Gott über uns – Gott unter uns – Gott in uns: Philosophische, theologische und spirituelle Annäherungen an Gott 9783495817520, 9783495489451

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Gott über uns – Gott unter uns – Gott in uns: Philosophische, theologische und spirituelle Annäherungen an Gott
 9783495817520, 9783495489451

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
1. Das Gute und das Schöne. Der Aufstieg zum Höchsten bei Platon
1.1 Der Aufstieg zum Guten in der »Politeia«
1.1.1 Die drei Seelenteile, die drei Stände und die vier Kardinaltugenden
1.1.2 Das Gute im Sonnengleichnis
1.1.2.1 Das Sonnengleichnis und die Ideenlehre
1.1.2.2 Das Sonnengleichnis und die Lehre vom Guten
1.1.3 Das Liniengleichnis und die Dialektik
1.1.4 Der Aufstieg zum Guten im Höhlengleichnis
1.2 Der Aufstieg zum Schönen im »Symposion«
1.3 Der Zusammenhang zwischen den beiden Aufstiegen
1.4 Reflexion: Die christliche Aufnahme der Lehre Platons
2. Der in Jesus Christus Menschgewordene. Neues Testament und frühe Tradition
2.1 Die Person Jesu Christi im Neuen Testament
2.1.1 Der historische Jesus
2.1.2 Neutestamentliche Christologien
2.1.3 Aufstiegs- und Abstiegs-Christologien
2.2 Die Person Jesu Christi in der frühen Tradition
2.3 Das Erlösungswerk Jesu Christi
2.3.1 Präexistenz, Inkarnation und öffentliches Wirken
2.3.2 Leiden, Sterben und Auferstehen
2.3.3 Der absolute Heilsmittler Gottes
3. Der Dreieine. Schrift und frühe Tradition
3.1 Gott der Dreieine in den Zeugnissen der Schrift
3.1.1 Die Vorgeschichte der Trinitätsoffenbarung im Alten Testament
3.1.2 Die Trinitätsoffenbarung im Neuen Testament
3.1.2.1 Die paulinischen und deuteropaulinischen Briefe
3.1.2.2 Die synoptischen Evangelien und die johanneischen Schriften
3.2 Die frühe, dogmatische Entwicklung der Trinitätslehre
4. Das Schöne und das Eine. Der Aufstieg zum Höchsten bei Plotin
4.1 Der Aufstieg zum Schönen in der Enneade I 6
4.1.1 Metaphysische Voraussetzungen
4.1.2 Der Aufstieg zum Schönen
4.1.3 Das Ziel des Aufstiegs zum Schönen
4.2 Der Aufstieg zum Guten oder Einen in der Enneade VI 9
4.2.1 Die drei Hypostasen
4.2.2 Der Aufstieg zum Einen und seine besonderen Voraussetzungen
4.2.3 Das Ziel des Aufstiegs zum Einen
4.3 Reflexion: Plotins Einfluss auf Augustinus
5. Der Dreieine als Urbild des Menschen. »De Trinitate« von Aurelius Augustinus
5.1 Die Ontologie der Trinität
5.2 Liebender (amans), Geliebter (quod amatur) und Liebe (amor)
5.3 Geist (mens), Liebe (amor) und Kenntnis (notitia)
5.4 Erinnerung (memoria), Einsicht (intelligentia) und Wille (voluntas)
5.5 Erinnerung (memoria), Denken (cogitatio) und Wille (voluntas)
5.6 Ähnlichkeit und Unähnlichkeit des Bildes
5.7 Der Heilige Geist
5.8 Reflexion: Stringenz und Aktualität von Augustinus’ Trinitätslehre
6. Der Dreieine als Liebe. »De Trinitate« von Richard von St. Viktor
6.1 Anliegen und Aufbau des Werkes
6.2 Die Mehrheit der Personen (pluralitas personarum)
6.3 Die Dreieinigkeit (Trinitas) der Personen
6.4 Die Personen (personae)
6.5 Die Hervorgänge (processiones) und die Namen (nomina) der Personen
6.6 Reflexion
6.6.1 Das intrapersonale und das interpersonale Modell der Trinität
6.6.2 Die Einheit von immanenter und ökonomischer Trinität
7. Der Dreieine als Beziehungsgeschehen. Aus der »Summa Theologica« von Thomas von Aquin
7.1 Die Hervorgänge (processiones)
7.2 Die Beziehungen (relationes)
7.3 Die Personen (personae)
7.4 Die Tätigkeiten (actus)
7.5 Der Vater (Pater), der Sohn (Filius) und der Heilige Geist (Spiritus Sanctus)
7.6 Die Sendungen (missiones)
7.7 Die Analogie und die Unbegreiflichkeit Gottes
7.8 Reflexion
7.8.1 Fragen an die Trinitätsspekulation des Thomas
7.8.2 Proprietäten und Appropriationen
7.8.3 Das logische und metaphysische Kernproblem der Trinität
8. Das Können selbst. Gottesbegriffe bei Nikolaus von Kues
8.1 Das absolut Größte
8.2 Weitere Namen Gottes
8.3 Der oder das Eine (unus/m) und die Einheit (unitas)
8.4 Der Namenlose und Unbegreifliche
8.5 Der Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum)
8.6 Die Einfaltung (complicatio) von allem
8.7 Die Genauigkeit und das Maß von allem
8.8 Das Nicht-Andere (non-aliud)
8.9 Das Können-Selbst (posse ipsum)
8.10 Reflexion: Gottesbegriffe erster und zweiter Ordnung
9. Das Innerste im Menschen. Die »Innere Burg« von Teresa von Avila
9.1 Erste Wohnungen
9.2 Zweite Wohnungen
9.3 Dritte Wohnungen
9.4 Vierte Wohnungen
9.5 Fünfte Wohnungen
9.6 Sechste Wohnungen
9.7 Siebte Wohnungen
9.8 Reflexion: zwei interreligiöse Parallelen
9.8.1 Die hinduistische Lehre vom atman
9.8.2 Die taoistische Lehre vom tao
10. Das Feuer der Liebe. »Nacht« und »Flamme« bei Johannes vom Kreuz
10.1 Einführung in die Gesamtspiritualität
10.2 Die dunkle Nacht
10.2.1 Die Nacht der Sinne
10.2.2 Die Nacht des Geistes
10.3 Die lebendige Liebesflamme
10.4 Reflexion: zwei interreligiöse Parallelen
10.4.1 Die buddhistische Lehre vom Leerwerden
10.4.2 Die buddhistische Lehre von der Buddha-Natur
11. Das vollkommenste Wesen. »Exerzitien« (Ignatius) und »Meditationen« (Descartes)
11.1 Einleitung
11.2 Absicht und Ziel der »Meditationen« und der »Geistlichen Übungen«
11.3 Die Struktur der »Meditationen« und der »Geistlichen Übungen«
11.4 Die einzelnen Meditationen
11.4.1 Die Erste Meditation
11.4.2 Die Zweite Meditation
11.4.3 Die Dritte Meditation
11.4.4 Die Vierte Meditation
11.4.5 Die Fünfte Meditation
11.4.6 Die Sechste Meditation
11.5 »Geistliche Übungen« und »Meditationen« als Verinnerlichungsprozess
11.6 Reflexion: Der ontologische Gottesbeweis
11.6.1 Anselms und Descartes’ ontologischer Gottesbeweis
11.6.2 Kants Gottesbegriff und Kritik am ontologischen Gottesbeweis
11.6.3 Eine transzendentalphilosophische Deutung des Beweises
12. Vater, Sohn und Heiliger Geist. Die drei Reiche Gottes bei G. W. F. Hegel
12.1 Die »Phänomenologie des Geistes« und die »Enzyklopädie«
12.2 Das Reich des Vaters
12.2.1 Die Bestimmung des Elementes
12.2.2 Die absolute Diremtion
12.2.3 Die Dialektik der Dreieinigkeit Gottes
12.2.4 Der Ernst der Liebe
12.2.5 Verstand und Vernunft
12.3 Das Reich des Sohnes
12.3.1 Das Setzen des Unterschiedes
12.3.2 Die Welt
12.3.3. Die Menschwerdung Gottes
12.4 Das Reich des Geistes
12.4.1 Der Heilige Geist als Geist der Gemeinde
12.4.2 Die Realisierung der Gemeinde
12.4.3 Die Realisierung des Geistigen zur allgemeinen Wirklichkeit
12.5 Reflexion
12.5.1 Die drei Formen des Bewusstseins von Gott
12.5.2 Die Drei-Reiche-Lehre
13. Das heilige Geheimnis. Der Denkansatz von Karl Rahner
13.1 Der philosophische Ansatz
13.2 Der gnadentheologische Ansatz
13.3 Die Verbindung der beiden Ansätze
13.4 Der Grundansatz in 16 Thesen
13.4.1 Der Mensch als geistiges Wesen
13.4.2 Das Ziel des Menschen und die Selbstmitteilung Gottes
13.4.3 Das »übernatürliche Existential« des Menschen
13.4.4 Die Rechtfertigung des Menschen
13.5 Die menschliche Freiheit
13.6 Die anonymen Christen
13.7 Mystik
13.7.1 Definition von Mystik
13.7.2 Mystik des Alltags
13.8 Gott als das heilige Geheimnis
13.9 Reflexion
13.9.1 Kategoriale und transzendentale Offenbarung
13.9.2 Nichtchristliche Heilsbringer
13.9.3 Eine freiheitstheoretische Begründung des Geheimnisses Gottes
14. Der für uns Leidende. Das Leiden Gottes nach H. U. v. Balthasar
14.1 Das antike Ideal der Apathie (Jürgen Moltmann)
14.2 Das Leiden Gottes in der biblischen Überlieferung (H. U. v. Balthasar)
14.2.1 Das Pathos Gottes im Alten Testament
14.2.2 Die Berührbarkeit Jesu Christi im Neuen Testament
14.3 Das Leiden Gottes in der rabbinischen Theologie (Reinhard Neudecker)
14.4 Die Apathie und das Pathos Gottes bei den Vätern (H. U. v. Balthasar)
14.5 Das Leiden des Gottessohnes bei Martin Luther (Jürgen Moltmann)
14.6 Das Leiden Jesu Christi bis zum Tod (Neues Testament)
14.7 Das Leiden Jesu Christi nach dem Tod (H. U. v. Balthasar)
14.8 Reflexion
14.8.1 Argumente für die Leidensfähigkeit und das Leiden Gottes
14.8.2 Die Lehre von der hypostatischen Union
14.8.3 Die innergöttliche Voraussetzung des Leidens
15. Der Schöpfer. Erschaffung, Erhöhung und Vollendung der Welt
15.1 Die Schöpfung als creatio originans oder creatio ex nihilo
15.1.1 Die Grundzüge der Lehre
15.1.2 Der kosmologische Gottesbeweis und das Kontingenz-Argument
15.1.3 Die Ewigkeit der Welt?
15.1.4 Die physikalische Theorie vom Urknall
15.1.5 Die Feinabstimmung des Universums
15.2 Die Schöpfung als creatio continua oder conservatio
15.2.1 Die traditionelle Lehre
15.2.2 Eine aktualisierte Lehre
15.3 Die Schöpfung als creatio evolutiva
15.3.1 Das Mitwirken des Schöpfers bei der Evolution
15.3.2 Das Zusammenwirken (cooperatio) bei der Evolution
15.3.3 Die Lehre des Panpsychismus
15.4 Die Schöpfung als creatio nova
16. Der Allmächtige. Gottes Zusammenwirken mit der Welt
16.1 Die Option von der Alleinwirksamkeit
16.2 Das interventionistische Modell
16.3 Die prozesstheologische Sicht
16.4 Die Auffassung des open view
16.5. Die Theorie vom Zusammenwirken mit den Zweitursachen
16.6 Zusammenfassung der Theorie
16.7 Drei Missverständnisse der Theorie
16.8 Das Theodizeeproblem
17. Der Allwissende. Die Vorsehung Gottes
17.1 Das Problem der Allwissenheit
17.2 Die boethianische Lösung
17.3 Die molinistische Lösung
17.4 Die kompatibilistische Lösung
17.5 Die Lösung der offenen Zukunft.
17.6 Die Vorsehung Gottes angesichts einer offenen Zukunft
18. Der Ewige. Die Überzeitlichkeit Gottes
18.1 Ein erster Begriff von der Ewigkeit Gottes
18.2 Das eternalistische Verständnis von der Ewigkeit
18.3 Argumente gegen das eternalistische Verständnis
18.4 Das temporalistische Verständnis von der Ewigkeit
18.5 Einwände gegen das temporalistische Verständnis
18.6 Ein überzeitliches Verständnis von der Ewigkeit
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis

Citation preview

Johannes Herzgsell

Gott über uns – Gott unter uns – Gott in uns Philosophische, theologische und spirituelle Annäherungen an Gott

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817520

.

B

Johannes Herzgsell Gott über uns – Gott unter uns – Gott in uns

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Johannes Herzgsell

Gott über uns – Gott unter uns – Gott in uns Philosophische, theologische und spirituelle Annäherungen an Gott

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Johannes Herzgsell God above us – God among us – God in us Philosophical, theological and spiritual approaches to God Arranged in historical order the book presents how outstanding Western thinkers have approached God intellectually and spiritually, and who God essentially was for them. For the ancient philosophers Plato and Plotinus, for instance, the divine was above all the Good, the Beautiful, or the One. In the Middle Ages, Augustine, Richard of St. Victor and St. Thomas Aquinas, as Christian thinkers, sought to explain in their own ways the trinity of God. At the beginning of the Modern Age, Nicholas of Cusa’s lifelong quest for the most appropriate conception of God finally culminated in »ability itself«. In the Modern Age, Teresa of Avila experienced God as the innermost part of her soul, while the friar John of the Cross experienced God as a living flame of love. In his »Meditations«, Descartes determined God as the most perfect being. Hegel again approached the concept of trinity with his speculative doctrine of the kingdom of the Father, the Son and the Spirit. In the twentieth century, Hans Urs von Balthasar established the vicarious suffering of the Son of God of decisive importance for humans. During the same period, Karl Rahner understood God primarily as the sacred mystery. On the basis of a major work or several works each of the paths of these thinkers is traced to God. In addition, reflecting on recent Anglo-Saxon publications, the book will discuss some further attributes of God: his creativity, omnipotence, omniscience and eternity.

About the Author: Johannes Herzgsell SJ, born 1955, studied philosophy at Munich School of Philosophy, and theology at Heythrop College / University of London. PhD in 1998 at Munich School of Philosophy, where he also lectured from 1999–2006. Here he worked as Lecturer for Philosophy of Religion and Foundation of Theology from 2006–2010. In 2010 he here concluded his postdoctoral qualification (Habilitation) in philosophy, and started working as Professor of Philosophy of Religion, Religious Studies and Foundation of Theology in 2011.

https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Johannes Herzgsell Gott über uns – Gott unter uns – Gott in uns Philosophische, theologische und spirituelle Annäherungen an Gott Das Buch legt in geschichtlicher Reihenfolge dar, wie sich herausragende Denker des Abendlandes Gott geistig und geistlich angenähert haben und wer für sie Gott im Wesentlichen war. So war für die antiken Philosophen Platon und Plotin das Göttliche vor allem das Gute, Schöne oder Eine. Als christliche Denker suchten dann im Mittelalter Augustinus, Richard von St. Viktor und Thomas von Aquin auf je eigene Weise die Dreieinheit Gottes zu erklären. Am Beginn der Neuzeit endete die lebenslange Suche des Nikolaus von Kues nach dem angemessensten Gottesbegriff schließlich beim »Können selbst«. In der Neuzeit erfuhr Teresa von Avila Gott als das Innerste ihrer Seele, während ihr Ordensbruder Johannes vom Kreuz Gott als lebendige Liebesflamme erlebte. In seinen »Meditationen« bestimmte Descartes Gott als das vollkommenste Wesen. Wiederum dem dreieinen Gott näherte sich Hegel mit seiner spekulativen Lehre vom Reich des Vaters, des Sohnes und des Geistes. Für Hans Urs von Balthasar war im 20. Jh. das stellvertretende Leiden des Gottessohnes für uns Menschen von entscheidender Bedeutung. Im selben Zeitraum verstand Karl Rahner Gott primär als das heilige Geheimnis. Anhand eines Hauptwerkes oder mehrerer Werke wird jeweils der Weg oder ein Weg dieser Denker zu Gott nachgezeichnet. Außerdem werden mithilfe neuerer angelsächsischer Diskussionen noch einige Eigenschaften Gottes erörtert: sein Schöpfertum sowie seine Allmacht, Allwissenheit und Ewigkeit.

Über den Autor: Johannes Herzgsell SJ, geb. 1955, Studium der Philosophie an der Hochschule für Philosophie, München, und der Theologie am Heythrop College/University of London, 1998 Promotion an der Hochschule für Philosophie, München, 1999–2006 Lehrbeauftragter ebd., 2006–2010 Dozent für Religionsphilosophie und Grundlegung der Theologie ebd., 2010 Habilitation in Philosophie ebd., seit 2011 Professor für Religionsphilosophie, Religionswissenschaft und Grundlegung der Theologie ebd.

https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48945-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81752-0

https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

»Ein Gott und Vater aller, der über allen und durch alle und in allen ist« (Eph 4,6).

https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

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Inhalt

Vorwort

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.

Das Gute und das Schöne Der Aufstieg zum Höchsten bei Platon . . . . . . . . . Der Aufstieg zum Guten in der »Politeia« . . . . . . . 1.1.1 Die drei Seelenteile, die drei Stände und die vier Kardinaltugenden . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Das Gute im Sonnengleichnis . . . . . . . . . . 1.1.2.1 Das Sonnengleichnis und die Ideenlehre . 1.1.2.2 Das Sonnengleichnis und die Lehre vom Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Das Liniengleichnis und die Dialektik . . . . . . 1.1.4 Der Aufstieg zum Guten im Höhlengleichnis . . Der Aufstieg zum Schönen im »Symposion« . . . . . Der Zusammenhang zwischen den beiden Aufstiegen . Reflexion: Die christliche Aufnahme der Lehre Platons

Der in Jesus Christus Menschgewordene Neues Testament und frühe Tradition . . . . . . . . . . 2.1 Die Person Jesu Christi im Neuen Testament . . . . . 2.1.1 Der historische Jesus . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Neutestamentliche Christologien . . . . . . . . 2.1.3 Aufstiegs- und Abstiegs-Christologien . . . . . 2.2 Die Person Jesu Christi in der frühen Tradition . . . . 2.3 Das Erlösungswerk Jesu Christi . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Präexistenz, Inkarnation und öffentliches Wirken 2.3.2 Leiden, Sterben und Auferstehen . . . . . . . . 2.3.3 Der absolute Heilsmittler Gottes . . . . . . . .

1.1

1.2 1.3 1.4

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25 25

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25 28 28

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30 37 40 42 45 46

. . . . . . . . . .

52 52 52 55 57 60 63 63 65 67

2.

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Inhalt

3.

Der Dreieine Schrift und frühe Tradition . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Gott der Dreieine in den Zeugnissen der Schrift . . . . 3.1.1 Die Vorgeschichte der Trinitätsoffenbarung im Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Die Trinitätsoffenbarung im Neuen Testament . 3.1.2.1 Die paulinischen und deuteropaulinischen Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.2 Die synoptischen Evangelien und die johanneischen Schriften . . . . . . . . . 3.2 Die frühe, dogmatische Entwicklung der Trinitätslehre

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Das Schöne und das Eine Der Aufstieg zum Höchsten bei Plotin . . . . . . . . . . 4.1 Der Aufstieg zum Schönen in der Enneade I 6 . . . . . . 4.1.1 Metaphysische Voraussetzungen . . . . . . . . . 4.1.2 Der Aufstieg zum Schönen . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Das Ziel des Aufstiegs zum Schönen . . . . . . . 4.2 Der Aufstieg zum Guten oder Einen in der Enneade VI 9 . 4.2.1 Die drei Hypostasen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Der Aufstieg zum Einen und seine besonderen Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Das Ziel des Aufstiegs zum Einen . . . . . . . . . 4.3 Reflexion: Plotins Einfluss auf Augustinus . . . . . . . 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8

Der Dreieine als Urbild des Menschen »De Trinitate« von Aurelius Augustinus . . . . . . . . . Die Ontologie der Trinität . . . . . . . . . . . . . . . Liebender (amans), Geliebter (quod amatur) und Liebe (amor) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geist (mens), Liebe (amor) und Kenntnis (notitia) . . . Erinnerung (memoria), Einsicht (intelligentia) und Wille (voluntas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erinnerung (memoria), Denken (cogitatio) und Wille (voluntas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ähnlichkeit und Unähnlichkeit des Bildes . . . . . . . Der Heilige Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexion: Stringenz und Aktualität von Augustinus’ Trinitätslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

84 84 84 86 89 91 92 99 102 106

. 112 . 113 . 117 . 120 . 122 . 131 . 134 . 144 . 149

Inhalt

6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6

7. 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8

8. 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6

Der Dreieine als Liebe »De Trinitate« von Richard von St. Viktor . . . . . . . . . Anliegen und Aufbau des Werkes . . . . . . . . . . . . Die Mehrheit der Personen (pluralitas personarum) . . . Die Dreieinigkeit (Trinitas) der Personen . . . . . . . . Die Personen (personae) . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hervorgänge (processiones) und die Namen (nomina) der Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.1 Das intrapersonale und das interpersonale Modell der Trinität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.2 Die Einheit von immanenter und ökonomischer Trinität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Dreieine als Beziehungsgeschehen Aus der »Summa Theologica« von Thomas von Aquin . . . Die Hervorgänge (processiones) . . . . . . . . . . . . . Die Beziehungen (relationes) . . . . . . . . . . . . . . Die Personen (personae) . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Tätigkeiten (actus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Vater (Pater), der Sohn (Filius) und der Heilige Geist (Spiritus Sanctus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sendungen (missiones) . . . . . . . . . . . . . . . Die Analogie und die Unbegreiflichkeit Gottes . . . . . . Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8.1 Fragen an die Trinitätsspekulation des Thomas . . 7.8.2 Proprietäten und Appropriationen . . . . . . . . 7.8.3 Das logische und metaphysische Kernproblem der Trinität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Können selbst Gottesbegriffe bei Nikolaus von Kues . . . . . . . . Das absolut Größte . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Namen Gottes . . . . . . . . . . . . . . Der oder das Eine (unus/m) und die Einheit (unitas) Der Namenlose und Unbegreifliche . . . . . . . . Der Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Einfaltung (complicatio) von allem . . . . . .

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153 153 155 158 161 165 172 172 175 181 181 183 184 189 191 194 195 203 203 204 205 208 208 211 216 219

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https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Inhalt

8.7 8.8 8.9 8.10

Die Genauigkeit und das Maß von allem . . . . . . . Das Nicht-Andere (non-aliud) . . . . . . . . . . . . Das Können-Selbst (posse ipsum) . . . . . . . . . . Reflexion: Gottesbegriffe erster und zweiter Ordnung

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236 240 244 250

9.

Das Innerste im Menschen Die »Innere Burg« von Teresa von Avila . . Erste Wohnungen . . . . . . . . . . . . Zweite Wohnungen . . . . . . . . . . . Dritte Wohnungen . . . . . . . . . . . . Vierte Wohnungen . . . . . . . . . . . . Fünfte Wohnungen . . . . . . . . . . . Sechste Wohnungen . . . . . . . . . . . Siebte Wohnungen . . . . . . . . . . . . Reflexion: zwei interreligiöse Parallelen . 9.8.1 Die hinduistische Lehre vom atman 9.8.2 Die taoistische Lehre vom tao . . .

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255 256 260 261 262 265 272 275 281 281 283

Das Feuer der Liebe »Nacht« und »Flamme« bei Johannes vom Kreuz . . . Einführung in die Gesamtspiritualität . . . . . . . . Die dunkle Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.1 Die Nacht der Sinne . . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Die Nacht des Geistes . . . . . . . . . . . . . Die lebendige Liebesflamme . . . . . . . . . . . . . Reflexion: zwei interreligiöse Parallelen . . . . . . . 10.4.1 Die buddhistische Lehre vom Leerwerden . . . 10.4.2 Die buddhistische Lehre von der Buddha-Natur

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290 290 293 294 298 305 310 310 313

9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7 9.8

10. 10.1 10.2

10.3 10.4

11. 11.1 11.2 11.3 11.4

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Das vollkommenste Wesen »Exerzitien« (Ignatius) und »Meditationen« (Descartes) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absicht und Ziel der »Meditationen« und der »Geistlichen Übungen« . . . . . . . . . . . . . . . Die Struktur der »Meditationen« und der »Geistlichen Übungen« . . . . . . . . . . . . . . . Die einzelnen Meditationen . . . . . . . . . . . . . 11.4.1 Die Erste Meditation . . . . . . . . . . . . . 11.4.2 Die Zweite Meditation . . . . . . . . . . . .

12 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

. 315 . 315 . 317 . . . .

318 321 321 324

Inhalt

11.4.3 Die Dritte Meditation . . . . . . . . . . . . . . 11.4.4 Die Vierte Meditation . . . . . . . . . . . . . 11.4.5 Die Fünfte Meditation . . . . . . . . . . . . . 11.4.6 Die Sechste Meditation . . . . . . . . . . . . . 11.5 »Geistliche Übungen« und »Meditationen« als Verinnerlichungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . 11.6 Reflexion: Der ontologische Gottesbeweis . . . . . . . 11.6.1 Anselms und Descartes’ ontologischer Gottesbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.6.2 Kants Gottesbegriff und Kritik am ontologischen Gottesbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.6.3 Eine transzendentalphilosophische Deutung des Beweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. 12.1 12.2

12.3

12.4

12.5

Vater, Sohn und Heiliger Geist Die drei Reiche Gottes bei G. W. F. Hegel . . . . . . . Die »Phänomenologie des Geistes« und die »Enzyklopädie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Reich des Vaters . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.1 Die Bestimmung des Elementes . . . . . . . . 12.2.2 Die absolute Diremtion . . . . . . . . . . . . 12.2.3 Die Dialektik der Dreieinigkeit Gottes . . . . 12.2.4 Der Ernst der Liebe . . . . . . . . . . . . . . 12.2.5 Verstand und Vernunft . . . . . . . . . . . . Das Reich des Sohnes . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.1 Das Setzen des Unterschiedes . . . . . . . . . 12.3.2 Die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.3 Die Menschwerdung Gottes . . . . . . . . . Das Reich des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4.1 Der Heilige Geist als Geist der Gemeinde . . . 12.4.2 Die Realisierung der Gemeinde . . . . . . . . 12.4.3 Die Realisierung des Geistigen zur allgemeinen Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5.1 Die drei Formen des Bewusstseins von Gott . . 12.5.2 Die Drei-Reiche-Lehre . . . . . . . . . . . .

326 329 331 333 335 336 336 338 341

. 346 . . . . . . . . . . . . . .

346 352 354 354 355 361 364 366 367 368 372 376 376 380

. . . .

382 383 383 385

13 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Inhalt

13. 13.1 13.2 13.3 13.4

13.5 13.6 13.7

13.8 13.9

14. 14.1 14.2

14.3 14.4 14.5 14.6

Das heilige Geheimnis Der Denkansatz von Karl Rahner . . . . . . . . . . . . Der philosophische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . Der gnadentheologische Ansatz . . . . . . . . . . . . Die Verbindung der beiden Ansätze . . . . . . . . . . Der Grundansatz in 16 Thesen . . . . . . . . . . . . . 13.4.1 Der Mensch als geistiges Wesen . . . . . . . . 13.4.2 Das Ziel des Menschen und die Selbstmitteilung Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4.3 Das »übernatürliche Existential« des Menschen . 13.4.4 Die Rechtfertigung des Menschen . . . . . . . Die menschliche Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . Die anonymen Christen . . . . . . . . . . . . . . . . Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.7.1 Definition von Mystik . . . . . . . . . . . . . 13.7.2 Mystik des Alltags . . . . . . . . . . . . . . . Gott als das heilige Geheimnis . . . . . . . . . . . . . Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.9.1 Kategoriale und transzendentale Offenbarung . 13.9.2 Nichtchristliche Heilsbringer . . . . . . . . . . 13.9.3 Eine freiheitstheoretische Begründung des Geheimnisses Gottes . . . . . . . . . . . . . . Der für uns Leidende Das Leiden Gottes nach H. U. v. Balthasar . . . . . Das antike Ideal der Apathie (Jürgen Moltmann) . Das Leiden Gottes in der biblischen Überlieferung (H. U. v. Balthasar) . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.1 Das Pathos Gottes im Alten Testament . . 14.2.2 Die Berührbarkeit Jesu Christi im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . Das Leiden Gottes in der rabbinischen Theologie (Reinhard Neudecker) . . . . . . . . . . . . . . Die Apathie und das Pathos Gottes bei den Vätern (H. U. v. Balthasar) . . . . . . . . . . . . . . . . Das Leiden des Gottessohnes bei Martin Luther (Jürgen Moltmann) . . . . . . . . . . . . . . . Das Leiden Jesu Christi bis zum Tod (Neues Testament) . . . . . . . . . . . . . . . .

389 389 394 398 400 400 401 402 403 404 408 410 410 413 417 421 421 424 426

. . . 428 . . . 428 . . . 431 . . . 431 . . . 433 . . . 434 . . . 436 . . . 438 . . . 440

14 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Inhalt

14.7 Das Leiden Jesu Christi nach dem Tod (H. U. v. Balthasar) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.8 Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.8.1 Argumente für die Leidensfähigkeit und das Leiden Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . 14.8.2 Die Lehre von der hypostatischen Union . . 14.8.3 Die innergöttliche Voraussetzung des Leidens 15. 15.1

15.2

15.3

15.4 16. 16.1 16.2 16.3 16.4 16.5 16.6 16.7 16.8

. . 447 . . 455 . . 455 . . 459 . 462

Der Schöpfer Erschaffung, Erhöhung und Vollendung der Welt . . . . Die Schöpfung als creatio originans oder creatio ex nihilo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1.1 Die Grundzüge der Lehre . . . . . . . . . . . 15.1.2 Der kosmologische Gottesbeweis und das Kontingenz-Argument . . . . . . . . . . . . 15.1.3 Die Ewigkeit der Welt? . . . . . . . . . . . . 15.1.4 Die physikalische Theorie vom Urknall . . . . 15.1.5 Die Feinabstimmung des Universums . . . . Die Schöpfung als creatio continua oder conservatio . 15.2.1 Die traditionelle Lehre . . . . . . . . . . . . 15.2.2 Eine aktualisierte Lehre . . . . . . . . . . . . Die Schöpfung als creatio evolutiva . . . . . . . . . 15.3.1 Das Mitwirken des Schöpfers bei der Evolution 15.3.2 Das Zusammenwirken (cooperatio) bei der Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3.3 Die Lehre des Panpsychismus . . . . . . . . . Die Schöpfung als creatio nova . . . . . . . . . . . . Der Allmächtige Gottes Zusammenwirken mit der Welt . . . Die Option von der Alleinwirksamkeit . . . Das interventionistische Modell . . . . . . Die prozesstheologische Sicht . . . . . . . Die Auffassung des open view . . . . . . . Die Theorie vom Zusammenwirken mit den Zweitursachen . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung der Theorie . . . . . . . Drei Missverständnisse der Theorie . . . . Das Theodizeeproblem . . . . . . . . . . .

. 465 . 465 . 465 . . . . . . . . .

467 469 471 474 477 477 478 480 480

. 483 . 485 . 486

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

492 493 494 497 501

. . . .

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. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

503 507 510 514 15

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Inhalt

17. 17.1 17.2 17.3 17.4 17.5 17.6 18. 18.1 18.2 18.3 18.4 18.5 18.6

Der Allwissende Die Vorsehung Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem der Allwissenheit . . . . . . . . . . . . . Die boethianische Lösung . . . . . . . . . . . . . . . Die molinistische Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . Die kompatibilistische Lösung . . . . . . . . . . . . . Die Lösung der offenen Zukunft . . . . . . . . . . . . Die Vorsehung Gottes angesichts einer offenen Zukunft

519 519 521 524 527 531 534

Der Ewige Die Überzeitlichkeit Gottes . . . . . . . . . . . . Ein erster Begriff von der Ewigkeit Gottes . . . . Das eternalistische Verständnis von der Ewigkeit . Argumente gegen das eternalistische Verständnis Das temporalistische Verständnis von der Ewigkeit Einwände gegen das temporalistische Verständnis Ein überzeitliches Verständnis von der Ewigkeit .

539 539 541 544 548 550 553

Abkürzungsverzeichnis

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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101

Vorwort

Dieses Buch ist aus Seminaren und Vorlesungen, die ich in den letzten Jahren an der Hochschule für Philosophie in München gehalten habe, hervorgegangen. Drei Mitbrüdern und Kollegen von der Hochschule möchte ich für ihre persönliche Unterstützung dabei besonders danken: Prof. Dr. Johannes Müller SJ, Prof. Dr. Josef Schmidt SJ und Dr. Janez Perčič SJ. Für wertvolle Ratschläge bezüglich des Lektorats bin ich Frau Dr. Stephanie Reichenbach-Klinke sehr dankbar. Für das gründliche Korrekturlesen gilt mein besonders herzlicher Dank Frau Cora Duttmann. Herrn Lukas Trabert und Frau Angela Haury vom Verlag Karl Alber danke ich sehr für die konstruktive Zusammenarbeit. Auch der Hochschule für Philosophie in München gebührt mein aufrichtiger Dank für den Druckkostenzuschuss. Schließlich geht mein großer Dank noch an die Schwestern vom Kloster Oberschönenfeld und an meine Mitbrüder von St. Blasien. Dank ihrer langjährigen herzlichen Gastfreundschaft und der guten Atmosphäre konnte ich mich bei ihnen nicht nur immer wieder ausruhen und erholen, sondern auch zu weiten Teilen das vorliegende Werk in Ruhe schreiben. Ich widme dieses Buch in Dankbarkeit den Zisterzienserinnen von Oberschönenfeld und den Jesuiten von St. Blasien. München, 2. Februar 2018

Johannes Herzgsell SJ

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https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Einleitung

In diesem Buch sollen einige herausragende Gottesdenker des Abendlandes in geschichtlicher Reihenfolge vorgestellt werden. Geleitet ist das Unterfangen dabei von der doppelten Frage: Wie haben sich diese Denker geistig oder auch geistlich Gott angenähert? Und wer war Gott – in einem Wort – für sie? Die hier präsentierten Persönlichkeiten stammen aus der Zeit vom 5. Jahrhundert vor Christus bis zum beginnenden 21. Jahrhundert. Es handelt sich mit Ausnahme von Platon und Plotin um christliche Autoren und eine christliche Autorin. Anhand eines Hauptwerkes oder mehrerer Werke soll jeweils der (oder einer) von ihnen beschriebene Weg zu Gott nachgezeichnet werden, wobei die Darstellung einer christlichen Perspektive verpflichtet ist. Für Platon im 5./4. Jahrhundert vor Christus ist die höchste Wirklichkeit das Gute, aber auch das Schöne. In der »Politeia« beschreibt er den Aufstieg des Menschen aus seinem Höhlendasein zum Licht des Guten. Im »Symposion« schildert er einen weiteren Aufstieg, den Aufstieg zum Schönen. Was das Gute im Rahmen der Ideenlehre bei ihm eigentlich ist und wie die beiden Aufstiege zusammenhängen, wird zu klären sein. Für die Autoren des Neuen Testaments im 1. Jahrhundert ist Jesus von Nazaret nicht nur der von den Juden erwartete Messias, sondern der Sohn und Logos Gottes. In ihm ist Gott selbst Mensch geworden. Auf vielfältige Weise suchen die Autoren das Geheimnis Jesu Christi, seine Person und sein Erlösungswerk, theologisch zu deuten. Diese Deutungen werden in den darauffolgenden Jahrhunderten zu einer systematischen und reflektierten Lehre weiterentwickelt. Im Neuen Testament ist aber nicht nur die Lehre von Jesus Christus grundgelegt. Auch die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes ist hier im Keim enthalten. Spuren der Trinität finden sich schon im Alten Testament. Bei den neutestamentlichen Autoren gilt dann als 19 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Einleitung

geoffenbart, dass Gott sowohl Vater, als auch Sohn und Heiliger Geist ist. Auch diese Ansätze werden in den folgenden Jahrhunderten in einer metaphysischen Lehre systematisch entfaltet. Plotin nimmt im 3. Jahrhundert Platons Beschreibung des Aufstiegs zum Schönen auf, interpretiert diesen Aufstieg aber auf seine eigene Weise und integriert ihn in seine eigene Metaphysik. Ziel ist nunmehr neben dem Schönen das Eine, das der Ursprung von allem ist und zu dem der Mensch zurückkehren soll. Dieses Eine übersteigt als höchste Wirklichkeit zwar das menschliche Begreifen, ist aber für den Menschen nicht völlig unerreichbar und unerfahrbar. Eine Einung mit ihm hält Plotin für möglich. Bei Plotin macht Augustinus im 4./5. Jahrhundert wichtige geistige Anleihen, sieht sich aber als Christ herausgefordert, Gott als dreieinig zu denken. In »De trinitate« begründet er zunächst den Glauben an die Trinität biblisch, bevor er ihn philosophisch-spekulativ durchdringt. Auf der Suche nach einem Bild der Dreifaltigkeit im geschöpflichen Bereich wird er schließlich beim menschlichen Geist mit seiner Trias von Erinnerung, Einsicht und Willen fündig. Im 12. Jahrhundert entwickelt Richard von St. Viktor dann eine Dreifaltigkeitsspekulation, bei der die Liebe Gottes den Ausgangspunkt bildet und konsequent durchdacht wird. Als Liebe kann Gott in sich selber nicht »allein« sein. Die Liebe verlangt die Zweiheit der Personen und vervollkommnet sich in einer dritten Person. Beeinflusst von Augustinus, aber konsequenter als dieser deutet Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert in seiner »Summa theologica« die Dreifaltigkeit schließlich als ein Beziehungsgeschehen in Gott, das auf verschiedenen göttlichen Tätigkeiten beruht. Die Personen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes sind für ihn nichts anderes als für sich bestehende Beziehungen. Sein Leben lang sucht im 15. Jahrhundert Nikolaus von Kues in seinen Werken den angemessensten Begriff für Gott. Er bestimmt Gott zunächst als das absolut Größte, das mit dem absolut Kleinsten zusammenfällt, favorisiert dann wie Plotin als Gottesbegriff das Eine oder den Einen, begreift Gott als Zusammenfall der Gegensätze und als Einfaltung von allem, und deutet ihn als das Nicht-Andere, bis er schließlich glaubt, im Können-Selbst den genauesten Gottesbegriff gefunden zu haben. Wiederum ähnlich wie Plotin, freilich ganz in der christlichen Tradition beschreibt im 16. Jahrhundert Teresa von Avila in ihren »Wohnungen der inneren Burg« den Weg zu Gott als einen Weg nach 20 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Einleitung

Innen. Gott wohnt für sie in der innersten Wohnung der menschlichen Seele. In großer psychologischer Klarheit macht sie deutlich, welche Gefahren auf dem Weg nach Innen drohen und auf welche Tugenden es dabei ankommt. Ihr Freund und Ordensbruder, der Karmelit Johannes vom Kreuz, schildert dann in seinem Werk »Die dunkle Nacht« vor allem die Leiden, die auf diesem Weg zu bestehen sind, bevor er in seinem Werk »Die lebendige Liebesflamme« Gott als das Feuer der Liebe würdigt, das die Liebe des Menschen reinigt und immer mehr entfacht. René Descartes ist im 17. Jahrhundert in seinen »Meditationen über die Erste Philosophie« sichtlich von den Exerzitien des Ignatius von Loyola aus dem 16. Jahrhundert geprägt. Für ihn ist Gott das vollkommenste Wesen, zu dessen Vollkommenheit es auch gehört, notwendigerweise zu existieren. Von drei Reichen Gottes geht Georg Wilhelm Friedrich Hegel im 19. Jahrhundert in seiner Trinitätsspekulation aus. Dem Menschen zeigt sich Gott nacheinander als Vater, als Sohn und als Heiliger Geist, weshalb dieser ihn auf unterschiedliche, aber immer intensivere und vollkommenere Weise erfährt. Karl Rahner bevorzugt in seinen Werken im 20. Jahrhundert für Gott den Begriff des heiligen Geheimnisses. Der Mensch ist für ihn ein geistiges Wesen, das als solches unbegrenzt offen ist für Gott und dem Gott durch seine Gnade auf geheimnisvolle Weise bereits ganz nahe ist. Der Mensch muss diese Nähe Gottes »nur« noch in Freiheit annehmen. Ebenfalls im 20. Jahrhundert hebt Hans Urs von Balthasar in seinen Werken hervor, wie sehr Gott für uns Menschen gelitten hat. Durch sein stellvertretendes Leiden in seinem irdischen Leben, besonders aber im und nach dem Tod hat der menschgewordene Sohn Gottes alle Menschen vor dem ewigen Tod gerettet. Diskussionen über bestimmte Eigenschaften Gottes, wie sie in der angelsächsischen analytischen Religionsphilosophie im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert geführt worden sind, fasst Armin Kreiner in seinem Werk »Das wahre Antlitz Gottes – oder was wir meinen, wenn wir Gott sagen« zusammen. Im Brennpunkt stehen das Schöpfertum Gottes, seine Allmacht, seine Allwissenheit und seine Ewigkeit. Bei ihren Annäherungen an Gott setzen die Denker unterschiedliche methodische Akzente. Platon, Plotin, Descartes und Hegel etwa 21 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Einleitung

gehen vorrangig philosophisch vor. Sie machen hauptsächlich von der reinen Vernunft Gebrauch. Die Autoren des Neuen Testaments und Hans Urs von Balthasar hingegen denken in erster Linie theologisch, indem sie gläubiges Offenbarungswissen zum Ausdruck bringen oder in Anspruch nehmen. Aber auch beispielsweise bei Augustinus, Richard von St. Viktor und Thomas von Aquin nimmt die theologische Erkenntnis breiten Raum ein. Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz wählen schließlich primär eine spirituelle Herangehensweise. Bei ihnen steht die Erfahrung, besonders die eigene Erfahrung im Vordergrund. Die Wege dieser Autoren zu Gott lassen sich jedoch bei aller unterschiedlichen methodischen Akzentuierung nicht fein säuberlich gegeneinander abgrenzen und in starre Kategorien einordnen. Bei ihnen allen haben im weitesten Sinn alle drei Zugangsweisen eine Bedeutung. Besonders sticht dies vielleicht bei Karl Rahner hervor, bei dem Philosophie, Theologie und Spiritualität sehr ausgewogen ineinander spielen. Aber auch bei Plotin fällt beispielsweise die spirituelle Dimension stark auf. Bei Nikolaus von Kues oder bei Hegel tritt neben der philosophischen Dimension auch die theologische deutlich in Erscheinung. Deshalb wird auch in diesem Buch darauf verzichtet, die einzelnen dargelegten Zugänge zu Gott von vornherein einzuteilen und einer bestimmten Methode zuzuordnen. Die methodische Präferenz der einzelnen Autoren spricht jeweils für sich selbst und muss nicht eigens angegeben werden. Damit sich die Leserin und der Leser einen möglichst lebendigen Eindruck vom Denkstil und der Persönlichkeit des jeweiligen Autors verschaffen kann, werden deren Gedanken immer möglichst nahe am Text wiedergegeben und dargelegt. Aus diesem Grund sollen auch immer wieder die Denker selbst zu Wort kommen. (Dabei werden die Zitate um der größeren Leserfreundlichkeit und Einheitlichkeit willen in neuer Rechtschreibung wiedergegeben.) Bei allen Kapiteln über einzelne Autoren folgt auf den darstellenden Teil noch eine Reflexion. In diesen Reflexionen wird auf geschichtliche und systematische Zusammenhänge hingewiesen, werden kritische Punkte angesprochen und Probleme diskutiert, werden Themen durch weitere Themen ergänzt oder wird auf interreligiöse Parallelen aufmerksam gemacht. Wer die Kapitel der vorgegebenen Reihe nach liest, wird vieles von den geschichtlichen Entwicklungslinien des abendländischen 22 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Einleitung

Gottesdenkens erkennen können. Das Denken der Autoren baut vielfach aufeinander auf. Nicht selten kann es als Deutung, Präzisierung oder Vertiefung des Denkens anderer aufgefasst werden. Insgesamt lassen sich die verschiedenen Zugänge zu Gott so verstehen, dass sie nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern einander ergänzen. Trotz des geschichtlichen Zusammenhangs werden die einzelnen Kapitel so geschrieben sein, dass sie jeweils eine Einheit für sich darstellen und darum auch ohne Weiteres für sich gelesen werden können. Das kann die Leserin und den Leser ermutigen, gezielt einzelne Kapitel auszuwählen oder eine eigene Reihenfolge herzustellen. Die Wahrheit über Gott lässt sich von allen Seiten her erschließen. Alle hier vorgestellten Gott-Denker sind sich dessen bewusst und darin einig: Wir können Gott nicht wirklich begreifen. Das hieße nämlich letztlich, sich gedanklich über ihn zu stellen und ihn in eines unserer Denksysteme einzuordnen. Ein solcher Standpunkt außerhalb Gottes oder gar über Gott ist uns nicht möglich. Wir erkennen Gott immer nur innerhalb Gottes. Gott stellt den äußersten, nämlich unbegrenzten Horizont unseres Denkens dar. Wir können uns Gott, über den hinaus wir Größeres nicht denken können, nur begrifflichgedanklich annähern und ihn mit unserem Denken zu berühren suchen, ihn aber nicht ergreifen und umgreifen. Eine solche Annäherung und Berührung sollten wir aber mit aller Anstrengung, derer wir fähig sind, versuchen. Denn auch auf Denkwegen ist eine echte Annäherung an Gott möglich. Das richtige Gott-Denken kann außerdem ein immer intensiveres persönliches Verstehen und Verspüren sowie ein immer existentielleres Erfahren Gottes erleichtern und begleiten. Bei den hier vorliegenden »Porträts« handelt es sich also um philosophische, theologische und spirituelle Annäherungen an Gott, die zum Nachvollzug einladen. Sie ergeben insgesamt keine systematische Lehre von Gott, geben jedoch Einsichten wieder, die in einer solchen Lehre nicht fehlen dürfen und als Grundbausteine einer solchen dienen können.

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1. Das Gute und das Schöne Der Aufstieg zum Höchsten bei Platon

1.1 Der Aufstieg zum Guten in der »Politeia« 1.1.1 Die drei Seelenteile, die drei Stände und die vier Kardinaltugenden Das Gute (τὸ ἀγαθόν, tò agathón) und das Schöne (τò καλόν, tò kalón) sind jeweils Ziel eines menschlichen Aufstiegs, wie ihn Platon (427–347 v. Chr.) und über sechshundert Jahre später Plotin (204/5– 270 n. Chr.) beschreiben. 1 Den Aufstieg zum Guten schildert Platon im Höhlengleichnis. Dieses steht unmittelbar nach dem Sonnen- und Liniengleichnis im »Staat« (»Politeia«), der als Platons Hauptwerk gilt. 2 Da das Höhlengleichnis nur in seinem Zusammenhang in der »Politeia« angemessen verstanden werden kann, sei zunächst kurz die Gesamtkonzeption des Werkes vorgestellt, bevor das Sonnen- und Liniengleichnis zur Sprache kommen. Platon entwickelt in seinem Dialog »Politeia« eine Lehre von der menschlichen Seele, derzufolge die Seele aus drei Teilen besteht. 3 Es zeigen sich zunächst zwei Teile: der vernünftige Teil (τὸ λογιστικόν (μέρος), tò logistikón (méros)) und der begehrende (τὸ ἐπιθυμητικόν, tò epithymētikón). Dabei handelt es um zwei wirklich verschiedene Seelenteile, denn es kann zum echten Konflikt zwischen beiden Siehe zu diesem Kapitel und zu Kap. 4 über Plotin Johannes Herzgsell SJ: Der Aufstieg zum Guten und Schönen bei Platon und bei Plotin, in: Felix Resch (Hg.): Die Frage nach dem Unbedingten. Gott als genuines Thema der Philosophie. Festschrift zu Ehren von Prof. Dr. Josef Schmidt SJ, Dresden 2016, 529–555. 2 Die »Politeia« entstand nach 387 v. Chr. 3 Siehe dazu Herwig Görgemanns: Platon, Heidelberg 1994 [= Görgemanns 1994], 136–139. Zu platonischen Grundbegriffen wie Seele, das Gute, Geist/Nous, Denken, Dihärese, Gott, Idee/Form/Gestalt/Wesen, Logos, Philosophie, Religion, Schönheit, Sein/Seiendes, Seinsstufen, Teilhabe, Unsterblichkeit, Weisheit, Wiedererinnerung u. a. siehe Christian Schäfer (Hg.): Platon-Lexikon. Begriffswörterbuch zu Platon und der platonischen Tradition, Darmstadt 2007. 1

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Das Gute und das Schöne

Teilen kommen, der dann einen Konflikt zwischen rationalen und irrationalen Kräften in der Seele darstellt. Platon begnügt sich aber nicht mit einer Zweiteilung der Seele, sondern fügt einen dritten Teil hinzu. Es ist der »zornartige«, besser »zornhafte« (τὸ θυμοειδές, tò thymoeidés). »[Dieser Teil] scheint zunächst dem begehrenden ähnlich, aber Platon zeigt mit einer Anekdote (439e6–440a3), dass die beiden [ebenfalls] durchaus in Konflikt miteinander geraten können. In dem Beispiel (der Geschichte von Leontios) äußert sich der eine in Schau- und Sensationslust, der andere in Wut auf sich selbst und seine beschämende Schwäche. Dieser Zorn ist eine edle Gefühlsregung; so wird man auch in einem Streit ja nur dann wirklich zornig, wenn man von seinem Recht überzeugt ist. Der ›zornartige Teil‹ erweist sich hierdurch als ein Verbündeter […] des vernünftigen Teils, weil er für dessen Werturteile zugänglich ist und sie in Taten umsetzt.« 4

Die menschliche Seele besteht nach Platon aus drei Vermögen: aus der Vernunft, der Begierde und dem Aggressions- oder Affektvermögen. In der »Politeia« baut Platon auf der Dreiteilung der Seele ein ethisches Konzept auf, indem er die Seele und den Staat parallelisiert und damit gleichzeitig eine Individualethik und eine Sozialethik begründet. 5 Die Parallelisierung von Staat und Seele stellt das Kompositionsprinzip der »Politeia« dar: »Der Staat ist der Mensch im Großen und der Mensch der Staat im Kleinen; die Beziehungen zwischen den Seelenvermögen entsprechen denen zwischen den Ständen des Staates.« 6 Die Ausgangsfrage in der »Politeia« lautet: Was ist Gerechtigkeit (δικαιοσύνη, dikaiosýnē)? Da die Gerechtigkeit des Staates als das Größere leichter zu durchschauen ist als die Gerechtigkeit eines einzelnen Menschen, untersucht Platon zunächst die Gerechtigkeit im Staat. Er erläutert die Struktur des Staates, indem er vom Prinzip der Arbeitsteilung ausgeht. Der Staat muss aus funktionell verschiedenen Menschengruppen aufgebaut sein (369a–376e). Es muss drei Stände oder Klassen geben: die »Herrscher« (»Regenten« (ἄρχοντες, árchontes)), die »Wächter« (φύλακες, phýlakes) und die Erwerbstätigen. In der zweckmäßigen Koordination dieser drei Klassen liegen Görgemanns 1994, 137. Vgl. zum Folgenden Görgemanns 1994, 140 f. 6 Friedo Ricken: Philosophie der Antike (Grundkurs Philosophie 6) 4., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 2007 [= Ricken 2007], 120. 4 5

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Der Aufstieg zum Guten in der »Politeia«

die Qualitätsmerkmale eines Staates: seine »Tugenden« (»Tugend«: ἀρετή, aretē´ ). Platon versucht nun, die vier gängigen Tugenden in diesem Rahmen zu bestimmen (427d–434d): 1. die »Weisheit« (σοφία, sophía), 2. die »Tapferkeit« (ἀνδρεία, andreía), 3. die »Besonnenheit« (σωφροσύνη, sōphrosýnē) und 4. die »Gerechtigkeit«. Die Weisheit und die Tapferkeit sind einzelnen Klassen zuzuordnen: die Weisheit den Herrschern, die Tapferkeit den Wächtern, d. h. dem Kriegerstand. Die Besonnenheit, die auch Selbstbeherrschung genannt wird, ist eine Beziehung zwischen den Klassen: die Herrschaft der höheren über die niederen. Die Gerechtigkeit ist schließlich identisch mit dem Grundprinzip des Staates, nämlich der Aufgabenteilung. Demnach tut jede Klasse das Ihre und mischt sich nicht in die Kompetenz einer anderen ein. Dieses Bestimmungsschema überträgt Platon auf die Seele des Einzelmenschen. Den drei Bürgerklassen entsprechen die drei Seelenteile. Die Weisheit ist eine Eigenschaft des vernünftigen, denkenden Teils. Sie besteht im richtigen Wissen davon, was gut, d. h. nützlich für den ganzen Menschen ist. Die Tapferkeit ist eine Eigenschaft des zornartigen Seelenteils. Sie beinhaltet ein richtiges Urteil über das, was gefährlich und was ungefährlich ist. Die Besonnenheit ist nichts anderes als die Eintracht und Freundschaft der Seelenteile untereinander, durch die das richtige Herrschaftsverhältnis ohne Konflikte gewährleistet wird. Die Gerechtigkeit besteht in der Konzentration und Beschränkung eines jeden Seelenteils auf die jeweils eigene Aufgabe ohne Einmischung in andere. In der menschlichen Seele muss demnach – der Besonnenheit entsprechend – das richtige Herrschaftsverhältnis gewahrt sein. »Es liegt im Interesse von Affekt und Begierde, dass sie von der Vernunft gelenkt werden, weil sie sonst in der Gefahr sind, die Güter, auf die sie ausgerichtet sind, zu verfehlen. Allein die Vernunft kann das Gute erkennen; sie kann überlegen, abwägen, vorausschauen. Sie nimmt einen übergeordneten Standpunkt ein, der den Interessen aller Vermögen gerecht wird. Ziel ihrer Herrschaft ist die volle Harmonie sämtlicher Antriebe des Menschen.« 7

Wie die Vernunft in der Seele herrschen soll, so soll der Philosoph im Staat herrschen. Der Philosoph zeichnet sich durch die Liebe zur Weisheit (φιλοσοφία, philosophía) aus und ist deshalb begierig nach

7

Ricken 2007, 120.

27 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

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Wahrheit (ἀλήθεια, alētheia). 8 Aufgrund seiner Weisheit als Wissen um das, was gut ist für das Ganze, und aufgrund seiner anderen Tugenden, besonders der Gerechtigkeit, ist der Philosoph am besten geeignet, den Staat zu lenken.

1.1.2 Das Gute im Sonnengleichnis 1.1.2.1 Das Sonnengleichnis und die Ideenlehre Nachdem in der »Politeia« 9 viel von den Tugenden und von der besonderen Kompetenz des Philosophen die Rede war, nicht aber von ihrer Begründung, kommt diese endlich einmal zur Sprache. »Was ist es, das der Tugend zugrunde liegt und das der Philosoph gegen alle Anfechtungen unbeirrt aufrechterhalten muss? Es ist die Erkenntnis des Guten.« 10 Die Idee des Guten (ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα, hē tou agathou idéa) stellt nach Sokrates das höchste Wissen dar. 11 Denn sie macht durch ihre Mitwirkung die Gerechtigkeit und alles Übrige erst heilsam und nützlich. Deshalb gibt sich beim Guten niemand mit dem bloßen Schein zufrieden. Vielmehr strebt jeder nach dem wirklich Guten und seiner Kenntnis. Sokrates will aber fürs Erste die Frage, was denn das Gute eigentlich sei, auf sich beruhen lassen. 12 Stattdessen will er etwas vorstellen, was ihm als Sprössling des Guten erscheint und ihm sehr ähnlich ist: die Sonne. 13 Beim Vergleich des Guten mit der Sonne setzt er ein Zweifaches voraus. Es gibt eine Vielheit von schönen, guten und anderen Dingen. Es gibt aber auch ein Schönes an sich, ein Gutes an sich und Ähnliches. Es gibt also einerseits einzelne Dinge und andererseits Ideen davon. Die einzelnen Dinge werden von uns gesehen, aber nicht gedacht, die Ideen als die Dinge an sich von uns gedacht, aber Vgl. Barbara Zehnpfennig: Platon zur Einführung, Hamburg 1997 [= Zehnpfennig 1997], 109. 9 Ich werde mich insbesondere an den beiden folgenden Übersetzungen orientieren: Platon: Der Staat. Neu übersetzt und erläutert von Otto Apelt (Platon. Sämtliche Dialoge. Bd. V). Sechste der Neuübersetzung dritte Auflage, Hamburg 1988; Platon: Der Staat. Über das Gerechte. Eingeführt von Gerhard Krüger. Übertragen von Rudolf Rufener, Zürich 1950. 10 Zehnpfennig 1997, 113 f.; vgl. Rp. 505a. 11 Vgl. dazu und zum Folgenden Rp. 505. 12 Vgl. Rp. 506e. 13 Das Sonnengleichnis: Rp. 506e–509b. 8

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nicht gesehen. Sokrates setzt hier die Ideen- bzw. Zwei-Welten-Lehre voraus. 14 Nach dieser Lehre, wie Platon sie an anderen Stellen der »Politeia« und in anderen Dialogen entwirft 15, ist das Verhältnis der sichtbaren, veränderlichen und vergänglichen Dinge zu den geistigen, unveränderlichen und ewigen Ideen durch Teilhabe (μέθεξις, méthexis) gekennzeichnet. 16 Was und dass sie sind, verdanken die Einzeldinge der Teilhabe an den nicht-räumlichen, immateriellen Ideen. 17 Sie haben teil oder nehmen teil an den Ideen. 18 Sie haben Gemeinschaft mit ihnen. 19 Die Ideen sind in ihnen als ihr wirklicher Grund und ihre Ursache anwesend. 20 Die Ideen sind das, was sie sind, an sich selbst. Was von ihnen ausgesagt wird, kommt ihnen als solchen und notwendig zu. 21 Sie sind deshalb wirkliches, eigentliches Sein 22, ein immer Seiendes, das weder entsteht noch vergeht. 23 Die Einzeldinge sind hingegen das, was sie sind, nicht an sich selbst, sondern durch anderes, da sie in vielfältigen Beziehungen zu anderen Dingen stehen und ihre Bestimmungen nur zufällig besitzen. Aus diesem Grund haben sie ihren ontologischen Ort zwischen Sein und Nichtsein. 24 Die einzelne Idee stellt gegenüber den betreffenden sichtbaren

Was wir heute unter »platonischer Idee« verstehen, umschrieb Platon selbst mit einer Vielzahl von Ausdrücken. So kann er allgemein die Ideen als das »immer Seiende« beschreiben; als das, was »weder entsteht noch vergeht«; als die »wesenhafte Wirklichkeit selbst«; als das »eigentliche Sein«; als das, was ist, »selbst«; als »Wesen selbst«. Und so kann er beispielsweise von der Idee des Schönen als einem »seiner Natur nach wunderbar Schönen« oder dem »Schönen selbst« sprechen. In seinen Spätdialogen besteht zwischen den Wörtern genos (Geschlecht, Gattung), eidos (Aussehen, Gestalt, Form) und idea (Aussehen, Erscheinung, Gestalt, Urbild) kein nennenswerter Bedeutungsunterschied. Siehe dazu Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie [= HWP]. Band 4: I–K, Darmstadt 1976, (»Idee«) 55–58, hier 55. 15 Siehe dazu insbesondere Ricken 2007, 80–101. 16 Vgl. Phaid. 100c5; 101c3; Rp. 476d2; Symp. 211b3; Phaid. 102b2. 17 Vgl. Parm. 132d3. 18 Vgl. Phaid. 100c5; 101c3; Rp. 476d2; Symp. 211b3; Phaid. 102b2. 19 Vgl. Phaid. 100d5. 20 Vgl. Phaid. 99b3 f.; Tim 46c; vgl. zur »Anwesenheit« der Ideen in den Einzeldingen auch Phaid. 100d5. 21 Vgl. Phaid. 78d5; Symp. 211b1. 22 Vgl. Phaid. 78d. 23 Vgl. Symp. 210e. 24 Vgl. Rp. 479c7. 14

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Dingen das Urbild (παράδειγμα, parádeigma) dar 25 und dient als Norm und Maßstab für sie. Dementsprechend bilden die Einzeldinge die Ideen nur ab und ahmen sie nach. Die ganze sichtbare Welt des Werdenden ist nur ein Abbild der intelligiblen Welt des wirklich und eigentlich Seienden, der Ideen. 26 1.1.2.2 Das Sonnengleichnis und die Lehre vom Guten Dem Sonnengleichnis zufolge spendet die Sonne im Bereich des Sichtbaren durch ihr Licht unserem Sehvermögen die Kraft, zu sehen, und ermöglicht es den Dingen durch ihr Licht, gesehen zu werden. Dem vergleichbar verleiht das Gute im Bereich des Denkbaren und Erkennbaren durch das Licht der Wahrheit unserer Vernunft (νοῦς, nous oder nus) die Kraft, die Ideen zu erkennen, und ermöglicht es den Ideen, erkannt zu werden. Die Idee des Guten ist die Ursache der Erkenntnis und der Wahrheit der Ideen, ist selbst aber etwas noch Schöneres als die beiden. Wie das Licht (bzw. das Auge) und das Sehvermögen mit der Sonne verwandt und sonnenartig sind, aber nicht selbst die Sonne sind, so sind die Erkenntnis und die Wahrheit verwandt mit dem Guten, aber nicht das Gute selbst. Das Gute selbst steht auf einer noch höheren Stufe als die Erkenntnis und die Wahrheit, die sie hervorbringt, und überragt sie an Schönheit. Die Sonne gibt nun aber »dem, was gesehen wird, nicht nur das Vermögen, gesehen zu werden, sondern auch Werden, Wachstum und Nahrung, ohne doch selbst ein Werden zu sein« 27. Sie ist demnach auch die Ursache des Entstehens und Wachsens der sichtbaren Dinge. Dementsprechend wird den Ideen als dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden vom Guten zuteil. Vielmehr hat das Erkennbare und Denkbare sein Sein und Wesen vom Guten. Und doch ist das Gute nicht das Wesen, sondern steht noch jenseits des Wesens (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας, epékeina tēs ousías) und übertrifft es an Würde und Kraft. 28 Die Idee des Guten ist Ursache auch des Seins und des Vgl. Euth. 6e; Krat. 389a–d; Rp. 596a–598d. Vgl. Rp. 509d–511e (Liniengleichnis). 27 Rp. 509b. (Übersetzung von Apelt) 28 Rp. 509b. Das Wort οὐσία (ousía) (wörtlich »Seiendheit«) kann Sein oder Wesen bedeuten. Bei Platon kommen beide Bedeutungen vor. Es fragt sich daher, ob an dieser Stelle »nur« eine Wesenstranszendenz oder eine Seinstranszendenz der Idee des Guten gemeint ist. Es fragt sich, etwas anders gewendet, ob das Gute als ein besonderes Sein jenseits des Seins der anderen Ideen oder als ein Übersein über allem Sein 25 26

30 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

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Wesens der Ideen. Sie transzendiert die übrigen Ideen und gehört einer höheren Ordnung als sie an. Die Idee des Guten ist demnach für Platon das Prinzip aller Ideen. Sie ist sowohl der Grund ihres Seins und Wesens als auch der Grund ihrer Erkennbarkeit und Wahrheit. Wie die Sonne im Bereich des Sichtbaren herrscht, so herrscht die Idee des Guten im Bereich des Denkbaren und Erkennbaren, d. h. der Ideen. 29 Platon entwickelte seine Lehre vom Guten nirgendwo systematisch. Fügt man aber seine Aussagen über das Gute aus unterschiedlichen Dialogen zusammen, zeichnet sich eine Art Lehre von verschiedenen Modi und verschiedenen Dimensionen des Guten ab. 30 Zunächst lassen sich bei Platon zwei Formen oder Modi des Guten unterscheiden: das substantiell Gute und das relational Gute. Substantiell oder intrinsisch gut ist etwas, wenn es in sich selbst gut bzw. sinnvoll oder wertvoll ist. Relational oder extrinsisch gut ist etwas, wenn es für andere gut bzw. sinnvoll oder wertvoll ist. Nach Platons Auffassung gibt es eine letzte und höchste Wirklichkeit, die in einem absoluten Sinn in sich selbst gut ist, und das ist die Idee des Guten. Diese Idee ist das erste metaphysische Prinzip von allem. Alles hängt daher metaphysisch von ihm ab. Alles hat an ihm teil. Aus diesem Grund kann auch alles in sich gut sein bzw. ist alles in gewissem Sinn in sich gut. Und weil alles in gewissem Sinn in sich gut ist, kann letztlich alles für den Menschen gut sein. Weil es substantiell Gutes gibt, gibt es auch relational Gutes. Das Gute (τὸ ἀγαθόν, tò agathón) ist für Platon etwas, dem kein Mangel anhaftet, das demnach vollkommen ist. 31 In diesem vollkommenen Sinn sind nur die Ideen gut, die allein wahres Sein haben. Die unvollkommenen sinnlichen Dinge der Welt sind nur soweit gut, als

schlechthin anzusiedeln ist. Plotin und andere Neuplatoniker setzten jedenfalls später das Gute mit dem absolut seinstranszendenten Einen gleich und sprachen damit dem Guten eine maximale Transzendenz zu. Vgl. dazu Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin, Stuttgart 1992, 220–225; sowie Jens Halfwassen: Auf den Spuren des Einen. Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte, Tübingen 2015, 37–49. 29 Vgl. Rp. 509d. 30 Siehe dazu HWP Band 3: G–H, 1974, (»Gut, das Gute, das Gut«) 937–945. Zu Platons Lehre vom Guten bzw. der Idee des Guten siehe auch Josef Schmidt: Philosophische Theologie (Grundkurs Philosophie Bd. 5), Stuttgart 2003 [= Schmidt 2003], 146–150. 31 Vgl. Phaid. 74d–75a.

31 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

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sie den ihnen zugehörigen Ideen entsprechen. Die Entsprechung bemisst sich an der Teilhabe (μέθεξις, méthexis) an den Ideen bzw. an der Anwesenheit (παρουσία, parousía) der Ideen in ihnen. 32 In sich gut sind für Platon vor allem die Idee des Guten selbst und davon abhängig die übrigen Ideen. In sich gut kann aber auch in besonderer Weise die menschliche Seele sein. Zur »guten« Seele gehört die gute Verrichtung der ihr eigenen Aufgabe (ἔργον, érgon). 33 Die menschliche Seele ist dann gut, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt und gerecht und tugendhaft ist. Das relational Gute bestimmt Platon zunächst als das Nützliche. Gut ist etwas für uns, wenn es uns nützt. 34 Nützlich und tauglich ist aber etwas für gewöhnlich nur dann, wenn es die Funktion (ἔργον, érgon), die seiner Wesensbestimmung entspricht, erfüllt. 35 Das relational Gute geht aber nicht in der Nützlichkeit, Brauchbarkeit oder Funktionstüchtigkeit auf. Das für uns Gute ist mehr als das Nützliche. Es soll uns nämlich nicht nur Nutzen bringen, sondern auch zu unserem Wohlergehen, letztlich zu unserem Glück beitragen. Wohlbefinden und Glück gehen aber über den bloßen Nutzen weit hinaus. Das wird unmittelbar deutlich an Dingen, die uns zwar nützen, aber nicht wirklich unser Wohlbefinden erhöhen. Je besser und wertvoller etwas in sich ist, desto mehr kann es zu unserem Wohl und Glück beitragen. Platon unterscheidet bezüglich des relational Guten drei Arten von Gutem bzw. Gütern: 1. solche, die wir um ihrer selbst willen lieben und haben möchten, wie zum Beispiel das Fröhlichsein oder harmlose Freuden; 2. solche, die wir sowohl um ihrer selbst willen als auch um ihrer Folgen willen lieben und haben möchten, wie zum Beispiel das Verständigsein, das Sehen und das Gesundsein; 3. solche, die wir nicht um ihretwillen, sondern nur um ihrer Folgen willen lieben und haben wollen, wie etwa die Leibesübungen, die Medizin und den Gelderwerb. 36 Zur »schönsten« Art erklärt Platon dabei die zweite, zu der er die Gerechtigkeit und die anderen Tugenden zählt. Sie muss man um

32 33 34 35 36

Vgl. Lysis 217e; Gorg. 497e; Phaid. 100d; Parm. 132d. Vgl. Rp. 353b–e. Vgl. Rp. 505a. Vgl. Lysis 222c; Rp. 491c. Vgl. Rp. 357b–358a.

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ihrer selbst und um ihrer Folgen willen lieben, wenn man glücklich werden will. An der Gerechtigkeit und den anderen Tugenden wird besonders klar ersichtlich, welch enger Zusammenhang zwischen dem substantiell und dem relational Guten besteht. Nur weil und insofern die Tugenden in sich gut sind, sind sie und ihre Folgen auch gut für uns. Das Gut, das wir am meisten um seiner selbst willen und um seiner Folgen willen begehren und lieben sollten, ist freilich das Gute selbst, die Idee des Guten. Neben den beiden Modi des Guten lassen sich verschiedene inhaltliche Dimensionen des Guten bei Platon ausmachen. Diese Dimensionen hängen eng miteinander zusammen und gehen teilweise ineinander über. Man kann sie nicht strikt voneinander trennen, dennoch aber unterscheiden. So hat das Gute eine eudämonologische Dimension. Für Platon gibt es einen engen Zusammenhang zwischen dem Guten und dem Glück (εὐδαιμονία, eudaimonía) des Menschen. Sokrates bestimmt das Gute zunächst als das, was zum glücklichen Dasein, zum Glück führt. 37 Das Glück stellt das höchste Ziel des Menschen dar. Dass dieses Ziel erstrebenswert ist, bedarf keiner weiteren Begründung. Anders gesagt: Das Glück ist nicht Mittel zu einem anderen Zweck. 38 Es hat seinen Zweck und seinen Sinn in sich selbst, es ist selbstzweckhaft. Platon fasst dabei Glück immer als Erfüllungsglück, nicht als Empfindungsglück auf. Glück besteht nicht in einem außergewöhnlichen Glücksgefühl. Vielmehr findet im Glück das wahre Streben des Menschen seine Erfüllung. Das Gute ist Bedingung oder Voraussetzung für das Glück. Der Mensch kann nur durch das Gute glücklich werden. Er muss um das Gute wissen, selber gut sein und das Gute tun, um wahrhaft glücklich sein zu können. In dem Maß, in dem er das Gute in seinem Leben verwirklicht, wird er – zumindest was sein Inneres angeht – glücklich. Die Schau des Guten und der Ideen sowie die Verwirklichung der Ideen – besonders der des Schönen und Gerechten – bahnen sowohl dem Einzelnen als auch der Gemeinschaft den Weg zum Glück. 39 Wesentlich ist für das Gute dann auch, wie bereits deutlich geworden ist, eine metaphysische Dimension. Dass sie sind und was sie 37 38 39

Vgl. Charm. 174 f. Vgl. Georg Römpp: Platon, Köln Weimar Wien 2008 [= Römpp 2008], 71. Vgl. Rp. 541a; Phaidr. 246b.d,e.

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sind, sind die sichtbaren, veränderlichen Einzeldinge durch ihre Teilhabe an den Ideen. Die Ideen sind ihr metaphysischer Grund. Aber nicht nur ein Einzelding kann an verschiedenen Ideen teilhaben, indem es z. B. zugleich schön und groß ist. Auch eine einzelne Idee kann an verschiedenen anderen Ideen teilhaben. 40 Jede Idee besteht aus der eigenen Natur und der Teilhabe an bestimmten anderen Ideen. 41 Die Natur ist der Grund für das, was eine Idee aus sich selbst heraus ist. Die Teilhabe ist der Grund für alles, was bei einer Idee von ganz bestimmten anderen Ideen noch hinzukommt. Erst die Natur und die Teilhabe zusammen machen eine Idee aus. Alle Ideen haben etwa an der Idee der Andersheit, der Idee des Einen und der Idee des Seins als höchsten Ideen teil. 42 Alle Ideen verdanken somit ihr Wesen zumindest teilweise anderen Ideen. Ihren letzten metaphysischen Grund haben die Ideen aber nicht in irgendwelchen anderen Ideen, sondern in der Idee des Guten als der allerhöchsten Idee. Diese Idee verleiht ihnen letztlich ihr Dasein und ihr Wesen. Von dieser Idee hängt deshalb letztlich alles andere ab. Das höchste Gute ist für Platon die letzte metaphysische Ursache für alle Wirklichkeit. Zum Guten gehört auch eine axiologische Dimension. Die Idee des Guten stellt den höchsten Wert dar. Von ihr empfängt alles seinen Wert. Sie ist es, die letztlich alles wertvoll macht. Insofern uns die Idee des Guten einwohnt 43, besitzen wir in uns einen absoluten objektiven Wertmaßstab, mit dem wir den Wert von allem bewerten und wertschätzen können. Näherhin liefert uns das Gute einen Maßstab für den rechten Gebrauch der Dinge oder Güter. 44 Diesen Maßstab benötigen wir, da die einzelnen Güter selbst relativ und ambi-

Vgl. Parm. 137c. Vgl. Soph. 232b1–264b7. 42 Vgl. Soph. 258d7 f.; Parm. 144a–b. 43 Vgl. Gorg. 506c,d. Dort heißt es: »Ist das Angenehme und das Gute ein und dasselbe? Nein, wie ich und Kallikles übereingekommen sind. Muss man aber das Angenehme um des Guten willen tun, oder das Gute um des Angenehmen willen? Das Angenehme um des Guten willen. Angenehm ist aber doch das, dessen Erscheinen bewirkt, dass wir uns freuen, gut aber das, dessen Anwesenheit bewirkt, dass wir gut sind? Gewiss. Gut sind aber nun doch wir ebenso wie alles andere, was gut ist, durch die Anwesenheit einer gewissen Vollkommenheit (Tugend)?« Platon verwendet hier eine Form des Wortes παραγίγνομαι (paragígnomai): ich bin dabei, ich wohne bei. Das Gute ist bei uns oder in uns. 44 Vgl. dazu auch Görgemanns 1994, 129–132. 40 41

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valent sind. Was dem einen nützt, schadet dem anderen. Ein Gut, das mir in einem bestimmten Maß nützt, kann mir in einem anderen Maß schaden. Mit Hilfe des Guten können wir das Übermaß und den Mangel erkennen und vermeiden und das rechte Maß in allem finden. 45 Die Idee des Guten selbst ist der allem übergeordnete, göttliche Maßstab, der uns das rechte Maß anzeigt. Sie ist die letzte Norm von allem. Sie ist für uns das durch die Vernunft fest umgrenzte Eine, das uns befähigt, uns gegen das Zuviel und das Zuwenig abzugrenzen und die Einheit und die Mitte in allem zu finden. Damit zeigt sich auch schon eine wesentliche ethische Dimension des Guten. Die Idee des Guten gibt uns Orientierung in unserem Handeln und befähigt uns zu einsichtigem Handeln. 46 Als absoluter innerer Maßstab lehrt sie uns, welche Handlungen zu ihr passen und welche nicht, was wir folglich zu tun und zu lassen haben. Nur soweit, als wir sittlich gut sind und entsprechend handeln, sind wir selber gut. Es ist vor allem das sittlich Gute, das uns zum Glück führt. 47 Mit dem Guten hängt auch die Gesundheit der Seele zusammen. Eine Seele, die gerecht und besonnen ist und in allem das Maß hält, befindet sich in einer der Natur gemäßen Ordnung und in Harmonie mit sich und den anderen. 48 Eine solche Seele darf als gesund und von daher auch als gut gelten. Ihre Gesundheit führt sie zum Glück. Das Gute hat gewissermaßen auch eine medizinische Seite. Obwohl Platon das Gute nicht mit dem Angenehmen und der Lust (ἡδονή, hēdonē´ ) gleichsetzt 49, weil es schlechte Lüste gibt, schließt er eine hedonistische Dimension des Guten nicht grundsätzlich aus. Das Gute, das er auch als das an sich Grenzenlos-Unbestimmte auffasst, schließt in sich Lust ein, wird aber durch Vernunftüberlegung (φρόνησις, phrónēsis; νοῦς, nous oder nus) zur festen Begrenzung und schafft dadurch Gesetz (νόμος, nómos) und Ordnung (τάξις, táxis). 50 Genauer stellt sich das Gute als Einheit von Ebenmaß, Schönheit und Wahrheit dar. Im Rahmen des Vernünftigen

45 46 47 48 49 50

Vgl. Leg. 728e–729a. Vgl. Rp. 517c. Vgl. Phil. 64d–66d. Vgl. Gorg. 504a–d; 506e; 507c; 508b; Rp. 444c,d; 501b. Vgl. Gorg. 506c; Rp. 505. Vgl. Phil. 23c–31a.

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gehört somit ebenfalls die Lust zum Guten. Das Gute ist für Platon durchaus auch angenehm und lustvoll. Mit der Idee des Guten eng verwandt ist die Idee des Schönen und die Idee des Einen. 51 Das Gute selbst fasziniert durch seine Schönheit. 52 Es hat eine ästhetische Dimension. Im Dialog »Parmenides« charakterisiert Platon die Idee des Einen als absolut, relationslos und unnennbar, und räumt ihr damit eine Sonderstellung innerhalb der Ideen ein, die in gewissem Sinn der Sonderstellung der Idee des Guten innerhalb der Ideen vergleichbar ist. Von der Idee des Einen her lässt sich verstehen, warum die Idee des Guten den Dingen Sein und Erkennbarkeit verleiht. Denn ein jedes, das existiert, existiert und ist deshalb erkennbar, weil es Eines ist. In der innerakademischen Diskussion wurde offenbar das Gute mit dem Einen gleichgesetzt. 53 Das Gute (τὸ ἀγαθόν, tò agathón) ist das Eine (τὸ ἓν, tò hèn) und besitzt insofern auch eine »henologische« Dimension. Auch Plotin wird später besonders in seiner Schrift über »Das Gute oder das Eine« (VI 9 [9]) das Gute mit dem Einen gleichsetzen und sich auf Platons Charakterisierung des Einen als absolut, relationslos und unnennbar stützen. Nicht zuletzt offenbart sich im Guten eine göttliche bzw. theologische Dimension. In den »Nomoi« fasst Platon das Gute nicht mehr als Gegenstand menschlichen Besitzverlangens und Strebens auf, sondern als etwas Göttliches, dem Ehre und Achtung gebührt. 54 Für ihn sind der eine Gott (θεός, theós), die Idee des Guten und der Nous (νοῦς; der Geist, die Vernunft) in gewissem Sinn dasselbe. 55 Zwar identifiziert er nirgends ganz ausdrücklich den einen personalen Gott mit der Idee des Guten. Aber für ihn haben der eine Gott, die Idee des Guten und der Nous metaphysisch ein und dieselbe Funktion: Sie sind das erste metaphysische Prinzip aller Wirklichkeit und ihrer Strukturen. Von daher ist es bei Platon – zumindest in gewissem Sinn – gerechtfertigt, den einen personalen Gott mit der Idee des Guten und mit dem Nous gleichzusetzen.

51 52 53 54 55

Vgl. Symp. 204e–206a; Parm; vgl. dazu auch Görgemanns 1994, 130. Vgl. Rp. 509a. Vgl. Michael Erler: Platon, München 2006, 155. Vgl. Nomoi 726–730d. Vgl. Michael Bordt: Platons Theologie, Freiburg/München 2006 [= Bordt 2006].

