die eine wie auch immer geartete Choreografie hervorbringen. Wenn Tanz oder Bewegung (auf der Bühne) geschieht, dann entwickelt sich eine 3 | Die Choreografin Silke Z. selbst unterscheidet zwischen drei zur Verfügung stehenden Medien: Bewegung, Sprache, Körperbilder (»Images«). Zusätzlich ist eine Mischung aus allen drei Medien möglich. Ich möchte an dieser Stelle behaupten, dass die Körperbilder eine Subkategorie von Bewegung sind. Wenn ich hier also über Bewegung schreibe, dann denke ich sogar auch an Körperbilder, denn sie sind das, was von der Bewegung am leichtesten in Sprache zu fassen ist und daher in Erinnerung bleibt.

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Choreografie. »Choreographie ist ein Versuch, als ›graph‹ zu halten, was nicht haltbar ist – Bewegung. ›Choreographie‹ bedeutet zum einen Bewegungsschrift als Notat; und ›Choreographie‹ meint zum anderen auch den Text einer Bewegungskomposition. Choreographie als Schreiben von Bewegung und über sie, als Gedächtnisarbeit […].« (Brandstetter 2000: 104) Im Schreiben treffen Biografie und Choreografie aufeinander – und dies nicht nur aufgrund des gemeinsamen Wortstammes (griech. graphein = Schreiben). Die Verstrickungen scheinen etwas komplizierter: Choreografie, als Bewegungskomposition, stellt einen Spezialfall von Biografie dar, oder besser: von biografischer Arbeit. Weil Choreografie ein Schreiben mittels Bewegung ist (und nicht mittels Sprache oder Schrift oder Film). Es ergibt sich ein anderes biografisches Arbeiten als das Arbeiten mittels Sprache. Im Medium Sprache kann das Gesagte losgelöst vom Verfasser betrachtet werden, es lässt sich abstrahieren. Die Bewegung wird jedoch erst durch den Körper des Darstellers erzeugt, ist nicht von ihm zu trennen, bleibt in diesem Sinne konkret und ist auch nur als solche, nämlich konkret, erfahrbar. In dieser Art der Biografie müssen die Bewegungen stets aufs Neue hervorgebracht, aktualisiert werden. Choreografie ist immer schon gleichzeitig Biografie, oder besser: Choreografisches Arbeiten ist immer biografisches Arbeiten, weil der Körper das Archiv der Bewegungen ist und es im Bewegungsvollzug keine Differenz gibt zwischen eigenen Bewegungen und nicht-eigenen oder »fremden« Bewegungen. Jedoch gibt es diese Differenz sehr wohl in der Erinnerung von Bewegung: Hier entsteht eine Qualität von Bewegung, die es möglich macht, zwischen persönlichen, individuellen und eigenen Bewegungen und nicht-eigenen, fremden Körper- und Bewegungsbildern zu unterscheiden. An dieser Stelle sehen wir einerseits die Bewegungen des individuellen Körpers des Darstellers und andererseits Bewegungs- und Körperbilder wie ein Muster, stellvertretend für eine Generation. Im performativen Akt der Hervorbringung von Bewegung ist es gleich, wo die Bewegung ihren Ursprung hatte, wie sie angeeignet oder bei wem abgeschaut wurde. Im Vollzug wird die Bewegung dem Darsteller zu eigen, sie wird seine eigenste. Das heißt nicht, dass Bewegung keinen individuellen Ursprung hätte. Sie ist sogar höchst individuell. Doch ist jede Bewegung gleichzeitig auch immer eine angeeignete und hierin liegt das eine Generation Verbindende. Bewegung ist nicht möglich ohne den Körper, der sie hervorbringt. Bewegung ist nicht losgelöst zu denken. Jede Choreografie ist nicht nur

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ein Schreiben über Bewegung, sondern immer auch ein Mitschreiben des lebendigen Körpers, des lebenden und gelebten Körpers, der sie hervorbringt.4 In diesen Körper sind die Biografie und die Generation als individuelle und als gemeinsame Bewegung eingeschrieben. Wenn also Brandstetter behauptet, dass »Choreographie […] ein Versuch [ist], als ›graph‹ zu halten, was nicht haltbar ist«, und dabei an die Unmöglichkeit der Wiederholung, die Ereignishaftigkeit, den ephemeren Charakter von Bewegung denkt, dann möchte ich dies analog für die Biografie formulieren: Biografie ist ein Versuch, als »graf« zu halten, was nicht haltbar ist – Leben. Eine Biografie in Form von Choreografie wäre demnach eine Dopplung des Nicht-Haltbaren. Wieso also sollte man versuchen, die flüchtigen Erfahrungen eines Lebens in einem Medium zu bearbeiten, das selbst schon nicht haltbar ist, das ebenso ephemer ist und sich der Archivierbarkeit entgegenstellt? Dieser Versuch macht nur dann Sinn, wenn es gar nicht darum geht, etwas festzuhalten und zu archivieren.5 Und deswegen macht dieser Versuch auch für das Projekt »Unter Uns!« Sinn. Denn hier dient die Choreografie als Material, über das die Gemeinsamkeiten einer Generation erforscht werden. Es geht hier nicht um das Festhalten von Erfahrungen, sondern darum, sie sichtbar zu machen. Das Bewegungsmaterial ist immer sinnlich-leiblich und zugleich in seiner Geschichte präsent. Im Bewegungsmaterial, und damit auch im biografischen Material, kann sich daher das Material einer Generation zeigen. Dieses herauszufiltern, die Unterschiede zwischen Individuellem und Generationsverbindendem, die Geschichte und Geschichtlichkeit des Körpers und der Bewegungen zu erkennen, und zwar in der Qualität des Materials, – dies ist die eigentliche Forschungsarbeit der Darsteller, der Choreografin und der Dramaturgie. 4 | Jeder Darsteller von »Unter Uns!« bringt seine eigene individuelle Sammlung von Bewegungserinnerung mit sich (Silke Z. beschreibt diese Sammlungen häufig als »Koffer« der Darsteller: »[…] Die müssen etwas im Koffer haben. Und wir müssen denen dann sagen, was sie auspacken sollen, und was sie im Koffer besser drin lassen sollten.«). 5 | Der Versuch macht auch dann Sinn, wenn es um die Archivierbarkeit geht. Wenn man nämlich das Archiv als Medium untersuchen möchte, wenn es um die Archivierbarkeit von Tanz und Bewegung geht. Die Frage der Archivierbarkeit ist einer der Forschungsbereiche der in Deutschland noch jungen Tanz- und Bewegungswissenschaft.

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Um das Verhältnis von Biografie und Sprache zu beschreiben, möchte ich noch einmal auf den Begriff der Biografie und seine wörtliche Übersetzung hinweisen: »Leben schreiben«. Ich denke hier Sprache als zwei mögliche Formen, als Schrift einerseits (so wie schon in dem Begriff Biografie enthalten) und als Sprechakt/Rede (wie in dem Projekt »Unter Uns!« ausgeführt). Mit der schriftlichen Fixierung des Lebens einer Person wird eine Distanz zwischen den Erfahrungen und ihren Beschreibungen, eine Distanz zwischen dem Leben und der Schrift buchstäblich eingeschrieben. Was aber, wenn wir Sprache als Vollzug denken? Gemeint ist das Sprechen, der Akt des Sprechens auf der Bühne. Hier wird die Sprache erst durch den Körper, die Stimme des Darstellers hervorgebracht. Sprache ist eine Aktualisierung, das Hervorbringen eines jeden Satzes ist ein Aktualisieren von Erinnerung. Und suggeriert wird hier durch die Stimme und den Körper: Unmittelbarkeit und Authentizität. Was passiert aber, wenn die Darsteller lügen? Wenn nicht die tatsächlich gemachten Erfahrungen in Worte gefasst werden, sondern schlichtweg erfundene? Was durch den Einsatz von Sprache als Sprechakt passiert: Der Begriff einer Biografie als Schrift wird ins Wanken gebracht. Der Sprechakt obstruiert die Entstehung einer Biografie als Schrift, indem in ihm Nähe und Distanz zum Biografischen, die Differenz zwischen Eigenem und Fremden, zwischen tatsächlich gemachten und erlogenen Erfahrungen, und das Verhältnis von Darstellung und Authentizität auf der Bühne verhandelt wird. Aber damit wird die Rede nicht in einen höheren Rang als die Schrift gehoben. Gerade weil wir es hier mit Lügen, mit Erfundenem, mit Fiktionen und gleichzeitig mit tatsächlich durchlebten Erfahrungen, mit Erinnerungen zu tun haben, die in diesem performativen Akt nebeneinander hervorgebracht werden, wird hier unser Glaube an die Wahrheit der Rede, unsere Fiktion der Unmittelbarkeit und Authentizität angekratzt. Auf diese künstlerische Weise wird hier unser phono-logozentristisches Weltbild hinterfragt.

R EFLE XION DER A RBEITSPROZESSE Die Episode »Andrew trifft … Männer Ü60« bezeichnet die Choreografin Silke Z. selbst als »Making of« des Gesamtprojektes »Unter Uns!«. Dieses Mal treffen nicht zwei Vertreter einer Generation aufeinander, sondern

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der über 60-jährige Performer Andrew Morris trifft auf die Choreografin. In dieser Episode geht es weiterhin um die Frage der Generationen, in diesem Fall um die Erfahrungen der Generation über 60. Aber noch viel mehr geht es um das Aufzeigen der konkreten Arbeitsweise und des Arbeitsprozesses des Projekts »Unter Uns«. Das Arbeiten im Probenraum, die Recherche und Entwicklung von Material (als Sprache und als Bewegung) durch Improvisation und das Verhältnis von Choreograf und Darsteller bilden den inhaltlichen Fokus dieser Episode. Die Arbeitsprozesse in dem Projekt »Unter Uns!« zeichnen sich durch eine kurze Probenzeit und ein hohes Maß an Improvisation aus. In der Episode »Andrew trifft …« ist die »Probenzeit« noch weiter eingekürzt, gewissermaßen auf das Minimum reduziert: Sie findet nämlich als Aufführung vor den Augen der Zuschauer statt. Probe, Inszenierung und Aufführung finden zeitgleich statt, sie fallen zeitlich und räumlich ineinander. Was bedeutet dies für den Prozess der Materialentwicklung durch Improvisation? Was passiert, wenn die Improvisation als Materialentwicklung vor Zuschauern gezeigt wird? Annemarie Matzke beschreibt die Materialentwicklung durch Improvisation in der Probe als einen Prozess der Beobachtung und Entfremdung: »Indem sich die Schauspieler einer Aufgabe stellen, deren Ausgang offen ist und nicht vorgegeben, entsteht eine Überlagerung von Produzieren und Rezipieren. Wer improvisiert, beobachtet sich selbst in seinem Tun, sucht danach, sich dem Unvorhergesehenen der Darstellungsaufgabe aber auch seines Handelns selbst auszusetzen, sich überraschen zu lassen vom eigenen Tun, das damit auch immer zu etwas Fremden wird.« (Matzke 2010: 172) In der besonderen Situation der Zusammenführung von Probe, Inszenierung und Aufführung beobachtet der Darsteller sich selbst und er wird beobachtet durch das Publikum. Die Zuschauer werden zu Zeugen dieser Distanzierung, des Fremdwerdens des eigenen Materials.6 Die Anwesenheit von Publikum bei Proben ist an sich nichts Außergewöhnliches. Auch in sogenannten Work in Progresses gewähren Choreografen und Regisseure dem Publikum Einblicke in ihren Arbeits- und Probenprozess. Die Episode »Andrew trifft …« ist aber kein Work in Progress, denn sie geht über die bloße Teilhabe des Publikums am Probenpro6 | Es wäre an dieser Stelle interessant, die Unterschiede zu einer öffentlichen Probe zu untersuchen.

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zess hinaus. »Andrew trifft …« findet nicht im Probenraum, sondern auf der Bühne statt, mit spezieller Beleuchtung und Beschallung, mit einem Publikum. Hier wird der Arbeitsprozess, der ja selbst aus der Materialentwicklung, der Inszenierung und der Aufführung besteht, in Szene gesetzt, ohne dabei die Freiräume für die Materialentwicklung einzuschränken. Arbeits- und Forschungsstrategien vermischen sich hier mit Inszenierungsstrategien, so dass wir in einen Raum der Ununterscheidbarkeit von Forschung und Darstellung treten. Es ist ein Beobachten und sich Fremdwerden, ein Reflexivwerden, eine Reflexion über die eigene Forschungsarbeit, die zugleich stattfindet.

S TANDORT — S TANDPUNK T — M ARKIERUNG Dass der Begriff Künstlerische Forschung eine derartige Konjunktur erlebt, ist in großen Teilen der hochschulpolitischen Debatte um die Einführung von PhD- und Promotionsstudiengängen an europäischen Kunsthochschulen und Akademien zuzurechnen. Diese Konjunktur deutet aber auch auf Umbrüche in Bezug auf den Wissensbegriff hin und zeigt, dass bestimmtes »gesichertes Wissen« verunsichert wird und sich produktive Unbestimmtheiten einstellen. Sie zeigt, dass Wissen nicht (mehr) einfach Erkenntnisgewinn und Erkenntnissicherung ist und quantitativ angesammelt wird, sondern dass Wissen »produziert« wird und zwar auch in den oft so unübersichtlichen Produktionsprozessen künstlerischer Praxis. Ein Teil des Diskurses über künstlerische Forschung nimmt sich wissenschaftliche Forschung als Ausgangspunkt, um sich dem Phänomen künstlerischer Forschung zu nähern: Es wird versucht, über den Begriff der wissenschaftlichen Forschung die Spezifika künstlerischer Forschung zu erarbeiten. So werden denn auch wissenschaftliche Maßstäbe (systematische Suche nach Erkenntnissen, Offenlegung der Methoden, nachprüfbare Aussagen, Dokumentation der Forschungsergebnisse) an die künstlerische Forschung angelegt (vgl. z.B. Borgdorff 2007, 2009), künstlerische Praxis wird mit wissenschaftlicher Praxis verglichen und ihre gegenseitige Beeinflussung untersucht (Nordmann 2009).7 7 | Über den Vergleich soll die Besonderheit künstlerischer Forschung erarbeitet werden. Es geht hier keineswegs darum, wissenschaftliche oder künstlerische Forschung auf ihren Wahrheitsgehalt o.ä. hin zu bewerten.