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1.1.3 Das Liniengleichnis und die Dialektik Laut dem Liniengleichnis 56, das unmittelbar dem Sonnengleichnis folgt, ist den Ideen als dem höchsten Seins- oder Wirklichkeitsbereich das Erkenntnisvermögen der Vernunft bzw. die Erkenntnisweise des Vernunftdenkens (νόησις, nóēsis) zugeordnet. Die Vernunft bildet das höchste menschliche Erkenntnisvermögen. Im Unterschied zur Verstandeserkenntnis (διάνοια, diánoia) in der Mathematik geht die Vernunfterkenntnis nicht von unbegründeten Voraussetzungen aus, sondern steigt dialektisch zum voraussetzungslosen Anfang, d. h. zur Idee des Guten auf, wodurch eine Letztbegründung von allem erreicht wird. Auch ist die Vernunfterkenntnis im Unterschied zu der des Verstandes nicht mehr auf das Sichtbare angewiesen. Vielmehr schreitet sie ganz ohne Rückgriff auf Sinnliches voran und stützt sich lediglich auf reine Begriffe in ihrem inneren gegenseitigen Zusammenhang. 57 Die erste Weise, Ideen zu erkennen, besteht für Platon in der Wiedererinnerung (ἀνάμνησις, anámnēsis). Anlässlich eines sichtbaren Gegenstandes erinnert sich die unsterbliche Seele, die vor der Geburt des Körpers rein geistig die Ideen geschaut hat, an die Idee, die vom betreffenden Gegenstand dargestellt oder abgebildet wird. Zum Beispiel erinnert sich die Seele angesichts eines Tisches an die Idee des Tisches. Dabei ist es Aufgabe der Vernunft als des höchsten Seelenteils, die Verwandtschaft oder Ähnlichkeit des sichtbaren Gegenstandes mit der Idee festzustellen. Bei der Wiedererinnerung ist die Erkenntnis der Ideen insofern auf die sinnliche Wahrnehmung sichtbarer Gegenstände angewiesen, als sich die Seele nur anlässlich sichtbarer Gegenstände an die Ideen erinnert und diese daran sozusagen wiedererkennt. Bei der dialektischen Erkenntnis der Ideen durch die Vernunft, wie Platon sie im Liniengleichnis entwirft, ist eine solche Wiedererinnerung jedoch gerade ausgeschlossen. Denn die dialektische Ideenerkenntnis der Vernunft soll im Unterschied zur mathematischen Erkenntnis des Verstandes gerade nicht mehr auf Bilder, d. h. auf die Wahrnehmung sichtbarer Dinge angewiesen sein. Sie soll vielmehr rein begrifflich oder rein gedanklich sein. Ohne von irgendeiner sinnlichen Erkenntnis Gebrauch zu machen, soll die Vernunft allein über 56 57

Rp. 509d–511e. Vgl. Rp. 510b; 511b.

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den inneren Zusammenhang zwischen den Begriffen und Ideen zum voraussetzungslosen Anfang hinaufsteigen, d. h. zur höchsten Idee, zur Idee des Guten. Für Platon wäre der beste Weg der Erkenntnis der Ideen die unmittelbare geistige Schau der Ideen, wie sie unsere Seelen vor der Geburt besessen haben. 58 Auch die Ideenerkenntnis durch Wiedererinnerung kann als eine geistige Schau der Ideen aufgefasst werden, die freilich durch die sinnliche Wahrnehmung sichtbarer Gegenstände vermittelt ist. Die Dialektik ist für Platon nach der unvermittelten oder vermittelten Schau der Ideen der zweitbeste Weg, die Ideen zu erkennen. 59 Dabei ist unter Dialektik bei Platon zunächst die Kunst des philosophischen Dialogs zu verstehen. Dieser Dialog ist am Logos 60, an der Vernunft orientiert. Im logos-orientierten Dialog werden Behauptungen aufgestellt und begründet, werden Einwände gegen Behauptungen erhoben, werden Einwände widerlegt, wird gefragt und nachgefragt, Rede und Antwort gestanden, »sodass auf dieser Grundlage ein vernünftiger Konsens erzielt werden kann« 61. Am Ende des Dialogs kommt es zu einer Übereinstimmung oder Einigung. Es besteht unter den Gesprächsteilnehmern Übereinstimmung darüber, das Wesen oder die Idee des in Frage stehenden Gegenstandes erkannt zu haben. Dabei garantiert nicht der Konsens unter den Dialogpartnern die Wahrheit – eine Konsenstheorie der Wahrheit liegt Platon ganz fern. 62 Vielmehr kann der Konsens zum Ausdruck bringen, dass jetzt alle Teilnehmer eine intuitive Einsicht in die besprochene Sache gewonnen haben, das Wesen oder die Idee des untersuchten Gegenstandes intuitiv erkannt haben. 63 Die platonische Dialektik ist aber nicht auf den äußeren Dialog zwischen verschiedenen Gesprächsteilnehmern festgelegt. Auch der Einzelne kann die dialektische Methode anwenden, indem er mit sich Vgl. Römpp 2008, 33–43. Vgl. Römpp 2008, 35, 40. 60 »›Logos‹ hat im Griechischen eine mehrfache Bedeutung. Es kann sich um Worte bzw. um die Sprache handeln, aber auch um Urteile und schließlich auch um das Denken oder die Vernunft. ›Den Logos geben‹ heißt in etwa ›eine Begründung oder Rechtfertigung bzw. Erklärung geben‹. Mit dem Logos kann auch der Grund oder die Ursache für etwas gemeint sein« (Römpp 2008, 27). 61 Römpp 2008, 42. 62 Vgl. Römpp 2008, 41. 63 Vgl. Römpp 2008, 36. 58 59

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Der Aufstieg zum Guten in der »Politeia«

selbst einen logos-orientierten Dialog führt und nach reiflichem Abwägen und Bedenken der betreffenden Sache zu einer intuitiven Ideenerkenntnis kommt. An der Dialektik als logos-orientiertem Dialog zeigt sich demnach bereits, dass es sich auch bei dieser Art von Ideenerkenntnis nicht einfach um eine rein begrifflich-diskursive oder argumentativ-diskursive, sondern um eine im Wesentlichen intuitive Erkenntnis handelt, die von einer intuitiven geistigen Schau nicht allzu weit entfernt ist. Diese Auffassung bestätigt sich durch den wichtigsten Hinweis, den Platon selber in der »Politeia« zur dialektischen Methode gibt. Demnach setzt die Dialektik die Fähigkeit zur »Zusammenschau« 64 voraus, also die Fähigkeit zu intuitiver Erkenntnis. Die Begriffe bzw. Ideen müssen in ihrem Zusammenhang geschaut werden. Die richtige Zusammenschau führt dann auch zur Erkenntnis der Idee des Guten. Es geht beim dialektischen Aufstieg zum Guten nicht um einen Aufstieg im Sinn immer größerer Abstraktion und Verallgemeinerung von Begriffen. »Die dialektische Zusammenschau in der ›Politeia‹ darf nicht so verstanden werden, dass wir von spezifischen zu immer allgemeineren Prädikaten aufsteigen. Das ergibt sich aus dem Prädikat, dessen Erkenntnis Ziel des Aufstiegs ist. ›Gut‹ ist im Unterschied zu z. B. ›Tier‹ kein generischer ›Begriff‹, dem mehrere spezifische Begriffe untergeordnet sind. Diese Eigenschaft teilt es mit dem Schönen, das Ziel des dialektischen Aufstiegs im ›Symposion‹ ist.« 65

Mit dem dialektischen Aufstieg zur Idee des Guten ist demzufolge in der »Politeia« eine im Wesentlichen intuitive Erkenntnis des Zusammenhangs der Ideen untereinander, insbesondere aber ihres Zusammenhangs mit der Idee des Guten gemeint. Die Dialektik der Vernunft zielt darauf, die Ideen als das wahre Wesen der Dinge zu erkennen. 66 Ihr höchstes Ziel ist es aber, das Prinzip aller Ideen, die Idee des Guten, zu erkennen. Die Erkenntnis oder das Wissen des Guten ist aber wiederum in erster Linie ein praktisches Wissen. 67 Wissen wir, was das Gute ist oder was gut ist, dann wissen wir, wie wir uns entscheiden sollen, was wir tun oder lassen sollen. Das Wissen des Guten verhilft zu richtigen Entscheidungen 64 65 66 67

Rp. 537c. Vgl. Ricken 2007, 111–113. Ricken 2007, 113. Vgl. Rp. 532ab. Vgl. Rp. 517b.

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Das Gute und das Schöne

und richtigen Handlungen. Durch den vernunftorientierten dialektischen Dialog mit anderen oder mit sich selbst kann der Mensch herausfinden, d. h. zu einer intuitiven Erkenntnis dessen gelangen, was gut ist. Die Erkenntnis des Guten ist primär ein intuitives praktisches Wissen um die objektiv richtige Entscheidung und um das objektiv richtige Handeln. Für Platon besteht neben der Möglichkeit, Ideen anlässlich sinnlicher Wahrnehmungen durch Wiedererinnerung intuitiv zu erkennen, die Möglichkeit, ganz ohne sinnliche Wahrnehmungen durch einen am Logos orientierten dialektischen Dialog mit anderen oder sich selbst zu einer ebenfalls intuitiven Erkenntnis der Ideen, insbesondere der Idee des Guten zu gelangen.

1.1.4 Der Aufstieg zum Guten im Höhlengleichnis Im Höhlengleichnis 68 schildert Platon folgende Situation und Begebenheit: »In einer höhlenartigen Behausung sitzen Menschen, die an Schenkeln und Hals gefesselt sind. Längs einer Mauer hinter ihnen tragen Menschen Statuen und steinerne sowie hölzerne Gerätschaften, die über die Mauer hinausragen. Licht spendet ein Feuer, das in der Höhle vor ihrem Ausgang brennt. Die gefesselten Menschen sehen vor sich auf der Höhlenwand nichts anderes als die Schatten von sich, voneinander und von den Gerätschaften, und wenn sie miteinander sprächen, wäre ihr Sich-Unterreden allein ein Benennen, wenn sie aber ein Echo der vielleicht einmal sprechenden Menschen hinter der Mauer vernähmen, wären sie der Ansicht, die auf der Höhlenwand vorüberziehenden Schatten sprächen. – Wenn nun ein Gefesselter gezwungen würde aufzustehen, sich umzuwenden und ins Licht des Feuers zu sehen, wäre er geblendet und würde sich von den Gerätschaften ab- und den Schatten wieder zuwenden. – Mit Gewalt würde er dann den steilen Weg hinauf ans Licht der Sonne geschleppt, würde nun aber, also außerhalb der Höhle, wegen der Helligkeit wieder nichts sehen. Eine Phase der Gewöhnung wäre erforderlich, während der er die Schatten und Spiegelbilder der Menschen und alles anderen sähe, erst später sie und es selbst, darauf auch den Himmel, zunächst bei Nacht, dann bei Tage, schließlich die Sonne, zuerst ihre Bilder etwa im Wasser, dann auch sie selbst, die, wie er in der Folge sähe, alles hervorbringt, sogar das, was in der Höhle gesehen wird. – Wenn er aber seinen alten Platz in der Höhle wieder einnähme, wäre er zunächst wegen der Dunkelheit unfähig zu sehen. Auch 68

Das Höhlengleichnis: Rp. 514a–519b; 539d–541b.

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Der Aufstieg zum Guten in der »Politeia«

sein Handeln würde wegen fehlender Gewöhnung unmittelbar nur Gelächter hervorrufen. Sollte er gar versuchen, jemanden zu befreien und hinaufzubringen, dann, so hieß es, müsse er, wenn möglich, getötet werden.« 69

Wie Platon ausdrücklich feststellt, muss das Höhlengleichnis mit dem vorhergehenden Sonnen- und Liniengleichnis in Verbindung gebracht und auf diesem Hintergrund verstanden werden. 70 Der Aufstieg aus der Höhle zur oberen Welt, in der die Sonne scheint und herrscht, symbolisiert dementsprechend den Aufstieg von der sichtbaren Welt der sinnlich-materiellen Dinge zur höheren geistigen Welt der Ideen, in der die Idee des Guten herrscht. Der künftige Philosophenherrscher soll in einem Aufstiegsweg von der Erkenntnis der sichtbaren Dinge zur Erkenntnis der Ideen und schließlich zur Erkenntnis der Idee des Guten gelangen. Dabei müssen ihm das Erkenntnisorgan und die Erkenntniskraft, die zur Erkenntnis des Guten notwendig sind, nicht erst eingepflanzt werden. 71 Denn der Mensch als solcher besitzt bereits Vernunft und ihm »scheint« bereits das geistige Licht des Guten. Aber der Mensch muss seine Vernunft von den sichtbaren Dingen ab- und den Ideen, insbesondere der Idee des Guten selbst, zuwenden. Er muss sich erst mit seiner ganzen Seele vom Bereich des Werdenden zum Bereich des wahren Seins umwenden. 72 Beim Aufstieg zum Guten handelt es sich daher um eine radikale Umkehr der menschlichen Seele. Wie sich im Gleichnis der Aufsteigende mitsamt seinem ganzen Leib umwenden muss, muss bei der rechten Bildung der Mensch mitsamt der ganzen Seele umkehren, bis er fähig ist, das Gute zu betrachten. 73 Deshalb schildert Platon den dialektischen Aufstieg zum Guten als einen schmerzhaften Befreiungsprozess. 74 Der Mensch muss aus seiner ursprünglichen Situation des blinden Höhlendaseins, des einengenden Gefesselt- und Gefangenseins herausgeholt werden. Er muss sich im Laufe des Aufstiegs erst langsam an das Licht der Sonne, d. h. des Guten gewöhnen. Er wird versucht sein, in die alte Welt

Rudolf Rehn (Hg.): Platons Höhlengleichnis. Das Siebte Buch der Politeia. Griechisch – Deutsch. Übersetzt, erläutert und herausgegeben von Rudolf Rehn. Mit einer Einleitung von Burkhard Mojsisch, Mainz 2005, 15 f. 70 Vgl. Rp. 517b. 71 Vgl. Rp. 518b,c. 72 Vgl. Rp. 515c,d; 518c,d. 73 Vgl. Rp. 514a; 518bc. 74 Vgl. insbesondere Rp. 515c–516a. 69

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Das Gute und das Schöne

zurückzufliehen. Aber schlussendlich wird er imstande sein, seine Seele in das Reich des Denkbaren, des Geistigen zu erheben 75 und »die Sonne […] selbst in voller Wirklichkeit an ihrer eigenen Stelle zu schauen und ihre Beschaffenheit zu betrachten« 76. »In dem Gebiete des Denkbaren zeigt sich zuletzt und schwer erkennbar die Idee des Guten; hat sie sich aber einmal gezeigt, so muss sich bei einiger Überlegung ergeben, dass sie für alle die Urheberin alles Rechten und Guten ist, indem sie im Sichtbaren das Licht und den Quell und Herrn desselben (die Sonne) erzeugt, in dem Denkbaren aber selbst als Herrscherin waltend uns zu Wahrheit und Vernunft verhilft, sodass also diese Idee erkannt haben muss, wer einsichtig handeln will, sei es in persönlichen oder in öffentlichen Angelegenheiten.« 77

Versucht man ohne jede sinnliche Wahrnehmung allein durch die Kunst der Dialektik vermittelst des reinen Denkens dem beizukommen, was jedes Ding an sich ist, und ruht nicht eher, bis man das Gute seinem eigentlichen Wesen nach durch bloße Vernunfttätigkeit erfasst hat, so gelangt man damit an das eigentliche Ziel des Denkbaren: zur Idee des Guten. 78 Unter der Vernunfttätigkeit des reinen Denkens (νόησις, nóēsis) versteht Platon im Rahmen der Dialektik dabei von vornherein nicht nur und nicht in erster Linie ein begrifflich-diskursives Denken, sondern vor allem ein intuitives Denken im Sinne eines geistigen »Erblickens« oder »Schauens«. 79 Bereits seine beiden Schlüsselbegriffe des εἶδος (eidos) und der ἰδέα (idéa) verraten dies, insofern sie dieselbe Wurzel wie das griechische Wort εἴδειν (eídein) für Sehen haben. 80

1.2 Der Aufstieg zum Schönen im »Symposion« In der »Politeia« setzt die Dialektik, mit deren Hilfe die Vernunft zur Erkenntnis der Idee des Guten aufsteigen kann, die Fähigkeit zur ZuVgl. Rp. 517b. Rp. 516b. (Übersetzung von Apelt) 77 Rp. 517c. (Übersetzung von Apelt) 78 Vgl. Rp. 532a,b. 79 So übersetzt etwa Rudolf Rufener τὸ νοητόν (tò voētón), das Otto Apelt als »das Denkbare« wiedergibt, konsequent als »das Einsehbare« (Platon: Der Staat, 1950, z. B. 509d). Im Höhlengleichnis schaut und betrachtet der Befreite am Ende die Sonne, das Sinnbild des Guten (vgl. Rp. 516b). 80 Vgl. Ricken 2007, 81. 75 76

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Der Aufstieg zum Schönen im »Symposion«

sammenschau voraus. 81 »Diese Zusammenschau darf jedoch nicht als empirische Verallgemeinerung verstanden werden. Sie ist nur aufgrund eines apriorischen Wissens möglich« 82, das Platon deshalb als Wiedererinnerung bezeichnet. Um eine dialektische Zusammenschau geht es auch beim Aufstieg zum Schönen in der Diotima-Rede im »Symposion«. 83 Dort schildert Platon den Erkenntnisaufstieg auf dem Hintergrund der Frage, wie der Mensch Unsterblichkeit erlangen kann. 84 Wer den richtigen Weg zum Ziel des Schönen gehen will, muss in der Jugend damit beginnen, den schönen Körpern nachzugehen, und muss zunächst einen solchen Körper lieben. 85 Er muss dann aber selbst zu der Einsicht gelangen, dass die Schönheit an jedem beliebigen Körper der an jedem anderen Körper verwandt ist und deshalb die Schönheit an allen Körpern eine und dieselbe ist. 86 Er muss also in der Schönheit eines einzelnen Körpers die allgemeine Schönheit der Körper erkennen und ein Liebhaber aller schönen Körper werden. »Danach aber wird er die Schönheit in den Seelen für wertvoller halten als die in den Körpern« 87 und beginnen, »das Schöne in den Lebensweisen und Gesetzen zu betrachten« 88. Damit einhergehend soll er beginnen, die körperliche Schönheit für etwas Geringes zu halten. 89 Nach den Lebensweisen wird er sich den Wissenschaften zuwenden und bereits auf vielfältiges Schönes blicken. Er soll sich »auf das weite Meer des Schönen begeben und es betrachten, damit er viele schöne und herrliche Reden und Gedanken erzeuge in unerschöpflichem philosophischem Streben, bis er, hierdurch gestärkt und gereift, eine einzige Erkenntnis erblickt« 90. Hat er nämlich das Schöne (τò καλόν, tò kalón) der Reihe nach und auf richtige Weise Vgl. Rp. 537c. Ricken 2007, 112. 83 Platon: Symposion. Übersetzt und herausgegeben von Barbara Zehnpfennig, Hamburg 2000, hier 208c–212a (Diotimas Dialog mit Sokrates und Diotimas Rede). Das »Symposion« entstand zwischen 385 und 375 v. Chr. Zum Aufstieg im »Symposion« siehe Wolfgang Janke: Platon. Antike Theologien des Staunens, Würzburg 2007 [= Janke 2007], 95–105. 84 Vgl. Symp. 208c–209e. 85 Vgl. Symp. 210a. 86 Vgl. Symp. 210b. 87 Symp. 210b. 88 Symp. 210c. 89 Vgl. Symp. 110c. 90 Symp. 210d. 81 82

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Das Gute und das Schöne

betrachtet, wird er »plötzlich ein Schönes von wunderbarer Art erblicken« 91, welches immer, unwandelbar und in jeder Hinsicht schön ist. Er wird das Schöne selbst, das Schöne an sich schauen, an dem alles andere Schöne in irgendeiner Weise teilhat. 92 Am Ziel angekommen wird er das Schöne selbst berühren und lauter, rein und unvermischt sehen. 93 Er wird das göttliche Schöne selbst in seiner einen Gestalt erblicken. 94 Nur wenn er immerdar auf das Schöne blickt, es betrachtet und mit ihm zusammen ist, ist sein Leben wahrhaft lebenswert und wird es ihm gelingen, wahre Tugend zu erzeugen. 95 Wer aber die wahren Tugenden hervorbringt, dem ist es beschieden, »ein Gottgeliebter zu werden und […] unsterblich zu sein« 96. Nach Platon gehört demnach zum Aufstieg zur Idee des Schönen eine doppelte Änderung der Blickrichtung. 97 Einerseits muss sich der Blick auf jeder Stufe des Aufstiegs vom Einzelnen zu allen bzw. zum Allgemeinen weiten. Andererseits muss sich der Blick vom jeweils niederen zum höheren Schönen erheben, bis das höchste Schöne erblickt wird. Es ist für Platon wiederum wie im Linien- und Höhlengleichnis die Vernunft, mit der man das Höchste sieht. 98 Weil der Schauende am Ziel des Aufstiegs mit dem Schönen auch die Wahrheit berührt, vermag er wahre Tugenden hervorzubringen und selber wahrhaft tugendhaft zu werden. 99 So kann sich der sterbliche Mensch durch den Aufstieg dem Göttlichen annähern und dadurch gottähnlich und unsterblich werden. 100 Damit ist auch die eigentliche Frage im Hintergrund des Aufstiegs beantwortet: der Mensch erlangt wahre Unsterblichkeit, indem er zum Göttlich-Schönen aufsteigt und dieses schaut.

Symp. 210e. Vgl. Symp. 211b. 93 Vgl. Symp. 211b.e. 94 Vgl. Symp. 211e. 95 Vgl. Symp. 212a. 96 Symp. 212a. 97 Vgl. Ricken 2007, 113 f. 98 Vgl. Symp. 212a. 99 Vgl. Symp. 212a. 100 Vgl. Symp. 208a,b. 91 92

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Der Zusammenhang zwischen den beiden Aufstiegen

1.3 Der Zusammenhang zwischen den beiden Aufstiegen Welches Verhältnis besteht nun bei Platon zwischen dem Aufstieg zum Guten im Höhlengleichnis und dem Aufstieg zum Schönen in der Diotima-Rede? Drei Thesen zur Deutung des Zusammenhangs seien hier vorgeschlagen. 1. Beide Aufstiege haben dasselbe Ziel. Es gilt jeweils dialektisch, mit Hilfe der Vernunft, die höchste Wirklichkeit zu erreichen. Diese Wirklichkeit erscheint im Höhlengleichnis als die Idee des Guten, in der Diotima-Rede als die Idee des Schönen. Auch wenn Platon die beiden nicht ausdrücklich miteinander gleichsetzt, konvergieren sie unter der Rücksicht des Ziels miteinander. Platon selber legt eine solche Konvergenz oder Identität nahe, wenn er etwa im Höhlengleichnis nicht müde wird, die besondere, alles andere überragende Schönheit des Guten zu rühmen 101, oder im »Symposion« eine enge Beziehung zwischen dem Schönen und dem Guten sieht 102 und in der Diotima-Rede denjenigen, der das Schöne schaut, »wahre Tugend« 103 erzeugen lässt, die ohne das höchste Gute nicht denkbar ist. 2. Platon beschreibt im Höhlengleichnis und in der DiotimaRede ein und denselben Aufstieg – nur unter verschiedenen Rücksichten. Während er im Höhlengleichnis die Ausgangssituation epistemisch, d. h. erkenntnismäßig, negativ beurteilt, insofern die sichtbare Welt die geistige Welt der Ideen verdunkelt, bewertet er sie in der Diotima-Rede epistemisch positiv, insofern in der sichtbaren Welt die geistige Welt der Idee des Schönen schon aufleuchtet. Das bedeutet aber nur, dass die sichtbaren Dinge einmal wie Schatten den Blick auf die geistige Wirklichkeit verstellen, ein andermal hingegen den Blick auf das geistig Schöne lenken können. Während Platon beim Aufstieg zum Guten die Bedeutung der begrifflichen Erkenntnis betont, hebt er beim Aufstieg zum Schönen die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung hervor. Und während beim Höhlengleichnis der Aufstieg über viele bzw. alle Ideen führt, bewegt sich der Aufstieg in der Diotima-Rede von vornherein innerhalb der einen Idee des Schönen. Das heißt aber wiederum nur, dass auf der erkenntnistheoretischen Ebene beim Aufstieg zur höchsten Vgl. Rp. 508e–509a. Vgl. Symp. 204e–206a; vgl. auch Ricken 2007, 113. Zu Vorverweisen auf die Einheit des Guten, Wahren und Schönen bei Platon siehe Janke 2007, 105–107. 103 Symp. 212a. 101 102

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Das Gute und das Schöne

Wirklichkeit einmal die begriffliche Erkenntnis, ein andermal die sinnliche Erkenntnis überwiegen kann und dass der Weg metaphorisch gesprochen einmal sehr breit sein und, entsprechend den vielen Ideen, alles Mögliche umfassen und sich ein andermal, entsprechend dem einen Schönen, ganz auf eine Spur konzentrieren kann. Auf der existentiellen Ebene schildert Platon im Höhlengleichnis vor allem die unangenehme, die dunkle Seite des Aufstiegs, während er in der Diotima-Rede ausschließlich seine angenehme, lichte, eben schöne Seite beschreibt. Auch diese beiden existentiellen Aspekte ergänzen einander. Der Aufstieg zum Guten/Schönen mag immer wieder beschwerlich und leidvoll sein und durch so manche Dunkelheit führen. Aber es kommen auch immer wieder lichte Phasen, in denen der aufsteigende Mensch die Schönheit des Aufstiegs erleben und genießen kann. Die dunkle und die lichte Seite des Aufstiegs bedingen und ergänzen einander. Am Ende – durch die Schau des Guten und des Schönen – obsiegt die lichte Seite. 3. Obwohl Platon bei der Schilderung des Aufstiegs zum Guten und Schönen sowohl in der »Politeia« als auch im »Symposion« eine Elite im Blick hat, nämlich die Elite des philosophischen Nachwuchses bzw. besonders schöner, d. h. begabter junger Menschen 104, muss die Möglichkeit des Aufstiegs nicht auf eine Elite beschränkt werden. Bei Platon selbst findet sich ein Ansatz zu einer universalen Deutung dieser Möglichkeit, wenn er in der Diotima-Rede mehr Wert auf die innere als die äußere Schönheit der zu Erziehenden legen lässt. 105 Niemandem kann nämlich von vornherein eine innere Schönheit, d. h. eine innere Eignung, sich dem Guten und Schönen zu nähern, abgesprochen werden.

1.4 Reflexion: Die christliche Aufnahme der Lehre Platons Für Platon sind die Ideen ewig und unveränderlich und damit das wahrhaft Seiende, das ontologisch, d. h. seinsmäßig, den Einzeldingen der sichtbaren Welt vorausgeht. Die Ideen existieren unabhängig von der materiellen Welt. Die Einzeldinge der sichtbaren Welt hingegen existieren nur aufgrund der Teilhabe an den Ideen und sind insofern metaphysisch von ihnen abhängig. Im konkreten Fall könnte zum 104 105

Vgl. Symp. 209b,c. Vgl. Symp. 210b,c.

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Reflexion: Die christliche Aufnahme der Lehre Platons

Beispiel die Idee der Gerechtigkeit existieren, ohne dass es Menschen in der materiellen Welt gäbe, die persönlich gerecht wären oder in einem gerechten Staatswesen leben würden. Aristoteles (384–322 v. Chr.) kritisierte die Ideenlehre seines Lehrers Platon in diesem Punkt und verlegte die Ideen in die existierenden Einzeldinge. Demnach gibt es ein Eidos (εἶδος), d. h. eine Idee oder eine Form, nur in den Einzeldingen der sichtbaren Welt. Es gibt demzufolge z. B. keine Gerechtigkeit ohne gerechte Einzelwesen wie Menschen oder Staaten und unabhängig von ihnen. Der christliche Denker Augustinus (354–430) übernahm den Ausdruck »Idee« aus dem Neuplatonismus und machte aus den Ideen Gedanken Gottes. Diese liegen der Schöpfung als causa exemplaris, als Vorbild- oder Urbildursache, zugrunde. Auch Nikolaus von Kues (1401–1464) nahm unter dem Einfluss des Neuplatonismus solche Ideen in Gott an, die bereits vor Erschaffung der Welt vorhanden sind. 106 Deshalb ist für ihn Gott das Urbild aller Urbilder bzw. Ideen, das absolute Urbild. Bei der Erschaffung der Welt bringt Gott den Ideen gemäß die Dinge aus sich hervor. Von daher ist er das Urbild aller Ideen, die in ihm sind, und über diese Ideen das Urbild aller Dinge in der Welt. Die Dinge bzw. Geschöpfe sind damit letztlich Bilder des einen absoluten Urbildes, das Gott selber ist. Am deutlichsten wird das bei den Menschen. Sie alle haben teil am allgemeinen Urbild des Menschseins in Gott. Aber auch jeder einzelne Mensch hat an seinem individuellen Ur- oder Idealbild, das in Gott enthalten ist, teil und bildet dieses ab. Zu Platons Ideenlehre gehört die Lehre von der Wiedererinnerung (anamnesis), die die Präexistenz der Seele voraussetzt. Die Lehre von der Präexistenz war später dem Christentum fremd, das zwar wie Platon eine Unsterblichkeit der menschlichen Seele annimmt, nicht aber eine Existenz vor der Geburt. Nach christlicher Überzeugung hat die Existenz der menschlichen Seele einen zeitlichen Beginn, auch wenn der Tod für sie nicht das Ende ihrer Existenz bedeutet. Das hinderte aber christliche Denker wie Augustinus nicht daran, die Anamnesislehre in ihr Denken aufzunehmen, freilich ohne die damit verbundene Lehre von der Präexistenz der Seele zu übernehmen. 107

106 107

Vgl. Kap. 8.2; 8.6; 8.7. Vgl. Kap. 5.4.

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Das Gute und das Schöne

Die Idee des Guten grenzte Platon scharf gegen alle anderen Ideen ab und wies ihr eine einzigartige Vorrangstellung zu. In ihr fand er den metaphysischen Anfang, Grund oder Ursprung (ἀρχή, arché), den schon vor ihm einige Vorsokratiker gesucht hatten. 108 Sie ist für ihn der letzte Grund und die höchste Ursache des Seins und der Gutheit von allem. Nur weil die übrigen Ideen an ihr teilhaben, sind sie selber gut und damit wertvoll. Platon dürfte bereits selbst die Idee des Guten als personalen Gott verstanden haben. Zwar identifiziert er nirgends ganz ausdrücklich den einen personalen Gott mit der Idee des Guten. 109 Aber er schreibt im zweiten Buch der »Politeia« Gott Eigenschaften zu, die auch der Idee des Guten zukommen, und gebraucht darin die Ausdrücke »Gott« und »das Gute« synonym. Offensichtlich war er der Auffassung, dass beide Ausdrücke auf dieselbe Wirklichkeit zielen. Für Aristoteles war die höchste Wirklichkeit der unbewegte Beweger. 110 Er selbst ist nicht in Bewegung, gewährleistet aber nach Aristoteles die ewige Bewegung der Fixsterne. Deshalb muss er reine Tätigkeit sein, die jede Möglichkeit ausschließt und somit selbst ewig, notwendig und unveränderlich ist. Als das vollkommenste Seiende ist er das vollkommen Gute, das Beste. Er ist das Schöne, das begehrt wird, und als solches bewegt. Er bewegt demzufolge wie etwas, das geliebt wird. Auch bewegt er, indem er gedacht wird. Als die göttliche Vernunft denkt er nämlich sich selbst. Der unbewegte Beweger ist daher sich selbst denkendes Denken, Denken des Denkens (νόησις νοήσεως, nóēsis noē´ seōs). Die aristotelische Gestalt des unbewegten Bewegers griff in der Hochscholastik Thomas von Aquin (1225–1274) auf und entwickelte daraus den ersten seiner berühmten fünf Gottesbeweise 111, die unter dem Namen quinque viae (»fünf Wege«) bekannt sind. 112 Demnach gibt es überall in der Welt Bewegung oder Veränderung, die meta108 So war etwa für Thales das Wasser der Urstoff, dem alles entspringt und der über alles herrscht. Dessen Schüler Anaximander dagegen machte die arché im »Unbegrenzten« (apeiron) aus. 109 Siehe dazu Bordt 2006, insbesondere 147–150. 110 Siehe dazu Aristoteles: Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie. Übersetzt und herausgegeben von Franz F. Schwarz, Stuttgart 2000, XII (Buch Lambda). 111 Obwohl es sich bei den sogenannten »Gottesbeweisen« eher um einen Aufweis als um einen Beweis der Existenz Gottes handelt, insofern dabei nicht etwas im deduktiven oder induktiven Sinn bewiesen wird, sondern auf etwas durch Reflexion hingewiesen wird, wird der Ausdruck, weil er sich eingebürgert hat, hier beibehalten. 112 Thomas von Aquin: Summa theologica [= ST] I q.2 a.3 resp.

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Reflexion: Die christliche Aufnahme der Lehre Platons

physisch betrachtet nichts anderes als ein Übergang von der Möglichkeit in die Wirklichkeit ist. Nach dem Kausalitätsprinzip bzw. dem Satz vom zureichenden Grund kann jedoch etwas von der Möglichkeit in die Wirklichkeit nur durch etwas übergeführt werden, das selbst in Wirklichkeit ist. Da für Thomas Selbstbewegung ausgeschlossen ist, muss alles, was sich in Bewegung befindet oder sich verändert, durch etwas anderes – eine wirkende Ursache – bewegt oder verändert worden sein, und diese wieder durch ein anderes usw. Diese Reihe lässt sich jedoch unmöglich ins Unendliche fortsetzen, weil es dann kein erstes Bewegendes und infolgedessen überhaupt kein Bewegendes gäbe. Also muss es notwendigerweise ein »erstes unbewegtes Bewegendes« (primum movens, quod a nullo movetur) geben, das die Kausalkette der Bewegung und Veränderung in Gang gesetzt hat und als ganze trägt, ohne selbst Teil dieser Kausalkette zu sein. Und unter diesem ersten Bewegenden verstehen laut Thomas alle Gott. Ganz ähnlich wie der Bewegungsbeweis, der Beweis ex parte motus, ist der zweite Beweis bei Thomas aufgebaut: der Kausalitätsbeweis, der Beweis ex ratione causae efficientis. 113 Demzufolge gibt es nichts in der Welt, das seine eigene Wirk- oder Entstehungsursache ist, das sich selbst in seiner Existenz hervorgebracht hätte. Alles, was existiert, ist von einem anderen verursacht, letztlich von einer Ursache, die selbst nicht wiederum von einem anderen verursacht ist. Und diese erste Ursache nennen alle Gott. 113 Aristoteles hatte vier Ursachen, d. h. Gründe oder Prinzipien, von denen etwas hervorgebracht wird und abhängt, unterschieden: zwei innere und zwei äußere Ursachen. Die beiden inneren Ursachen, die das Verursachte innerlich ausmachen, sind die Materie (Stoff; gr. hyle) und die Form (Gestalt, gr. eidos oder morphe). Aus der Beobachtung, dass jedes materielle Ding, wie etwa eine Statue, eine konkrete Form hat und aus einer konkreten Materie besteht, entwickelte Aristoteles seine Lehre von der Form- und Materialursache als abstrakten Seinsprinzipien. Diese Lehre ist bekannt als Hylemorphismus. Materie und Form ergänzen einander im Bereich des Empirischen und sind voneinander untrennbar. Es gibt keine Form ohne Inhalt und umgekehrt. Dennoch müssen beide voneinander unterschieden werden. Die beiden äußeren Ursachen, die gegenüber demjenigen, das sich verändert, äußerlich sind, sind die Wirkursache (causa efficiens) und die Zielursache (causa finalis). Thomas nahm bei seinem zweiten Weg die Wirkursache und bei seinem fünften Weg die Zielursache auf. Freilich wirkt für ihn Gott immer als Erstursache in der Welt im Unterschied zu den Zweitursachen, zu den weltlich-endlichen Ursachen. Zum Unterschied zwischen Erst- und Zweitursache siehe Kap. 15.3; 16.2; 16.6. Zur Ursachenlehre des Aristoteles siehe Harald Schöndorf: Ursache, in: Walter Brugger/Harald Schöndorf (Hg.): Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/München 2010, 530 f.

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Das Gute und das Schöne

Für Thomas war die Lehre, nach der Gott die Erste Wirkursache von allem ist, eine angemessene metaphysische Übersetzung und Erklärung der biblischen Lehre von Gott als dem Schöpfer der Welt. Die Schöpfungslehre erwies sich als vereinbar mit Platons Lehre vom Guten als der höchsten Wirklichkeit und dem letzten Grund von allem. 114 Mit Platon halten christliche Denker den letzten Grund von allem für gut. Sie fassen diesen Grund konsequent personal auf. Das Gute ist für sie der Gute, nämlich Gott, von dem sie glauben, er sei der Schöpfer der Welt. Das Gute als Grund von allem muss personal sein. Denn wenn aus diesem Guten letztlich ein personales Wesen wie der Mensch mit Selbstbewusstsein und Freiheit hervorgeht, kann das Gute als letzter Grund des Menschseins metaphysisch nicht geringer sein als der Mensch selbst. Der Grund muss folglich selber personal oder überpersonal sein und über der Personalität des Menschen stehen. Er muss in einem viel höheren, ganz anderen Maße über Selbstbewusstsein und Freiheit verfügen. Nur göttliche Freiheit kann letztlich menschliche Freiheit begründen. Nur in der göttlichen Personalität oder Überpersonalität kann die menschliche Personalität ihren Grund haben. Die Gutheit Gottes lässt sich aus christlicher Perspektive sowohl offenbarungstheologisch als auch metaphysisch begründen. Denn zum einen hat sich Gott als gut geoffenbart. Das bezeugt äußerst mannigfaltig die Bibel. Zum anderen muss metaphysisch betrachtet Gott als vollkommenstes Wesen, dem keine Vollkommenheit fehlen darf, gut sein, da das Gutsein ganz offenkundig eine Vollkommenheit ist. Gott ist das vollkommenste Wesen nicht nur in dem Sinn, dass er tatsächlich das vollkommenste Wesen ist, es somit kein anderes Wesen gibt, das vollkommener wäre als er. Vielmehr ist er das absolut vollkommenste Wesen, also ein Wesen, das so vollkommen ist, dass es nicht vollkommener sein könnte und nicht vollkommener gedacht werden könnte. 115

Siehe dazu Kap. 15.1. Bekannt ist diese Grundeinsicht in der Formulierung des Anselm von Canterbury (1033–1109), für den Gott das ist, »über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann« (id quo maius cogitari non potest); Anselm von Canterbury: Proslogion. Anrede. Lateinisch/Deutsch. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Robert Theis, Stuttgart 2005, 3. Kapitel, 25 [17]. 114 115

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Reflexion: Die christliche Aufnahme der Lehre Platons

Der gute Gott ist der Urgrund von allem. Der Urgrund von allem ist gut. Er muss gut sein. Denn nur von einem Guten konnte alles hervorgebracht werden. Wird im biblischen Schöpfungsbericht nach der Erschaffung der Welt festgestellt: »Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut« (Gen 1,31), setzt dies genau voraus, dass Gott selber gut ist, weil nur ein Gutes Gutes verursachen kann. Zwar vermag der gute Gott aus dem Schlechten des Menschen noch etwas Gutes zu machen. Aber das ändert nichts daran, dass aus Schlechtem als solchem nichts Gutes entstehen kann. Der letzte Grund von allem ist der gute Gott. Dabei besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Guten und dem Streben: das Gute wird erstrebt. Gott ist aber nicht gut, weil wir ihn erstreben. Vielmehr erstreben wir ihn, weil er gut und vollkommen ist.

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2. Der in Jesus Christus Menschgewordene Neues Testament und frühe Tradition

2.1 Die Person Jesu Christi im Neuen Testament 2.1.1 Der historische Jesus Jesus lebte von ca. 6 v. Chr. bis ca. 30 n. Chr. 1 Er stammte aus Galiläa und wurde von seinen Eltern, Maria und Josef, ganz selbstverständlich in der jüdischen Tradition aufgezogen. Wie sein (Zieh-)Vater übte er den Beruf eines Zimmermanns oder Bauhandwerkers aus. Mit etwa 33 Jahren ließ er sich vom Propheten Johannes dem Täufer am Jordan taufen und wurde dessen Jünger. Schon bald begann er jedoch selbständig öffentlich zu wirken. Er scharte Jünger um sich und stiftete dadurch eine neue Gemeinschaft, die Familie Gottes. Einige Monate, längstens drei Jahre zog er als Wanderprediger in Galiläa und in ganz Palästina umher. Im Mittelpunkt seiner Predigt stand die Botschaft vom Reich Gottes, wörtlich von der basileia tou theou, von der Königsherrschaft Gottes. Seine Botschaft an die Menschen lautete zusammengefasst: Kehrt um – wörtlich, denkt um (gr. μετανοεῖτε, metanoeíte) –, denn das Reich Gottes ist nahe. Während in der Predigt Johannes des Täufers die Vorstellung vom unmittelbar bevorstehenden Gericht Gottes vorherrschte, überwog in der Predigt Jesu eindeutig der Gedanke des Heils und der Rettung. Jesu Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft war die Botschaft vom ganz und gar menschenfreundlichen, vergebenden und heilmachenden Gott und somit Heilsbotschaft – Frohbotschaft, nicht

Zum historischen Jesus siehe insbesondere Theißen/Merz 2001; aber auch Gnilka 1993; Klausnitzer 2001; Klausnitzer 2007; Ratzinger. Benedikt XVI. 2007. Zum gesamten Kapitel siehe Johannes Herzgsell SJ: Das Christentum im Konzert der Weltreligionen. Ein Beitrag zum interreligiösen Vergleich und Dialog, Regensburg 2011, 113–127.

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Die Person Jesu Christi im Neuen Testament

Drohbotschaft. Sie galt in erster Linie den Armen Israels, betraf aber ganz Israel und bezog auch die Heiden, d. h. die Nicht-Juden, in das Heil ein. Jesus erwartete die Gottesherrschaft in ihrer Fülle und Herrlichkeit in naher Zukunft. Aber zeichenhaft und vorläufig hatte sie für ihn auch schon begonnen, sie war schon inmitten seiner Jünger wirklich gegenwärtig. Er sprach von ihr fast nur in kürzeren oder längeren Gleichnissen. Gleichnisse lassen sich als erzählerisch entfaltete Metaphern verstehen. So entfaltete Jesus z. B. im so genannten Gleichnis vom verlorenen Sohn die Metapher vom Vater (für Gott) zur Geschichte vom Vater, der den abtrünnigen Sohn nach seiner Rückkehr voller Erbarmen wieder bei sich aufnimmt (Lk 15,11–24). Jesus verkündete nicht sich und seine Person, sondern Gott und seine Herrschaft. Und er verkündete Gott vor allem als gütigen und barmherzigen Vater, weniger als königlichen Richter. Durch machtvolle Taten, durch »Zeichen« und »Wunder« unterstrich Jesus seine Botschaft. Er heilte Menschen von allerlei Krankheiten und trieb aus »Besessenen« Dämonen aus. An der Vertreibung der Dämonen zeigte sich für ihn, dass die Herrschaft Satans bereits der Herrschaft Gottes wich. Die Berichte von den Krankenheilungen und den Dämonenaustreibungen Jesu in den Evangelien besitzen zweifelsohne einen historischen Kern. Die Berichte von den »Naturwundern«, wie etwa der Brotvermehrung oder der Stillung des Seesturms, von den Totenerweckungen und von der Verklärung (Epiphanie) Jesu dagegen haben primär eine symbolische Bedeutung und wollen zentrale theologische Einsichten übermitteln. Demzufolge ist Jesus etwa das Leben in Fülle oder die Auferstehung. In seiner ethischen Lehre fühlte sich Jesus grundsätzlich der Tora, dem jüdischen Gesetz, verpflichtet. Aber er verschärfte und entschärfte die Tora zum Teil. Er verschärfte die sittlichen Kernnormen der Tora. So radikalisierte er einige der Zehn Gebote, etwa das Verbot zu töten und die Ehe zu brechen, und wertete das Gebot der Nächstenliebe auf, indem er es neben das Gebot der Gottesliebe stellte und auf die Liebe zum Feind, zum Fremden und zum Sünder ausweitete. Andere Normen der Tora, vor allem die rituellen und kultischen, welche die Reinheit und den Sabbat betrafen, setzte er außer Kraft. Wie andere Propheten lange vor ihm kritisierte er den Tempelkult in Jerusalem, was schließlich zum tödlichen Konflikt mit den jüdischen Autoritäten, hauptsächlich mit der Tempelaristokratie und dem Synedrium, in Jerusalem führte. 53 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der in Jesus Christus Menschgewordene

Vermutlich sprach Jesus von sich selber als dem »Menschensohn«, der Herr über den Sabbat ist und als Weltenrichter wiederkommen würde. Hingegen bezeichnete er sich nicht selbst als »Messias«. Doch lag in seinen Worten und Taten – im Sinne einer impliziten Christologie – ein ganz außergewöhnlicher, »messianischer« Vollmachts- und Sendungsanspruch. Mit Handlungen wie der Sündenvergebung, der Jüngerberufung, der Austreibung der Dämonen in der Kraft Gottes und mit der praktizierten Tischgemeinschaft mit Sündern beanspruchte er, der endzeitliche Bote Gottes und der endgültige Heilbringer und Offenbarer Gottes zu sein. Mit einleitenden Worten wie »Ich bin gekommen …«, »Amen, Amen, ich sage euch …« oder – in Bezug auf die Tora des Mose – »Ich aber sage euch …« stellte er sich deutlich über die Autorität der bisherigen Propheten Israels und des kaum zu übertreffenden Mose. Auch in seiner Unterscheidung zwischen »meinem Vater und eurem Vater« im Hinblick auf Gott verriet sich ein einzigartiges Gottesverhältnis. Er verband das Kommen der Gottesherrschaft mit seiner eigenen Person und mit seinem Wirken. Beim letzten Abendmahl, am Tag vor seinem Leiden und Sterben, setzte Jesus einen neuen Kult – das Sakrament der Eucharistie – ein, indem er die Gaben von Brot und Wein im Hinblick auf seine unmittelbar bevorstehende äußerste Lebenshingabe für die Jünger und für alle Menschen deutete. Vermutlich an einem Freitag und am Rüsttag, d. h. am Tag vor dem Passafest, wurde Jesus von den Römern aus politischen Motiven, nämlich als Königsprätendent, gekreuzigt. Die jüdische Obrigkeit in Jerusalem hatte ihn aus religiösen und pragmatischen Gründen angeklagt und den Römern ausgeliefert. Christen glauben, Jesus sei nach seinem Tod von Gott von den Toten auferweckt worden bzw. selber auferstanden. Der Glaube an die Auferstehung Jesu ist für Christen zentral und fundamental. Als Auferstandener erschien Jesus über mehrere Wochen hinweg seinen Jüngern, sowohl Einzelnen als auch Gruppen. Seine leibliche Auferstehung bedeutete, dass er weiter lebt, zwar nicht das irdische Leben fortsetzt, aber ein neues, verklärtes, ewiges und endgültiges Leben als ganzer und vollendeter Mensch bei Gott lebt. Und sie bedeutete, dass er zu Gott erhöht wurde und vollkommen an der göttlichen Macht und Herrlichkeit teilhat. Als Erhöhter tritt er bei Gott, dem Vater, für die Menschen ein und vermittelt ihnen von Gott her Heil. Gott bestätigte durch die Auferweckung die Person und die Botschaft Jesu. Jesus war wirklich der Messias, der einzigartige Bevollmächtigte Got54 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die Person Jesu Christi im Neuen Testament

tes. Mit ihm war wirklich das Reich Gottes angebrochen. Mit der Auferweckung Jesu erwies sich Gott als der wahre Schöpfer, der auch die Macht hat, Tote lebendig zu machen, und als der wahre Herr des Lebens. Mit der Auferstehung Jesu hat die Vollendung der Schöpfung begonnen. In ihr ist die Vollendung der Welt vorweggenommen. In ihr gründet die Hoffnung der Christen auf die allgemeine Auferstehung der Toten, auf das ewige Leben aller Menschen.

2.1.2 Neutestamentliche Christologien Nach Ostern und im Licht von Ostern begannen die frühen Christen die Person Jesu theologisch zu deuten. 2 Er war für sie nun der sichere Messias, zwar nicht der erfolgreiche nationalpolitische Messias, den viele Juden erwartet hatten, aber der Messias, der durch Leiden und Sterben hindurch in Gott eingegangen war, der Messias, den Gott auferweckt und nun in Macht eingesetzt hatte. Der griechische Name für Messias, nämlich christos (Christus), d. h. »der Gesalbte«, wurde zum festen Beinamen Jesu. So wurde aus dem historischen verkündenden Jesus der geglaubte, verkündete (kerygmatische) Christus. Schon früh begannen Christen Jesus Christus als »Herrn« (gr. κύριος, kýrios) zu verehren und sein baldiges Erscheinen und Wiederkommen in Herrlichkeit herbeizurufen. 3 Der Titel »Herr« war im Prinzip Gott allein vorbehalten. Paulus sah in Jesus Christus den »zweiten Adam«. 4 Wie durch die Sünde des ersten Adam die Ungerechtigkeit und der Tod in die Welt gekommen waren, so waren nun durch den Leidens-Gehorsam des zweiten Adam die Gerechtigkeit und das Leben in die Welt gekommen. Jesus Christus hatte das Schicksal der Menschen vom

Zur Christologie allgemein siehe: Pannenberg 1969; v. Balthasar 1969; Kasper 1974; Schillebeeckx 1975; v. Balthasar 1978, 21–238; Bernard Lauret: Systematische Christologie, in: NST 1, 136–284 [NST 1 = Peter Eicher (Hrsg.): Neue Summe Theologie, Band 1. Der lebendige Gott. Freiburg i. Br. 1988]; Pannenberg 1991, 315–511; Sobrino 1998; Hans Kessler: Christologie, in: HD 1, 241–442 [HD 1 = Theodor Schneider (Hrsg.): Handbuch der Dogmatik. Band 1 (2. ergänzte und korrigierte Auflage) Düsseldorf 2002]; Hoping 2004; Menke 2008. Zu den neutestamentlichen Christologien siehe HD 1, 292–324. 3 Aramäisch: maranatha = Herr, komm (1 Kor 16,22). 4 Vgl. 1 Kor 15,21–22.45–50; Röm 5,12–21. 2

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Der in Jesus Christus Menschgewordene

Schlechten zum Guten, vom Unheil zum Heil, von der Sünde zur Gnade, vom Tod zum Leben gewendet. Für frühe Christen war Jesus als der geistgesalbte Messias der vom Heiligen Geist vollständig erfüllte Mensch. 5 Dem Wirken des Heiligen Geistes verdankte Jesus seine irdische Existenz. 6 Vom Heiligen Geist ließ er sich sein ganzes Leben lang leiten und inspirieren. Den Heiligen Geist versprach er seinen Jüngern. Ihn sandte er nach seiner Auferstehung und Erhöhung in die Welt als weiteres sicheres Zeichen dafür, dass die Endzeit angebrochen war. Ebenfalls schon sehr früh verliehen Christen dem auferstandenen Jesus Christus den Titel »Sohn Gottes«. Dieser Titel wurde im Laufe der Zeit der häufigste und prominenteste christologische Titel. Er war dem Judentum entnommen, das den neu inthronisierten König aus dem Hause Davids 7, das Volk Israel sowie einzelne Israeliten als »Sohn Gottes« bezeichnete. Für palästinische Judenchristen, die stark vom alttestamentlich-jüdischen heilsgeschichtlichen Denken geprägt waren, war Jesus der messianische menschliche Sohn Gottes. Wie nach alttestamentlicher Überlieferung Gott den israelitischen König am Tag seiner Inthronisation als seinen »Sohn« angenommen hatte, so hatte er Jesus bei einem bestimmten Ereignis seines Lebens – bei der Auferstehung (Röm 1,3 f.), bei der Taufe (Mk 1,10 f.) oder bereits bei der Geburt (Lk 1,31–35) – als seinen Sohn erwählt und adoptiert. Für hellenistische Judenchristen hingegen, die stark vom kosmischen und weisheitlichen Denken beeinflusst waren, war Jesus der präexistente ewige göttliche Sohn Gottes, der schon vorzeitlich mit Gott verbunden war und den Gott in die Welt sandte 8, damit er die Welt rettet. Die spätere, nach-neutestamentliche christliche Tradition deutete Jesus Christus schließlich als Sohn Gottes im spezifisch trinitarisch-metaphysischen Sinn. Als solcher stellt er die zweite innergöttliche Person der Dreieinigkeit Gottes dar und ist der göttliche Sohn, der von Ewigkeit her vom Vater gezeugt und eines Wesens mit Gott, dem Vater, ist. Ebenfalls aus hellenistisch-weisheitlichem Denken stammt der sehr frühe vorpaulinische Philipperhymnus (Phil 2,6–11). Ihm zufol-

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Zur Geist-Christologie siehe auch Schoonenberg 1992. Lk 1,35; Mt 1,20. 2 Sam 7,14; Ps 2,7; 89,27 f. Siehe die vorpaulinische Sendungsformel: Gal 4,4 f.; Röm 8,3 f.; Joh 3,16 f.; 1 Joh 4,9.

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Die Person Jesu Christi im Neuen Testament

ge war Christus Gott gleich, entäußerte sich aber, wurde den Menschen gleich und erniedrigte sich bis zum Tod am Kreuz. Deshalb hat ihn Gott über alle erhöht. Und alle werden ihn als Herrn anerkennen. Auch dem Christushymnus im Kolosserbrief gemäß (Kol 1,15–20) ist Christus sowohl in seiner Präexistenz als auch in seiner Postexistenz der Funktion und dem Rang nach Gott gleich. Ähnlich der alttestamentlichen Weisheit Gottes ist er von Ewigkeit her das Ebenbild des unsichtbaren Gottes. Da er in seinem irdischen Leben das konkrete anschauliche Bild Gottes wurde und Gott in seiner ganzen Fülle in ihm wohnte, darf und muss er als die Offenbarung Gottes schlechthin gelten. Ähnlich der Weisheit übte und übt Christus bei der Schöpfung eine Mittlerfunktion aus. In ihm, durch ihn und auf ihn hin wurde alles im Himmel und auf Erden erschaffen. Jesus Christus ist aber nicht nur der Schöpfungsmittler, sondern auch der Erlösungsmittler. Durch ihn, und besonders durch seinen Tod am Kreuz, hat Gott alles mit sich versöhnt. Ganz ausdrücklich ist schließlich im Prolog des Johannes-Evangeliums (Joh 1,1–18) von der Präexistenz, d. h. der vorzeitlichen, vorirdischen Existenz, und der Inkarnation, d. h. der Menschwerdung Christi als des ewigen göttlichen Logos, des Wortes, die Rede. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Und das Wort ist Fleisch, d. h. konkreter ganzer Mensch, geworden und hat unter den Menschen gelebt. Es hat den Menschen die Fülle der Gnade Gottes vermittelt und Kunde von Gott gebracht. Von daher ist nach christlichem Verständnis Jesus Christus die Selbstoffenbarung Gottes. In ihm gipfelte die Offenbarungsgeschichte, in ihm offenbarte sich Gott auf vollständige und vollkommene, auf unüberbietbare, unwiderrufliche und endgültige Weise. Denn Jesus Christus war und ist in Person das menschgewordene Bild und Wort Gottes selbst, der menschgewordene ewige Sohn Gottes, der als einziger Gott wirklich von innen, von Gott selbst her, auslegen konnte.

2.1.3 Aufstiegs- und Abstiegs-Christologien Der palästinischen und der hellenistischen Tradition des frühen Judenchristentums entsprechend finden sich demnach im Neuen Testament zwei Grundtypen von Christologien, von Lehren von Jesus Christus: heilsgeschichtliche Erhöhungs- und Erwählungs-Christo57 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der in Jesus Christus Menschgewordene

logien und kosmische Präexistenz- und Inkarnationschristologien. 9 Heilsgeschichtliche Erhöhungs- und Erwählungschristologien erklären die Bedeutung Jesu Christi im Rahmen eines vornehmlich an der Geschichte orientierten Denkens, wie es altjüdisch-hebräischer Tradition entsprach. Für palästinische Judenchristen war Jesus der endzeitliche Heilbringer, der zum Menschensohn, zum Messias oder zum Gottessohn Erwählte und Erhöhte. In ihm erreichte die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen ihren Höhepunkt. Mit seinem Leben, Sterben und Auferstehen trat die Heilsgeschichte in ihre letzte, qualitativ neue, entscheidende Phase – in die Phase der Endzeit, die von der Spannung zwischen dem »schon jetzt« und dem »noch nicht« der Gottesherrschaft gekennzeichnet ist. Bei seiner Wiederkunft als Erhöhter wird Jesus Christus die Heilsgeschichte und die Weltgeschichte vollenden. Dann wird er das erhoffte vollständige Heil, nämlich die allumfassende Gemeinschaft Gottes und aller Geschöpfe in Gerechtigkeit und Frieden herbeiführen. Von daher ist Jesus Christus der Höhepunkt der Heilsgeschichte, die Mitte der Zeit und der Geschichte, sowie der Zielpunkt (das Omega) der Zeit und der Heilsgeschichte. Kosmische Präexistenz- und Inkarnationschristologien im Neuen Testament bauten auf diesen heilsgeschichtlichen Erhöhungschristologien auf, suchten aber darüber hinaus dem mehr kosmisch orientierten Denken der hellenistischen Weltkultur zu entsprechen. Auf diesem Hintergrund vertieften hellenistische Judenchristen den Blick auf die Geschichte und die Person Jesu Christi. Sie brachten Jesus in Verbindung mit der präexistenten, im gesamten Kosmos wirksamen Weisheit Gottes bzw. mit dem Logos Gottes und begriffen ihn als den vom Himmel, von oben gesandten, menschgewordenen Sohn. Das Heil kam nicht vom Menschen, sondern von Gott. Gott selbst handelte im Leben und in der Geschichte Jesu zum Heil der Menschen. Jesus Christus ist demnach der menschgewordene präexistente Logos Gottes. Als präexistenter Logos wirkte er bei der Erschaffung des Kosmos, bei der Schöpfung mit. Als menschgewordener Logos erlöste er die Menschheit und den Kosmos. Der Erlösungsmittler Gottes war und ist kein anderer als der Schöpfungsmittler Gottes. Als Erlösungsmittler stellte Jesus Christus den kosmischen Frieden wieder her und befreite den Menschen aus der kosmischen Entfremdung, aus der Zu Aufstiegs- und Abstiegs-Christologien siehe insbesondere NST 1, 138–149; HD 1, 320–324; 384–387.

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Die Person Jesu Christi im Neuen Testament

Sterblichkeit und der Sinnleere. In kosmischer Sicht ist Jesus Christus daher der Grund und die Mitte des Kosmos. Mit den beiden Grundtypen neutestamentlicher Christologien gehen, wie angedeutet, zwei unterschiedliche Begriffe vom Sohn Gottes einher. Für die frühen palästinischen Erwählungs- und Erhöhungchristologien ist Jesus der messianische, menschliche Sohn Gottes. Entscheidend für ihr Verständnis des Gottessohnes ist die Ostererfahrung. Gott hatte bei der Auferweckung Jesus zum Messias und Sohn Gottes erwählt bzw. erhöht. Jesus ist von der Auferstehung her (Röm 1,4 f.) der einzigartige, ganz mit Gottes Geist begabte messianische Sohn Gottes. Und er war es schon zu Lebzeiten von der Jordantaufe an (Mk) oder von der Empfängnis bzw. Geburt an (Lk). Seine Sendung bestand darin, als Messias die Endzeit zu verkündigen und einzuleiten. Der palästinische Sohn-Gottes-Titel bringt das einzigartige Verhältnis des Menschen Jesus zu Gott, seine äußerste Gemeinschaft mit Gott, den er abba (»Papa«) nannte, zum Ausdruck. Für die frühen hellenistischen Präexistenz- und Inkarnationschristologien ist Jesus dagegen der präexistente göttliche Sohn Gottes. Entscheidend für ihr Verständnis vom Sohn Gottes sind die vorzeitliche Verbundenheit des Logos bzw. des Sohnes mit Gott und die Menschwerdung des Logos-Sohnes. Der vor aller Schöpfung schon präexistente, ewige Sohn Gottes, der gerade nicht Mensch war, sondern göttlich ist und Gott ist, stieg in die Welt herab und verband sich unlöslich mit dem Menschen Jesus von Nazaret zum Heil aller Menschen. Der Sohn Gottes kam von Gott. Gott sandte ihn in die Welt, damit er der Welt göttliches Leben bringt und als Sohn und als Wort Gott, den Vater, auslegt und offenbart. Der hellenistische SohnGottes-Titel bringt die vorzeitliche Verbindung des ewigen göttlichen Sohnes mit dem Vater zum Ausdruck. Erwählungs- und Erhöhungs-Christologien beschreiben die aufsteigende Bewegung des Sohnes Gottes und stellen daher Aszendenz-, d. h. Aufstiegs-Christologien dar. Für sich genommen umfassen sie nur zwei Phasen des Daseins Jesu Christi: Der Stufe der Niedrigkeit des irdischen Lebens folgt nach der Auferstehung die Stufe der Erhöhung, der Hoheit und der Herrlichkeit bei Gott. AszendenzChristologien sind Christologien »von unten« oder »auf das Ende hin«. Sie heben beim irdischen Dasein Jesu an und heben auf sein himmlisches Dasein ab. Sie zielen aber nicht nur auf das erhöhte Menschsein Jesu nach der Auferstehung, sondern auf das Herrsein und Gottsein Christi. Präexistenz- und Inkarnationschristologien be59 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der in Jesus Christus Menschgewordene

schreiben die absteigende Bewegung des Sohnes Gottes und stellen dementsprechend Deszendenz-, d. h. Abstiegs-Christologien dar. Das ewige Wort, das bei Gott wohnt, stieg bei der Menschwerdung vom Himmel auf die Erde herab. Der Phase der Herrlichkeit bei Gott folgt die Phase der Erniedrigung und Niedrigkeit des irdischen menschlichen Daseins bis zum Tod am Kreuz. Deszendenz-Christologien sind Christologien »von oben« oder »vom Ursprung her«. Sie beginnen mit der göttlichen Präexistenz des Logos und suchen über die Menschwerdung das irdische Dasein Jesu einzuholen. Beide Vorstellungsmodelle – Aszendenz- und Deszendenzmodell – und beide Sohnesbegriffe – der Begriff vom messianischen Sohn Gottes und der vom präexistenten Sohn Gottes – werden bereits im Neuen Testament miteinander verknüpft: im Philipperhymnus, im Kolosserhymnus und am ausführlichsten im Johannesevangelium. Sie durchdringen und ergänzen einander. Dadurch werden die palästinischen Zwei-Phasen-Christologien zu Drei-Phasen-Christologien ausgeweitet. Der ewige Sohn Gottes, der beim Vater alle göttliche Hoheit besaß, erniedrigte sich durch die Menschwerdung in Jesus Christus, führte ein Leben in Niedrigkeit bis zum Tod am Kreuz und erlangte bei der Auferstehung seine frühere Herrlichkeit bei Gott wieder. Der Phase der himmlischen Präexistenz in Hoheit folgt die Phase des irdischen Lebens in Niedrigkeit und diese führt zur Phase der himmlischen Postexistenz wiederum in Hoheit. Dabei behält der ewige Sohn Gottes auch während seines irdischen Menschenlebens seine Gottheit bei und bleibt, einmal Mensch geworden, auch nach dem Tod und der Auferstehung Mensch, dann freilich ganz bei Gott. Um sich einem vollständigen Bild von Christus anzunähern, ist es daher notwendig Aszendenz- und Deszendenz-Christologien zusammen zu nehmen. Beide Christologien bedingen und ergänzen einander und können einander korrigieren. 10

2.2 Die Person Jesu Christi in der frühen Tradition Die Geschichte der Christologien der nachapostolischen, nachneutestamentlichen Zeit, näherhin der patristischen und konziliaren Zeit (2.–7. Jh.), liest sich vor allem wie die Geschichte von Irrtümern bzw.

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Zu Deszendenz-Christologien siehe auch Kap. 14.8.2.

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Die Person Jesu Christi in der frühen Tradition

Häresien, aus denen die Kirche gelernt hat. 11 Zunächst drohte eine Verkürzung des Menschseins Jesu. Dem Doketismus zufolge besaß Jesus nur einen Scheinleib, da die Materie als schlechte Wirklichkeit und daher für Christus unpassend schien. Der Logos war nicht wahrhaft Mensch geworden, er erschien nur wie ein Mensch. Dem hielten frühe Theologen entgegen: dann sei der Mensch auch nicht wahrhaft, sondern nur scheinbar gerettet. Als nächstes drohte dann eine Leugnung oder Verkürzung des Gottseins Jesu Christi. Im Adoptianismus wurde die Gottheit Christi abgestritten. Jesus war nur ein Mensch, wenn auch von Gott besonders erwählt und zu seinem privilegierten Sohn adoptiert. Dem Monarchianismus zufolge war der Sohn Gottes zwar Gott, aber er unterschied sich nicht wirklich vom Vater. Es gibt nur den einen und einzigen Gott, das eine göttliche Prinzip. Dem Subordinatianismus nach war der Logos zwar Gott, aber in allem dem Vater untergeordnet und so Gott nur in einem zweitrangigen Sinn. Das führte schließlich zur Auffassung des Arianismus, es handle sich beim Logos zwar um das erste, über alle anderen Geschöpfe erhabene Geschöpf, aber eben nur um ein Geschöpf, nicht um Gott. Auf diese häretischen Tendenzen, die das Gottsein Jesu Christi leugneten oder minderten, antwortete das Konzil von Nizäa (325) mit der Formel von der Wesensgleichheit (gr. homoousia) des Sohnes mit dem Vater. 12 Demnach ist der Sohn nicht geschaffen, sondern gezeugt, d. h. er geht aus dem Wesen des Vaters hervor, ist wahrer Gott vom wahren Gott. Er besitzt dasselbe Wesen (οὐσία, ousía) wie der Vater und ist somit wesensidentisch mit ihm. Nachdem nunmehr die wahre Gottheit Christi außer Frage stand, war das Menschsein Jesu wieder gefährdet. Nach Apollinaris besaß Christus einen menschlichen Leib und eine biologische Seele, d. h. eine Seele als Lebensprinzip. An die Stelle der geistigen Seele, d. h. der Seele als Geistprinzip, trat jedoch bei ihm der göttliche Logos. Christus war ganz Gott, aber kein vollständiger Mensch. Dem hielten orthodoxe Theologen wieder entgegen: Was nicht angenommen wurde, ist auch nicht erlöst. Besaß Christus keine geistige menschliche

Siehe dazu hauptsächlich Joseph Doré: Patristische und konziliare Christologie, in: NST 1, 285–340. 12 Vgl. DH 125–126 [DH = Heinrich Denzinger/Peter Hünermann: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen (37. Auflage) Freiburg i. Br. 1991]. 11

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Der in Jesus Christus Menschgewordene

Seele, so hat er auch unsere Seele nicht geheilt und errettet. Später bestand das Konzil von Chalkedon (451) darauf, dass Christus auch wahrhaft Mensch war und eine wirkliche vernünftige Seele besaß. 13 Gemäß Chalkedon ist Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch, vollkommen der Gottheit nach und vollkommen der Menschheit nach. Neben der Frage nach der Gottheit und dem Menschsein Jesu ging es im 4. und 5. Jahrhundert auch um die Frage nach der Einheit und der Zweiheit in Christus. Die alexandrinische Schule ging entsprechend dem Schema von Logos–Sarx vom göttlichen Logos aus und hatte vor allem die Einheit Christi im Blick. Die antiochenische Schule nahm, entsprechend dem Schema von Anthropos–Logos, das konkrete geschichtliche Menschsein Jesu Christi zum Ausgangspunkt und hielt vor allem an der Zweiheit des Göttlichen und Menschlichen in Christus fest. In beiden Schulen bildeten sich schließlich einseitige christologische Positionen. Auf der einen Seite überbetonte der Nestorianismus die Zweiheit in Christus, indem er zwei prosopa 14 (Hypostasen, d. h. individuelle Wirklichkeiten, »Gestalten«) in Christus annahm. Auf der anderen Seite überstrapazierte Eutyches mit seinem Monophysitismus die Einheit in Christus, indem er von nur einer einzigen Natur, nämlich der göttlichen Natur in Christus nach der Vereinigung der Naturen sprach. Das Konzil von Chalkedon suchte beiden Schulen, der von Antiochien und der von Alexandrien, Rechnung zu tragen und gleichzeitig ihre Einseitigkeiten zu vermeiden. 15 Seinem Kompromiss zufolge kommen Christus zwei Naturen zu, die einerseits unvermischt und andererseits ungetrennt sind. Dabei ist Christus aber einer und derselbe, beide Naturen kommen bei ihm in einer Person und Hypostase zusammen. Jesus Christus ist gemäß Chalkedon eine Person, eine Hypostase in zwei Naturen, der göttlichen und der menschlichen, oder er ist zwei Naturen in einer Person. Dabei bedeutet die Person das konkret existierende Individuum, die individuelle personale Wirklichkeit; die beiden Naturen hingegen stehen für die beiden realen Seinsprinzipien, aus denen und in denen die Person besteht. Um die Einheit Christi wieder stärker hervorzuheben, fügte das II. Konzil von KonVgl. DH 301. Der griechische Ausdruck πρόσωπον (prosopon) stammt aus der Theatersprache und bedeutet ursprünglich Maske, Rolle. 15 Vgl. DH 301–303. 13 14

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Das Erlösungswerk Jesu Christi

stantinopel (553) in der Sache hinzu: Die zwei Naturen, die unter sich verschieden sind, existieren konkret in der Einheit eines Wesens bzw. einer Hypostase, nämlich des Gott-Menschen. 16 Im Rückblick lässt sich grob vereinfachend und zusammenfassend feststellen: Während die Väter in einer ersten Phase die Elemente der Christologie fixierten – das wahre Menschsein und das wahre Gottsein Christi –, bemühten sie sich in einer zweiten Phase um eine Synthese der Elemente: Christus ist ein und dieselbe, zusammengesetzte Person in zwei verschiedenen Naturen.

2.3 Das Erlösungswerk Jesu Christi Für Christen ist Jesus Christus der Erlöser und Heiland aller Menschen, der universale, einzigartige und einzig absolute Heilsbringer Gottes. 17 Person und Erlösungs-Wirken Jesu Christi gehören untrennbar zusammen und interpretieren sich gegenseitig. Christologie und Soteriologie, Lehre von der Person Christi und Lehre vom Heilsund Erlösungswerk Christi, lassen sich nur miteinander treiben. Dabei ist das ganze Leben Jesu, die gesamte Existenz Christi als heilsbedeutsam anzusehen.

2.3.1 Präexistenz, Inkarnation und öffentliches Wirken Nach dem Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1,9) erleuchtete der präexistente Logos schon vor seiner Menschwerdung alle Menschen und richtete sie auf Gott aus (Erleuchtungsmotiv). Ähnlich wirkte auch der Geist Gottes schon lange vor seiner nachösterlichen Sendung in der Welt und schenkte allen Menschen den göttlichen Lebensfunken. In diesem Sinne hielt sich Gott auch nach dem Sündenfall der Menschen niemals der Welt völlig fern. Er war ihr im präexistenten Logos, in seinem Wort, und in seinem Geist trotz aller Ferne immer auch nahe. Durch die Sendung des Sohnes in die Welt, durch die Menschwerdung des Sohnes, und durch die Sendung des Geistes nach Ostern in die Welt ist Gott allerdings der Welt wesentlich näher geVgl. DH 423–430. Zur Soteriologie siehe insbesondere HD 1, 387–442; aber auch v. Balthasar 1980, 212–362; v. Balthasar 1990; Werbick 1990. Siehe dazu Kap. 14.

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Der in Jesus Christus Menschgewordene

kommen. Während des Christusereignisses und seit und infolge des Christusereignisses, seit Beginn der Endzeit, wirkte und wirkt Gott in seinem Logos und Sohn und in seinem Geist auf wesentlich intensivere Weise in der Welt als zuvor. Bereits bei seinem freien Entschluss, die Welt zu erschaffen, beschloss Gott in seinem Sohn und Logos Mensch zu werden, sich mit der Welt zu verbinden und als Teil in sie einzugehen, um den Menschen zu »vergöttlichen« d. h. ihm Anteil an seinem eigenen inneren göttlichen Leben zu geben. Der göttliche Logos-Sohn wäre demnach auch dann Mensch geworden, wenn die Menschheit nicht gesündigt hätte, nicht von Gott abgefallen wäre und so nicht vergebungs- und erlösungsbedürftig geworden wäre. Nachdem sich nun aber die Menschen von Gott abgewandt hatten, gab es für die Menschwerdung des Sohnes ein zweites grundlegendes Motiv, nämlich das, den Menschen zu erlösen, d. h. ihm seine Sünde und Schuld zu vergeben, ihn von den Folgen der Sünde zu befreien und die durch die Sünde aufgerissene Kluft zwischen Gott und Mensch zu überwinden. Die Menschwerdung des Sohnes darf man sich dabei nicht einfach punktuell, etwa auf den Zeitpunkt der Empfängnis beschränkt, vorstellen. Die Menschwerdung des Logos-Sohnes währte das ganze Leben Jesu hindurch und vollendete sich erst mit der Auferstehung Jesu. Gott wurde Mensch und führte ein menschliches Leben, damit der Mensch »Gott« wird, d. h. »vergöttlicht« wird und am göttlichen Leben teilhat (Vergöttlichungsmotiv). Es fand demnach ein erster Platztausch zugunsten des Menschen statt: Gott nahm den Platz der Menschen ein, damit der Mensch einen Platz bei Gott hat. Der irdische Jesus lebte völlig aus dem Vertrauen zu Gott, seinem Vater, heraus. Er erlebte und erfuhr, dass ihm der Vater auf einzigartige Weise und ganz unmittelbar nahe war. Diese Erfahrung erlaubte es ihm, ja nötigte ihn, von der nahen und bereits anbrechenden Gottesherrschaft zu sprechen. Die Herrschaft der Güte und der Liebe Gottes war in und mit seiner Person schon gekommen. Aus seiner engen Verbundenheit mit dem Vater heraus konnte Jesus dann ganz Mensch für die anderen sein. Sein Dasein war ganz Pro-Existenz, Dasein für andere. Und aus seinem einzigartigen Verhältnis zum Vater heraus konnte er dann auch den anderen das Heil Gottes auf vielfältige Weise vermitteln. Jesus schenkte Kranken die Gesundheit (Heilungsmotiv) und befreite Besessene von Dämonen. Durch die Dämonenaustreibungen überwand er die dunklen und zerstörerischen Mächte in der Welt. Er 64 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Das Erlösungswerk Jesu Christi

entmachtete und besiegte, biblisch gesprochen, Satan, den Herrscher der Welt (Siegesmotiv). Und er entlarvte und entthronte die Götzen der Welt – wie Reichtum, Macht und Ansehen –, indem er etwa übermäßigen Reichtum und Machtmissbrauch anprangerte, vor allem aber indem er selbst auf Reichtum, Macht und Ansehen verzichtete und dennoch ein erfülltes Leben lebte. Er vergab Menschen ihre Sünden und versöhnte sie so mit Gott (Versöhnungsmotiv). Er holte die infolge von Krankheit (Aussatz, Behinderung u. a.) oder infolge von Sünde (Zöllner, Prostituierte) aus der menschlichen Gemeinschaft Ausgeschlossenen in die Gemeinschaft zurück und machte durch seine Tischgemeinschaft mit den Sündern die Gemeinschaft Gottes mit den Menschen erfahrbar (Gemeinschaftsmotiv). Durch seine Predigt und Lehre, aber auch durch sein sonstiges Handeln und durch seine ganze Person als Bild und Wort Gottes offenbarte er den Menschen das Wesen und die Absicht Gottes (Offenbarungsmotiv). Dieser Offenbarung nach ist Gott der gütige Vater, der den Menschen seine vergebende und vergöttlichende Liebe schenken will und das Heil und die Befreiung aller Menschen will.

2.3.2 Leiden, Sterben und Auferstehen Eine besondere soteriologische Bedeutung kommt dem Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi zu. Vermutlich war sich bereits Jesus selber dessen bewusst, für andere zu sterben, zu deren Erlösung und zu deren Heil. Nach christlichem Verständnis litt und starb Jesus für uns Menschen (pro nobis), uns zuliebe und uns zugute. In seiner Passion steigerte sich seine Pro-Existenz, sein Dasein für andere, bis zum Äußersten, bis zur Lebenshingabe. Jesus nahm das Leiden und den gewaltsamen Tod bewusst und freiwillig auf sich. Damit erfüllte er den Willen des Vaters. Gott wollte natürlich nicht, dass Menschen seinen Sohn umbringen, sich also auf furchtbare Weise an ihm versündigen. Aber als die Widersacher Jesu nun einmal seine Beseitigung beschlossen hatten, wollte er, dass Jesus sich diesem gewaltsamen Tod nicht entzieht, sondern in Liebe annimmt und durchleidet und so das Böse abfängt und unterläuft. Menschen, Juden wie Heiden, und in ihnen repräsentativ die ganze Menschheit lehnten Jesus, den Sohn Gottes, und damit Gott selbst ab. An Jesus tobte sich die Sünde, das Böse, die Gottfeindschaft aus. Ohne Gegenwehr ließ sich Jesus vom Bösen treffen, hielt es aus und hielt ihm in seiner Liebe 65 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der in Jesus Christus Menschgewordene

stand. Indem er der Gewalt keine Gewalt entgegensetzte, durchbrach er die Spirale der Gewalt und unterlief sie (Sündenbockmotiv). Jesu freiwilliges Leiden und Sterben lässt sich verstehen als Akt der äußersten Solidarität mit den Menschen (Solidaritätsmotiv) und als Stellvertretung für die Sünder (Stellvertretungsmotiv). In seiner Passion solidarisierte sich Jesus zunächst mit allen Opfern der Gewalt, mit allen Leidenden, dann aber auch mit den Tätern, denen er vergab (Lk 23,34). Er schloss niemanden aus seiner Liebe aus, auch nicht seine Gegner, die ihn hinrichteten. Damit solidarisierte und identifizierte sich Jesus mit allen Menschen und ermöglichte allen den Weg zu Gott und zueinander. In Jesus, seinem Sohn, solidarisierte sich aber Gott selbst auf äußerste Weise mit den erlösungsbedürftigen, sündigen Menschen. Das Kreuz war in besonderer Weise der Ort seiner vergebenden und liebenden Gegenwart unter den Menschen und seines Einsseins mit den Menschen trotz seiner Ablehnung durch die Menschen. Am Kreuz nahm Jesus die Stelle der Sünder ein. Er nahm die Folgen der Sünde, nämlich den Tod und die äußerste Gottverlassenheit (Mk 15,34), auf sich und trug und ertrug die Sünde. 18 Er, der ganz Gottverbundene, erlitt die ganze Gottferne der anderen, er, der Sündenlose, erfuhr subjektiv die Finsternis des Sündenzustandes. Zwar nahm Jesus damit den Mitmenschen den Tod nicht ab, aber er bewahrte sie damit vor dem ewigen Tod, vor der endgültigen Gottferne. Am Kreuz fand daher ein zweiter Platztausch statt. Jesus, der Gerechte und Sündenlose, nahm den Platz der Sünder ein, um den Sündern den Platz der Gerechten bei Gott zu verschaffen, um sie in sein Sohnesverhältnis zum Vater einzubeziehen und ihnen die vergebende Liebe Gottes nahezubringen. Am Kreuz repräsentierte Jesus den vergebenden und liebenden Gott gegenüber den Menschen, und er vertrat die Menschen vor Gott, dem er sich ganz anvertraute und ganz hingab. Durch den Tod seines Sohnes am Kreuz versöhnte Gott die Menschen mit sich und schloss einen neuen ewigen Bund mit ihnen. Er hob die Trennung des Menschen von Gott auf, die der Mensch durch seine schuldhafte Abwendung von Gott verursacht hatte. Die Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu wurde erst im Licht seiner Auferstehung ersichtlich, als in ihm das Leben den Sieg über den Tod davontrug. Passion und Auferstehung Jesu gehören aufs engste zusammen. Sie bilden das eine »Passa« Jesu, seinen Durch18

Siehe dazu Kap. 14.7.