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Ich möchte meine hier aufgeführten theoretischen Überlegungen innerhalb der Pluralität der Ansätze zu künstlerischer Forschung im Sinne einer Markierung verstehen: Eine Positionierung innerhalb des Kontextes Artistic Research, die jedoch keine allgemeingültige Definition künstlerischer Forschung zur Folge hat. »Mit der Markierung wird etwas kenntlich gemacht, tritt etwas hervor, gelangt überhaupt erst zur Wahrnehmbarkeit. Prozesse der Markierung sind solche der Produktion und Sichtbarmachung kulturellen Sinns, durch sie und in ihnen werden kulturelle Topographien produziert und ausgestaltet.« (Dietz/Skrandies 2007: 10) In meinen Betrachtungen des Forschungsprozesses im Projekt »Unter Uns!« habe ich bewusst versucht, den Vergleich mit wissenschaftlichen Forschungsprozessen zu vermeiden. Denn es geht im künstlerischen Forschungsprozess dieser Art 8 – und diese Art möchte ich Artistic Research nennen – nicht darum, allgemeingültige Aussagen zu machen. In der Untersuchung der Generationen werden Gemeinsamkeiten einer Generation herausgearbeitet, aber die Generation wird nicht auf diese Gemeinsamkeiten reduziert. Die Forschenden sind leiblich-sinnlich spürbar und bleiben irreduzibel in der ästhetischen Erfahrung dieser Forschungssituation. »Die Forschung richtet sich auf das Erkennen, die Kunst auf das Erfahren. Selbst wenn die künstlerische Tätigkeit sehr wohl zum Gewinn neuer Erkenntnisse führen kann, ist ihr Hauptanliegen nicht das Erkennen, sondern die Eröffnung von Möglichkeiten der Erfahrung. Das bedeutet aber nicht, dass die künstlerische Praxis nicht streng vorgeht. Ihre Strenge ist jedoch nicht auf das Erkennen, sondern auf das Sinnlich-erfahrbar-Machen ausgerichtet.« (Toro-Perez 2010: 38) Artistic Research möchte ich diejenige künstlerische Praxis nennen, deren Schwerpunkt die Erforschung des »Sinnlich-Erfahrbar-Machens« durch das Sinnlich-Erfahrbare ist. Für diese Praxis bezeichnend ist es, das eigene Handeln, die eigene Forschungsarbeit sichtbar zu machen und zu reflektieren – und zwar mit den Möglichkeiten, die die künstlerische Praxis bereithält. Einige Möglichkeiten haben wir auf der Bühne erfahren. Eine andere Möglichkeit – die schriftliche Auseinandersetzung – findet sich in diesem Sammelband. 8 | Es gibt durchaus andere Formen künstlerischer Forschung, z.B. solche, in denen künstlerische Verfahren für wissenschaftliche Forschungszwecke nutzbar gemacht werden.

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L ITER ATUR Borgdorff, Henk (2009): »Die Debatte über Forschung in der Kunst«. In: Rey, Anton/Schöbi, Stefan (Hg.): Künstlerische Forschung. Positionen und Perspektiven. Subtexte 03. Zürich: Zürcher Hochschule der Künste. 23-51. Borgdorff, Henk (2007): »Der Modus der Wissensproduktion in der künstlerischen Forschung«. In: Gehm, Sabine/Husemann, Pirkko/ von Wilcke, Katharina (Hg.): Wissen in Bewegung. Bielefeld: transcript. 73-80. Brandstetter, Gabriele (2000): »Choreographie als Grab-Mal. Das Gedächtnis von Bewegung«. In: Brandstetter, Gabriele/Völckers, Hortensia (Hg.): Re-Membering the Body. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz. 102-130. Dietz, Simone/Skrandies, Timo (2007): »Einleitung: Medientheorie im Spannungsverhältnis von Theoriebildung und Institutionalisierung«. In: Dies. (Hg.): Mediale Markierungen. Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken. Bielefeld: transcript. 7-11. Matzke, Annemarie (2010): »Der unmögliche Schauspieler: Theater-Improvisieren«. In: Bormann, Hans Friedrich/Brandstetter, Gabriele/ Matzke, Annemarie (Hg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Bielefeld: transcript. 161-182. Nordmann, Alfred (2009): »Experiment Zunkunft – Die Künste im Zeitalter der Technowissenschaften«. In: Rey, Anton/Schöbi, Stefan (Hg.): Künstlerische Forschung. Positionen und Perspektiven. Subtexte 03. Zürich: Zürcher Hochschule der Künste. 8-22. Toro-Pérez, Germán (2010): »Zum Unterschied zwischen künstlerischer Forschung und künstlerischer Praxis«. In: Caduff, Corina/Siegenthaler, Fiona/Wälchli, Tan (Hg.): Kunst und künstlerische Forschung. Zürich: Scheidegger & Spiess. 32-41.

Probenanweisung 1 STÖRE DIE PERFORMER UND BEREITE IHNEN UNBEHAGEN AUF DER BÜHNE!

Kapitel 1 Darstellung und Selbstinszenierung

Perspektiven auf »Unter Uns!« — Zwischen Selbstinszenierung und dem Erscheinenlassen von Philipp Schaus

Zwei Frauen stehen auf der Bühne. Sie befinden sich nah beieinander und wenden dem Zuschauer den Rücken zu. Scheinbar grundlos beginnen die beiden leise zu kichern. Sie kichern so leise, dass ich mir erst unsicher bin, ob ich richtig beobachtet habe. Kichern die beiden? Das Kichern wird lauter und eindeutiger. Die beiden Frauen blicken sich in die Augen, wenden ihre Blicke voneinander ab und brechen in amüsiertes Lachen aus. Sie lachen immer lauter. Sie halten sich dabei Mund und Bauch. Immer wieder versuchen sie sich zu beherrschen und ihr Lachen zu unterdrücken. Das will aber einfach nicht funktionieren. Wieder brechen sie lauthals in Gelächter aus. Dabei wenden sie sich nach und nach mir, dem Zuschauer, zu. Je mehr das Lachen der beiden Frauen anschwillt, desto mehr öffnen sie sich dem Zuschauer, desto mehr wenden sie sich dem Zuschauer zu. Auf diese Weise gestalten sich die ersten Minuten der Episode »Barbara trifft Bettina«. Es macht Spaß, den beiden Frauen auf der Bühne beim Lachen zuzusehen. Ich versuche zu verstehen, worüber die beiden Performerinnen Barbara und Bettina so lachen. Ihr Lachen ist ansteckend. Als Zuschauer bin ich mindestens amüsiert über den Spaß, den beide zu haben scheinen. Zeitweise muss ich sogar mitlachen. Als die beiden Frauen es geschafft haben, ihr Gelächter unter Kontrolle zu bringen, durchbricht Barbara die belustigte Atmosphäre des Gelächters mit der Aussage: »Ich trinke am liebsten Rotwein!« So entfaltet sich ein Dialog über die unterschiedlichen Sorten von Bier, Wein, Cocktails und Schnaps. Wer mag was, wie viel und wie oft? »Eigentlich trink’ ich alles« gibt Barbara mit verschmitztem Lächeln zu.

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Mit dieser Art von Zugeständnissen seitens der Frauen werde ich während der Performance vermehrt konfrontiert. Unverblümt geben die beiden Informationen preis über die demenzkranke Mutter, die Betreuungsprobleme für die Tochter, die ausbleibende Anerkennung für die Erziehung des Sohnes und die Tatsache, als alleinerziehende Mutter über 40 einfach keinen Mann zu haben. »Ich persönlich habe mir das Träumen ja abgewöhnt«, äußert Bettina, während sie in einem Monolog über die erforderlichen und die verzichtbaren Eigenschaften ihres Traummannes sinniert. Die Aussagen, die Barbara und Bettina auf der Bühne treffen, sind aufgeladen mit Glaubwürdigkeit. Die Anekdoten, die erzählt werden, wirken echt. Der Blick auf den Programmzettel verrät, dass die beiden Frauen, von denen die Episode »Barbara trifft Bettina« gespielt wird, tatsächlich Barbara Fuchs und Bettina Muckenhaupt heißen. Daraufhin stellen sich mir Fragen, die danach drängen, das auf der Bühne Gesehene einzuordnen. Sind die beiden Frauen sie selbst auf der Bühne? Sind sie deswegen so glaubwürdig? Was von dem Erzählten ist wahr und was ist unwahr? Von diesen spezifisch auf die Performance »Barbara trifft Bettina« bezogenen Fragen, lassen sich allgemeiner formulierte Fragestellungen ableiten, mit denen sich die Forschung im Bereich Theaterwissenschaft und Performance Art speziell seit den 1970er und 1980er Jahren beschäftigt. In diesem Text möchte ich mich, ausgehend von meiner persönlichen Rezeption der »Unter Uns!«-Episoden, mit wissenschaftlichen Standpunkten als mögliche Lösungen der Fragen, die die Performances bei mir aufwerfen, beschäftigen. Dabei werde ich mich auf drei theaterwissenschaftliche Aufsätze beziehen und deren mögliche Lösungsansätze skizzieren. Eingangs werde ich den Inhalt dieser Aufsätze in Bezug auf mein Thema zusammenfassen, womit dieser Text einen Einblick in den wissenschaftlichen Diskurs gibt, der um diese Thematik der autobiografischen Performance existiert. Autobiografische Performance definiert Marvin Carlson wie folgt: »[I]nstead of creating a character or assuming a role in a dramatic structure, the actor presents or seems to present personal reminiscence, anecdote or opinion.« (Carlson 1996: 599) Anschließend möchte ich den direkten Bezug auf die Performanceserie, von der dieses Buch handelt, herstellen. Die Motive, die ich anhand der Performance »Barba-

Philipp Schaus: Zwischen Selbstinszenierung und dem Erscheinenlassen

ra trifft Bettina« zu zeichnen versuchte, finden sich durchweg in allen Episoden der Performanceserie »Unter Uns! Das Generationenprojekt« in ähnlicher und teilweise exakt derselben Weise. Ich werde mich bei der Übertragung der theoretischen Überlegungen allerdings ausschließlich auf die Episode »Barbara trifft Bettina« beziehen.

M ARVIN C ARLSON — P ERFORMING THE S ELF Marvin Carlson erkennt, dass die autobiografische Performance unsere konventionellen Konzepte und Annahmen zum Verhältnis von Figur, Rolle und Identität im Theaterkontext in Frage stellt. Die minimalistische Theaterdefinition von Eric Bentley heißt: »A impersonates B, while C looks on.« (Bentley 1975: 150) Diese Definition bringt zwei Annahmen zusammen, die als, für das Theater, wesentlich anerkannt werden. Die Übernahme einer fiktiven oder anderen Person durch den Schauspieler und das Vorhandensein eines Publikums. Er stellt fest, dass für das Genre der autobiografischen Performance eine Definition anderer Art zutrifft: »A impersonates A, while C looks on.« (Carlson 1996: 599) Autobiografische Performance vermittelt den Eindruck, dass traditionelle schauspielerische Operationen, wie das Nachahmen, verneint werden und das Verhältnis zwischen Schauspieler, Figur und Handlung weniger problematisch ist. Laut Marvin Carlson ist das nicht der Fall. Diese Verhältnisse und traditionellen Operationen werden innerhalb autobiografischer Performances in weniger direkter Weise übernommen. Das autobiografische Material wird für die Bühne – die autobiografische Performance – adaptiert. Das bedeutet, dass es sortiert und ausgesucht wird. Damit entsteht eine Distanz zwischen der ursprünglichen Erfahrung und der autobiografischen Strukturierung dieser Erfahrung. Diese Distanz besteht ebenfalls zwischen dem Ich, das die Erfahrung sammelte und dem Ich, das von dieser Erfahrung erzählt. Das Erzählte und der Erzähler sind konstruiert. Die Person auf der Bühne ist ein Schauspieler, der eine Rolle spielt, von der er zwar behauptet, es sei seine eigene, die allerdings eine Rolle bleibt, die mittels Nachahmung und Darstellung funktioniert.

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Im Performancekontext der 1970er Jahre entpuppte sich dieses Ich, das auf der Bühne präsentiert wurde, als ein Ich, das konstruiert ist durch Kodierungen. Diese Kodierungen sind so tiefgreifend in unserer Kultur verwurzelt, dass sie das Ich unbemerkt beeinflussen. Die Organisation des autobiografischen Materials, das Aussuchen, das Erzählen, das Darstellen und die Performance selber sind von diesen Kodierungen bestimmt und verhindern den Blick auf ein pures, kompromissloses Ich. Auf ähnliche Weise ist das autobiografische Material selbst das Ergebnis kultureller Kodierungen, wie Geschlecht und Sexualität, dem Wert bestimmter Haltungen und Handlungen. »In short, the ›identity‹ articulated by autobiographical performance was discovered to be already a role, a character, following scripts not controlled by the performer, but by the culture as a whole.« (Carlson 1996: 604)

Die Erkenntnisse über die Konstruiertheit des Ichs durch kulturelle Kodierungen und die Schwierigkeiten, die sich in Bezug auf das Erinnern von Erlebnissen ergeben, die Inhalt der autobiografischen Performance werden sollen, führten dazu, dass die autobiografische Performance selbstreflexiver wurde. So ist das autobiografische Material, das aus der Erinnerung geschöpft wird, geprägt von der Gegenwart. Die erinnerten Erlebnisse werden unbewusst verfärbt, verfälscht, vertauscht und niemals vollständig wiedergegeben. Infolgedessen wurde seitens der Performer und des Publikums autobiografisches Material wichtig für die Möglichkeit, mit dem Erzählten während der Performance ein Selbst konstruieren zu können. Das Interesse an einer Übereinstimmung des Gezeigten auf der Bühne mit den realen Erlebnissen des Performers sank. Somit zeigen sich durch Performance Art Figur, Rolle und Identität als Kategorien, die sehr viel mehr ineinander übergehen als bisher angenommen.