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Das Erlösungswerk Jesu Christi

gang und Hinübergang vom irdischen zum himmlischen Leben. Die Auferweckung Jesu war die souveräne Tat Gottes, des Vaters, durch den Geist, gleichzeitig aber auch als Selbstauferstehung die Tat Jesu 19, die er als inkarnierter Gottessohn aus eigener göttlicher Kraft vollzog. Mit seiner Auferstehung besiegte Jesus den Tod und ermöglichte die Auferweckung aller Menschen (Auferweckungsmotiv). Er verschaffte allen Menschen Zugang zu ewigem göttlichem Leben. In seiner Auferstehung und Erhöhung empfing Jesus vom Vater vollends den Heiligen Geist. Er war nun dem Geist in gewissem Sinn wieder übergeordnet und sandte ihn zusammen mit dem Vater in die Welt (Geistmotiv). Im Geist ist der auferstandene und erhöhte Christus in der Welt in Zeichen verborgen gegenwärtig und wirksam: z. B. im Wort und Sakrament der Kirche, aber auch in zwischenmenschlicher Liebe und Gerechtigkeit usw. Der Geist setzt das irdische Erlösungswerk Jesu fort. Er erinnert die Jünger an alles, was Jesus sie gelehrt hatte, und lässt sie es tiefer verstehen. Er führt die Menschen zu Gott. Er wohnt in den Herzen der Menschen und heiligt und vergöttlicht sie. Und er führt die Welt ihrer Vollendung entgegen. Als auferstandener und erhöhter Herr tritt Jesus Christus auch in seiner Postexistenz für die Menschen beim Vater ein. Er ist ihr Freund und Helfer, ihr Fürsprecher, ihr Platzbereiter, ihr Mittler bei Gott (Vermittlungsmotiv). Nach christlicher Hoffnung wird Christus schließlich bei seiner Wiederkunft (Parusie) in Herrlichkeit am Ende der Zeiten die Welt und die Geschichte vollenden (Vollendungsmotiv). Dadurch wird sich die Schöpfung in eine neue Erde und in einen neuen Himmel verwandeln und die Geschichte verklären. Christus wird mit seiner Liebe alles durchdringen und dem Vater übergeben. Dann wird Gott alles in allem sein und alles wird ganz in Gott sein.

2.3.3 Der absolute Heilsmittler Gottes Beim Erlösungswerk Jesu Christi ist zu beachten, dass die Heilsinitiative ganz bei Gott lag, ganz von Gott ausging. Jesus musste Gott nicht etwa durch ein »Opfer«, sein Lebensopfer, umstimmen von einem zornigen oder beleidigten Gott zu einem gütigen Gott. Gott wollte das Heil der Menschen. Deshalb sandte er seinen Sohn in die 19

Joh 10,18; 2,19.22.

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Der in Jesus Christus Menschgewordene

Welt. Jesus Christus führte den Heilswillen Gottes aus. Das einzige Motiv, das Gott schon bei der Schöpfung bewegt hatte und dann bei der Erlösung der Welt bewegte, war die Liebe. »Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat« (Joh 3,16). In Christus zeigte sich Gott als der, der er in sich wirklich ist: die unergründliche, absolute, freie Liebe. Erlösung bedeutet Befreiung von Unheil in all seinen Aspekten und Dimensionen, also von allem, was den Menschen daran hindert, ganz Mensch zu sein und ein erfülltes glückliches Leben zu leben. Nach christlicher Überzeugung hat Christus die Welt wirklich schon objektiv und grundlegend erlöst, ihr das Heil Gottes tatsächlich schon gebracht. Die Menschen sind mit Gott versöhnt, sie besitzen den Heiligen Geist, sie sind Kinder Gottes, sie sind grundsätzlich von den dunklen Mächten der Welt befreit. Dennoch ist der Mensch vielfach noch immer erlösungs- und heilsbedürftig und liegt die Welt immer noch in Agonie. Der Mensch muss die objektive Erlösung und das Heilsangebot Gottes erst noch durch seine jeweilige persönliche freie Entscheidung in Glaube, Hoffnung und Liebe subjektiv aufgreifen und annehmen und in der Welt umsetzen. Die vollkommene Erlösung steht erst noch aus. Das vollkommene Heil besitzt der Mensch nur in der Hoffnung. Von daher glauben Christen zwar, schon im Grunde erlöst zu sein, aber sie warten noch darauf und hoffen, vollends erlöst zu werden. Die leibliche Auferstehung, die Herrlichkeit bei Gott, die selige Gottesschau, das ewige Leben in Fülle, vollkommenen Frieden und vollkommene Gerechtigkeit in der Welt, die Verwandlung der Welt usf. kann der Mensch gegenwärtig nur erhoffen. Jesus Christus war nach christlicher Überzeugung der Mensch, der vollkommen aus der Beziehung zu Gott, dem Vater, heraus lebte und vollständig vom Heiligen Geist erfüllt war und deshalb ganz Mensch für andere sein konnte. Von daher darf er als das Vorbild und Urbild der Menschen gelten, als Modell des wahren Menschen. Kraft seiner ewigen Gottessohnschaft war Jesus Christus zugleich Gott, der menschgewordene Gott, der »Immanuel«, der Gott mit uns und für uns. Er war und ist der Gottmensch, der den Menschen das Heil Gottes brachte und in Aussicht stellte. Er war und ist der universale absolute Heilsmittler Gottes.

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3. Der Dreieine Schrift und frühe Tradition

3.1 Gott der Dreieine in den Zeugnissen der Schrift 3.1.1 Die Vorgeschichte der Trinitätsoffenbarung im Alten Testament Die Lehre vom dreieinen Gott galt sehr bald schon als das entscheidend und unterscheidend Christliche. 1 Gemäß dem Alten Testament ist Jahweh einerseits als Urgrund der Welt, der diese »im Tiefsten zusammenhält und ordnet«, der weltüberlegene Gott, andererseits als Bundespartner Israels, der seinem auserwählten Volk in der Welt und in der Geschichte hilfreich nahe ist und ihm seinen Willen mitteilt, »zugleich ein beziehungsfähiger und beziehungswilliger Gott«. 2 Seine geschichtliche Gegenwart bei seinem Volk ist durch sein Wort, seine Weisheit und seinen Geist vermittelt. Das Wort Gottes, die Weisheit und der Geist sind »Offenbarungsmedien«, in denen sich Gott seinem Volk kundtut und erfahrbar macht. Sie werden aber zunehmend als Eigenwirklichkeiten betrachtet, die freilich von Gott niemals wirklich abgelöst sind. Bereits das Wort Gottes, »das von Jahweh ›gesendet‹ wird 3, das von ihm ausgeht, wirkt, was er beschlossen hat und zu ihm zurückkehrt (Jes 55,10 f.), das heilt (Weish 16,12) und wie ein Krieger mitten in das dem Verderben geweihte Land springt (Weish 18,15)« 4, ist in gewissem Sinn zu einer Eigenwirklichkeit hypostasiert.

Vgl. dazu und zum ganzen folgenden Kapitel Jürgen Werbick: Trinitätslehre, in: Schneider, Theodor (Hrsg.): Handbuch der Dogmatik. Band 2, Düsseldorf 1995 (2. Auflage) [= HD 2], 481–576; Volker Henning Drecoll (Hg.): Trinität, Tübingen 2011, 11–162. 2 HD 2 484 f. 3 Jes 9,7; Ps 107,20; 147,18. 4 HD 2 485. 1

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Der Dreieine

Noch deutlicher wird im Alten Testament die Weisheit Gottes zu einer Eigenwirklichkeit personifiziert. 5 In der nachexilischen Zeit tritt die Figur der Weisheit (hebr. chokmah; gr. σοφία, sophía) neben den Geist und vielfach an die Stelle des Geistes. Sie ist seit Ewigkeit bei Gott und wie der Geist bei der Erschaffung der Welt aktiv anwesend. Sie durchwirkt den Kosmos und handelt mit Gott in der Schöpfung. Sie wirkt in der Geschichte des Volkes und erweckt Propheten. Sie kann wie eine Person sprechen. Im Buch Ijob erscheint die göttliche Weisheit sogar als etwas von Gott Verschiedenes, der allein weiß, wo sie sich verbirgt (Ijob 28). Nach Jesus Sirach sagt die göttliche Weisheit von sich selbst, aus dem Munde Gottes, des Höchsten, hervorgegangen zu sein, im Himmel zu wohnen und von Gott zu Israel gesandt zu sein (Sir 24). Gemäß dem Buch der Weisheit ist sie eine Ausströmung der Herrlichkeit des Allmächtigen, ein Widerschein des ewigen Lichts, der ungetrübte Spiegel von Gottes Kraft, das Bild seiner Vollkommenheit. 6 So hebt sich die Weisheit als Eigenschaft Gottes von Gott ab und wird zu einer Person. Allerdings handelt es sich dabei immer nur um eine literarische, nicht um eine reale Personifikation. Es wird von der Weisheit wie von einer Person gesprochen, ohne sie wirklich für eine eigenständige Person neben Gott oder bei Gott zu halten. Am stärksten wird jedoch im Alten Testament der Geist Gottes zu einer Eigenwirklichkeit hypostasiert. Der hebräische Ausdruck für Geist (ruach) ist grammatikalisch meist weiblich. 7 Die ruach bedeutet Wind und Sturm, Lebenshauch und Atem. Jahweh haucht durch seinen Atem alles Leben ein. Der Geist Gottes steht von daher im Gegensatz zu allem Leblosen und Statischen. Er ist dynamisch. Er bewegt sich und setzt anderes in Bewegung. Er ist lebendig und macht lebendig. Ohne Atem, ohne göttliche Lebenskraft könnte der Mensch nicht leben (vgl. Ps 104,29 f.). Dem Schöpfungsbericht in Gen 1 zufolge schwebt am Beginn der Schöpfung der Geist Gottes über den Wassern (Gen 1,2). Gott schafft die Welt sowohl durch den Geist als auch durch das Wort. Bei der Schöpfung wie später bei den Propheten ergänzen sich das Wirken des Geistes und des Wortes Gottes. Siehe dazu auch Johannes Herzgsell SJ: Das Christentum im Konzert der Weltreligionen. Ein Beitrag zum interreligiösen Vergleich und Dialog, Regensburg 2011 [= Herzgsell 2011], 96–98. 6 Weish 7,22–8,1; bes. 7,25 f. 7 Siehe dazu Herzgsell 2011, 142–144. 5

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Gott der Dreieine in den Zeugnissen der Schrift

Der Geist Gottes stellt die Verbindung von Himmel und Erde, von oben und unten her. Er bildet die Brücke zwischen Gott und Welt und überwindet den trennenden Abgrund. Der Geist ermöglicht die Offenheit von Welt und Gott füreinander, ihre Bewegung aufeinander zu. Er ist eine verbindend-integrative Kraft. In der Frühzeit Israels wirkt der Geist Jahwehs als eine momentan belebende Kraft in charismatischen Retter- und Richtergestalten. Er fällt auf sie und ermächtigt sie zu kriegerischen Rettungstaten. 8 Er kann aber nicht nur einzelne Personen, sondern auch ganze Gruppen von Propheten erfassen und sie in ekstatische Zustände bzw. in Verzückung versetzen. 9 In der Königszeit wird das Ergriffensein vom Geist Jahwehs von einer vorübergehenden Erscheinung zu einer bleibenden Gabe. Der israelitische König, allen voran David, ist aufgrund seiner Salbung dauerhaft mit dem Geist Gottes ausgestattet (vgl. 1 Sam 16,13). Von der Exilszeit an gelten auch die Propheten als ständige Geistbesitzer. Auf ihnen ruht der Geist Gottes, sie sind vom Geist des Herrn erfüllt. 10 Demnach waren schon Mose und Joshua, Elija und Elischa mit dem Geist Jahwehs begabt. 11 Nachexilischer Auffassung zufolge besitzen auch die Priester und Leviten sowie die Künstler und Handwerker, die am Bau des Tempels beteiligt sind, den Geist Gottes. 12 In der Krisenzeit des Exils (6. Jh. v. Chr.) wird der Geist Jahwehs vor allem die Kraft zur Neuschöpfung und Neugestaltung Israels. In einer Vision sieht der Prophet Ezechiel ein Feld von Totengebeinen, ein Bild für Israel im Exil, das wie tot, d. h. ohne Hoffnung ist (Ez 37,1–14). Durch den Geist werden die Gebeine wieder lebendig und richten sich wieder auf. Der Geist Gottes belebt und erneuert das Volk Israel. Er schenkt ihm in der aussichtslosen Lage des Exils neuen Mut, Hoffnung, Schwung, Erkenntnis Jahwehs, Lebensfreude und eine ganz neue Perspektive. Dieses Wirken des Geistes Gottes bei der Neuschöpfung und Neugestaltung Israels entspricht seinem Wirken bei der Schöpfung überhaupt. Der Geist, der Leben schafft, erneuert das

Vgl. Richter 3,10; 6,34 u. a. Vgl. 1 Sam 10,5–13 u. a. 10 Vgl. Jes 61,1; Mi 3,8. 11 Vgl. Jes 63,11.14; Deut 34,9; 2 Kön 2,9.15. 12 Vgl. 2 Chr 24,20; Esra 1,5; Ex 31,3. 8 9

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Der Dreieine

Leben auch wieder. Der Geist der Schöpfung ist auch der Geist der Neuschöpfung. Durch Ezechiel und andere Propheten verheißt Gott dem ganzen Volk Israel die Ausgießung seines Geistes. Er wird den Israeliten ein neues Herz schenken und einen neuen Geist in sie legen (Ez 36,26 f.). Er wird seinen Geist über das Haus Israel ausgießen (Ez 39,29) und der Geist wird in der Mitte Israels bleiben. Nach Joel wird Gott in der Endzeit seinen Geist sogar über alles Fleisch ausgießen. Alle Glaubenden werden Söhne und Töchter der Propheten sein, d. h. sie werden das prophetische Charisma besitzen (Joel 3,1 f.). Damit wird die Verheißung des Geistes vom Volk Israel auf die gesamte Menschheit ausgeweitet. Gemäß der Apostelgeschichte hat sich diese Verheißung einer universalen Ausgießung des Geistes an Pfingsten erfüllt (Apg 2,17–21). Nach Jesaja 11 wird sich der Geist des Herrn auf einem Nachkommen Davids, auf einem gesalbten König (Messias), niederlassen (Jes 11,1–11). Der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht wird auf dem Messias liegen (Jes 11,2). Er wird ihm die Kraft geben, seinen Auftrag zu erfüllen. Im Alten Testament ist der Geist demzufolge eine belebende und bewegende Kraft, die sich ihrer Natur nach jeder festlegenden Definition und jeder kontrollierenden Verfügung entzieht. Der Geist schafft Leben und belebt die Schöpfung, er belebt erfahrbar jedes einzelne Geschöpf. Er bewirkt die Trance der Inspirierten. Er erweckt und leitet charismatische Rettergestalten und Propheten und ruht auf den gesalbten Königen. Er erneuert das Volk Israel und wird den verheißenen endzeitlichen Messias erfüllen. In der Endzeit wird der Geist über das ganze Volk, sogar über alles Fleisch ausgegossen. Gott offenbart sich dem Alten Testament zufolge in seinem Wort, in seiner Weisheit und in seinem Geist den Geschöpfen, insbesondere den Menschen. Er wohnt in seinem Geist, der das Wort und die Weisheit Gottes im Innersten, im Herzen des Menschen »ankommen« lässt, unter den Menschen. 13 Bei der so ausgelegten Selbstmitteilung Gottes zeigt sich eine gewisse Verschiedenheit des Wortes, der Weisheit und des Geistes von Gott und voneinander. In dieser Verschiedenheit deutet sich bereits die Selbstunterscheidung Gottes an. 13

Vgl. HD 2 486.

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Gott der Dreieine in den Zeugnissen der Schrift

3.1.2 Die Trinitätsoffenbarung im Neuen Testament 3.1.2.1 Die paulinischen und deuteropaulinischen Briefe Die verschiedenen Traditionen des Neuen Testaments legen das Bekenntnis zu Jesus von Nazaret als dem Christus 14, dem Kyrios (Herrn) 15 und dem Sohn Gottes aus. 16 Nach Paulus, der damit eine ältere adoptianistische Überlieferung 17 aufgreift, ist Jesus – seit der Auferstehung von den Toten – dem Geist (gr. πνεῦμα, pneuma) der Heiligkeit nach in Macht zum Sohn Gottes bestimmt (Röm 1,4). Es war der Geist selbst, der Jesus Christus von den Toten auferweckt hat (Röm 8,11). Weil es ansonsten im Neuen Testament Gott, der Vater, ist, der Jesus auferweckt hat 18 bzw. hat auferstehen lassen 19, kann man von einer »Funktionseinheit« 20 von Vater und Geist bezüglich der Auferweckung Jesu sprechen. Der Vater erweckt durch den Geist oder im Geist Jesus von den Toten auf. Das Neue Testament schreibt aber auch häufig Jesus Christus selbst die Auferstehung zu: Er ist wirklich am dritten Tag auferstanden. 21 Demnach ist Christus als der Sohn Gottes auch aus eigener Kraft von den Toten auferstanden. Beim Auferstehungsgeschehen wirken der Vater, der Sohn und der Geist zusammen, aber doch so, dass jeder auf seine eigene Weise wirkt. Für Paulus sind die Gläubigen durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist Gottes geheiligt und gerecht gesprochen worden (1 Kor 6,11), sodass ihre Leiber Glieder Christi sind und ihr Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist (1 Kor 6,15–20). Bezüglich der Einheit der Gläubigen könnte man auf diesem Hintergrund von einer »Funktionseinheit« des Geistes mit dem erhöhten Jesus Christus sprechen. Durch den einen Christus und den einen Geist sind die Glaubenden viele Glieder eines Leibes, nämlich des »Christus« (griechisch) bedeutet wie »Messias« (hebräisch) der »Gesalbte«. Kyrios (griechisch) bzw. Adonai (hebräisch) bedeutet soviel wie rechtmäßiger »Herrscher« oder »Herr« und ist vom Alten Testament her ein Hoheitstitel für Gott. 16 Vgl. HD 2 487. 17 Dieser Überlieferung zufolge war Jesus Christus nicht von vornherein der Sohn Gottes und wurde es auch nicht schon im Laufe seines Lebens – etwa durch die Taufe –, sondern wurde erst bei der Auferstehung von Gott gewissermaßen als Sohn »adoptiert«. 18 Z. B. Röm 4,24; 10,9. 19 Apg 2,24; 17,31. 20 HD 2 487. 21 1 Kor 15,4; Lk 24,34; vgl. z. B. Joh 2,22; 1 Thess 4,14. 14 15

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Leibes Christi. 22 Aufgrund dieser Funktionseinheit kann Paulus sogar sagen: »Aber der Herr [Jesus Christus] ist der Geist« (2 Kor 3,17). Wie wenig Paulus jedoch mit dieser Einheit von Christus und Geist eine Identifikation des Geistes mit dem erhöhten Herrn Jesus Christus im Blick hat, geht aus dem Galaterbrief hervor, wo er deutlich zwischen der Hinordnung der Gläubigen auf Gott, auf Christus Jesus und auf den Geist unterscheidet: Gott der Vater sandte seinen Sohn, damit wir die Sohnschaft erlangen (Gal 4,5). Weil wir nun aber Söhne sind, sandte Gott in unsere Herzen den Geist seines Sohnes, der ruft: Abba, Vater. 23 Der Geist, der als Unterpfand oder als »Angeld« in unsere Herzen gegeben ist und in uns wohnt 24, ist zwar der Geist des Sohnes, der Geist des Herrn (2 Kor 3,17), der Geist Christi (Röm 8,9), aber nicht mit dem Sohn und Herrn Jesus Christus identisch. Nur weil der Geist Gottes vom Sohn unterschieden ist, konnte er Jesus von den Toten auferwecken. Durch ihn wird Gott der Vater auch die Glaubenden lebendig machen, d. h. auferwecken (vgl. Röm 8,11). Noch deutlicher als im Galaterbrief wird bei Paulus im Zusammenhang der unterschiedlichen Gnadengaben im ersten Korintherbrief die dreigliedrige Bezugnahme auf den Geist, auf den Herrn (Jesus Christus) und auf Gott (den Vater): »Es gibt aber Unterschiede (der) Gnadengaben, aber es ist derselbe Geist; und es gibt Unterschiede (der) Dienste, und es ist derselbe Herr; und es gibt Unterschiede der Kraftwirkungen, aber es ist derselbe Gott, der alles in allen bewirkt« (1 Kor 12,4–6). 25 Die verschiedenen Gnadengaben bewirken die Einheit unter den Gläubigen, »weil sie ja aus der ›Wirkeinheit‹ des Vaters, des Sohnes und des Geistes hervorgehen und diese gleichsam abbilden« 26. 1 Kor 12,12 f.; vgl. Eph 4,5. Gal 4,6; vgl. Röm 8,14–17. 24 2 Kor 1,22; Röm 8,11. 25 Bei der Übersetzung der griechischen Textstellen habe ich besonders an wichtigen Stellen mit Hilfe der »Interlinearübersetzung« und des »Sprachlichen Schlüssels« zum griechischen Neuen Testament versucht, so nahe wie möglich am griechischen Text zu bleiben (Das Neue Testament. Interlinearübersetzung. Griechisch–Deutsch. Griechischer Text: Nestle-Aland-Ausgabe übersetzt von Ernst Dietzfelbinger. Vierte, vom Übersetzer korrigierte Auflage, Neuhausen–Stuttgart 1990; Sprachlicher Schlüssel zum Griechischen Neuen Testament nach der Ausgabe von D. Eberhard Nestle. Bearbeitet von Fritz Rienecker. 11. Auflage, Gießen–Basel 1963). Die Hervorhebungen stammen jeweils von mir (J. H.). 26 HD 2 488. 22 23

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Gott der Dreieine in den Zeugnissen der Schrift

Schließlich verdichtet sich bei Paulus die dreigliedrige Bezugnahme auf Gott (den Vater), auf Christus und auf den Geist »im Schlusssegen des zweiten Korintherbriefs zu einer liturgisch geprägten dreigliedrigen Formel, die […] die Gemeinschaft stiftende Kraft des Heiligen Geistes betont« 27: »Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!« 28 Auch im Eingangshymnus des deuteropaulinischen Epheserbriefes (1,3–14) findet sich die Bezugnahme auf Gott, Jesus Christus und den Geist. Der Hymnus beginnt mit den Worten: »Gepriesen (sei) der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus: Er hat uns mit allem geistlichen Segen [d. h. Segen seines Geistes] gesegnet […].« 29 Dann wird gerühmt, wie Gott (der Vater) uns durch Jesus Christus dazu bestimmt hat, die Erlösung zu erlangen und seine Söhne und damit seine Erben zu werden. In ihm (Christus) sind wir gläubig geworden und durch den verheißenen Heiligen Geist, der das Unterpfand unseres Erbes ist, versiegelt worden (Eph 1,13 f.). Paulus und in seinem Gefolge die deuteropaulinische Tradition unterscheidet also bei aller Wirkeinheit bereits deutlich zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist. Hinter dem Hymnus des Epheserbriefes steckt eine Theo-Logik, die noch einer kurzen Erklärung und Erläuterung bedarf. Weil der – an sich einzige – Sohn Gottes für uns Menschen gelebt und gelitten hat, für uns gestorben und auferstanden ist und uns so von allen tödlichen Mächten befreit und erlöst sowie mit Gott »versöhnt« hat, sind auch wir alle von Sklaven zu Söhnen bzw. Töchtern Gottes geworden (vgl. Gal 4,7 f.). Sind wir aber Kinder Gottes geworden, dann sind wir auch Erben Gottes geworden (Gal 4,7). Wir werden das Reich Gottes und das ewige Leben vollständig erben. 30 Da wir aber jetzt schon wahrhaft Kinder Gottes sind, steht unser Erbe nicht erst noch ganz aus. Vielmehr haben wir bereits ein »Angeld« oder Unterpfand, einen wirklichen Anteil von diesem Erbe empfangen. Und dieser Anteil ist nichts anderes als der Geist Gottes, der Heilige Geist, der unseren Herzen gegeben ist und in uns wohnt.

27 28 29 30

HD 2 487. 2 Kor 13,13. Eph 1,3. Vgl. Gal 5,21; Tit 3,7; Herbr 9,15.

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3.1.2.2 Die synoptischen Evangelien und die johanneischen Schriften Gemäß den synoptischen Evangelien 31 ist der Heilige Geist bereits bei der Empfängnis Jesu am Werk. 32 Nach Lukas verheißt der Engel Gabriel Maria: »(Der) Heilige Geist wird über dich kommen und (die) Kraft (des) Höchsten wird dich überschatten« (Lk 1,35). Und bei Matthäus sagt der Engel im Traum zu Josef: »Scheue dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen! Denn das in ihr gezeugte (Kind) ist vom Heiligen Geist« (Mt 1,20). Als sich Jesus als Erwachsener von Johannes dem Täufer im Jordan taufen lässt, sieht er, »wie sich die Himmel spalten und der Geist wie ein Taube auf ihn herabkommt« (Mk 1,10 par.). Der Heilige Geist nimmt bei der Taufe in Jesus Wohnung. Jesus lebt von nun an »in der Kraft des Geistes« (Lk 4,14). Gott hat ihn »mit Heiligem Geist und Kraft« 33 gesalbt. So kann er umherziehen, Gutes tun und alle heilen. Durch den »Geist Gottes« treibt Jesus die Dämonen aus, was ein Zeichen dafür ist, dass, wie er selber sagt, das Reich Gottes zu den Menschen gekommen ist (Mt 12,28 par.). Jesus weiß sich in einer einzigartigen Beziehung zu Gott, dem Vater. Als sein Sohn preist er ihn: »Ja, Vater, so hat es dir gefallen. Alles ist mir von meinem Vater übergeben worden, und niemand erkennt den Sohn, außer der Vater, und niemand erkennt den Vater, außer der Sohn und der, dem (es) der Sohn offenbaren will.« 34 Jesus kennt den Vater, weil er mit ihm vertraut ist und in vertrauter Gemeinschaft mit ihm lebt. Den Willen seines Vaters sucht er zu erfüllen, auch wenn es ihn das Leben kostet. So redet er ihn in Getsemani (am Ölberg) vertrauensvoll mit abba (Väterchen, Papa) an und bittet ihn angesichts des bevorstehenden Leidens und Sterbens: »Abba, Vater, alles (ist) dir möglich; nimm diesen Kelch weg von mir! Doch nicht, was ich will, sondern was du (willst, soll geschehen)« (Mk 14,36 par.). Im Johannesevangelium sagt Jesus, der Sohn, ebenfalls von sich, den Vater zu kennen (Joh 8,55) und begründet das auch: »Ich kenne ihn, weil ich von ihm bin und er mich gesandt hat« (Joh 7,29). 35 Der 31 32 33 34 35

Markus (Mk), Matthäus (Mt) und Lukas (Lk). Vgl. HD 2 488 f. Apg 10,38. Mt 11,27; vgl. Lk 10,22. Vgl. HD 2 489 f.

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Gott der Dreieine in den Zeugnissen der Schrift

Sohn stammt vom Vater, und der Vater hat ihn in die Welt gesandt, nicht damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird (Joh 3,17). Wer ihn und Gott, seinen Vater, erkennt, hat das ewige Leben (Joh 17,3). Die Menschen sollen begreifen und erkennen, dass in ihm der Vater ist und er im Vater ist (Joh 10,38). Denjenigen, die seine Gebote haben und halten und ihn auf diese Weise lieben, verspricht er: »Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort festhalten, und mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen« (Joh 14,23). Im »hohenpriesterlichen Gebet« bittet Jesus den Vater auch für diejenigen, die durch das Wort seiner Jünger zum Glauben gelangen, »damit alle eins sind, wie du, Vater, in mir (bist) und ich in dir (bin), damit auch sie in uns sind, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast« (Joh 17,21). Jesus will, dass alle Glaubenden so eins sind, wie er und der Vater eins sind (Joh 17,22). Sie sollen in der Einheit vollendet sein, damit die Welt erkennt, dass der Vater sie so geliebt hat, wie er ihn geliebt hat (Joh 17,23). Darüber hinaus bittet Jesus den Vater, seinen Jüngern nach seinem Tod und seiner Auferweckung einen anderen Beistand zu geben, der in Ewigkeit bei ihnen ist: »den Geist der Wahrheit« (Joh 14,16 f.). Wenn der Geist kommt, werden die Jünger erkennen, dass der Sohn im Vater ist, dass sie in ihm sind und er in ihnen ist (Joh 14,20). Am vom Gott gegebenen Geist werden sie erkennen, dass sie in Gott bleiben und Gott in ihnen bleibt. Denn wer im Geist bekennt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, und im Geist das Liebesgebot Jesu hält, »in dem bleibt Gott und er bleibt in Gott« 36. Der Geist Gottes führt in die göttliche Wahrheit ein, die in der Liebe Gottes besteht, »weil Gott«, wie es im ersten Johannesbrief heißt (1 Joh 4,8), »(die) Liebe ist.« Im Geist erkennen wir die Liebe, die Gott zu uns hat (1 Joh 4,16). Der Geist bezeugt »die lebensspendende Liebe, die den Vater mit dem Sohn verbindet und die Glaubenden miteinander und mit Vater und Sohn vereinen will« 37. Er erweist sich so selber als Geist der Liebe. Ein großes Thema der johanneischen Schriften 38 ist demnach die Liebe Gottes und die sich daraus ergebende oder sich darin zeigende 1 Joh 4,15; vgl. 4,7–16. HD 2 489 f. 38 Das neue Testament enthält neben dem Evangelium des Johannes auch drei Briefe des Johannes und die Offenbarung des Johannes. 36 37

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Der Dreieine

Einheit. Gott wird gleichsam als Liebe definiert (1 Joh 4,8). Durch die Liebe sind der Vater und der Sohn eins und sind die Glaubenden mit dem Vater und dem Sohn sowie untereinander eins. Dabei ist die Einheit der Liebe als durch den Heiligen Geist vermittelt aufzufassen. Im und durch den Geist sind der Vater und der Sohn eins. Im Geist sind die Glaubenden in die Liebe von Vater und Sohn einbezogen. Trotz all dieser Hinweise auf die Dreieinigkeit Gottes kennen die Traditionen des Neuen Testaments keine ausgearbeitete systematische Trinitätslehre, in der »das Zueinander und Miteinander des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes als das Verhältnis dreier göttlicher Personen« bedacht wäre. 39 Aber es gibt eine »trinitarische« Formel im Neuen Testament, »die Vater, Sohn und Heiligen Geist unmittelbar nebeneinander nennt«, und das ist die Taufformel, die im Taufbefehl des erhöhten Herrn im Matthäusevangelium überliefert ist. 40 Dort gibt der auferstandene Jesus Christus, bevor er zum Himmel emporgehoben wird 41, auf dem Berg in Galiläa den verbliebenen elf Jüngern den Auftrag: »Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde. Darum geht hin und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, (und) lehrt sie, alles zu halten, was ich euch geboten habe! Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt« (Mt 28,18–20).

Diese dreigliedrige Taufformel tritt an die Stelle der eingliedrigen Taufformel, bei der die Taufe einfach auf den »Namen Jesu Christi« 42 vollzogen wurde, und ist zweifelsohne das Ergebnis eines längeren Entstehungsprozesses. 43 In der Taufe ist durch die Formel »auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes« die Heilswahrheit des christlichen Glaubens zusammengefasst worden.

3.2 Die frühe, dogmatische Entwicklung der Trinitätslehre Auf der Basis des Neuen Testaments entwickelten die »Väter«, d. h. die christlichen Theologen zwischen dem 2. und dem 7. Jahrhundert, 39 40 41 42 43

HD 2 490. HD 2 490. Lk 24,51; Apg 1,9. Apg 2,38; 10,48; vgl. auch Apg 8,16; 19,5; 1 Kor 1,13.15. Vgl. HD 2 490.

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Die frühe, dogmatische Entwicklung der Trinitätslehre

insbesondere im 4. Jahrhundert die dogmatische Lehre von der Trinität Gottes. 44 Dabei hatte die Kirche hauptsächlich mit drei trinitätstheologischen Irrtümern oder Häresien zu kämpfen: mit dem Modalismus, dem Tritheismus und dem Subordinatianismus. Gemäß dem Modalismus, auch Sabellianismus genannt, rührt die Unterscheidung zwischen Vater, Sohn und Geist in Gott von den drei in der Heilsgeschichte aufeinander folgenden Erscheinungsweisen Gottes her. Gott tat sich im Alten Testament als Vater, dann in Jesus Christus als Sohn und während des irdischen Lebens Jesu und danach als Geist kund. Aber es handelt sich dabei nur um drei verschiedene »Rollen« oder Erscheinungsweisen (lat. modi) Gottes. Zwischen Vater, Sohn und Geist besteht kein wirklicher, ontologischer Unterschied. Es gibt nur den einen und einzigen Gott ohne echte innere Differenzierung. Der Tritheismus hingegen als das andere trinitätstheologische Extrem zerstört die Einheit Gottes. Die Verschiedenheit und die Eigenständigkeit der drei wird als so groß und ausschließlich gedacht, dass die Einheit Gottes und damit der Monotheismus verloren geht. Bei den dreien handelt es sich im Grunde um drei Götter, die nur äußerlich zu einer Einheit verbunden sind. Schließlich erkennt der Subordinatianismus den Sohn Gottes zwar als Gott an, sieht in ihm aber gegenüber dem Vater eine zweitrangige Gottheit. Der Sohn ist in allem dem Vater untergeordnet. Er ist Gott nur in einem zweitrangigen Sinn (gr. deuteros theos). Dementsprechend wäre der Geist dann nochmals dem Sohn untergeordnet. Es gäbe in Gott eine essentielle Hierarchie vom Vater über den Sohn hinab zum Geist. Demgegenüber schrieb das Konzil von Nizäa (325) die Gleichrangigkeit und die Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater fest. Der Vater und der Sohn haben das gleiche oder dasselbe Wesen (οὐσία, ousía). 45 Der Sohn ist gleich wesentlich 46 Gott wie der Vater. Mit der Homousielehre, der Lehre von der Wesensgleichheit, ließ das Konzil die Einheit Gottes im gemeinsamen Wesen begründet sein. 47 Siehe dazu Gisbert Greshake: Der Dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie (4., durchgesehene und erweiterte Auflage), Freiburg i. Br. 2001, 74–94; Herzgsell 2011, 128–130. 45 Vgl. DH 125 (DH = Denzinger, Heinrich/Hünermann, Peter: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen (37. Auflage) Freiburg i. Br. 1991). 46 Im Griechischen: ὁμοούσιος (homoousios = wesensgleich). 47 Vgl. HD 2 497. 44

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Das erste Konzil von Konstantinopel (381) hob dann ausdrücklich auch den Geist auf die gleiche Stufe wie den Vater und den Sohn. Der Heilige Geist ist demnach Herr und Lebensspender. »Er wird mit dem Vater und dem Sohne zugleich angebetet und verherrlicht.« 48 In der lateinisch sprechenden Kirche des Westens hatte Tertullian (ca. 150–225) gegen den Modalismus herausgearbeitet, dass die drei biblisch begründeten Dialogrollen 49 in Gott auf drei »Rollenträger« hinweisen, die sich als Personen wirklich unterscheiden, nicht aber der Substanz nach getrennt sind. Seine Formulierung lautete daher: una substantia in tribus cohaerentibus (eine Substanz in drei Zusammengehörigen). 50 Daraus ergab sich dann die Leitformel: una substantia – tres personae (eine Substanz – drei Personen). Um den Unterschied zwischen der Substanz und den Personen in Gott wenigstens andeutungsweise zu erklären, sagte Tertullian: tres unum sunt, non unus (die drei sind eins, nicht einer). 51 Diesen Ansatz entwickelte Novatian (ca. 200–260) weiter und beschrieb die göttliche Einheit als una unitas concordiae (eine Einheit der Eintracht) bzw. als eine communio substantiae (Gemeinsamkeit der Substanz). 52 Tertullian und Novatian trugen so zur Klärung des trinitätstheologischen Problems bei, indem sie den Substanzbegriff der Einheit Gottes und den Personbegriff der Dreiheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist zuordneten. 53 In der griechisch sprechenden Kirche des Ostens brachten nach dem Konzil von Nizäa vor allem die drei Kappadokier Basilius (gest. 379), Gregor von Nazianz (gest. 390) und Gregor von Nyssa (gest. 394) die Trinitätslehre dadurch voran, dass sie wichtige begriffliche und sachliche Unterscheidungen einführten. So unterschied Basilius erstmals begrifflich zwischen οὐσία (ousía = Wesen) bzw. φύσις (phýsis = Natur) als dem Gemeinsamen in Gott und den drei individuellen göttlichen ὑποστάσεις 54 (hypostaseis = Personen). Vater, Sohn und Geist haben jeweils eine sie allein kennzeichnende EigenDH 150. Griechisch: prosopa; lateinisch: personae. 50 Tertullian, Adv. Prax. 12,6 bzw. 12,7; zitiert nach HD 2 495. 51 Tertullian, Adv. Prax. 25,1; zitiert nach HD 2 495. 52 Novatian, De Trin. 181.186.192; zitiert nach HD 2 495. 53 Vgl. HD 2 495. 54 Der griechische Ausdruck ὑπόστασις (hypóstasis) bedeutet das Darunterstellen, das Darunterstehende, die Grundlage, das Wesen. 48 49

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Die frühe, dogmatische Entwicklung der Trinitätslehre

tümlichkeit. Diese geht auf die Ursprungsrelationen zurück, d. h. auf die jeweils besondere Weise, das göttliche Wesen innezuhaben bzw. zu empfangen. »Der Vater ist«, so Gregor von Nazianz, »das alleinige Prinzip der Gottheit; von ihm haben Sohn und Heiliger Geist ihr Gottsein; so unterscheiden sich Sohn und Heiliger Geist von ihm – dem Ungezeugten – allein durch ihr Gezeugt- bzw. Hervorgegangensein aus dem Vater […].« 55 Gregor von Nyssa hielt als erster die Ursprungsrelationen des Sohnes und des Heiligen Geistes auseinander. Während für ihn der Sohn unmittelbar vom Vater herkommt, kommt der Heilige Geist durch den Sohn vom Vater her. Schließlich setzte Gregor von Nyssa die Begriffe ὑπόστασις (hypóstasis = Person) und πρόσωπον (prosopon = Maske, Rolle) gleich. Gegen den Modalismus wurde damit deutlich gemacht, dass es sich beim Vater, Sohn und Heiligen Geist nicht bloß um drei »Offenbarungsrollen« oder »Erscheinungsweisen« der Gottheit handelt, sondern um drei verschiedene individuelle Wirklichkeiten in Gott. Die Kappadokier führten demnach die drei hypostatischen Eigentümlichkeiten auf die Ursprungsrelationen zurück und versuchten, »die göttliche Einheit von ihrem Ursprung, dem Vater, her zu wahren, an dem Sohn und Geist ohne Wesensunterschied zum Vater […] teilhaben« 56. Die Auffassung, die göttliche Wesensgemeinschaft gründe im Vater, blieb für die Theologie des Ostens maßgebend. Durch die begrifflichen Unterscheidungen der Kappadokier wurde auch die trinitarische Doppelformel von Gregor von Nyssa eindeutig, die da hieß: μία οὐσία – τρεῖς ὑποστάσεις (mia ousia – treis hypostaseis), d. h. ein Wesen – drei Hypostasen. Sie konnte damit zur entsprechenden Tradition der Theologie des Westens in Beziehung gesetzt werden, die lautete: una substantia – tres personae (eine Substanz – drei Personen). Weil der lateinische Begriff substantia jedoch für die Griechen missverständlich war, insofern er auch als Übersetzung von hypostasis gelten konnte, hielten Verständigungsprobleme zwischen der griechischen Ost- und der lateinischen Westkirche an. Das war für Augustinus mit ein Grund, den Begriff der essentia (Wesen) gegenüber dem Begriff der substantia (Substanz) in der Trinitätstheologie zu bevorzugen. 57 55 56 57

HD 2 497 f. HD 2 498. Siehe Kap. 5.1.

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Seit der Lateransynode (649) setzte sich dann im Westen die genauere Übersetzung subsistentia 58 für hypostasis durch. Deshalb formulierte die Synode die Trinität als: unus deus in tribus subsistentiis consubstantialibus 59 (ein Gott in drei wesensgleichen Personen). Außerdem setzte die Synode ausdrücklich ousia und substantia in Entsprechung zueinander. Nach der klassischen Lehre der Väter und der lehramtlichen Verkündigung ist Gott somit einer und dreieinig zugleich. 60 Es gibt nur den einen personalen Gott, der alle Vollkommenheit in sich enthält und der allwissend ist. Aber in Gott sind drei Personen 61: der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Die drei Personen besitzen gemeinsam die eine göttliche Natur oder das eine göttliche Wesen 62. In jeder der drei Personen ist die ganze, ungeteilte Gottheit, alle drei teilen miteinander das eine ganze göttliche Wesen. Die göttliche Natur ist Träger der göttlichen Eigenschaften und Vermögen (z. B. des Willensvermögens), die Personen sind die konkret handelnden »individuellen« Wirklichkeiten in Gott. Die Lehre der Dreieinigkeit Gottes besagt also, so lässt sich vorläufig zusammenfassen, dass es in Gott ein einziges göttliches Wesen in drei göttlichen Personen gibt. Zwischen den drei göttlichen Personen besteht ein wirklicher Unterschied. Der Grund dieser Unterscheidung liegt in den gegenseitigen Beziehungen aufgrund ihres Hervorgehens, d. h. in den Ursprungsrelationen. Der Vater ist innerhalb der Gottheit ganz Vater, er hat die göttliche Natur aus sich und ist die Quelle und der ursprunglose Ursprung der ganzen Gottheit. Aus dem Vater geht der Sohn in ewiger »Zeugung« hervor. Der Vater bringt den Sohn hervor, indem er ihm aus Liebe sein ganzes göttliches Wesen mitteilt, es vollständig mit ihm teilt und ihn so in Ewigkeit »zeugt«. Und der Vater bringt durch den Sohn den Geist hervor, indem er auch ihm sein ganzes göttliches Wesen schenkt und so durch den Sohn »haucht«. Der Heilige Geist geht aus dem Vater durch den Sohn durch »Hauchung« hervor. Der Vater ist folglich derjenige, der die Gottheit dem Sohn und dem Geist schenkt. Der Sohn ist derjenige, der die Gottheit vom Vater empfängt und an den Geist weiterDer lateinische Ausdruck subsistentia kommt von subsistere (= halt machen, stehen bleiben; substantiell durch und in sich bestehen) und steht für das Substanzsein. 59 DH 501; zitiert nach HD 2 499. 60 Vgl. DH 525–532; 800–806; 1330–1331 u. a. 61 Griechisch: prosopa oder hypostaseis; lateinisch: personae oder subsistentiae. 62 Griechisch: physis oder ousia; lateinisch: substantia, natura oder essentia. 58

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Die frühe, dogmatische Entwicklung der Trinitätslehre

schenkt. Der Geist ist derjenige, der die Gottheit vom Vater und vom Sohn bzw. vom Vater durch den Sohn empfängt. Vater, Sohn und Geist unterscheiden sich demzufolge durch die Weise, wie sie die Gottheit innehaben bzw. empfangen (lat. modus obtinendi). Die liebevolle Selbstmitteilung des göttlichen Wesens in Gott ist so vollkommen, dass Vater, Sohn und Geist einander in einem vollkommenen Ineinandersein (Perichorese) durchdringen. Der Vater ist daher ganz im Sohn und ganz im Heiligen Geist und jeweils umgekehrt. Allerdings präzisierten die lehramtlichen Aussagen nicht, was einerseits die Begriffe »Natur« und »Wesen« und andererseits die Begriffe »Person« und »Hypostase« bedeuten. Deshalb blieb die Trinitätslehre für christliche Denker eine Herausforderung.

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4. Das Schöne und das Eine Der Aufstieg zum Höchsten bei Plotin

4.1 Der Aufstieg zum Schönen in der Enneade I 6 Plotin (204/5–270) nimmt in seiner frühesten Schrift »Das Schöne« (I 6 [1]) den Aufstieg zum Schönen, wie ihn Platon durch Diotima im Symposion beschrieben hatte, auf und deutet und ergänzt ihn auf seine Weise. 1 Die Schrift setzt sich aus einem hauptsächlich metaphysisch reflektierenden, analytischen und einem hauptsächlich mystagogischen Teil zusammen. 2 Dementsprechend werden zunächst einige metaphysische Voraussetzungen für den Aufstieg bei Plotin dargelegt, bevor der Aufstieg selbst und sein Ziel erläutert wird.

4.1.1 Metaphysische Voraussetzungen Wie Platon in der Diotima-Rede geht Plotin von einer Hierarchie des Schönen aus. Es gibt sinnlich Schönes, wie die Körper, Töne und Farben, und es gibt höheres Schönes, wie Beschäftigungen und Handlungen, Zustände und Gesetze, Gedanken, Kenntnisse und Wissen-

Plotins Schriften. Übersetzt von Richard Harder. Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen. Band I. Die Schriften 1–21 der chronologischen Reihenfolge, Hamburg 1956, I 6 Das Schöne, 2–25. Die Enneaden entstanden zwischen 253 und 269. In eckigen Klammern steht jeweils die chronologische Ordnungszahl. Siehe dazu auch »Plotin als Interpret der Platonischen Philosophie« in Karl Albert: Platonismus. Weg und Wesen abendländischen Philosophierens, Darmstadt 2008 [= Albert 2008], 48–55. 2 I 6 [1] §§ 1–32 und §§ 33–44. Die Trennung zwischen den Teilen ist nicht strikt; es finden sich bereits im ersten Teil mystagogische bzw. anagogische Aussagen über den Aufstieg, wie sich auch im zweiten Teil noch ontologische bzw. metaphysische Aussagen über das Gute und das Schöne finden. Vgl. zum Folgenden Friedo Ricken: Religionsphilosophie (Grundkurs Philosophie 17), Stuttgart 2003 [= Ricken 2003], (Ontologie und Mystik: Plotin) 339–355. 1

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schaften. 3 Besonders schön sind die Tugenden. Sie sind »eine wahrere Schönheit« als etwa Gedanken, Gesetze und Wissenschaften, und diese wiederum sind eine wahrere Schönheit als die sinnlich schönen Dinge. 4 Eine ganz besondere Schönheit besitzen schließlich die Seele (ψυχή, psychē´ ) und der Geist (νοῦς, nous oder nus). 5 Die Körper sind auf Grund ihrer Teilhabe an den Ideen und nach dem Maß ihrer Teilhabe an den Ideen schön. Alles höhere Schöne ist für Plotin dagegen nicht durch Teilhabe, sondern an sich schön. 6 Die geistigen Tätigkeiten und Tugenden, die Seele und der Geist sind schön, weil sie das »seinsmäßig Seiende« 7 (ὂντως ὂντα, òntōs ònta) sind. Damit spricht Plotin allem geistig Schönen jene metaphysische Qualität zu, die die Ideen auszeichnet, nämlich wahrhaft seiend und eben deshalb wahrhaft schön zu sein. Neben dieser grundsätzlichen metaphysischen Erklärung des Schönen kennt Plotin noch eine andere hierarchische Erklärung der Schönheit alles Schönen. Demzufolge ist es die schöne Seele, die den Körper, in dem sie wohnt, schön macht. 8 Von der Schönheit der Seele rührt auch die Schönheit der Handlungen und Tätigkeiten sowie der Tugenden her. Die Seele wiederum ist durch den Geist schön. Und der Geist empfängt seine Schönheit vom Ersten Schönen. Es ist demzufolge das Erste Schöne (τὸ πρῶτον καλόν, tò prōton kalón), das allem letztlich seine Schönheit verleiht und dem alles letztlich seine Schönheit verdankt. Dieser Hierarchie des Schönen entsprechend erfolgt für Plotin in Anlehnung an Platon der Aufstieg zum höchsten Schönen über mehrere Stufen. Nachdem die aufsteigende Seele die schönen Körper geschaut hat 9, soll sie die schönen Tätigkeiten, Werke und Tugenden sehen 10, dann auf die schönen Seelen der anderen blicken, den Blick anschließend auf die Schönheit der eigenen Seele richten und schließlich über die Schau des Geistes, die die Schau aller Ideen beinhaltet, zur Schau des Ersten Schönen gelangen. 11 Im Unterschied zu Platon Vgl. I 6 [1] § 1; § 7. Vgl. I 6 [1] § 8. 5 Vgl. I 6 [1] § 2; § 8. 6 Vgl. I 6 [1] § 3. 7 I 6 [1] § 23. 8 Vgl. dazu und zum Folgenden I 6 [1] § 32. 9 Vgl. I 6 [1] § 4. 10 Vgl. dazu und zum Folgenden I 6 [1] § 41. 11 Vgl. I 6 [1] § 44. 3 4

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Das Schöne und das Eine

bezieht Plotin ganz ausdrücklich die Schau der eigenen Seele in die Stufenleiter ein. Die Seele kann nur aufsteigen, indem sie sich ihrem eigenen Inneren zuwendet. Der Aufstieg der Seele zum Schönen ist bei Plotin ganz wesentlich ein Weg ins Innere.

4.1.2 Der Aufstieg zum Schönen Bei aller grundsätzlichen strukturellen Übereinstimmung mit Platons Entwurf setzt Plotin bei seiner Schilderung des Aufstiegs der Seele zum Schönen neue Akzente. Er greift manches, was bei Platon nur angedeutet ist, auf und entfaltet es. Er führt neue Begriffe ein und schlägt neue Themen an. Im Unterschied zu Platon beschreibt Plotin sehr ausführlich die Empfindungen, die in der Seele bei der Schau des höheren Schönen eintreten müssen. 12 Die Seele wird angesichts des geistig Schönen »sich freuen, entzückt und gepackt sein« 13. Sie wird »Betroffenheit, süße Erschütterung, Verlangen, Liebe [und] lustvolles Beben« 14 erleben. Sie wird in »Schwärmerei« verfallen und in »Erregung« geraten. 15 Und noch viel lustvoller ist für die Seele dann die Erschütterung, wenn sie das Erste Schöne selbst erblickt. 16 Sie wird von großer Sehnsucht und dem Wunsch ergriffen, sich mit ihm zu vereinigen. Sie kann über seine Schönheit nur staunen, sich verwundern und freuen. 17 Sie genießt es. Sein Anblick macht sie »selig« 18. Plotin schildert den Aufstieg als Prozess der Reinigung (κάθαρσις, kátharsis). Der Sache nach ist der Gedanke der Reinigung bereits bei Platon vorhanden. Der Begriff der Reinigung ist hingegen bei Plotin neu. 19 Die Reinigung hat zwei Seiten. Auf der einen Seite soll sich die Seele von dem, was ihr fremd ist, befreien. 20 Dazu gehört alles, was sie zu sehr an den Körper und das Stoffliche bindet 21, wie 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Vgl. I 6 [1] §§ 20 f. I 6 [1] § 19. I 6 [1] § 20. I 6 [1] § 21. Vgl. I 6 [1] § 33. Vgl. I 6 [1] §§ 34 f. I 6 [1] § 35. Vgl. I 6 [1] §§ 25–30. Vgl. I 6 [1] §§ 26 f. Vgl. I 6 [1] § 27.

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etwa Begierden, Ängste aus Feigheit, Neid aus Kleinlichkeit oder unreine Lüste 22, weil all das die Seele nach unten, zum Niederen hin zieht und sie selbst verdunkelt. 23 Die Seele soll möglichst »allein mit sich« 24 sein, um sich von der Entfremdung zu lösen und den Weg zum Oberen hinauf einschlagen zu können. 25 Auf der anderen Seite soll sich die Seele bemühen, Tugenden zu entwickeln 26, selbst tugendhaft zu werden. Namentlich zählt Plotin die folgenden Tugenden auf: die Gerechtigkeit und Mäßigkeit 27, die Selbstzucht, Großherzigkeit, Tapferkeit, Würde und Ehrfurcht 28 sowie die Weisheit 29. Während bei Platon in der Diotima-Rede jedoch die Vorstellung vorzuherrschen scheint, der Aufsteigende könne am ehesten seine Tugenden entfalten, indem er »viele schöne und herrliche Reden und Gedanken« 30 erzeugt, kann nach Plotins Vorstellung die aufsteigende Seele bei sich am besten die Tugenden fördern, indem sie an sich selbst konkret arbeitet. Für Plotin wird die Seele nicht so sehr durch eine theoretische Beschäftigung mit den Tugenden, als vielmehr durch ein hartes praktisches Arbeiten an sich selbst tugendhaft. Er muntert deshalb die Seele auf, in sich zu gehen: »Kehre ein zu dir selbst und sieh dich an; und wenn du siehst, dass du noch nicht schön [d. h. tugendhaft] bist, so tu wie der Bildhauer, der von einer Büste, welche schön werden soll, hier etwas fortmeißelt, hier etwas ebnet, dies glättet, das klärt, bis er das schöne Antlitz an der Büste vollbracht hat: so meißle auch du fort, was unnütz, und richte, was krumm ist, das Dunkle säubere und mach es hell und lass nicht ab ›an deinem Bild zu handwerken‹, bis dir hervorstrahlt der göttliche Glanz der Tugend […].« 31

Für Plotin hängt mit der Reinigung der Seele sehr eng ihre Vergeistigung zusammen. »Durch solche Reinigung wird die Seele Gestalt und Form, völlig frei vom Leibe, geisthaft und ganz dem Göttlichen angehörig, aus welchem der Quell des Schönen kommt.« 32 Bei ihrem 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Vgl. I 6 [1] § 24. Vgl. I 6 [1] § 25. I 6 [1] § 27; vgl. § 25, § 29, § 42. Vgl. I 6 [1] § 29. Vgl. I 6 [1] § 28. Vgl. I 6 [1] § 19. Vgl. I 6 [1] § 22. Vgl. I 6 [1] § 28. Symp. 110d. I 6 [1] § 41. I 6 [1] § 30.

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Emporsteigen gelangt die Seele zunächst zum Geist, an dem sie teilhat und der ihr übergeordnet ist. 33 Durch ihn wird sie selber vergeistigt. In ihm schaut sie die schönen Ideen. 34 Die Vergeistigung der Seele, wie Plotin sie beschreibt, ist bei Platon durch die Schau der Ideen beim Aufstieg bereits angedacht. Aber im Unterschied zu Platon hypostasiert Plotin die Gesamtheit der Ideen zu einer einheitlichen, einen Wirklichkeit und macht die Vergeistigung der Seele zu einem eigenen Thema. Beim Aufsteigen kann die Seele laut Plotin den Glanz der höheren Schönheit nicht sogleich voll erblicken. 35 Vielmehr muss sie sich erst allmählich daran gewöhnen. Das erinnert an Platons Höhlengleichnis, wo sich der Mensch beim Aufstieg zum Guten erst an den Glanz und das Licht des Feuers (d. h. in Wirklichkeit der Sonne) und dann der Sonne (d. h. in Wirklichkeit der Idee des Guten) gewöhnen muss. Für Plotin leuchtet alles höhere Schöne, wie etwa die Tugend 36 oder der Geist selbst 37, mit einem geistigen Licht. Bei ihrem Hinaufgehen wird die Seele von diesem Licht selber erleuchtet. Letztlich ist es aber das Erste Schöne, das sie mit Licht erfüllt, sodass sie bei seiner Schau selber »ganz und gar reines, wahres Licht« 38 wird. Durch die Erleuchtung nimmt die eigene geistige Sehkraft der Seele beim Aufstieg ständig zu, bis sie selber »ganz Sehkraft« 39 geworden ist. Für Plotin stellt der Aufstieg zugleich einen Weg der Erleuchtung dar. Sein Gedanke der Erleuchtung lässt sich auf Platons Sonnengleichnis zurückführen. Ihm gemäß geht vom Guten als der höchsten Wirklichkeit ein geistiges, gewissermaßen göttliches Licht aus, das die menschliche Vernunft erleuchtet. In dem Maße, in dem die Seele hinaufschreitet, wächst auch ihre Liebe. 40 Schaut sie das Schöne selbst, liebt sie es mit »wahrer Liebe«. 41 Diese Liebe macht sie selbst schön und liebenswert. 42 Plotin greift 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

Vgl. I 6 [1] § 22. Vgl. I 6 [1] § 44. Vgl. I 6 [1] § 41. Vgl. I 6 [1] § 19, § 23. Vgl. I 6 [1] § 22. I 6 [1] § 42. I 6 [1] § 43. Vgl. I 6 [1] §§ 33–35. Vgl. I 6 [1] § 34. Vgl. I 6 [1] § 35.

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damit das Thema der erotischen Liebe aus Platons Diotima-Rede auf. 43 Der Weg zum Schönen ist auch ein Weg der Liebe. Schließlich sieht Plotin im Aufstieg der Seele zum Schönen eine Rückkehr zum Ursprung. Da das Erste Schöne der Ursprung von allem, und mithin auch von der Seele ist 44, bildet es ihre eigentliche Heimat. Plotin fordert daher alle auf: »So lasst uns fliehen in die geliebte Heimat« – zum Ersten Schönen! »Dort nämlich ist unser Vaterland, von wo wir gekommen sind, und dort ist unser Vater.« 45 Plotin fasst den Aufstieg der Seele zum Schönen ganz ausdrücklich und konsequent als Weg ins Innere auf. Darin dürfte die wichtigste Neuerung und Ergänzung gegenüber Platon liegen. 46 Für Plotin ist der Weg »ins Innere« 47 der Weg, der zum Schönen führt, und das Mittel, mit dem das Schöne zu erreichen ist. In ihrem Inneren kann die Seele ihre eigene Schönheit erblicken. 48 In ihrem Inneren kann sie die Schönheit des Geistes und durch den Geist schließlich die Schönheit des Schönen selbst schauen. Deshalb soll sie »gleichsam die Augen schließen« und in sich »ein anderes Gesicht«, das »innere Gesicht« erwecken. 49

4.1.3 Das Ziel des Aufstiegs zum Schönen Plotin zufolge besteht für die Seele das Ziel ihres Aufstiegs darin, selbst schön und tugendhaft zu werden 50, so dem Ersten Schönen bzw. Gott ähnlich zu werden 51 und das Erste Schöne zu schauen. 52 Vgl. Symp. 210a.e. Vgl. I 6 [1] § 33, § 44. 45 I 6 [1] § 39. 46 Insofern für Platon die Idee des Guten im Menschen anwesend ist, wie er im »Gorgias« andeutet, ist freilich auch bei ihm ein Ansatz für den Weg ins Innere vorhanden. Vgl. Gorg. 506d; dort heißt es: »Gut sind aber nun doch wir ebenso wie alles andere, was gut ist, durch die Anwesenheit [Hervorh. J. H.] einer gewissen Vollkommenheit (Tugend) [d. h. der Idee des Guten]?« Platon verwendet hier eine Form des Wortes παραγίγνομαι (paragígnomai): ich bin dabei, ich wohne bei. Das Gute ist bei uns oder in uns. 47 I 6 [1] § 37. 48 Vgl. I 6 [1] § 21. 49 I 6 [1] §§ 40 f. 50 Vgl. z. B. I 6 [1] § 31. 51 Vgl. I 6 [1] § 31, § 35, § 44. 52 Vgl. vor allem I 6 [1] §§ 34 f. 43 44

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Für ihn ist das Erste Schöne »Ursache von Leben, Denken und Sein« 53. Alles »ist, lebt und denkt« 54, indem es zu ihm aufblickt. Ganz ausdrücklich setzt Plotin das Erste Schöne mit dem Guten gleich: »Gutes und Schönes, Gutheit und Schönheit« sind »identisch«. 55 Als das Erste ist die Schönheit »zugleich das Gute« 56. Das Gute wird erstrebt, über das Schöne wird gestaunt. 57 Insofern handelt es sich für Plotin beim Guten und Schönen um zwei verschiedene Aspekte ein und derselben höchsten Wirklichkeit, von der alles stammt. Das Gute hat, bildlich ausgedrückt, »das Schöne wie eine Decke um sich« 58. Die höchste Wirklichkeit deutet Plotin als das eigentlich Göttliche und Gott (θεός, theós) 59. So heißt für die Seele »gut und schön werden, Gott ähnlich werden«. 60 Für Plotin scheinen das Schöne, das Gute und Gott nur verschiedene Bezeichnungen für die eine, absolut transzendente Wirklichkeit zu sein. Allerdings lässt er am Ende seiner Schrift offen, ob man das Erste Schöne tatsächlich wie das Gute völlig jenseits des Geistes und der Ideen ansiedeln oder es als Idee doch dem Bereich des Geistes zuschreiben will, sodass es zwar immer noch jenseitig, aber weniger jenseitig als das Gute wäre, aus dem als Quell und Urgrund es dann stammen würde. 61 Insgesamt tendiert Plotin in seiner Schrift über das Schöne jedoch eindeutig dazu, das Erste Schöne metaphysisch mit dem Guten und mit Gott jenseits der Ideen zu identifizieren. 62 Während Platon bei seinen beiden Aufstiegsbeschreibungen das Gute und das Schöne nur indirekt miteinander gleichsetzt, insofern er beides jeweils als höchste, göttliche Wirklichkeit betrachtet, nimmt Plotin diese Gleichsetzung ganz direkt und ausdrücklich vor. 63 Und

I 6 [1] § 33. I 6 [1] § 33. 55 I 6 [1] § 31. 56 I 6 [1] § 31. 57 Vgl. I 6 [1] §§ 33 f. 58 I 6 [1] § 44. 59 Vgl. I 6 [1] § 31, § 33, § 43. 60 Vgl. I 6 [1] § 31. 61 Vgl. I 6 [1] § 44. 62 Zur Beziehung zwischen dem Schönen und dem Guten bei Plotin siehe Judith Omtzigt: Die Beziehung zwischen dem Schönen und dem Guten in der Philosophie Plotins, Göttingen 2012. 63 Vgl. I 6 [1] § 31. 53 54

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Der Aufstieg zum Guten oder Einen in der Enneade VI 9

während für Platon das Gute und das Schöne Ideen darstellen, übersteigt für Plotin das Gute/Schöne den Bereich der Ideen. Da der Geist und die Seele im göttlichen Schönen ihren Ursprung haben, sind sie für Plotin auch selbst ein Göttliches. 64 Freilich muss die Seele erst durch den Aufstieg zum Ersten Schönen selbst wieder ganz göttlich, d. h. selber schön und tugendhaft werden, um zu Ihm ganz zurückkehren zu können. Bei Platon scheint der Mensch nur durch die Schau der Idee des Schönen selber schön und tugendhaft werden zu können. 65 Demnach wäre die Schau des Schönen der Grund für die Verähnlichung mit dem Schönen. Plotin kennt diesen Zusammenhang einerseits auch. Der Mensch, der in der Schau des Ersten Schönen verweilt, »wird ihm ähnlich« 66. Andererseits stellt Plotin den Grund-Folge-Zusammenhang gegen Ende seiner Schrift eindeutig umgekehrt dar: »Es werde also einer zuerst ganz gottähnlich und ganz schön, wer Gott und das Schöne schauen will.« 67 Hier wäre die Verähnlichung mit dem Schönen nicht die Folge der Schau des Schönen, sondern der Grund für die Schau des Schönen. Die Spannung lässt sich auflösen, indem man sie dialektisch versteht. Je mehr der Mensch dem göttlichen Schönen selber ähnlich wird, desto mehr wird er es schauen; und je mehr er es schaut, desto ähnlicher wird er ihm. Die Seele kann dabei das Schöne selbst nur schauen »mit dem Vermögen, mit dem die Seele derartige Dinge schaut« 68. Mit diesem Vermögen meint Plotin wie Platon den menschlichen Nous. 69

4.2 Der Aufstieg zum Guten oder Einen in der Enneade VI 9 In der ebenfalls frühen Abhandlung »Das Gute oder das Eine« (VI 9 [9]) beschreibt Plotin erneut einen Aufstieg zur höchsten Wirklichkeit. Wie die Abhandlung »Das Schöne« enthält auch dieses Werk einen ersten hauptsächlich metaphysischen Teil und einen zweiten

64 65 66 67 68 69

Vgl. I 6 [1] § 22, § 32. Vgl. Symp. 212a. I 6 [1] § 35. I 6 [1] § 43. Vgl. I 6 [1] § 19. Vgl. Symp. 212a.

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Das Schöne und das Eine

überwiegend mystagogischen Teil. 70 Es werden daher – dem ersten Teil entsprechend – wiederum zunächst einige allgemeine metaphysische Voraussetzungen für den Aufstieg erläutert. Zu diesen Voraussetzungen gehören vor allem die drei Hypostasen, d. h. für sich bestehenden Wirklichkeiten: die Seele (ψυχή, psychē´ ), der Geist (νοῦς, nous oder nus) und das (oder der) Eine (τὸ ἓν, tò hèn). 71 Zum besseren Verständnis von Plotins Hypostasenlehre werden auch einige Stellen aus anderen Enneaden beigezogen. 72 Die nächsten Abschnitte sind dann dem Aufstieg selbst mit seinen speziellen Voraussetzungen und dem Ziel des Aufstiegs gewidmet.

4.2.1 Die drei Hypostasen Plotin geht in der Schrift »Das Gute oder das Eine« (VI 9 [9]) zunächst der Frage nach, was das einfache Eine (τὸ ἓν, tò hèn) ist. 73 Der Reihe nach schließt er Entitäten, die für das Eine in Frage kommen, aus. Zwar besteht eine Korrelation zwischen dem Seienden beim Einzelding und dem Einen, insofern »ein geringeres Sein […] auch ein geringeres Einssein [bedeutet], und ein höheres ein höheres« 74. Aber da »das Sein des Einzeldinges Vielheit ist, das Eine aber unmöglich Vielheit sein kann, so muss beides voneinander verschiePlotins Schriften. Übersetzt von Richard Harder. Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen. Band I. Die Schriften 1–21 der chronologischen Reihenfolge, Hamburg 1956, VI 9 Das Gute (das Eine), 170–207. Erster Teil: §§ 1–48; zweiter Teil: §§ 49–79. 71 Zu Plotins Lehre von den drei Hypostasen siehe besonders Plotin: Seele – Geist – Eines. Enneade IV 8, V 4, V 1, V 6 und V 3. Griechischer Lesetext und Übersetzung von Richard Harder, in einer Neubearbeitung fortgeführt von Rudolf Beutler und Willy Theiler, eingeleitet, mit Bemerkungen zu Text und Übersetzung und mit bibliographischen Hinweisen versehen von Klaus Kremer, Hamburg 1990. 72 Vgl. zum Folgenden besonders die Einleitung von Klaus Kremer in: Plotin 1990, IX–XXXVII. Kremer verwendet die übliche Zitierweise bei Plotin. IV 8 [6],1,18 bedeutet demnach: IV. Enneade, 8. Buch (zeitlich ist es Plotins 6. Schrift), 1. Kapitel (die Kapiteleinteilung stammt von Marcilio/Ficino), 18. Zeile (nach der seit Bréchier üblichen Zeilenzählung). Um der Einheitlichkeit willen werde ich im Anschluss an Ricken (2003 und 2007) nach der Nummerierung der Enneade nicht das Kapitel und die Zeile angeben, sondern den Paragraphen; also z. B. nicht IV 8 [6],1,18, sondern IV 8 [6] § 3. 73 Zu Plotins Hypostasenlehre siehe Susanne Möbuß: Plotin zur Einführung, Hamburg 2000, 17–57; Karin Alt: Plotin, Bamberg 2005, 22–51. 74 VI 9 [9] § 5. 70

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den sein« 75. Auch die Seele kann nicht mit dem Einen identisch sein, »denn es sind gar viele Kräfte in ihr, Denken, Streben, Wahrnehmen, welche erst durch das Eine so wie durch ein Band zusammengehalten werden« 76. Die menschliche Seele hat aufgrund ihrer Verbindung mit dem Leib eine doppelte Funktion. Auf der einen Seite hat sie als vernünftige Seele die Aufgabe, zu denken, da sie mit ihrem oberen »Teil« auf den Geist hin ausgerichtet ist, dessen Wesen im Denken besteht. 77 Auf der anderen Seite hat sie die Aufgabe, formend und ordnend über das ihre Nachgeordnete, das Materielle, zu herrschen, insofern sie mit ihrem unteren »Teil« zum Leib hin liegt. 78 Die Einzelseelen hausen von daher gleichsam wie Amphibien in zwei Elementen und leben im Wechsel bald dort oben, bald hier unten. 79 Unsere Seele nimmt somit eine Mittelstellung in der Wirklichkeit ein. 80 Einerseits hat sie notwendig an der sinnlich-materiellen Welt teil, der sie als ihre Grenznachbarn etwas von ihrem Sein gibt. Andererseits bleibt ein »Stück« oder »Teil« ihres Wesens immer in der oberen geistigen Welt, weshalb sie selber nie ganz ins Materielle hinabsinkt. 81 Denn unsere Seele stammt von den oberen Räumen, vom Geist, und ist von daher göttlich. 82 Insofern bleibt die Göttlichkeit unserer Seele trotz ihrer Verbindung mit dem Leib gewahrt. Auch die Welt-Seele lenkt mit ihrem dem Leib zugewandten Teil souverän das Weltall und steht damit immer auch über der sinnlichen Welt. 83 Unsere Seele besitzt zwar so etwas wie ein Selbstbewusstsein 84, aber zu echter Selbsterkenntnis, wie sie dem Geist eigen ist, ist sie nicht fähig. 85 Sie kann zwar mit Hilfe ihres Überlegungsvermögens dem Geist folgen. Sie kann dem Geist ähnlich werden. 86 Aber sie wird

75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86

VI 9 [9] § 9. VI 9 [9] § 6. Vgl. IV 8 [6] § 20. Vgl. IV 8 [6] § 20, § 42. Vgl. IV 8 [6] § 24. Vgl. dazu und zum Folgenden IV 8 [6] § 36. Vgl. IV 8 [6] § 40. Vgl. Vgl. IV 8 [6] § 29; V 1 [10] § 14, § 56. Vgl. IV 8 [6] § 42. Vgl. VI 9 [9] § 78. Vgl. dazu und zum Folgenden V 3 [49] §§ 9–24. Vgl. V 3 [49] § 69, §§ 74–76.

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Das Schöne und das Eine

nur »gleichsam« 87 eins mit dem Geist, nicht wirklich Geist. »Denn wir sind nicht Geist« 88! – so betont Plotin. Zu wahrer Selbsterkenntnis ist nur der Geist, die zweite Hypostase, fähig. 89 Der Geist denkt sich selbst. Das Sich-Selbst-Denken stellt für Plotin das Denken im echten Sinn dar, während das Denken von Äußerem kein Denken im eigentlichen Sinn, sondern ein mangelhaftes Denken ist. 90 Der Geist bedarf, um er selbst zu sein, des Selbstdenkens. Die über dem Geist liegende Hypostase des Einen bedarf hingegen des Selbstdenkens oder der Selbsterkenntnis nicht mehr. 91 Die unter dem Geist liegende Hypostase der Seele hat, wie dargelegt, die Selbsterkenntnis noch nicht bzw. erreicht sie erst wieder beim Aufstieg zum Geist, im Stadium der »Geistwerdung«. Das im eigentlichen Sinne denkende Prinzip ist demnach der Geist. Der Geist denkt durch das Denken, das er selber ist, und er denkt das Gedachte, das er wiederum selbst ist. 92 Im Anschluss an die These des Parmenides, Denken und Sein seien dasselbe, sieht Plotin im Geist den Zusammenfall von wahrem Denken und wahrem Sein. Denken und Sein gehören untrennbar zusammen und sind etwas höchst Lebendiges. 93 Trotz seiner höchsten Lebendigkeit ist aber auch der Geist nicht das gesuchte höchste Eine. Denn auch in ihm ist noch Vielheit. Er ist, wie Plotin sagt, ein »Eines-Vieles« 94 (ἓν πολλὰ, hèn pollà). Der Geist selber ist der Inbegriff der vielen Ideen 95 und denkt die vielen Ideen, die noch einmal in sich vielfältig und zusammengesetzt sind. 96 Der Geist ist demnach schon insofern selbst vielfältig, als das

V 1 [10] § 27. Erst recht gilt in Bezug auf das Eine, dass die Seele nur »gleichsam« eins mit dem Einen werden kann; vgl. z. B. VI 9 [9] § 71. 88 Vgl. V 3 [49] § 23. 89 Vgl. V 4 [7] § 11; V 3 [49] §§ 33–129. 90 Vgl. V 3 [49] §§ 122 f. 91 Zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen siehe Werner Beierwaltes: Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Frankfurt a. M. 2001, 16– 159. 92 Vgl. V 3 [49] §§ 42 f. 93 Vgl. V 4 [7] § 11; V 1 [10] § 20; V 6 [24] § 26. 94 V 4 [7] § 4; V 3 [49] §§ 135 f. 95 Vgl. V 4 [7] § 16; VI 9 [9] § 11; V 1 [10] § 43. 96 Vgl. VI 9 [9] § 12; Plotin verwendet hier wie an anderen Stellen das Wort eidos (Form), das in der Übersetzung mit Idee wiedergegeben ist. 87

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von ihm Gedachte ein in sich Vielfältiges ist. 97 Außerdem besteht im Geist der unüberwindliche grundsätzliche Unterschied zwischen dem Denkenden und dem Gedachten bzw. dem Denken und dem Gedachten. 98 Das Denken muss sich immer in der Zweiheit bewegen. Auch das eigentliche Denken, das Sich-selbst-Denken, enthält notwendig die Momente der Selbigkeit und Andersheit sowie der Ruhe und Bewegung in sich. 99 Aufgrund all dessen ist der Geist in vielfachem Sinn noch selbst ein Vielfältiges. Der Geist entsteht aus dem Einen aufgrund der Güte, Überfülle oder Kraft und aufgrund der Vollkommenheit des Einen. 100 Weil er vom Einen erzeugt ist, ist er ein Abbild von ihm und ihm ähnlich. 101 Weil er aus Ihm hervorgegangen ist, kann er aber nicht mit Ihm identisch sein. 102 Er ist wegen seiner Vielfältigkeit geringer und mangelhafter als das Eine. 103 Der Geist ist einerseits beim Guten, beim Ersten und blickt auf es hin, andererseits aber ist er bei sich selbst und denkt sich selbst als den Inbegriff des Seienden. 104 Der Geist vermag entweder das vor ihm Liegende – das Gute oder Eine als das Erste – zu sehen oder das ihm selbst Angehörende – die Ideen – oder das aus ihm Hervorkommende – die Seele. 105 Sein Wesen besteht im Sehen des Einen. 106 Denn nur dadurch, dass er auf jenes Eine schaut, vermag er Geist zu sein. Indem er auf das Eine bzw. Gute hinblickt und es denkt, erkennt und denkt er zugleich sich selber. 107 Die Vielheit des Geistes macht den Rückgang bzw. die Hinwendung zum ganz Einfachen, dem völlig Einen, erforderlich. 108 Das gesuchte Eine treffen wir in uns selber an. 109 Dieses Eine wird von Plotin bald im Neutrum, bald im Maskulinum angeführt, also einmal das

Vgl. VI 9 [9] § 14; V 6 [24] §§ 26 f.; V 3 [49] § 105, § 155. Vgl. V 4 [7] § 10; VI 9 [9] § 14; V 1 [10] § 24; V 6 [24] §§ 6 f. 99 Vgl. V 1 [10] §§ 25 f.; V 3 [49] §§ 90 f. 100 Vgl. Kremer in: Plotin 1990, XXVI. 101 Vgl. V 1 [10] § 38. 102 Vgl. VI 9 [9] § 48; V 3 [49] § 116, §§ 134 f. 103 Vgl. V 3 [49] § 135. 104 Vgl. VI 9 [9] § 14. 105 Vgl. VI 9 [9] § 20. 106 Vgl. V 3 [49] § 88. 107 Vgl. VI 9 [9] § 14; V 6 [24] § 21. 108 Vgl. VI 9 [9] § 33. 109 Vgl. V 1 [10] § 55, § 59. 97 98

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Eine und ein anderes Mal der Eine genannt. 110 Letzteres verrät Plotins personale Gottesvorstellung. Das Eine oder Gute ist »nicht Geist, sondern vor dem Geiste. Denn der Geist ist etwas von den seienden Dingen; Jenes aber ist nicht ein Etwas, sondern vor jeglichem; und auch kein Seiendes.« 111 Es ist vor dem Sein 112 und oberhalb des Geistes 113. »Da nämlich die Wesenheit des Einen die Erzeugerin aller Dinge ist, ist sie keines von Ihnen. Sie ist also weder ein Etwas noch ein Wiebeschaffen noch ein Wieviel, weder Geist noch Seele; es ist kein Bewegtes und wiederum kein Ruhendes, nicht im Raum nicht in der Zeit, ›sondern das Eingestaltige als solches‹ ; oder vielmehr ohne Gestalt, da es vor jeder Gestalt ist […].« 114

Weil das Eine keinerlei Gestalt oder Bestimmung besitzt, kommt ihm an sich überhaupt kein Name zu. 115 Das Höchste ist an sich namenlos und unnennbar. Wenn man es »denn aber benennen muss, so wird man es passend gemeinhin das Eine nennen« 116. Die Bezeichnung »Eines« bedeutet aber nur die Aufhebung des Vielen. Für das Eine gilt im Grunde nur: Es ist es bzw. er selbst. 117 Weil wir das Eine in gewissem Sinn haben, können wir zwar etwas über es aussagen. Es selbst können wir jedoch nicht aussagen, da wir es weder erkennen noch denken können. 118 Wir sagen aus, was es oder er nicht ist. Was es oder er aber ist, sagen wir nicht aus. 119 »Der Satz, dass wir von Gott nicht sagen können, was Er ist, sondern bloß, was Er nicht ist, wird nach Plotin von fast allen großen Denkern, gerade auch von den christlichen, wiederholt werden. Er bildet die Grundlage der berühmten ›negativen Theologie‹, lässt sich aber auch schon bei Clemens von Alexandrien (gest. ca. 214) und ebenfalls bei Philon (ca. 25 v. Chr.–ca. 50 n. Chr.) belegen […].« 120 110 Bisweilen wechselt Plotin das grammatikalische Geschlecht des Einen innerhalb desselben Abschnitts: vgl. z. B. VI 9 [9] §§ 38–41; V 1 [10] § 41. 111 VI 9 [9] § 21. 112 Vgl. VI 9 [9] § 37. 113 Vgl. VI 9 [9] § 57. 114 VI 9 [9] § 22. 115 Vgl. VI 9 [9] § 35; V 3 [49] §§ 118 f. 116 VI 9 [9] § 35. 117 Vgl. VI 9 [9] §§ 41–43. 118 Vgl. V 3 [49] §§ 129 f. 119 Vgl. VI 9 [9] § 26. 120 Kremer in: Plotin 1990, XXXVII. Zu Plotins negativer Theologie siehe Klaus Kremer: Plotins negative Theologie. »Wir sagen, was Es nicht ist. Was Es aber ist, das sagen wir nicht.«, in: Werner Schüßler (Hrsg.): Wie lässt sich über Gott sprechen?

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Immer im Sinn einer solchen negativen Theologie schreibt Plotin dann dem Einen Etliches zu. Dieses Eine ist absolut einfach, frei von aller Vielheit und Teilbarkeit. 121 Es ist »Quell des Vollkommensten« 122, »das Größte von allem […] dem Vermögen nach« 123 und »der Urgrund aller Dinge« 124. Aber auch wenn wir es als Ursache aller Dinge bezeichnen, so bedeutet das nicht, dass wir etwas, was ihm als Eigenschaft zukommt, von ihm aussagen, sondern dass wir etwas von uns aussagen, »dass wir nämlich etwas von ihm her haben, während es selbst in sich verharrt« 125. Da die Fülle seines inneren Vermögens unumfassbar ist, muss man es »auch als unendlich ansehen« 126. Und da es »das Zureichendste und Selbstgenügendste von allem ist, so muss es auch das Unbedürftigste sein« 127. Es ist »weder gegen sich selbst noch gegen ein anderes bedürftig« 128. Es bedarf nicht einmal »des Denkens seiner selbst« 129. Steht es doch hoch über der Selbsterkenntnis, dem Selbstdenken und dem Selbstbewusstsein. 130 Dennoch ist es nicht unwissend. 131 Es hat nämlich nichts in sich, das es nicht wüsste. Aber dieses Wissen besteht in einem vollkommenen Eins-Sein mit sich – ohne jede Zweiheit –, sodass jede Art von Denken und sogar ein Bei-sichSein bei ihm ausgeschlossen sind. Das Eine ist folglich absolut autark. Es ist das Unabhängigste von allem, es genügt sich vollkommen selbst, ja es befindet sich selber noch jenseits der Selbstgenügsamkeit. 132 Es ist nicht mehr irgendein Eines, sondern das Eine selbst 133, das von allem gänzlich Unterschiedene 134, die Kraft, das Vermögen oder die Möglichkeit von allem (δύVon der negativen Theologie Plotins bis zum religiösen Sprachspiel Wittgensteins, Darmstadt 2008, 9–27. 121 Vgl. VI 9 [9] § 33, § 37. 122 VI 9 [9] § 36. 123 VI 9 [9] § 39. 124 VI 9 [9] § 33; vgl. § 36. 125 VI 9 [9] § 23. 126 VI 9 [9] § 40. 127 VI 9 [9] § 41. 128 VI 9 [9] § 42. 129 VI 9 [9] § 47; vgl. die gesamte Enneade V 6 [24]; z. B. §§ 8 f., § 15, § 18. 130 Vgl. V 3 [49] §§ 123 f. 131 Vgl. dazu und zum Folgenden VI 9 [9] §§ 47 f. 132 Vgl. V 4 [7] § 3; V 3 [49] § 123, § 157. 133 Vgl. V 3 [49] § 118, § 137. 134 Vgl. V 3 [49] § 97, § 102.

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ναμις πάντων, dýnamis pántōn) 135. Es ist das Licht, das in seinem eigenen Licht gesehen wird, d. h. zugleich »Gegenstand« und Medium des Erfassens ist. 136 Es ist stärker als das Leben, das es gewährt 137, weil es selber das nicht sein muss, ja nicht sein darf, was es gibt 138. Das Gebende ist ja doch immer höher als das Gegebene. 139 Das Eine ist demnach der Ursprung von allem. Weil es durch keinerlei Form bestimmt ist, kann alles aus ihm stammen. 140 Und weil das Gebende immer das Höhere und das Gegebene immer das Geringere ist, muss das Gebende nicht das haben, was es gibt. 141 Deshalb kann das absolut einfache Eine auch das Vielfältige und das Viele aus sich hervorbringen. So geht aus Ihm der Geist hervor, aus dem Geist die Seele und aus der Seele die sinnlich-materielle Welt. Auch die Materie verdankt sich letztlich, wenn auch über einen stufenweisen Abstieg, dem absoluten Einen. 142 Plotin nennt gelegentlich den Hervorgang des Entstehenden aus dem Einen bzw. dem Geist »Emanation« (»Hervorfließen«) 143, versteht diese aber nie im wörtlichen Sinne eines Hervorfließens. Beharrlich lehnt er eine Identität dessen, was hervorgeht, mit dem, woraus es hervorgeht, ab. Für ihn ist das Hervorgegangene metaphysisch immer geringer als sein jeweiliger Ursprung. Das Eine ist für Plotin zugleich alles und nichts. »Alles ist es deshalb, weil alles aus Ihm stammt, nichts deshalb, weil alle Dinge [metaphysisch] später sind als Es.« 144 Es ist die Ursache aller Dinge, selbst aber keines von ihnen. 145 »Man darf es also auch nicht das Gute nennen, da es den andern das Gute darbietet, sondern höchstens in einem besonderen Sinne das Gute über alle Güter.« 146 Es ist »das Übergute, welches nicht für sich selbst, sondern für die andern Dinge gut ist, die etwa an ihm teilzuhaben vermögen« 147. 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147

Vgl. V 4 [7] § 15; V 1 [10] § 39. Vgl. V 6 [24] § 17; V 3 [49] § 161. Vgl. VI 9 [9] § 60; V 1 [10] § 41. Vgl. V 3 [49] § 132. Vgl. V 3 [49] §§ 133–135. Vgl. V 1 [10] § 41. Vgl. V 3 [49] §§ 133–135 Vgl. IV 8 [6] §§ 34 f. Vgl. z. B. V 1 [10] § 16, § 30; V 3 [49] § 115. Kremer in: Plotin 1990, XXIX; vgl. VI 9 [9] §§ 21 f., § 48; V 1 [10] § 41. Vgl. VI 9 [9] § 48. VI 9 [9] § 48. VI 9 [9] § 46. Zur weiteren Lehre Plotins von den drei Hypostasen siehe Plotin:

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4.2.2 Der Aufstieg zum Einen und seine besonderen Voraussetzungen Bei der Beschreibung des Aufstiegs der Seele zum Einen oder Guten wiederholt Plotin einige Themen, die er bei der Beschreibung des Aufstiegs zum Schönen behandelt hatte. Der Hinaufweg ist ein Weg der Vergeistigung 148, der Erleuchtung 149 und der Liebe 150. Die Seele soll versuchen, ganz »allein« 151 zu sein. Indem sie hinaufsteigt, kehrt sie zu ihrem Ursprung zurück. Denn vom Einen bzw. Gott ging sie aus 152, und weil sie aus Ihm stammt, »verlangt sie nach ihm mit Notwendigkeit« 153. Das Eine ist daher ihr »Urgrund und Ziel« 154, ihr »Vater« 155. Durch den Aufstieg soll sie »Schauer des Ursprungs und des Einen« 156 werden, wieder das werden, »was sie eigentlich war« 157. Der Aufstieg ist so wiederum Rückkehr zum Ursprung. Einige Themen treten nunmehr aber auch stark zurück. Plotin liegt nicht mehr daran, die Empfindungen, die der Schau des Höheren und Höchsten angemessen sind, möglichst ausführlich zu beschreiben, auch wenn er nach wie vor etwa von der erotischen »Erschütterung« 158 spricht. Das Thema der Reinigung, das einerseits die Befreiung von allem Niederen und Irdischen und andererseits die Entfaltung der Tugenden beinhaltet und in der früheren Schrift großen Raum eingenommen hatte, kommt zwar noch vor 159, spielt aber insgesamt nur noch eine untergeordnete Rolle. Um die höchste Wirklichkeit letztlich schauen zu können, muss Seele – Geist – Eines. Enneade IV 8, V 4, V 1, V 6 und V 3. Griechischer Lesetext und Übersetzung von Richard Harder, in einer Neubearbeitung fortgeführt von Rudolf Beutler und Willy Theiler, eingeleitet, mit Bemerkungen zu Text und Übersetzung und mit bibliographischen Hinweisen versehen von Klaus Kremer, Hamburg 1990. 148 Vgl. VI 9 [9] § 19. 149 Vgl. VI 9 [9] § 27, § 51, § 68. 150 Vgl. VI 9 [9] § 27, § 66. 151 VI 9 [9] § 29; § 67. 152 Vgl. VI 9 [9] § 28, §§ 63 f. 153 VI 9 [9] § 64. 154 VI 9 [9] § 63. 155 VI 9 [9] § 65. 156 VI 9 [9] § 18. 157 VI 9 [9] § 63. 158 VI 9 [9] § 27. 159 Vgl. VI 9 [9] § 18, § 27, § 29, § 63, § 65.

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Das Schöne und das Eine

die Seele zuvor dieser Wirklichkeit ähnlich werden. Das ist für Plotin auf Seiten der Seele nach wie vor die wichtigste ontologische Voraussetzung für die Schau. Da das Ziel des Aufstiegs nun aber nicht mehr in der Schau des Schönen, sondern in der Schau des Einen besteht, erhält die Verähnlichung der Seele mit der höchsten Wirklichkeit einen neuen konkreten Inhalt. Die Seele muss nicht mehr primär schön und selbst tugendhaft werden, sondern primär eins und einfach, weil das die hauptsächlichen Charakteristika des Einen sind. 160 Die Seele muss aus der Vielheit selber ein Eines werden 161, muss sich zu einer Einheit sammeln 162, muss eine »Wesensähnlichkeit« 163 mit dem Einen erlangen, um es schließlich schauen und sich mit ihm vereinigen zu können. Während Plotin beim Aufstieg zum Schönen mit Blick auf die Vergeistigung sagen konnte, die Seele müsse »Gestalt und Form« 164 werden, sagt er nun mit Blick auf die Verähnlichung mit dem Einen, die Seele müsse »ohne Form und Gestalt werden« 165. Einfach werden 166 und sich einfach machen 167 kann die Seele aber nur vermöge einer Kraft, die ihr innewohnt und ihr über den Geist vom Einen selbst zukommt. 168 Die Annahme einer inneren Kraft in der Seele leitet bereits zur zweiten unmittelbaren Voraussetzung für die Schau des Einen über. Wie in seiner früheren Schrift hebt Plotin sehr stark hervor, dass der Weg nach Oben ein Weg nach Innen ist. Will man das Eine schauen, »dann muss man von allem, was außen ist, sich zurückziehen und sich völlig in das Innere wenden« 169. Denn das Eine lässt sich nur im Inneren finden. Es ist, wie Plotin erklärt, »für keinen draußen, sondern ist bei allen, ohne dass sie es wissen« 170. Es »ist gewiss niemandem fern, und doch ist es allen fern, es ist gegenwärtig und doch nur gegenwärtig für diejenigen, welche es aufnehmen können« 171. Da es 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171

Vgl. VI 9 [9] §§ 17 f., § 24, § 27. Vgl. VI 9 [9] § 18. Vgl. VI 9 [9] § 27. VI 9 [9] § 28. I 6 [I] § 30. VI 9 [9] § 51; vgl. § 15. Vgl. VI 9 [9] § 70. Vgl. VI 9 [9] § 76. Vgl. VI 9 [9] § 28, § 36, § 63. VI 9 [9] § 51. VI 9 [9] § 53. VI 9 [9] § 28.

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keine Andersheit kennt, ist es »immer bei uns, wir aber sind bei ihm nur, wenn wir keine Andersheit in uns haben« 172 und wenn wir zu ihm hinblicken. Bildlich gesprochen stellt das Eine den Mittelpunkt der Seele dar, um den diese sich bewegt und kreist. 173 Solange die Seele bei sich allein und einfach ist und nicht nach außen, sondern nach innen auf ihren Mittelpunkt blickt, ist sie daher beim Einen und befindet sich mit sich selbst und mit den anderen Seelen in Harmonie. 174 Genauer gesagt ist das Eine bzw. Gott nicht einfach der Mittelpunkt der einzelnen Seele, sondern der Mittelpunkt der Mittelpunkte – der Mittelpunkt, in dem alle Mittelpunkte der Seelen und Dinge zusammenfallen und sich berühren. 175 Je näher ein Mensch seiner Mitte kommt, desto näher ist er daher dem Einen und zugleich den anderen Menschen und Dingen. Nur weil das Eine dem Menschen in seinem Innersten, »in der innersten Kammer« 176 seiner Seele gegenwärtig ist, kann dieser es schauen. Die Schau des Einen hat mithin sowohl eine unabdingbare Voraussetzung auf Seiten der Seele als auch auf Seiten des Einen. Die Seele kann das Eine nur schauen, weil und insoweit sie ihm ähnlich geworden ist und weil ihr im Innersten das Eine gegenwärtig ist. 177 Will die Seele das Eine schauen, muss sie ihm ähnlich werden. Auf diesem Hintergrund unterteilt Plotin den Aufstieg erkenntnistheoretisch in zwei verschiedene Etappen. Auf dem ersten Stück des Weges mag Belehrung sehr hilfreich sein. 178 Aber auf dem Weg des wissenschaftlichen Erkennens und rein begrifflichen Denkens (νόησις, nóēsis) kann man des Einen nicht inne werden. 179 »Denn Wissenschaft ist Begriff [λόγος, lógos], der Begriff aber ist ein Vieles.« 180 Solange sich die Seele mit Begriffen und Wissenschaften beschäftigt, verfehlt sie darum das Eine und kann ihm nicht ähnlich werden. Deshalb muss sie von aller Wissenschaft lassen und alles Wissen von der

172 173 174 175 176 177 178 179 180

VI 9 [9] § 59; vgl. § 61. Vgl. VI 9 [9] §§ 54–56, § 71. Vgl. VI 9 [9] § 59. Vgl. VI 9 [9] §§ 55 f., § 71. VI 9 [9] § 76. Vgl. VI 9 [9] § 28, § 49. Vgl. VI 9 [9] § 26. Vgl. VI 9 [9] § 24. VI 9 [9] § 24.

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Das Schöne und das Eine

äußeren Welt sowie von sich selbst auslöschen. 181 Auf diese Weise allein kann sie in die Schau des Einen eintreten. Wissenschaftliche Erkenntnis und begriffliches Denken dienen nur dazu, zum Einen »hinzuleiten, aufzuwecken aus den Begriffen zum Schauen und gleichsam den Weg zu weisen« 182. Den Aufbruch vom begrifflichen Denken zum Schauen und »die Schau muss dann selbst vollbringen, wer etwas zu sehen gewillt ist« 183. Nur durch eine Gegenwärtigkeit (παρουσία, parousía) oder Aufmerksamkeit, die von höherer Art als wissenschaftliches Erkennen und begriffliches Denken ist, kann man sich des Einen bewusst werden. 184 Das Schauen und das Schauende ist, wie Plotin später noch einmal eigens hervorhebt, nicht mehr Vernunft (λόγος, lógos) im Sinne des begrifflichen Denkens oder Begreifens, »sondern größer als Vernunft, vor der Vernunft und über der Vernunft, ebenso wie das Geschaute« 185, da begriffliches Denken wegen der ihm eigenen Vielheit das einfache Eine grundsätzlich nicht erfassen kann.

4.2.3 Das Ziel des Aufstiegs zum Einen Das Ziel des Aufstiegs der Seele besteht darin, das Eine zu berühren, zu schauen und sich mit ihm zu vereinigen. Plotins bevorzugter Begriff für die höchste Wirklichkeit, der sich die Seele nähern will, ist nun das Eine. Das Eine ist zugleich das Gute oder Übergute und Gott. 186 Plotin bezeichnet es auch schlicht als Jenes oder das Erste. 187 Er hat sich nunmehr entschieden, das Schöne nicht mehr als höchste Wirklichkeit anzusehen, sondern dem Einen unterzuordnen und den Ideen zuzuordnen. Es ist für ihn »später als das Eine und kommt von ihm« 188, und der Schauende wird über es beim Aufstieg hinwegeilen 189.

181 182 183 184 185 186 187 188 189

Vgl. VI 9 [9] § 25, § 51. VI 9 [9] § 26. VI 9 [9] § 26. Vgl. VI 9 [9] § 24. VI 9 [9] § 69. Vgl. z. B. VI 9 [9] § 46, §§ 63–65. Vgl. z. B. VI 9 [9] § 28, § 33. VI 9 [9] § 25. Vgl. VI 9 [9] § 75.

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Der Aufstieg zum Guten oder Einen in der Enneade VI 9

Für das Erreichen des Einen verwendet Plotin jetzt sehr häufig Ausdrücke, die als »Berühren« wiedergegeben werden können. 190 Dabei geht es um ein geistiges und ganzheitliches Berühren. Bei ihm gibt es nicht mehr – wie bei der körperlichen Berührung – eine Scheidung zwischen dem Berührenden und Berührten. Vielmehr sind wir nach Plotin bei der Berührung mit Gott ganz eins mit ihm – ohne jede Andersheit und Verschiedenheit –, und gibt es keinen Teil mehr in uns, mit dem wir Gott nicht berühren würden. 191 Auch bei der Schau Gottes läuft bei Plotin alles auf eine ungeschiedene Einheit mit Gott hinaus. »So ist es denn dort oben vergönnt, Jenen und sich selbst zu schauen, soweit Schauen dort das Rechte ist, sich selbst von Glanz erhellt, erfüllt von geistigem Licht, vielmehr das Licht selbst, rein, ohne Schwere, leicht, ja Gott geworden – nein: seiend; entzündet in diesem Augenblick, wenn man aber wieder schwer wird gleichsam erlöschend.« 192

Während der eigentlichen Schau Gottes sind der Schauende und das Geschaute nicht mehr zwei und nicht mehr verschieden, sondern eins. 193 Der Schauende ist »ist gleichsam ein anderer geworden, nicht mehr er selbst und nicht sein eigen, ist einbezogen in die obere Welt und Jenem Wesen zugehörig, und so ist er Eines, indem er gleichsam Mittelpunkt mit Mittelpunkt berührt« 194. Er ist während der Schau »auch in sich selbst Eines« 195, d. h. ganz einfach, ohne Verschiedenheit in sich. Plotin zieht aus diesen Gründen den Begriff der Vereinigung sogar dem der Schau vor. Da während der Schau der Schauende mit dem Geschauten eins war, war es, so präzisiert Plotin, eigentlich nicht »Geschautes«, sondern sozusagen »Geeintes«. 196 Die Vereinigung mit Gott, wörtlich das Zusammensein (συνουσία, synousía) mit ihm, wird jetzt Plotins großes Thema. 197 Vgl. VI 9 [9] § 28, § 52, §§ 56–58, § 63, § 67, § 71, § 76; vgl. auch Symp. 212a. Vgl. VI 9 [9] § 58, §§ 67 f. 192 VI 9 [9] § 68. 193 Vgl. VI 9 [9] § 70, §§ 72 f. 194 VI 9 [9] § 71. 195 VI 9 [9] § 73; vgl. § 70. 196 VI 9 [9] § 73. 197 Vgl. VI 9 [9] § 52, §§ 65 f., § 70, § 75. Der Begriff des Zusammenseins findet sich schon in Platons Diotima-Rede (Symp. 212a). Vgl. auch I 6 [I] § 33. Zur »Einung« der Seele mit dem Einen siehe auch Werner Beierwaltes: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1985, 190 191

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Die Seele verlangt »nach Gott und will mit ihm eins werden« 198. Denn eine »wirkliche Vereinigung« 199 mit ihm ist möglich. Während der Vereinigung mit Gott wird der Schauende auch »mit sich selbst […] vereinigt sein und sich als solchen empfinden« 200, da er dann selbst einfach geworden ist. Kein Zorn und keine Begierde, kein Begriff noch irgendein Denken ist dann in ihm. 201 Er tritt aus sich selbst heraus 202, wird gleichsam in die Höhe »hinaufgerissen« 203, sein Selbst ist nicht mehr da 204. Damit beschreibt Plotin die Vereinigung mit Gott als zeitlich begrenzte ekstatische Vereinigung. 205 In der Ekstase erlebt sich der Schauende als vollkommen eins mit Gott – ohne jeden Unterschied. Danach und nüchtern metaphysisch betrachtet ist er sich dessen bewusst, nicht Gott, sondern höchstens gottähnlich werden und den Unterschied zwischen sich und Gott niemals überbrücken zu können. Obwohl er sich so empfinden mag, als wäre er ein anderer geworden 206, ist er, wie Plotin einschränkt, nur »gleichsam« 207 ein anderer geworden, nur »gleichsam« das Eine selbst geworden. Neben einer zeitlich eng begrenzten ekstatischen Vereinigung mit Gott kennt Plotin aber auch eine länger dauernde Vereinigung und Schau. Man kann mit Gott vereint bleiben und gleichsam Umgang mit ihm pflegen. 208 Man kann bei ihm »oben verweilen« 209 oder in die Welt zurückkehren, um auch anderen von der Vereinigung Kunde zu geben. Eine völlig ununterbrochene Schau Gottes und Vereinigung mit ihm hält Plotin allerdings für unmöglich, solange die Seele noch im Körper weilt. 210 (Henosis, I. Einung mit dem Einen oder die Aufhebung des Bildes: Plotins Mystik) 123–147. 198 VI 9 [9] § 65. 199 VI 9 [9] § 67. 200 VI 9 [9] § 70. 201 Vgl. VI 9 [9] §§ 73 f. 202 Vgl. VI 9 [9] § 76. 203 VI 9 [9] § 74. 204 Vgl. VI 9 [9] § 74. 205 Vgl. auch insbesondere VI 9 [9] § 68, § 79. 206 Vgl. VI 9 [9] § 70. 207 VI 9 [9] § 71; bereits bei der Geistwerdung fügt Plotin einschränkend hinzu, die Seele werde nur »gleichsam« eins mit dem Geist (vgl. V 1 [10] § 27). 208 Vgl. VI 9 [9] § 52. 209 VI 9 [9] § 52. 210 Vgl. VI 9 [9] § 69.

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Da Gott Spender wahrhaften Lebens ist, empfängt die Seele durch die Vereinigung mit ihm neues, wahrhaftes Leben. 211 In der Schau und in der Vereinigung kann sie stille stehen 212 und sich im Geliebten ausruhen 213. Sie hat dann an der Selbstschau und der Selbstvereinigung Gottes teil und vollzieht diese nach. Denn nur der Urgrund kann den Urgrund erblicken, nur der Urgrund sich mit dem Urgrund vereinigen. 214 Abschließend sei noch auf eine Zweideutigkeit in Plotins Denkbegriff hingewiesen. Einerseits scheint nämlich das Eine von der Seele bei der Schau nicht gedacht werden zu können, weil das Schauen das Denken (νόησις, nóēsis) übersteigt. 215 Andererseits scheint die Seele das Eine bei der Schau zu denken (νοεῖν, noein). 216 Der scheinbare Gegensatz hebt sich auf, wenn man zwischen Denken als begrifflichem Denken und Denken als geistigem Schauen unterscheidet. Ersteres ist der Vernunft im Sinne des Logos (λόγος), Letzteres der Vernunft im Sinne des Nous (νοῦς) zuzuordnen, der jetzt bei Plotin besser als Geist wiedergegeben wird. Nach Plotin können wir das Eine mit unserem Logos zwar nicht begreifen – wie wir von ihm im Sinne negativer Theologie auch »weder reden noch schreiben« 217 können –, aber mit dem Nous oder durch den Nous geistig schauen 218. Zuletzt kann man sich noch die theologische Frage stellen, ob der Aufstieg zum Guten und Schönen bei Plotin tatsächlich zum personalen Gott führt. Dafür spricht, dass Plotin innerhalb desselben Textgefüges ohne Weiteres vom Einen sowohl im Neutrum als auch im Maskulinum sprechen kann. 219 Bei ihm ist von daher die Identifizierung der höchsten metaphysischen Wirklichkeit mit dem personalen Gott deutlicher als bei Platon. Das Schöne, Gute und Eine ist für ihn der eine personale Gott.

Vgl. VI 9 [9] § 67, § 63. Vgl. VI 9 [9] § 67, § 74, § 76. 213 Vgl. VI 9 [9] § 27, §§ 62 f., § 74. 214 Vgl. VI 9 [9] § 77. 215 Vgl. VI 9 [9] §§ 24–26, § 69, § 73. 216 Vgl. VI 9 [9] § 50, § 62. 217 VI 9 [9] § 26. 218 Vgl. I 6 [I] § 19. Vgl. dazu auch spätere Enneaden Plotins z. B. V 6 [24] § 21; V 3 [49] § 54, § 88. 219 Vgl. z. B. VI 9 [9] §§ 38–41; vgl. auch z. B. V I [10] § 41. 211 212

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4.3 Reflexion: Plotins Einfluss auf Augustinus Der auf Plotin zurückgehende Neuplatonismus 220 hatte großen Einfluss auf christliche Denker wie Augustinus (354–430), Pseudo-Dionysios Areopagites (2. Hälfte 5. Jh.), Johannes Scotus Eriugena (810– 877), Bonaventura (1221–1274), Meister Eckhart (1260–1328) und Nikolaus von Kues (1401–1464). Bei allem, was sie aus Plotins Hypostasenlehre für das christliche Denken fruchtbar machen konnten, blieb diese für sie hauptsächlich mit zwei metaphysischen Problemen behaftet, die es aus christlicher Sicht zu lösen galt. 1. Für Plotin ist die höchste Hypostase, die göttliche Wirklichkeit des Einen (Hen), in jeder Hinsicht absolut einfach. Jede Verschiedenheit oder Andersheit war in ihr absolut ausgeschlossen, da sie ihre metaphysische Vollkommenheit gemindert hätte. Das war für christliche Denker jedoch metaphysisch mit der Lehre von der Dreieinigkeit Gottes, die eine echte Verschiedenheit zwischen Vater, Sohn und Geist beinhaltete, nicht vereinbar. 2. Für Plotin stellt die zweite Hypostase, der Geist (Nous), eine mittlere eigenständige Wirklichkeit zwischen der höchsten, göttlichen Wirklichkeit des Hen und der niedrigsten eigenständigen Wirklichkeit der menschlichen Seele dar. Zwar kannten christliche Denker aus der heiligen Schrift einen Wirklichkeitsbereich von rein geistigen Wesen, nämlich den Engeln, der zwischen der Wirklichkeit der Menschen als leib-seelischer Wesen und der Wirklichkeit Gottes anzusiedeln war. Aber es verbot sich, dieser mittleren geistigen Wirklichkeit zwischen den Menschen und Gott eine derartige metaphysische Bedeutung zuzuweisen, wie sie in Plotins System dem Nous zukam. Die christlichen Denker hoben deshalb die Lehre vom Nous als eigenständiger Wirklichkeit (Hypostase) zwischen Mensch und Gott im Großen und Ganzen auf und ordneten den Geist entweder der göttlichen Sphäre oder der menschlichen Sphäre oder beiden zu. Schon allein wegen dieser beiden metaphysischen Probleme galt es im Christentum eine Alternative zu Plotins Hypostasenlehre zu entwickeln. Einer der bedeutendsten christlichen Denker, der dies bereits früh tat, war Aurelius Augustinus (354–430). Er knüpft in seiner Trinitätslehre an den Neuplatonismus an 221 und übernimmt einiSiehe dazu Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, München 2004. Siehe dazu Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus. Selbstreflexion und Erkenntnis Gottes in »De Trinitate«, Hamburg 2000 220 221

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Reflexion: Plotins Einfluss auf Augustinus

ge Gedanken aus Plotins Metaphysik, lehnt aber auch einige Gedanken daraus ab. Es sind vor allem drei Thesen, die er abweist. 1. Für Plotin besteht eine Hierarchie zwischen den drei Hypostasen des Einen, des Geistes und der Seele. Die Vielheit nimmt in den drei Hypostasen von oben nach unten zu, sodass dementsprechend die innere Einheit und mit ihr die metaphysische Vollkommenheit abnimmt. Für Augustinus sind hingegen die drei göttlichen Hypostasen oder Personen metaphysisch völlig gleichrangig. In den ersten sieben Büchern von »De Trinitate« argumentiert er hauptsächlich gegen die subordinatianistische arianische Trinitätslehre, derzufolge der Sohn dem Vater, und der Heilige Geist dem Sohn untergeordnet ist. 2. Für Plotin übersteigt das höchste Prinzip des Einen die Sphäre des Seins und des Denkens. Augustinus dagegen bestimmt in Anlehnung an den Gottesnamen in Ex 3,14 (»Ich bin, der ich bin«) Gott »als das Sein selbst, das allem Seienden als wandelloser Grund voraus liegt« 222. Plotin verneint in Bezug auf die höchste Hypostase des Einen ein Sich-selber-Denken und überhaupt einen Selbstbezug, weil ihm zufolge jede Selbstbezüglichkeit neben dem Moment der Identität auch ein Moment der Verschiedenheit und Vielheit und damit einen metaphysischen Mangel enthält. Augustinus hingegen betrachtet Selbstbezüglichkeit nicht als einen ontologischen Mangel oder als eine metaphysische Unvollkommenheit, sondern als eine Wesenseigenschaft Gottes, der das vollkommenste Wesen ist. 3. Für Plotin ist das Eine in absolut jeder Hinsicht absolut einfach. Augustinus hingegen hält zwar das Wesen Gottes für einfach, nicht aber die Gottheit als ganze. Aufgrund der Dreieinigkeit gibt es für ihn in Gott echte Verschiedenheit und so etwas wie Vielheit. Augustinus greift aber auch einige neuplatonische Gedanken auf, die bei Plotin auf der Ebene des Geistes, also der zweiten Hypostase, angesiedelt sind. Es sind dies insbesondere zwei Gedanken.

[= Brachtendorf 2000], 15–55. Nach Brachtendorf hat die historische Forschung gezeigt, dass letztlich auch die »homoousianische«, substanzidentische Umorientierung der neuplatonischen Prinzipien- oder Hypostasenlehre bei Augustinus nicht unvermittelt einsetzt, sondern durch Plotin oder durch Porphyrios und Victorinus vorbereitet wurde (vgl. Brachtendorf 2000, 24). Siehe dazu auch »Platonismus bei Augustinus« in Albert 2008, 71–77. 222 Brachtendorf 2000, 15. Vgl. Aurelius Augustinus: De trinitate (Bücher VIII–XI, XIV–XV, Anhang: Buch V). Neu übersetzt und mit Einleitung herausgegeben von Johann Kreuzer. Lateinisch-deutsch, Hamburg 2001 [= DT], V,2,3, 371.

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Das Schöne und das Eine

1. Plotin stellt beim Nous eine ἓν πολλὰ (hèn pollà)-Struktur, eine Eines-Vieles-Struktur fest. Dabei nimmt er auf Platons Parmenides Bezug, in dem es heißt, das Eine als Seiendes sei Vieles. 223 Die Struktur des Nous als Eines-Vieles bringt Plotin auch durch scheinbar paradoxe Wendungen zum Ausdruck: Der Nous ist einfach und nicht einfach; er ist ununterschieden und unterschieden. 224 Für ihn ist nämlich der Nous »der lebendige, sich selbst reflektierende Ideenkosmos« 225. Das Besondere seiner Eines-Vieles-Struktur besteht darin, dass die vielen einzelnen Teile, nämlich die Ideen, jeweils genauso den Gesamtgeist repräsentieren wie der Geist als ganzer. Das Einzelne stellt zugleich das Ganze dar. Dieses Konzept der Eines-Vieles-Struktur des Geistes nimmt Augustinus auf und bringt es mit der Trinität in Verbindung. Der dreieine Gott zeichnet sich durch eine solche Identität in Verschiedenheit aus und stellt eine solche Einheit in Vielheit dar, dass jede einzelne göttliche Person auch die Trinität als ganze repräsentiert. Während jedoch bei Plotin die Anzahl der Ideen des Geistes »virtuell nicht begrenzt ist« 226, ist bei Augustinus in Gott das Viele auf eine Dreizahl von Gliedern beschränkt. Deshalb sucht Augustinus nach einer Dreiheit von Elementen. 2. Eine solche Dreiheit von Elementen bietet Plotin aber bereits beim Nous an, nämlich den Geist, sein Denken und das Gedachte. 227 Insofern sich der Geist im Denken auf vollkommene Weise selbst erkennt, stellt für Plotin dieser Dreierzusammenhang eine echte Identität in Verschiedenheit dar. In der Dreieinheit von Geist, Denken und Gedachtem findet Augustinus daher »zumindest in formaler Hinsicht eine aus drei Elementen gebildete Struktur vor, in die er die Lehre vom dreifaltigen Gott gleichsam eintragen [kann]« 228. Augustinus siedelt die göttliche Trinität auf der Ebene des plotinischen Nous an und verwendet plotinische Konzepte wie die EinesVieles-Struktur, um die Trinität zu erklären. Zu diesem Zweck nimmt er von Plotin auch das bereits traditionsreiche wichtige Thema der Selbstbezüglichkeit auf, gibt ihm aber eine andere Ausrichtung. Mit Selbstbezüglichkeit ist dabei jede unmittelbare Form von Selbsterfas223 224 225 226 227 228

Wörtlich: »das seiende Eins ist Vieles« (Parm. 144e). Siehe Brachtendorf 2000, 16. Vgl. Brachtendorf 2000, 17 (mit den entsprechenden Stellenangaben). Brachtendorf 2000, 17. Brachtendorf 2000, 19. Vgl. Enn. V 3. Brachtendorf 2000, 19.

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Reflexion: Plotins Einfluss auf Augustinus

sung, Selbstbewusstheit, Selbsterkenntnis oder Selbstreflexion gemeint. Obwohl Platon den Gedanken einer Selbsterkenntnis als einer Erkenntnis von nichts anderem als sich selbst zurückweist 229, beschreibt er in seinem Spätwerk den Ideenkosmos als lebendig und denkend. 230 Dies lässt sich so verstehen: Die Ideen sind sowohl Gegenstand als auch Subjekt des Denkens. Sie sind demnach der Selbstreflexion fähig. Nach Aristoteles ist Gott der notwendig existierende erste unbewegte Beweger und »sich selbst denkendes Denken« 231 (νόησις νοήσεως, nóēsis noē´ seōs). Die göttliche Vernunft (Nous) denkt sich selbst, ihr Denken ist Denken des Denkens. Die endliche Vernunft ist im Unterschied zur göttlichen Vernunft, die reine Aktualität, d. h. reine Wirklichkeit ist, für Aristoteles zunächst reine Möglichkeit, die Ideen oder Formen aufzunehmen und so Wissen zu erwerben. »Durch Aufnahme der Formen nähert sich der endliche Geist gleichsam dem Zustand des unendlichen, sich in seinem Wissen auf vollkommene Weise selbst reflektierenden Geistes an, und wird so seinerseits zur Selbsterfassung fähig. Während aber der ewige, unveränderliche Geist sich schon immer im Zustand der Selbsterfassung befindet, muss der endliche erst zum Denken seiner selbst gelangen.« 232

Plotin führt in seiner Lehre vom Nous die Lehre des Aristoteles vom sich selbst denkenden Denken mit Platons Konzeption von der Selbstreflexion der Ideen zusammen. Der Nous denkt sich in den Ideen als denkender selbst. Unter Nous versteht Plotin dabei nicht den endlichen Geist des einzelnen Menschen, sondern den göttlichen Geist, den er »rein«, »unvermischt« und »absolut« sowie den »ersten« Nous und den Nous »selbst« nennt. 233 Der endliche Geist des Menschen kann zum unmittelbaren Selbstbezug und so zur wahren Selbsterkenntnis nur gelangen, indem er – jedenfalls für einen Augenblick – zum unendlichen, göttlichen Nous oder sogar zum Einen aufsteigt, selbst gleichsam göttlicher Nous wird und so an dessen zeitloser unmittelbarer Selbsterfassung teilhat. Bei dieser Entrückung und vorü-

229 230 231 232 233

Vgl. Soph. 248e. Vgl. Brachtendorf 2000, 24 f. Met. 12,9 (1074b34); vgl. 12,7 (1072b14–19). Brachtendorf 2000, 26. Vgl. Brachtendorf 2000, 27 Anm. 56 (mit den dazugehörigen Stellenangaben).

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Das Schöne und das Eine

bergehenden Umwandlung in den überindividuellen und unendlichen göttlichen Nous hört der Mensch für Plotin kurzzeitig gewissermaßen auf Mensch zu sein und übersteigt sowohl seine Individualität als auch seine Endlichkeit. »Volle Selbsterkenntnis des individuellen, endlichen Geistes ist somit nach Plotin unmöglich. Möglich ist lediglich eine Teilnahme des Menschen am Selbstbezug des unendlichen Nous unter Zurücklassung dessen, was den Menschen zu diesem Menschen, d. h. zum Individuum, und zum Menschen überhaupt, d. h. zu einem endlichen geistbegabten Wesen macht.« 234

Nach Plotin kommt eine unmittelbare Selbstbewusstheit nur dem göttlichen Nous zu. Augustinus hingegen hält auch die mens humana, den menschlichen endlichen Geist für imstande, sich selbst unmittelbar zu erfassen, weshalb er in »De Trinitate« die Selbstbezüglichkeit zunächst am menschlichen Geist feststellt und erörtert. Er überträgt damit den von Plotin her bekannten Gedanken eines unmittelbaren Selbstbezugs vom göttlichen auf den menschlichen Bereich. 235 Plotin zufolge vermag die menschliche Seele nur durch einen Aufstieg zum göttlichen Geist, bei dem vorübergehend der ontologische Unterschied zwischen ihr und dem Göttlichen aufgehoben zu sein scheint, zum unmittelbaren Selbstbezug zu gelangen. Augustinus hingegen hält in »De Trinitate« einen solchen Aufstieg, wie ihn Plotin mehrfach darlegte, und wie er ihn selber bis hin zu den »Confessiones« mehrfach beschrieb, für unmöglich. Die Seele kann auf einem solchen Aufstiegsweg höchstens ein Eines, nicht aber die Dreifaltigkeit erreichen. Sie vermag nicht zu einer unmittelbaren Anschauung des dreieinen Gottes als ihres Ur-Bildes vorzudringen. Bei ihrer Selbstbezüglichkeit bleibt der metaphysische Unterschied zwischen ihr und dem Göttlichen in jeder Hinsicht bestehen. Für Plotin ist die menschliche denkende Seele insofern Bild des unendlichen Nous, als sie die Möglichkeit zu einer gewissen, nämlich dianoetischen, d. h. begrifflich-denkerischen, diskursiven Selbsterkenntnis besitzt. Diese Selbsterkenntnis ist aber niemals unmittelbar. Sie ist nur eine Abschattung der unmittelbaren Selbsterfassung des göttlichen Nous und bleibt sehr unvollkommen. Für Augustinus ist die menschliche Geistseele dagegen insofern Bild Gottes, als sie

234 235

Brachtendorf 2000, 34. Vgl. Brachtendorf 2000, 53.

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Reflexion: Plotins Einfluss auf Augustinus

selbst trinitarisch strukturiert ist. Der menschliche Geist erfährt »sich als ein solcher, der in seinem Kern immer schon ein Selbstverhältnis aufweist, das ebenso eine Drei-in-Eins-Struktur besitzt, wie die göttliche Trinität. Durch dieses Bild hindurch vermag der Mensch die göttliche Dreifaltigkeit zu sehen« 236, wenn auch nicht unmittelbar zu schauen. Augustinus schreibt mithin dem Menschen »über die dianoetische Selbsterkenntnis hinaus noch eine unmittelbare Selbsthabe« 237 zu. Für ihn besteht am Grunde des menschlichen Geistes immer schon ein unmittelbarer Selbstbezug. Während bei Plotin der Aufstieg der Seele zur Selbstbewusstheit durch Teilnahme an der Selbstbezüglichkeit des göttlichen Nous »entindividualisierend und verunendlichend wirkt« 238, findet bei Augustinus die Selbsterfassung der Seele gerade im Bereich des Endlichen statt und wirkt individualisierend. Erst durch den Selbstbezug in seinem Kernbereich vermag der Mensch Augustinus zufolge seine Identität und Individualität zu erlangen. Das unmittelbare Selbstverhältnis ist konstitutiv für das menschliche Subjekt. Für den unendlichen, göttlichen Nous bedeutet Identität »alles nur Wissbare [d. h. alle Ideen] zu wissen, alles Erstrebenswerte zu besitzen und in völliger Ruhe in sich glückselig zu sein. Der menschliche Geist hingegen ist ein endliches Wesen: Identität ist für ihn eine notwendige Bedingung des Wissens und Handelns […].« 239 Seine Identität schließt weder ein, schon alles Wissbare zu wissen, noch ein, schon alle Ziele des Handelns erreicht zu haben. »Hier bedeutet Identität nicht schon Glückseligkeit, sondern ist Voraussetzung des Strebens nach Wissen und Glück.« 240 Augustinus greift also in seinem Werk »De Trinitate« Plotins Konzept der unmittelbaren geistigen Selbstbezüglichkeit auf, nimmt dabei aber zunächst eine Umorientierung vom göttlichen zum menschlichen Geist vor. Freilich blickt er selber bei seiner Trinitätslehre schon auf eine längere christliche Tradition zurück und kann auf lehramtliche Definitionen aufbauen.

236 237 238 239 240

Brachtendorf 2000, 52. Brachtendorf 2000, 53. Brachtendorf 2000, 53. Brachtendorf 2000, 54. Brachtendorf 2000, 55.

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5. Der Dreieine als Urbild des Menschen »De Trinitate« von Aurelius Augustinus

»De Trinitate« (Die Dreieinigkeit) ist das religionsphilosophische Hauptwerk von Augustinus (354–430). 1 »An Argumentationskraft und Bedeutung steht es gleichrangig neben den ›Confessiones‹ und ›De civitate Dei‹« 2 und »darf wohl als das schwierigste und anspruchsvollste Werk Augustins gelten« 3. Es besteht aus fünfzehn Büchern, in denen der Autor von den Glaubensgewissheiten des Alten und Neuen Testaments ausgeht und sie spekulativ zu durchdenken sucht. Motiviert ist das Werk bei Augustinus durch den »Glauben, der nach Einsicht sucht« 4. Zwar wird sich der Glaube, dass Gott dreiAurelius Augustinus: De trinitate (Bücher VIII–XI, XIV–XV, Anhang: Buch V). Neu übersetzt und mit Einleitung herausgegeben von Johann Kreuzer. Lateinisch– deutsch, Hamburg 2001 [= DT]. Augustinus arbeitete an diesem Werk zwanzig Jahre (von 399–419). Zum Stand der gegenwärtigen Forschung siehe Johannes Brachtendorf (Hrsg.): Gott und sein Bild – Augustins De Trinitate im Spiegel gegenwärtiger Forschung, Paderborn 2000; Basil Studer: Augustins De Trinitate. Eine Einführung, Paderborn 2005; Volker Henning Drecoll (Hg.): Augustin Handbuch, Tübingen 2007; Roland Kany: Augustins Trinitätsdenken. Bilanz, Kritik und Weiterführung der modernen Forschung zu »De trinitate«, Tübingen 2007 [= Kany 2007]. 2 DT (Einleitung) VII. In den »Confessiones« (Bekenntnissen sowohl im Sinn von Schuldbekenntnis als auch im Sinn von Glaubensbekenntnis) stellt Augustinus vornehmlich autobiographische Betrachtungen an (in den ersten neun von dreizehn Büchern). In »De civitate Dei« entwickelt er in 22 Büchern die Idee vom Gottesstaat (civitas Dei/caelestis), der zum irdischen Staat (civitas terrena) in einem bleibenden Gegensatz steht. 3 Johannes Brachtendorf: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus. Selbstreflexion und Erkenntnis Gottes in »De Trinitate«, Hamburg 2000 [= Brachtendorf 2000], 1. 4 DT XV,2,2, 250 (Die römische Ziffer (XV) gibt das Buch an, dann folgt die Angabe des Abschnitts (2,2) und schließlich die Seitenzahl (250)). Wörtlich schreibt Augustinus hier: »fides quaerit, intellectus invenit« (Der Glaube sucht, die Einsicht findet). Dazu schreibt Kreuzer: »Das ist eine der zentralen Formeln für die Art philosophischer Rationalität, die Augustinus nicht zuletzt mit ›De trinitate‹ begründet hat. Anselm v. Canterbury etwa wird sie wie ein Leitmotiv seinem ›Proslogion‹ voranstellen« (DT (Anmerkungen des Herausgebers) Anmerkung 85, 408). 1

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faltig ist, »erst nach diesem Leben […], wenn wir schauen von Angesicht zu Angesicht« 5, in sichere Erkenntnis (certa cognitio) verwandeln. Dennoch ist der sichere Glaube selbst »irgendwie ein Anfang des Erkennens« 6 und verlangt bereits jetzt nach Einsicht (intellegere). 7 Augustinus verfolgt mit seiner Schrift das Projekt einer Glaubenseinsicht (intellectus fidei) oder einer Glaubenserkenntnis.

5.1 Die Ontologie der Trinität Als Ausgangspunkt dient Augustinus das Symbolon (Bekenntnis) des ersten Konzils von Nizäa (325). 8 Er will Rechenschaft darüber geben, dass die »Dreieinheit der eine und einzige und wahre Gott ist, und dass man zurecht sagt, glaubt und einsieht, dass Vater und Sohn und Heiliger Geist von einer Substanz und eines Wesens sind« 9. Dazu liefert er zunächst einmal in den Büchern I–IV mithilfe vieler einschlägiger Stellen eine biblische Begründung des Trinitätsdogmas. In den Büchern V–VII sucht er dann mithilfe platonischer und aristotelischer Konzepte das Dogma denkerisch zu durchdringen. Schon in Buch I hatte er die traditionelle dogmatische Interpretation der Aussagen der heiligen Schrift über die göttliche Trinität zusammengefasst: »Alle mir erreichbaren katholischen Erklärer der heiligen Schriften des Alten und des Neuen Testaments, welche vor mir über die Dreieinigkeit, welche Gott ist, schrieben, wollen gemäß der Schrift lehren, dass Vater, Sohn und Heiliger Geist, von einer und derselben Substanz, durch ihre untrennbare Gleichheit die göttliche Einheit bezeugen und dass sie daher nicht drei Götter sind, sondern ein Gott, wenngleich der Vater den Sohn zeugte und daher der Sohn nicht der gleiche ist wie der Vater, wenngleich ferner der Sohn vom Vater gezeugt ist und daher der Vater nicht der gleiche ist wie der Sohn, wenngleich endlich der Heilige Geist weder Vater noch Sohn ist, sondern nur des Vaters und Sohnes Geist, auch seinerseits dem Vater und Sohne gleich und zur Einheit der Dreieinigkeit gehörend.« 10

DT IX,1,1, 47 f. DT IX,1,1, 47 f. 7 Brachtendorf 2000, 118. 8 Siehe zu diesem Abschnitt Brachtendorf 2000, 56–78. 9 DT I,2,4; zitiert nach DT (Einleitung) XXXII. 10 DT I,4,7; zitiert nach Brachtendorf 2000, 56. Vgl. auch DT IX,1,1, 49. 5 6

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An dieser Zusammenfassung lassen sich bereits die drei Prinzipien der Trinitätsontologie von Augustinus ablesen: a) die Gleichheit der Personen, b) ihre Substanzeinheit und c) ihre Verschiedenheit voneinander. 11 Wohl weil die traditionelle Trinitätsformel der lateinischen Kirche lautete: una essentia vel substantia – tres personae (ein Wesen oder eine Substanz – drei Personen) ist für Augustinus Gott unwandelbare essentia und substantia. Diese beiden Begriffe dienen als Äquivalente des griechischen Begriffs ousia (Wesen). 12 Was die Substanz betrifft hebt Augustinus freilich die Akzidenzlosigkeit Gottes hervor. Gott ist nicht wie endliche Individuen aus einer Substanz als Träger von Eigenschaften und aus Akzidentien als Eigenschaften zusammengesetzt. 13 Denn dann wäre er wandelbar, weil sich die Eigenschaften ändern könnten. Vielmehr stellt er ausschließlich eine unveränderliche Substanz dar. Insgesamt hält Augustinus in Bezug auf Gott den Begriff der essentia für angemessener als den Begriff der substantia, weil ersterer die Unwandelbarkeit und Einfachheit am besten zum Ausdruck bringt und auch die Unzerstörbarkeit deutlich einschließt. Gott ist demnach Wesen, aber auch Substanz. Aus der Akzidenzlosigkeit Gottes ergibt sich für Augustinus das Siehe dazu auch DT VIII,1–1,2, 2–7. Vgl. DT V,2,3; vgl. Brachtendorf 2000, 57–61, hier 58. 13 Nach der Kategorienlehre des Aristoteles (Kat. 4, 1b 25; vgl. Top. I 9 (103b 20)) gibt es zehn Kategorien (d. h. Aussageweisen und Seinsweisen): 1. Substanz (ousia; z. B. ein Mensch, ein Pferd); 2. Quantität (poson; z. B. ein zwei, ein drei Ellen Langes); 3. Qualität (poion; z. B. ein Weißes, ein der Grammatik Kundiges); 4. Relation (pros ti; z. B. ein Doppeltes, Halbes, Größeres); 5. Wo (pou; z. B. auf dem Markt, im Lyzeum); 6. Wann (pote; z. B. gestern, voriges Jahr); 7. Lage (keisthai; z. B. er liegt, sitzt); 8. Haben (echein; z. B. er ist beschuht, bewaffnet); 9. Wirken (poiein; z. B. er schneidet, brennt); 10. Leiden (paschein; z. B. er wird geschnitten, gebrannt). Dabei stellt Aristoteles die erste Kategorie der Substanz den übrigen Kategorien als den Akzidentien (d. h. nichtsubstantialen Prädikaten) gegenüber (z. B. in Analyt. post. I 22, 83a 25). Die Substanz ist Träger weiterer Bestimmungen, ohne selbst Bestimmung eines anderen Trägers zu sein. Sie existiert an sich und für sich, d. h. selbständig, während die Akzidentien nur an oder mit einer Substanz existieren. So kann beispielsweise Sokrates ohne seinen Bart existieren, aber der Bart nicht ohne Sokrates. Und deshalb kann etwa eine Person, die sich im Laufe der Zeit akzidentell verändert, dennoch substantiell dieselbe Person bleiben. Sokrates kann Sokrates bleiben, auch wenn er seinen Bart abnimmt. Innerhalb der ersten Kategorie unterscheidet Aristoteles dann nochmals zwischen erster und zweiter Substanz (vgl. Kat. 5, 2a 25). Unter erster Substanz versteht er dabei das mit sich selbst identische Einzelne (das Individuum), also z. B. Sokrates (als ein bestimmter Mensch), unter zweiter Substanz die Art des Individuums (das Gemeinsame, das Allgemeine), also z. B. Mensch (als Art). 11 12

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Gleichheitsprinzip, demzufolge es keine Rangunterschiede innerhalb der Trinität gibt. 14 Der Vater ist nicht größer als der Sohn und dieser nicht größer als der Heilige Geist. Innerhalb der Trinität gibt es keine Größenunterschiede, weil die einzelne göttliche Person ebenso die Größe selbst ist wie die gesamte Trinität. Der Grund der Gleichheit der Personen liegt »in der Unwandelbarkeit sowohl der Trinität als Ganzer als auch der einzelnen Personen, denn diese besagt, dass Gottes Eigenschaften nicht aus Teilnahme resultieren, sondern Ausdruck seines Wesens sind« 15, mithin »Wesenseigenschaften« sind, und nicht gewöhnliche veränderliche Eigenschaften. Letztlich folgt das Gleichheitsaxiom aber aus der Einfachheit Gottes, die jegliche Zusammensetzung etwa von Substanz und Akzidentien, von Akt (Wirklichkeit) und Potenz (Möglichkeit), von Form und Materie, von Dasein und Wesen, von Teil und Ganzem und von verschiedenen Eigenschaften ausschließt. Die Dreieinigkeit Gottes ist nur ein Wesen und eine Substanz. Das Gleichheitsprinzip schließt auch eine Addierbarkeit innerhalb der Trinität aus: »Zwei Personen zusammen sind nicht mehr als eine allein und jede Person für sich ist ebenso groß wie die gesamte Trinität.« 16 Da sich die drei göttlichen Personen nicht addieren lassen, wird das Wesen Gottes durch jede einzelne Person vollständig repräsentiert. »Vater, Sohn und Geist sind je für sich Gott, aber sie sind nicht drei verschiedene Götter und auch nicht drei gleiche Götter, sondern nur der eine Gott.« 17 Mit der ontologischen Unterscheidung von Substanz und Akzidens, wie Aristoteles sie vornahm, geht nach Augustinus eine Unterscheidung von zwei Aussagetypen einher. 18 Aussagen über einen Gegenstand können entweder secundum substantiam, gemäß der Substanz, oder secundum accidens, gemäß dem Akzidens, gemacht werden. »Wird von einem Gegenstand sein Wesen oder zumindest eine wesentliche Eigenschaft prädiziert, dann handelt es sich um eine Aussage ›secundum substantiam‹ oder wie Augustin auch sagt: um eine Aussage ›ad se‹. Betrifft Vgl. Brachtendorf 2000, 61–63, hier 61. Brachtendorf 2000, 63. 16 Brachtendorf 2000, 61. Die Dreieinheit Gottes darf deshalb mathematisch keinesfalls als »1 plus 1 plus 1«, sondern bestenfalls als »1 mal 1 mal 1« verstanden werden, obwohl auch hier die Verschiedenheit der Personen nicht ausgedrückt ist. 17 Brachtendorf 2000, 63. 18 Vgl. Brachtendorf 2000, 63. 14 15

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die Prädikation eine veränderliche Eigenschaft, dann gilt sie als ›secundum accidens‹ gemacht.« 19

Es ist somit zwischen Wesensaussagen und Eigenschaftsaussagen zu unterscheiden. In der aristotelischen Kategorienlehre zählt die Relation, d. h. die Beziehung eines Gegenstandes zu einem anderen, zu den veränderlichen Akzidentien. Wird von einem Gegenstand seine Relation zu einem anderen Gegenstand ausgesagt, nennt das Augustinus eine Aussage ad aliquid relative oder kurz ad aliquid, eine Aussage »(relativ) zu etwas«. 20 Bei einer relativen Aussage muss aber dasjenige, worauf sich der Gegenstand bezieht und zu dem er von daher relativ ist, nicht eigens angeführt werden. Es genügt beispielsweise vom Sklaven zu sprechen, ohne eigens den Herrn zu erwähnen. Die Unterscheidung zwischen selbstbezogenen wesentlichen Aussagen (ad se) und Aussagen relativ zu anderem (ad aliquid relative) bzw. zwischen Wesensaussagen (secundum substantiam) und Relationsaussagen (secundum relationem) wird nunmehr für die Trinitätssontologie des Augustinus äußerst bedeutsam. Es werden nämlich »von den göttlichen Personen Relationsaussagen gemacht, wie etwa von der ersten Person das Vatersein, von der zweiten das Sohnsein, Wortsein, Bildsein, Gezeugtsein, und von der dritten das Geschenktsein« 21. Versteht man wie Augustinus unter Akzidens eine Bestimmung, die sich ändern oder verloren werden kann 22, dann können diese Relationssaussagen aber keine akzidentellen Aussagen oder Eigenschaftsaussagen sein. Denn die Trinität mit ihren inneren Relationen zwischen den Personen besteht ewig und ist unveränderlich. Diese Aussagen können nach Augustinus aber auch keine Wesensaussagen sein, weil sich die drei göttlichen Personen im Wesen nicht unterscheiden. Es muss sich demzufolge um echte Relationsaussagen handeln, die die unwandelbaren, wesentlichen Relationen zwischen den Personen zum Ausdruck bringen. Mit der Annahme solcher Relationen wertet Augustinus gegenüber Aristoteles die Kategorie der Relation metaphysisch stark auf. Nach Augustinus können wir mithin keine Eigenschaftsaussagen über Gott machen, sondern nur entweder Wesensaussagen, 19 20 21 22

Brachtendorf 2000, 63. Vgl. Brachtendorf 2000, 64. Brachtendorf 2000, 64. Vgl. DT V,4,5; V,5,6.

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Liebender (amans), Geliebter (quod amatur) und Liebe (amor)

die die essentia Gottes betreffen, oder echte Relationsaussagen, die das Verhältnis der göttlichen Personen zueinander betreffen. Da die drei göttlichen Personen dasselbe Wesen (essentia) sind, sind die Relationen zueinander das einzige, worin sie sich unterscheiden können und tatsächlich unterscheiden. »So sind es einzig die Relationsaussagen, die überhaupt die Unterscheidung dreier Personen in der Trinität ermöglichen […].« 23 Das bedeutet aber nicht, dass wir über die einzelnen Personen nur Relationsaussagen machen dürften. Vielmehr können wir z. B. über den Vater durchaus auch Wesensaussagen machen wie: »Der Vater ist groß«, »Der Vater ist die Weisheit«, »Der Vater ist Gott«. Alle Wesensaussagen über eine bestimmte Person sind jedoch austauschbar. Das Großsein, die Weisheit und das Gottsein kann ebenso vom Sohn und vom Heiligen Geist ausgesagt werden. Gerade darin zeigt sich, dass alle drei Personen nur ein Wesen sind. 24 Vater, Sohn und Geist ist das göttliche Wesen gemeinsam. Das macht aber dieses Wesen nicht zu einem Allgemeinen, das von mehren Individuen ausgesagt werden könnte. Das göttliche Wesen ist kein Allgemeines, sondern der eine und einzige Gott. Alle drei Personen sind ganz Gott, sodass wiederum gilt: drei ist nicht mehr als eins. 25 Ihre »Individualität« haben sie nicht infolge irgendwelcher Eigenschaftsunterschiede oder gar Wesensunterschiede, sondern einzig und allein infolge ihrer unterschiedlichen Relationen zueinander.

5.2 Liebender (amans), Geliebter (quod amatur) und Liebe (amor) In Buch VIII vertritt Augustinus die These, dass der endliche Verstand des Menschen in diesem Leben nicht in der Lage ist, die Dreifaltigkeit Gottes zu schauen. 26 Dazu unternimmt Augustinus vier Versuche, die Seele auf dem Weg neuplatonischer Ideenschau zur direkten Einsicht in die göttliche Dreieinigkeit zu führen. »Der erste Versuch ist orientiert am Begriff der Wahrheit, der zweite am Begriff des Guten, der dritte basiert auf der Idee der Gerechtigkeit und im 23 24 25 26

Brachtendorf 2000, 66. Vgl. DT V,8,9. Vgl. Brachtendorf 2000, 78. Siehe zu diesem Abschnitt Brachtendorf 2000, 79–117.

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Mittelpunkt des vierten steht die Liebe.« 27 Die ersten drei Versuche müssen scheitern, da die Begriffe »Wahrheit« (veritas), höchstes »Gut« (bonum) und »Gerechtigkeit« (iustitia) Wesenseigenschaften Gottes repräsentieren. »Diese Begriffe werden daher gleichermaßen von Vater, Sohn, Geist und Trinität ausgesagt« 28 und erlauben somit weder die Erkenntnis einer einzelnen Person noch die Anschauung einer Dreiheit. Wer die Wahrheit, die Gutheit oder die Gerechtigkeit zu schauen vermag, der sieht eben jeweils nur die Wahrheit, die Gutheit oder die Gerechtigkeit, die Gott ist – sonst nichts. So wendet sich Augustinus auf der Suche nach der Dreieinheit und der Erkenntnis Gottes schließlich der Liebe (dilectio) zu. 29 Die wahre Liebe besteht für ihn darin, »dass wir, der Wahrheit anhangend, gerecht leben« 30. Um wahrhaft zu lieben, müssen wir Menschen nach der Gerechtigkeit leben, die in ihrer unwandelbaren Gestalt Gott selber ist. 31 Laut Augustinus verlegt der Apostel Johannes im ersten Johannesbrief die vollkommene Gerechtigkeit in die Bruderliebe. 32 Die vollkommene Gerechtigkeit wie auch die Liebe überhaupt besteht demnach darin, den Bruder bzw. den Nächsten zu lieben. Wer aber den Bruder liebt, der liebt Augustinus zufolge die Liebe selbst. Denn niemand kann wahrhaft den Bruder lieben, ohne die Liebe selbst zu lieben. 33 Gott aber ist die Liebe, wie es im ersten Johannesbrief (1 Joh 4,8.16) heißt. Wer also durch seine Bruderliebe die Liebe selbst liebt, der liebt Gott, wobei er den Bruder mit seinen körperlichen Augen sieht, Gott hingegen mit seinem inneren geistigen Auge 34. Damit bestätigt sich die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, wie sie im christlichen Doppelgebot der Liebe 35 zum Ausdruck kommt und im ersten Johannesbrief dargelegt wird. Bei der Bruderliebe kennt der Liebende nach Augustinus die Liebe, durch die er liebt, sogar in größerem Maße als den Bruder, den er Brachtendorf 2000, 79. Vgl. Brachtendorf 2000, 79. 29 Vgl. DT VIII,7,10, 33. 30 DT VIII,7,10, 33. 31 Vgl. DT VIII,9,13, 43. 32 Vgl. DT VIII,8,12, 39. Siehe dazu insbesondere 1 Joh 2,7–11; 3,11–18; 4,7–16. So ist im ersten Johannesbrief etwa zu lesen: »Liebe Brüder, wir wollen einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott und jeder, der liebt,stammt von Gott und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe« (1 Joh 4,7 f.). 33 Vgl. DT VIII,8,12, 37 f. 34 Vgl. DT VIII,8,12, 41. 35 Mk 12,29–31 par. 27 28

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Liebender (amans), Geliebter (quod amatur) und Liebe (amor)

liebt. 36 Denn da Gott die Liebe ist und, wie Augustinus sagt, dem Menschen »innerlicher« 37 ist als sein Inneres, ist ihm die Liebe, die Gott ist, »bekannter«, »gegenwärtiger«, »innerlicher« und »sicherer« als der Bruder. 38 Dennoch ist, so wendet Augustinus ein, in der Liebe als solcher noch keine Dreiheit zu sehen. 39 Das widerruft Augustinus jedoch sogleich, indem er einräumt: »Doch du siehst in der Tat eine Dreieinheit, wenn du die Liebe siehst.« 40 Denn da die Liebe nur die Liebe eines Liebenden ist und durch die Liebe etwas geliebt wird, sind da tatsächlich drei: der Liebende (amans) und das Geliebte (quod amatur) und die Liebe (amor). 41 Weil mit der Liebe zum Bruder zwar schon ein wirkliches Bild von der Dreieinigkeit Gottes gefunden ist, aber, wie sich herausstellen wird, die Liebe im Allgemeinen nur ein unvollständiges Bild ist, fügt Augustinus hinzu, dass das Gesuchte noch nicht gefunden ist. Aber immerhin ist bereits der »Ort« gefunden, wo man suchen kann. Als dieser »Ort« wird sich der menschliche Geist erweisen. So führt keiner der vier Versuche zu einer neuplatonisch verstandenen direkten Anschauung der Trinität. Ein Aufstieg zur unmittelbaren Schau der Dreieinigkeit Gottes in diesem Leben würde denn auch eine Vorwegnahme der jenseitigen Schau Gottes bedeuten. Doch auch wenn Gott als dreifaltiger in diesem Leben nicht geschaut werden kann, setzt der Glaube an die Dreifaltigkeit bereits in diesem Leben ein implizites Wissen um die Bedeutung der Begriffe »Gott« und »Dreifaltigkeit« voraus. 42 Dieses Vorwissen »gehört gleichsam zur intellektuellen Grundausstattung des Menschen« 43. Es ist insofern implizit, als es ein Mitverstehen ist, das normalerweise nicht Gegenstand unserer Aufmerksamkeit ist. Beim impliziten »natürlichen« Vorverständnis der Trinität handelt es sich inhaltlich jedoch nicht um ein Wissen, dass Gott dreifaltig ist. »Ein solches Wissen wird sich erst durch die beseligende Schau Gottes im zukünftigen Leben einstellen. Vorläufig lässt sich nur glauben, dass Gott 36 37 38 39 40 41 42 43

Vgl. DT VIII,8,12, 37. DT VIII,7,11, 35. DT VIII,8,12, 37. Vgl. DT VIII,8,12, 39. DT VIII,8,12, 39. DT VIII,10,14, 45. Vgl. Brachtendorf 2000, 110. Brachtendorf 2000, 114. Vgl. dazu Kap. 13.1.

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dreifaltig ist. Dieser Glaube stützt sich auf die heilige Schrift und ihre gedankliche Durchdringung […]. Doch an die Dreifaltigkeit Gottes kann nur geglaubt werden, wenn gewusst wird, was eine Dreifaltigkeit ist.« 44

Das implizite Vorwissen hat nicht das »dass«, sondern das »was«, d. h. das Wesen oder die Struktur der Trinität zum Inhalt. Doch wie kann der Mensch ein solches implizites Trinitätsverständnis besitzen?

5.3 Geist (mens), Liebe (amor) und Kenntnis (notitia) In Buch IX von »De Trinitate« erklärt Augustinus nach einer Einleitung (1,1) zunächst einmal, warum die Liebe nur ein undeutliches und unvollständiges Bild von der Dreieinigkeit Gottes ist. 45 Das Bild ist unvollständig, weil es neben der Liebe zum Nächsten, bei der eine Dreiheit von Liebendem, Geliebtem und Liebe vorhanden ist, auch eine Liebe zu sich selbst gibt, bei der nur eine Zweiheit von Liebendem und Liebe sichtbar wird. Denn wenn jemand sich selbst liebt, sind der Liebende und das Geliebte ein und dasselbe, weshalb sich bei dieser Form der Liebe nur zwei einsehen lassen: eben die Liebe und der Liebende, mit dem das Geliebte identisch ist. Bei der Selbstliebe ist es für Augustinus der menschliche Geist (mens), der sich als Haupt des Menschen (principale hominis) selbst liebt. 46 Deshalb will Augustinus nun den menschlichen Geist daraufhin untersuchen, ob bei ihm vielleicht das gesuchte Bild der Dreieinigkeit Gottes zu finden ist. 47 Um sich selbst zu lieben, muss sich der menschliche Geist selbst kennen, und zwar nicht indirekt über anderes, sondern direkt durch sich selbst. 48

Brachtendorf 2000, 115. Vgl. DT IX,2,2, 51. 46 Vgl. DT IX,2,2, 53. Vgl. auch die Anmerkungen 11 und 13 (DT 398 f.). Kreuzer weist darauf hin, dass die mens nicht nur »Geist«, sondern mehr noch »Gemüt« bedeutet und dass der Ausdruck spiritus, den Augustinus hier auch für den menschlichen Geist verwendet, als um sich selbst wissender Geist zu verstehen ist. 47 Zur Struktur des menschlichen Geistes und seinem Verhältnis zu Gott siehe Marko J. Fuchs: Sum und cogito – Grundfiguren endlichen Selbstseins bei Augustinus und Descartes, Paderborn 2010, 91–183; Karsten Junk: Der menschliche Geist und sein Gottesverhältnis bei Augustinus und Meister Eckhart, Paderborn 2016, 15–189. 48 Vgl. DT IX,3,3, 53 f. 44 45

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Geist (mens), Liebe (amor) und Kenntnis (notitia)

»Wie aber zwei sind der Geist und seine Liebe, wenn er sich liebt, so sind zwei der Geist und seine Kenntnis, wenn er sich kennt. Also sind der Geist und seine Liebe und seine Kenntnis eine Art Dreiheit, und diese drei sind eins, und wenn sie vollkommen sind, sind sie gleich.« 49

Dabei ist die Liebe eines Menschen dann vollkommen, wenn er sich nicht weniger oder mehr liebt, als er ist, sondern sich selbst ganz so liebt, wie er ist. Dasselbe gilt von der Selbstkenntnis, die dann vollkommen ist, wenn man sich ohne Selbstunterschätzung oder Selbstüberschätzung ganz so kennt, wie man ist. Folglich sind drei in der Seele (anima) vorhanden: der Geist (mens), die Liebe zu sich selbst (amor sui) und die Kenntnis seiner selbst (notitia sui). Die Liebe und die Erkenntnis (cognitio) im Geist sind einerseits »in Bezug aufeinander beziehentlich«, andererseits haben sie »ein Sein nach Weise der Substanz [oder des Wesens] wie der Geist selbst«. 50 Insofern sind sie in sich je eine einzelne Substanz (singula substantia). Die drei einzelnen Substanzen des Geistes, der Liebe und der Kenntnis sind weder Teile der Seele, noch sind sie ineinander gemischt. 51 Sie sind keine Teile, weil jede einzelne Substanz jeweils das Ganze umfasst. So umfasst etwa die Kenntnis des Geistes, wenn er sich vollkommen erkennt, sein Ganzes, und betrifft seine Liebe, wenn er sich vollkommen liebt, sein Ganzes. Auch sind die drei nicht miteinander vermischt, weil sie je auch in bzw. für sich sind und so voneinander verschieden bleiben, »wenngleich die Einzelnen in sich selbst und wechselseitig ganz in jedem anderen als Ganzem sind«, »[so]dass der liebende Geist in der Liebe ist und die Liebe in der Kenntnis des liebenden Geistes und die Kenntnis im erkennenden Geist«. 52 Jedes ist als Einzelnes und damit von den anderen Verschiedenes ganz in jedem Ganzen. »Denn der Geist liebt sich ganz und kennt sich ganz und kennt seine Liebe ganz und liebt seine Kenntnis ganz, sofern diese drei bezogen auf sich selbst vollkommen sind. Auf wunderbare Weise sind also diese drei untrennbar voneinander, und doch ist jedes von ihnen Substanz, und zusammen sind sie

DT IX,4,4, 55. DT IX,4,5, 57. 51 Vgl. DT IX,4,7, 59 f. Das Thema der vollständigen Mischung war für die stoische Physik bedeutsam (vgl. Brachtendorf 2000, 139–141 einschließlich Anmerkung 58). 52 DT IX,5,8, 63. 49 50

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alle eine Substanz oder ein Wesen, während sie gleichzeitig in bezug aufeinander beziehentlich heißen.« 53

Der menschliche Geist weist demzufolge die gleichen Strukturmerkmale wie die göttliche Trinität auf, nämlich 1. Gleichheit der einzelnen Glieder; 2. Substantialität, d. h. Eigenständigkeit jedes einzelnen Gliedes bei substantieller Einheit des Gesamtwesens; und 3. radikale Bezogenheit der Glieder aufeinander (Relationalität) und somit relationale Verschiedenheit. 54 Nachdem Augustinus im ersten Hauptteil des IX. Buches (2,2– 5,8) die trinitarischen Strukturmerkmale des menschlichen Geistes herausgearbeitet hat, beschreibt er im zweiten Hauptteil des Buches (6,9–12,18) die genetischen Verhältnisse zwischen den drei Elementen der Struktur. 55 Da die Kenntnis seiner selbst nur durch eine Selbstreflexion des Geistes entsteht, erweist sie sich Augustinus zufolge als Sprössling (proles) des Geistes, so wie in der göttlichen Trinität der Sohn Sprössling (proles) des Vaters ist. Auch setzt Augustinus die Kenntnis mit dem Wort gleich. Die Kenntnis (notitia) ist Wort (verbum) und Bild (imago) des Geistes, so wie in der göttlichen Trinität der Sohn Wort und Bild des Vaters ist. Daraus ergibt sich, wie Augustinus abschließend im IX. Buch festhält, ein genaueres Bild der Dreieinheit: »der Geist selbst, seine Kenntnis, die sein Sprössling und sein Wort von ihm selbst ist, und die Liebe als Drittes, und diese drei sind eins und eine Substanz. Der Sprössling ist nicht geringer, wenn nur der Geist sich so kennt, wie er ist, und die Liebe ist nicht geringer, wenn er sich nur so liebt, wie er sich kennt und wie er ist.« 56

5.4 Erinnerung (memoria), Einsicht (intelligentia) und Wille (voluntas) Im X. Buch von »De Trinitate« legt Augustinus als erstes die allgemeine These dar, dass niemand etwas schlechthin Unbekanntes lie-

DT IX,5,8, 63 f. Vgl. Brachtendorf 2000, 119, 127. 55 Mit Brachtendorf lässt sich das IX. Buch in eine Einleitung (1,1) und diese beiden Hauptteile untergliedern. Vgl. Brachtendorf 2000, 118 f. 56 DT IX,12,18, 83 f. 53 54

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Erinnerung (memoria), Einsicht (intelligentia) und Wille (voluntas)

ben kann. 57 »Was einer nämlich ganz und gar nicht kennt, kann er in keiner Weise lieben.« 58 Wer etwas Unbekanntes zu wissen bemüht ist, muss zumindest ein gewisses Wissen von dem Unbekannten haben, das er wissen will, und dieses Wissen lieben. Das trifft auch auf den menschlichen Geist zu. Wenn sich der Geist das Gebot des Orakels von Delphi: »Erkenne dich selbst« 59, zu Herzen nimmt und sich inbrünstig sucht, um sich als Unbekannten kennenzulernen, muss er schon irgendwie von sich selbst wissen und sich lieben. 60 Er muss sich wenigstens als Suchenden kennen. »Denn, wenn er sich sucht, um sich zu kennen, dann kennt er sich schon als Suchenden. Also kennt er sich schon. […] Eben dadurch also, dass er sich sucht, wird dargetan, dass er sich mehr bekannt als unbekannt ist.« 61 Weiß der Geist etwas von sich, dann weiß er nicht nur teilweise, sondern als ganzer von sich. »Wenn nämlich von ihm selbst die Rede ist, dann ist von ihm als ganzem die Rede« 62, da er nicht wie die Körper aus Teilen zusammengesetzt ist. »Also weiß er sich ganz.« 63 Er weiß als ganzer, dass er lebt. Und er weiß als ganzer, dass er selbst Geist ist. Sucht er sich selbst, so sucht er sich als ganzer. »Also«, so schließt Augustinus, »ist er sich als ganzer gegenwärtig, und es gibt weiter nichts zu suchen […].« 64 Mit diesen Überlegungen kommt Augustinus somit zu dem überraschenden Schluss, dass sich der Geist selbst gar nicht sucht: »Weil […] weder der Geist als ganzer sich sucht noch irgendein Teil von ihm sich sucht, sucht sich der Geist überhaupt nicht.« 65 Wird der Geist aufgefordert, sich selbst zu erkennen, so kann das deshalb nur bedeuten, dass er in sein Inneres einkehrt und zum ursprünglichen Denken seiner selbst zurückkehrt. 66 Dazu muss er auf Vgl. DT X,1,1–2,4. DT X,1,1, 89. 59 Γνῶθι σεαυτόν (gnō´ thi seautón = Erkenne dich selbst!) lautete die vielzitierte Inschrift am Apollotempel von Delphi. Als nosce te ipsum wurde die Anweisung ins Lateinische übernommen. 60 Vgl. DT X,3,5, 99 f. 61 DT X,3,5, 101. 62 DT X,4,6, 103. 63 DT X,3,6, 103. 64 DT X,4,6, 105. 65 DT X,4,6, 105. 66 Vgl. DT X,5,7, 105 f. Vgl. auch die Anmerkung 31 (DT 401). Dort schreibt Kreuzer: »Zu diesem Motiv des ›redire‹ [Zurückkehrens] (der neuplatonischen epistrophé) vgl. 57 58

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dem Weg nach innen zunächst einmal all die vielen Bilder, die er von den Körpern draußen hat und die in seinem Inneren sind, hinter sich lassen und tiefer in sich hinabsteigen bzw. höher zu sich selbst aufsteigen. Er selbst »ist nämlich innerlicher nicht nur als das Sinnliche, das offenkundig draußen ist, sondern auch als dessen Bilder« 67. »Der Geist erkenne sich also selbst und suche sich nicht wie einen Abwesenden, sondern richte die Aufmerksamkeit seines Willens, die über andere Dinge hinschweifte, auf sich selbst und denke sich selbst. So wird er sehen, dass er niemals sich nicht liebte, niemals sich nicht kannte.« 68 Wird dem Geist geboten: »Erkenne dich selbst«, so erkennt er sich in dem Augenblick, in dem er das Wort »dich selbst« versteht, »und er erkennt sich aus keinem anderen Grund als deshalb, weil er sich gegenwärtig ist«. 69 Er weiß mit Sicherheit, »dass er es ist, dem dieses Gebot gilt, er, der ist, lebt und einsieht« 70. Alle Menschen sind sich dessen bewusst, einzusehen (intellegere), zu sein (esse) und zu leben (vivere). 71 Alle wissen auch, »dass niemand Einsicht hat, der nicht lebt, und dass niemand lebt, der nicht ist. Jeder weiß also, dass, was Einsicht hat, ist und lebt […].« 72 Ein solches existiert aber nicht wie der Leichnam und nicht wie die Seele eines Tieres, sondern auf eigene, nämlich geistige Weise. »Ebenso wissen alle, dass sie wollen, und in gleicher Weise wissen sie, dass dies niemand kann, der nicht ist und nicht lebt […]. Auch erinnert zu haben wissen alle, und zugleich wissen sie, dass niemand sich erinnern könnte, wäre und lebte er nicht […].« 73 Nach Augustinus kristallisieren sich demnach beim menschlichen Geist drei Grundvollzüge heraus: die Erinnerung (memoria), die Einsicht (intelligentia) und der Wille (voluntas). Dabei ist der den berühmten, auf Plotin zurückgehenden Satz in ›De vera religione‹ : ›Noli foras ire, in te ipsum redi‹ (De vera rel. 39,72; vgl. Plotin, Enn. I,6,9,7 ff.).« 67 DT X,8,11, 113. 68 DT X,8,11, 113. 69 DT X,9,12, 115. 70 DT X,9,13, 115. Der bekannte augustinische Ternar von Sein (esse) – Leben (vivere) – Einsehen (intellegere), den Augustinus hier nebenbei erwähnt, geht auf Marius Victorinus zurück, der die Triade des Porphyrios von »Sein – Leben – Denken« mit dem trinitarischen Schema von »Vater – Sohn – Geist« verband. Vgl DT X,9,13, 115 Anmerkung 33 (DT 401). 71 Vgl. DT X,10,13, 117. 72 DT X,10,13, 117. 73 DT X,10,13, 117.