E RIK A F ISCHER -L ICHTE — I NSZENIERUNG VON S ELBST ? Mit der Konstruktion von Selbst auf der Bühne beschäftigt sich Erika Fischer-Lichte in ihrem Aufsatz »Inszenierung von Selbst?«. Sie ordnet die autobiografische Performance als Transformation des Geschichtenerzählens und der literarischen Gattung Autobiografie ein. Das durch Ge-

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schichtenerzählen verbreitete narrative Ganze eines Volkes wird immer unter dem Gesichtspunkt der Gegenwart erzählt. Nicht mehr Relevantes wird dabei vergessen und nicht überliefert. So erhält die Geschichte fiktiven Charakter. Das Publikum, für das die Geschichte bestimmt ist, empfindet diese als Autobiografie, als sein eigenes kollektives Leben (vgl. Fischer-Lichte 2000). Im Gegensatz dazu »[…] bezieht sich die lit. Gattung Autobiographie auf die Lebensgeschichte eines Individuums. Im 18. Jahrhundert entwickelte sie sich als bekenntnishafte Bildungs- und Entwicklungsgeschichte der eigenen Subjektivität. Auf dem Wege über bestimmte Schreibstrategien, durch Auswahl und Reflexion der Ereignisse aus der eignen Lebensgeschichte stellt sich die/der Schreibende in der Autobiographie selbst dar und konstituiert so ihr/sein eigenes Selbst.« (Ebd.: 60)

In beiden Genres scheint Identität möglich zu sein: »Ihre Stabilität wird im einen Fall durch die in der gemeinsamen Überlieferung begründete Homogenität der Gruppe garantiert und im anderen durch den Akt der Selbstdarstellung, der im schriftlichen Text fixiert wird.« (Ebd.: 61)

Bei der autobiografischen Performance rückt an die Stelle der kollektiven Autobiografie die Lebensgeschichte des Performers. Die Veröffentlichung dieser vollzieht sich aber nicht, wie bei der Autobiografie, in Form einer (schriftlichen) Publikation, sondern durch den Vortrag vor einem Publikum. »Der Akt der Konstitution eines Selbst wird hier ausdrücklich 1) als ein performativer Akt und 2) als ein öffentlicher Akt vollzogen und definiert. Beide Aspekte haben tiefgreifende Folgen für das Konzept von Selbst und Identität.« (Ebd.: 61)

Als performativen Akt versteht Fischer-Lichte »Sprechakte, Stimm- und Körper-Akte [, durch die ein Selbst] konstituiert wird.« (Ebd.) Zur Frage steht nun, inwieweit durch performative Akte innerhalb einer autobiografischen Performance, die auf das Geschichtenerzählen und die Autobiografie zurückgreift, ein stabiles Selbst konstituiert werden kann.Wie ist das Selbst, das durch performative Akte konstituiert wird, konzipiert? Welche Ereignisse, Gefühle, Träume, Phantasien etc. werden ausgewählt, um den Eindruck zu erwecken, für die Konstitution des Selbst bedeutsam zu sein?

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Fischer-Lichte identifiziert Identität als flüchtiges Ergebnis performativer Akte. Durch eine Abfolge performativer Akte integriert der Performer Elemente seiner Lebensgeschichte dem gegenwärtigen Selbst. So findet eine natürliche Aufnahme der Vergangenheit in die Gegenwart statt. Die Zuschauer werden zu Zeugen, wie der Performer im Akt des Erzählens sein Selbst konstituiert. Dieses Selbst ist allerdings nur für die Dauer der Performance (der performativen Akte) beständig. Dadurch, dass der Performer mittels Bezug auf literarische Muster ein Bild von sich selbst in Szene setzt, erscheint die Konstitution eines Selbst als Resultat eines Inszenierungsprozesses. »Ich« und »Selbst« können immer nur durch Inszenierung erscheinen. »Dabei wird Inszenierung als ein Vorgang begriffen und bestimmt, der durch eine spezifische Auswahl, Organisation und Strukturierung von Materialien/Personen – hier: von sprachlichem, stimmlichem, gestischem Material – etwas zur Erscheinung bringt, das ›seiner Natur nach nicht gegenständlich zu werden vermag‹.« (Ebd.: 65)

M ARTIN S EEL — I NSZENIEREN ALS E RSCHEINENL ASSEN In den Worten Martin Seels: »Wir können versuchen, uns in einer bestimmten Situation erscheinen zu lassen – als Fußballfans in der Westkurve, als Gruppierung bei Demonstrationen oder Umzügen. Alle können versuchen, sich in ihrer Individualität zu präsentieren, sei es für ein Familienfoto oder bei Festen.« (Seel 2001: 54)

Durch Inszenierungen wird eine Gegenwart, die »geprägt [ist] von einer Koexistenz vielfach unrealisierbarer und erst recht unüberschaubarer Möglichkeiten des Verstehens und Handelns, des Wahrnehmens und Bestimmens« (ebd.) herausgestellt. »Sie tun dies, […] im Medium des Erscheinens, Sie lassen etwas in der phänomenalen Fülle erscheinen, so daß es in dem Raum und für die Dauer der Inszenierung in einer sinnlich prägnanten, aber begrifflich inkommensurablen Besonderheit gegenwärtig wird. Das begrenzte räumliche und zeitliche Arrangement, das eine Inszenierung ausmacht läßt die Elemente, mit denen es operiert, in ihrem Erschei-

Philipp Schaus: Zwischen Selbstinszenierung und dem Erscheinenlassen

nen hervortreten; darin macht es Aspekte und Bezüge einer andauernden Gegenwart spürbar.« (Ebd.: 56)

S IND DIE BEIDEN F R AUEN SIE SELBST AUF DER B ÜHNE ? Wer die Frage stellt, ob Barbara auf der Bühne sie selbst ist, wird eine bestimmte Vorstellung davon haben, was das Wort Selbst bedeutet. Im Kontext unserer abendländischen Kultur gilt es als evident, mit den Begriffen Selbst, Person und Identität Beständigkeit zu verbinden. Es herrscht eine Gewissheit darüber, dass eine Person bestimmte Charakterzüge ausmachen, dass sie über bestimmte Talente und Unfähigkeiten verfügt, Interessen und eine Vorstellung davon hat, wie er oder sie sich verhält. Allgemein gilt es als erstrebenswerte Lebensweisheit, man selbst zu sein und sich nicht zu verstellen oder zu verändern, um jemandem zu gefallen oder einer Gruppe anzugehören. Ich bin ich. Ich bin heute derselbe wie gestern und vor zehn Jahren, da ich mich an Ereignisse in der Vergangenheit erinnern kann. An dieser Überzeugung wird festgehalten, obwohl das Selbst keine Substanz ist (vgl. Rauscher 2008: 546). Die Frage danach, ob ich vor zehn Jahren derselbe war wie heute, kann also nicht mit Gewissheit beantwortet werden. Wer aber nach dem »wahren« Selbst von Barbara auf der Bühne fragt, der geht davon aus, dass ihr genau diese Beständigkeit zuteil ist. Dass ihre Persönlichkeit eine Art fester Kern von Eigenschaften, Haltungen und Interessen ausmacht, der sich nicht verändert und der sie als Barbara identifizierbar macht. Der Kontext der Inszenierung allerdings lässt plötzlich Zweifel aufkommen, ob die Eigenschaften, die der Barbara auf der Bühne zuteilwerden, den Eigenschaften der Barbara im »wahren« Leben entsprechen. Dieser Zweifel hat seinen Ursprung in der Darstellung auf der Bühne. Es ist ein Zweifel am Konzept unseres Selbst als einer Beständigkeit (vgl. Fischer-Lichte 2000: 70). Im Bühnenraum erwartet der Zuschauer Verkörperung und Repräsentation. Daher stellt der Rezipient, der auf dem Programmzettel liest, dass Barbara Fuchs und Bettina Muckenhaupt heute als dieselben auf der Bühne stehen, überrascht die Echtheit deren Darstellung in Frage. Wenn sich mir diese Barbara auf der Bühne in bestimmter Weise präsentiert,