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Erinnerung (memoria), Einsicht (intelligentia) und Wille (voluntas)

Wille aber anders strukturiert als die Erinnerung und die Einsicht. »In zweien von diesen dreien […], in der Erinnerung und in der Einsicht, ist die Kenntnis und das Wissen vieler Dinge enthalten; der Wille aber ist da, auf dass wir durch ihn diese Dinge genießen oder gebrauchen.« 74 Des Weiteren lässt sich Augustinus zufolge an der Existenz des Geistes nicht zweifeln. Denn der Zweifel setzt selbst geistige Vollzüge voraus. »Wer möchte jedoch zweifeln, dass er lebe, sich erinnere, einsehe, wolle, denke, wisse und urteile? Auch wenn man nämlich zweifelt, lebt man; […] erinnert man sich, woran man zweifelt; […] sieht man ein, dass man zweifelt; […] will man Gewissheit haben; […] denkt man; […] weiß man, dass man nicht weiß; […] urteilt man, dass man nicht voreilig seine Zustimmung geben dürfe.« 75

An der eigenen geistigen Existenz lässt sich nicht zweifeln. Wenn ich zweifle, bin ich. 76 Wenn der menschliche Geist bei der Suche nach Selbsterkenntnis alles weglässt, was zu sein er sich mithilfe seiner Einbildungskraft vorstellen kann, etwa dass er Feuer, Luft, ein Körper, ein Teil von etwas, ein Eigenschaftsträger, das Gefüge oder das Ordnungsmaß des Körpers sei, bleibt er allein als er selbst zurück »in einer Art innerer, nicht eingebildeter, sondern wahrhafter Gegenwart« 77. Denn nichts ist ihm gegenwärtiger als er sich selbst. 78 Indem er denkt, dass er lebt, sich erinnert, einsieht und will, ist er sich selbst gegenwärtig, ohne sich dies alles durch seine Einbildungskraft vorzustellen. »Wenn wir also«, so folgert Augustinus, »das übrige, dessen der Geist in bezug auf sich sicher ist, ein wenig wegdenken, dann haben wir für unsere Überlegung vorzüglich diese drei zu behandeln: Erinnerung, Einsicht, Wille.« 79 Beurteilt man die Begabung, die Fachkenntnisse oder das praktische Verhalten eines Menschen, so kommt es denn auch auf die Erinnerung, die Einsicht und den Willen des betreffenden an. DT X,10,13, 117. DT X,10,14, 119. 76 Dazu schreibt Kreuzer in der Anmerkung 36 (DT 401): »Ein diesem ›dubito ergo sum‹ ähnliches Argument trägt Augustinus in ›De civitate dei‹ vor: Hier hat das Argument die Form: ›si enim fallor sum‹ (vgl. De civ. dei 11,26). Auf die mögliche Parallele zu Descartes ist oft hingewiesen worden.« Siehe dazu Kap. 11.4.2. 77 DT X,10,16, 121. 78 Vgl. DT X,10,16, 121; XIV,4,6, 193. 79 DT X,11,17, 121 f. 74 75

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»Diese drei also, Erinnerung, Einsicht und Wille, sind, da sie nicht drei Leben sind, sondern ein Leben und nicht drei Geister, sondern ein Geist, folgerichtig auch nicht drei Substanzen, sondern eine Substanz.« 80 Jedes der drei ist dabei auf sich selbst bezogen. Die drei sind aber auch aufeinander bezogen und umfassen sich gegenseitig. »Ich erinnere mich nämlich, dass ich Erinnerung, Einsicht und Willen habe, und ich sehe ein, dass ich einsehe, will und mich erinnere, und ich will, dass ich will, mich erinnere und einsehe […].« 81 Wie es der Unteilbarkeit und Ganzheit des Geistes insgesamt entspricht, ist dabei jeder der drei Grundvollzüge für sich ein ganzer und auf das Ganze bezogen. Erinnere ich mich, so erinnere ich mich »meiner ganzen Erinnerung, meiner ganzen Einsicht und meines ganzen Willens. […] Ebenso sehe ich, wenn ich diese drei einsehe, sie gleichzeitig ganz ein. […] Auch mein Wille umfasst meine ganze Einsicht und meine ganze Erinnerung […].« 82 Alle drei insgesamt werden daher von jedem Einzelnen ganz erfasst, weshalb jedes Einzelne als ganzes jedem anderen als ganzem gleich ist. So ist etwa die Erinnerung als ganze der Einsicht als ganze gleich. Ebenso ist jedes Einzelne zugleich allen drei als ganzem gleich. Daher ist beispielsweise die Einsicht als ganze allen drei, also der Erinnerung, der Einsicht und dem Willen, als ganzem gleich. Damit hat Augustinus, so wie er es bereits in Buch IX hinsichtlich der Dreiheit von mens – amor – notitia getan hat, in Buch X hinsichtlich der Dreiheit von memoria – intelligentia – voluntas die Strukturähnlichkeit des menschlichen Geistes mit der göttlichen Trinität aufgewiesen. Jedes Glied ist einerseits »Leben« (vita), Geist (mens) und Substanz (substantia), was ihre Substantialität zum Ausdruck bringt. 83 Andrerseits ist jedes Glied auf die anderen Glieder bezogen, was ihre Relativität oder Relationalität und dadurch auch ihre Verschiedenheit ausmacht. Die Substanz- oder Wesenseinheit zeigt sich darin, dass alle drei ein Leben, ein Geist und ein Wesen (essentia) sind. Schließlich sind die drei Glieder in ihrer wechselseitigen Bezogenheit insofern gleich, als keines größer oder kleiner als das andere ist, sondern jeweils als ganzes jedes andere Glied sowie die Gesamtheit der Glieder ganz umfasst, sodass ein einzelnes Glied ge80 81 82 83

DT X,18, 123. DT X,18, 125. DT X,18, 125. Vgl. dazu Brachtendorf 2000, 187.

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Erinnerung (memoria), Einsicht (intelligentia) und Wille (voluntas)

nau so groß ist wie jedes andere Glied und die drei Glieder in ihrer Gesamtheit. Der weitere Aufstieg auf dem Weg zur Erkenntnis der Dreieinigkeit Gottes hat nach Augustinus’ eigenem Anspruch ein noch deutlicheres Bild von der göttlichen Trinität ans Licht gebracht: das Selbstverhältnis des menschlichen Geistes als Erinnerung, Einsicht und Wille. Allerdings hebt Augustinus bereits am Ende des X. Buches die Ungleichheit des menschlichen Abbildes gegenüber dem göttlichen Urbild hervor. So vermag der menschliche Geist die Erinnerung seiner selbst (memoria sui) und die Einsicht seiner selbst (intelligentia sui) kaum zu unterscheiden. 84 Sie scheinen eines zu sein, das nur mit zwei verschiedenen Namen benannt wird. Auch fällt es dem Geist nicht leicht, die Selbstliebe als Liebe zu empfinden. Denn kein Bedürfnis zeigt diese Liebe an, da ja das Geliebte immer gegenwärtig ist. Inwiefern ist nun aber, so lässt sich rückblickend fragen, die Dreieinheit von Erinnerung, Einsicht und Willen im X. Buch ein deutlicheres oder angemesseneres Abbild des göttlichen Urbildes als die Dreieinheit von Geist, Kenntnis und Liebe aus dem IX. Buch? Augustinus selbst will mit seinen Überlegungen zum menschlichen Geist im X. Buch zu einem vertieften Verständnis des Geistes gelangen. Dazu bringt er das Gebot des Delphischen Orakels ins Spiel: Erkenne dich selbst. Um sich überhaupt auf die Suche nach Selbsterkenntnis begeben zu können, muss sich nach Augustinus der menschliche Geist bereits in irgendeiner Weise selbst kennen und lieben. Er kennt sich Augustinus zufolge immer schon, weil er sich immer schon selbst gegenwärtig ist. Mit der Einsicht in die Selbstgegenwart des Geistes ist für Augustinus eine tiefere Ebene und der innere Kern des Geistes erreicht. In seinem Inneren besitzt der Geist ein reines, d. h. von nichts anderem als sich selbst erfülltes, unmittelbares, d. h. nicht etwa durch Bilder seiner Einbildungskraft vermitteltes, und unwandelbares Wissen von seinem dreifachen Selbstbezug. Dieses ursprüngliche Sich-Wissen kann als implizite ständige Selbstkenntnis aufgefasst werden, die als solche noch nicht ausdrücklich bewusst und auf eine sprachlich-begriffliche Ebene gehoben sein muss. Von einem solchen intuitiven Sich-Wissen (se nosse) ist dann ein ausdrücklich bewusstes Sich-Denken (se cogitare) zu unterscheiden, das dadurch zustande kommt, dass der Geist seine Aufmerksam-

84

Vgl. DT X,12,19, 127.

127 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

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keit auf sein ursprüngliches implizites Sich-Wissen richtet und es so zu einem expliziten Sich-Wissen macht. 85 Während jedoch im Geist die ursprüngliche Selbstkenntnis (notitia sui) unveränderlich und immer geben ist, kann sich das ausdrücklich bewusste Sich-Denken immer wieder verändern und ist immer nur solange im Geist vorhanden, als dieser seine Aufmerksamkeit eigens auf seinen ursprünglichen dreifachen Selbstbezug lenkt und alle übrigen Bewusstseinsinhalte beiseite lässt. Die Dreieinheit von Erinnerung, Einsicht und Willen ist für Augustinus, abschließend gesagt, deshalb ein zutreffenderes Bild der göttlichen Trinität, weil sie tiefer im Geist angesiedelt ist und dadurch Gott, der ja dem menschlichen Geist innerlicher ist als sein Inneres, näher steht. Der menschliche Geist ist in seinem Kern bereits ein wirkliches unwandelbares Bild der Dreieinigkeit Gottes, was aber nicht ausschließt, dass er auf einer anderen Ebene nicht noch mehr Bild des Urbildes werden kann. An der Dreieinheit von Erinnerung, Einsicht und Willen, wie Augustinus sie im X. Buch entfaltet, mag zweierlei verwundern. 1. Obwohl Augustinus zunächst einmal mehr Vollzüge, deren sich der Geist zweifelsfrei sicher sein kann, als das Erinnern, Einsehen und Wollen aufzählt – etwa das Existieren, Leben und Urteilen –, schränkt er dann ziemlich abrupt die weitere Untersuchung auf die drei erstgenannten Glieder ein, ohne dies zu begründen. 86 Die Einschränkung ließe sich eventuell dahingehend rechtfertigen, dass es sich bei den drei Gliedern um höhere Funktionen des Geistes handelt, die das Existieren und das Leben sozusagen als niedrigere Funktionen voraussetzen, oder dass sie drei Grundvollzüge des Geistes darstellen, denen sich alle anderen Vollzüge – wie etwa das Urteilen dem Einsehen – zuordnen lassen. 87

Vgl. dazu Brachtendorf 2000, 163–174. Vgl. dazu auch Karl Rahners Unterscheidung von implizitem, unthematischem und explizitem, thematischem Wissen bzw. von transzendentalem und kategorialem Bewusstsein (Kap. 13.1). Augustinus wendet den Begriff cogitare (denken) sowohl auf die ausdrücklich bewusste Selbstreflexion an, wenn er etwa schreibt: »Der Geist erkenne sich also selbst […], richte die Aufmerksamkeit seines Willens […] auf sich selbst und denke sich selbst« (DT X,8,11, 113), als auch auf die ursprüngliche Selbstgegenwart, wenn er vom Geist in dieser Selbstgegenwart aussagt, was er tut, nämlich »wie er denkt, dass er lebt, sich erinnert, einsieht und will« (DT X,10,16, 121), oder den Geist aufruft, zum »Denken seiner selbst« zurückzukehren (vgl. DT X,5,7, 107). 86 Vgl. DT X,11,17, 121 f. 87 Vgl. Brachtendorf 2000, 191. 85

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Erinnerung (memoria), Einsicht (intelligentia) und Wille (voluntas)

2. Vergleicht man die Dreieinheit von Erinnerung (memoria), Einsicht (intelligentia) und Willen (voluntas) aus dem X. Buch mit der Dreieinheit von Geist (mens), Kenntnis (notitia) und Liebe (amor), ist es offensichtlich, dass die Einsicht der Kenntnis, und der Wille der Liebe entspricht. Beide Dreieinheiten enthalten ein kognitives und ein voluntatives Element. 88 Überraschend ist jedoch, dass Augustinus im X. Buch als erstes Element die Erinnerung (memoria) an die Stelle des Geistes setzt und diese ins Zentrum der Selbstgegenwart des Geistes rückt. Dies ist aus zwei Gründen erstaunlich. Zum einen geht bei Vorgängen wie beispielsweise der Wahrnehmung von etwas für gewöhnlich unser Erkennen oder unsere Einsicht (intelligentia) unserem Erinnern voraus. Das Erkannte wird gewissermaßen in unserem Gedächtnis abgespeichert, um später daraus abgerufen werden zu können. Zum anderen zeichnet sich unser Gedächtnis wesentlich durch Veränderung aus. Wir nehmen immer wieder Neues auf, vergessen aber auch viel Altes. Demgegenüber ist die memoria sui (Erinnerung seiner selbst) bei Augustinus vollkommen gleichzeitig mit der intelligentia sui (Einsicht seiner selbst) und lässt sich auch aus anderen Gründen nur schwer von dieser unterscheiden. 89 Auch verbindet Augustinus mit der memoria eine Stetigkeit und Aktualität, die weder Veränderung noch »Lücken« zulässt. Mit der memoria meint Augustinus ganz offenkundig von vornherein etwas anderes, als das, was wir normalerweise unter Gedächtnis verstehen. 90 In den »Confessiones«, in denen Augustinus seine eigenen Erinnerungen festhält, definiert er die Erinnerung als »die Kraft des Lebens im sterblichen lebenden Menschen« 91. Im selben Werk stellt er als selbstbezügliche Struktur des Menschen die Dreiheit von Sein, Wissen und Wollen vor. »Ich bin nämlich«, so schreibt er, »und weiß und will. Ich bin wissend und wollend und ich weiß, dass ich bin und will, und ich will, dass ich bin und weiß.« 92 In der Dreiheit von Sein, Wissen und Wollen zeigt sich eine Einheit von Unterschiedenheit Vgl. dazu Brachtendorf 2000, 191–193. Vgl. DT X,10,13, 117; X,12,9, 127. 90 Zu Augustinus’ Begriff der Erinnerung siehe Johannes Kreuzer: Gestalten mittelalterlicher Philosophie. Augustinus, Eriugena, Eckhart, Tauler, Nikolaus von Kues, München 2000, 35–43; Johannes Kreuzer: Augustinus zur Einführung, Hamburg 2005, 102–110. 91 Conf. X,17,26. Siehe zur memoria-Lehre des Augustinus DT Einleitung, XXIII– XXXI; XLI–XLIII. 92 Conf. XIII,11,12, zitiert nach DT Einleitung, XXIV, Anmerkung 41. 88 89

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und Einheit, denn die drei sind in ihrer Verschiedenheit ein Leben und ein Geist und ein Wesen. Sie sind insofern Bild der göttlichen Trinität in uns, wie Augustinus dann in »De civitate Dei« erläutert, als wir »sind und wissen, dass wir sind, und dies unser Sein und Wissen lieben« 93. Der Dreieinheit von Sein, Wissen und Wollen bzw. Lieben entspricht in »De Trinitate« die Dreieinheit von Erinnerung, Einsicht und Willen. Die innere Erinnerung ist für Augustinus das ursprüngliche Bei-sich-Sein des menschlichen Geistes. In ihr ist der Geist in ursprünglicher Weise auf sich selbst bezogen und sich selbst gegenwärtig. Im Sinn der Ursprünglichkeit ist sie das »Verborgene des Geistes« (abditum mentis), sein Abgrund, der auf keinen anderen Grund zurückgeführt werden kann und den Grund im menschlichen Bewusstsein bildet. Deshalb ist für Augustinus die innere memoria auch nicht das Vermögen der Erinnerung des Vergangenen, sondern des Gegenwärtigen und ist für ihn das Denken in seiner tiefsten Form gleichsam »die Erinnerung seiner selbst« 94 (memoria sui). Damit teilt Augustinus in gewissem Sinn die Einsicht Platons in der Anamnesistheorie, dass Erinnern im Grunde Wiedererinnern ist – nämlich Wiederinnern seiner selbst –, ohne freilich wie dieser eine Präexistenz der Seele anzunehmen. Auf der Erinnerung beruht die Dreieinheit des menschlichen Geistes, bei der jedes Element auf sich selbst bezogen ist, indem es auf die anderen bezogen ist und diese umfasst und durchdringt. So erklärt Augustinus: »Nichts aber ist so sehr in meiner Erinnerung wie die Erinnerung selbst. Also erinnere ich mich ihrer ganz. Ebenso weiß ich, dass ich einsehe, was immer ich einsehe, und ich weiß, dass ich will, was immer ich will; was ich aber weiß, das erinnere ich. Also erinnere ich meine ganze Einsicht und meinen ganzen Willen. Ebenso sehe ich, wenn ich diese drei einsehe, sie gleichzeitig ganz ein.« 95

In der konkreten Tätigkeit des Geistes gehören Sich-Erinnern, Einsehen und Wollen untrennbar zusammen und sind »ein Leben, ein Geist, ein Wesen« 96.

93 94 95 96

De civ. Dei 11,26, zitiert nach DT Einleitung, XXV. DT XIV,6,8, 197. DT X,18, 125. DT X,18, 127.

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Erinnerung (memoria), Denken (cogitatio) und Wille (voluntas)

Schließlich ist für Augustinus mit dem ursprünglichen Selbstbezug der Erinnerung im menschlichen Geist auch ein ursprünglicher Gottesbezug gegeben. Denn die memoria enthält beides: »die Erinnerung der eigenen Endlichkeit sowie – und zwar gerade durch diese erinnerte Endlichkeit – die Erinnerung dessen, was diese Endlichkeit transzendiert« 97, nämlich Gott. So besitzen wir in unserem Geist einen Funken der Vernunft, in dem wir zum Bild Gottes gemacht sind. 98

5.5 Erinnerung (memoria), Denken (cogitatio) und Wille (voluntas) Mit der Dreieinheit von Erinnerung, Einsicht und Willen im X. Buch ist bereits das Wesen des menschlichen Geistes erreicht. Trotzdem will Augustinus den Leser in den Büchern XI–XIV noch einmal in einer Aufstiegsbewegung zu diesem Wesen hinführen. 99 Dazu wendet er sich als erstes der sinnlichen Erkenntnis des Menschen zu, schreitet von da aus weiter zur rein intellektuellen Erkenntnis, um sich schließlich zur unmittelbaren Selbstkenntnis des Geistes vorzuarbeiten. Der Weg führt vom äußeren, d. h. biologischen Menschen zum inneren, d. h. geistig-seelischen Menschen. Auf jeder Stufe des Aufstiegs werden Dreiheiten gefunden. Aber sie alle sind durch ein zeitliches Nacheinander der Glieder gekennzeichnet, weshalb Augustinus sie bloß vestigia Trinitatis (Spuren der Trinität) nennt. Die einzige Dreieinheit, die den Namen imago Dei (Bild Gottes) aufgrund ihrer Zeitlosigkeit verdient, ist der unmittelbare dreifache Selbstbezug im Kern des menschlichen Geistes. In Buch XIV widmet sich Augustinus dem Thema der Weisheit. Für ihn ist »Gott selbst […] die höchste Weisheit, der Dienst Gottes aber ist die Weisheit des Menschen« 100. Sich mit der Weisheit zu befassen, ist Aufgabe des Philosophen, d. h. des Liebhabers der Weisheit. 101 Philosophen haben denn auch die Weisheit bestimmt als die DT Einleitung, XXXI. Vgl. De civ. Dei 11,26. Meister Eckhart übersetzt diese scintilla rationis (diesen »Funken der Vernunft«) dann mit »Seelenfunken« (vgl. DT Einleitung, XXVI, Anmerkung 45). 99 Siehe dazu Brachtendorf 2000, 194–212. 100 DT XIV,1,1, 179. 101 Vgl. dazu und zum Folgenden DT XIV,1,2–2,4, 180–185. 97 98

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Wissenschaft von den göttlichen und menschlichen Dingen. Für Augustinus hingegen ist die Wissenschaft der göttlichen Dinge im eigentlichen Sinne Weisheit, die der menschlichen Dinge aber im eigentlichen Sinne Wissenschaft. Zur Wissenschaft zählt er auch die Vermittlung zeitlich-geschichtlicher Glaubensinhalte, wie etwa der Taten Jesu als des fleischgewordenen Wortes Gottes. Bei den Glaubensinhalten zeigt sich eine weitere Dreiheit, insofern sie in der Erinnerung (memoria), im Anblick (contuitus) und in der Liebe (dilectio) gegenwärtig sind. Diese Glaubensdreiheit ist ebenfalls Bild Gottes. Da aber der Glaube mit dem Tod aufhört und von der unmittelbaren Schau Gottes abgelöst wird, handelt es sich bei ihr bloß um ein vorübergehendes, nicht um ein wahres Bild Gottes. Denn nur ein immerwährendes Bild kann wahres Abbild Gottes sein. Ein solches zeichnet sich in der unsterblichen Seele des Menschen durch die Denkfähigkeit in Gestalt des Verstandes bzw. der Vernunft ab, die zusammen mit der Erinnerung und dem Willen eine bleibende Dreiheit bildet. 102 Die menschliche Seele ist nämlich, »wenngleich Verstand [ratio] und Vernunft [intellectus] in ihr bald betäubt, bald klein, bald groß erscheint, niemals ohne Verstand und Vernunft; wenn sie daher nach dem Bild Gottes geschaffen ist, sofern sie ihren Verstand und ihre Vernunft zur Erkenntnis und zur Schau Gottes gebrauchen kann, so ist in der Tat von Beginn an […] das Bild Gottes, mag es so verbraucht sein, dass es beinahe nicht mehr ist, mag es verdunkelt und entstellt sein, mag es hell und schön sein, immer da« 103. Die Dreiheit von Erinnerung, Denken (cogitatio) und Willen ist ein zwar veränderliches, aber immerwährendes Bild Gottes in der unsterblichen Seele des Menschen. Der menschliche Geist kann durch die Kraft seines Denkens sich selbst in sein Blickfeld bringen, seinen geistigen Blick und seine Aufmerksamkeit auf sein ursprüngliches Selbstverhältnis richten, in diesem Sinne über sich selbst reflektieren und so sich selber denken. 104 Durch eine solche Denkreflexion entsteht neben der inneren Dreiheit von Erinnerung (memoria), Einsicht (intelligentia) und Willen (voluntas) eine äußere Dreiheit von Erinnerung (memoria), Denken (cogitatio) und Willen (voluntas). Während die innere Dreiheit jedoch zeitlos, unwandelbar und stetig ist, ist die äußere zeitlich, veränder102 103 104

Vgl. DT XIV,3,4–4,6, 184–193. DT XIV,4,6, 191. Vgl. dazu Brachtendorf 2000, 213–250.

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Erinnerung (memoria), Denken (cogitatio) und Wille (voluntas)

lich und diskontinuierlich, da in sie immer wieder neue Inhalte eintreten sowie alte Inhalte verschwinden können. Im Blick auf die äußere Dreiheit fordert Augustinus den menschlichen Geist auf: »Er erinnere sich […] Gottes, nach dessen Bild er geschaffen ist, sehe ihn ein [d. h. denke an ihn] und liebe ihn. Um es kürzer zu sagen: Er möge Gott verehren, der nicht geschaffen ist, von dem er jedoch so geschaffen wurde, dass er aufnahmefähig ist für ihn und seiner teilhaftig werden kann.« 105 Denkt und verehrt der Mensch Gott, liebt er ihn und dient er ihm, so wird er gerade dadurch, dass er Gottes aufnahmefähig (capax Dei) und seiner teilhaftig wird, selber wahrhaft weise. Da Gott das wahrhaft höchste Gut des Menschen ist, wird Augustinus zufolge nur derjenige weise und glücklich, der Gott liebt und an Gott denkt. Diese Gottesliebe muss aber nicht unbedingt explizit sein. Sie kann auch implizit sein. 106 Selbst wer Gott nicht kennt, kann nach Augustinus die Ewigkeit denken und im Licht der göttlichen Wahrheit, die im Herzen eines jeden Menschen gegenwärtig ist, die sittlichen Regeln kennen und befolgen und so durch rechte Lebensführung Gott verehren. 107 Auch liebt Gott, wer sich auf rechte Weise selber liebt. 108 Durch die rechte bewusste cogitatio, das rechte Denken und Lieben seiner selbst und das rechte Denken und Lieben Gottes, kann auch die äußere Dreiheit des menschlichen Geistes zum Bild Gottes werden. Dieses Bild ist zunächst beim Menschen infolge der Sünde und des damit einhergehenden Verlustes der Teilnahme an Gott entstellt und darum sehr unvollkommen und Gott wenig ähnlich. Der Mensch ist aber der Erneuerung (renovatio) und Umgestaltung dieses Bildes fähig. Er soll sich durch die Erneuerung seines Geistes umgestalten, »damit jenes Bild von dem umgestaltet zu werden beginnt, von dem es gestaltet wurde. Nicht kann nämlich der Geist sich umgestalten, wie er sich entstellen konnte.« 109 Es ist also in erster Linie Gott, der den menschlichen Geist umgestaltet, nicht der Geist selbst. Dieser bringt die Erneuerung und Umgestaltung nach Gott oder nach dem Bild Gottes eben soweit zustande, »als ihm göttliche Hilfe zuteil

105 106 107 108 109

DT XIV,12,15, 217; vgl. XIV,8,11, 205. Vgl. dazu Karl Rahners Theorie vom anonymen Christen (Kap. 13.6). Vgl. DT XIV,15,21, 231 f. Vgl. DT XIV,14,18, 223. DT XIV,16,22, 233.

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wird« 110. Auch geschieht die Erneuerung und Umgestaltung und damit die Angleichung des Bildes an Gott nicht in einem Augenblick, sondern von Tag zu Tag, allmählich und unvollkommen. Erst wenn das Sehen Gottes vollkommen sein wird, nämlich in der jenseitigen unmittelbaren Schau Gottes, wird auch die Ähnlichkeit des Bildes mit dem Urbild vollkommen sein. 111 Jetzt schauen wir Gott nur im Spiegel und im Rätsel, dann aber von Angesicht zu Angesicht. 112 So ist es das Wesen des menschlichen Geistes, in der inneren Dreieinheit von Erinnerung, Einsicht und Willen von Anfang an und für immer Bild des dreieinen Gottes zu sein, und seine Bestimmung, in der äußeren Dreieinheit von Erinnerung, Denken und Willen vollkommenes Bild Gottes zu werden. 113 Durch die Verähnlichung des Bildes mit Gott erlangt der Mensch nach Augustinus auch die wahre Weisheit. Diese kann er freilich dann nur von jenem haben, »durch dessen Anteilnahme der verstandes- und vernunftbegabte Geist wahrhaft weise zu werden vermag« 114.

5.6 Ähnlichkeit und Unähnlichkeit des Bildes Das Buch XV von »De Trinitate« lässt sich untergliedern in einen ersten Teil (1,1–9,16), in dem Augustinus vornehmlich die Ergebnisse der Bücher I–XIV zusammenfasst, einen zweiten Teil (10,17– 16,26), in dem er »unter Rückgriff auf die Theorie des inneren Wortes das Verhältnis von ›memoria‹ und ›cogitatio‹ mit der Relation zwischen Gott Vater und Sohn vergleicht« 115, und einen dritten Teil (17,27–28,51) über den Heiligen Geist. Zu Beginn formuliert Augustinus noch einmal das Leitwort seiner Trinitätsspekulation: »Der Glaube sucht, die Einsicht findet.« 116 Aber die Einsicht findet die göttliche Dreifaltigkeit als etwas, das unbegreiflich ist, weshalb sie weitersuchen muss, um noch besser zu begreifen. Der Mensch muss sich nach Augustinus suchend um Gott bemühen, auch wenn Gott letztlich unbegreiflich bleibt. 110 111 112 113 114 115 116

DT XIV,17,23, 239; vgl. XV,8,14, 285. Vgl. DT XIV,17,23, 239 f.; 19,25, 243. Vgl. 1 Kor 13,12; 2 Kor 3,18; 1 Joh 3,2. Vgl. Brachtendorf 2000, 245. DT XIV,19,26, 243. Brachtendorf 2000, 251. DT XV,2,2, 251.

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Ähnlichkeit und Unähnlichkeit des Bildes

Während Augustinus bisher in »De Trinitate« von der göttlichen Trinität ausgegangen ist und nach Bildern von dieser Trinität in der Schöpfung, insbesondere beim Menschen, gesucht hat und im Zuge dessen von den Merkmalen der göttlichen Trinität auf Eigenschaften des menschlichen Geistes geschlossen hat, schlägt er jetzt den umgekehrten Weg ein, »indem er von Eigenschaften der ›mens humana‹ auf Merkmale der göttlichen Trinität schließt« 117. War bisher für Augustinus der Ausgangspunkt Gott und der Zielpunkt der menschliche Geist, so ist nun die verstandes- und vernunftbegabte Seele des Menschen, sein Geist oder seine Geistseele der Ausgangspunkt und der Zielpunkt Gott, der nicht geschaffene, sondern schöpferische Natur ist. »Ob sie [die Natur Gottes] eine Dreieinheit ist, das müssen wir nun nicht bloß für die Gläubigen durch das Gewicht der Heiligen Schrift, sondern auch für die, die Einsicht wollen, durch Verstandesüberlegungen, wenn wir dazu fähig sind, aufweisen.« 118 Die Dreiheit, die Gott ist, soll vom Geschaffenen aus erforscht werden. Das ist möglich, weil, wie Paulus im Römerbrief schreibt, das Unsichtbare an Gott »ja seit der Erschaffung der Welt durch das, was geschaffen ist, in Einsicht schaubar« ist oder weil, wie es im Buch der Weisheit heißt, aus »der Größe und Schönheit der Geschöpfe […] nämlich deren Schöpfer in Einsicht geschaut werden [kann]«. 119 Für Augustinus ist von der Schöpfung her zunächst einmal evident, dass Gott existiert. Nicht nur die Bibel sagt aus, »dass Gott ist, sondern alles, was uns umgibt, die gesamte Natur der Dinge, zu der auch wir gehören, verkündet laut, dass sie einen alles überragenden Schöpfer hat« 120. Von der Schöpfung her lässt sich aber Augustinus zufolge auch erkennen, dass Gott »im höchsten Maße lebendig ist, alles wahrnimmt und einsieht, dass er nicht sterben, vergehen und sich ändern kann, dass er kein Körper ist, sondern der mächtigste, gerechteste, schönste, beste und seligste Geist« 121. All das Angeführte kommt aber »sowohl der Dreieinheit insgesamt, die der eine Gott ist, wie auch den einzelnen Personen in dieser Dreieinheit zu« 122. Auch handelt es sich bei allen aufgezählten Eigenschaften aufgrund der Einfachheit Gottes nicht um verschiedene Eigenschaften, sondern um ein und dasselbe. 117 118 119 120 121 122

Brachtendorf 2000, 251. DT XV,1,1, 249. DT XV,2,3, 251 f. Vgl. Röm 1,20; Weish 13,1–5. DT XV,4,6, 261. DT XV,4,6, 261. DT XV,5,7, 263.

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Der Dreieine als Urbild des Menschen

Aber auch das ist in gewissem Sinn noch ein Missverständnis, vor dem Augustinus warnt: »Wenn wir mithin sagen: Er ist ›ewig, unsterblich, unvergänglich, unwandelbar, lebendig, weise, mächtig, schön, gerecht, gut, selig, ein Geist‹, dann scheint die letzte von all den Bezeichnungen, die ich hierhergesetzt habe, gleichsam nur die Substanz zu betreffen, die übrigen hingegen die Eigenschaften dieser Substanz. Aber so ist es nicht in dieser unaussprechlichen und einfachen Natur. Alle Aussagen nämlich, welche dort eine Eigenschaft zu betreffen scheinen, sind von der Substanz oder vom Wesen zu verstehen.« 123

Über Gott lassen sich nur Wesensaussagen oder Relationsaussagen, nicht jedoch Eigenschaftsaussagen machen. Aus den drei Viererreihen, in denen Augustinus soeben das Wesen Gottes beschrieben hat, wählt er nun jeweils eine Aussage aus, nämlich »Gott ist ewig«, »Gott ist weise« und »Gott ist selig«, um anschließend die Frage zu stellen, ob diese drei dann die Dreieinheit bilden, die Gott genannt wird. 124 Aber zum einen unterscheiden sich die Ewigkeit, die Weisheit und die Seligkeit aufgrund der genannten Einfachheit Gottes nicht, weshalb sie auch nicht das Fundament für eine Unterscheidung zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist abgeben können. Zum anderen kommt die Ewigkeit sowie die Weisheit und die Seligkeit allen drei Personen sowie der Gottheit insgesamt zu, wobei Gott seine Ewigkeit, Weisheit und Seligkeit nicht von irgendjemand anderem empfängt, sondern sie selbst ist. So ist der Sohn etwa genauso Weisheit wie der Vater, nicht mehr und nicht weniger auch wenn er infolge seines Gezeugtseins durch den Vater »in der Weise Weisheit von der Weisheit ist, wie er Licht vom Lichte, Gott von Gott ist« 125. In der Dreiheit von Ewigkeit, Weisheit und Seligkeit zeigt sich die gesuchte Dreieinheit demnach nicht. Um das Unsichtbare Gottes durch das, was geschaffen ist, in Einsicht schauen zu können, wurden, wie Augustinus rückblickend festhält, in den Büchern VIII–XIV verschiedene Dreiheiten gefunden. 126 So leuchtete bereits im VIII. Buch bei der menschlichen Liebe ein wenig die Dreieinheit auf. In den folgenden Büchern erwies sich dann der menschliche Geist in verschiedenen Dreiheiten als Bild des drei123 124 125 126

DT XV,5,8, 165. Vgl. DT XV,5,8–6,9, 265 f. DT XV,6,9, 269. Vgl. DT XV,6,10, 271.

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Ähnlichkeit und Unähnlichkeit des Bildes

einen Gottes. Doch welchen Erkenntniswert besitzen diese beim menschlichen Geist gefundenen Dreieinheiten, fragt Augustinus erkenntniskritisch. Sehen wir, indem wir gewisse Dreiheiten in uns sehen, so auch die Dreiheit, die Gott ist, »weil wir auch hier durch unsere Einsicht gleichsam einen Sprechenden und sein Wort, das ist der Vater und Sohn, und die von ihnen hervorgebrachte, beiden gemeinsame Liebe, nämlich den Heiligen Geist erblicken? Oder ist es so, dass wir jene zum Bereich unserer Sinne oder der Seele gehörigen Dreiheiten eher sehen als glauben, Gott hingegen, die Dreieinheit, eher glauben als sehen?« 127 Anders gefragt: Können wir durch das Geschaffene wirklich etwas vom Unsichtbaren erblicken oder nicht? Taugt das, was wir Menschen in unserem Geist entdecken, tatsächlich als Bild Gottes oder taugt es nicht dazu? Besitzen wir Menschen Weisheit, dann haben wir sie, wie im VIII. und im XIV. Buch gezeigt wurde, von Gott. An der Weisheit lässt sich Augustinus zufolge aber ganz klar eine Dreieinheit feststellen, »die Weisheit [sapientia] nämlich und ihre Selbsterkenntnis [notitia sui] und ihre Selbstliebe [dilectio sui]. So finden wir ja auch im Menschen eine Dreiheit, das ist den Geist, die Kenntnis, in der er sich kennt, und die Liebe, in der er sich liebt.« 128 Kann man nun aber sagen, die Weisheit die Gott ist, sehe sich nicht ein und liebe sich nicht? Das zu sagen oder zu glauben, wäre nach Augustinus töricht und gottlos. Die Weisheit, die Gott ist, weiß sich selbstverständlich selbst und liebt sich selbst. Hier schließt Augustinus von der menschlichen Weisheit auf die göttliche Weisheit, von der Selbstbezüglichkeit des menschlichen Geistes auf die Selbstbezüglichkeit Gottes. 129 So wie er zuvor bei der Bestimmung des menschlichen Geistes von der göttlichen Trinität die Strukturmerkmale der Substanzeinheit, Relationalität und Gleichheit übernommen und auf den menschlichen Geist angewendet hat, übernimmt er jetzt vom menschlichen Geist die Struktur des dreifachen Selbstbezuges als Geist (mens), Kenntnis seiner selbst (notitia sui) und Liebe seiner selbst (dilectio sui) und überträgt sie auf Gott. Der Mensch ist das höchstrangige Geschöpf. Ihn hat Gott als sein Bild geschaffen. 130 Deshalb kann und soll der Mensch seinen Geist als 127 128 129 130

DT XV,6,10, 271. DT XV,6,10, 273. Vgl. Brachtendorf 2000, 256 f. Vgl. Gen 1,27.

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Der Dreieine als Urbild des Menschen

Bild Gottes erkennen und dadurch etwas von der Dreieinheit Gottes selbst einsehen. Vom Selbstbezug des Abbildes lässt sich durch Analogie auf den Selbstbezug des Urbildes schließen. Hat sich der grundsätzliche Bildcharakter des menschlichen Geistes und dessen Erkenntniswert einmal bestätigt, so treten auch die Unterschiede zwischen dem Abbild und dem Urbild deutlich hervor. Augustinus weist auf drei Unterschiede hin, die zwischen der Struktur des Menschen bzw. menschlichen Geistes und der trinitarischen Struktur Gottes bestehen. 1. Der erste Unterschied hängt mit dem Verhältnis von Person und Trinität zusammen. 131 Der Mensch lässt sich definieren als eine vernunftbegabte Substanz, die aus Leib und Seele besteht. Er ist aber nur in seinem Geist Bild der Dreieinheit Gottes. Der Geist ist weder sein Leib, noch einfach seine Seele, sondern das Haupt seiner Seele oder das, was in seiner Seele hervorragt. Die menschliche Person ist folglich nicht dreifaltig, sondern besitzt die Dreieinigkeit von Erinnerung, Einsicht und Liebe in ihrem Geist. Dagegen ist Gott als ganzer nichts anderes als die Dreieinheit. Nichts gehört zu seiner Natur, was nicht zu seiner Dreieinheit gehören würde. Die Dreieinheit deckt somit sein ganzes Wesen ab. Auch sind in ihm die drei Personen eines Wesens, während jeder einzelne Mensch ein eigenes Wesen und eine einzige Person ist 132. 2. Der zweite Unterschied bezieht sich auf die Unterscheidbarkeit der Trinitätselemente. 133 Bei der Dreieinheit von Erinnerung, Einsicht und Willen in unserem Geist verhält es sich so, »dass wir […] nichts von dem, was des Geistes ist, erinnern, es sei denn durch die Erinnerung, nichts einsehen, es sei denn durch die Einsicht, nichts lieben, es sei denn durch den Willen« 134. Bei der göttlichen Trinität hingegen erinnert sich jede Person ihrer und der beiden anderen Personen, sieht jede Person sich ein und die beiden anderen, und liebt jede Person sich und die beiden anderen Personen. Alle drei insgesamt und jede einzelne Person für sich in ihrer Natur besitzen »jenes dreifache Tun« 135. Daraus folgt laut Augustinus, »dass man die Dreiheit, die Gott ist, nicht so nach jenen Dreien, die wir in der Drei-

131 132 133 134 135

Vgl. DT XV,7,11, 273 f.; 22,42, 339 f. Vgl. auch Brachtendorf 2000, 257–265. Augustinus setzt hier beim Menschen Person und Individuum gleich. Vgl. DT XV,7,12, 274–279. DT XV,7,12, 275. DT XV,17,28, 325.

138 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Ähnlichkeit und Unähnlichkeit des Bildes

heit unseres Geistes aufgewiesen haben, auffassen dürfe, dass der Vater gleichsam die Erinnerung aller drei sei, der Sohn die Einsicht aller drei, der Heilige Geist die Liebe aller drei, als ob [etwa] der Vater für sich weder Einsicht noch Liebe hätte, sondern der Sohn für ihn einsähe und der Heilige Geist für ihn liebte, er selbst aber nur Erinnerung hätte für sich und für jene« 136. Die im menschlichen Geist gefundene Dreiheit lässt sich demnach nicht so auf Gott übertragen, dass der Vater dem Geist bzw. der Erinnerung (mens/memoria) entspricht, der Sohn der Kenntnis bzw. Einsicht (notitia/intelligentia) und der Heilige Geist der Liebe bzw. dem Willen (dilectio/voluntas). 3. Der dritte Unterschied hat mit der Simultanität bzw. Diskursivität des Wissens zu tun. Nach Augustinus weiß Gott alles, »und zwar so, dass auch, was vergangen heißt, dort nicht vergeht, und dass die Ankunft dessen, was zukünftig heißt, nicht erst erwartet wird, gleich als ob es noch fehlen würde, sondern dass sowohl das Vergangene wie das Zukünftige mit dem Gegenwärtigen insgesamt gegenwärtig ist, dass ferner nicht das Einzelne für sich gedacht und von dem einen zum anderen im Denken weiter geschritten wird, sondern in einem einzigen Blick alle Dinge insgesamt gegenwärtig sind« 137. Gott ist alles Vergangene, alles Gegenwärtige und alles Zukünftige gegenwärtig und er erkennt und denkt nicht alles Einzelne nacheinander, sondern erfasst es mit einem einzigen Blick. Wir Menschen dagegen sehen das Zukünftige nicht, sondern erschließen es nur aus dem Vergangenen. Zudem wissen wir nicht alles auf einmal, sondern können die Dinge und Sachverhalte nur einzeln und nacheinander erkennen und denken. Während Gott simultan erkennt und denkt, erkennen und denken wir nur diskursiv. Während Gottes Einsicht (intelligentia) ein vollständiges Abbild seiner Erinnerung (memoria) ist, kann sich unser Denken (cogitatio) immer nur einen Ausschnitt aus der Erinnerung (memoria) vergegenwärtigen. Soviel sei zu den Unterschieden gesagt. Der erste Unterschied zwischen Abbild und Urbild betrifft den Menschen als ganzen. Der zweite und dritte Unterschied betrifft den menschlichen Geist in seiner sekundären, äußeren Dreieinheit von Erinnerung, Denken und Willen, nicht aber in seiner primären, inneren Dreieinheit von Erinnerung, Einsicht und Willen. Trotz dieser Unterschiede bleibt der grundsätzliche Bildcharakter auch der sekun136 137

DT XV,17,28, 325. DT XV,7,13, 279.

139 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Dreieine als Urbild des Menschen

dären, äußeren Dreieinheit des Geistes erhalten und kann und soll der äußere Geist, wie Augustinus das in Buch XIV dargelegt hat, schon in diesem Leben ein der göttlichen Dreieinheit ähnlicheres Bild werden, bis er schließlich durch die jenseitige Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht Gott vollkommen ähnlich sein wird. Wenn der Apostel Paulus sagt, wir sähen Gott jetzt nur im Spiegel und im Rätsel (1 Kor 13,12), dann ist laut Augustinus mit dem Spiegel gemeint, dass der menschliche Geist ein Bild Gottes ist, durch das wir Gott sehen, und mit dem Rätsel, dass er Gott ähnlich ist. 138 Die Ähnlichkeit erläutert Augustinus nun anhand seiner Theorie vom wahren Wort (verbum verum) des menschlichen Geistes. Demzufolge besitzen wir ein innerstes wahres Wissen (scientia). 139 Zu diesem Wissen gehören nicht die Inhalte, die von den Leibessinnen her in die Seele kommen, da sie immer nur wahrscheinlich sind. Vielmehr handelt es sich dabei um das sichere, unbezweifelbare Wissen des Geistes um sich selbst, beispielsweise das Wissen zu leben, das Wissen zu wissen, dass man lebt, das Wissen, sich nicht irren zu wollen und glücklich werden zu wollen. Dieses Wissen ist in der Schatzkammer unserer Erinnerung (memoria) als ganzes verwahrt und in unserer Kenntnis (notitia) als ganzes vorhanden, da ja in der inneren Dreiheit unseres Geistes Erinnerung (memoria), Erkenntnis (notitia/ intelligentia) und Wille (voluntas) einander vollkommen entsprechen. Denken wir nun in der äußeren Dreiheit unseres Geistes einen bestimmten Wissensinhalt, indem wir ihn aus unserer Kenntnis aktualisieren, so entsteht durch diesen Gedanken (cogitatio) oder dieses Denken (cogitare) in unserem Herzen ein vorsprachliches inneres Wort (verbum intimum), das wir durch sprachliche Worte, konkret durch Zeichen wie Laute und Buchstaben äußerlich mitteilen können. Das innere wahre Wort, das wir in der äußeren Dreiheit unseres Geistes durch Denken bilden, hat nun nach Augustinus eine unübersehbare Ähnlichkeit mit dem Wort Gottes (verbum Dei), das der Sohn ist und in dem sich der Vater ganz ausspricht. 140 Alles, was der Vater weiß, teilt er dem Sohn durch die Zeugung mit, sodass zwischen dem Wissen des Vaters und dem Wissen des Sohnes vollkommene

138 Vgl. DT XV,9,16, 287. Die Thematik von Spiegel und Rätsel verfolgt Augustinus im XV. Buch von Abschnitt 8,14–16,26. 139 Vgl. DT XV,10,17–12,22, 288–309. 140 Vgl. DT XV,10,17–16,26, 288–323; hier besonders XV,14,23, 313. Vgl. dazu auch Brachtendorf 2000, 266–281.

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Ähnlichkeit und Unähnlichkeit des Bildes

Kongruenz herrscht. Vom Wort Gottes heißt es im Prolog des Johannesevangeliums:»Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. […] Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« (Joh 1,1.14). Wie wir unser inneres wahres Wort gewissermaßen körperlich mitteilen können, damit es für die Sinne der Menschen wahrnehmbar wird, ist das Wort Gottes Fleisch geworden, indem es einen menschlichen Körper angenommen hat, »um sich so auch selbst den Sinnen der Menschen zu offenbaren. Und wie unser Wort Laut wird und sich nicht in den Laut verwandelt, so ist das Wort Gottes zwar Fleisch geworden, aber ferne sei es, dass es in das Fleisch verwandelt wurde. Durch seine Annahme also, nicht durch die Weggabe seiner selbst in das Fleisch wurde sowohl dieses unser Wort Laut wie jenes Fleisch.« 141 Unserem inneren Wort und dem göttlichen Wort ist demzufolge die Inkarnation – die körperliche Selbstmitteilung – gemeinsam. Aus dem Wissen, das in unserer Erinnerung festgehalten ist, wird das innere Wort durch unser Denken wenn auch auf zeitliche Weise gezeugt und geboren, wie der Sohn auf zeitlose ewige Weise aus Gott dem Vater gezeugt oder geboren wird. Und das innere Wort ist ein wahres Wort und ein wahres Bild, das der gewussten Sache ähnlich ist, wie der Sohn das wahre Wort und das wahre Bild des Vaters ist, das ihm durch die Einheit der Substanz in allem ähnlich ist. So kommt laut Augustinus die Ähnlichkeit des geschaffenen menschlichen Bildes an die Ähnlichkeit des geborenen göttlichen Bildes heran. 142 Darüber hinaus ist das menschliche innere Wort dem göttlichen Wort insofern ähnlich, als das Wort jeweils dem Werk vorangeht und von ihm unabhängig ist. 143 So heißt es vom Wort Gottes: »Alles ist durch es geworden.« 144 Gott hat durch sein eingeborenes Wort das gesamte All geschaffen. Unser inneres Wort kann es geben, »ohne dass ihm ein Werk folgt; kein Werk aber kann geschehen, wenn ihm nicht ein Wort vorausgeht, wie das Wort Gottes bestehen konnte, ohne dass ein Geschöpf existierte, während kein Geschöpf sein kann außer durch das Wort, durch das alles geworden ist« 145.

141 142 143 144 145

DT XV,11,20, 295 f. Vgl. DT XV,11,20, 299. Vgl. DT XV,11,20, 299 f. Vgl. Joh 1,3. DT XV,11,20, 301.

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Der Dreieine als Urbild des Menschen

Trotz dieser mehrfachen gewichtigen Ähnlichkeit des menschlichen inneren Wortes mit dem göttlichen Wort, herrscht zwischen beiden auch eine große Unähnlichkeit, weshalb Augustinus von einer »in vielem unähnlichen Ähnlichkeit« 146 spricht. So führt er im Blick auf Gottes allumfassendes Wissen aus: »Ganz unähnlich […] ist diesem [göttlichen] Wissen unser Wissen. Was aber das Wissen Gottes ist, eben das ist auch Weisheit, und was die Weisheit ist, eben das ist sein Wesen oder seine Substanz, weil in der wunderbaren Einfachheit seiner Natur nicht etwas anderes ist, weise zu sein, und etwas anderes (zu) sein, sondern dies Weisesein ist auch das Sein, […]. Unser Wissen jedoch ist hinsichtlich der meisten Inhalte deswegen sowohl verlierbar wie erwerbbar, weil für uns (zu) sein nicht dasselbe ist wie zu wissen oder weise zu sein, da wir ja sein können, auch wenn wir die Dinge, die wir von anderswoher erfahren haben, weder wissen noch wirklich verstehen. Deshalb ist, wie unser Wissen dem Wissen Gottes, so unser [inneres] Wort, das von jenem Wissen geboren wird, dem Wort Gottes unähnlich, das vom Wesen des Vaters geboren ist.« 147

Gottes Wissen umfasst schlechthin alles Wissbare. Sein vollkommenes Wissen ist nichts anderes als sein vollkommenes Sein. Aus diesem Grund können Wissen und Sein bei ihm nicht auseinanderfallen. Unser Wissen ist dagegen sehr begrenzt und ständiger Veränderung unterworfen. Auch ist bei uns »Sein nicht das gleiche wie Wissen« 148. Selbst wenn unser Wissen durch das Vergessen auf gewisse Weise stirbt, so existieren wir immer noch, »und wenn unser Wissen unserem Geist entglitten und vergangen sein wird, so leben wir doch noch« 149. Des Weiteren ist es für unsere Seele kein immerwährender Vorgang, »dass sie ihr Leben denkt oder dass sie das Wissen um ihr Leben denkt, da sie, wenn sie wieder etwas anderes beginnt, aufhört, dies zu denken, wenn sie auch nicht aufhört, es zu wissen« 150. Daraus ergibt sich für Augustinus: »Wenn in unserer Seele ein immerwährendes Wissen sein kann, und wenn das Denken dieses Wissens nicht immerwährend sein kann, unser wahres inneres Wort aber nur durch unser Denken gesprochen werden kann, dann ist ersichtlich, dass allein Gott

146 147 148 149 150

DT XV,11,20, 297. DT XV,13,22, 311. DT XV,15,24, 317. DT XV,15,24, 317. DT XV,15,25, 317.

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Ähnlichkeit und Unähnlichkeit des Bildes

ein immerwährendes, mit ihm ewiges Wort hat.« 151 Während unser Denken und damit unser inneres Wort nicht immerwährend ist, ist das Wort Gottes immerwährend und ewig. Unser inneres Wort wird durch unser Denken geformt und gestaltet, wobei sich unser Denken »in einer Art kreisender Bewegung« 152 befindet, d. h. sich diskursiv von einem zum anderen und wieder zurück bewegt. Im Gegensatz dazu ist das Wort Gottes so einfache Gestalt, »dass es nicht vorher gestaltbar und nachher gestaltet gewesen sein wird« 153. Zudem ist das Denken Gottes nicht diskursiv, sondern ein geistiges Schauen von allem zugleich und in einem. Damit hat sich nach Augustinus gezeigt, wie groß die Unähnlichkeit unseres inneren Wortes mit dem Wort Gottes ist. In diesem Sinn fasst er noch einmal den Vergleich der beiden im Blick auf unsere Vollendung zusammen: »Da mithin in diesem Rätsel sich jetzt eine so tiefgreifende Unähnlichkeit mit Gott und mit dem Wort Gottes zeigt, in dem sich allerdings auch einige Ähnlichkeit feststellen ließ, so müssen wir zugestehen, dass wir auch dann, wenn wir ihm ähnlich sein werden, da wir ihn sehen wie er ist […], ihm dann nicht in der Natur gleich sein werden. Immer ist nämlich die geschaffene Natur geringer gegenüber der schaffenden. […] Vielleicht werden unsere Gedanken nicht mehr umherschweifen, von einem zum anderen gehend und zurückkehrend, sondern wir werden unser ganzes Wissen mit einem Blick gleichzeitig sehen. Aber dennoch wird […] ein Geschöpf gestaltet sein, das gestaltbar war, sodass seiner Gestalt, zu der es gelangen sollte, nun nichts mehr fehlt; dennoch aber wird es nicht gleichzustellen sein jener Einfachheit, in der nichts Gestaltbares gestaltet oder umgestaltet wurde, sondern allein Gestalt ist.« 154

Auch wenn wir in der Vollendung Gott wahrhaft ähnlich sein werden, da wir ihn dann von Angesicht zu Angesicht schauen, auch wenn deshalb unser Denken nicht mehr diskursiv, sondern als geistiges Sehen simultan sein wird wie das Denken Gottes, auch wenn es deshalb eine vollkommene Kongruenz zwischen unserer Erinnerung (memoria), unserem Denken (cogitatio) und unserem Willen (voluntas) geben wird, auch wenn deshalb unserer Gestalt nichts mehr fehlen wird, bleibt der grundlegende metaphysische Unterschied zwischen uns, den gestalteten Geschöpfen, und dem Wort Gottes bestehen, 151 152 153 154

DT XV,15,25, 317. DT XV,15,25, 319. DT XV,15,25, 319. DT XV,16,26, 321.

143 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Dreieine als Urbild des Menschen

das dort die ewige und unwandelbare, weder ungestaltete noch gestaltete göttliche Gestalt und Substanz selbst ist.

5.7 Der Heilige Geist Nachdem Augustinus im Zusammenhang von menschlichem und göttlichem Wort hinlänglich vom Vater und vom Sohn gesprochen hat, will er nun noch im letzten Teil des XV. Buches den Heiligen Geist behandeln. 155 »Der Heilige Geist ist nach der Heiligen Schrift«, so Augustinus, »nicht der Geist des Vaters allein, nicht der Geist des Sohnes allein, sondern beider Geist und zeigt deshalb die gemeinsame Liebe des Vaters und Sohnes an, in der sie sich gegenseitig lieben.« 156 Als Geist beider ist er »eine Art gleichwesentlicher Gemeinschaft des Vaters und Sohnes« 157. Da es in der Schrift heißt »Gott ist die Liebe« 158, wie es auch heißt »Gott ist Geist« 159, stellt sich nach Augustinus die Frage, »ob Gott Vater die Liebe ist oder Gott Sohn oder Gott der Heilige Geist oder Gott die Dreieinheit« 160. Zunächst einmal ist, was diese Frage angeht, nicht einzusehen, »warum nicht, wie der Vater Weisheit heißt, auch der Sohn und der Heilige Geist Weisheit heißen, und alle zugleich nicht drei Weisheiten, sondern eine, wie auch die Liebe heißen sollte der Vater, der Sohn und der Heilige Geist und alle zugleich eine Liebe. So ist ja auch der Vater Gott, ist der Sohn Gott und ist der Heilige Geist Gott.« 161 Aber Augustinus gibt sich mit dieser Antwort, die Liebe komme wie die Weisheit allen drei göttlichen Personen und der Gottheit insgesamt zu, nicht zufrieden, weshalb er sogleich hinzufügt: »Und dennoch ist es nicht vergeblich, dass in dieser Dreieinheit Wort Gottes allein der Sohn, Geschenk Gottes allein der Heilige Geist, und der, von dem das Wort gezeugt und von dem der Heilige Geist ursprünglich hervorgeht, allein Gott Vater heißt. […] Von hier nämlich ist es begründet, dass im eigentlichen Sinn das Wort Gottes auch Weisheit Gottes heißt, da doch auch der Vater und der Heilige Geist Weisheit ist. Wenn also eine von den drei 155 156 157 158 159 160 161

Vgl. DT XV,16,26–38,51, 322–369. DT XV,16,26, 323. DT XV,27,50, 363. 1 Joh 4,8.16. Joh 4,24. DT XV,16,26, 323. DT XV,16,26, 325.

144 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Heilige Geist

Personen in eigentlicher Weise Liebe zu nennen ist, was wäre da passender als den Heiligen Geist so zu heißen? In der Weise freilich, dass in jener einfachen und höchsten Natur […] die Substanz selbst die Liebe ist und die Liebe selbst die Substanz, sei es im Vater, sei es im Sohn, sei es im Heiligen Geist, und dass dennoch in eigentlicher Weise der Heilige Geist Liebe genannt wird.« 162

Neben Bezeichnungen, die nur einer einzigen göttlichen Person zukommen, so wie etwa die Bezeichnung »Wort« nur dem Sohn zukommt, gibt es somit nach Augustinus Bezeichnungen, die in eigentlicher Weise oder im spezifischen Sinn nur einer Person zugesprochen werden, im substantiellen oder umfassenden Sinn aber auf alle drei Personen sowie der Gottheit im ganzen angewandt werden. 163 Dazu gehören die Bezeichnungen »Weisheit« und »Liebe«. »Wie wir also«, so führt Augustinus aus, »das einzige Wort Gottes in eigentlicher Weise mit dem Namen Weisheit benennen, während in einem umfassenden Sinn Weisheit sowohl der Heilige Geist als auch der Vater selbst ist, so wird auch mit dem Wort Liebe der Heilige Geist im spezifischen Sinn bezeichnet, während in umfassender Weise sowohl der Vater als auch der Sohn Liebe ist.« 164 Wie der Sohn die Weisheit im eigentlichen Sinn ist, ist der Heilige Geist im eigentlichen Sinn die Liebe. Wenn es demnach im ersten Johannesbrief (1 Joh 4,16) heißt: »Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm«, dann ist laut Augustinus damit der Heilige Geist gemeint. »Gott der Heilige Geist also, der von Gott hervorgeht, entzündet den Menschen, wenn er ihm gegeben wird, zur Liebe Gottes und des Nächsten, und er ist selbst die Liebe. Nicht kann nämlich der Mensch Gott lieben, es sei denn aus Gott.« 165 »Die Liebe also«, so fasst Augustinus noch einmal zusammen, »die aus Gott ist und Gott ist, ist in eigentlicher Weise der Heilige Geist, durch den die Liebe Gottes in unseren Herzen ausgegossen ist, durch welche die ganze Dreieinheit in uns wohnt.« 166 In der Dreieinheit Gottes ist nur der Vater (Pater) nicht von einem anderen. 167 Er ist schlechthin ungezeugt. Er allein ist »in der DT XV,17,29, 327. Erstere werden dann in der Tradition Proprietäten genannt, letztere Appropriationen (siehe dazu Kap. 6.6.2 und Kap. 7.8.2). 164 DT XV,17,31, 329. 165 DT XV,17,31, 331. 166 DT XV,18,32, 333. 167 Vgl. DT XV,26,47, 355 f. 162 163

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Der Dreieine als Urbild des Menschen

Weise Gott, dass er nicht aus Gott ist« 168. Der Vater zeugt den Sohn, indem er gleichsam sich selbst ausspricht, »sein ihm in allem gleiches Wort« 169. Der Sohn (Filius) ist mithin vom Vater gezeugt oder geboren. Er ist »Gott von Gott, Licht vom Licht, Weisheit von Weisheit, Wesen von Wesen« 170. Der Heilige Geist (Spiritus Sanctus) geht »ursprünglich« vom Vater hervor. 171 Aber weil es der Vater dem Sohn verleiht 172 und weil es der Sohn vom Vater empfängt 173, geht der Heilige Geist auch vom Sohn hervor. So geht er von beiden gemeinsam und zugleich hervor und hat sein Gottsein von beiden. Von der Zeugung (generatio) des Sohnes, an der nur der Vater beteiligt ist, ist deshalb der Hervorgang (processio) bzw. die Hauchung des Geistes zu unterscheiden, an der beide anderen Personen beteiligt sind. 174 Zeugung und Hauchung sind dabei als zeitlose, ewige Vorgänge zu verstehen. 175 Für Augustinus ist der Heilige Geist vor allem das Geschenk (donum). 176 Er ist das Geschenk Gottes an uns und wird »im eigentlichen Sinn Geschenk genannt allein wegen der Liebe« 177. Er ist Gottes Geschenk der Liebe an uns, jener Liebe, die letztlich allein zu Gott führt. Der Ausdruck »Geschenk« kommt nach Augustinus nur dem Heiligen Geist zu 178 und bezeichnet darum eine echte Eigentümlichkeit desselben, so wie der Ausdruck »Vater« eine echte Eigentümlichkeit der ersten göttlichen Person und die Ausdrücke »Sohn«, »Wort«, und »Bild« echte Eigentümlichkeiten der zweiten göttlichen Person bezeichnen. Von diesen Ausdrücken unterscheiden sich die Bezeichnungen, die im umfassenden Sinn jeder einzelnen der drei Personen DT XV,17,31, 329. DT XV,14,23, 313. 170 DT XV,14,23, 313. 171 DT XV,17,29, 325 f.; 26,47, 357. 172 Vgl. DT XV,26,47, 355; 27,48,359. 173 Vgl. DT XV,27,48, 357. 174 Vgl. DT XV,27,48, 357; vgl. 26,45, 349. Der Ausdruck »Hauchung« geht auf das Johannesevangelium (Joh 20,22) zurück, in dem es vom auferstandenen Jesus Christus, der seinen Jüngern hinter verschlossenen Türen begegnet, heißt: »Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist!« 175 Vgl. DT XV,26,47, 353 f. 176 Z. B. DT VIII, Vorbemerkung 1, 3; XV,16,26, 323; 17,29, 325 f.; 18,32, 331 f. 177 DT XV,1832, 331. 178 Vgl. DT VIII, Vorbemerkung 1, 3. 168 169

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Der Heilige Geist

wie der Dreieinheit im ganzen zugesprochen werden, im eigentlichen, spezifischen Sinne jedoch nur einer einzigen Person, wie die »Weisheit« dem Sohn und die »Liebe« oder auch der »Geist« dem Heiligen Geist. Die von Augustinus nach dem Vorbild vieler Sachbezeichnungen 179 getroffene Unterscheidung zwischen dem umfassenden Sinn und dem eigentlichen, spezifischen Sinn einer Bezeichnung wirft nun noch einmal neues Licht auf den Bildcharakter des menschlichen Geistes. Die Bezeichnungen »Erinnerung«, »Einsicht« und »Wille« für die innere Dreieinheit des Geistes werden im umfassenden Sinn, wie Augustinus deutlich hervorhebt, von allen drei göttlichen Personen gleichermaßen ausgesagt. 180 Dasselbe gilt aber auch umgekehrt von den drei menschlichen Kräften der Erinnerung, der Einsicht und des Willens. In jedem einzelnen Element von ihnen findet sich noch einmal der dreifache Selbstbezug von Sich-Erinnern, Einsehen und Wollen oder Lieben. Denn in unserer Erinnerung ist immer auch Einsicht und Liebe, in unserer Einsicht immer auch Erinnerung und Liebe, und in unserer Liebe immer auch schon Erinnerung und Einsicht. 181 Die Unterscheidung erlaubt es nunmehr aber vor allem, im eigentlichen, spezifischen Sinn die »Erinnerung« dem Vater, die »Einsicht« dem Sohn und die »Liebe« bzw. den »Willen« dem Heiligen Geist zuzuordnen. Die Erinnerung (memoria) hat, wie Augustinus sagt, eine gewisse »Ähnlichkeit mit dem Vater«, die Einsicht (intelligentia) eine gewisse »Ähnlichkeit mit dem Sohn« und die Liebe (amor) eine gewisse »Ähnlichkeit mit dem Heiligen Geist«. 182 Mit »Erinnerung« meint Augustinus dabei auf der Ebene der inneren Dreieinheit des menschlichen Geistes das ursprüngliche unwandelbare Wissen des Geistes um sich selbst, auf der Ebene der äußeren Dreieinheit das gesamte sich stets verändernde Wissen. Wie in Gott aus dem Vater der Sohn als Weisheit aus der Weisheit und als Wissen aus dem Wissen gezeugt wird und wie aus dem Vater und dem Sohn der heilige Geist als Gemeinschaft der beiden hervorgeht, so wird bei der inneren Dreieinheit aus der Erinnerung die Kenntnis (notitita) oder die Einsicht (intelligentia) als Wissen aus Wissen gezeugt und 179 180 181 182

Vgl. DT XV,17,30, 327. Vgl. DT XV,17,28, 325. Vgl. DT XV,21,41, 337 f. DT XV,23,43, 341 f.; vgl. 21,41, 337.

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Der Dreieine als Urbild des Menschen

geht aus der Erinnerung und der Einsicht der Wille oder die Liebe als das, was die beiden eint, hervor. Auch bei der äußeren Dreieinheit des menschlichen Geistes von Erinnerung, Denken und Willen zeigen sich die beiden unterschiedlichen Entstehungen, die der Zeugung und der Hauchung in Gott entsprechen. So formen wir durch unser Denken mit dem inneren Wort »ein ganz ähnliches Bild jener Erkenntnis, die«, wie Augustinus sagt, »die Erinnerung enthielt, wobei diese beiden wie Erzeuger und Sprössling nämlich der Wille oder die Liebe als Drittes vereint« 183. »Dass der Wille selbst freilich aus der Erkenntnis hervorgeht (niemand nämlich will, wovon er gänzlich nicht weiß, was oder wie es beschaffen es ist) – und dass dadurch in diesem intelligiblen Gegenstand irgendein Unterschied zwischen Geburt und Hervorgang nahegelegt wird, weil ja im Denken etwas zu schauen nicht das gleiche ist wie es mit dem Willen zu erstreben oder auch mit dem Willen zu genießen: das erkennt und kennt auseinander, wer es vermag.« 184

Aber auch angesichts dieser weitergehenden Ähnlichkeit des menschlichen Geistes mit der göttlichen Trinität betont Augustinus die Unähnlichkeit des Bildes. Die Hervorgänge in der äußeren Dreieinheit sind zeitlich, die in Gott zeitlos. Die Elemente der äußeren Dreiheit sind meist ungleich. So ist in dem einen Menschen die Erinnerung größer als die Einsicht, »in dem anderen umgekehrt; in einem anderen wiederum werden diese beiden durch die Größe der Liebe übertroffen, mögen sie selbst gleich sein oder nicht« 185. In Gott hingegen sind Vater, Sohn und Geist vollkommen gleichrangig. Am schwersten wiegt aber der strukturelle Unterschied, dass die menschliche Person in ihrem Geist eine Dreieinheit hat, Gott aber in drei Personen diese Dreieinheit ist. 186 Das menschliche Ich besitzt die drei Vermögen der Erinnerung, der Einsicht und des Willens und gebraucht sie, weshalb es sich von ihnen unterscheidet. Ich erinnere mich mithilfe meiner Erinnerung, ich erkenne mittels meiner Einsicht und ich will oder liebe mit meinem Willen. Ich vollziehe mit meinen Vermögen Akte, nicht meine Vermögen vollziehen Akte. Deshalb bin ich nicht einfach identisch mit diesen drei Fähigkeiten und gehe nicht in ihnen auf.

183 184 185 186

DT XV,27,50, 363. DT XV,27,50, 363. DT XV,23,43, 343. Vgl. DT XV,22,42, 339 f.

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Reflexion: Stringenz und Aktualität von Augustinus’ Trinitätslehre

Gott hingegen ist nichts anderes als die Dreieinheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Aus diesen und anderen Gründen bekennt Augustinus gegen Ende des XV. Buches, der Aufgabe einer rationalen Durchdringung der göttlichen Dreifaltigkeit wohl nicht gerecht geworden zu sein, indem er auf ihre Unsagbarkeit und Transzendenz mit den Worten hinweist: »Aber inmitten all des vielen, das ich nun schon gesagt habe, wage ich zu gestehen, dass ich nichts der Unaussprechlichkeit jener höchsten Dreieinheit Würdiges gesagt habe, vielmehr ist, das wage ich mehr noch zu bekennen, ihr wunderbares Wissen über mich hinausgewachsen, und nicht vermag ich zu ihr hin.« 187

5.8 Reflexion: Stringenz und Aktualität von Augustinus’ Trinitätslehre In seinem Werk »De Trinitate« geht Augustinus methodisch in vier Schritten vor. 1. Er begründet biblisch das Trinitätsdogma, wie es insbesondere beim Konzil von Nizäa (325) artikuliert wurde (Bücher I–IV). 2. Er durchdringt das Trinitätsdogma philosophisch, indem er als Strukturmomente der göttlichen Dreifaltigkeit a) die Substanzidentität, b) die gegenseitige Bezogenheit (Relationalität) und damit die Verschiedenheit und c) die Gleichrangigkeit der drei göttlichen Personen feststellt (Bücher V–VII). Dabei wertet er die Kategorie der Relation gegenüber der Kategorienlehre des Aristoteles metaphysisch stark auf. 3. Er sucht beim Menschen nach einer Dreieinheit, die Bild der göttlichen Trinität und dieser ähnlich sein könnte, und macht in drei verschiedenen Versionen beim menschlichen Geist eine solche Dreieinheit aus (Bücher VIII–XIV). 4. Schließlich sucht er rein philosophisch d. h. nur mit dem Verstand (ratio) 188 die Ähnlichkeit der Dreieinheit des menschlichen Geistes mit der Dreieinigkeit Gottes aufzuweisen. Augustinus’ Vorgehen ist insofern zirkulär, als er zunächst von der göttlichen Trinität her die Trinität des menschlichen Geistes be187 188

DT XV,27,50, 361. DT XV,1,1 249; 17,49, 359.

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Der Dreieine als Urbild des Menschen

stimmt, dann aber (in Buch XV) vom dreifachen Selbstbezug des menschlichen Geistes auf den dreifachen Selbstbezug Gottes schließt, also nicht mehr vom Urbild aus das Abbild, sondern umgekehrt vom Abbild aus das Urbild bestimmt. 189 Aber einerseits geht es Augustinus in Buch XV nicht primär darum, vom Abbild aus völlig Neues am Urbild zu erschließen, sondern philosophisch die Ähnlichkeit des Abbildes mit dem bereits bekannten Urbild nachzuweisen. Andererseits ist es im Sinne eines hermeneutischen Zirkels methodisch durchaus legitim, wenn Augustinus zunächst einmal von der Dreieinigkeit Gottes her die Dreieinigkeit des menschlichen Geistes zu erkennen sucht, dann aber umgekehrt noch einmal von der dreieinen Struktur

189 Im 20. Jahrhundert wurde die Trinitätslehre des Augustinus aus unterschiedlichen Gründen von maßgeblichen Theologen wie Karl Barth, Karl Rahner, Hans Urs von Balthasar, Jürgen Moltmann und Wolfhart Pannenberg kritisiert (siehe dazu Kany 2007, 369–392). Karl Barth verwirft Augustinus’ Lehre von den vestigia Trinitatis (Spuren der Trinität), weil sie ohne Rücksicht auf die biblische Offenbarung Analogien der Trinität in der geschöpflichen Wirklichkeit voraussetze. Für Karl Rahner überspringt die psychologische Trinitätslehre des Augustinus die heilsökonomische Erfahrung der Trinität zugunsten einer Spekulation darüber, wie es im Inneren Gottes zugehe, und verdoppelt die Trinität in eine immanente und eine heilsökonomische, während doch die heilsökonomische die immanente sei (siehe dazu Kap. 6.6.2). Für Hans Urs von Balthasar kann die einsame Seelenstruktur des menschlichen Geistes nicht das höchste Abbild des lebendigen Liebesaustausches im ewigen Gott sein. Die drei Seelenkräfte seien nicht die menschliche Seele selbst, wohingegen die drei göttlichen Personen die Trinität sind. Nach Jürgen Moltmann gelangt selbst das relationale Verständnis der Person bei Augustinus nur wenig über ein vom Substanzbegriff beherrschtes Personverständnis hinaus. Das Modell des Augustinus bleibe letztlich modalistisch und fasse die Relationen als Selbstverhältnisse des einen, substanzhaften Gottes. Demgegenüber gehe es in Gott um eine Liebes- und Leidensgeschichte von drei verschiedenen Subjekten, zwischen denen nicht Einheit, sondern Einigkeit bestehe. Auch nach Wolfhart Pannenberg hat die westliche Tradition seit Augustinus Gott zu sehr als einzelnes Subjekt verstanden. Augustinus habe die Gegenseitigkeit der personalen Beziehungen in Gott zu einem identischen Besitz eines einfachen göttlichen Wesens verflacht. Dagegen müsse das Wesen Gottes so begriffen werden, dass die Kategorie der Relation nicht äußerlich ist. Gegen Barth macht Kany geltend, der Kerngedanke des Werkes »De Trinitate« von Augustinus liege »gerade nicht in einem der menschlichen Psyche abgeschauten Bild vom Inneren Gottes, sondern in der Einsicht, dass Gott und das Selbst des menschlichen Selbstbewusstseins keine Gegenstände sind« (Kany 2007, 390). Auch die Kritik der anderen genannten Theologen ist Kany zufolge nicht berechtigt, da das, was bemängelt werde, bei Augustinus in »De Trinitate« durchaus vorhanden sei oder von Augustinus bedacht worden sei (vgl. Kany 2007, 390–392). Zur Beurteilung der Trinitätskonzeption des Augustinus siehe auch Gisbert Greshake: Der Dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie (4., durchgesehene und erweiterte Auflage), Freiburg i. Br. 2001, 95–100.

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Reflexion: Stringenz und Aktualität von Augustinus’ Trinitätslehre

des menschlichen Geistes aus die trinitarische Struktur Gottes besser verstehen will. Die zentrale Frage lautet daher: Inwieweit taugt die Struktur des menschlichen Geistes als Bild der Struktur der göttlichen Trinität? Hier ergeben sich hauptsächlich zwei Schwierigkeiten. Zum einen ist in der Dreiheit mens/memoria (Geist/Erinnerung) – notitia/intelligentia/cogitatio (Kenntnis/Einsicht/Denken) – amor/voluntas (Liebe/Wille) das Element memoria besonders erklärungsbedürftig, weil Augustinus den Begriff der memoria gegenüber seiner gewöhnlichen Verwendung sehr stark umdeutet, und zwar so, dass er von vornherein zur ersten göttlichen Person passt. Die memoria ist demzufolge kein Bildelement, das bereits bekannt ist und mit dem dann unter Umständen die erste göttliche Person oder etwas von ihr verständlich gemacht werden könnte, sondern muss selbst erst verständlich gemacht werden. Zum anderen ist die Bestimmung des menschlichen Geistes als Dreieinheit von Erinnerung, Erkenntnis und Willen keineswegs mehr selbstverständlich. So vertraten etwa im 20. Jahrhundert Gilbert Ryle oder Edmund Husserl ganz andere Auffassungen vom menschlichen Geist. Trotz dieser Schwierigkeiten lässt sich auch heute noch Augustinus’ Grundintuition, wir Menschen könnten geistig mehr Bild des dreieinen Gottes werden, verstehen. Indem wir uns in Liebe Gott, dem Nächsten und uns selbst zuwenden, können unsere verschiedenen geistigen Kräfte, die unter Umständen auseinanderstreben, mehr in Einklang miteinander kommen, so dass wir geistig mehr eins mit uns selbst werden. Unser Denken und Wollen kann sich unserem ursprünglichen Selbstbesitz mehr angleichen, kann ihm mehr entsprechen. So werden wir geistig mehr bei uns selbst sein und das Bei-sichSein Gottes klarer widerspiegeln. Auch dürfte es heutigen Lesern leicht fallen, die inkarnatorische Struktur des menschlichen Geistes, die Augustinus anhand des inneren wahren Wortes aufzuweisen suchte, existentiell nachzuvollziehen. Zwar ist die damit verbundene Bedeutungstheorie, derzufolge es ein inneres Wort oder Bild vom Gegenstand gibt, das dem äußeren Wort vorausgeht, insbesondere seit Wittgensteins diesbezüglicher Kritik in den »Philosophischen Untersuchungen« alles andere als unumstritten. Doch verlagert man die Theorie vom inneren Wort auf eine abstraktere Ebene, so scheint das, was Augustinus damit zu sagen beabsichtigte, durchaus nachvollziehbar. Es gibt in uns eine geistige Innenseite. In ihr entstehen Ideen, 151 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Dreieine als Urbild des Menschen

Pläne, Projekte, »Visionen« u. Ä. m. Um wirksam werden zu können, müssen sie sich »inkarnieren«, d. h. müssen wir sie in irgendeiner Weise körperlich mitteilen und äußern. Wir müssen sie vom inneren geistigen Bereich in den äußeren materiellen Bereich über-setzen und sie dort umsetzen, indem wir sie selbst zu konkreter materieller Wirklichkeit werden lassen. Diese Form von Inkarnation unserer geistigen Wirklichkeit in der körperlichen Außenwelt lässt sich dann durchaus als Bild der Inkarnation des Gottessohnes und seiner geistigen Wirklichkeit in dieser Welt auffassen. Dabei geht die geistige Idee dem Werk immer voraus und kann auch ohne Werk bleiben, wie die göttliche Existenz des Sohnes der Fleisch- und Menschwerdung vorausging und in völliger Freiheit vollzogen wurde, d. h. sich auch nicht hätte ereignen können.

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6. Der Dreieine als Liebe »De Trinitate« von Richard von St. Viktor

6.1 Anliegen und Aufbau des Werkes »Die Dreieinigkeit« 1 (De Trinitate) ist das Hauptwerk von Richard von Sankt Viktor (gest. 1173), und vermutlich ein Alterswerk. 2 Richard steht in der großen Tradition von Augustinus (354–430), Gregor dem Großen (590–604), Anselm von Canterbury (1033–1109) und Hugo von Sankt Viktor (1097–1141). Aber er ist sich dessen bewusst, mit seinem Trinitätstraktat bei der Durchdringung des Mysteriums mit der Vernunft neue Wege zu beschreiten. Wie bei Anselm und zuvor schon bei Augustinus geht es um die fides quaerens intellectum – um den Glauben, der nach Einsicht sucht. 3 Im Prolog seines Werkes fordert uns Richard auf, »vom Glauben zur Erkenntnis [zu] eilen: uns an[zu]strengen, soviel wir können, um auch zu verstehen, was wir glauben« 4. Und er fügt später ganz in diesem Sinne hinzu: »Es soll uns also nicht genügen, Wahres von den ewigen Dingen zu glauben, da sich die Möglichkeit andeutet, sich durch das Zeugnis der Vernunft Richard von Sankt-Victor: Die Dreieinigkeit. Übertragung und Anmerkungen von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 1980 (2. Auflage 2002) [= DD]. Der lateinische Text ist u. a. zu finden in Richard de Saint-Victor: De Trinitate. Texte critique avec introduction, notes et tables, publié par Jean Ribaillier, Paris 1958. 2 Vgl. DD (Einleitung) 15. 3 Vgl. DD (Einleitung) 17. In Anselms Formel fides quaerens intellectum (Anselm von Canterbury: Proslogion. Anrede. Lateinisch/Deutsch. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Robert Theis, Stuttgart 2005 [= Proslogion], Prooemium/Vorrede, letzter Abschnitt, 9) spiegeln sich die mittelalterlichen Grundpositionen des credo, ut intelligam (ich glaube, um zu verstehen) sowie der intellectus fidei (Glaubenseinsicht) wider; wörtlich schreibt Anselm am Ende seines ersten Kapitels im »Proslogion«: Neque enim quaero intelligere ut credam, sed credo ut intelligam. Nam et hoc credo: quia »nisi credidero, non intelligam« (Ich suche ja auch nicht zu verstehen, um zu glauben, sondern glaube, um zu verstehen. Denn auch das glaube ich: Wenn ich nicht glaube, werde ich nicht verstehen) (Proslogion 21). 4 DD Prolog 26. 1

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Der Dreieine als Liebe

vom Geglaubten überzeugen zu lassen. Geben wir uns nicht zufrieden mit der Erfassung des Ewigen durch den nackten Glauben, suchen wir ein solche durch innere Einsicht […].« 5

Mithilfe unserer Vernunft sollen wir im Geist und in der Erkenntnis dorthin aufsteigen, wo wir leiblich noch nicht hin können: in den Himmel. Richard begreift demnach die geistige Anstrengung der Trinitätsspekulation als intellektuellen Aufstieg zu Gott. Seine Schrift ist in sechs Bücher eingeteilt, die jeweils fünfundzwanzig Kapitel umfassen. 6 Es hat inhaltlich einen klaren Aufbau: »das erste Buch handelt von der Existenz des einen Gottes, das zweite von seinen Attributen wie Ewigkeit, Unendlichkeit, Einfachheit. Mit dem dritten Buch beginnt die trinitarische Frage: Wahres Gutsein fordert eine Dreiheit von Personen in der Einheit der Substanz. Dass die Dreiheit sich mit der Einheit verträgt, zeigt das vierte Buch. Das fünfte handelt von den verschiedenen Hervorgängen in Gott, das sechste von den göttlichen Namen. Am Ende des fünftes Buches scheint Richard abzuschließen, das sechste wird wohl später hinzugefügt worden sein.« 7

Im ersten Buch – über die göttliche Substanz – erläutert Richard den Gegenstand und die Methode seines Werkes. 8 Gegenstand sind nicht jene Geheimnisse Gottes, die sich, wie die Menschwerdung bzw. das Menschsein Gottes und das Erlösungswerk Jesu Christi, in der Zeit abgespielt haben, sondern die Geheimnisse Gottes, die ewige Wirklichkeiten darstellen, wie die Substanz Gottes, seine (Wesens-)Eigenschaften und seine Dreieinigkeit. Für den Glauben an diese ewigen Wirklichkeiten sollen nicht nur wahrscheinliche, sondern notwendige Gründe beigebracht werden, »indem ihre Wahrheit aufgeschlüsselt und auseinandergefaltet wird« 9. Denn für Wirklichkeiten, die Seinsnotwendigkeit haben, muss es nach der Überzeugung Richards nicht nur wahrscheinliche, sondern notwendige Gründe geben, »auch wenn sie einstweilen unserer Vernunft noch verborgen bleiben« 10. Die Methode Richards besteht somit darin, für Glaubensüberzeugungen, die das notwendige ewige Sein Gottes betreffen, soweit möglich notwendige Vernunftgründe anzugeben. DD Prolog 29. Vgl. DD (Einleitung) 16. 7 DD (Einleitung) 16. 8 Vgl. DD I,III 35 [I = erstes Buch; III = drittes Kapitel; 35 = Seite 35]. 9 DD I,IV 35. 10 DD I,IV 36. 5 6

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Die Mehrheit der Personen (pluralitas personarum)

Im dritten Buch wendet sich Richard den trinitarischen Fragen zu. Nachdem er die göttliche Substanz, ihre Einheit und ihre (Wesens-)Eigenschaften behandelt hat, will er nun »erforschen, was von der Vielheit der göttlichen Personen und ihren Eigenschaften zu halten ist« 11. Im Einzelnen will er drei Fragen nachgehen: 1. »Gibt es in der wahren Gottheit, die einfach ist, eine wahre Vielheit, und erstreckt sich die Zahl der Personen, wie unser Glaube lehrt, bis auf drei?« 12 (III. Buch); 2. »Wie ist die Einheit der Substanz vereinbar mit der Mehrzahl der Personen?« 13 (IV. Buch); 3. Ist, wie der Glaube sagt, nur eine Person aus sich selbst, während die anderen ihren Ursprung nicht aus sich selber haben? (V. Buch). Es geht Richard wie schon Augustinus darum, den Glauben an die Dreieinigkeit Gottes mit Vernunftgründen zu stützen.

6.2 Die Mehrheit der Personen (pluralitas personarum) In Gott als dem höchsten Gut und schlechthin Vollkommenen findet sich die ganze Fülle der Gutheit und die Vollkommenheit. »Wo aber die Fülle der Güte ist, dort kann wahre und höchste Liebe nicht fehlen. Denn nichts ist besser, nichts vollkommener als die Liebe.« 14 Mit diesen Eingangsüberlegungen führt Richard zum »Kern« des Wesens Gottes hin, nämlich zur Liebe, um gleich anschließend die Struktur der Liebe zu erklären. »Von niemandem aber wird gesagt, er besitze die vollkommene Liebe, wenn er bloß sich selber privat als diesen Vereinzelten liebt. Es muss also die Liebe (amor) sich zum andern hin wenden, um selbstlose, eigentliche Liebe (caritas) zu sein.« 15 Liebe muss, um echte Liebe zu sein, einen anderen lieben. Damit die Liebe in Gott ihr Höchstmaß und ihre absolute Vollkommenheit erreichen kann, muss sie so sein, dass sie nicht größer und besser sein könnte. Das ist in Gott aber nur dann der Fall, wenn DD III,I 83. DD III,I 83. 13 DD III,I 83. 14 DD III,II 84. 15 DD III,II 84 f. Hans Urs von Balthasar weist an dieser Stelle darauf hin, dass Richard hier offensichtlich Gregor den Großen zitiert, ohne ihn zu nennen (DD III,II 85 Anmerkung 1). 11 12

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gemäß dem Wesen der Liebe eine göttliche Person eine andere Person lieben kann, die ihr an Würde gleichkommt. Einer göttlichen Person gleich würdig kann aber wiederum nur eine Person sein, die selber Gott ist. »Damit also in der waren Gottheit Raum sei für die Fülle der Liebe, darf eine göttliche Person des Mitseins einer andern gleich würdigen und deshalb gleichfalls göttlichen Person nicht ermangeln.« 16 Die Fülle des Gutseins, zu der notwendig die Liebe gehört, erfordert demnach eine Mehrheit von Personen. Aber auch die Fülle der Seligkeit erfordert eine solche Mehrheit. Denn auch in der höchsten Seligkeit darf die Liebe nicht fehlen. »Das eigentliche und unabdingbare Kennzeichen der Liebe aber ist, dass man von dem, den man sehr liebt, auch sehr geliebt werden will. So kann die Liebe nicht selig sein, wenn sie nicht gegenseitig ist.« 17 Deshalb gehört zur wahren und höchsten Seligkeit, nämlich der göttlichen, die Gegenseitigkeit der Liebe. »In der gegenseitigen Liebe aber muss notwendig Einer sein, der die Liebe hinschenkt, und Einer, der sie zurückschenkt.« 18 Die Liebe ist nur dann selig, wenn sich die Liebenden einander schenken und zurückschenken. Schließlich erfordert auch die Fülle der Herrlichkeit (Glorie) eine Mehrheit von Personen. Denn was ist herrlicher, »was großartiger als die Freigebigkeit, die alles, was man besitzt, [einem anderen] mitteilen will?« 19 Damit ist für Richard bewiesen, »dass in der höchsten, erhabensten Majestät gerade die Fülle der Herrlichkeit einen Mitteilhaber erfordert« 20. Es gibt demzufolge nichts Besseres, nichts Seligeres und nichts Herrlicheres als wahre, echte, höchste Liebe. 21 Da Liebe aber letztlich nicht selbstbezüglich sein kann, sondern sich auf einen anderen beziehen muss, kann es die höchste Liebe nicht ohne Vielheit der Personen in Gott geben. Die Vollendung einer göttlichen Person erfordert die Gemeinschaft einer anderen göttlichen Person. 22 Deshalb wollte die höchste geistige Person einen Mitgenossen ihrer Göttlichkeit nicht entbeh16 17 18 19 20 21 22

DD III,II 85 f. DD III,III 87. DD III,III 87. DD III,IV 88. DD III,IV 88 f. Vgl. DD III,V 89. Vgl. DD III,VI 90.

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Die Mehrheit der Personen (pluralitas personarum)

ren. Als ewige Person wollte sie eine gleich ewige Person haben. Um das Höchstmaß der Liebe zu erreichen, musste diese Person auch ein höchst Liebenswertes sein. »Das Gesetz der vollen gegenseitigen Liebe erfordert also, dass jeder vom andern voll geliebt werde und folglich […] auch jeder der vollen Liebe würdig sei.« 23 So muss jede Person »gleich vollkommen […], gleich mächtig, gleich weise, gleich gut und gleich selig sein« 24. Die Fülle der Liebe macht die völlig gleiche Vollkommenheit der sich gegenseitig Liebenden und in diesem Sinne die volle Gleichheit der Personen erforderlich. Die geliebte göttliche Person muss genauso vollkommen göttlich sein wie die liebende göttliche Person, genauso Gott wie sie. Die Gottheit, die nicht mehreren Substanzen gemeinsam sein kann, kann, wie sich hier zeigt, mehreren Personen gemeinsam sein. 25 Die beiden göttlichen Personen sind derart allmächtig, dass sie zusammen nur der eine Allmächtige sind, derart unermesslich, dass sie zusammen nur der eine Unermessliche sind, beide derart Gott, dass beide zusammen nur der eine Gott sind. So haben sie die eine und einzige göttliche Substanz gemeinsam oder sind beide diese eine Substanz. Da sie beide substantiell Eines sind, sind sie beide zusammen nur ein Allmächtiger, ein Ewiger, ein Unermesslicher, ein Gott. Für Richard besteht die Natur des Menschen aus zwei Substanzen: aus Leib und Seele. Der Mensch ist aber nur eine Person. Während in der Natur Gottes nur eine Substanz ist, aber mehrere Personen sind, ist in der Menschennatur nur eine Person in zwei Substanzen. »Hier wie dort Einheit, hier wie dort Vielheit. Dort Einheit der Substanz, hier Einheit der Person; dort Vielheit der Personen, hier dagegen Vielheit der Substanzen; dort Vielheit der Personen in Substanzeinheit, hier Vielheit der Substanzen in Personeinheit.« 26 Die Natur von Mensch und Gott spiegeln sich ineinander, indem jede der anderen im Gegensatz entspricht. Während jedoch in Gott eine Vielheit von metaphysisch völlig gleichen und gleichrangigen Personen gegeben ist, ist in der Substanzvielheit der menschlichen Person »die eine Substanz körperlich, die andere unkörperlich, die eine sichtbar, die andere unsichtbar, die

23 24 25 26

DD III,VII 91. DD III,VII 91. Vgl. DD III,VIII 91 f. DD III,IX 93.

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Der Dreieine als Liebe

eine sterblich, die andere unsterblich« 27. Wie die Personeinheit des Menschen in zwei Substanzen den menschlichen Verstand übersteigt, überragt die Substanzeinheit Gottes in mehreren Personen das menschliche Begreifen. Richard hat damit bereits dreierlei an der Trinität Gottes aufgewiesen: Es muss wegen der Vollkommenheit der göttlichen Liebe a) mindestens zwei göttliche Personen geben, die b) in Substanzeinheit existieren und c) vollkommen gleichrangig sind. Daraus ergibt sich auch schon die Nichtaddierbarkeit der göttlichen Personen. Eine einzelne göttliche Person ist nicht weniger göttliche Substanz als es zwei Personen sind oder die Gottheit als ganze ist.

6.3 Die Dreieinigkeit (Trinitas) der Personen Die höchste Liebe in Gott muss sowohl der Intensität als auch der Qualität nach allseitig vollkommen und unübertrefflich sein. In der gegenseitigen Liebe, auch in der brennendsten, ist zwar nichts seltener, aber »auch nichts großartiger als der Wille, dass der, den du zuhöchst liebst und der dich zuhöchst liebt, einen anderen [also eine dritte Person] eben sosehr liebe« 28. Die vollkommene Liebe zeigt sich demnach in dem Wunsch, die einem zuteilgewordene Liebe an einen Dritten weiterzuvermitteln. Ein Anzeichen großer Schwäche ist es hingegen, »keinen Mitgenossen der Liebe ertragen zu können« 29. Die vollkommene Liebe lässt einen (dritten) Mitgenossen der Liebe nicht nur zu, sondern heißt ihn willkommen, ja wünscht ihn sehnsüchtig herbei. Die Vollendung der Liebe erfordert deshalb einen Mitgenossen der beiden zuteilwerdenden Liebe. »Die Höchstliebenden und die Höchstgeliebten wollen also beide in gemeinsamem Wunsch einen Mitliebend-Mitgeliebten, den sie wunschgemäß in Eintracht gemeinsam besitzen.« 30 Insofern erfordert die Vollendung der Liebe in Gott die Dreifaltigkeit der Personen. Mithilfe von Vernunftgründen sucht Richard somit aus der Vollkommenheit der Liebe die Dreifaltigkeit Gottes herzuleiten. Die vollkommene Liebe kann sich nicht auf zwei Liebende beschränken. Sie 27 28 29 30

DD III,X 94. DD III,XI 95. DD III,XI 96. DD III,XI 96 f.

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Die Dreieinigkeit (Trinitas) der Personen

bedarf eines Mitgeliebten, eines Dritten. Der Ausdruck »Mitgeliebter« (condilectus) scheint von Richard zu stammen, dessen gedankliche Originalität hier ihren Höhepunkt erreicht. 31 Um die Freude, die die beiden Liebenden bei ihrem gegenseitigen Austausch der Liebe erleben, zu vervollkommnen, braucht es einen Dritten, der gerade das, was beide für sich erleben, von beiden mitgeteilt erhält. Denn beide wollen ihre Freude darüber, wie sehr sie von der anderen Person geliebt sind und wie sehr sie diese lieben, einem dritten Mitgeliebten mitteilen. Der Mitgeliebte ist für Richard dabei freilich auch ein Mitliebender, der die von beiden empfangene Freude und Liebe wiederum an beide weiterschenkt. Dadurch verliert die Liebe erst jedes am »Ich« haftenbleibende Moment. Die Einsicht, die vollkommene Liebe beschränke sich nicht auf die Zweisamkeit, sondern wolle sich einem Dritten mitteilen und gerade so durch den Dritten die höchste Freude erleben, entnimmt Richard dabei der menschlichen Erfahrung. Die menschliche Liebe zweier Liebenden, die sich auf Dauer nicht auf einen Dritten oder auf Dritte hin öffnet, bleibt oder wird letztendlich egoistisch. Seine vielen Überlegungen zum Erweis der Dreifaltigkeit rundet Richard noch durch einen Gedanken zur Mitliebe ab: »Bedenken wir einmal sorgsam Wert und Eigenschaften der Mitliebe, dann wird uns das Gesuchte rasch zufallen. Wenn einer einem andern Liebe schenkt, wenn ein Einsamer einen Einsamen liebt, dann ist zwar Liebe vorhanden, aber die Mitliebe fehlt. Wenn zwei sich gegenseitig gern haben, einander ihr Herz in hohem Sehnen schenken, und der Liebesstrom von diesem zu jenem, von jenem zu diesem fließt, und gegenläufig je auf Verschiedenes zielt, dann ist zwar auf beiden Seiten Liebe da, aber die Mitliebe fehlt. Von Mitliebe kann erst dann gesprochen werden, wo von zweien ein dritter einträchtig geliebt, in Gemeinsamkeit liebend umfangen wird und die Neigung der beiden in der Flamme der Liebe zum Dritten ununterschieden zusammenschlägt.« 32

Die innigste und höchste Mitliebe ist nichts anderes als der Zusammenfluss der innersten Großmut und der höchsten Eintracht. 33 Sie »würde in der Gottheit fehlen, wenn neben den zweien die dritte Person ausbliebe« 34.

31 32 33 34

Vgl. DD III,XI 97, Anmerkung 8. DD III,XIX 104. Vgl. DD III,XIX 105. DD III,XIX 104.

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Der Dreieine als Liebe

Die dritte Person ist für Richard das Band der Liebe. Dieses Band verbreitet die Gesinnung der Mitliebe und begründet die Mitliebesgemeinschaft durch alle hindurch und in allen. 35 Durch die trinitarische Mitbruderschaft der dritten Person verhindert die überall herrschende mitherzliche Liebe und mitgemeinschaftliche Neigung jedes Abgleiten in einsame Ausschließlichkeit. Wenn Richard hier immer wieder das »Mit« (con-) betont, steht er in der Tradition der westlichen Trinitätslehre, in der der Heilige Geist aus zwei Personen hervorgeht und als das Band der Gemeinschaft von Vater und Sohn erscheint. 36 Aufgrund der Vollkommenheit der Liebe sind die drei Personen in Gott völlig gleich was ihre Göttlichkeit angeht. »Ihre Weisheit ist gleich, ihre Macht ist dieselbe, ununterschieden ihre Herrlichkeit, gleichgestaltig ihr Güte, ewig ihre Seligkeit […].« 37 Den Dreien kommt eine einzige Gottheit zu, die gleiche Herrlichkeit und die gleich ewige Majestät. 38 »Keiner ist größer als der andere, keiner geringer, keiner ist vorher, keiner nachher. In der Dreifaltigkeit sind alle Personen mit-gleich und mit-ewig […].« 39 Allen ist das höchste und höchst einfache Sein gemeinsam, das dasselbe ist wie das höchste Leben und die höchste geistige Einsicht und die höchste Macht. 40 Wegen der Einfachheit des göttlichen Wesens herrscht dort kein Unterschied zwischen Weisheit und Macht, Macht und Wesen und so fort. So ist beispielsweise die Allmacht identisch mit dem göttlichen Wesen. »Ist es also allen Personen gemeinsam, Allmacht zu haben, ja zu sein – weil Sein und Haben in Gott ja zusammenfällt –, dann ist ihnen auch die eine und einzige Wesenheit gemeinsam. Denn diese kann, wie die Allmacht, nur eine sein. Und so ist nicht allein jede Person dasselbe wie das Ganze, sondern jede einzelne ist auch [was die Göttlichkeit betrifft] dasselbe wie jede andere.« 41 Vgl. DD III,XX 105. Vgl. DD III,XX 105, Anmerkung 11. 37 DD III,XXI 106. 38 Vgl. Symbolum Athanasianum. Das so genannte Athanasische Glaubensbekenntnis (lateinisch Symbolum Athanasianum) gehört zu den drei großen christlichen Glaubensbekenntnissen der westlichen Kirchen. Dort genießt es etwa seit dem 13. Jahrhundert ähnliches Ansehen wie das Apostolikum und das Nicäno-Konstantinopolitanum. 39 DD III,XXI 106. 40 Vgl. DD III,XXII 107 f. 41 DD III,XXII 107. 35 36

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Die Personen (personae)

Für Richard sind in der höchsten Dreifaltigkeit die Personen insofern gleich, »als das höchste und allereinfachste Sein in der gleichen Fülle und Vollkommenheit, in der es einer Person gehört, auch den beiden andern zukommt« 42. Die drei Personen in Gott sind folglich hinsichtlich ihres göttlichen Seins vollkommen gleich und sind eine einzige Wesenheit. Damit steht für Richard hinsichtlich der göttlichen Personen fest: a) in Gott muss es drei Personen geben; b) diese drei Personen sind eine Substanz oder ein Wesen; c) die drei Personen sind was ihre Göttlichkeit betrifft einander vollkommen gleich, sodass unter dieser Rücksicht jede einzelne Person das Ganze ist und dasselbe wie jede andere.

6.4 Die Personen (personae) Im IV. Buch über »Die Dreieinigkeit« wendet sich Richard dem Verhältnis zwischen den drei Personen und der einen Substanz Gottes sowie dem Wesen und der Definition der göttlichen Person zu. Zum Unterschied von Substanz (substantia) und Person (persona) stellt er fest: »Substanz bezeichnet nicht sosehr ein Wer als ein Was. Umgekehrt bezeichnet Person nicht sosehr ein Was als ein Wer. […] Auf die Frage ›was?‹ erfolgt als Antwort das gattungs- oder artbestimmende Wort, eine Definition oder etwas dergleichen. Auf die Frage ›wer?‹ aber antwortet man mit dem Eigennamen oder mit etwas, was ihm gleichkommt. ›Was‹ fragt nach gemeinsamer Eigenheit, ›wer‹ fragt nach einmaliger.« 43

Fragen wir »was?«, dann fragen wir nach etwas Allgemeinem, nach dem Wesen einer Substanz. Fragen wir dagegen »wer?«, so fragen wir nach etwas Einmaligem, nach der Identität einer Person. So könnte man etwa auf die Was-Frage antworten: das ist ein Mensch, ein vernunftbegabtes Lebewesen; und auf die Wer-Frage: das ist Sokrates. Reden wir demnach von drei Personen, so meinen wir drei »Wer«, und zwar drei verschiedene »Wer«. 44 Entsprechendes ist auch bei den göttlichen Personen anzunehmen. In der höchsten Dreifaltigkeit besitzen die drei verschiedenen 42 43 44

DD III, XXIII 108. DD IV,VII 120. Vgl. DD IV,VIII 121.

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Der Dreieine als Liebe

Personen jedoch nicht drei verschiedene Substanzen, sondern sind eine einzige Substanz. Wie beim einzelnen Menschen die beiden Substanzen des Leibes und der Seele nicht zweierlei Wer, nicht zwei Personen schaffen, sowenig erzeugt die Vielheit der Personen in Gott eine Vielheit des Was, eine Vielheit der Substanzen. Somit lässt sich nach Richard der Schluss ziehen: »wie die Vielheit der Substanzen dort [beim Menschen] die Personeinheit nicht zerteilt, so löst hier [bei Gott] die Personvielheit die Substanzeinheit nicht auf.« 45 Bei Gott ist nun zu fragen: Wie ist es denkbar, dass es ein Anderssein der Person ohne Anderssein der Substanz gibt? Dazu unterscheidet Richard zwei Gesichtspunkte bezüglich der Person: »wir müssen wissen, was für ein Sein die Person ist und woher sie ihr Sein hat. Das einemal wird nach der Seinsqualität der Sache gefragt, das anderemal nach ihrer Herkunft.« 46 Während beim ersten die Definition oder wenigstens die Beschreibung der Eigenschaften der Sache gefordert wird, muss beim zweiten die Abstammung, der Naturvorgang oder die Ursprungsbeziehung der Sache angegeben werden. »Dort geht es um die Weise des Seins, hier um die Weise des Werdens, dort um den Wesensgehalt, hier sozusagen um den Erwerbungsgehalt.« 47 Nach Richard kann man sich mit dem Ausdruck »Existenz« (existentia) oder »existieren« (existere bzw. ex-sistere) den beiden Betrachtungsweisen einer Person annähern: dem was etwas ist, also seiner Seinsqualität, und dem woher etwas ist, also seinem Ursprung. »Das Nomen Existenz«, so schreibt Richard, »leitet sich her vom Verb existieren. Dabei weist das Verb ›sistieren‹ auf die erste Betrachtungsweise [hin], die Präposition ›ex‹ auf die zweite.« 48 Das sistere steht demnach für die Seinsqualität, die Seinsweise oder das Was des personalen Seienden. Es bedeutet zunächst ganz allgemein »sein«. Von vornherein ist dabei aber jegliche akzidentelle Seinsweise, jedes Sein an einem anderen ausgeschlossen, wie es etwa körperlichen Eigenschaften wie Größe, Gewicht oder Hautfarbe an der körperlichen Substanz des Menschen eigen ist. Personsein ist nicht Sein an einem anderen, sondern Sein in sich selbst. Während dieses Sein jedoch beim Menschen als geschaffenem Wesen Tragegrund (subjectum) 45 46 47 48

DD IV,X 123. DD IV,XI 124. DD IV,XI 124. DD IV,XII 125.

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Die Personen (personae)

für anderes akzidentelles Sein ist, kann es bei Gott als ungeschaffenem, einfachem Wesen keinesfalls Tragegrund oder Träger von irgendwelchen ihm äußerlichen Eigenschaften sein. Das göttliche Personsein ist ein In-sich-Sein ohne jede Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidentien, Träger und Eigenschaften, Innerem und Äußerem. Wie Augustinus schließt Richard bei Gott akzidentelle Eigenschaften absolut aus. Ist aber nicht nur von »Sistieren«, sondern von »Ex-sistieren« die Rede, dann ist laut Richard »nicht nur das Haben von Sein, sondern auch das Woher-haben, von irgendwem her Erwerben mitgedacht. Die dem Verb hinzugefügte Präposition [ex] gibt das zu verstehen. Denn was heißt ex-sistieren anderes als Von-Einem-herSistieren«, d. h. »Von-Einem-her-Sein?« 49 Existieren bzw. Existenz bedeutet demnach für Richard Sein-von-anderem-her, Sein-ausdem-anderen. 50 Da die drei Personen in Gott ein und dieselbe Substanz sind und somit ein und dasselbe höchst einfache Sein besitzen, können sie sich nicht hinsichtlich ihres Was oder ihrer Seinsqualität unterscheiden. Das heißt aber, dass sich ihre Existenzen nicht hinsichtlich des sistere, sondern nur hinsichtlich des ex-, also hinsichtlich ihres Ursprungs, voneinander unterscheiden können. Die drei göttlichen Personen sind in ihrem Sein völlig identisch, aber in ihrem Ursprung verschieden. Sie können »gemäß dem Ursprungsverhältnis gegenseitig verschieden sein, wenn die eine aus sich selbst existiert, die beiden anderen vom ersten her sind, sich aber in der Weise der Daseinserwerbung unterscheiden« 51. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft besitzen die drei göttlichen Personen unterscheidende Eigentümlichkeiten oder eigentümliche Unterscheidungen. Sie haben daher einerseits eine gemeinsame Eigentümlichkeit, durch die sie sich von allen nichtgöttlichen Personen abheben, insofern ihnen in ihrem substantiellen Sein eine gemeinsame Existenz zu eigen ist. 52 Dabei ist ihnen nicht ein subDD IV,XII 126. Richards Existenzbegriff lässt sich streng genommen weder auf den dreifaltigen Gott noch auf den Vater anwenden, da sie kein Sein-von-anderem-her, sondern ganz ein Sein-aus-sich-selbst sind (vgl. DD IV,12, 125, Anmerkung 5). Daher ist Existenz bei ihm auch in einem weiteren Sinn zu verstehen: als Sein von her oder Sein aus, aber nicht unbedingt von anderem her oder aus anderem. 51 DD IV,XV 128 f. 52 Vgl. DD IV,XVI 129 f. 49 50

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Der Dreieine als Liebe

stantielles, sondern sogar ein übersubstantielles Sein gemeinsam, da dieses nicht aus Träger und Eigenschaften zusammengesetzt ist, sondern völlig unzusammengesetzt und einfach ist und darum die allgemeine Natur der Substanz überragt. Zudem gehört es zu ihrer gemeinsamen Eigentümlichkeit, ihr gemeinsames Sein oder ihre gemeinsame Existenz nur aus sich selbst und nicht von irgendeiner anderen Substanz zu haben. Zum gemeinsamen Sein der drei göttlichen Personen gehört demnach die Übersubstantialität, d. h. die völlige Einfachheit des Wesens, und die Aseität, das ganz Aus-sich-Sein, das sein Sein nicht von anderswoher empfangen hat. Andererseits haben die drei göttlichen Personen aber eben auch jeweils eine eigene unmitteilbare und unveräußerliche, d. h. individuelle Eigentümlichkeit, durch die sie sich voneinander unterscheiden. Infolge ihres verschiedenen Ursprungs besitzen sie nämlich eine je eigene Existenz. Jede Person hat eine persönliche Eigentümlichkeit bzw. Existenz, die deshalb unmitteilbar ist, weil sie das ist, »wodurch jeder der ist, der er ist, das, wodurch jeder von allen übrigen abgeschieden ist« 53. Von daher ist die göttliche Person in Gott nichts anderes als die unmitteilbare Existenz. Anders gesagt: Weil und insofern es in Gott bei Substanzidentität drei eigentümliche Existenzen gibt, gibt es in Gott drei verschiedene Personen. Auf dem Hintergrund seines Existenzbegriffes stellt Richard schließlich der bekannten Persondefinition des Boethius seine Definition der göttlichen Person gegenüber. Die Definition des Boethius lautete: Eine Person ist die ungeteilte Substanz einer vernünftigen Natur (rationalis naturae individua substantia). Richard kritisiert an dieser Definition, sie sei zu umfassend und treffe deshalb auch auf etwas zu, was man nicht Person nennen würde. Denn auch Gott in seiner ganzen Dreifaltigkeit stellt eine ungeteilte oder individuelle vernünftige Substanz dar, wird aber nach Richard nicht als eine Person bezeichnet und kann auch nicht so bezeichnet werden. 54 Richard präzisiert daher die Persondefinition: [divina persona est] naturae divinae incommunicabilis existentia (eine göttliche Person ist die unmitteilbare Existenz der göttlichen Natur) 55. In der göttlichen Natur DD IV,XVIII 131. Vgl. DD IV,XXI 138. 55 Vgl. DD IV,XXII 139. Zur Persondefinition des Richard siehe Gisbert Greshake: Der Dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie (4., durchgesehene und erweiterte Auflage), Freiburg i. Br. 2001,104–111; Thomas Ebneter: Exsistere: zur Persondefinition in der Trinitätslehre des Richard von St. Viktor († 1173), Fribourg 2005. 53 54

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Die Hervorgänge (processiones) und die Namen (nomina) der Personen

gibt es eine den drei Personen »gemeinsame und eine nur der Einzelperson zukommende und deshalb unmitteilbare Weise der Existenz« 56. Durch die Bezeichnung »unmitteilbar« ist bei den göttlichen Personen die gemeinsame Existenz ausgeschlossen. Ganz allgemein ist eine Person nach Richard durch drei Merkmale gekennzeichnet: a) sie existiert durch sich selbst, d. h. hat eine gewisse Eigenständigkeit; b) sie ist individuell, einmalig; c) sie besitzt Vernunft. Von daher lautet Richards allgemeine Definition von Person so: »Person ist ein durch sich selbst Existierender, nach einer bestimmten einmaligen Weise vernunfthafter Existenz.« 57 Für ihn sind Personen, wenn auch auf verschiedene Weise, die Menschen, die Engel und die drei göttlichen Personen. Mithilfe des Begriffes ex-sistere erklärt Richard sowohl das, was den drei göttlichen Personen gemeinsam ist, als auch das, worin sie sich voneinander unterscheiden. Das sistere (sein) steht für das allen drei gemeinsame, eine, göttliche, übersubstantielle, höchsteinfache Sein, das ein Sein allein aus sich selbst ist. Das ex (aus, von her) hingegen steht für den unterschiedlichen Ursprung oder die unterschiedliche Herkunft der drei Personen. Durch drei verschiedene Weisen des Exsistierens, des Seins-aus oder des Seins-von-anderem-her, gibt es in Gott drei verschiedene individuelle Personen.

6.5 Die Hervorgänge (processiones) und die Namen (nomina) der Personen Nachdem in Gott die Einheit der göttlichen Substanz, die Vielheit der Personen und der innige Zusammenhang zwischen Einheit und Vielheit feststehen, ist nunmehr nach den einzelnen unveräußerlichen Merkmalen oder Eigentümlichkeiten der Personen zu fragen. Dazu stellt Richard als erstes fest: »Offenkundig sind mehrere Personen um so verbundener, je enger ihre Verwandtschaft ist, und je verbundener sie sind, desto glücklicher sind sie auch.« 58 Deshalb darf auch bei den göttlichen Personen das Verwandtsein nicht fehlen. Hätte jedoch jede Person ihr Sein aus sich selbst, so gäbe es keine Verwandtschaft zwischen ihnen. 56 57 58

DD IV,XXII, 140. DD IV,XXIV, 141. DD V,II, 148.

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Der Dreieine als Liebe

Freilich muss es mindestens eine göttliche Person geben, die wie die göttliche Substanz als ganze »aus sich selbst und nicht von einer anderen her ist« 59. Andernfalls hätten wir es mit einem unendlichen Regress zu tun, bei dem eine göttliche Person von einer anderen, diese wieder von einer anderen wäre und so ins Unendliche fort, sodass es keinen Ursprung der Reihe gäbe. Gäbe es aber keinen Ursprung, dann gäbe es auch die ganze Reihe nicht. Folglich muss es eine Person geben, die aus sich selbst existiert und nirgendwo anders her ihren Ursprung bezieht. Diese Person kann aber auch nur eine einzige sein. Denn hat sie ihr Sein aus sich, hat sie auch die Macht in ursprünglicher Fülle aus sich. 60 Ihre Macht ist dann aber auch Allmacht, darum ist alle Macht aus ihr, desgleichen alles Sein und alle Existenz. Besäßen zwei göttliche Personen die ursprüngliche Allmacht, wären sie eben nicht allmächtig, sondern wäre jeweils die ursprüngliche Allmacht der einen Person durch die Allmacht der anderen Person eingeschränkt. Die eine ursprünglich allmächtige Person ist demzufolge als einzige ursprungslos, während alle übrigen Personen, sei es unter den Menschen, unter den Engeln oder in Gott, aus ihr stammen. Sie ist von daher sicher eine unveräußerliche und unmitteilbare, d. h. einmalige Existenz. Das bedeutet jedoch für die anderen göttlichen Personen, zwar ewig, aber nicht aus sich zu sein. Gibt es mehrere göttliche Personen, so ist auch sicher, dass der allerursprünglichsten Person oder Existenz »eine andere auf unmittelbare Weise entstammen muss; denn sonst würde jene einsam verharren« 61. Die zweite Person ist also von der ersten unmittelbar verursacht. So haben wir: Person aus Person; Existenz aus Existenz; Einen aus einem Einzigen; Einen, der hervorgehen kann, aus Einem, der nicht hervorgehen kann; Einen, der gezeugt oder geboren werden kann, aus Einem, der nicht gezeugt oder geboren werden kann. 62 Dabei ist dieser Hervorgang (processio) der zweiten Person aus der ersten als ihrem Grund und ihrer Ursache wie alle weiteren etwaigen Hervorgänge in Gott nicht zeitlich, sondern ausschließlich der Ordnung oder der Natur nach, d. h. zeitlos zu verstehen. Da die dritte Person der Dreifaltigkeit, so folgert Richard weiter, 59 60 61 62

DD V,III, 149. Vgl. DD V,IV, 150–152. DD V,VII, 155. Vgl. DD,V,VII, 156.

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Die Hervorgänge (processiones) und die Namen (nomina) der Personen

»nicht aus sich selbst ihren Ursprung zieht, muss sie entweder von einer der beiden andern, oder von beiden zusammen ausgehen« 63. Um der ersten Person mitwürdig zu sein, musste die zweite vom Allmächtigen auch die Allmacht erhalten, »um gleich allmächtig, ja mehr: die gleiche Allmacht zu sein« 64. Ist aber den beiden die Allmacht gemeinsam – auch die Allmacht, in gewissem Sinn Ursprung zu sein und eine weitere göttliche Person aus sich hervorgehen zu lassen –, »dann folgt, dass die dritte Person der Dreifaltigkeit von beiden das Sein und die Existenz erhält« 65. Wie die Vollkommenheit der ersten Person die Ursache der zweiten Person ist, so ist die Vollkommenheit der beiden die Ursache der dritten Person der Dreifaltigkeit. »Denn wie die Vollkommenheit des Einen einen Mit-Würdigen verlangt, so fordert die Vollkommenheit der beiden einen Mit-Geliebten.« 66 Im Unterschied zum unmittelbaren Hervorgang der zweiten Person aus der ersten erweist sich der Hervorgang der dritten Person aus den beiden anderen als sowohl unmittelbar wie mittelbar. Die dritte Person geht aus der ersten sowohl unmittelbar als auch – durch Vermittlung der zweiten Person – mittelbar hervor. 67 Dennoch ist die dritte Person in unmittelbarer Verwandtschaft beiden anderen Personen verbunden, da sie die beiden anderen unmittelbar schauend erkennt und erkennend schaut. »Die göttlichen Personen betrachten einander alle gegenseitig und unmittelbar, eine wirft den Strahl des höchsten Lichtes auf die andere und empfängt ihn von der andern her. Und weil sie unmittelbar schauen, sind sie auch unmittelbar beieinander.« 68 Durch die Unmittelbarkeit der drei Personen zueinander schließt sich für Richard der Kreis in Gott. Unter der Voraussetzung, von einer Person könne jeweils nur eine einzige Person unmittelbar hervorgehen 69, schließt Richard eine vierte Person aus, weil sich sonst der zweite, sowohl unmittelbare wie mittelbare Hervorgang im Prinzip ins Unendliche wiederholen ließe. Durch Vermittlung der dritten Person würde aus der ersten eine vierte Person hervorgehen, durch DD V,VIII, 157. DD V,VIII, 157. 65 DD V,VIII, 157. 66 DD V,VIII, 158. 67 Richard spricht deshalb auch von einer »unmittelbaren und mittelbaren Verwandtschaft« der dritten mit der ersten, ungeborenen Person (vgl. DD V,IX, 159). 68 DD V,IX, 160. 69 Vgl. DD V,X, 162. 63 64

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Der Dreieine als Liebe

Vermittlung dieser eine fünfte etc. Doch die Hervorgänge wären im Prinzip alle dieselben. 70 Nach Richard entsprechen den drei im Prinzip möglichen Arten des innergöttlichen Hervorgangs die drei unveräußerlichen einmaligen göttlichen Personen. »Die erste Person hat das Sein von keiner andern her, die zweite von einer allein her, die dritte von beiden her.« 71 Damit die Zahl der göttlichen Personen nicht ins Unendliche fortschreitet, muss es, so wie es eine Person geben muss, die nur aus sich selber entspringt, eine geben, aus der keine weitere hervorgeht. Es muss, wie Richard sagt, »in Gott Einer sein, der ursprungslos Ursprung von Existenz ist, und umgekehrt Einer, der seine Existenz vom andern empfängt und nicht selber zum Ursprung wird« 72. Somit sind die drei individuellen Eigentümlichkeiten der göttlichen Personen gefunden: die der ersten: nicht hervorgehen, aber hervorbringen; die der zweiten: hervorgehen und hervorbringen; die der dritten: hervorgehen und nicht hervorbringen. 73 Die Unterscheidung der Eigentümlichkeiten wird demnach durch zweierlei bestimmt: »durch Geben und Empfangen. Das Eigene der einen Person besteht im Geben allein, das der andern im Empfangen allein, das der dazwischen vermittelnden im Geben und Empfangen.« 74 Diese Unterscheidung lässt sich nach Richard durch eine Erwägung der Liebe noch verstärken und vertiefen. Denn wahre Liebe kann »entweder in spontaner Hingabe ungeschuldet (gratuitus) oder in geziemender Antwort (geschuldet, debitus) liegen oder aus einer Mischung von beidem bestehen: dem einen gegenüber geziemende Antwort, dem andern gegenüber spontane Hingabe« 75. Dementsprechend hat eine Person in der Dreifaltigkeit alles aus sich selbst. »Sie Selbstverständlich ließen sich rein theoretisch in Gott in dem Sinn immer »neue« individuelle Personen generieren, dass die vierte Person durch die zweite und die dritte, die fünfte Person durch die zweite, dritte und vierte usw. vermittelt wäre. Doch Richard geht es hier um das Prinzip. Im Prinzip sind drei Hervorgänge möglich: ein »Hervorgang« aus sich selbst, ein Hervorgang unmittelbar aus einer anderen Person und ein Hervorgang sowohl unmittelbar als auch mittelbar aus anderen Personen. Diesen drei grundsätzlichen Möglichkeiten entsprechen dann die drei realen Personen in Gott. 71 DD V,X, 161. 72 DD V,XI, 163. 73 Vgl. DD V,XIII, 165. 74 DD V,XV, 167. 75 DD V,XVI, 168. 70

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Die Hervorgänge (processiones) und die Namen (nomina) der Personen

erhält nichts von einem andern, verdankt nichts einer fremden Gabe.« 76 Sie »hat also eine spontane, rein aus sich selbst quellende Liebe« 77. Ja sie hat deren Fülle. »Die Person dagegen, die hervorgeht, aber nicht hervorbringt, empfängt all ihr Sein von anderswoher und muss deshalb die Fülle der geschuldeten Liebe haben, denn würde sie dem Höchstliebenden nicht mit höchster Liebe antworten, so wäre sie der höchsten Liebe nicht würdig.« 78 Zu ihr passt nur die Fülle der geschuldeten Liebe, da keine Person mehr aus ihr hervorgeht. Nachdem Richard so die Liebe der ersten und der dritten Person charakterisiert hat, beschreibt er nun noch entsprechend die Liebe der zweiten, der mittleren Person: »Da es ihr eigentümlich ist, sowohl aus einer andern hervorzugehen, wie dass eine von ihr hervorgeht, muss sie eine Fülle sowohl der ungeschuldeten wie der geschuldeten Liebe haben, da sie die eine der einen, die andere der andern unabgeschwächt zuzuwenden hat. Geschuldet ist, dass sie die mit höchster Liebe wiederliebt, von der sie alles empfängt und der sie nichts gibt, ungeschuldet dagegen, dass sie die mit höchster Liebe liebt, von der sie nichts empfängt, der sie aber alles gibt.« 79

Dadurch dass die zweite Person – und entsprechend die dritte – die erste, wie Richard schreibt, »wiederliebt«, empfängt auch die erste Person in gewissem Sinn die Liebe, obwohl sie der alleinige Ursprung der Liebe ist und bleibt. Eine der drei Personen hat demzufolge die höchste rein-ungeschuldete Liebe, eine andere die höchste rein-geschuldete Liebe, in der dritten ist die Liebe so die höchste, dass sie zur einen hin geschuldet, zur anderen hin ungeschuldet ist. »So gibt es innerhalb der höchsten Liebe eine dreifache Unterscheidung, obschon die Liebe in allen dieselbe ist, weil sie die höchstmögliche und wahrhafte ewige Liebe ist.« 80 Die erste Person hat die Fülle der ungeschuldeten Liebe, nicht wie die dritte der geschuldeten Liebe. Doch hat sie dadurch keinerlei Vorteil gegenüber der dritten Person und ist in keiner Weise besser oder vollkommener als diese. »In Gott gibt es [nämlich] keinen UnDD V,XVII, 169. DD V,XVII, 169. 78 DD V,XVIII, 170. 79 DD V,XIX, 171 (Die Pronomina wurden hier in der deutschen Übersetzung dem grammatikalisch weiblichen Geschlecht der persona angepasst.). 80 DD V,XIX, 171. 76 77

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Der Dreieine als Liebe

terschied nach Stufen, keine Verschiedenheit der Würde.« 81 Die »Fülle ungeschuldeter Liebe liegt im reinen Geben, die Fülle der geschuldeten im reinen Empfangen« 82. Beides ist gleichwertig. In der Liebe ist das Empfangen genauso wichtig wie das Geben. Auch hinsichtlich der Liebe sind alle drei göttlichen Personen völlig gleichrangig. Sie haben nur einen Willen und eine Liebe. »Somit gibt es, was die Substanz der Liebe betrifft, in allen Personen eine einzige Liebe. Und weil diese in allen einzig und unübertrefflich ist, kann sie in keiner Person größer und besser sein als in einer andern.« 83 Ist in allen in jeder Hinsicht der gleiche Wille, liebt jede die andere wie sich selbst und sosehr als sich selbst. Somit hat die erste göttliche Person die Eigenheit, nur Ursprung zu sein und andere Personen hervorzubringen, ohne selbst aus einer anderen Person hervorzugehen, sowie die Liebe nur zu geben, ohne sie von einer anderen ursprünglich zu empfangen. Die zweite Person hat die Eigenheit, sowohl aus einer anderen hervorzugehen als auch eine andere hervorzubringen und die Liebe sowohl zu empfangen als auch zu geben. Die dritte schließlich hat die Eigenheit, aus zweien hervorzugehen, ohne eine hervorzubringen, und die Liebe ursprünglich nur zu empfangen. Alle drei Personen haben dieselbe Fülle der Liebe, dieselbe Vollkommenheit, Güte und Seligkeit, dieselbe Herrlichkeit. Im sechstem Buch wendet sich Richard schließlich den Namen der drei göttlichen Personen zu und nähert sich ihnen über die später so genannte Analogie, derzufolge es eine gewisse Ähnlichkeit von Schöpfer und Geschaffenem gibt. Dazu beruft er sich – wie Augustinus – auf das Wort des Paulus im Römerbrief (Röm 1,20), das Sichtbare Gottes werde durch das Geschaffene hindurch verstanden und betrachtet. 84 Sodann bezieht er sich auf den Anfang des Schöpfungsberichts, indem er fortfährt: »Es ist allbekannt, dass der Mensch nach Gottes Bild und Gleichnis (Gen 1,26) geschaffen ist, und obschon die Unähnlichkeit zwischen Gott und Geschöpf unvergleichlich reichlicher ist als die Ähnlichkeit, gibt es trotzdem zwischen der menschlichen und der göttlichen Natur eine gewisse, ja sogar erhebliche Ähnlichkeit […].« 85 81 82 83 84 85

DD V,XXII, 174. DD V,XXII, 175. DD V,XIII, 175. Vgl. DD VI,I, 183. DD VI,I, 183.

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Die Hervorgänge (processiones) und die Namen (nomina) der Personen

Richard sucht hier die Analogie zwischen Schöpfer und Geschöpf so umfassend wie möglich auszudrücken, indem er auf der einen Seite die »unvergleichlich größere Unähnlichkeit« 86 unterstreicht, auf der anderen Seite die »gewisse, ja sogar […] erhebliche Ähnlichkeit« hervorhebt. 87 Im Sinne dieser Analogie ist es nun zu verstehen, wenn die erste göttliche Person, die aus keiner anderen hervorgeht, Vater (Pater) genannt wird, und die zweite Person, die aus der ersten allein entspringt, Sohn (Filius) heißt. Die dritte Person wird in der heiligen Schrift als Hauch Gottes oder als Heiliger Geist (Spiritus Sanctus) bezeichnet. Der Hauch geht eigentlich »vom Menschen aus und ohne ihn kann der Mensch nicht am Leben sein. Sofern also der Heilige Geist als Hauch Gottes bezeichnet wird, wird ein ewiger Hervorgang aus dem Ewigen angedeutet.« 88 Der Heilige Geist ist die dritte Person, weil sie aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht, die beide Geist sind, wie der Aussage aus dem Johannesevangelium zu entnehmen ist: »Gott ist Geist« (Joh 4,24). Auch sind der Vater und der Sohn zweifellos heilig. Darüber hinaus bestimmt Richard, wie zuvor Augustinus, die dritte Person als die Liebe, die dem Vater und dem Sohn gemeinsam ist und die beide als Heiligen Geist den Herzen der Menschen einhauchen, damit sie geheilt werden. 89 Nur der Sohn ist Bild (imago) des Vaters, weil Richard zufolge nur er dem Vater darin ähnelt, eine andere göttliche Person hervorzubringen. 90 Und nur der Sohn ist Wort (verbum) Gottes, weil nur er die ursprüngliche Weisheit des Vaters offenbart und die Herrlichkeit des Vaters kundtut. 91 Der Heilige Geist ist die Gabe (donum) Gottes an uns Menschen, damit wir ihm, durch den die Liebe Gottes in unseren Herzen ausgegossen ist (Röm 5,5) und der selbst das göttliche Feuer der Liebe ist, ähnlich werden und wie er die göttliche Liebe ganz annehmen und

Das IV. Laterankonzil (1215) wird später festlegen: »Denn von Schöpfer und Geschöpf kann keine Ähnlichkeit ausgesagt werden, ohne dass sie eine größere Unähnlichkeit zwischen beiden einschlösse« (DH 806). 87 DD VI,I, 183, Anmerkung 1. 88 DD VI,IX, 194. 89 Vgl. DD VI,X, 195. 90 Vgl. DD VI,XI, 196 f. 91 Vgl. DD VI,XII–XIII, 198–202. 86

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Der Dreieine als Liebe

empfangen. 92 Dabei geben und senden uns der Vater und der Sohn gleichermaßen den Heiligen Geist. In besonderer Weise wird der ersten Person, dem Ungeborenen, die Macht (potentia) zugesprochen, der zweiten Person, dem Geborenen, die Weisheit (sapientia), und der dritten Person, dem Heiligen Geist, die Güte (bonitas). 93 Das liegt nach Richard daran, dass die Macht nicht von etwas anderem herstammt, die Weisheit allein von der Macht herstammt, und die Güte von beiden zusammen herstammt, was den drei göttlichen Entstehungen oder Hervorgängen entspricht. Wie für Augustinus die Weisheit eine Appropriation, d. h. eine eigentliche Bezeichnung für den Sohn ist, obwohl sie im umfassenden Sinn allen drei Personen sowie der Dreifaltigkeit als ganzer gleichermaßen zukommt, und die Liebe eine Appropriation des Heiligen Geistes ist, sind für Richard die Macht, die Weisheit und die Güte jeweils Appropriationen für die erste, zweite und dritte Person. 94 Da der Ungeborene einen Gleichförmigen und Gleichwürdigen haben will, zeugt er den Sohn. 95 Und da der Geborene (genitus) und der Ungeborene (ingenitus) einen Mitgeliebten (condilectus) haben wollen, lassen sie den Heiligen Geist entstehen. Im ersten liegt laut Richard eine Gemeinschaft der Würde, im zweiten eine Gemeinschaft der Liebe vor. Der Vater ist für Richard die ungezeugte Substanz, der Sohn gezeugte Substanz und der Heilige Geist weder gezeugte noch ungezeugte Substanz, da er weder wie der Sohn allein aus dem Vater hervorgegangen ist, noch wie der Vater der ursprungslose Ursprung ist. Doch sind Vater, Sohn und Geist eine einzige Substanz, wie sie ein Gott sind.

6.6 Reflexion 6.6.1 Das intrapersonale und das interpersonale Modell der Trinität Im (lateinischen) Westen der Christenheit sind die trinitätstheologischen Modelle von Augustinus und von Richard bestimmend geworden. Für Augustinus ist Bild der göttlichen Trinität der menschliche 92 93 94 95

Vgl. DD VI,XIV, 202–204. Vgl. DD VI,XV, 204–206. Zum Unterschied zwischen Proprietäten und Appropriationen siehe Kap. 7.8.2. Vgl. DD VI,XVI, 206–210, hier 210.

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Reflexion

Geist, für Richard ist es die zwischenmenschliche Liebe. Augustinus entdeckt im Geist der einzelnen menschlichen Person das Bild des dreieinen Gottes. Seine trinitarische Konzeption wird deshalb das intrapersonale Modell genannt. Richard hingegen findet in der Liebe zwischen drei menschlichen Personen das Bild der göttlichen Dreieinheit. Sein Ansatz wird daher als interpersonales Modell bezeichnet. Bei den beiden Modellen handelt es sich demnach um zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze. Diese Ansätze sind im Vergleich miteinander zu beurteilen. Doch zuvor sei noch auf einen anderen wichtigen Unterschied zwischen der Trinitätslehre des Augustinus und der des Richard hingewiesen. Dieser Unterschied liegt in der Konzeption des Heiligen Geistes. Für Augustinus ist der Heilige Geist der Geist des Vaters und des Sohnes, die Gemeinschaft beider, das Band der Liebe (vinculum amoris) zwischen beiden, also die Liebe von Vater und Sohn zueinander. Deshalb ist für ihn der Heilige Geist in Gott die Liebe im eigentlichen Sinn, obwohl im umfassenden Sinn auch der Vater und der Sohn sowie die Dreieinheit als ganze die Liebe ist. Damit würdigt Augustinus den Heiligen Geist als Liebe. Aber es wird bei ihm nicht recht deutlich, inwiefern der Heilige Geist eine eigene Person in der Trinität darstellt. Richard hingegen teilt zwar die Ansicht von Augustinus, der Heilige Geist sei die Liebe, die dem Vater und dem Sohn gemeinsam ist 96, bestimmt ihn aber von seinem Ansatz her in erster Linie als Mitgeliebten, der die Liebe vom Vater und vom Sohn ganz empfängt. Er wird vom Vater und vom Sohn geliebt und erwidert diese Liebe, indem er beide »wiederliebt«. Sein Beitrag als eigene Person in der Trinität besteht gerade darin, die Liebe von Vater und Sohn ganz anzunehmen, um sie dann ganz zurückzuschenken. Das macht seine ganz eigene Würde in der Trinität aus, dass er ursprünglich die Liebe ganz empfängt, ist doch in der vollkommenen Liebe das Empfangen genauso bedeutsam wie das Geben. Richard gelingt es auf diese Weise besser als Augustinus, den Heiligen Geist als eigene Person in der Trinität zu würdigen. Beim intrapersonalen Modell des Augustinus besteht die Zentralmetapher oder Zentralanalogie in der Auffassung, Gott sei Geist, der sich selbst vollzieht. Das Modell orientiert sich am Selbstvollzug der menschlichen geistigen Person. Diese vollzieht sich in Selbst96

Vgl. DD VI,X, 195.

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Der Dreieine als Liebe

erkenntnis und in Selbstliebe. Das geistig-personale Sein ist im Erkenntnisbild, das es von sich selbst hat, und in dem Gewollten seiner Selbstliebe ganz und gar bei sich selbst. Die Selbstliebe setzt die Selbsterkenntnis voraus und bringt sie zur Vollendung, ohne ihr »inhaltlich« etwas hinzuzufügen. Der sich selbst Erkennende und Liebende bezieht sich als geistiges Sein in Selbsterkenntnis und Selbstliebe auf sich selbst. Auf Gott angewandt bedeutet das: Gott, der Vater, vollzieht sich selbst, indem er sich selbst im Sohn erkennt. Der Sohn als das Wort oder Bild des Vaters entspricht der Selbsterkenntnis Gottes. Es bleibt aber nicht bei der Selbsterkenntnis Gottes. Gott nimmt sich als Selbsterkannten auch an, er will sich, er liebt sich. Der Selbstliebe Gottes entspricht der Heilige Geist. Indem Gott als Geist sich selbst erkennt und selbst annimmt, kehrt er vollständig zu sich selbst zurück, ist er vollständig bei sich selbst. Das intrapersonale Modell des Augustinus, das sich am Selbstvollzug der menschlichen geistigen Person orientiert, bringt sehr gut die Wesenseinheit Gottes zum Ausdruck, aber es vermag nicht recht die Verschiedenheit, gegenseitige Bezogenheit und gegenseitige Selbstmitteilung von Vater, Sohn und Geist zu erklären. Beim interpersonalen Modell des Richard von St. Viktor besteht die Zentralmetapher oder Zentralanalogie in der Auffassung, Gott sei in sich interpersonale Liebe. Das Modell orientiert sich an der zwischenmenschlichen Liebe. Demnach sind Vater, Sohn und Geist Kommunikationspartner, die sich innerhalb der Gottheit gegenüberstehen, ganz aufeinander bezogen sind und miteinander die innigste Liebesgemeinschaft (griech.: koinonia, lat.: communio) bilden. Vater und Sohn sind einander ganz in Liebe zugetan. Diese Liebe drängt aber über sich hinaus und konstituiert den Geist als Mitgeliebten (condilectus). Jede der drei Personen ist ganz sie selbst, indem sie ganz auf die beiden anderen Personen bezogen ist und ihnen vollkommen entspricht. Die drei Personen kommunizieren miteinander, sie stehen in vollkommenem Austausch miteinander, sie teilen einander vollkommen selbst mit. Das interpersonale Modell, das sich an der zwischenmenschlichen Liebe orientiert, bringt sehr gut die Verschiedenheit der drei göttlichen Personen, ihre gegenseitige vollkommene Bezogenheit und gegenseitige Selbstmitteilung zum Ausdruck. Es vermag aber aus sich die Wesenseinheit Gottes nicht recht zu erklären. Die beiden alternativen Modelle können daher einander korrigieren und ergänzen. Sie verweisen jeweils über sich selbst hinaus 174 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Reflexion

auf das Geheimnis jenes »Ineinander« und »Einander-gegenüber«, das die innergöttlichen Beziehungen des dreieinigen Gottes über alles menschliche Begreifen hinaus kennzeichnet. Unter systematischer Rücksicht entsprechen den beiden alternativen Modellen des Augustinus und des Richard prinzipiell zwei Ansätze oder Wege, sich dem Geheimnis der Dreieinigkeit Gottes denkerisch zu nähern. Beide Wege wurden im Laufe der Theologiegeschichte immer wieder eingeschlagen. Es lässt sich bei der Einheit Gottes, bei seinem einen Wesen ansetzen. Von dort aus ist dann zur Verschiedenheit der drei Personen vorzudringen. Dieser Ansatz bleibt dem Monotheismus in jedem Fall treu, läuft aber Gefahr, in einem bloßen Modalismus zu enden. Demnach erscheinen die drei Personen als drei Daseins- oder Seinsweisen Gottes. Ihre grundsätzliche wirkliche Verschiedenheit und relative, aber vollkommene Eigenständigkeit wird jedoch nicht eingeholt. Demgegenüber wäre zu betonen, dass zwischen den Personen die größtmögliche, nämlich unendliche und vollkommene Verschiedenheit bei bleibender Einheit besteht und ein reges innergöttliches Leben, eine rege innergöttliche Kommunikation zwischen den drei göttlichen Personen stattfindet. Der andere mögliche Ansatz geht von den drei verschiedenen relationalen Personen aus und muss auf die Wesenseinheit Gottes hin denken. Die Gefahr liegt hier darin, die innergöttliche Gemeinschaft tritheistisch als innige Gemeinschaft zwischen drei im Grunde voneinander unabhängigen Göttern analog zur Gemeinschaft zwischen drei menschlichen Personen zu verstehen. Demgegenüber wäre hervorzuheben, dass es sich bei der Gemeinschaft der drei göttlichen Personen um die größtmögliche oder denkbar höchste Einheit bei aller Verschiedenheit und Eigenständigkeit der Personen handelt – um eine absolute Wesensidentität.

6.6.2 Die Einheit von immanenter und ökonomischer Trinität Bei Gott lässt sich zwischen der immanenten und der ökonomischen Trinität unterscheiden. 97 Unter der immanenten Trinität ist die Dreifaltigkeit zu verstehen, wie sie in Gott an sich und in sich besteht. Mit Siehe zu diesem Abschnitt Volker Henning Drecoll (Hg.): Trinität, Tübingen 2011, 172–175; Johannes Herzgsell SJ: Das Christentum im Konzert der Weltreligionen. Ein Beitrag zum interreligiösen Vergleich und Dialog, Regensburg 2011, 130–132.

97

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der ökonomischen Trinität ist hingegen die Dreieinigkeit Gottes gemeint, wie Gott sie in der Heilsökonomie, d. h. in der Heilsgeschichte uns Menschen offenbart hat. Bei der immanenten Trinität handelt es sich demzufolge um die innergöttliche Dreieinigkeit, bei der ökonomischen um die heilsgeschichtliche. Die biblischen Schriften bezeugen die heilsökonomische Trinität. Aus diesen Zeugnissen wurde allmählich mithilfe griechischer Philosophie sowie lateinischer Begrifflichkeit die Lehre von der immanenten Trinität entwickelt. Der Erkenntnisordnung nach geht die heilsgeschichtliche Dreieinigkeit der innergöttlichen voraus. Denn von der immanenten Trinität, davon wie Gott an sich und in sich dreifaltig ist, können wir nur von der heilsgeschichtlichen Offenbarung Gottes her, wie sie sich in Jesus Christus und durch den Heiligen Geist ereignet hat, d. h. von der ökonomischen Trinität her wissen. Der Seinsordnung nach ist hingegen die innergöttliche Trinität der heilsgeschichtlichen vorgeordnet. Denn sie ist, wie Thomas von Aquin später darlegen wird, eine Wesensnotwendigkeit Gottes. Die heilsgeschichtliche Trinität dagegen beruht nicht auf einer Wesensnotwendigkeit, sondern auf einem freien Willensentschluss Gottes. Gott hätte keine Welt zu erschaffen brauchen und sich in einer erschaffenen Welt nicht als er selbst in seiner Dreieinigkeit offenbaren müssen. Die innergöttliche Trinität ist die Voraussetzung der heilsgeschichtlichen. Vor diesem Hintergrund ist in gewisser Weise verständlich, weshalb sich im Laufe der Tradition die Lehre von der immanenten Trinität allmählich verselbständigte. 98 Nur von der immanenten Trinität her konnte man in eigentlicher Weise über Gott und seine Wesensvollkommenheiten sprechen. Von der Heilsgeschichte her schien man nur uneigentlich über Gott sprechen zu können. So ging in der Trinitätslehre der Rückbezug der innergöttlichen zur heilsgeschichtlichen Trinität verloren. Im 20. Jahrhundert versuchte Karl Rahner die heilsökonomische Trinität wieder aufzuwerten, indem er sie mit der immanenten gleichsetzte: »Die ›ökonomische‹ Trinität ist die ›immanente‹ Trinität und umgekehrt.« 99 Für Rahner ist deshalb der Satz falsch: »In einer Lehre von der Trinität (als der Aussage von den göttlichen Personen Vgl. HD 2 526–532. Karl Rahner: Der dreifaltige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte, in: Johannes Feiner/Magnus Löhrer (Hrsg.): Mysterium Salutis. Grundriss heils-

98 99

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im Allgemeinen und im Einzelnen) kann es nur Aussagen geben, die Innergöttliches betreffen.« 100 Sicher richtig ist hingegen für ihn der Satz: »Trinitätslehre und Ökonomielehre (Trinitätslehre und Heilslehre) lassen sich nicht adäquat unterscheiden.« 101 Nimmt man das theologische Anliegen von Rahners Identitätsthese auf, heißt das: In der heilsgeschichtlichen Trinität zeigt sich wirklich die innergöttliche Trinität. 102 Gott hat sich in der Heils- und Offenbarungsgeschichte uns Menschen als der dreieine Gott offenbart, der er in sich und für sich ist, nämlich als der ewige Vater, Sohn und Geist. Seine heilsgeschichtliche Offenbarung in Jesus Christus war eine vollkommene Selbstoffenbarung, bei der er uns Menschen gegenüber nichts von seinem Selbst zurückgehalten hat. Er hat uns nichts von seinem Wesen vorenthalten. Von da aus wäre dann wiederum zurückzufragen, inwiefern seine heilsgeschichtliche Trinität wirklich seine innergöttliche offenbart. Ein Ansatzpunkt dazu kann die Lehre vom gemeinsamen Wirken der drei göttlichen Personen »nach außen« sein. Mit dem missverständlichen Ausdruck »nach außen« ist dabei das Wirken Gottes in der nichtgöttlichen Welt gemeint. 103 Demzufolge handeln die drei göttlichen Personen in der Welt immer und grundsätzlich gemeinsam. Sie wollen immer dasselbe und wirken immer zusammen. Deshalb geschieht immer nur der eine Wille Gottes und gibt es eine absolut untrennbare Willens- und Wirkeinheit von den dreien. Alle göttlichen Taten sind zugleich Taten des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Aber an diesen Taten sind die drei göttlichen Personen nicht auf gleiche, sondern auf je unterschiedliche Weise beteiligt. Ihnen kommen bei ihren gemeinsamen Handlungen in der Welt geschichtlicher Dogmatik. Band 2. Die Heilsgeschichte vor Christus, Einsiedeln/Zürich/Köln 1967 [= MySal 2], 317–401, hier 328. 100 MySal 2, 329. 101 MySal 2, 329. 102 Zur Identitätsthese Rahners siehe Silvia Cichon-Brandmaier: Ökonomische und immanente Trinität. Ein Vergleich der Konzeptionen Karl Rahners und Hans Urs von Balthasars, Regensburg 2008, 31–159; zur Rezeption der Identitätsthese Rahners siehe Josef Wohlmut: Trinität – Versuch eines Ansatzes, in: Magnus Striet (Hg.): Monotheismus Israels und christlicher Trinitätsglaube, Freiburg i. Br. 2004, 33–69, hier 34–42. 103 Die Transzendenz Gottes bedeutet nicht, dass Gott außerhalb der Welt oder die Welt außerhalb seiner wäre. Sie beinhaltet vielmehr, dass Gott eine ganz andere Wirklichkeit ist als die Welt, weshalb mit seiner Transzendenz seine Immanenz, d. h. sein In-der-Welt-Sein, sowie das In-Gott-Sein der Welt einhergehen kann.

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verschieden Rollen oder Funktionen und zu. Sie handeln als göttliche Personen zwar gemeinsam, aber nicht gleich. In ihrem Verhältnis zur Welt weisen sie daher echte Eigentümlichkeiten (Proprietäten) auf. 104 So ist der innergöttliche Vater auch für die Menschen (der) Vater. Nur der Sohn ist Mensch geworden, und nur der Heilige Geist wohnt von vornherein den Herzen der Menschen ein. Ganz allgemein lässt sich das differenziert-gemeinsame Handeln der drei göttlichen Personen in der Welt auf die Formel bringen: Der Vater handelt durch den Sohn im Geist an der Welt. So erschuf der Vater durch den Sohn im Geist die Welt. Sohn und Geist übten dabei unterschiedliche Mittlerrollen aus. Um die Welt zu erlösen, wurde der Sohn – und nur er – Mensch. Aus seiner Menschwerdung und Offenbarung als Sohn Gottes lässt sich der Rückschluss ziehen, dass nur er von den drei göttlichen Personen Mensch werden konnte, weil nur er innergöttlich das Wort und die Aussage Gottes ist und von daher nur er Selbstaussage und Selbstentäußerung Gottes in die Welt hinein werden konnte. An der Menschwerdung des Sohnes und an der Erlösung der Menschheit waren aber auch der Vater und der Heilige Geist beteiligt. Der Vater sandte den Sohn in die Welt und konkretisierte diese Sendung im irdischen Leben Jesu immer neu. Der Geist wirkte bei der Menschwerdung des Sohnes selbst mit und geleitete den Menschen Jesus durchs ganze Leben. Nur der Sohn starb am Kreuz. Aber der Heilige Geist stärkte ihn und der Vater erweckte ihn drei Tage danach von den Toten auf. Auch die Vollendung der Welt ist ein gemeinsames Werk der drei göttlichen Personen. Aber es fällt im eigentlichen Sinn dem Heiligen Geist die Aufgabe zu, die Menschen und die Welt zu heiligen und so das Erlösungswerk des Sohnes fortzusetzen und zu vollenden. Dazu wurde er vom Vater und vom Sohn in die Welt gesandt. Bei aller Einheit des Wollens und Handelns lassen sich demnach die Werke Gottes bezüglich der Welt jeweils primär einer bestimmten göttlichen Person zuordnen. So ist die Schöpfung primär das Werk des Vaters, die Erlösung primär das Werk des Sohnes und die Vollendung primär das Werk des Heiligen Geistes. Die heilsgeschichtlichen Eigentümlichkeiten der drei göttlichen Personen spiegeln gemäß der Identitätsthese ihre innergöttlichen Eigentümlichkeiten wider. Den Ursprungsrelationen nach ist es dem Vater innergöttlich eigentümlich, ungezeugt, d. h. ursprungslos, und 104

Siehe dazu auch Kap. 5.7 und Kap. 7.8.2.

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Reflexion

Vater des Sohnes zu sein. Dem Sohn ist es innergöttlich eigentümlich, der Sohn des Vaters zu sein und dessen Wort (Logos) und Bild zu sein. Er war nicht nur in der Welt die Selbstaussage und Selbstauslegung des Vaters sowie die Selbstentäußerung Gottes. Er ist auch innergöttlich die Selbstaussage des Vaters. Er bildet den Vater vollkommen ab und legt ihn ganz aus. Das Besondere des Heiligen Geistes innerhalb der Gottheit besteht in seinem »Gehauchtsein« vom Vater durch den Sohn. Der Geist geht aus der Liebes-Kommunikation zwischen Vater und Sohn hervor und vervollkommnet sie. Er ist es denn auch, der die göttliche Liebesgemeinschaft auf die Menschen hin öffnet und als das »Überfließen« der Liebe Gottes in Person das Gnadenleben im Menschen hervorbringt. 105 Bei Richard von St. Viktor ist die Öffnung der innergöttlichen Liebesgemeinschaft durch den Heiligen Geist auf die Menschen hin allenfalls im später hinzugefügten Buch VI über die »Namen der Personen« angedeutet. Bei seinem Versuch, die ewigen notwendigen Gründe (rationes necessariae) des innergöttlich-dreieinigen Selbstvollzugs herauszuarbeiten, bleibt die heilsgeschichtliche Trinität noch zu sehr im Hintergrund. Das ändert sich erst mit Thomas von Aquin, der die beiden innergöttlichen Hervorgänge und die beiden Sendungen in die Welt konsequent parallelisiert. Weil den unterschiedlichen heilsgeschichtlichen Rollen und Aufgaben der drei göttlichen Personen beim Wirken in der Welt drei unterschiedliche innergöttliche Ursprungsrelationen entsprechen, gilt umgekehrt nach Thomas, dass sich die beiden unterschiedlichen innergöttlichen Hervorgänge des Sohnes und des Heiligen Geistes in den beiden heilsgeschichtlichen Sendungen des Sohnes und des Heiligen Geistes in die Welt fortsetzen. Damit sind die immanente und die ökonomische Trinität wieder zu der Einheit zusammengefügt, die sie in Wahrheit sind. Die immanente und die ökonomische Trinität haben die gleiche Struktur. In Anlehnung an Richards interpersonales Modell lässt sich diese mithilfe des Begriffs der Selbstmitteilung artikulieren. Demnach ist die Liebe zwischen Vater, Sohn und Geist von höchster Bedeutung. Gott ist seinem Wesen nach Liebe. Aus Liebe teilt sich der Vater ganz dem Sohn mit, übergibt ihm sein ganzes göttliches Wesen. Der Sohn empfängt das göttliche Wesen des Vaters und schenkt es dem Vater zurück. Auf diese Weise empfängt auch der Geist durch 105

Vgl. HD 2 511.

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Der Dreieine als Liebe

die Liebe zwischen Vater und Sohn das göttliche Wesen. Es herrscht demzufolge zwischen den dreien höchste, lebendigste Kommunikation, Selbstmitteilung, Austausch, Gemeinschaft, Bewegung. Durch die vollkommene Selbstmitteilung aneinander und zueinander sind die drei innergöttlichen Personen auch ineinander und durchdringen einander im Sinne der Perichorese. Die Dreieinigkeit ist die denkbar höchste Liebesgemeinschaft. Die drei göttlichen Personen sind in ihrer Liebe zueinander so vollkommen aufeinander bezogen und teilen einander so vollkommen und vollständig mit, dass die Liebe zu ihrem wahren Wesen wird bzw. ihr wahres Wesen ist. In die innergöttliche Liebe zwischen Vater, Sohn und Geist bzw. zwischen Vater und Sohn im Geist ist die Welt von vornherein, von Beginn der Schöpfung an, hineingenommen. Durch die Sendung des Sohnes in die Welt und durch das Wirken des Geistes in der Welt wurde und wird die Schöpfung endgültig und vollends in die innergöttliche Liebe einbezogen.

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7. Der Dreieine als Beziehungsgeschehen Aus der »Summa Theologica« von Thomas von Aquin

7.1 Die Hervorgänge (processiones) In der »Summa Theologica« 1, seinem Hauptwerk, behandelt Thomas von Aquin (1225–1274) 2 im Zusammenhang der Dreieinigkeit Gottes zunächst die Ursprünge (origines) oder Hervorgänge (processiones), dann die Ursprungsrelationen (relationes originis) und schließlich die Personen (personae). 3 Nach Thomas sind die Hervorgänge in Gott am ehesten mit geistigen Tätigkeiten zu vergleichen, bei denen etwas Inneres hervorgebracht wird, das im Tätigen verbleibt. Die göttlichen Hervorgänge sind so gesehen rein geistiger Natur und Gott ganz innerlich. 4 Der erste innergöttliche Hervorgang lässt sich mit der geistigen Tätigkeit des Verstandes vergleichen. Ähnlich wie unser menschlicher Verstand (intellectus) durch seine Tätigkeit des Verstehens (intelligere) Thomas von Aquin: Summa theologica. Die deutsche Thomas-Ausgabe.Vollständige, ungekürzte deutsch–lateinische Ausgabe der Summa theologica. Übersetzt von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs. Hrsg. vom Katholischen Akademikerverband; [später:] Albertus-Magnus-Akademie Walberberg bei Köln. Schriftleitung Heinrich Maria Christmann [OP], Salzburg (u. a.) ab 1933 [= ST]. 2 Zur Einführung in das gesamte Denken und Werk des Thomas von Aquin siehe Günter Mensching: Thomas von Aquin, Frankfurt/New York, 1995; Richard Heinzmann: Philosophie des Mittelalters (Grundkurs Philosophie Band 7) (2., durchgesehene und ergänzte Auflage), Stuttgart 1998, 202–222; Walter Patt: Metaphysik bei Thomas von Aquin. Eine Einführung, London 2004; Volker Leppin: Thomas von Aquin, Münster 2009; Rolf Schönberger: Thomas von Aquin zur Einführung (4., ergänzte Auflage), Hamburg 2012. 3 Vgl. ST I qq.27–43; hier insbesondere q.27. Eine umfassende Gesamtdarstellung der Trinitätslehre des Thomas bietet Hans Christian Schmidbaur: Personarum Trinitas. Die trinitarische Gotteslehre des heiligen Thomas von Aquin, St. Ottilien 1995; siehe auch Gisbert Greshake: Der Dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie (4., durchgesehene und erweiterte Auflage), Freiburg i. Br. 2001 [= Greshake 2001], 111–126. 4 Vgl. ST I q.27 a.1 [= Summa Theologica Buch I, quaestio 27 articulus 1]. 1

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Der Dreieine als Beziehungsgeschehen

den Begriff oder das innere Wort (verbum) hervorbringt, das der verstandenen Wirklichkeit ähnlich ist, im Inneren des Verstandes bleibt und durch das gesprochene oder geschriebene Wort ausgedrückt werden kann, wird in Gott, bei dem Verstehen und Sein dasselbe sind, das Wort hervorgebracht. Gott der Vater (Pater), der die erste göttliche Person ist, bringt als Verstehender durch sein Erkennen oder Verstehen das Wort in der Gottheit hervor, das dann die zweite göttliche Person ist. Wegen der Ähnlichkeit des Wortes als des Verstandenen mit dem Vater als dem Verstehenden wird der Hervorgang in Gott »Zeugung« (generatio) und das Wort »Sohn« (Filius) genannt. 5 Während der erste innergöttliche Hervorgang der Tätigkeit des Verstandes (intellectus) entspricht, entspricht der zweite innergöttliche Hervorgang der Tätigkeit des Willens (voluntas). Dieser Hervorgang ist der Hervorgang der Liebe (amor), bei dem aufgrund der geistigen Einheit des Liebenden mit dem Geliebten das Geliebte im Liebenden ist und bleibt, wie beim Hervorgang des Wortes durch das innere Wort die verstandene Wirklichkeit im Verstehenden ist und bleibt. 6 Mit dieser Erklärung der beiden Hervorgänge in Gott steht Thomas in der Tradition des Augustinus und hebt sich von Richard von Sankt Viktor ab, der nicht nur den zweiten innergöttlichen Hervorgang, sondern auch den ersten durch die Liebe erklärt. Während Richard zufolge der Sohn wie der Heilige Geist durch Liebe in Gott hervorgeht, geht Thomas zufolge nur der Heilige Geist gemäß der Tätigkeit des Willens und d. h. nach der Weise der Liebe in Gott hervor. Bei der Tätigkeit des Verstandes ist nach Thomas der entscheidende Gesichtspunkt die Ähnlichkeit. Bei der Tätigkeit des Willens hingegen ist der zentrale Gesichtspunkt die Hinneigung des Wollenden zum Gewollten, weshalb beim Hervorgang der Liebe in Gott vom »Hauch« (spiritus), d. h. vom Geist im Sinne einer gewissen Lebensbewegung oder eines gewissen Lebensantriebes die Rede ist. 7 Laut Thomas kann es in Gott nur zwei geistige Tätigkeiten geben, die im Tätigen selbst verbleiben. 8 Diese sind das Verstehen und das Wollen, bei denen das Verstandene im Verstehenden selbst und 5 6 7 8

Vgl. ST I q.27 a.2; vgl. auch a.4. Vgl. ST I q.27 a.3. Vgl. ST I q.27 a.4. Vgl. ST I q.27 a.5.

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Die Beziehungen (relationes)

das Gewollte bzw. Geliebte im Wollenden bzw. Liebenden selbst ist und bleibt. Das ist für Thomas der Grund, weshalb es in Gott auch nur zwei Hervorgänge gibt: »einen nach der Weise des Verstandes, den Hervorgang des Wortes, einen anderen nach der Weise des Willens, den Hervorgang der Liebe« 9. Durch das Erkennen (intelligere) oder Verstehen des Vaters geht in Gott das Wort bzw. der Sohn hervor, der selbst ganz Gott ist, und durch das Wollen (velle) oder Lieben (amare) des Vaters und des Sohnes geht in Gott der Heilige Geist hervor, der selbst ganz Gott ist.

7.2 Die Beziehungen (relationes) Gemäß Thomas sind die göttlichen Beziehungen zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist nicht bloß gedankliche, sondern wirkliche Beziehungen (relationes reales), weil es sonst keine wirkliche Trinität in Gott gäbe. 10 Diese Beziehungen gehören zum Wesen Gottes selbst, ja sind identisch mit seinem Wesen (essentia). 11 Sind aber die Beziehungen in Gott wirklich, dann muss es in Gott auch eine wirkliche Gegenüberstellung (oppositio) und somit auch einen wirklichen Unterschied (distinctio) zwischen den göttlichen Beziehungen geben. 12 Den beiden innergöttlichen Hervorgängen entsprechend lassen sich mit Thomas vier wirklich verschiedene Beziehungen in Gott annehmen: beim Hervorgang des Wortes 1. die Beziehung des Sohnes als des Hervorgegangenen zum Vater, die »Sohnschaft« (filiatio) heißt, und 2. die Beziehung des Vaters als des Ursprungsgrundes (principium) zum Sohn, die »Vaterschaft« (paternitas) genannt wird; beim Hervorgang der Liebe 3. die Beziehung des Heiligen Geistes als des Hervorgegangenen zum Ursprung, die man »Hervorgang« (processio) nennt, und 4. die Beziehung des Ursprungs zum Heiligen Geist, die man als »Hauchung« (spiratio) bezeichnet, wobei die beiden Namen beim Hervorgang der Liebe, der »Hervorgang« und die »Hauchung«, nach Thomas genau genommen den Hervorgängen oder Ursprüngen selbst und nicht den Beziehungen zukommen. 13 Es

ST I q.37 a.1. Vgl. ST I q.28 a.1. 11 Vgl. ST I q.28 a.2. 12 Vgl. ST I q.28 a.3. 13 ST I q.28 a.4. 9

10

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lassen sich demzufolge hinsichtlich der Beziehungen in Gott die Vaterschaft und die Sohnschaft, die Hauchung und der Hervorgang als vier wirklich verschiedene Beziehungen unterscheiden.

7.3 Die Personen (personae) Um sich Schritt für Schritt einer Bestimmung dessen anzunähern, was in Gott Person oder Hypostase heißt, übernimmt Thomas zunächst einmal von Boethius die allgemeine Definition der Person: »Person ist Einzelsubstanz der vernunftbegabten Natur« 14 (Persona est rationalis naturae individua substantia). Mit Aristoteles unterscheidet Thomas sodann beim Begriff der Substanz zwei verschiedene Bedeutungen. Substanz meint zum einen die Washeit (quidditas) oder das Wesen (essentia) eines Dinges, zum anderen den für sich oder in sich bestehenden, also selbständigen Träger (subjectum; suppositum) von Eigenschaften, der auch Hypostase (hypostasis) genannt wird. 15 Person bedeutet damit für Thomas das Für-sich-Bestehende (subsistens) vernunftbegabter Natur 16 und steht für das Vollkommenste in der Natur überhaupt. »Da nun alles«, so folgert Thomas, »was vollkommen ist, Gott zugeschrieben werden muss, weil Seine Wesenheit in sich alle Vollkommenheit enthält, so ist es angebracht, dass dieser Name Person von Gott ausgesagt werde.« 17 Freilich darf der Name »Person« nicht so auf Gott angewandt werden, wie er von den Geschöpfen gebraucht wird. Er ist von Gott in einem analogen und erhabeneren Sinn auszusagen. Auch der Name »Hypostase« gebührt Gott, sofern darunter nicht der Träger von Eigenschaften, sondern ein für sich bestehendes Wirkliches (res subsistens) verstanden wird. 18 Sogar der Name »Individuum« (individuum) trifft auf Gott zu, insoweit damit die Unmitteilbarkeit (incommunicabilitas) und ganz allgemein die Unterschiedenheit von anderem gemeint ist. Denn ein Individuum ist das, was in sich ununterschieden, von anderen aber unterschieden ist. 19 Eine individuelle Person ist deshalb das, was in einer bestimmten Natur von den Individuen derselben 14 15 16 17 18 19

ST I q.29 a.1. Vgl. ST I q.29 a.2. Vgl. ST I q.29 a.3. ST I q.29 a.3. Vgl. ST I q.29 a.3. Vgl. ST I q.29 a.4.