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wie ist sie dann im wahren Leben? Diese Frage stellt sich nur unter Annahme der Prämisse, dass dem Selbst eine Form beständiger Substanz zukommt. Diese besondere Vorstellung vom Selbst ist das Ergebnis kultureller Prägung. Die Performerin tritt auf der Bühne in bestimmter Weise in Erscheinung. Die Barbara, die gerne Rotwein trinkt, die Barbara, die »Mannlose«, die Barbara, die ihre Tochter alleine erzieht, die Barbara, der es Probleme bereitet, Privates und Berufliches gleichzeitig zu meistern. Auf diese Weise entsteht durch performative Akte ein Selbst, genauer gesagt: Es tritt ein Selbst in Erscheinung. Die Tatsache, dass man dieses Selbst am Ende der Performance in Frage stellt und auf seine reale Existenz hin prüfen möchte, bedeutet, dass kein Selbst entsteht, sondern, dass ein Selbst inszeniert wird. Im Darstellungskontext auf einer Bühne erscheint das Selbst als etwas, das nur durch Inszenierung in Erscheinung treten kann. Es ist möglich, diese Überlegungen zum Erscheinenlassen auf unser Alltagsleben zu übertragen. Wir konstituieren unser Selbst in verschiedenen Alltagssituationen durch Inszenierung. Wer von sich erzählt, der wählt der gegebenen Situation adäquate Informationen aus. Er oder sie verzerrt unbewusst und verschweigt Dinge. Dabei wird also aus der Vergangenheit geschöpft, um in der gegenwärtigen Situation ein Selbst zu bilden. Auf diese Weise führt die ursprüngliche Fragestellung danach, ob Barbara und Bettina auf der Bühne sie selbst sind, zu einem andersartigen Entwurf der Konzeption von Selbst. »Nur inszeniert kann der Mensch mit sich selbst zusammengeschlossen sein; Inszenierung wird damit zur Gegenfigur aller transzendentaler Bestimmungen der Menschen.« (Iser 1991: 514) »Die autobiographische Performance nötigt so den Zuschauer, über ein kulturelles Konstrukt nachzudenken, das jahrhundertelang konstitutiv für unsere Kultur gewesen ist, und es vielleicht aufzugeben. Während die alte Form der cultural performance ›Geschichtenerzählen‹ in oralen Kulturen die kollektive Identität der Zuhörer bestätigt, destabilisiert die autobiographische Performance ihre Zuschauer, ja entzieht ihrem individuellen und kulturellen Selbstverständnis den Boden. Das Selbst, von dem sie sprechen und an dessen Existenz sie glauben, wird nicht anders als in/durch Inszenierung gegenwärtig. So wird die autobiographische Per-

Philipp Schaus: Zwischen Selbstinszenierung und dem Erscheinenlassen

formance für die Zuschauer zum Ort eines radikalen ›displacement‹ ihres Selbst.« (Fischer-Lichte 2000: 70)

W AS VON DEM E RZ ÄHLTEN IST WAHR UND WAS IST UNWAHR ? Auch diese Frage scheint sich neu zu stellen, wenn man sie in Bezug auf die Arbeit mit autobiografischem Material untersucht. Wer danach fragt, was von dem auf der Bühne Erzählten sich tatsächlich ereignet hat, und welche Behauptungen zutreffen oder nicht zutreffen, der geht davon aus, dass es möglich ist, in Bezug auf seine persönliche Geschichte die Wahrheit oder die Unwahrheit zu sprechen. Allerdings passiert jeder Rückgriff auf Erlebnisse, die in der Vergangenheit liegen, aus der Perspektive der Gegenwart. Dieser Rückgriff verfälscht unbewusst, da er geprägt ist von der jeweils gegenwärtigen Situation. Im Akt des Erinnerns und Sortierens von Material konstituiert sich die Performerin Bettina. Es entsteht ein Selbst, das beschaffen ist von der gegenwärtigen Situation der Performerin. Es entsteht der Entwurf eines Selbstbildes, das – repräsentiert auf der Bühne – einer Rolle gleichkommt. Dazu kommt, dass das Material in den »Unter Uns!«Episoden nicht von den Performern, sondern von Regie und Dramaturgie ausgesucht wurde. Mit Marvin Carlson gesprochen bedeutet das, dass die Distanz zwischen den ursprünglichen Erlebnissen von Bettina und Barbara und dem autobiografischen Material nicht nur durch ihre eigene Arbeit an demselben, sondern zusätzlich durch die Arbeit von Regie und Dramaturgie vergrößert ist. Die Kategorien Wahrheit und Unwahrheit greifen also in Bezug auf die Arbeit mit autobiografischem Material nicht, da keine Möglichkeit der Überprüfung gegeben ist. Diese Erkenntnis ermöglicht Perspektiven, die uns näher an den Kern der Problematik führen können. Man möchte an dieser Stelle gegebenenfalls einwenden, dass Barbaras Aussage »Ich trinke am liebsten Rotwein!«, daraufhin untersucht werden kann, ob sie zutrifft oder nicht. Allerdings ist mehr als die Frage nach Wahrheit oder Unwahrheit von Interesse, dass die Aussage überhaupt getroffen wurde. Sie wurde ausgewählt aus einer unerschöpflichen Masse möglicher Aussagen über Barbara, um damit ein Bild von ihr zu entwerfen, das sie während der Performance annimmt. Laut Marvin Carlson ist jedes mögliche Bild ein Ergebnis kultureller Kodierung. Die Aussage »Ich trinke am liebsten Rotwein!« wird also getroffen, weil sie in unserer

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Kapitel 1: Darstellung und Selbstinszenierung

Kultur existiert. So ist alles, was Bettina und Barbara in der Performance über sich erzählen, das Ergebnis kultureller Kodierung. Diese wird notwendigerweise übernommen. Sie geht in gewisser Weise der Bildung eines Ichs voraus. Dieses Phänomen lässt sich meiner Meinung nach am Anfang der Performance beobachten. In dem Moment, in dem ich mit dem Lachen der beiden Frauen konfrontiert bin, ist die kulturelle Kodierung nicht eindeutig. Als Zuschauer erfahre ich den Grund des Lachens nicht. Dieser ist aber erforderlich, um die Situation einordnen zu können. Ich bin mit dem Lachen überfordert. Lachen die beiden Frauen in einer Rolle oder lachen sie selbst? Werde ich als Zuschauer angelacht oder ausgelacht? Ist das Lachen »wahr« oder »unwahr«? Die Schwierigkeiten, die sich dabei ergeben, Fragen, die Wahrheit und Unwahrheit auf der Bühne beinhalten zu beantworten, machen deutlich, dass eben nicht klar zu unterscheiden ist zwischen der Barbara auf der Bühne, als sie selbst, oder als Figur oder als Rolle. Es zeigt sich eine kulturell geprägte Vorstellung von Selbst, Person und Identität als Motivation dafür, wissen zu wollen, wer Barbara und Bettina wirklich sind.