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Die Personen (personae)

Natur unterschieden ist. So hebt sich eine menschliche Person von anderen menschlichen Personen durch ihren Körper und durch ihre Seele ab, welche die Gründe für ihre Individualität sind. Bei Gott aber erfolgt nach Thomas eine Unterscheidung »nur durch die Ursprungsbeziehungen« 20. Thomas teilt damit die Auffassung des Richard von Sankt Viktor, dass die göttlichen Personen nur ihrem Ursprung nach real voneinander verschieden sind. Da die Beziehung in Gott nicht wie eine Eigenschaft ist, die dem Träger anhaftet, sondern das göttliche Wesen selbst ist, ist sie für sich bestehend (subsistens), wie das göttliche Wesen für sich bestehend ist. Im Sinn einer für sich bestehenden, individuellen (d. h. unmitteilbaren) und vernunftbegabten Wirklichkeit ist beispielsweise Gott Vater eine göttliche Person. »Göttliche Person bezeichnet nämlich«, so Thomas, »die Beziehung als für sich bestehend.« 21 Beziehung bedeutet demnach bei Gott die für sich bestehende individuelle Hypostase. Aus all dem zieht Thomas den Schluss, dass bei Gott der Name Person direkt die Beziehung und indirekt das Wesen angibt, wie er auch umgekehrt direkt das Wesen und indirekt die Beziehung benennt, insofern das Wesen dasselbe ist wie die Beziehung oder die Hypostase, die von den anderen Beziehungen oder Hypostasen verschieden ist. Primär steht für Thomas jedoch der Name Person in Gott für das Beziehungshafte (relativum). Er ist ein Beziehungsname, weshalb Thomas zusammenfassend sagen kann, »dass der Name Person im Göttlichen eine Beziehung bezeichnet, und zwar als ein in göttlicher Natur für sich bestehendes Wirkliches« 22. Ist eine göttliche Person nichts anderes als eine für sich bestehende Beziehung, dann müsste es nach dem, was Thomas früher festgestellt hat, in Gott eigentlich vier Personen geben, da es in ihm vier verschiedene Beziehungen gibt: die Vaterschaft, die Sohnschaft, die Hauchung und den Hervorgang. 23 Das ist aber laut Thomas nicht der Fall, weil die Hauchung nicht die Eigentümlichkeit (proprietas) einer göttlichen Person ist, sondern dem Vater und dem Sohn gemeinsam ist. 24 Beide, Vater und Sohn, bringen den Heiligen Geist durch Hauchung hervor. Demzufolge gibt es in Gott nur drei eigenST I q.29 a.4. ST I q.29 a.4. 22 ST I q.30 a.1 (»[…] quod hoc nomen ›persona‹ in divinis significat relationem ut rem subsistentem in natura divina«). 23 Vgl. ST I q.30 a.2; sowie q.28 a.4. 24 Vgl. ST I q.30 a.2. 20 21

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Der Dreieine als Beziehungsgeschehen

tümliche Beziehungen und damit nur drei göttliche Personen. »[Nur] Vaterschaft, Sohnschaft und Hervorgang werden personhafte Eigentümlichkeiten [proprietates (personales)] genannt, weil sie gleichsam die Person begründen.« 25 Die Vaterschaft ist die Person des Vaters, die Sohnschaft die des Sohnes und der Hervorgang die Person des hervorgehenden Heiligen Geistes. Diesen drei göttlichen Personen ist dann auch der Name Person der Bedeutung nach wirklich gemeinsam, da dieser Name das in einer bestimmten Natur für sich bestehende Wirkliche (res subsistens) bezeichnet. 26 Thomas schreibt den drei göttlichen Personen fünf sogenannte »Kennmale« (notiones) zu. Unter Kennmal versteht er »das, was der eigentümliche Grund dafür ist, die göttliche Person zu erkennen« 27. Bei den notiones handelt es sich demnach um Erkennungsmerkmale der einzelnen göttlichen Personen. Die Person des Vaters wird dadurch erkannt, dass sie von keinem anderen ist. Von dieser Seite aus besitzt sie als Erkennungsmerkmal die Ursprungslosigkeit (innascibilitas). Insofern der Vater den Sohn durch Zeugung hervorbringt, wird die Person des Vaters darüberhinaus durch das Merkmal der Vaterschaft erkannt. Schließlich lässt sich der Vater auch durch das Merkmal der gemeinsamen Hauchung erkennen, insofern er zusammen mit dem Sohn den Heiligen Geist durch Hauchung hervorbringt. Der Sohn wiederum wird durch das Erkennungsmerkmal der Sohnschaft erfasst, da er durch Geburt von einem anderen herstammt, sowie durch das Erkennungsmerkmal der gemeinsamen Hauchung, insofern er zusammen mit dem Vater den Heiligen Geist durch Hauchung hervorbringt. Der Heilige Geist schließlich wird durch das Erkennungsmerkmal des Hervorgangs bzw. des Gehauchtwerdens offenbar, mithin dadurch, dass er aus einem anderen oder aus mehreren anderen durch Gehauchtwerden hervorgeht. »Es gibt also«, so fasst Thomas zusammen, »fünf Kennmale im Göttlichen: Ursprungslosigkeit, Vaterschaft, Sohnschaft, gemeinsame Hauchung und Hervorgang.« 28 »Diesen entsprechen aber nur vier Beziehungen.« 29 Denn die Ursprungslosigkeit des Vaters stellt

25 26 27 28 29

ST I q.30 a.2 ad 2. Vgl. ST I q.30 a.4. ST I q.32 a.3. ST I q.32 a.3. ST I q.32 a.3.

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Die Personen (personae)

keine Beziehung dar. Ebenso sind nur vier der fünf Erkennungsmerkmale (notiones) Eigentümlichkeiten (proprietates). Denn die gemeinsame Hauchung ist, wie bereits erwähnt, nicht die Eigentümlichkeit einer göttlichen Person, da sie sowohl der Person des Vaters als auch der Person des Sohnes zukommt. Von den vier Eigentümlichkeiten sind wiederum nur drei personhafte Erkennungsmerkmale (notiones »personales«), »d. h. Kennmale, die die Personen begründen, nämlich Vaterschaft, Sohnschaft und Hervorgang« 30. Nach Thomas sind die drei göttlichen Personen dasselbe wie die Eigentümlichkeiten bzw. eigentümlichen Beziehungen. Denn da der Vater als Person durch die Vaterschaft als eigentümliche Beziehung Vater ist, »ist der Vater dasselbe wie die Vaterschaft. Aus demselben Grunde sind auch die anderen Eigentümlichkeiten [der Sohnschaft und des Hervorgangs] dasselbe wie die Personen.« 31 Durch die Vaterschaft ist, wie Thomas sagt, »der Vater nicht bloß Vater, sondern auch Person und ist jemand oder Hypostase« 32. Der Name Vater steht für die Beziehung, durch die die Person oder Hypostase unterschieden und begründet wird. 33 Es sind demzufolge die eigentümlichen Beziehungen, welche die Personen oder Hypostasen unterscheiden und begründen. 34 Unterscheiden sich die drei göttlichen Personen oder Hypostasen durch die Beziehungen, dann kann man diese nicht fortdenken, ohne die Personen oder Hypostasen selbst wegzudenken. Denkt man etwa von der Person oder Hypostase des Sohnes die Sohnschaft weg, so bleibt weder die Person noch die Hypostase des Sohnes. 35 Für Thomas ist demnach der innere Zusammenhang von den göttlichen Personen und den innergöttlichen Beziehungen so eng, dass er sie miteinander identifiziert und die Personen als für sich bestehende Beziehungen in Gott definiert. »Die Personen sind«, so Thomas wörtlich, »die für sich bestehenden Beziehungen selbst [ipsae relationes subsistentes] […].« 36

30 31 32 33 34 35 36

ST I q.32 a.3. ST I q.40 a.1. ST I q.40 a.3 ad 2. Vgl. ST I q.40 a.2. Vgl. ST I q.40 a.4. Vgl. ST I q.40 a.3. ST I q.40 a.2 ad 1.

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Der Dreieine als Beziehungsgeschehen

Sind aber die göttlichen Personen die für sich bestehenden eigentümlichen Beziehungen selbst, dann ist auch das dreieine Wesen Gottes selbst eine Beziehungswirklichkeit oder Beziehungseinheit. Diese Schlussfolgerung bei Thomas sei noch einmal kurz erläutert. Der Vater geht ganz in der Beziehung zum Sohn (Vaterschaft) und zum Heiligen Geist (Hauchung) auf. Der Sohn geht ganz in der Beziehung zum Vater (Sohnschaft) und zum Heiligen Geist (Hauchung) auf. Und der Heilige Geist geht ganz in der Beziehung zum Vater und zum Sohn (Hervorgang, Gehauchtwerden) auf. Da die Hauchung sowohl dem Vater wie dem Sohn zukommt und somit keine unmitteilbare, d. h. individuelle Eigentümlichkeit einer Person ist, bleiben drei eigentümliche für sich bestehende Beziehungen (relationes subsistentes), die die drei Personen ausmachen: Vaterschaft, Sohnschaft und Hervorgang (Gehauchtwerden). Die Person des Vaters ist demnach nichts anderes als die für sich bestehende Beziehung (relatio subsistens) der Vaterschaft zum Sohn, die Person des Sohnes nichts anderes als die für sich bestehende Beziehung (relatio subsistens) der Sohnschaft zum Vater und die Person des Heiligen Geistes nichts anderes als die für sich bestehende Beziehung (relatio subsistens) des Hervorgangs bzw. Gehauchtwerdens zum Vater und zum Sohn. Den drei göttlichen Personen (personae) gehört nun aber das eine Wesen (essentia); sie sind eines Wesens, weshalb nach Thomas sowohl die Aussage »Gott ist drei Personen« als auch die Aussage »Das Wesen ist drei Personen« richtig ist. 37 Machen aber die drei göttlichen Personen das Wesen Gottes aus, dann ist der dreieine Gott in seinem Wesen selbst eine Beziehungswirklichkeit und eine Beziehungseinheit. Weil die drei Personen ein und dasselbe Wesen haben bzw. sind, sind sie für Thomas auch gleich bezüglich ihrer Größe, ist doch in Gott die Größe nichts anderes als das Wesen oder die Vollkommenheit seiner Natur. 38 Alle drei sind gleich ewig. 39 Unter ihnen gibt es nur eine Ordnung »dem Ursprung nach ohne ein Frühersein. Und diese Ordnung heißt nach Augustinus: Ordnung der Natur, worin

37 38 39

Vgl. ST I q.39 a.6. Vgl. ST I q.42 a.1 und a.2. Vgl. ST I q.42 a.2.

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Die Tätigkeiten (actus)

der eine nicht früher ist als der andere, sondern worin der eine aus dem anderen ist […].« 40 Die drei göttlichen Personen sind gemäß Thomas sowohl ihrem Wesen nach als auch ihrer Beziehung und ihrem Ursprung nach ineinander. 41 So ist der Vater im Sohn und der Sohn im Vater. Ebenso verhält es sich mit dem Heiligen Geist. Die drei göttlichen Personen sind nicht nur ganz aufeinander bezogen und ganz füreinander da. Sie sind auch ganz ineinander.

7.4 Die Tätigkeiten (actus) Die göttlichen Personen unterscheiden sich nur dem Ursprung nach. »Der Ursprung aber«, so Thomas, »kann sinnvoll nur durch gewisse Tätigkeiten [actus] aufgewiesen werden.« 42 Deshalb war es notwendig, den göttlichen Personen Tätigkeiten zuzuschreiben, die das Erkennungsmerkmal bestimmen (actus notionales). Diese Tätigkeiten sind aber, obwohl sie sich begrifflich von den Beziehungen und damit den Personen unterscheiden lassen, sachlich oder der Wirklichkeit nach (re) ganz und gar dasselbe wie die Beziehungen. 43 So ist es etwa dem Vater eigentümlich, den Sohn zu zeugen. 44 Thomas zufolge zeugt aber der Vater den Sohn nicht willentlich, sodass er ihn auch auf andere Weise hätte hervorbringen können, sondern durch die Natur, sodass er ihn nur auf diese Weise hervorbringen konnte. 45 In diesem Sinne ist es notwendig, dass der Vater den Sohn zeugt, wie es auch notwendig ist, dass Gott existiert. 46 Der Vater zeugt den Sohn, indem er ihm seine ganze göttliche Substanz (substantia) oder Natur (natura) mitteilt, »sodass lediglich ein Unterschied in Bezug auf den Ursprung bestehen bleibt« 47. Die Tätigkeiten, die den Beziehungen und damit den Personen zugrunde liegen, nämlich das Zeugen, das Gezeugtwerden und das Gehauchtwerden, sind für Thomas keine

40 41 42 43 44 45 46 47

ST I q.42 a.3. Vgl. 42, 5. ST I q.41 a.1. Vgl. ST I q.41 a.1 ad 2. Vgl. ST I q.41 a.1. Vgl. ST I q.41 a.2. Vgl. ST I q.41 a.2 ad 5. ST I q.41 a.3.

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Der Dreieine als Beziehungsgeschehen

willentlichen Tätigkeiten, sondern Tätigkeiten gemäß der göttlichen Natur, zu denen es keine Alternative in Gott gibt. Da wir bei jeder Tätigkeit ein entsprechendes Vermögen als ihren Ursprungsgrund annehmen müssen, müssen wir auch bei den göttlichen Personen Vermögen hinsichtlich ihrer Tätigkeiten voraussetzen. So müssen wir notwendig dem Vater das Vermögen der Zeugung, dem Vater und dem Sohn das Vermögen der Hauchung zuerkennen. 48 Im Zusammenhang der göttlichen Tätigkeiten wird noch einmal deutlich, dass es für Thomas ein zentrales Anliegen ist, in seiner Trinitätslehre zu klären und zu erklären, was es mit den drei Personen oder Hypostasen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes in der Gottheit auf sich hat. Da sich seiner Überzeugung nach die Personen nur durch ihren Ursprung real voneinander unterscheiden, sind als erstes die Ursprünge in Gott zu erfassen. Die Ursprünge oder Hervorgänge lassen sich wiederum nur durch vier Tätigkeiten bzw. Vollzüge in Gott bestimmen. Zwei von diesen Vollzügen sind aktiv, zwei passiv oder rezeptiv. Der Vater zeugt (aktiv) den Sohn, und der Vater und der Sohn hauchen (aktiv) den Heiligen Geist. Der Sohn wird (passiv) vom Vater gezeugt, und der Heilige Geist wird vom Vater und vom Sohn (passiv) gehaucht. Diese vier Vollzüge machen vier verschiedene Beziehungen in Gott aus: die Vaterschaft als die im Zeugen bestehende Beziehung des Vaters zum Sohn; die Sohnschaft als die im Gezeugtwerden bestehende Beziehung des Sohnes zum Vater; die Hauchung als die im Hauchen bestehende gemeinsame Beziehung des Vaters und des Sohnes zum Heiligen Geist; und schließlich der »Hervorgang« als die im Gehauchtwerden bestehende Beziehung des Heiligen Geistes zum Vater und zum Sohn. Da die Beziehung der Hauchung sowohl dem Vater als auch dem Sohn eigen ist und somit keine Beziehung ist, die nur einer Person zukommt, ist sie keine eigentümliche Beziehung in Gott, also keine Beziehung, durch die die individuelle Identität einer Person festgelegt wäre. Von daher bleiben in Gott drei eigentümliche Beziehungen: die Vaterschaft, die Sohnschaft und der Hervorgang, d. h. das Gehauchtwerden. Und genau diese drei Beziehungen machen die drei göttlichen Personen oder Hypostasen aus. Thomas bestimmt über die drei eigentümlichen Vollzüge des Zeugens, Gezeugtwerdens und Gehauchtwerdens in Gott die drei 48

Vgl. ST I q.41 a.4.

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Der Vater (Pater), der Sohn (Filius) und der Heilige Geist (Spiritus Sanctus)

eigentümlichen Beziehungen in Gott und identifiziert mit diesen die drei göttlichen Personen, sodass er am Ende seines Gedankengangs die Personen als für sich bestehende eigentümliche Beziehungen definieren kann. Mit seiner Trinitätslehre gelingt Thomas damit ein Doppeltes. Zum einen kann er noch deutlicher als Augustinus aufzeigen, dass das Wesen Gottes eine Beziehungswirklichkeit oder Beziehungseinheit ist. Vater, Sohn und Geist sind vollkommen aufeinander bezogen. Sie sind nichts anderes als die Beziehungen zueinander. Ihr Sein besteht in einem absoluten Füreinander-, Miteinander- und Ineinandersein. Zum anderen kann Thomas begreiflich machen, dass das Wesen Gottes eine lebendige und dynamische Wirklichkeit ist. Denn die Beziehungen beruhen auf lebendigen, dynamischen Vollzügen, besser: sie sind diese. Durch höchste geistige Vollzüge, durch höchstes Geben und Nehmen, Schenken und Empfangen, bringen die göttlichen Personen einander hervor bzw. gehen auseinander hervor. So zeugt der Vater in Ewigkeit den Sohn, wird der Sohn in Ewigkeit vom Vater gezeugt etc. Bei den Beziehungen handelt es sich folglich nicht um starre Verhältnisse in Gott, sondern um lebendige Beziehungsvollzüge, die Thomas von der aktiven Seite her mit zwei geistigen Grundvollzügen des Menschen vergleicht: mit dem Erkennen oder Verstehen und dem Wollen oder Lieben. Das Wesen Gottes erweist sich nicht nur als eine Beziehungswirklichkeit oder Beziehungseinheit, sondern als ein lebendiges und dynamisches Beziehungsgeschehen.

7.5 Der Vater (Pater), der Sohn (Filius) und der Heilige Geist (Spiritus Sanctus) Neben der eher allgemeinen Klärung, was Person oder Hypostase in der Gottheit bedeutet, wendet sich Thomas in der »Summa Theologica« auch den göttlichen Personen im Einzelnen zu. Aus der Person des Vaters entspringt sowohl der Sohn als auch der Heilige Geist. Deshalb ist der Vater der Ursprungsgrund (principium) in der Gottheit. 49 Durch die Vaterschaft unterscheidet sich die erste göttliche Person von den beiden anderen göttlichen Personen, weshalb der Name »Vater« (Pater) als ihr Eigenname gelten darf. In den göttlichen 49

Vgl. ST I q.33 a.1.

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Der Dreieine als Beziehungsgeschehen

Personen finden sich aber genau genommen zwei Ursprungsgründe: »ein Ursprungsgrund nicht vom Ursprungsgrunde – das ist der Vater, und ein Ursprungsgrund vom Ursprungsgrunde – das ist der Sohn« 50. Die völlige Ursprungslosigkeit des Vaters wird durch den Namen »ungezeugt« (ingenitus) ausgedrückt. Der zweiten göttlichen Person werden drei Namen zugesprochen: Sohn (Filius), Wort (verbum) und Bild (imago). 51 Spricht man bei Gott vom Wort, so ist damit gemeint, dass das Wort der Begriff des Verstandes ist und aus dem Verstand hervorgeht. 52 Die Person nun, die in der Gottheit durch das Erkennen und Verstehen des Vaters hervorgebracht wird, ist allein der Sohn, weshalb der Ausdruck »Wort« nur auf seine Person, nicht aber auf das Wesen Gottes anzuwenden ist. Das »Wort« ist darum ein echter Eigenname der zweiten göttlichen Person. Genauso verhält es sich mit dem Namen »Bild«. Ein Bild im eigentlichen Sinn geht laut Thomas aus einem Urbild (exemplar) hervor und ist diesem ähnlich. Deshalb trifft der Ausdruck »Bild« einzig und allein auf die Person des Sohnes zu, der vom Vater gezeugt wird und infolge dieser Zeugung sowie aufgrund seines Wortseins diesem ähnlich ist. Im Unterschied zur zweiten göttlichen Person, die in der Weise des Verstandes oder des Wortes hervorgeht, geht die dritte göttliche Person in der Weise des Willens oder der Liebe hervor. Darum wird sie mit Recht Heiliger Geist (Spiritus Sanctus) genannt. 53 Denn der Geist (spiritus), wörtlich der Hauch, steht für Antrieb und Bewegung. »Es ist aber der Liebe eigen, dass sie den Willen des Liebenden zum Geliebten hin bewegt und antreibt.« 54 Mit Heiligkeit im weiteren Sinn ist alles gemeint, was auf Gott hingeordnet ist. Im engeren Sinn steht sie für die Reinheit der göttlichen Gutheit selbst. Der Geist Gottes ist heilig, insofern er alles auf Gott hinordnet und selbst ganz Gott ist. Als dritte göttliche Person kann der Geist nicht vom Vater allein ausgehen, weil er sich sonst dem Ursprung nach nicht vom Sohn unterscheiden würde. 55 Er muss also vom Vater und vom Sohn ge50 51 52 53 54 55

ST I q.33 a.4. Vgl. ST I q.34 Vgl. ST I q.34 a.1. Vgl. ST I q.36 a.1. ST I q.36 a.1. Vgl. ST I q.36 a.2.

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Der Vater (Pater), der Sohn (Filius) und der Heilige Geist (Spiritus Sanctus)

meinsam hervorgehen. Nun verdankt aber der Sohn alles dem Vater. So verdankt er ihm auch, dass auch er selbst den Heiligen Geist durch Hauchung hervorbringt. Deshalb kann man nach Thomas sagen, »dass der Vater den Heiligen Geist hauche durch den Sohn, oder dass der Heilige Geist durch den Sohn vom Vater hervorgehe, was dasselbe ist« 56. Mit der Aussage, der Heilige Geist gehe vom Vater durch den Sohn hervor, wird für Thomas auch zum Ausdruck gebracht, dass die dritte göttliche Person sowohl unmittelbar als auch mittelbar – nämlich durch den Sohn – vom Vater ausgeht. Da sich Vater und Sohn bei der Hauchung des Heiligen Geistes nicht beziehentlich (relative) gegenüberstehen, bilden sie einen einzigen Ursprungsgrund des Heiligen Geistes. Der Geist »geht von ihnen hervor als die Liebe, die beide eint« 57. Deshalb kann nach Thomas der Name Liebe (amor) speziell der Person des Heiligen Geistes zugesprochen werden, insofern dieser das Band der Liebe zwischen Vater und Sohn ist. Der Geist ist die Liebe, die aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht, indem sich Vater und Sohn gegenseitig lieben und so die Liebe »hauchen«. 58 Die Liebe kann jedoch aus diesen Gründen auch allgemein dem Wesen Gottes zugeschrieben werden. Obwohl auch der Sohn von Gott aus Liebe gegeben ist (Joh 3,16), ist der Heilige Geist als die Liebe selbst im eigentlichen Sinn die Gabe (donum) Gottes an uns. 59 Gott schenkt sie uns in völliger Freiheit und ohne Absicht auf Gegenleistung. Er gibt sie uns so, dass er sie nicht mehr rückgängig machen kann. Der Eigenname der ersten göttlichen Person ist »Vater«. Neben der Vaterschaft, von der er seinen Namen hat, zeichnet sich der Vater durch die Ursprungslosigkeit und durch die Hauchung aus. Die zweite göttliche Person trägt den Eigennamen »Sohn«. Der Sohn ist gekennzeichnet durch die Sohnschaft, der er seinen Namen verdankt. Er ist auch im eigentlichen Sinn das Wort und das Bild in der Gottheit. Die dritte göttliche Person wird »Heiliger Geist« genannt. Er ist in der Gottheit im engeren Sinn die Liebe und die Gabe an uns.

56 57 58 59

ST I q.36 a.3. ST I q.36 a.4 ad 1. Vgl. ST I q.37 a.1 und a.2. Vgl. ST I q.38 a.2.

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Der Dreieine als Beziehungsgeschehen

7.6 Die Sendungen (missiones) Die beiden ewigen Hervorgänge (processiones) des Sohnes und des Heiligen Geistes in Gott setzen sich gemäß Thomas in den beiden zeitlichen Sendungen (missiones) des Sohnes und des Heiligen Geistes in die Welt fort. 60 So ist der Sohn vom Vater zu einer bestimmten Zeit – »als die Fülle der Zeit gekommen war« (Gal 4,4) – in die Welt gesandt worden, um darin Mensch zu werden, obwohl er schon immer in der Welt war (Joh 1,10). Und so ist der Heilige Geist nach der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu Christi vom Vater und vom Sohn in die Welt gesandt worden und ist ebenfalls in sichtbaren Zeichen in diese gekommen (Apg 2,1–13), um die Geschöpfe zu heiligen, obwohl auch er schon immer in der Welt war. Die Sendung einer göttlichen Person in die Welt bedeutet demzufolge, dass die Person auf neue Weise in der Welt und bei oder in den Menschen da ist. Während der Sohn als Urheber der Heiligung in die Welt kam, kam der Heilige Geist als Zeichen und Vollendung der Heiligung. Da der Vater nicht aus einer anderen Person hervorgegangen ist, kann er laut Thomas auch nicht in die Welt gesandt werden. Trotzdem kann er durch die heiligmachende Gnade wie der Sohn und der Geist den Menschen einwohnen. 61 Obwohl demnach die zeitlichen Sendungen den ewigen Hervorgängen im Wesentlichen entsprechen, besteht für Thomas doch auch ein gewisser struktureller Unterschied zwischen ihnen. Denn nicht nur der Vater und der Sohn senden den Heiligen Geist in die Welt. Auch der Heilige Geist sendet umgekehrt in gewisser Weise den Sohn in die Welt (vgl. Lk 1,35; Mt 1,20), sodass es zwar eine Person in der Trinität gibt, die keine andere hervorgebracht hat, aber keine Person in ihr gibt, die nicht eine andere gesendet hätte. Der Sohn und der Heilige Geist senden jeweils sich und den anderen in die Schöpfung, weshalb die beiden jeweils von der ganzen Dreieinigkeit gesandt sind – im Unterschied zum Vater, der von niemandem gesandt ist, aber den Sohn und den Heiligen Geist sendet.

60 61

Vgl. ST I q.43 a.1. Vgl. ST I q.43 a.5.

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Die Analogie und die Unbegreiflichkeit Gottes

7.7 Die Analogie und die Unbegreiflichkeit Gottes Aus der christlichen Tradition heraus besteht für Thomas das Wesen Gottes darin, Vater, Sohn und Heiliger Geist zu sein, d. h. dreifaltig zu sein. Die Erkenntnis der Dreieinigkeit Gottes fällt in den Bereich der Theologie, denn sie geht auf die christliche Offenbarung, wie sie sich im Alten und besonders im Neuen Testament niedergeschlagen hat. Theologie kann als die Wissenschaft von Gott verstanden werden, die ihre Einsichten der göttlichen Offenbarung verdankt und die das Geoffenbarte – insbesondere mit Hilfe der Philosophie – gedanklich zu durchdringen sucht. Die Philosophie hingegen kann als Wissenschaft aufgefasst werden, die ihre Erkenntnisse allein mit Mitteln der Vernunft, nicht aber durch göttliche Offenbarung zu begründen sucht. Die Bestimmung des Wesens Gottes als Trinität ist demnach bei Thomas eine theologische, die er wie Augustinus und Richard durch philosophische Überlegungen zu stützen sucht. Neben der theologischen Bestimmung des Wesens Gottes als Dreifaltigkeit kennt Thomas auch eine philosophische. Der philosophischen Betrachtung und Systematik gemäß ist Gott für ihn das durch sich selbst seiende Sein selbst (ipsum esse per se subsistens). 62 Gott ist in keiner Weise vom Sein selbst (esse ipsum) verschieden. Unter Sein versteht Thomas die absolut unerschöpfliche Fülle der Wirklichkeit und des Lebens. Von diesem Sein gilt, dass es nach Art der Substanz für sich besteht (subsistens), d. h. nicht wie die Eigenschaften an einem anderen, sondern in sich und für sich existiert. Von diesem für sich bestehenden Sein sagt Thomas aus, dass es auch durch sich existiert (per se subsistens). Es existiert allein durch sich oder aus sich und nicht durch ein anderes. Dieses absolute Durch-sich-Sein oder Aus-sich-Sein, ohne in irgendeiner Weise in seinem Sein von einem anderen abhängig zu sein, wird die Aseität Gottes genannt. Bei allem Reden über Gott – sei es theologisch, sei es philosophisch – müssen wir uns nach Thomas dessen bewusst sein, dass unsere Aussagen über Gott analog zu verstehen sind und Gott selbst für uns letztlich unbegreiflich ist. 63 Die Lehre von der Analogie und von

Deus est ipsum esse per se subsistens (ST I q.4 a.2 resp.). Zur Analogie der Aussagen bei Thomas siehe Norbert Ernst: Die analoge Rede von Gott bei Thomas von Aquin, in: Werner Schüßler (Hrsg.): Wie lässt sich über Gott sprechen? Von der negativen Theologie Plotins bis zum religiösen Sprachspiel Wittgensteins, Darmstadt 2008, 43–57.

62 63

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Der Dreieine als Beziehungsgeschehen

der Unbegreiflichkeit Gottes entwickelt Thomas in den ersten quaestiones (Fragen) seiner »Summa Theologica«. 64 Darin bekennt er sich zunächst zu einer abgeschwächten Form negativer Theologie, indem er behauptet: Bei Gott können wir nicht wissen, was er ist, sondern nur, was er nicht ist. 65 Nach diesem Prinzip wären ausschließlich negative Beschreibungen des Wesens Gottes möglich, nicht aber affirmative. Tatsächlich geht Thomas im weiteren Verlauf seiner Überlegungen zum Wesen Gottes zu affirmativen Aussagen über Gott über. Er ist sich jedoch der Inkonsequenz wohl bewusst und differenziert deshalb in Bezug auf das Prinzip der negativen Theologie bzw. relativiert dieses. Wir können in diesem Leben das Wesen Gottes, wie es in sich ist, nicht erkennen, will sagen, wir können es nicht direkt erkennen. Nur die Seligen vermögen das unendliche Wesen und das unendliche Sein Gottes zu schauen, wie es in sich ist, und d. h. direkt zu erkennen bzw. zu erfahren. 66 Dennoch können wir in diesem Leben das Wesen Gottes indirekt erkennen, nämlich durch gedankliche Schlussfolgerung aus den Geschöpfen. Weil Gott die Schöpfung ursächlich hervorbringt und den Geschöpfen etwas von seiner Seinsvollkommenheit mitteilt und weil so die Geschöpfe am Sein Gottes teilhaben, ähneln die Geschöpfe in gewissem Sinn ihrem Schöpfer und stellen ihn, wenn auch auf unvollkommene Weise, dar. Die vielen geschöpflichen Vollkommenheiten spiegeln etwas von der einen und einfachen Vollkommenheit Gottes wider. Aus diesem Grund lässt sich indirekt über die Geschöpfe etwas vom Wesen Gottes erkennen und können wir wahre affirmative Aussagen über Gott treffen. 67 Diese affirmativen Aussagen beziehen sich nach Thomas dann aber wahrhaft auf das Wesen Gottes und nicht nur auf seine ursächliche Beziehung zu den Geschöpfen. So betont Thomas: Wenn wir sagen, Gott sei gut, wollen wir damit nicht nur behaupten, er sei die Ursache alles Guten in der Schöpfung, oder, er sei nicht schlecht, sondern Gott sei in sich und auf höhere Weise gut. 68 Siehe dazu Johannes Herzgsell SJ: Die Unbegreiflichkeit Gottes. Einige Bemerkungen zur negativen Theologie, in: Johannes Herzgsell/Janez Perčič (Hg.): Religion und Rationalität (Quaestiones disputatae 244), Freiburg i. Br. 2011, 36–48, besonders 41–44. 65 Vgl. z. B. ST I q.3; vgl. auch ST I q.2 a.2 2. 66 Vgl. ST I q.12. 67 Vgl. ST I q.13 a.12 und a.2 resp. 68 Vgl. ST I q.13 a.2 resp. 64

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Die Analogie und die Unbegreiflichkeit Gottes

So wie theologisch betrachtet von Gott, dem Schöpfer, die gesamte Schöpfung sowie jedes einzelne Geschöpf als nicht-göttliche Wirklichkeit geschaffen ist und damit von ihm abhängig sowie verschieden ist, ist für Thomas philosophisch betrachtet vom unendlichen, ewigen Sein die endliche, zeitliche Welt und jedes einzelne Seiende in ihr metaphysisch sowohl abhängig als auch verschieden. Das Seiende ist nur, indem es am Sein des Seins selbst teilhat. Zwischen dem Sein des Seienden und dem Sein des Seins selbst, oder einfacher zwischen dem Seienden und dem Sein besteht nun nach Thomas eine Analogie, d. h. eine gewisse Ähnlichkeit, wobei die Unähnlichkeit unvergleichlich größer ist. Die Seienden bzw. die Geschöpfe sind Gott in gewisser Weise ähnlich. Von ihren endlichen d. h. begrenzten Vollkommenheiten kann man auf Gottes unendliche Vollkommenheit schließen. Allerdings gilt für Thomas bei der Analogie des Seins die Ähnlichkeit nur in einer Richtung. Man kann und muss sagen, die Seienden seien dem Sein ähnlich. Man kann aber nicht umgekehrt sagen, das Sein sei dem Seienden ähnlich oder Gott sei den Geschöpfen ähnlich. Das hat bei Thomas damit zu tun, dass er, um jede Abhängigkeit Gottes von der Welt und somit jede Veränderlichkeit Gottes durch sie auszuschließen, zwar die Beziehung der Welt zu Gott für wirklich hält, aber die Beziehung Gottes zur Welt als rein gedanklich auffasst. 69 Dies ist insofern freilich äußerst problematisch, als damit Handlungen Gottes in der Welt wie die Menschwerdung des Sohnes oder Haltungen Gottes gegenüber der Welt wie die Liebe ihrer Wirklichkeit entleert und ihres Sinnes beraubt werden. Im Kapitel über die Ewigkeit Gottes (Kap. 18) wird deshalb die Wirklichkeit der Beziehung Gottes zur Welt und damit verbunden eine wirkliche Veränderung Gottes mit der Welt vertreten werden. Der Analogie des Seins entspricht bei Thomas eine Analogie der Rede oder Aussage. Wir können nach Thomas wahre bejahende Aussagen über das Wesen Gottes machen, indem wir – im Sinne der via causalitatis – die relativen Vollkommenheiten der Schöpfung auf Gott übertragen, und – im Sinne der via eminentiae – die entspre»Nun steht Gott außerhalb der gesamten geschöpflichen Ordnung und doch sind alle Geschöpfe auf ihn hingeordnet, nicht umgekehrt; daher haben die Geschöpfe offenbar eine natur-wirkliche [realiter] Beziehung zu Gott. In Gott aber gibt es keine natur-wirkliche [realis] Beziehung zu den Geschöpfen, sondern bloß eine gedachte [secundum rationem], insofern die Geschöpfe zu ihm eine Beziehung haben« (ST I q.13 a.7 resp.).

69

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Der Dreieine als Beziehungsgeschehen

chenden Aussagen ins Unendliche steigern und – im Sinne der via negationis – von aller Unvollkommenheit befreien. 70 Gott ist gut, aber er ist im Gegensatz zu allen Geschöpfen auf unendliche und auf vollkommene Weise und seinem Wesen nach gut. In der Aussage »Gott ist gut« wird freilich der Begriff »gut« im Vergleich zu seiner sonstigen Anwendung auf Geschöpfe weder univok, also im Sinne vollständiger Bedeutungsgleichheit, noch äquivok, also im Sinne bloßer Wortgleichheit, sondern analog, im Sinne einer Verhältnisgleichheit, einer Ähnlichkeit verwendet. 71 Thomas zufolge wissen wir nicht nur aus der Schöpfung mit ihren relativen Seinsvollkommenheiten, sondern auch aus der Offenbarung vom Wesen Gottes und können dieses affirmativ-analog beschreiben. Anders als bei Pseudo-Dionysios Areopagites (5. Jh.) und etwa auch bei dem jüdischen Philosophen Maimonides (1135–1204) schlägt in Thomas’ »Summa Theologica« nicht die positive Theologie von sich aus in eine negative um. Vielmehr geht umgekehrt die negative in eine affirmative über. Thomas rehabilitiert damit im Grunde die affirmative Theologie. Die Unbegreiflichkeit Gottes erläutert Thomas auf ontologischer (seinstheoretischer), epistemologischer (erkenntnistheoretischer) und semantischer (sprachtheoretischer) Ebene, wobei die semantische Ebene an die epistemologische und die ontologische, und die epistemologische an die ontologische zurückgebunden ist. Gott ist als Gegenstand, über den wir Aussagen machen, zunächst einmal ontologisch betrachtet einzigartig. Unter der Fragestellung der Unbegreiflichkeit Gottes sind es bei Thomas vor allem drei Merkmale oder Wesenszüge, durch die sich Gott von allen anderen möglichen Gegenständen abhebt: 1. Gott hat sein Sein nicht durch Teilhabe an einem anderen, sondern durch sein Wesen. Er hat nicht Sein, sondern ist sein Sein. Er ist das durch sich subsistierende Sein selbst. Sein Wesen ist es, zu sein. Deshalb fallen in ihm, und nur in ihm, Wesen und Sein zusammen. 2. Gott ist ganz einfach. Er ist in keiner Weise zusammengesetzt. Er ist Form ohne Materie, Akt ohne auch nur die Spur einer unverwirklichten Potenz. 3. Gott ist unendlich, d. h. schlechthin unbegrenzt. 70 71

Vgl. ST I q.13 a.1 resp. Vgl. ST I q.13 a.5 resp.

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Die Analogie und die Unbegreiflichkeit Gottes

Die so umrissene ontologische Einzigartigkeit Gottes hat epistemologische Konsequenzen. An sich ist Gott nach Thomas – gemäß der Lehre von den Transzendentalien – im höchsten Grade erkennbar, da er reine Wirklichkeit, höchstes Sein ist. Wir können mit unserem Verstand Gott dennoch nicht begreifen, weil Gott als Erkenntnisgegenstand die Erkenntniskraft unseres Verstandes überragt. 72 Der Mensch erkennt natürlicher Weise mit seinem Verstand das, was seiner Seinsweise entspricht, und das sind die zusammengesetzten materiellen Dinge, die ihr Sein empfangen haben, aber nicht selbst sind. Gott, der Sein nicht hat, sondern das einfache, d. h. nichtzusammengesetzte Sein selbst ist, übersteigt die natürliche Erkenntniskraft des menschlichen Verstandes 73, sodass dieser das Wesen Gottes in sich nicht direkt zu erkennen vermag. Nur den Seligen verleiht Gott, wie angedeutet, mittels des übernatürlichen Glorienlichts die Kraft, sein Wesen, wie es in sich ist, zu schauen. 74 Gott schenkt den Seligen in seiner Gnade mit dem übernatürlichen, aber geschaffenen Glorienlicht einen Zuwachs an Erkenntniskraft, der den Verstand gottähnlich macht. Aber auch der gnadenhaft erleuchtete Verstand der Seligen vermag das Wesen Gottes nicht eigentlich zu begreifen, obwohl er es schaut. Denn im weiteren Sinn bedeutet »Begreifen« zwar für Thomas ein Erreichen im Gegensatz zum Verfolgen etwa eines Zieles. Die Seligen erreichen, erfassen oder ergreifen in ihrer Gottesschau Gott als festen unverlierbaren Besitz. In diesem Sinn begreifen sie Gott. Im eigentlichen strengen Sinn bedeutet »Begreifen« aber nach Thomas »Umgreifen«, »Umfassen«, »Umschließen«. In diesem Sinne vermag auch der vergöttlichte Verstand der Seligen Gott nicht zu begreifen. »Denn ihn, den Unendlichen, vermag nichts Endliches zu umschließen, derart, dass etwas Endliches ihn in solch unendlicher Weise erfasste, wie er selbst unendlich ist.« 75 Um Gott begreifen und d. h. für Thomas vollkommen erkennen zu können, müsste der Mensch Gott auf so unendliche Weise erkennen, wie Gott sich selbst erkennt, und d. h. der Mensch müsste selber schlechthin unendlich werden, was selbst bei seiner Vollendung nicht eintritt.

72 73 74 75

Vgl. ST I q.12 a.1 resp. Vgl. ST I q.12 a.4 resp. Vgl. ST I q.12 a.5. ST I q.12 a.7 ad 1.

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Der Dreieine als Beziehungsgeschehen

Die Einzigartigkeit Gottes und seine spezifische Erkenntnistranszendenz haben nun bei Thomas auch semantische Folgen. Wie die Geschöpfe mit ihren relativen Vollkommenheiten das Wesen Gottes nur unvollkommen repräsentieren und hinter der Kraft und der Seinsweise Gottes als ihrer Ursache zurückbleiben, so bezeichnen die Gottesnamen das Wesen Gottes auch nur unvollkommen. 76 Gottes Wesenheit ist und bleibt daher über alles erhaben, was wir von ihm aussprechen können. 77 Bei den Namen, die wir Gott beilegen, ist nach Thomas ein Doppeltes zu beachten: »[…] die bezeichneten Vollkommenheiten, wie Güte, Leben usw., selbst, und die Art und Weise der Bezeichnung. In Bezug auf das, was die Namen meinen, gelten sie von Gott im eigentlichen Sinn, ja eigentlicher als von den Geschöpfen [von denen sie doch genommen sind], und ihm werden sie ursprünglich beigelegt. In Bezug auf die Art und Weise der Bezeichnung aber gelten sie von Gott nicht im eigentlichen Sinne; denn diese entspricht den Geschöpfen.« 78

Was den Inhalt der Begriffe anbelangt treffen die Begriffe, die wir auf Gott anwenden, auf Gott eigentlich und ursprünglich zu. »Gott ist gut« heißt, »Er ist eigentlich und ursprünglich gut«, »Er ist das unendliche Gute selbst«. Was aber die Art und Weise des Bezeichnens oder Begreifens angeht, so kommt die »Güte« Gott im Gegensatz zu den Geschöpfen nicht als eine Eigenschaft oder eine Beschaffenheit zu, die von ihrem Träger verschieden wäre. Die Güte Gottes gehört zu seinem vollkommen einfachen Wesen. »Wenn wir z. B. einen Menschen ›weise‹ nennen, so bezeichnen wir damit eine Vollkommenheit, die vom Wesen des Menschen, von seiner Kraft, von seinem Sein usw. verschieden ist. Wenn wir dagegen Gott diesen Namen beilegen, so wollen wir damit nicht etwas von seinem Wesen, seiner Macht und seinem Sein Verschiedenes bezeichnen. Wenn wir also einen Menschen ›weise‹ nennen, so ist das damit Bezeichnete einigermaßen vollständig bestimmt und erfasst; auf Gott angewandt ist es anders; da bleibt das Bezeichnete unbegriffen und reicht über die Bedeutung des Namens hinaus.« 79

Weisheit bezeichnet eben im Geschöpf eine Beschaffenheit, in Gott dagegen nicht. 76 77 78 79

Vgl. ST I q.13 a.2 resp. Vgl. ST I q.13 a.1 ad 1. ST I q.13 a.3 resp. ST I q.13 a.5 resp.

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Die Analogie und die Unbegreiflichkeit Gottes

Wie die Art und Weise unseres Bezeichnens so entspricht nach Thomas auch unsere Art und Weise des Aussagens den Geschöpfen und ist daher im Grunde Gott unangemessen. 80 Analogie bedeutet deshalb bei Thomas auf der semantischen Ebene nicht sosehr, dass die Begriffe, die wir sowohl auf Geschöpfe als auch auf Gott anwenden, eine irgendwie ähnliche inhaltliche Bedeutung haben, sondern vielmehr, dass sie – so könnte man in Anlehnung an Wittgenstein sagen – nur eine ähnliche Verwendung haben. Während wir mit unseren Begriffen Gegenstände aus der geschöpflichen Wirklichkeit gegeneinander abgrenzen, einander zuordnen und in umfassende Systeme einordnen, also kategorisieren und klassifizieren, können wir mit unseren Begriffen auf den einzigartigen Gegenstand Gott nur hinweisen, verweisen, hindeuten. Weil Gott – als einfaches unendliches Sein selbst – einen einzigartigen Gegenstand darstellt, der unsere Erkenntniskraft übersteigt und den wir nicht adäquat zum Ausdruck bringen können, ist und bleibt in gewissem Sinn nach Thomas Gott für uns trotz unserer wahren affirmativen Aussagen über ihn ein unbegreifliches Geheimnis. Bei allem Reden über Gott – sei es theologisch, sei es philosophisch – muss man sich deshalb nach Thomas der Analogie der Rede und der letzten Unbegreiflichkeit Gottes bewusst sein. Wenn wir im Rahmen der Trinitätslehre etwa die erste göttliche Person als Vater bezeichnen oder den Heiligen Geist oder die ganze Gottheit die Liebe nennen, müssen wir uns dessen bewusst sein, dass wir die Ausdrücke »Vater« 81 und »Liebe« analog verwenden und somit zwischen der göttlichen Vaterschaft und Liebe einerseits und der menschlichen Vaterschaft und Liebe andererseits eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden ist, die Unähnlichkeit aber unvergleichlich überwiegt. Die hier skizzierte Analogie als Ähnlichkeit bei größerer Unähnlichkeit kann in zwei Richtungen aufgelöst werden. Es kann zum einen das Moment der Ähnlichkeit verabsolutiert werden. Das hat die Univozität zur Folge, die völlige Bedeutungsgleichheit der AusVgl. ST I q.13 a.12. Beim Ausdruck »Vater« wie auch beispielsweise bei den Ausdrücken »Fels« oder »Licht« handelt es sich genau genommen um eine Metapher, ein sprachliches Bild. Versucht aber man anzugeben, inwiefern eine Metapher auf Gott zutrifft, muss man auf Ausdrücke zurückgreifen, die analog zu verstehen sind. Erklärt man etwa, wie Thomas das tut, der Vater sei ein Wesen, das ein anderes, ihm ebenbürtiges, das ihm ähnlich ist, verursacht oder hervorbringt, so werden die Ausdrücke »verursachen« oder »hervorbringen« analog verwendet.

80 81

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Der Dreieine als Beziehungsgeschehen

drücke in ihrer Anwendung auf die Welt und auf Gott. So lehnte etwa Johannes Duns Scotus (1265/66–1308) die Analogielehre des Thomas ab und vertrat die Univozität des Seienden. 82 Der Begriff des Seienden sei von Gott und dem Geschöpf gleichermaßen, d. h. univok aussagbar. Die Univozität wird jedoch dem wesentlich anderen Sein Gottes gegenüber dem Sein der Welt nicht gerecht. Es kann aber bei der Rede über Gott auch das Moment der Unähnlichkeit verabsolutiert werden, woraus die schlechthinnige Unbegreiflichkeit Gottes folgt. Dann ließe sich im Sinne einer absoluten negativen Theologie überhaupt nichts Wahres über Gott aussagen. All unsere Begriffe und Aussagen würden in Bezug auf Gott vollkommen ins Leere laufen. Es gäbe keinerlei gedankliche und sprachliche Annäherung an Gott. Dieses Extrem wird jedoch weder der Offenbarung Gottes gerecht, durch die wir, insofern sie für uns in der heiligen Schrift zugänglich ist, über wahre Aussagen über Gott verfügen, noch unserer Vernunft, die bezüglich der Erkenntnis Gottes nicht völlig blind ist. Für Thomas ist ähnlich wie für Plotin Gott bis zu einem gewissen Grad begreiflich, letztlich und im eigentlichen Sinn aber unbegreiflich. Er hält es für grundsätzlich möglich, sich über Begriffe und Aussagen der Wahrheit Gottes zu nähern. Aber er ist auch davon überzeugt, dass wir Gott niemals ganz begreifen können. Trotz dieser letzten Unbegreiflichkeit Gottes setzt Thomas in seinem Werk sehr stark auf das positive Moment der Analogie, die Ähnlichkeit von Schöpfer und Schöpfung. Er traut dem Verstand in dem Bemühen, Gott begreiflich zu machen, einiges zu und setzt sich für eine affirmative Theologie ein. Im Unterschied dazu hebt der nächste christliche Denker, der hier vorgestellt wird – Nikolaus von Kues (1401–1464) – stärker das negative Moment der Analogie, die Unähnlichkeit zwischen Schöpfer und Schöpfung hervor. Vom Neuplatonismus inspiriert tritt er stark für eine negative Theologie ein. Für ihn muss unser Erkenntnisvermögen des Verstandes, bei dem Versuch, Gott zu denken, scheitern. Zwar reicht unsere Vernunft bei der Gotteserkenntnis weiter. Dennoch bleibt Cusanus zufolge das Wesen Gottes in sich für uns immer unerkennbar. Erkennbar ist für uns Gott nur, insoweit er auf die Schöpfung bezogen ist, nicht aber in seinem eigenen Wesen. Damit Siehe dazu Johannes Duns Scotus: Die Univozität des Seienden. Texte zur Metaphysik. Herausgegeben von Tobias Hoffmann, Göttingen 2002, XXII–XXXI.

82

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Reflexion

hebt sich Cusanus von Thomas ab, nach dessen Überzeugung wir durchaus etwas vom Wesen Gottes in sich selbst erkennen, wenn auch letztlich nicht begreifen können.

7.8 Reflexion 7.8.1 Fragen an die Trinitätsspekulation des Thomas Thomas von Aquin ist in seiner Trinitätslehre in wesentlichen Punkten der Konzeption des Augustinus verpflichtet. Der Denkmethode seiner Zeit und seinem persönlichen Denkstil entsprechend systematisiert er sie jedoch sehr stark. Auch präzisiert er sie begrifflich und begründet sie in vielen einzelnen argumentativen Schritten ganz ausführlich. Schließlich ergänzt er sie um etliche Aspekte. Wie Anselm von Canterbury folgt Thomas Augustinus darin, das Wesen Gottes im Kern als Beziehungswirklichkeit zu denken. 83 Anders als für Augustinus, Anselm, Richard von St. Viktor, Abaelard (1079–1142) u. a. gibt es für Thomas jedoch keinen Weg von der Einheit des göttlichen Wesens zur Verschiedenheit der Personen. 84 Nachdem er am Beginn der »Summa Theologica« die Einheit Gottes philosophisch behandelt hat, ist für ihn der Ausgangspunkt des theologischen Traktats die Verschiedenheit der Personen selbst. Weitaus mehr als Augustinus hebt er theologisch gegenüber dem einen göttlichen Wesen die verschiedenen Beziehungen der göttlichen Personen hervor. Für ihn sind die göttlichen Personen subsistierende Relationen. Von daher kann seine Trinitätslehre als Brücke zwischen Augustinus’ intrapersonalem Modell und Richards interpersonalem Modell betrachtet werden. Dennoch lassen sich einige Fragen an sein Konzept richten. Nur zwei dieser Fragen seien hier erwähnt. 1. Thomas zufolge gibt es in Gott nur zwei Tätigkeiten, die innen im Tätigen verbleiben, und das ist das Verstehen (intelligere) und das Wollen (velle). Deshalb kann es in Gott auch keinen anderen Hervorgang geben als den des Wortes und den der Liebe. 85 Das Empfinden (sentire) als weitere mögliche geistige Tätigkeit innerhalb Gottes ist bei Thomas ausgeschlossen, weil es außerhalb der verstandhaften Na83 84 85

Vgl. HD 2 500. Vgl. Greshake 2001, 118. Vgl. ST I q.27 a.5.

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Der Dreieine als Beziehungsgeschehen

tur (extra naturam intellectualem) liegt und sich nicht vollkommen von den Tätigkeiten, die nach außen gehen, unterscheiden lässt. Denn das Empfinden vollendet sich durch die Einwirkung des Sinnfälligen auf den Sinn. Andere christliche Denker teilten diese Ansicht des Thomas nicht. Für sie war das Empfinden genauso wie das Verstehen und das Wollen eine echte, und d. h. unendliche Vollkommenheit in Gott. So sieht das Johannes vom Kreuz, wenn er beschreibt, wie das menschliche Empfindungsvermögen dem göttlichen gleichgestaltet wird und auf diese Weise sogar selber vergöttlicht wird. 86 Ein unendliches Empfindungsvermögen setzt aber auch Hans Urs von Balthasar voraus, wenn er Gott als den unendlich Leidenden darstellt. 87 Bei Thomas stellt sich die Frage, ob die Deduktion nicht von vornherein vom Ergebnis geleitet ist: Es kann nur zwei geistige Tätigkeiten geben, die die Hervorgänge konstituieren, weil es nur zwei Hervorgänge geben kann. 2. Nach Thomas unterscheiden sich die Personen nur durch den Ursprung, weshalb der Heilige Geist auch vom Sohn ausgehen muss. 88 Würde er nur vom Vater ausgehen, würde er sich nicht vom Sohn unterscheiden. Aber im Gegensatz zu Richard, der nur das formale Kriterium kennt, dass der Heilige Geist im Unterschied zum Sohn vom Vater und vom Sohn ausgeht, kennt Thomas ein inhaltliches Kriterium für den Unterschied zwischen dem Hervorgang des Sohnes und dem des Heiligen Geistes: der Sohn geht in der Weise des Verstandes bzw. Wortes, der Heilige Geist in der Weise des Willens bzw. der Liebe hervor. Würde diese inhaltliche Differenz aber nicht ausreichen, um einen wirklichen Unterschied zwischen den beiden Personen zu begründen, sodass der Heilige Geist vom Vater allein ausgehen könnte – wie das die Ostkirche annimmt – und doch vom Sohn unterschieden wäre?

7.8.2 Proprietäten und Appropriationen Beim dreieinen Gott ist zu unterscheiden zwischen Eigenschaften, die allen drei innergöttlichen Personen aufgrund ihres gemeinsamen 86 87 88

Siehe Kap. 10.3. Siehe Kap. 14.7. Vgl. z. B. ST I q.29 a.4.

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Reflexion

göttlichen Wesens zukommen und deshalb auch einfach dem einen Gott zugesprochen werden können, und solchen, die wirklich nur jeweils eine Person aufgrund ihrer Eigentümlichkeit besitzt. 89 So kommt z. B. die Allmacht, welche die Tradition besonders dem Vater zuschrieb, die Weisheit und die Wahrheit, die sie besonders dem Sohn zuteilte, und die Güte und die Heiligkeit, die sie besonders in Verbindung mit dem Heiligen Geist brachte, allen drei Personen auf gleiche Weise und in gleichem Maße zu. Bei diesen so genannten Appropriationen handelt es sich nicht um echte Eigentümlichkeiten einzelner göttlicher Personen, sondern um Eigenschaften des einen göttlichen Wesens, die nur jeweils einer Person besonders zugesprochen werden. Mit Thomas sind in aller Deutlichkeit von diesen Appropriationen die Proprietäten zu unterscheiden, die echte Eigentümlichkeiten darstellen. Innerhalb der immanenten Trinität sind die Vaterschaft oder auch die Ursprungslosigkeit, die Sohnschaft oder auch das Logos-Sein und der Hervorgang als Gehauchtwerden echte Eigentümlichkeiten des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Innerhalb der ökonomischen Trinität sind die Menschwerdung des Sohnes und das Werk der Heiligung, das der Heilige Geist vollbringt, echte Eigentümlichkeiten.

7.8.3 Das logische und metaphysische Kernproblem der Trinität Der christliche Glaube kennt drei mysteria stricte dicta – drei Geheimnisse im eigentlichen Sinn. Diese sind die Menschwerdung Gottes, die Dreieinigkeit Gottes und die Verherrlichung des Menschen durch Gott. Bei allen drei Glaubensgeheimnissen stellt sich die Frage, ob sie überhaupt widerspruchsfrei gedacht werden können. Beim Geheimnis der Menschwerdung Gottes verhält es sich nach christlicher Lehre so, dass Jesus Christus ganz Gott und ganz Mensch ist. Bestimmt man Gott als unendliches Wesen und den Menschen als endliches Wesen und fasst man das Unendliche als kontradiktorischen Gegensatz zum Endlichen, also als Nichtendliches auf, dann hat man es mit einem Widerspruch zu tun. Denn dann ist Christus unendlich (= nichtendlich) und endlich zugleich. Das Unendliche muss aber nicht notwendig als die Negation des 89

Siehe dazu Kap. 5.7 und Kap. 6.6.2.

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Der Dreieine als Beziehungsgeschehen

Endlichen verstanden werden und sollte so auch nicht verstanden werden. Es stellt vielmehr eine positive Wirklichkeit dar, ja ist die positive Wirklichkeit schlechthin. Das göttliche Unendliche ist die qualitativ wie quantitativ schlechthin unbegrenzte Fülle des Lebens, der Wirklichkeit und des Seins, während die menschliche Endlichkeit eine begrenzte Fülle dessen anzeigt. Bei diesem Verständnis besteht zwischen der Unendlichkeit Gottes und der Endlichkeit des Menschen kein Widerspruch. Die beiden Naturen Christi, die göttliche und die menschliche, existieren in der Person Christi ungetrennt und unvermischt ineinander, widersprechen einander aber nicht. Fasst man Gott etwa als das absolute Sein auf, dann wäre das kontradiktorische Gegenteil von ihm nicht das endliche Sein des Menschen, sondern das absolute Nichts. So gesehen liegt zwischen Gott und Mensch kein Widerspruch vor. Wir können mit unserem Verstand die Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus grundsätzlich denken. Ähnliches ließe sich beim Geheimnis der Verherrlichung des Menschen, die im Kern die Vergöttlichung des Menschen bedeutet 90, demonstrieren. Anders steht es beim Glaubensgeheimnis der Dreieinigkeit Gottes. Denn dieses Geheimnis besagt in seinem metaphysischen Kern, wie sich bereits bei Augustinus gezeigt hat: (1) Der Vater = Gott. (2) Der Sohn = Gott. (3) Der Geist = Gott. Der Vater ist ganz Gott, der Sohn ist ganz Gott und der Geist ist ganz Gott. Dennoch ist der Vater nicht mit dem Sohn und der Sohn nicht mit dem Geist identisch und ist Gott nur ein einziger. 91 Liest man das »ist« in Sätzen wie »Der Vater ist ganz Gott« als Identitätszeichen, tritt ein logischer Widerspruch auf. Denn dann ist etwas, das identisch ist mit einem, zugleich nicht identisch mit diesem. Wenn der Vater identisch ist mit Gott und der Sohn identisch ist mit Gott, dann müssten auch Vater und Sohn miteinander identisch sein, was von den theologischen Prämissen her aber nicht der Fall ist. Deshalb haben wir es, wenn wir das Geheimnis der Dreieinigkeit Gottes zu denken versuchen, mit einem logischen Widerspruch zu tun. Siehe dazu Kap. 13.2. Vgl. Thomas Schärtl: Kommentar zu Gregor Maria Hoff, in: Alois Halbmayr/Gregor Maria Hoff (Hg.): Negative Theologie heute. Zum aktuellen Stellenwert einer umstrittenen Tradition, Freiburg i. Br. 2008, 286–289.

90 91

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Reflexion

Unser menschlicher Verstand stößt hier sicher an seine Grenzen. Denn für ihn gilt uneingeschränkt das Nichtwiderspruchsprinzip. Etwas kann unter derselben Rücksicht nicht sein und zugleich nicht sein. Dasselbe kann nicht demselben in der gleichen Hinsicht zukommen und nicht zukommen. 92 Gott, der Vater, kann nicht mit Gott, dem Sohn, zugleich identisch sein und nicht-identisch sein. Da gemäß der Logik unseres Verstandes aus einem logischen Widerspruch alles folgt, müssen wir in unserem Verstandesdenken logische Widersprüche auf jeden Fall vermeiden. In aller Klarheit erkannte Nikolaus von Kues das Problem des logischen Widerspruchs beim Denken der Dreieinigkeit Gottes. Ihm zufolge muss in Gott die Dreiheit mit der Identität des Wesens zusammen gedacht werden. 93 Wir müssen in Bezug auf Gott, um seiner Dreieinigkeit gerecht zu werden, Unterschiedenheit und Ununterschiedenheit zugleich denken. Mit unserem Verstand (ratio) können wir eine solche Identität in Verschiedenheit, d. h. die Identität von Identität und Nicht-Identität oder, um es mit dem von Cusanus bevorzugten Ausdruck zu sagen, den Zusammenfall der Gegensätze und Widersprüche in Gott, nicht denken. Mit unserer Vernunft (intellectus) jedoch können wir laut Cusanus diesen Zusammenfall intuitiv erkennen bzw. geistig schauen.

92 93

Vgl. Aristoteles: Metaphysik IV. Siehe dazu Kap. 8.5.

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8. Das Können selbst Gottesbegriffe bei Nikolaus von Kues

8.1 Das absolut Größte Im Anschluss an Anselm von Canterbury (1033–1109), der in seiner Schrift »Proslogion« Gott als das gekennzeichnet hatte, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann 1, bestimmt Nikolaus von Kues (1401–1464) in seinem frühen Hauptwerk »De docta ignorantia« 2 (1440) Gott zuallererst als das Größte (maximum). Unter dem Größten versteht er dabei nicht das faktisch Größte, sondern das Größte, »dem gegenüber es nichts Größeres geben kann« 3, also das schlechthin und absolut Größte. Aus der Bestimmung Gottes als dem absolut Größten leitet Cusanus dann nacheinander etliche weitere Bestimmungen Gottes ab.4 Weil Gott das absolut Größte ist, ist er aktuell, d. h. wirklich all das, was er sein kann und was überhaupt sein kann (omne id, quod esse potest). 5 Er ist alles mögliche Sein in Wirklichkeit. 6 Alle Möglichkeiten sind in ihm verwirklicht. Insofern ist er schlechthin alles. Nichts lässt sich ihm gegenüberstellen, weil er sonst begrenzt und folglich nicht das absolut Größte wäre. Id quo maius cogitari nequit (Anselm von Canterbury: Proslogion. Anrede. Lateinisch/Deutsch. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Robert Theis, Stuttgart 2005, 2. Kapitel, 23 [9]). 2 »Die belehrte Unwissenheit«; das Werk wurde am 12. Februar 1440 abgeschlossen (vgl. DI [= De docta ignorantia] XIX); es wird zitiert nach Nikolaus von Kues: Philosophisch-theologische Werke. Lateinisch – deutsch. Mit einer Einleitung von Karl Bormann. Band 1, Hamburg 2002. 3 DI I 2,5 [= »De docta ignorantia«, Buch I, 2. Kapitel, Abschnitt 5]; vgl. 4,11. 4 Zu Leben und Werk des Cusanus siehe Walter Andreas Euler (Hrsg.): Der GottesGedanke des Nikolaus von Kues. Akten des Symposions in Trier vom 21. bis 23. Oktober 2010, Trier 2012; Marco Brösch/Walter Andreas Euler (Hrsg.): Handbuch Nikolaus von Kues. Leben und Werk, Darmstadt 2014. 5 DI I 4,11. 6 DI I 2,5. 1

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Das absolut Größte

Weil Gott das absolut Größte ist, ist er zugleich das absolut Kleinste (minimum). 7 Wäre er das absolut Kleinste nicht, so ließe sich ihm etwas gegenüberstellen, das er nicht wäre, und dann wäre er nicht mehr alles und somit auch nicht mehr das absolut Größte. Gott ist folglich das absolut Größte und absolut Kleinste. In ihm fallen das Größte und das Kleinste zusammen. Insofern er das Größte ist, ist alles in ihm. Und insofern er das Kleinste ist, ist er in allem. Die Begriffe Maximum und Minimum sind demnach bei Cusanus so etwas wie absolute Begriffe. 8 Zu Gott als dem absolut Größten gibt es keinen Gegensatz. Gott steht über allen Gegensätzen 9, und zwar, wie Cusanus präzisiert, »im unendlichen Abstand […] über allen Gegensätzen« 10. In ihm fallen, wie sich am Zusammenfall des Größten und Kleinsten zeigt, alle Gegensätze zusammen. In diesem Sinn ist Gott der Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum). Aus der absoluten Größe Gottes ergibt sich auch seine Unendlichkeit. Bei allem Endlichen und Begrenzten gibt es ein Mehr und ein Weniger. Wäre Gott endlich, so könnte er größer oder kleiner sein und wäre nicht mehr das absolut Größte. Nur das Unendliche kennt kein Mehr oder Weniger. Das absolut Größte, und das heißt Gott, »muss [daher] unendlich sein« 11. Zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen besteht eine Disproportionalität oder Inkommensurabilität. 12 Das Unendliche lässt sich durch Vergrößerung eines Endlichen niemals erreichen. Unendliches und Endliches lassen sich grundsätzlich nicht miteinander vergleichen. Es gibt nichts Endliches für uns, womit wir das Unendliche vergleichen könnten. 13 Deshalb können wir das Unendliche auch nicht erkennen. 14 Denn etwas Unbekanntes erkennen, hieße, es mit etwas Bekanntem und Ähnlichem zu vergleichen.

Vgl. DI I 2,5; 4,11. Vgl. Thomas Leinkauf: Nicolaus Cusanus. Eine Einführung, Münster 2006 [= Leinkauf 2006], 94 f. 9 Vgl. DI I 4,12. 10 DI I 16,43. 11 DI I 3,9. 12 Vgl. DI I 3,9. 13 Auch wenn sich eine endliche Größe wie etwa die menschliche Liebe in einem gewissen analogen Sinn inhaltlich mit der unendlichen Liebe Gottes vergleichen lässt, so bleibt doch das Maß der menschlichen und der göttlichen Liebe unvergleichbar. 14 Vgl. DI I 1,3. 7 8

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Das Können selbst

Im Verhältnis zum absolut Größten ist alles endlich und begrenzt. 15 Das Endliche und Begrenzte aber hat einen Anfang, eine Grenze und einen Ursprung. »Es hat sein Sein [darum] notwendigerweise von einem anderen.« 16 Dieses andere kann nur das absolut Größte sein, das darum notwendig existiert und Ursprung und Ziel alles Endlichen ist. Gott ist von daher absolute Notwendigkeit. 17 Als das absolut Größte ist Gott auch das absolute Sein (esse), ohne das sich nichts als seiend denken lässt. 18 Er ist die absolute Seiendheit (entitas), »durch die ein jegliches das ist, was es ist« 19. Da sich ihm kein Gegensatz gegenüber stellen lässt, ist er Sein und Nichtsein, Seinsfülle und Seinsarmut zugleich. Nur das Größte ist im eigentlichen Sinn in sich selbst. 20 Jedes Ding aber ist insofern in sich selbst, als es im Größten als seinem Wesensgrund ist. Anders gesagt: »Alles Seiende hat ja an der Seiendheit teil. Streichen wir den Teilhabecharakter von allem Seienden, so bleibt die einfache Seiendheit [simplicissima entitas], welche das Wesen von allem ist. Diese Seiendheit erschauen wir nur in der belehrten Unwissenheit. Denn wenn ich alles, was an der Seiendheit teilhat, wegdenke, so scheint nichts übrig zubleiben.« 21

Die Gotteserkenntnis führt deshalb laut Dionysius 22 mehr auf das Nichts hin als auf ein Etwas. Die heilige Unwissenheit (sacra ignorantia) lehrt, »dass das, was der Vernunft als Nichts erscheint, das unbegreiflich Größte ist« 23. Gott erscheint der Vernunft eher als Nichts denn als ein Etwas. Vergleichbar einem unendlichen Kreis ist Gott der unendliche Mittelpunkt, Umfang und Durchmesser von allem und von daher das Prinzip, die Mitte und das Ziel von allem. 24 Alles ist in ihm, aus ihm und durch ihn. 25

15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Vgl. DI I 6,15. DI I 6,15. Vgl. DI I 6,17. Vgl. DI I 6,16. DI I 2,6; vgl. 2,5; 5,14. Vgl. DI I 17,50. DI I 17,51. Pseudo-Dionysios Areopagites (2. Hälfte 5. Jh.). DI I 17,51. Vgl. DI I 21,64. Vgl. DI I 21,65.

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Weitere Namen Gottes

Schließlich muss nach Cusanus der Veränderlichkeit der endlichen Welt das Unveränderliche im metaphysischen Sinn vorangehen. 26 Das Unveränderliche aber ist das Ewige. Gott als absolut Größtes ist ewig. Cusanus legt Gott mithin den Namen des absolut Größten bei und entwickelt aus diesem Namen nacheinander weitere Namen Gottes. So ist Gott schlechthin alles, auch das absolut Kleinste, unendlich, der Zusammenfall der Gegensätze, die absolute und unendliche Einheit, die absolute Notwendigkeit, das absolute Sein und die Seiendheit sowie die Ewigkeit.

8.2 Weitere Namen Gottes Neben den bereits genannten Namen schreibt Cusanus Gott etliche weitere Namen zu, teils überkommene, teils neue. 27 So nennt er beispielsweise ganz konventionell Gott die Wahrheit. Sie lässt wie alles Unendliche und Unbedingte kein mehr oder weniger zu. Deshalb können wir sie nie genau erfassen und ganz erreichen. 28 Wir können uns ihr nur in einer unendlichen Bewegung annähern. Als unendliche Wahrheit übersteigt Gott all unser Erfassen (apprehendere) und Begreifen (comprehendere, concipere) sowohl unseres Verstandes als auch unserer Vernunft, die über dem Verstand steht. 29 Origineller ist Cusanus schon, wenn er Gott etwa als Begriff der Begriffe bezeichnet. 30 Für ihn sind in Gott die Begriffe aller Dinge, die Vgl. DI I 7,18. Zu den Namen Gottes siehe William J. Hoye: Die mystische Theologie des Nicolaus Cusanus, Freiburg i. Br. 2004, 49–123; Hyoung-Soo Kim: Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis bei Nicolaus Cusanus. Erkenntnismöglichkeit des Geistes durch Gottesnamen, Sankt Ottilien 2010, 165–315. 28 Vgl. DI I 3,10. Vgl. auch die kleine Schrift »De Deo abscondito« (Der verborgene Gott; 1445). 29 Vgl. DI I 3,9; 4,11.12. 30 SA II 463; vgl. 455 (1450) [= »Idiota de sapientia«, Buch II, Seite 463; 1450 erschienen]. Alle Werke des Nikolaus von Kues bis auf »De docta ignorantia« werden, wenn nicht eigens anders angegeben, nach der Ausgabe von Leo Gabriel zitiert: Nikolaus von Kues: Philosophisch-theologische Schriften. Herausgegeben und eingeführt von Leo Gabriel. Übersetzt von Dietlind und Wilhelm Dupré. Studien- und Jubiläumsausgabe. Lateinisch–Deutsch. Band I–III (Nachdruck der 1. Auflage), Wien 1982. Zum Band und zur Seitenzahl der Ausgabe von Leo Gabriel [= G] siehe das Abkürzungsverzeichnis. 26 27

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Das Können selbst

in der Welt sind oder sein könnten, vorgängig eingefaltet. Statt von den Begriffen der Dinge könnte man auch von den Formen, den Ideen oder den Urbildern der Dinge sprechen. In Gott sind alle Begriffe, Formen, Ideen oder Urbilder von den Dingen der Welt in absoluter Einfachheit, in Unendlichkeit und in voller Wirklichkeit eingefaltet. In dem Sinn ist Gott der Begriff der Begriffe, die Form aller Formen, die Idee aller Ideen und das Urbild (exemplar) aller Urbilder. Seine Kunst und seine Wissenschaft besteht darin, als absoluter Geist alles Formbare in sich zu formen und alles Gestaltbare in sich zu gestalten, d. h. in sich einzufalten und gegebenenfalls aus sich heraus in die Welt hinein auszufalten. 31 Wer diese göttliche Kunst begreift, hat einen Begriff von Gott, einen Begriff vom Begriff der Begriffe, der in sich selbst besteht. Da in jedem Begriff jedoch das an sich Unbegreifbare begriffen wird, nähert sich der Begriff der Begriffe dem Unbegreifbaren. 32 An diesen beiden Beispielen wird bereits deutlich, dass wir nach Cusanus Gott zwar Namen beilegen können, ihn aber mit diesen Namen nicht wirklich begreifen können. Neu ist bei Cusanus auch die ausgeprägte Neigung, Gott Namen zu geben, die für Tätigkeiten stehen. So ist Gott für ihn beispielsweise das Sehen und das Laufen. Am Ende seiner kleinen Schrift »De Deo abscondito« (Der verborgene Gott; 1445) findet sich bei Cusanus eine zunächst traditionelle Etymologie des Wortes Gott (Deus). Es komme von θεωρῶ (theoro), ich sehe. Origineller wird dann die darauf folgende Erklärung. Ihr zufolge ist Gott im Bereich der Geschöpfe wie das Sehen im Bereich der Farbe. Die Farbe kann nicht anders als durch das Sehen erfasst werden. Das Sehen selbst ist aber im Bereich der Farbe oder des Sichtbaren nicht zu finden. Von daher ist das Sehen eher nichts als etwas. Ganz ähnlich ist Gott und sein Name im Bereich der Geschöpfe nicht zu finden. Aber durch ihn können wir alle Geschöpfe unterscheiden und durch Unterscheidung erkennen und benennen. 33 Auch er ist von daher eher nichts als etwas und vor den Augen aller Weisen dieser Welt verborgen. Das Stichwort »Sehen« kann überleiten zur anderen Schrift des

Vgl. SA II 463. Vgl. SA II 455. 33 Der Ausdruck »durch Unterscheidung« (per discretionem) wird von Cusanus hier zwar nur auf das Sehen angewandt, er kann und muss aber vom Gesamtvergleich her auch auf Gott übertragen werden. 31 32

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Weitere Namen Gottes

Cusanus aus dem Jahr 1445, in dem es vor allem um das Sehen (visus) und das Licht (lux; lumen) geht: »De quaerendo Deum« (Das GottSuchen). Gemäß diesem Werk ist der Mensch dazu in der Welt, Gott zu suchen und ihm, wenn er ihn gefunden hat, anzuhängen und darin seine Ruhe und Freude zu finden. 34 Da seine Vernunft zu gering ist, sich ein Bild oder einen Begriff von Gott zu machen, fragt sich, was ihm in der Welt helfen kann, Gott zu finden. Eine Hilfe bietet die Etymologie des Namens Gottes, die Cusanus hier entscheidend ausweitet: »Theos« oder »Deus« komme von theoro, was »ich sehe«, aber auch »ich laufe« heiße. 35 Laufen muss folglich der Gott Suchende mittels des Sehens, um zu Gott vorzudringen. Die Leiter der menschlichen Erkenntnisvermögen von den Sinnen über den Verstand bis zur Vernunft muss er hinaufsteigen, um bei Gott anzulangen. Das Sehen Gottes ist dann bei Cusanus auch das vorherrschende Thema in der Abhandlung »De visione Dei« (Die Gottes-Schau) aus dem Jahre 1453. Er verfasste sie für die Mönche von Tegernsee und wollte darin einen neuen Zugang zur mystischen Theologie darlegen, um zu jener Schau Gottes hinzuführen, die alle sinnliche, verstandesmäßige und vernunfthafte Erkenntnis übersteigt. 36 Dazu bedient er sich eines Bildes des Alles-Sehenden, womit er ein Bild (imago) meint, »das durch außerordentliche Kunst der Malerei so wirkt, als ob es alles ringsherum überschaue« 37. Es geht demnach um ein Porträt, bei dem der Porträtierte jeden Betrachter, wo immer er sich befinden mag, ganz direkt anblickt. Für Cusanus ist dies ein Bild Gottes (icona Dei), der alle und alles zugleich sieht. Der Alles-Sehende sieht jeden einzelnen Betrachter und zugleich alle Betrachter an. Sein unbeweglicher Blick bewegt sich mit dem sich bewegenden Betrachter mit. Bewegen sich zwei Betrachter in entgegengesetzter Richtung, so bewegt sich sein Blick zugleich in entgegengesetzte Richtung mit. Der Blick des Alles-Sehenden verlässt niemanden und blickt jeden so an, als ob er sich allein um ihn kümmern würde. Gilt von einem gemalten Blick eines Bildes, dass er zugleich alles und jedes Einzelne sieht, so gilt das erst Recht vom Blick Gottes, der

QD [= De quaerendo Deum] I 569, 571, 583. Vgl. QD I 571. Genauer wäre philologisch zwischen theoreo (ich betrachte, schaue etwas geistig an) und theo (ich laufe, eile) zu unterscheiden. 36 Vgl. VD [= De visione Dei] 95. 37 VD Vorwort 95. 34 35

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Das Können selbst

selbst absolut vollkommen und immer größer ist, als er gedacht werden kann. 38 Gott wird eben deshalb »Theos« genannt, weil er absolut alles sieht. Sein absolutes Sehen, von dem jedes Sehen der Sehenden stammt, übertrifft alles andere Sehen und enthält es in sich in überragendem Maße. Es »umfasst zugleich und auf einmal alle und jede einzelne Weise des Sehens« 39. Es ist »das wahrste Urbild [exemplar verissimum] alles Sehens« 40. Cusanus stellt im Sehen Gottes damit eine doppelte Spannung fest. Gottes Blick bewegt sich einerseits mit jedem Geschöpf, das sich bewegt, mit. Er ruht aber andererseits absolut bewegungslos in sich. Und Gottes Blick sieht einerseits jedes einzelne Geschöpf, als würde er nur es allein anschauen. Andererseits sieht er aber alle Geschöpfe zugleich und zusammen. Das Sehen Gottes ist somit auch sein Bewegen. Gott bewegt sich mit jedem Menschen und lässt von dieser Bewegung nicht ab, solange sich der Mensch bewegt. 41 Ruht der Mensch, so ruht Gott mit ihm. Steigt er hinauf, so steigt auch Gott hinauf. Steigt er hinab, so steigt auch Gott mit ihm hinab. Wohin sich der Mensch auch wendet – Gott ist mit ihm. Dass Gott sich mit jedem Menschen bewegt, trifft nicht nur auf die äußeren Bewegungen des Menschen zu, sondern auch und insbesondere seine »inneren« Bewegungen, das Schwanken seiner Gefühle und Stimmungen, seine seelischen und geistig-geistlichen Wandlungen und Entwicklungen. So verlässt Gott, um nur ein Beispiel von Cusanus zu nennen, den Menschen etwa nicht in Zeiten der Trübsal. Gott bewegt sich mit allem, was sich bewegt, und steht mit allem, was steht. 42 Da er allen Dingen zu ein und derselben Zeit gänzlich gegenwärtig ist und nichts außerhalb seiner zu sein vermag, ist in ihm Bewegung und Ruhe zur selben Zeit. Dennoch bewegt er sich nicht und ruht nicht, weil er »hocherhaben und losgelöst von allem« 43 (superexaltatus et absolutus ab omnibus) ist. Gott steht folglich und schreitet fort und steht doch nicht und schreitet doch nicht fort zur selben Zeit. In seiner einfachen und absoluten Unendlichkeit ist er

38 39 40 41 42 43

Vgl. VD I 99. VD II 101. VD II 101. Vgl. VD V 111. Vgl. VD IX 131. VD IX 131.

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Weitere Namen Gottes

über allem Stehen und Bewegen erhaben. »Erst nach dieser Unendlichkeit gibt es Bewegung, Ruhe und Gegensätzlichkeit […].« 44 Cusanus nimmt damit den Gedanken der höchsten Einfachheit Gottes auf. Was für uns an Gott verschieden ist – etwa sein Sehen und sein Hören –, ist bei Gott selbst und für Gott selbst dasselbe. Für uns betätigt sich Gott auf viele verschiedene Weisen. An und für sich ist aber bei Gott alles eine einzige Tätigkeit, nämlich ein einziger, vollkommen einfacher geistiger Selbstvollzug. So ist etwa das Sehen Gottes nicht von seinem Hören, seinem Empfinden oder seinem Verstehen verschieden. »Bei Gott ist Haben Sein, Bewegung Stehen, Laufen Ruhen […].« 45 In ihm fallen alle Gegensätze zusammen. In ihm ist »alle Andersheit Einheit und alle Verschiedenheit Selbigkeit« 46. Gottes Sehen ist für Cusanus zum Beispiel auch dessen Lesen. So spricht er zu Gott: »Wenn ich ein Buch öffne, um es zu lesen, sehe ich die Seite als Ganzes nur verworren. Will ich die einzelnen Buchstaben, Silben und Worte unterscheiden, so ist es notwendig, dass ich mich der Reihe nach jedem Einzelnen zuwende und ich kann nicht anders als nach und nach die Buchstaben lesen und die Worte Schritt für Schritt aufnehmen. Du aber Herr überblickst zugleich die ganze Seite und liest sie ohne jede Verzögerung. Wenn zwei von uns dasselbe lesen, einer schneller und der andere langsamer, dann liest Du mit beiden und scheinst in der Zeit zu lesen, weil Du mit den Lesenden liest. Dennoch siehst Du alles über der Zeit und liest zugleich. Dein Sehen ist nämlich Dein Lesen. Alle geschriebenen Bücher und alle die geschrieben werden können, hast Du zugleich und mit einem Mal und jenseits zeitlicher Verzögerung von Ewigkeit her gesehen und gelesen und liest sie zugleich mit allen Lesenden der Reihe nach.« 47

Am Lesen Gottes wird daher das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit in Gott deutlich. Gott ist für Cusanus »nicht veränderlich«, da er »die feststehende Ewigkeit« ist. 48 »Weil die Ewigkeit aber die Zeit nicht verlässt, scheint sie sich mit der Zeit zu bewegen, wenngleich auch die Bewegung in der Ewigkeit Ruhe ist.« 49 In der Ewigkeit aber ist alles Ruhe, weil in ihr jede zeitliche Aufeinanderfolge mit dem Jetzt 44 45 46 47 48 49

VD IX 131. VD III 103. VD III 103. VD VIII 125, 127. VD VIII 127. VD VIII 127.