S IND B ARBAR A UND B E T TINA DESWEGEN SO GL AUBWÜRDIG , WEIL SIE AUF DER B ÜHNE SIE SELBST SIND ? Auf einer Bühne von seinem Leben zu erzählen ist also keine Garantie für Glaubhaftigkeit. Wenn die Performance von Selbst sich durch dieselben Muster von Nachahmung und Repräsentation auszeichnet wie beim Spielen einer Rolle. Die Vermutung, dass, wer auf der Bühne sich selbst und keine Rolle spielt, ein direktes Verhältnis zum Zuschauer hat und somit glaubwürdiger wirkt, erweist sich als Trugschluss. Durch die Information auf dem Abendzettel erwartet der Zuschauer mehr Glaubwürdigkeit und Direktheit und traut der Inszenierung von vornherein hinsichtlich dieser Aspekte mehr zu. Auch die Gestaltung des Abendzettels mit den Informationen, die man diesem entnehmen kann, ist Teil der Inszenierung. Tatsächlich ist es aber besonders die passende Auswahl des autobiografischen Materials und die überzeugende Darstellung eines Selbst, das ich dem Performer zutraue, die, wie beim Spielen einer Rolle, Glaubwürdigkeit generieren. Sich selber spielen bedeutet eine Rolle spielen; ob diese

Philipp Schaus: Zwischen Selbstinszenierung und dem Erscheinenlassen

den Zuschauer überzeugen kann, ist eine Frage der künstlerischen Gesamtleistung der Performance.

L ITER ATUR Bentley, Eric (1975): The Life of the Drama. New York: Atheneum. Carlson, Marvin (1996): »Performing the Self«. In: Modern Drama 39/ 1996. 599-608. Fischer-Lichte, Erika (2000): »Inszenierung von Selbst? Zur autobiographischen Performance«. In: Dies. (Hg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen/Basel: A. Francke Verlag. 59-70. Iser, Wolfgang (1991): Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven einer literarischen Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Rauscher, Josef (2008): »Selbst«. In: Metzler Lexikon Philosophie, Stuttgart: Metzler. 546. Seel, Martin (2001): »Inszenierung als Erscheinen-Lassen«. In: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung: Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 48-62

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Hörst du diese Stille? Interview mit Bettina Muckenhaupt Teil 1

Ist es für dich speziell als klassisch ausgebildete Schauspielerin eine Herausforderung, dich selbst auf der Bühne darzustellen und keine Rolle zu spielen? Bei einer Rolle sollte man immer ein Stück Selbst einbringen. Und das Selbst sollte nicht zur Rolle werden. Es ist wichtig, authentisch zu bleiben. Wenn man eine Rolle spielt und sagt, das was mich ausmacht, mein Selbst, also das hat ja viele Schattierungen, da muss man suchen, welchen Punkt man vom Selbst nehmen möchte, um es mit der Rolle zu verbinden Manchmal sind das auch schmerzliche Prozesse. (Wenn man zum Beispiel damit konfrontiert ist, wie man zum Schwein in sich steht. Solche Überlegungen machen eine Rolle immer interessanter. Man benutzt sich selbst, um eine Rolle zu finden. Wenn man sich selbst weglässt, ist das glaube ich kein guter Weg, eine Rolle zu suchen. (Es muss mich erstmal treffen und damit bin ich selber mit drin.) Das Selbst ist sozusagen der Nährboden der Rolle. Das fängt bei äußeren Gegebenheiten an und geht dann bis zu den inneren Prozessen. Das ist ein ganz schwieriges Thema für mich. Privat ist nicht privat auf der Bühne. Manche meinen ja, je mehr sie auf der Bühne von sich selber entfernt sind – fast künstlich –, desto besser ist das. Da würde ich nicht zustimmen. Bei einer Rolle heißt es für mich nicht, bei mir stehen bleiben. Meine Befindlichkeit, die ich jetzt hier gerade bei diesem Interview habe, die reicht nicht aus auf der Bühne. Aber die ganz besondere Befindlichkeit, die ich für eine Rolle brauche, die suche ich und das ist interessant. Und dann gibt es diese Momente, wo man Dinge auf der Bühne zulässt, die mir manchmal gar nicht angenehm sind. Die mir vielleicht zu nah

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Kapitel 1: Darstellung und Selbstinszenierung

gehen. Ich muss dann aber trotzdem einen Weg finden, dass ich sie auf die Bühne stellen kann. Das war damals bei Barbara trifft Bettina so. Wir haben ja mit diesem Alphabet gearbeitet und dann kam auf einmal P, wie Partner. Und ich, ohne Mann, dachte: scheiße! Damals war ich in der Situation: Geliebte von … dieses heimliche Getue. Und da dachte ich wirklich: oh scheiße! Da hab ich jetzt wirklich gar keine Lust zu. Und dann hab ich nur gesagt: ja was soll ich jetzt dazu sagen P wie Partner. Die Wahrheit wollte ich nicht preisgeben. Und dann war ich so nach dem Motto: das interessiert mich gar nicht so sehr … Wieso ist den Menschen dieses Partnerthema immer so wichtig? Bis ich dann am Ende der Improvisation das totale Bild eines Mannes hingelegt habe. Das war für mich auch nicht nachvollziehbar, ich dachte: Wie komm ich denn jetzt da drauf?

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Hörst du diese Stille? Interview mit Bettina Muckenhaupt Teil 2

Während der Entstehungsphase der Performance hattest du keinen Partner. Die Performance thematisiert deine Suche nach einem Mann. Du hast dann bald einen Partner gefunden und musstest in den folgenden Präsentationen von Barbara trifft Bettina die Suche nach einem Mann spielen. Wie gewahrst du dabei die Authentizität? Es ist nicht so sehr notwendig die Wahrheit zu sagen, als vielmehr einen authentischen Weg zu gehen. Ich habe zu der Zeit, als die Performance entstand, nicht wirklich einen Mann gesucht. Aber der Arbeitsauftrag war: entwerfe deinen Traummann! Ich musste zu meiner Vergangenheit stehen – ich habe mich ja auch verändert. Aber die eigene Geschichte darf man dabei nicht vergessen. Der Weg des Notstands wird bei manchen Regisseuren ja sehr ernst genommen. Silke betonte immer, dass die Leute gar nicht wissen, ob das meine echte Geschichte ist. Wenn der Zuschauer aber davon ausgeht, dass Barbara und Bettina wirklich Barbara und Bettina heißen, dann muss man dazu stehen, dass man in dem Moment auch die »Mannlose« ist. Das muss man mit Humor nehmen. Das ist ja auch nicht weltbewegend. Damit muss man genauso umgehen wie damit, dass die Zuschauer womöglich denken, dass ich in der Hose, die ich während der Performance trage einfach scheiße aussehe. Manchmal muss man einer Sache dienen. – Eine zwickende Hose tragen oder peinlich sein, das ist der Beruf. Darauf kann man ja auch auf bauen, indem man es einbaut: »Barbara zieh mir mal bitte die Hose hoch.« – Die Hose spielt nicht. Die Hose rutscht einfach und es war klar, dass das passiert. Auf diese Weise macht man die vierte

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Kapitel 1: Darstellung und Selbstinszenierung

Wand auf. Man tritt heran ans Publikum. Das muss man aushalten! Man muss den Moment ans Publikum geben und nicht zwischen den Stühlen stehen. Wenn du dich auf die Bühne stellst und sagst: »Hörst du diese Stille?« Und dann wartet man bis es wirklich mucksmäuschenstill ist. Solche Wahrheiten auf der Bühne mag ich sehr. Wenn man alles mitbekommt und keine vierte Wand da ist. Wenn das Publikum mit mir atmet. Oder wenn ich sehe, wie die Zuschauer sich ordnen müssen nach dem Applaus. Das sind wahre Momente. Trotzdem: Ich mag das eigentlich wenn auf der Bühne gelogen wird. Das Geben einer Figur ist ein toller Vorgang. Also, wenn der Autor schreibt dann ist das keine Lüge. Ist es, um auf der Bühne authentisch zu sein, überhaupt erforderlich, die Wahrheit über sich zu erzählen? Im Probenprozess zu Barbara trifft Bettina wurden auch Fragen gestellt, von denen ich dann, nachdem ich sie beantwortet hatte, dachte: Die Antwort, die du gegeben hast, stimmt die eigentlich? Diese Antwort ist mir spontan in dem Moment eingefallen … Wie das einem beim Reden so geht. Diese Verwirrung hatte ich schon manchmal. Oder wenn es um Begriffe ging über die ich noch nicht so viel nachgedacht habe. Wir hatten ja jede ein Alphabet erstellt und ich musste auch mit Barbaras Begriffen improvisieren. Die waren für mich schwieriger, obwohl meine eigenen auch nicht unbedingt einfacher waren. Um die Wahrheit geht es bei dem Ganzen nicht so sehr. Ich stehe auf der Bühne und stelle eine Behauptung auf. Die muss ich dann anfüllen mit Feinheiten, damit sie authentisch wirkt. Wenn du dich auf einer Bühne darstellst und dazu bestimmte Sequenzen deiner Autobiografie verwendest, indem du sie erzählst, darstellst oder wiederholst, bist das dann DU auf der Bühne? Immer wenn man auf der Bühne ist, zeigt man sich selbst ein Stück weit. Auch, wenn man das Gegenteil von sich selber spielt.

Interview mit Bettina Muckenhaupt Teil 2: Hörst du diese Stille?

Ich habe mein ICH auf der Bühne und mein ICH zu Hause im Wohnzimmer. Ich finde ein ICH passend zur Situation und zum Raum. Ist diese Interviewsituation hier meine Bühne und nicht einfach eine Gesprächssituation? Nach dem Finale im Tanzhaus ist es mir passiert, dass einer kam und sagte: Ach dich kenne ich du bist doch Bettina von »Barbara trifft Bettina«.

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Regieanweisung von Silke Z., Bonus Track, Special Episode .OlUHQ :HUELVWGXDXIGHU%KQH" :HULVWGHUDQGHUHIUGLFKLQGHP0RPHQW":DVIUHLQH=HLW LVWHVIUGLFK" 6HLG LKU QRFK ]XVDPPHQ" ,VW HV VFKRQ YRUEHL" 0LWWHQ LP =XVDPPHQEUXFK" 'DVNQ|FKHUQGH*HUVWGHU*HVFKLFKWHEUDXFKWMHW]W2UJDQH XQG)OHLVFKXPOHEHQGLJ]XZHUGHQ'LHZDFKVHQPLWGHLQHU SUl]LVHQ,PDJLQDWLRQZlKUHQGGXVSULFKVW 1HKPW(XFKLPPHUJHQJHQG=HLW(XFKDQ]XVHKHQ &DUR )LQGH HLQH hEHUVHW]XQJ LQ GDV ZLUNOLFKH /HEHQ 0LW ZHP N|QQWHVWGXWDWVlFKOLFKVSUHFKHQ" 3HUIRUPHYRQHLQHPHFKWHQ(UIDKUXQJVRUWLQHLQHUIDOVFKHQ *HVFKLFKWH

Die falsche Realität von Antonio Cabrita

Ich warte, in der Garderobe, vor einer Aufführung, und versuche vorherzusagen, wie die »Energie des Publikums« in der heutigen Show sein wird. Nach einer Weile stelle ich fest, dass ich immer dasselbe mache. Ich belüge mich selbst, weil es egal ist; das einzige was zählt, ist, dass ich mich an meine Rolle halten muss und, falls möglich, von der »Energie des Publikums« in Echtzeit inspiriert werde. Eine Rolle zu spielen, hat auch immer etwas von Fälschung an sich, der Unterschied ist, wie sehr man daran glaubt. Du kannst mehr oder weniger daran glauben, es hängt von deinem Engagement am Stück ab, und ob es wirklich notwendig ist oder nicht. Deine Rolle auf der Bühne kann auch mehr oder weniger mit deinem persönlichen/privaten Bereich verbunden sein. In diesem bestimmten Fall hängt es davon ab, inwieweit du dich auf der Bühne enthüllen lässt. In dem Stück wurden reale Fakten mit falschen Fakten gemischt und somit eine alternative Realität im privaten und beruflichen Leben zweier Darsteller erschaffen, wie in einem Drehbuch zu einem Pseudo-Dokumentarfilm. Anschließend haben wir basierend auf dieser alternativen Realität gearbeitet. Wir schufen eine alternative Vergangenheit, in der Caroline und ich uns während der Erschaffung des Stücks drei Jahre vorher getroffen haben, eine Beziehung hatten und uns dann wieder getrennt haben. Wir beschlossen, all diese Fakten auf der Bühne preiszugeben, ohne Schranken zwischen uns und dem Publikum. Sehr einfach, sehr elementar, sehr schlau. Das Stück, das das Publikum erlebt, ähnelt einer Dokumentation über das Stück, aber anstatt dass es wie in einem Dokumentarfilm wahr-

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Kapitel 1: Darstellung und Selbstinszenierung

genommen wird, wird es mit denselben Schnitt- und Montagetechniken, aber in Echtzeit auf der Bühne von den Darstellern aufgeführt. Wenn ich auf der Bühne auftrete, glaube ich total an diese falsche Realität, die wir als Ausgangsmaterial für die Entwicklung des Stücks erschaffen haben. Die Regisseure ließen uns Raum, die Details zu improvisieren, was der wichtigere Teil ist, um Leute glauben zu machen, was sie sehen, egal ob es auf der Realität oder einer Fälschung basiert. Deshalb (wegen der Details) haben die meisten Leute wirklich geglaubt, dass wir ein Paar waren, das sich während der Erschaffung des Stücks getrennt hat und eben beschlossen hat, diese Privatsphäre auf der Bühne zu offenbaren. Ich versuche immer, mich selbst auf der Bühne zu »spielen«, aber es ist immer ein anderes Ich. Es ist ein Ich, mit dem ich mich entschlossen habe, zu spielen, manchmal eher realistisch, manchmal eher falsch. Es ist eine komplexe Aufgabe und basiert darauf, wie sehr man es gewohnt ist, die Wahrnehmung, die man von sich selbst hat, zu verändern. Die Wahrnehmung in »Echtzeit« auf der Bühne ist sehr wichtig, weil man in seinem darstellenden Moment so viel wie möglich schaffen sollte. Manchmal fühle ich mich zerrissen, wenn ich auftrete. Es ist, als wäre ich zwei Personen. Einer, der auf der Bühne anwesend ist, und ein anderer, der all die Details analysiert, von den Reaktionen des Publikums über die Raumtemperatur bis hin zu den gefühlten Emotionen. Es ist, als wäre ich der Ingenieur in einem Labor, aber gleichzeitig auch das Experiment. Mein Körper fühlt, mein Verstand reagiert, mein Körper reagiert und mein Verstand fühlt! Am Ende tut es nichts zur Sache, wie falsch oder echt du bist, oder wie nah oder fern von dir selbst. Ich warte, ruhe mich nach einem Auftritt in der Garderobe aus und denke über den Auftritt, den ich gerade beendet habe, nach. Nach einer Weile stelle ich fest, dass ich immer dasselbe mache. Ich habe das Publikum angelogen und sie haben es geglaubt.

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