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Das Können selbst

der Ewigkeit zusammenfällt. 50 »Und dort, wo Zukünftiges und Vergangenes mit dem Gegenwärtigen zusammenfallen, gibt es nichts Vergangenes oder Zukünftiges.« 51 Für Cusanus gibt es demnach in der Ewigkeit und dadurch in Gott selbst kein reales zeitliches Nacheinander. Damit teilt Cusanus das Ewigkeitsverständnis des Boethius und des Thomas von Aquin, demzufolge Gott absolut unveränderlich ist und seine Ewigkeit jede Zeit ausschließt. Für ihn scheint sich der ewige Gott nur mit der Zeit zu verändern. In Wirklichkeit tut er das aber nicht. Später wird zu zeigen sein, dass sich Gott wirklich an und mit den Geschöpfen ändert, dass seine Ewigkeit reale Veränderung und damit reale Zeit einschließt, ohne dass diese Veränderung auch nur im geringsten seine Vollkommenheit beinträchtigen würde. 52

8.3 Der oder das Eine (unus/m) und die Einheit (unitas) Obwohl Cusanus Gott viele Attribute der scholastischen Tradition zuspricht, »hat für ihn doch der Gedanke der Einheit des ersten Prinzips und damit verbunden das Gottesprädikat ›unitas‹ bzw. der Gottesname ›unus/m‹ (der/das Eine) Priorität« 53. Daran zeigt sich besonders deutlich seine Nähe zu Plotin bzw. zum Neuplatonismus. Die Einheit Gottes leitet er bereits im ersten Buch von »De docta ignorantia« her. Wir können Gott im Sinne der docta ignorantia zwar nur »in nichtergreifender Weise« erkennen und »in nichtbenennender Weise« benennen. 54 Trotzdem können wir ihm angemessener Weise die Bestimmung zusprechen, absolute oder unendliche Einheit (unitas) zu sein. Denn da es einerseits nichts Kleineres als die Einheit geben kann, insofern jede Vielheit noch einmal teilbar oder verkleinerbar wäre, und die Einheit folglich das Kleinste ist, und andererseits Gott als das Größte zugleich das Kleinste ist, muss Gott die Einheit sein. 55 Gott ist in der Weise Einer (unus), dass er aktuell all das ist,

50 51 52 53 54 55

Vgl. VD X 137. VD X 137. Siehe Kap. 18. Leinkauf 2006, 127. DI I 5,13; vgl. 5,14. Vgl. DI I 5,13.

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Der oder das Eine (unus/m) und die Einheit (unitas)

was möglich ist. 56 Seine Einheit könnte von daher nicht größer und nicht kleiner sein. Bei Gott gehören absolutes Sein und absolute Einheit untrennbar zusammen. Beide bezeichnen dasselbe, nämlich Gott. Dennoch kommt der Einheit insofern gegenüber dem Sein ein Vorrang zu, als »in ihr sowohl das Sein als auch das Nichtsein (wie auch alle anderen Gegensätze) eingeschlossen oder eingefaltet sind« 57. »Auch als ›einfachstes Prinzip‹, das alles einfaltet, ist Gott eher Einheit als Sein.« 58 Schon im ersten Buch von »De docta ignorantia« macht Cusanus an zwei Stellen deutlich, dass für ihn der Begriff oder der Name der »Einheit« Gott am angemessensten ist. 59 So sagt er gleich in den Anfangskapiteln, »dass dem unbenennbaren Gott die Bestimmung der absoluten Einheit mit einiger Angemessenheit zukommt« 60. Und in den Schlusskapiteln deutet er dann den Eigennamen Gottes (das Tetragramm JHWH), der als einziger Name Gott »nicht […] gemäß irgendeiner Beziehung zu den Geschöpfen, sondern gemäß seinem eigenen Wesen« zukommt, als »Einer und Alles« oder – was noch besser ist – »Alles in Eins« und fügt hinzu: »Freilich noch gemäßer und zutreffender als ›Alles in Eins‹ erscheint der Name ›die Einheit‹« oder »Einer«. 61 Bei der positiven Benennung Gottes als »Einheit« oder »Einer« ist jedoch im Sinne negativer Theologie hinzuzufügen, dass damit nicht eine Einheit gemeint ist, zu der, wie das bei allen endlichen Einheiten der Fall ist, die Vielheit im Gegensatz steht. Vielmehr stellt die unendliche Einheit Gottes eine Einheit dar, »zu der weder die Andersheit noch die Vielheit noch die Menge einen Gegensatz bilden« 62. Die Einheit Gottes ist im Unterschied zu jeder endlichgeschöpflichen Einheit unendlich über den Gegensatz zwischen Einheit und Vielheit erhaben. Sie ist unendliche Einheit, die in absoluter Einfachheit alles umgreift. Aber auch wenn die Einheit Gottes im Sinne einer absolut einfachen, unendlichen Einheit verstanden wird, bleibt der Name »Einheit« unendlich hinter der Wirklichkeit Gottes Vgl. DI I 5,14. Leinkauf 2006, 127. 58 Leinkauf 2006, 127. 59 Für Cusanus besitzt der Begriff der Einheit eine gewisse Priorität vor allen anderen Begriffen. Das zeigt sich auch daran, dass er den ursprungslosen Ursprung in der Trinität, also die Hypostase des Vaters, als Einheit bestimmt (vgl. DI I 7,18). 60 DI I 5,14. 61 DI I 24,75. 62 DI I 24,76. 56 57

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zurück. Deshalb fügt Cusanus am Ende einschränkend hinzu: »Wenn es auch den Anschein hat, als ob ›Einheit‹ dem Namen des Größten ziemlich nahe käme, so bleibt er doch [wie alle Namen] vom wahren Namen des Größten, der das Größte selbst ist, unendlich weit entfernt.« 63 Der einzige Name, der Gott ganz angemessen ist, ist Gott selbst. Die Wirklichkeit Gottes übersteigt alle menschlichen Namen unendlich. Dass trotz dieser prinzipiellen Ferne »Einheit« oder »der Eine« der angemessenste Ausdruck für Gott sei, setzt sich dann in den späteren Schriften bei Cusanus immer mehr durch. 64 So schreibt er etwa in »De beryllo« (1458): »Es scheint aber Gott der Name des Einen [selbst] mehr zu entsprechen als irgendein anderer Name.« 65 Alle Gottesattribute fallen in Gott als der »absoluten Einfachheit« 66 unterschiedslos zusammen. So gibt es für Cusanus beispielsweise deshalb nur eine einzige Wahrheit, weil es nur eine Einheit gibt und die Wahrheit mit der Einheit zusammenfällt. 67 Beim Denken der Einheit Gottes zeichnen sich zwei verschiedene Betrachtungsweisen des Cusanus ab. 68 Cusanus kann Gott auf der einen Seite philosophisch-prinzipientheoretisch als Deitas (Gottheit) betrachten. Als solche ist Gott reines, herausgehobenes Eines und allereinfachstes erstes Prinzip allen Seins, durch dessen Existieren alles das ist, was es ist. Deitas meint den allereinfachsten Gott, die Einheit vor jeder Hervorbringung. 69 Und Cusanus kann Gott auf der anderen Seite theologisch als Deus (Gott) betrachten. Als solcher ist Gott die Einheit, die alles aus sich hervorbringt, die sich trinitarisch und schöpferisch (durch die Erschaffung der Welt) selbst entfaltet. Deus meint den Gott der generatio (Zeugung) und der trinitiarisch-schöpferischen Selbstentfaltung. Philosophisch betrachtet ist Gott demnach bei Cusanus absolut einfache Einheit, theologisch betrachtet hingegen dreifaltige Einheit. Im Unterschied zu Thomas, der das We-

DI I 24,77. Vgl. Leinkauf 2006, 127. 65 B [= De beryllo] XII (= n. 13) 17. 66 VD X 133. 67 Vgl. DA [= De Deo abscondito; Der verborgene Gott; 1445] 303. 68 Vgl. Leinkauf 2006, 122 f., 127 f. 69 Die Deitas ist Grund allen Seins (auch der Welt) infolge ihrer bloßen Existenz, nicht aber infolge schöpferischer Aktivität, d. h. aktiven Hervorbringens, wie dies beim Schöpfergott der Fall ist. 63 64

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Der Namenlose und Unbegreifliche

sen Gottes philosophisch als das durch sich seiende Sein selbst bestimmt, bestimmt Cusanus es mithin als die absolut einfache Einheit. Cusanus gibt in seinem Frühwerk und auch noch danach den Namen das »Eine« oder die »Einheit« als den angemessensten Gottesnamen oder Gottesbegriff aus. Dennoch wird er in seinen späteren Werken mehrfach versuchen, diesen Gottesnamen oder -begriff noch durch angemessenere zu überbieten.

8.4 Der Namenlose und Unbegreifliche Aus dem Bisherigen ist bereits deutlich geworden, dass für Cusanus kein Name Gott wirklich zu erfassen vermag, dass Gott über jeden Namen unendlich hinausgeht. 70 Gleich in »De docta ignorantia« erklärt er im Zusammenhang des Namens Gottes und der affirmativen Theologie, Gott übersteige alle Vernunfteinsicht (intellectus), erst recht aber jeden Namen. 71 Wir legen mit unserem Verstand (ratio), der weit geringer ist als unsere Vernunft (intellectus), den Dingen Namen bei und unterscheiden sie damit von anderen Dingen. Sagen wir etwa von einem Ding, es sei glatt, dann unterscheiden wir es von Dingen die rau oder nicht-glatt sind, wobei »rau« im konträren, »nicht-glatt« hingegen im kontradiktorischen Gegensatz zu »glatt« stünde. Da unser Verstand einander Widersprechendes (contradictoria) nicht zu übersteigen vermag, d. h. keinem Ding einander entgegengesetzte Namen zugleich zuzusprechen vermag, so gibt es keinen Namen, zu dem nicht durch die Tätigkeit und Bewegung des Verstandes ein anderer Namen gebildet werden und in Gegensatz treten könnte. 72 Deshalb kann eigentlich kein Name Gott angemessen sein, da er »das schlechthin Größte ist, zu dem nichts in Gegensatz tritt« 73. Weil in Gott alles eines ist, kann es keinen besonderen Namen für ihn geben. 74 Weil Gott in seiner Einfachheit die Gesamtheit der Dinge umgreift, gibt es keinen ihm eigenen Namen. 75 Zur Bedeutung der negativen Theologie bei Cusanus siehe Christian Ströbele: Performanz und Diskurs. Religiöse Sprache und negative Theologie bei Cusanus, Münster 2015. 71 Vgl. DI I 24,76; 24,74. 72 Vgl. DI I 24,76. 73 DI I 24,74. 74 Vgl. DI I 24,74. 75 Vgl. DI I 24,75. 70

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Das Können selbst

In der affirmativen Theologie, in der wir ausschließlich bejahende Aussagen über Gott machen, übertragen wir aufgrund einer gewissen Vollkommenheit positive Benennungen von den Geschöpfen auf Gott 76, so etwa wenn wir Gott die Liebe, die Treue oder die Barmherzigkeit nennen. Diese positiven Benennungen treffen aber auf Gott nur auf zweifach eingeschränkte Weise zu. Zum einen kommen Gott als der alles umgreifenden Einheit die positiven Benennungen »nur in unendlich verminderter Bedeutung«, »höchstens in völlig abgeschwächtem Sinne« zu, weil diesen Benennungen bei Gott nichts entgegengesetzt ist. 77 Nennen wir Gott beispielsweise die Wahrheit, die Tugend oder die Substanz, so steht dem nicht die Lüge, das Laster oder das Akzidenz entgegen, weil und insofern Gott diese Gegensätze umgreift und unendlich übersteigt. Seiner Wahrheit ist in dem Sinn nicht die Lüge entgegengesetzt. Zum anderen treffen positive Bezeichnungen auf Gott nicht in seinem eigenen Wesen, sondern nur in seinem Bezug zu den Geschöpfen zu. So ist Gott »Schöpfer«, insofern er die Geschöpfe erschaffen hat oder hätte erschaffen können, oder »Gerechtigkeit«, insofern er den Geschöpfen gegenüber gerecht ist. 78 Auch der Name der Trinität und die Namen der Personen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes werden nach Cusanus Gott nach seinem Bezug zu den Geschöpfen beigelegt. 79 Cusanus zufolge »nimmt jede Religion in ihrer Gottesverehrung notwendigerweise ihren Aufstieg über eine affirmative Theologie, indem sie Gott als den Einen und Dreifaltigen, als den Weisesten und Gütigsten, als ›unzugängliches Licht‹, als Leben, als Wahrheit usw. anbetet« 80. Dabei glaubt sie aber zum Beispiel, »dass der, den sie als unzugängliches Licht verehrt, nicht Licht im Sinne dieses körperhaften Lichtes ist, zu dem die Finsternis in Gegensatz steht, sondern absolut einfaches und unendliches Licht, in dem die Finsternis unendliches Licht ist« 81. Sie verneint also, dass Gott Licht im gewöhnlichen physikalischen Sinn ist. »Damit ist jedoch die negative Theologie für die affirmative so unentbehrlich, dass Gott ohne sie nicht als der un-

76 77 78 79 80 81

Vgl. DI I 24,79. DI I 24,78. Vgl. DI I 24,79.82. Vgl. DI I 24,80. DI I 26,86. DI I 26,86.

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Der Namenlose und Unbegreifliche

endliche Gott verehrt würde, sondern vielmehr als Geschöpf.« 82 Eine solche Gottesverehrung wäre aber Götzendienst. Die heilige docta ignorantia lehrt daher, dass Gott unaussprechlich ist, weil er über alles, was sich benennen lässt, unendlich erhaben ist. 83 Deshalb sprechen wir »richtiger von ihm, wenn wir alles Geschöpfliche abstreifen und verneinen« 84. Gemäß einer solchen negativen Theologie ist Gott dann weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist noch beispielsweise Ewigkeit, sondern »nur der Unendliche« 85. »Vom Standpunkt der negativen Theologie findet sich in Gott nichts als Unendlichkeit. Ihr zufolge ist er darum weder in dieser noch in der künftigen Welt erkennbar, da jedes Geschöpf, welches das unendliche Licht nicht zu erfassen vermag, ihm gegenüber Finsternis ist. Er ist vielmehr nur sich selbst bekannt.« 86 Cusanus fasst seine Auffassung von der affirmativen und der negativen Theologie dahingehend zusammen, »dass in theologischen Aussagen Verneinungen wahr und positive Aussagen unzureichend sind« 87. Und er präzisiert dies: »Ebenso sind die negativen Aussagen umso wahrer, je mehr sie Unvollkommenheiten vom schlechthin Vollkommenen abwehren, so wie es wahrer ist, dass Gott nicht Stein ist, als dass er nicht Leben oder Vernunft ist, und wahrer, dass er nicht Trunkenheit, als dass er nicht Tugend ist. Bei den bejahenden Aussagen gilt das umgekehrte, denn die Aussage, die Gott Vernunft und Leben nennt, ist wahrer als die, welche ihn als Erde, Stein oder Körper bezeichnet.« 88

Aufgrund der affirmativen Theologie, so ließe sich Cusanus noch einmal kurz zusammenfassen, wissen wir, dass einige Aussagen – seien sie nun bejahend oder verneinend –, mehr bzw. weniger auf Gott zutreffen als andere. Aufgrund der negativen Theologie wissen wir, dass DI I 26,86. Vgl. DI I 26,87. 84 DI I 26,87. 85 DI I 26,87. 86 DI I 26,88. 87 DI I 26,89. 88 DI I 26,89. Besonders in diesem Abschnitt wird deutlich, wie sehr im Hintergrund der Ausführungen des Cusanus die mystische Theologie und die Namenstheologie des Pseudo-Dionysios Areopagites stehen, auf den sich Cusanus auch ausdrücklich im Text bezieht (vgl. DI I 26,87). In seiner Schrift »De non-aliud« (1462) wird Cusanus seitenweise lateinisch aus den Werken »Über die himmlische Hierarchie«, »Über die kirchliche Hierarchie«, »Über die göttlichen Namen« und »Über die mystische Theologie« des Pseudo-Dionysios zitieren. 82 83

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Das Können selbst

alle bejahenden Aussagen über Gott wegen seiner unendlichen Erhabenheit Gott nicht zu erreichen und zu erfassen vermögen. Im zweiten Buch seines Werkes »Idiota de sapientia« (Der Laie über die Weisheit; 1450) ergänzt Cusanus die affirmative und die negative Theologie ganz ausdrücklich um eine dritte Form von Theologie. Neben der bejahenden und der verneinenden Betrachtungsweise Gottes gibt es noch eine weitere Betrachtungsweise: dass nämlich auf Gott »weder eine bejahende, noch eine verneinende Behauptung zutrifft, sondern dass er über aller Bejahung und Verneinung steht« 89. Bei dieser Form von Theologie wird sowohl die Bejahung wie die Verneinung als auch die Verbindung beider negiert. »Wird dann z. B. gefragt, ob Gott sei, müsste nach der bejahenden Behauptung […] geantwortet werden, dass er sei, und zwar, dass er die absolute […] Seiendheit [sei], nach der verneinenden müsste geantwortet werden, dass er nicht sei, da auf diesem Wege dem Unaussagbaren nichts von allem zukommt, das ausgesagt werden kann; gemäß der Methode aber, die über jeder verneinenden und bejahenden Behauptung steht, müsste man sagen, dass er die absolute Seiendheit weder sei, noch nicht sei, noch beides zugleich, sondern dass er darüber erhaben sei.« 90

Mit dieser Form von Theologie stellt Cusanus eine Version der theologia oder via eminentiae 91 vor, indem er die Erhabenheit Gottes und die Unerkennbarkeit des göttlichen Wesens aufs höchste steigert. Gott steht nicht nur über jeder Bejahung, sondern auch über jeder Verneinung und über jeder Verbindung von beiden. Dass Gott über alle Aussagen, die wir über ihn machen können, und über alle Namen, die wir ihm geben können, unendlich erhaben ist, bedeutet aber wiederum für Cusanus nicht, dass Gott für uns völlig unzugänglich, völlig unerkennbar oder völlig unerreichbar wäre. Vielmehr unterscheidet er deutlich zwischen dem Wesen Gottes und dem Bezug Gottes zur Schöpfung, zwischen Gott, wie er in sich, an sich und für sich ist, und Gott, wie er für uns ist. Gott in seinem Wesen ist und bleibt für uns – Cusanus zufolge – in alle Ewigkeit unerkennbar. Nur Gott selbst kennt sein Wesen. Gott in seiner Beziehung zur Schöpfung und in seinen Wirkungen in der Schöpfung können wir hingegen in ge-

SA II 461. SA II 461. 91 Die theologia oder via eminentiae ist die Theologie oder der Weg der Steigerung, des Überstiegs. 89 90

222 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Namenlose und Unbegreifliche

wissem Sinn – nämlich im Sinn der docta ignorantia auf unerkennbare Weise – erkennen. Verbindet man die Ausführungen des Cusanus zur negativen Theologie mit seiner Unterscheidung zwischen Deitas (Gottheit) und Deus (Gott), die im Zusammenhang des Gottesbegriffs der Einheit dargelegt wurde, ergibt sich in etwa folgende Auffassung des Cusanus von Gott und unserer Erkenntnis Gottes. Es ist im Blick auf Gott zwischen dessen Wesen und dessen Bezug zu den Geschöpfen zu unterscheiden. Das Wesen Gottes ist für uns prinzipiell und in alle Ewigkeit unerkennbar. Nur Gott ist sein Wesen bekannt. Philosophisch können wir über das Wesen Gottes nur sagen, es sei absolut einfache Einheit, die über jeden Gegensatz unendlich erhaben ist. Im Sinne negativer Theologie können wir über das Wesen Gottes nur sagen, es sei unendlich. Beide Aussagen lassen sich als negative Aussagen verstehen: Gott ist in seinem Wesen nicht vielfach und nicht endlich. Das unerkennbare, absolut einfache und unendliche Wesen des Göttlichen lässt sich als die Deitas verstehen. Demzufolge ist die Gottheit in ihrem Wesen das allereinfachste Prinzip von allem, das jeder Hervorbringung, d. h. konkret der Trinität und dem Schöpfertum, sachlich voraus liegt. Erst durch ihre innere Hervorbringung der göttlichen Trinität und durch ihre »äußere« Hervorbringung der nichtgöttlichen Schöpfung wird die Gottheit für uns Geschöpfe zum trinitarischen Gott und zum Schöpfergott. Dieser Gott – das Göttliche in seinem Bezug zu den Geschöpfen – ist für uns nicht völlig und nicht prinzipiell unerkennbar. Aufgrund gewisser Vollkommenheiten in der Schöpfung können wir Gott in seinem Bezug zu den Geschöpfen im Sinne der docta ignorantia auf unerkennbare Weise erkennen und affirmative Aussagen über ihn machen, die dann freilich wiederum im Sinne der verneinenden oder alles übersteigenden Theologie zu relativieren sind. Cusanus unterscheidet demzufolge im Göttlichen zwischen der für uns prinzipiell unerkennbaren, absolut einfachen Gottheit einerseits und dem für uns prinzipiell erkennbaren trinitarischen Gott andererseits. Solange diese Unterscheidung im Sinne zweier verschiedener Betrachtungsweisen ein und derselben Wirklichkeit aufgefasst wird, ist dies unproblematisch. Die philosophische und die theologische Betrachtung ergänzen dann einander. Aus rein philosophischer Sicht können wir nur die absolute Einfachheit des Göttlichen als letztem Grund von allem erkennen, nicht aber seine Dreieinigkeit. Aus 223 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Das Können selbst

theologischer Sicht hingegen lässt sich aufgrund der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus die göttliche Trinität erkennen, die sich wiederum philosophisch mit dem letzten Grund von allem gleichsetzen lässt. Problematisch wird es, wenn die zwei Redewesen von der Gottheit und von Gott im Göttlichen so verstanden werden, als würden sie sich auf zwei verschiedene Wirklichkeiten im Göttlichen beziehen. Denn dann gäbe es im Göttlichen zwei real voneinander verschiedene Wirklichkeiten, die sich sowohl epistemologisch als auch ontologisch unterscheiden ließen: die Gottheit und Gott. Die Gottheit wäre für uns prinzipiell unerkennbar, während Gott für uns prinzipiell erkennbar wäre. Und die Gottheit wäre der schlechthin einfache metaphysische Grund im Göttlichen, aus dem, wenn auch nicht im zeitlichen, so doch im sachlichen Sinn der trinitarische Gott hervorginge. Die Gottheit wäre im Göttlichen der von allem unabhängige Grund, der dreieinige Gott hingegen wäre metaphysisch von der Gottheit im Göttlichen abhängig. Eine solche Auffassung wäre jedoch aus drei Gründen problematisch. 1. Zu behaupten, das Wesen des Göttlichen selbst, d. h. die Gottheit, sei prinzipiell unerkennbar, ist widersprüchlich. Denn um überhaupt vom Wesen des Göttlichen im Unterschied zu seinem Bezug zu uns, der Schöpfung, sprechen zu können und das Wesen für unerkennbar erklären zu können, müssen wir es schon irgendwie erkannt haben. Ansonsten handelt es sich um eine bloße, durch nichts zu begründende Annahme. 2. Ist das Göttliche in seinem Wesen schlechthin einfach, dann gehört die Dreifaltigkeit nicht zu seinem Wesen. Dann ist Gott seinem »inneren« Wesen nach nicht dreifaltig, sondern nur in seinem Bezug zu uns. Dann hätten wir es aber mit einem Modalismus zu tun und die immanente Trinität Gottes fiele vollständig weg. Von christlicher Seite aus könnte dann auch nicht mehr von einer vollkommen Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus gesprochen werden. 3. Im Göttlichen selbst gäbe es einen realen Unterschied, der nicht mit den drei göttlichen Personen zusammenhinge. Dies würde sowohl gegen die Lehre von der Einfachheit Gottes als auch gegen die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes verstoßen, der gemäß es im Göttlichen wirkliche Unterschiede zwischen nichts anderem als den drei einander gegenübergestellten Personen gibt. Die Auffassung, im Göttlichen gäbe es zwei verschiedene oder getrennte Wirklichkeiten, von denen die eine der absolut einfache, 224 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Namenlose und Unbegreifliche

unerkennbare Grund der anderen als einer in sich verschiedenen, erkennbaren ist, spiegelt Plotins Hypostasenlehre, nicht aber die christliche Trinitätslehre wider. Denn die unerkennbare einfache Gottheit steht ganz offensichtlich für die höchste Hypostase des unerkennbaren einfachen Einen. Der erkennbare dreieine Gott hingegen entspricht ganz offenkundig der zweithöchsten Hypostase des in sich, bei aller Einheit, vielfältigen Geistes, der aus dem Einen durch Emanation hervorgegangen ist. Das Christliche dieser Auffassung lässt sich auch nicht durch den Hinweis retten, die Dreieinigkeit Gottes gehöre insofern zum inneren Wesen des Göttlichen selbst, als in ihm als der Gottheit der dreieine Gott eingefaltet und somit real vorhanden sei. Denn macht die reale Verschiedenheit der drei göttlichen Personen das Wesen der Dreieinigkeit Gottes aus, so ist eine eingefaltete Dreieinigkeit, bei der es keine realen Unterschiede zwischen den Personen gibt, so gut wie keine Dreieinigkeit. Um sowohl die Einfachheit als auch die Dreieinigkeit des göttlichen Wesens zu wahren, ist daher eine reale Unterscheidung oder Trennung zwischen einer einfachen unerkennbaren Gottheit und einem dreieinen erkennbaren Gott im Göttlichen abzulehnen. Gott ist für Cusanus, um zu seiner dreifachen Theologie zurückzukehren, unbenennbar, unerkennbar und unfassbar bzw. im Sinne der einfachen intuitiven geistigen Schau der docta ignoratia nur auf unbegreifliche Weise begreifbar, auf unbenennbare Weise benennbar, auf unerkennbare Weise erkennbar und auf unfassliche Weise fassbar. Wenn Cusanus die docta ignorantia in Formeln wie Gott, der an sich Unbegreifliche, sei nur auf unbegreifliche Weise begreiflich ausdrückt, dann will er damit dreierlei sagen: 1. Gott ist an sich – im Gegensatz zu aller endlichen Wirklichkeit – im Sinn der negativen Theologie und damit in einem grundsätzlichen Sinn unbegreiflich, unerkennbar, unfasslich, unbenennbar, unaussagbar, unerreichbar etc. 2. Bei dieser Unbegreiflichkeit Gottes bleibt es, auch wenn wir Gott in gewissem Sinn begreifen können. Deshalb können wir Gott nur auf unbegreifliche Weise begreifen. Wir können Gott niemals in der Weise begreifen, wie wir die endlichen Dinge der Welt begreifen können. 3. Dennoch ist Gott nicht völlig unbegreiflich, unerkennbar etc. Er ist uns im Sinne eines intuitiven Erfassens oder einer einfachen geistigen Schau grundsätzlich zugänglich. Aber dieser Zugang zu ihm ist ein völlig anderer als der zu den endlichen Dingen der Welt. 225 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Das Können selbst

Cusanus vertritt mithin keine vollkommen radikale negative Theologie, derzufolge wir keinerlei Zugang zu Gott hätten, sondern eine eingeschränkte, die einen gewissen Zugang zu Gott erlaubt. 92

8.5 Der Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) Der Zusammenfall der Gegensätze in Gott, von dem bereits mehrfach die Rede war, kann bei Cusanus als eine besondere Ausprägung der Unbegreiflichkeit Gottes angesehen werden. 93 Bereits im ersten Buch seines Werkes »De docta ignorantia« (1440) bestimmt Cusanus Gott als coincidentia oppositorum (Zusammenfall der Gegensätze). Mit der Koinzidenz der Gegensätze artikuliert er das erste seiner drei Grundtheoreme. 94 Ihm werden noch sein Einfaltung-Ausfaltungstheorem und sein Genauigkeitstheorem folgen. Terminologisch und sachlich dürfte das Koinzidenz-Theorem des Cusanus auf Heymericus de Campo (Henry van den Velde), einen Albertus Magnus-Schüler, zurückgehen. 95 Dieser hatte die These aufgestellt, in der ursächlichen Macht Gottes fielen die Gegensätze aktual zusammen. Daran knüpft Cusanus an und steigert die Koinzidenz der Ursachen zum Zusammenfall der Gegensätze. Im weiteren Zusammenhang gesehen beruht sein Koinzidenzgedanke auf den folgenden drei neuplatonischen Voraussetzungen: »1. der Primat des Einen vor dem Vielen, 2. der Primat der Vernunft, als der Kraft des Einen in uns, vor dem Verstand, 3. der Primat Gottes vor den durch Einheit und Vielheit sowie durch Vernunft und Verstand dargestellten Oppositionen« 96. Unter den Gegensätzen, die zusammenfallen, sind bei Cusanus nicht nur konträre, d. h. relative Gegensätze (wie etwa zwischen schwarz und weiß), sondern auch kontradiktorische, d. h. absolute Siehe dazu auch Martin Thurner: Gott als das offenbare Geheimnis nach Nikolaus von Kues, Berlin 2001. 93 Zum Ineinsfall der Gegensätze bei Cusanus siehe Stephan Grotz: Negationen des Absoluten. Meister Eckhart – Cusanus – Hegel, Hamburg 2009, 122–223. 94 Siehe dazu Leinkauf 2006, 89–118. 95 Siehe dazu und zum Folgenden Leinkauf 2006, 96 f. 96 Leinkauf 2006, 90 f. 92

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Der Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum)

Gegensätze (wie etwa zwischen Sein und Nicht-Sein) zu verstehen, weshalb man zwischen einer schwachen und einer starken Koinzidenz unterscheiden kann. 97 Aufgrund des Zusammenfalls auch der kontradiktorischen Gegensätze, d. h. der Widersprüche, ist der Gottesbegriff bei Cusanus nicht als ein »realistischer« Begriff zu verstehen, demzufolge Gott etwa das höchste Sein wäre, sondern als ein »spekulativer« Begriff, demzufolge Gott noch einmal den Gegensatz von Sein und Nicht-Sein übersteigt. 98 Angesichts des Zusammenfalls der Gegensätze fragt sich, ob bei diesem Zusammenfall in Gott die Gegensätze als solche bestehen bleiben oder überwunden werden. Der Gedanke der coincidentia oppositorum lässt sich bei Cusanus in drei verschiedenen Formulierungen finden: 1. In Gott koinzidieren alle Gegensätze. 99 2. Gott ist vor (ante) oder über (super) allem Gegensatz. 100 3. Gott ist jenseits (ultra) der Koinzidenz der Gegensätze. 101 Wie die Formulierungen zeigen, hat Cusanus sein Koinzidenztheorem im Laufe der Zeit abgewandelt. Während für ihn anfänglich in »De docta ignorantia« Gott selbst die Koinzidenz ist, steht für ihn später Gott als absolute Einheit noch über oder jenseits der Koinzidenz und wohnt nur in der Koinzidenz 102. Deshalb ist in Gott »nicht mehr das Zusammenbestehen, sondern das Nicht-Sein der Gegensätze zu denken« 103. Da Gott die Koinzidenz der Gegensätze noch einmal unendlich übersteigt, ist in ihm alle Gegensätzlichkeit der Gegensätze vollkommen überwunden. Die Gegensätze sind in seiner übergegensätzlichen Einheit selbst zu einer Gegensatz-losen Einheit geeint. 104 Vgl. Leinkauf 2006, 89 f. Vgl. Leinkauf 2006, 99 f. 99 Z. B. P [= De possest] 359 (n. 74) (»Dort wird er [Gott] im Dunkeln geschaut, und man weiß nicht, welche Substanz oder Sache oder was sonst von dem Seienden er ist; denn er ist das, in dem die Gegensätze zusammenfallen [coincidunt opposita], Bewegung und Ruhe zugleich, nicht als zwei, sondern über aller Zweiheit und Andersheit.«). 100 Z. B. DI I 4,12 (»Dem absolut Größten kommen sie [die gegensätzlichen Bestimmungen] in keiner Weise zu, da es über allen Gegensätzen [supra omnem oppositionem] steht.«). Vgl. auch DI I 16,43; 24,77. 101 Z. B. VD IX 133; X 133 (ultra coincidentiam contradictoriorum). 102 Vgl. VD X 137 f. 103 Leinkauf 2006, 101. 104 Vgl. Leinkauf 2006, 90. 97 98

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Das Können selbst

Für Gott selbst stellt der Zusammenfall der Gegensätze ein vollkommen einfaches Prinzip dar. Für das Denken der menschlichen Vernunft hingegen bleibt die Koinzidenz ein vielheitliches, komplexes Prinzip.105 Mit unserem Verstand (ratio), der unser diskursives Denk- und Erkenntnisvermögen darstellt, können wir die coincidentia oppositorum in Gott nicht denken oder erkennen, weil für den Verstand der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch uneingeschränkte, unbedingte Gültigkeit besitzt. 106 Auch mit unserer Vernunft (intellectus) sind wir nicht imstande, Gott zu begreifen und zu denken, genau zu erfassen und zu erkennen. Die Bedeutung der Vernunft ist aber hier bei Cusanus ambivalent. Einerseits hebt er des Öfteren hervor, die Schau Gottes, zu der er mit der docta ignorantia, d. h. der belehrten Unwissenheit, hinaufführen wolle, übersteige die Vernunft und gehe über alle Vernunfterkenntnis hinaus. 107 Andererseits verwendet er die Ausdrücke intellectualitas oder intellectio simplex für jenen Aufstieg zu Gott. 108 Ihm zufolge können wir also mit unserer Vernunft Gott und die coincidentia oppositorum in Gott zwar nicht begreifen und denken, aber irgendwie intuitiv verstehen und geistig schauen. In diesem Sinn ist etwa der Satz zu verstehen: »Über allem diskursiven Vermögen des Verstandes schauen wir [videmus] demnach in einer nicht ergreifenden Weise die Unendlichkeit der absoluten Größe, die keinen Gegensatz kennt und mit der das Kleinste koinzidiert.« 109 Das eigentliche Ziel der docta ignorantia besteht in diesem einfachen geistigen Schauen Gottes. Allerdings ist, wie Cusanus später verdeutlicht, genau genommen mit der Einsicht in die Koinzidenz der Gegensätze nicht schon die Gottesschau selbst erreicht, sondern eigentlich erst der Anfang des Aufstiegs zu ihr gemacht 110, da Gott ja die Koinzidenz noch einmal unendlich übersteigt. Die menschliche Vernunft

Vgl. Leinkauf 2006, 101 f. Vgl. DI I 4,12. 107 Vgl. DI I 3,10; 4,11; 4,12. In diesen Abschnitten sagt Cusanus ausdrücklich in Bezug auf die Vernunft (intellectus), dass die absolute Größe bzw. die unendliche Wahrheit Gottes sie übersteigt (excedit; transcendit). Vgl. auch den Ausdruck super omnem intellectum (über alles vernunftgemäße Erkennen hinaus) in DI I 17,51 (vgl. dazu auch DI I 16,43). 108 Vgl. DI I 2,8; 10,29. 109 DI I 4,12. 110 Vgl. Leinkauf 2006, 102 Anmerkung 266. 105 106

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Der Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum)

muss durch den Zusammenfall des Gegensätzlichen hindurch auf den Grund der Einheit schauen. 111 In seiner Schrift »De visione Dei« (Die Gottes-Schau; 1453) verwendet Cusanus für den Zusammenfall der Gegensätze in Gott das Bild von der Mauer. 112 Voller Freude schreibt er: »Ich habe den Ort gefunden, in dem man Dich unverhüllt zu finden vermag. Er ist umgeben von dem Zusammenfall der Gegensätze. Dieser ist die Mauer des Paradieses, in dem Du wohnst. Sein Tor bewacht höchster Verstandesgeist. Überwindet man ihn nicht, so öffnet sich nicht der Eingang. Jenseits des Zusammenfalls der Gegensätze vermag man Dich zu sehen; diesseits aber nicht. Wenn also in Deinem Blick, o Herr, die Unmöglichkeit die Notwendigkeit ist, dann gibt es nichts, das Dein Blick nicht sähe.« 113

An der Mauer oder Schwelle des Zusammenfalls der Gegensätze beginnen wir laut Cusanus Gott zu schauen. Dort sind »Sprechen, Sehen, Hören, Schmecken, Berühren, Überlegen, Wissen und Verstehen das selbe« 114. Dort fallen das Frühere und das Spätere 115, die Einfaltung (complicatio) und die Ausfaltung (explicatio) 116, das Schaffen und Geschaffenwerden 117 zusammen. Finden wir Gott etwa als die Kraft, die alles ohne Andersheit in sich einfaltet 118, so treten wir durch die Pforte ins Paradies ein, finden wir Gott als die Kraft, die ausfaltet, so gehen wir aus dem Paradies heraus. 119 Die Mauer des Paradieses ist nicht nur die Koinzidenz der komplementären Gegensätze (wie Sehen und Hören) und der konträren Gegensätze (wie früher und später, Einfaltung und Ausfaltung), sondern auch der kontradiktorischen Gegensätze, also der Widersprüche (coincidentia contradictoriorum), wie sie etwa zwischen Endlichem und Unendlichem, Wissen und Unwissenheit, Unmöglichem und Notwendigem bestehen. 120 Die Mauer ist »alles und nichts zugleich« 121. An ihr finVgl. Leinkauf 2006, 98. Zur mystischen Theologie in »De visione Dei« siehe Christiane Maria Bacher: Philosophische Waagschalen. Experimentelle Mystik bei Nikolaus von Kues mit Blick auf die Moderne, Münster 2015, 31–43. 113 VD IX 133. 114 VD X 135. 115 Vgl. VD X 137. 116 Vgl. VD XI 141. 117 Vgl. VD XII 145. 118 Vgl. VD XIV 155. 119 Vgl. VD XI 141. 120 Vgl. VD XIII 149. 121 VD XII 143. 111 112

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det jeder Begriff seine Grenze. 122 Sie trennt alles, was gesagt oder gedacht werden kann, von Gott, weil Gott absolut, d. h. von allem losgelöst ist. Gott wohnt jenseits der hohen Mauer des Paradieses, »die kein Menschengeist aus eigener Kraft ersteigen kann« 123. Er ist die absolute Unendlichkeit, die jenseits des Zusammenfalls der Gegensätze liegt. In seiner Unendlichkeit ist »der Gegensatz der Gegensätze ohne Gegensatz« 124. Um durch die Pforte oder über die Mauer zum ewigen, unendlichen Gott zu gelangen, müssen wir nicht nur in das Dunkel unserer Sinne und unseres Verstandes, sondern auch in das Dunkel unserer Vernunft eintreten. Genauer ausgedrückt, müssen wir uns von Gott in das Dunkel stellen lassen. So spricht Cusanus zu Gott: »Das Vernunft-Denken muss unwissend und ins Dunkel gestellt werden, wenn es Dich sehen will. Indes – was anderes, mein Gott, ist diese Unwissenheit der Vernunft als die wissende Unwissenheit [docta ignorantia]? Kein anderer kann zu Dir herankommen, o Gott, der Du die Unendlichkeit bist, als nur derjenige, dessen Vernunft in Unwissenheit ist, d. h. jeder, der weiß, dass er von Dir nichts weiß.« 125

Die Lehre des Cusanus vom Zusammenfall der Gegensätze in Gott kommt insbesondere bei der Dreieinigkeit Gottes zur Anwendung, bei der zwischen der Dreiheit und der Einheit ein offensichtlicher Gegensatz besteht. In welcher Richtung die Lösung des Problems der Dreiheit und der Einheit bei Gott zu denken ist, fasst Cusanus in zwei wichtigen Abschnitten zusammen. »Das Größte ist also dreiheitliche Wesenheit [essentia trina], die eine wirkliche Einheit bildet [una actu]. Dabei ist die Wesenheit nichts von der Dreiheit Verschiedenes, die Dreiheit [trinitas] nichts von der Einheit Verschiedenes und die Wirklichkeit [actualitas] nichts von der Einheit, Dreiheit oder Wesenheit Verschiedenes, obwohl es lauterste Wahrheit ist zu sagen, das Größte sei all dieses in einfachster Identität [identice et simplicissime]. Wie es also wahr ist zu sagen, das Größte sei und sei eines, so ist es wahr zu sagen, es sei dreifach, und zwar in der Weise, dass die Wahrheit der Dreiheit nicht der einfachsten Einheit widerspricht, sondern die Einheit selbst ist.« 126

122 123 124 125 126

Vgl. VD XIII 147. VD XII 143. VD XIII 151. VD XIII 147. DI I 19,56.

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Die Einfaltung (complicatio) von allem

Bei Gott als dem Größten muss nach Cusanus die Dreiheit der Personen und die Einheit des Wesens so zusammen gedacht werden, dass zwischen beiden die einfachste Identität besteht. Der Dreiheit widerspricht die einfachste Einheit nicht. Vielmehr ist die Dreiheit die Einheit selbst. »Der gelehrte Augustinus sagt […] mit Recht: ›Wenn du anfängst, die Trinität zu zählen, verfehlst du die Wahrheit.‹ Bei Gott muss man, soweit das möglich ist, in einem einfachen Begriff das Widersprechende zusammenfassen, indem man den Gegensätzen im Vorgriff voraus ist. So darf man in Gott nicht Unterscheidung und Ununterschiedenheit als zwei gegensätzliche Dinge auffassen, sondern muss sie im Vorgriff als in ihrem absoluten einfachen Prinzip fassen, wo Unterscheidung nichts anderes als Ununterschiedenheit ist. Dann begreift man besser, dass Dreiheit und Einheit dasselbe sind. Denn wo Unterscheidung Ununterschiedenheit ist, da ist Dreiheit Einheit und umgekehrt, wo Ununterschiedenheit Unterscheidung ist, da ist Einheit Dreiheit. Dasselbe gilt von der Mehrheit der Personen und der Einheit des Wesens. Denn wo Vielheit Einheit ist, da ist die Dreiheit der Personen identisch mit der Einheit des Wesens. Und umgekehrt, wo die Einheit Vielheit ist, da ist die Einheit des Wesens Dreiheit in den Personen.« 127

Man muss Gott so als absolut einfaches Prinzip verstehen, dass in ihm Unterscheidung nichts anderes ist als Ununterschiedenheit. Dann wird verständlich, weshalb in Gott Dreiheit (trinitas) Einheit (unitas) und Einheit Dreiheit ist. Die Mehrheit der Personen ist dann identisch mit der Einheit des Wesens. Und umgekehrt ist dann die Einheit des Wesens dasselbe wie die Dreiheit in den Personen.

8.6 Die Einfaltung (complicatio) von allem Im ersten Buch seines Werkes »De docta ignorantia« legt Cusanus dar, wie in der mathematisch-geometrischen Figur der unendlichen Linie die Figur des unendlichen Dreiecks, des unendlichen Kreises und der unendlichen Kugel und damit jede geometrische Figur eingefaltet ist. 128 Dementsprechend ist in Gott alles, was in der Welt ist, DI I 19,57. Um die Mathematik für die Theologie fruchtbar zu machen, wendet Cusanus zwei spezielle Methoden an: das »symbolische Untersuchen« (symbolice investigare) und das »Mutmaßen« (conjicere) (siehe dazu Leinkauf 2006, 78–89). Beim symbolischen Erforschen bedient sich Cusanus im Zusammenhang seiner philosophisch-theologi127 128

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und alles, was in der Welt sein könnte, eingefaltet. 129 Dem Begriff der Einfaltung (complicatio) sowie dem komplementären Begriff der Ausfaltung bzw. Entfaltung (explicatio) kommt bei Cusanus eine Schlüsselstellung zu. Mit ihrer Hilfe entwickelt er sein zweites Grundtheorem, das Einfaltung-Ausfaltungs-Theorem, zu dem er in »De docta ignorantia« folgende Überlegungen anstellt. Gott als das Größte umfasst (complectitur) und umgreift (complicat) irgendwie alles, auch das Gegensätzliche und Widersprüchliche. 130 »Zugestanden, ich kann morgen lesen oder nicht lesen, was ich aber auch immer tue, ich entgehe nicht der Vorsehung, die Gegensätzliches umfasst.« 131 Gott umgreift die Gesamtheit aller Dinge in der Einfachheit seiner unendlichen Einheit, »wo es kein anderes und Verschiedenes gibt, wo der Mensch sich nicht vom Löwen unterscheidet und der Himmel nicht von der Erde und sie doch in vollster Wahrheit dort sie selbst sind, nicht gemäß ihrer Endlichkeit, sondern eingefaltet als die größte Einheit selbst« 132. Da in der absoluten Einfachheit Gottes alles dasselbe ist, »sodass seine Güte nicht etwas anderes ist als seine Weisheit« 133 und seine Gerechtigkeit nichts anderes als seine Barmherzigschen Überlegungen zum Wesen Gottes »immer wieder der rationalen und durch rationale Axiomatik abgesicherten Wissensform schlechthin, der Geometrie – als dem anschaulich fundierten Spezialfall der Mathematik« (Leinkauf 2006, 81). In »De docta ignorantia« gibt er eine genaue Handlungsanweisung für diese Methode. Sie besteht aus drei Schritten: »Wenn wir […] für den Aufstieg zum schlechthin Größten das Endliche als Beispiel verwenden wollen, so müssen wir zunächst [1.] die endlichen mathematischen Figuren mit ihren Eigenschaften und ihren Verhältnissen betrachten und entsprechend [2.] die Verhältnisse auf gleichartige unendliche Figuren übertragen. Dann aber müssen wir drittens [3.] die Verhältnisse der unendlichen Figuren im weiteren Aufstieg auf das unendlich Einfache in seiner Ablösung von aller Figürlichkeit übertragen« (DI I 12,33). Das symbolische Erforschen besteht dementsprechend wesentlich aus projektiven geistigen Operationen. Auf diese Weise lässt sich über das Symbol der unendlichen Linie die Wahrheit (rectitudo) Gottes, über das Symbol des unendlichen gleichseitigen Dreiecks seine Dreieinigkeit, über das Symbol des unendlichen Kreises seine Einheit, und über das Symbol der unendlichen Kugel seine unendliche und uneingeschränkte Wirklichkeit erahnen (vgl. Leinkauf 2006, 82). Oder es lässt sich über das Symbol eines unendlich beschleunigten Kreisels die Ewigkeit Gottes erahnen (vgl. P 289–293 (n. 18); Leinkauf 2006, 86 f.). 129 Vgl. DI I 12–15. Der Begriff complicare (in sich schließen, umfassen, einfalten, umgreifen) taucht allerdings erst in 20,61 (Zeile 5) auf. 130 Vgl. DI I 22,67–69. 131 DI I 22,69. 132 DI I 24,77. 133 DI I 21,63.

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Die Einfaltung (complicatio) von allem

keit, weil »jede Verschiedenheit […] eben in ihm Identität [ist]« 134, sind auch alle in Gott eingefalteten Dinge dasselbe, obwohl sie in der unendlichen Einheit Gottes gerade im vollsten und wahrsten Sinne sie selbst sind. Insofern ist Gott der Inbegriff aller Dinge. In der göttlichen Vorsehung sind alle wirklichen und alle bloß möglichen Ereignisse als wirkliche eingefaltet, auch wenn nur einige Ereignisse ausgefaltet werden, d. h. in der Welt Wirklichkeit werden. Und in der göttlichen einfachen Einheit sind alle wirklichen und bloß möglichen Dinge als wirkliche eingefaltet, auch wenn nur einige Dinge ausgefaltet werden, d. h. in der Welt Wirklichkeit werden. Alle Dinge und Ereignisse, seien sie bloß möglich oder in der Welt wirklich, sind in Gott immer schon volle Wirklichkeit. Cusanus fasst diesen Gedanken selbst so zusammen: »Das Größte ist in vollendeter Wirklichkeit all das, was in der Möglichkeit der absoluten Einfachheit liegt. Was nur immer möglich ist, das ist das Größte in vollendeter Wirklichkeit, nicht insofern es aus der Möglichkeit heraus wirklich ist, sondern insofern es in vollendeter Weise wirklich ist.« 135

Scholastisch gesprochen heißt das: Jede mögliche und wirkliche Vollkommenheit in der Welt ist in Gott immer schon vollendete unendliche Wirklichkeit. Während beim Größten die absolute Möglichkeit »nichts anderes als das Größte selbst in seiner Wirklichkeit« 136 ist, ist bei den nichtgrößten, d. h. endlichen Dingen die Möglichkeit nicht schon einfach Wirklichkeit, da diese immer anders sein könnten, als sie sind, und somit niemals alle Möglichkeiten verwirklicht haben. Gott als das Größte ist alles und zugleich keines von allem. In seiner Erhabenheit ist er »schlechthin unabhängig von allem und über allem« 137. Als das Größte ist er in seiner völlig einfachen und unendlichen Wesenheit (essentia) die absolut einfache Wesenheit aller Wesenheiten. 138 Alle Wesenheiten der Dinge, die sind, waren oder sein werden, sind in ihr immer und ewig wirklich als die Wesenheit selbst. Alle Wesenheiten sind insofern, als Gott die Wesenheit von allem ist. Gott als Wesenheit von allem ist jede einzelne Wesenheit

134 135 136 137 138

DI I 21,63. DI I 16,42. DI I 16,42. DI I 16,43. Vgl. DI I 16,45.

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in der Weise, »dass sie zugleich alle Wesenheiten ist und keine im besonderen« 139. Soweit die Gedanken des Cusanus zum Einfaltung-AusfaltungsTheorem im ersten Buch von »De docta ignorantia«. Ganz allgemein und vereinfachend lässt sich zu diesem Theorem bei Cusanus feststellen: 140 Als Hauptquellen für das Einfaltung-Ausfaltungs-Prinzip dürfen der Neuplatonismus 141, Johannes Scotus Eriugena (ca. 810–877) 142 und der Platonismus von Chartres (11./12. Jh.) 143 gelten. Mit dem Gedanken der complicatio und explicatio beschreibt Cusanus alle Ursache-Wirkung-Verhältnisse bzw. Grund-Folge- oder Grund-Begründetes-Verhältnisse. Der Grund ist jeweils dem Begründeten dem Sein und der Sache nach vorgeordnet. Er zeichnet sich durch Einheit aus, während dem Begründeten Vielheit zu eigen ist. In einem dynamischen Prozess der Selbstexplikation oder Selbstoffenbarung bringt die einheitliche Ursache die vielheitliche Wirkung hervor. In der Ursache ist die Wirkung immer schon eingeschlossen d. h. eingefaltet vorhanden – so wie im Samen die Pflanze oder in der Intention die Handlung. Aber erst durch die Ausfaltung geht die Wirkung als Wirkung von der Möglichkeit zur Wirklichkeit über. Die Ausfaltung setzt immer die Einfaltung voraus. Mit der Einfaltung ist aber noch nicht schon einfach die Ausfaltung gegeben. Es bedarf eines eigenen Prozesses der Entfaltung, bei dem der einheitliche Grund aus seiner Einheit heraus Differenz, Andersheit und Vielheit setzt. Mit dem Begriffspaar complicatio-explicatio beschreibt Cusanus primär das Verhältnis zwischen Gott und Welt, zwischen Schöpfer und Schöpfung. Er schreibt dieses Begriffspaar aber auch dem Verhältnis zwischen menschlichem Geist und seinen geistigen Produkten, den Begriffen zu. Im zweiten Buch von »De docta ignorantia« geht Cusanus genauer und ausführlicher auf das Gott-Welt-Verhältnis im Sinne der DI I 16,45. Siehe dazu Leinkauf 2006, 102–110. 141 Plotin und insbesondere Proklos. 142 Cusanus setzte sich immer wieder mit dem Hauptwerk »De divisione naturae« (auch »Periphyseos«) dieses irischen Platonikers auseinander. 143 Der Platonismus von Chartres stellt die zentrale und historisch nächste wirkungsgeschichtliche Voraussetzung des Einfaltung-Ausfaltungs-Theorems des Cusanus dar. Ihm dürfte Cusanus auch das begriffliche Ternar für die Trinität, nämlich unitas-aequalitas-connexio, verdanken. Vgl. Leinkauf 2006, 104. 139 140

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Die Einfaltung (complicatio) von allem

Einfaltung-Ausfaltung ein. Seine Ausführungen sind in dem Satz zusammengefasst: »Gott ist die Einfaltung von allem insofern, als alles in ihm ist; er ist die Ausfaltung von allem insofern, als er in allem ist.« 144 Die Welt in ihrer komplikativen Präsenz ist nicht als Welt in Gott, sondern als eingefaltete Antizipation ihrer selbst, als plura sine pluralitate –Vieles ohne Vielheit. 145 Und Gott ist in seiner explikativen Präsenz gerade nicht als alles Gegründete, sondern als der entfaltende Grund von allem in der Welt gegenwärtig. Wie in Gott als dem unendlichen Geist (mens infinita) alle Urbilder (Ideen) der Dinge eingefaltet sind, so sind im menschlichen begrenzten Geist (mens finita) alle Abbilder der Ideen und der Dinge eingefaltet, also alle Begriffe, die Cusanus als Angleichungen an die Wahrheit der Dinge, d. h. an die Ideen in Gott, versteht. 146 Der Mensch als begrenzter Geist ist imago infiniti (Bild des unendlichen Geistes Gottes). Wie Gott mit seiner Sein-setzenden Kraft (vis entificativa) alles Seiende der Welt aus sich entfaltet, so entfaltet der Mensch mit seiner kognitiven Kraft (vis cognitiva) alles Begriffliche aus sich. Durch Denken kann der menschliche Geist die Abbilder bzw. Begriffe, die in ihm eingefaltet sind, entfalten. So entstehen Sprache, Wissenschaft und Kunst. Indem Gott die Dinge denkt (intelligere, concipere), erschafft er sie (facere, creare). Indem der Mensch die Dinge denkt, fasst er sie auf, begreift er sie. Gott ist die Gesamtheit der Wahrheit der Dinge. Der Mensch ist die Gesamtheit der Angleichung (assimilatio) an die Dinge. Dabei ist der menschliche Geist immer Bild (imago) bzw. Abbild des göttlichen Geistes, der sein Urbild und die Einfaltung der Einfaltungen ist. Das letztendliche Ziel der geistigen Tätigkeit des Menschen besteht darin, sich zur Unendlichkeit zu erheben, und so zur Vergöttlichung zu gelangen. 147 Wie für Augustinus ist für Cusanus der menschliche Geist Bild Gottes. Dabei hebt er bei seinem Vergleich aber nicht wie dieser auf die Dreifaltigkeit Gottes ab. Stattdessen ist sein Vergleichspunkt der, dass im menschlichen Geist wie im göttlichen Geist die Ideen eingefaltet sind. Indem Gott die Ideen aus sich entfaltet, erschafft er die

144 145 146 147

DI II 3,107. DI II 3,108. Vgl. Leinkauf 2006, 108. Siehe dazu und zum Folgenden Leinkauf 2006, 46–77. Vgl. Leinkauf 2006, 61.

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Geschöpfe. Indem der Mensch die Ideen aus sich heraus entfaltet, schafft er Werke der Wissenschaft und der Kunst. Die Ideenlehre des Cusanus geht vermittelt durch den Neuplatonismus zurück auf Platons Ideenlehre. Wie bei Platon die höchste oder sogar transzendente Idee des Guten Seins-Grund aller Ideen ist, so ist bei Cusanus Gott als die Idee der Ideen der Seins-Grund aller Ideen. Im Gegensatz zu Plotin, für den die Ideen nur in der zweithöchsten Wirklichkeit, nämlich in der Hypostase des Geistes, vorhanden sind, schreibt Cusanus demnach die Ideen der höchsten Wirklichkeit selbst zu. Dabei versucht er freilich, die Einfachheit zu wahren, die Plotin der höchsten Wirklichkeit, der Hypostase des Einen, zuerkennt. Deshalb sind für ihn in Gott die Ideen nicht in ihrer Unterschiedlichkeit enthalten, sondern in absoluter Einfachheit – ohne jede Verschiedenheit – eingefaltet.

8.7 Die Genauigkeit und das Maß von allem Sein drittes Theorem, das man das Genauigkeits-Theorem nennen könnte 148, entfaltet Cusanus hauptsächlich im Zweiten Buch seines Werkes »Idiota de sapientia« (Der Laie über die Weisheit; 1450). Ausgangspunkt ist die Frage, wie man sich »von Gott, der doch größer ist, als dass er begriffen werden könnte, einen Begriff bilden soll« 149. Um sich einen möglichst genauen, richtigen, wahren, rechten oder guten Begriff von Gott zu bilden, ist zunächst einmal die Einsicht wichtig, dass Gott die absolute Genauigkeit, die absolute Richtigkeit, die absolute Wahrheit, die absolute Gerechtigkeit und die absolute Gutheit selbst ist. Auf der Suche nach dem geeigneten Gottesbegriff fährt Cusanus dann fort: »Jede Frage über Gott setzt das Gefragte voraus, und es ist das zu antworten, was in jeder Frage über Gott die Frage voraussetzt.« 150 Fragt man etwa, ob Gott sei, setzt das die Seiendheit (entitas) voraus. Fragt man, was Gott sei, setzt das die Washeit (quidditas) voraus. Würde man fragen, ob Gott gut sei, setzte das die Gutheit voraus. Gott ist aber nichts anderes als die absolute Seiendheit selbst, die absolute Washeit selbst und die absolute Gutheit selbst. 148 Siehe dazu und zum Folgenden mit den entsprechenden Stellenangaben bei Cusanus Leinkauf 2006, 111–115. 149 SA II 455. 150 SA II 457.

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Die Genauigkeit und das Maß von allem

Die Antwort auf Fragen über Gott besteht folglich darin, aufzudecken, dass in den Fragen selbst bereits eine Eigenschaft Gottes vorausgesetzt ist. Solche Antworten stellen aber keine genauen Antworten dar. 151 Sie sind vielmehr nur Annäherungen an die absolute unendliche Genauigkeit, die für uns unerreichbar ist und die Gott selbst ist. Die Antworten haben demnach nur teil an der absoluten Genauigkeit. Die Begriffe Genauigkeit, Richtigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Gutheit haben für Cusanus nicht nur im theologischen Sinn dieselbe Bedeutung, insofern in der absoluten Einfachheit Gottes alle Eigenschaften zusammenfallen und dasselbe bedeuten, sodass beispielsweise die Gerechtigkeit nichts anderes ist als die Barmherzigkeit und die Barmherzigkeit nichts anderes als die Treue. Vielmehr haben die entsprechenden Ausdrücke »genau«, »richtig«, »wahr«, »gerecht« und »gut« auch alltagssprachlich dieselbe Bedeutung. 152 Es spielt alltagssprachlich zum Beispiel keine Rolle ob jemand sagt: »Das ist richtig« oder »Das ist wahr«. Bei all diesen Begriffen oder Ausdrücken handelt es sich in dem Sinn um absolute Ausdrücke, dass sie auf etwas Absolutes, das nicht mehr und nicht weniger sein könnte, oder auf etwas Vollkommenes, das nicht vollkommener sein könnte, verweisen. Genauigkeit gehört dementsprechend für Cusanus zu den absoluten Begriffen, bei denen es an sich kein mehr oder weniger gibt und die deshalb im Grunde nur auf Gott als den schlechthin Unendlichen zutreffen. Handelt es sich bei der Genauigkeit und Ähnlichem um Absoluta, dann gibt es, so schließt Cusanus, »in dieser Welt […] keine Genauigkeit, Richtigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit oder Güte, da wir erfahren, dass das eine genauer ist als das andere; so wie das eine Bild eine genauere Darstellung ist als das andere« 153. Die Genauigkeit, Richtigkeit etc. »in dieser Welt sind [nur] eine Art von Teilhabe an jenen von der Welt freien und losgelösten Eigenschaften, Abbilder [imagines] von denen jene die Urbilder [exemplaria] sind« 154. So wie die Genauigkeit und die Richtigkeit haben alle Dinge in der Welt als Abbilder teil an den ihnen entsprechenden Urbildern, die in Gott eingefaltet sind, und bilden diese ab bzw. ahmen diese nach. 151 152 153 154

Vgl. SA II 459. Vgl. SA II 465. SA II 467. SA II 467.

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So haben etwa alle Menschen am allgemeinen Urbild des Menschseins in Gott teil. Darüber hinaus hat aber auch jeder einzelne Mensch an seinem individuellen Ur- oder Idealbild, das in Gott eingefaltet ist, teil. Insofern in Gott alle Urbilder in absolut einfacher, unendlicher und vollkommener Weise eingefaltet sind, ist Gott das Urbild aller Urbilder, das absolute Urbild. Damit ist er auch absolutes Urbild aller Dinge der Welt. »Das absolute Urbild, das nichts anderes ist als die absolute Genauigkeit, Richtigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Gutheit, schließt alles zusammen, das vom Urbild abgebildet werden kann […].« 155 Sämtliche Dinge in der Welt sind letztlich Bilder des einen absoluten Urbildes, das Gott selber ist. Der Begriff der »Genauigkeit« hängt bei Cusanus eng mit den Begriffen »Maß« und »Vermutung« zusammen und ist ein theoretischer Fachausdruck, der eine ontologische und eine epistemologische Bedeutung hat. Etwas ist im ontologischen Sinn präzis, wenn es ganz mit sich selbst übereinstimmt, die ihm mögliche Vollkommenheit, Identität und Einheit ganz erreicht und dem ihm vorgegebenen absoluten Maß ganz entspricht. Und ein Wissen ist im epistemologischen Sinn dann präzis, wenn es das, was etwas ist, ganz erfasst. Bei der Genauigkeit gibt es kein Mehr oder Weniger. Sie ist wie alles Vollkommene und Abgeschlossene – wie etwa die erwähnte Wahrheit, die Geradheit oder die Tugend – nicht weiter steigerbar. Genauigkeit in diesem Sinn bzw. absolute Genauigkeit kommt nur Gott zu. Nur Gott stimmt seinsmäßig vollkommen mit sich überein. Nur Gott weiß alles auf vollkommene Weise. Alles Endliche hingegen bleibt ontologisch hinter der ihm möglichen Vollkommenheit zurück. Und wir Menschen können nur Vermutungen bezüglich der Dinge anstellen, nicht aber ein präzises, definitives Wissen von ihnen erlangen. Menschliches Wissen bleibt notgedrungen »ungenau«, »vermutend« und »nicht-wissend«. Der menschliche Geist vermag nach Cusanus zwar alles zu messen, zu wägen und zu zählen, nicht aber die zugrundeliegenden Einheiten zu erfassen. Gott ist aufgrund seiner absoluten Genauigkeit das absolut Maß-Gebende und Bestimmende für alles andere, die Wahrheit schlechthin. Seine Genauigkeit schließt seine nicht weiter steigerbare Größe, Wahrheit, Identität und Vollkommenheit ein. Er ist nicht nur in sich die praecisio absoluta, sondern ebenso in seinem Hervorgang

155

SA II 467.

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Die Genauigkeit und das Maß von allem

aus sich selbst, d. h. in der Erschaffung der Welt die schlechthin alles präzisierende (vervollkommnende) und bemessende Kraft. Diese Kraft spiegelt sich in den Vermögen der menschlichen Seele wider. »Dort ist, gemäß der Zuordnung der einzelnen Vermögen zueinander, die Sinnlichkeit das präzisierende Vermögen bezüglich der (wahrgenommenen) Dinge, der Verstand das präzisierende Vermögen bezüglich der Sinneseindrücke, die Vernunft das präzisierende Vermögen bezüglich der an die Geltung des Satzes vom Widerspruch gebundenen Verstandeserkenntnis und schließlich Gott (bzw. der göttliche Intellekt) das absolut Präzisierende der den Zusammenfall der Gegensätze erschauenden Vernunft.« 156

Die begrenzten menschlichen Erkenntnisvermögen bleiben aber unendlich hinter dem göttlichen Intellekt zurück. Da das Größte nicht größer ist als irgendeine endliche Wesenheit, weil es zugleich das Kleinste ist, und da es nicht kleiner ist als irgendeine endliche Wesenheit, weil es zugleich das Größte ist, und da alles Messbare zwischen das Größte und Kleinste fällt, ist die unendliche Wesenheit Gottes das adäquate und genaue Maß für alle endlichen Wesenheiten. 157 Das schlechthin Größte ist das Maß (metrum) und der Maßstab (mensura) von allem, da es der Wesensgrund (ratio) von allem ist. Als absolutes Maß und absoluter Maßstab ist es »gegenüber keinem identisch noch verschieden« 158. Den Gedanken, Gott sei das Maß von allem, greift Cusanus noch einmal im zweiten Buch von »Idiota de sapientia« (Der Laie über die Weisheit; 1450) auf und gibt ihm eine neue Wendung. Gott ist demnach das absolute Urbild, dessen Abbilder die Geschöpfe sind. 159 Die Abbilder haben teil am Urbild und ahmen es nach. 160 Insofern das Urbild absolut und unendlich und damit als solches völlig unmessbar und gerade so das eigentliche und letzte Maß von allem ist, ist es in gewissem Sinn jedem Abbild vollkommen gleich. 161 Alle Abbilder sind in ihm, das alles zu formen und hervorzubringen vermag, vorgängig eingeschlossen und eingefaltet. 162 Wer mit tiefblickendem Blick in die absolute Einfachheit Gottes schaut, der kann den Begriff

156 157 158 159 160 161 162

Leinkauf 2006, 112. Vgl. DI I 16,45. DI I 21,65. Vgl. SA II 467–469. Das erinnert stark an die Zwei-Welten-Lehre Platons. Vgl. SA II 471. Vgl. SA II 463; 475.

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vom absoluten Begriff bilden, »den Begriff, der durch sich selbst besteht« 163. Der Gedanke des Cusanus, Gott sei das Maß von allem, hat insbesondere enorme anthropologische Konsequenzen, die das konkrete Glaubensleben betreffen. Ist Gott als das absolute Maximum, das mit dem absoluten Minimum zusammenfällt, nicht kleiner und nicht größer als jeder einzelne Mensch, so ist er auf der einen Seite in gewissem Sinn genau so groß wie jeder einzelne Mensch. Jeder Mensch kann von daher mit gewissem Recht sagen: Gott ist nicht größer oder kleiner als ich. Ich kann daher mein Glaubensleben »auf Augenhöhe« mit Gott leben, und darf darauf vertrauen und kann vielleicht erfahren, dass Gott umgekehrt mein Leben auf Augenhöhe mit mir lebt. Gott ist in diesem Sinn für jeden Menschen der adäquate, genaue Lebenspartner. Dass sich Gott tatsächlich zum Menschen, und zwar zu jedem Menschen unendlich hinab beugt, wird in seiner Menschwerdung in Jesus von Nazaret anschaulich. Auf der anderen Seite überragt Gott in seiner unendlichen Erhabenheit jeden Menschen unendlich. Insofern ist er zugleich unendlich viel mehr als ein genauer, adäquater Lebenspartner. Gott macht aber den Menschen in einem wirklichen Sinn zu seinem Lebenspartner, indem er ihn mit echter Freiheit ausstattet und sich unendlich zu ihm hinab neigt, um ihn gerade so unendlich zu sich zu erheben.

8.8 Das Nicht-Andere (non-aliud) Schon in der Schrift »Trialogus de possest« (1460) ist davon die Rede, Gott könne kein anderes sein. 164 In der Schrift »De non-aliud« (1462) wird das Nicht-anders-Sein Gottes dann zum großen Thema des Cusanus. 165 Am Anfang steht die Frage: Was lässt uns in erster Linie wissen? 166 Cusanus gibt darauf die Antwort: Die Definition. Denn wenn wir nach der Definition von etwas fragen, also fragen, was etwas ist, lautet die Antwort: es ist nichts anderes (non-aliud) als das und das.

SA II 463. Vgl. etwa auch P 315–317. Vgl. P 283. 165 Siehe dazu Max Rohstock: Der negative Selbstbezug des Absoluten. Untersuchungen zu Nicolaus Cusanus’ Konzept des Nicht-Anderen, Berlin 2014. 166 Vgl. NA [= De non aliud] I 447. [= erster Abschnitt, Seite 447]. 163 164

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Das Nicht-Andere (non-aliud)

Das Nicht-Andere (non-aliud) ist von daher wesentlicher Bestandteil einer jeden Definition. 167 Es ist die Definition der Definition 168, die in jeder Definition vorkommt. Denn sowohl »das Nicht-Andere ist nichts anderes als das Nicht-Andere [Hervorh. J. H.]« 169 (non aliud est non aliud quam non aliud), als auch alles andere ist nichts anderes (non aliud) als es selbst. So ist etwa der Himmel nichts anderes (non aliud) als der Himmel. Die Definition, die sich und alles andere definiert, ist damit für Cusanus das »Nicht-Andere« (non aliud). Das Nicht-Andere, das sich und alles andere definiert, bezeichnet nach Cusanus den ersten Ursprung, den alle Gott nennen. 170 Wie nichts anderes lenkt das Nicht-Andere den Blick auf das Erste. »Denn da das andere nichts anderes ist als das andere, setzt es das NichtAndere, ohne das es kein anderes wäre, […] voraus.« 171 Das NichtAndere geht allem voran, weil es alles in der Welt definiert, und alles in der Welt ist das andere, da ihm das Nicht-Andere vorangeht. So geht das Nicht-Andere etwa der Wirklichkeit und der Möglichkeit voran. 172 Auch das Nichts, insofern es nichts anderes (non aliud) als das Nichts ist, hat das Nicht-Andere vor (ante) sich. 173 Theologisch gewendet heißt das: Gott, der Schöpfer, ist das Nicht-Andere. Die Geschöpfe sind das andere. Der Schöpfer als das Nicht-Andere geht den Geschöpfen als dem anderen voran. Das Nicht-Andere ist daher Grund allen Seins. 174 »Denn da alles, was immer es auch sein mag, nichts anderes [non aliud] ist als es selbst, hat es dies nicht von woanders her; es hat es vom Nicht-Anderen.« 175 Das Nicht-Andere ist aber für Cusanus auch Grund des Erkennens. 176 Wir erkennen, dass etwas das ist, was es ist, dadurch, dass es nichts anderes ist als es selbst. Wir erkennen folglich alles Sein nur durch das Nicht-Andere und im Nicht-Anderen. 177 Wie wir alles 167 Nach Auffassung des Nikolaus von Kues ist Dionysius (Pseudo-Dionysios) am Ende seiner »mystischen Theologie« dem Geheimnis (secretum) des Nicht-Anderen näher als alle anderen gekommen (vgl. NA I 449). 168 Vgl. NA Grundsätze II und III 557. 169 NA I 447. 170 Vgl. NA II 449. 171 NA II 451. 172 Vgl. NA VII 469. 173 Vgl. NA VII 471. 174 Vgl. NA III 453. 175 NA III 455. 176 Vgl. NA III 453. 177 Vgl. NA VII 473.

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Das Können selbst

Sichtbar-Sinnliche nur durch das sinnliche Licht erkennen können, können wir alles Sein nur durch das geistige Licht des Nicht-Anderen, das Gott ist, erkennen. 178 Das Nicht-Andere ist in jeder Erkenntnis vorausgesetzt und wird ebenfalls erkannt. 179 Denn im »andern wird das Nicht-Andere selbst erkannt, weil man, sieht man das andere, dieses sieht und das Nicht-Andere« 180. Cusanus steigert seine Aussage über das Erkennen und Sehen des Nicht-Anderen noch, indem er in den Grundsätzen am Ende des Werkes erklärt, wir würden in allem »nur« das Nicht-Andere sehen. »Wer sieht, dass das Nicht-Andere seiner und aller Dinge Definition und das Definierte ist, der sieht in allem, das er sieht, nur das sich selbst definierende Nicht-Andere. Denn was sieht er im anderen außer das sich selbst definierende Nicht-Andere? Was anderes im Himmel als das sich selbst definierende Nicht-Andere? Und so verhält es sich mit allem. Die Schöpfung ist also die Offenbarung des sich selbst definierenden Schöpfers oder des sich selbst zeigenden Lichtes, das Gott ist […].« 181

Cusanus will damit nicht sagen, derjenige, der das Nicht-Andere verstehen und sehen gelernt habe, sehe in allem nur noch ausschließlich das Nicht-Andere. Im Gegenteil: Wer das Nicht-Andere im anderen zu sehen gelernt hat, sieht recht verstanden im anderen nichts anderes als das andere. Theologisch gewendet heißt das: Wer den Schöpfer zu sehen gelernt hat, sieht ihn in allen Geschöpfen, aber nicht so, dass er die Geschöpfe dann nicht mehr sehen würde, sondern im Gegenteil so, dass er die Geschöpfe gerade so sieht, wie sie wirklich sind, d. h. in ihrem An-und-für-sich-Sein. Der Schöpfer ist hier wie das Licht, in dem die Geschöpfe noch deutlicher gesehen werden als sonst, das aber selber eigentlich nicht gesehen wird. Das »Sehen« des Schöpfers verstärkt und vertieft das Sehen der Geschöpfe. Nach Cusanus ist Gott als das Nicht-Andere im Geschöpf nichts anderes als das Geschöpf. So ist er etwa im Himmel nichts anderes als der Himmel. Damit will Cusanus freilich nicht sagen, Gott sei im Geschöpf selbst Geschöpf, also geschöpfliche Wirklichkeit. Eine Identität Gottes, des Schöpfers, mit den Geschöpfen schließt er definitiv aus, indem er immer wieder beteuert, Gott sei »nichts von allem« 182, 178 179 180 181 182

Vgl. NA III 453. Vgl. NA VIII 475. Vgl. Kap. 13.1. NA VII 471. Vgl. NA Grundsätze IX 559. NA Grundsätze XII 559. Z. B. NA VI 467.

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Das Nicht-Andere (non-aliud)

also z. B. auch »nicht der Himmel« 183. Mit der Behauptung, Gott sei nichts anderes als das Geschöpf, will Cusanus vielmehr sagen: Gott ist so eins mit dem Geschöpf, dass er ihm gegenüber kein anderes ist, wie das andere Geschöpfe gegenüber einem Geschöpf sind. Gott ist jedem Geschöpf, wenn auch auf je verschiedene Weise, innerlich so gegenwärtig und »identifiziert« sich so unvorstellbar vollkommen mit jedem einzelnen Geschöpf, dass er vollkommen eins mit ihm ist, ohne deshalb mit ihm identisch zu sein oder zu werden. Die Nicht-Andersheit Gottes gegenüber dem anderen, d. h. den Geschöpfen, bedeutet nicht Identität mit dem anderen, wohl aber größtmögliche Einheit mit dem anderen, was soviel wie Identität in Verschiedenheit besagt. Damit erweist sich jedoch das Nicht-Andere zugleich als das wesentlich Andere und in diesem Sinn das ganz Andere. 184 Gott ist keinem Geschöpf gegenüber das andere, wie es die anderen Geschöpfe sind. Er ist auf ganz andere Weise anders als alles andere. Seine Nicht-Andersheit bedeutet demnach zugleich wesentliche Andersheit. Er ist der ganz Andere, der auf eine ganz andere Weise anders ist als alles andere. Und es ist genau diese ganz andere Weise des Andersseins, die es ihm gestattet vollkommen eins mit jedem einzelnen Geschöpf und mit der Schöpfung als ganzer zu sein. Wie das Bindeglied »nichts anderes als« den Grund einer jeden Definition darstellt, so bildet das Nicht-Andere den Grund eines jeden Seins und einer jeden Erkenntnis. Bei Cusanus nimmt damit das Nicht-Andere die Stelle ein, die bei Platon der Idee des Guten zukommt. Mit dem philosophischen Begriff des Nicht-Anderen vermag Cusanus auf philosophisch originelle Weise drei grundlegende theologische Sachverhalte auszudrücken, so lässt sich zusammenfassend festhalten. 1. Gott als das Nicht-Andere verhilft allen Geschöpfen zu ihrem Sein und zu ihrer Identität. Denn durch ihn ist alles, was ist, und ist NA VI 467. Der Begriff des ganz Anderen, mit dem hier eine Dimension des cusanischen Nicht-Anderen gedeutet wird, ist nicht so zu verstehen, als stünde er im Widerspruch zur Analogie Gottes. Auch wenn Gott wesentlich anders ist als die Schöpfung, ist eine Ähnlichkeit zwischen ihm und der Schöpfung nicht ausgeschlossen. Bei Cusanus könnte man allerdings die grundsätzliche Andersheit Gottes als eine völlige Andersheit auffassen, die eine Analogie ausschließt, da Cusanus die Lehre der Analogie nicht ausdrücklich vertreten hat, wenn er sie auch – etwa beim Vergleich des menschlichen Geistes mit dem göttlichen – der Sache nach anzunehmen scheint. 183 184

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alles genau das, was es ist. Des Weiteren ermöglicht Gott all unsere Erkenntnis, indem wir durch ihn und in ihm alles als das erkennen, was es ist. 2. Gott als das Nicht-Andere ist allen Geschöpfen auf ganz einzigartige Weise nahe und mit allen Geschöpfen auf ganz einzigartige Weise eins. 3. Gott als das Nicht-Andere ist aber eben deshalb auch das ganz Andere, das auf ganz andere Weise anders ist, als es die Geschöpfe untereinander sind.

8.9 Das Können-Selbst (posse ipsum) Im »Trialogus de possest« (Das Können-Ist; 1460) glaubt Cusanus einen Gottesbegriff gefunden zu haben, der noch angemessener ist als alle bisherigen. Ihn leitet dabei die Frage: Wie können wir ausgehend von den Geschöpfen zur Schau des Schöpfers gelangen? Wie können wir in den sichtbaren zeitlichen Geschöpfen das unsichtbare Wesen Gottes, z. B. seine Ewigkeit, Kraft und Göttlichkeit erblicken? Eine erste Antwort lautet nach Cusanus: Die Geschöpfe sind Abbilder des Schöpfers, der ihr Urbild und ihr Ursprung ist. 185 Von den Geschöpfen, die wir sinnlich sehen, wissen wir nämlich, dass sie nicht aus sich (ex se) sein können. Denn sie sind begrenzt. Alles Begrenzte kann aber nicht von sich selbst (a se) sein. Sehen wir daher beim Sehen des Sinnlichen ein, dass es von einer höheren Kraft stammt, dann vermögen wir die Kraft, aus der es stammt, als eine unsichtbare und ewige zu erblicken. Es geht deshalb im Grunde nur darum, zu erkennen, dass die Welt Schöpfung eines Schöpfers ist und die Dinge der Welt Geschöpfe eines Schöpfers sind. »Da alles Bestehende [d. h. Geschaffene], das sein kann, was es als Wirkliches ist, sehen wir von hier aus die absolute Wirklichkeit, durch die alles, das als Wirkliches ist, das ist, was es ist.« 186 Mit der absoluten Wirklichkeit hängt aber gemäß Cusanus die absolute Möglichkeit zusammen. Die absolute Möglichkeit kann nicht früher sein als die Wirklichkeit. 187 Denn wie sollte sie in die Wirklichkeit übergehen, wenn nicht durch die Wirklichkeit? Die absolute Möglichkeit, 185 186 187

Vgl. P 271. P 273, 275. Vgl. P 275.

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Das Können-Selbst (posse ipsum)

durch die alles, was wirklich ist, wirklich sein kann, geht der Wirklichkeit weder voraus noch folgt sie ihr. Gott ist Cusanus zufolge vor der Wirklichkeit, die von der Möglichkeit unterschieden wird, und vor der Möglichkeit, die vom Wirklichen unterschieden wird. Er ist der einfache Ursprung der Welt selbst. »Alles aber das nach ihm ist, steht in der Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit. So ist allein Gott das, was er sein kann, keineswegs aber irgendein Geschöpf, da Möglichkeit und Wirklichkeit allein im Ursprung dasselbe sind.« 188 Kein Geschöpf ist alles, was es sein kann, in Wirklichkeit, denn es könnte auch anders sein. Gott hingegen ist alles, was er sein kann, weil er nicht anders sein könnte, als er ist. Er ist alles in Wirklichkeit, was überhaupt sein kann. In ihm fallen absolute Wirklichkeit und absolute Möglichkeit zusammen. Er ist alles mögliche Sein als Wirklichkeit. In ihm als absoluter Möglichkeit und Wirklichkeit sowie die Verknüpfung beider ist alles, d. h. alles Geschöpfliche, eingefaltet. Weil Gott selbst auch das Sein (esse) ist, das die Seiendheit (entitas) der Möglichkeit und der Wirklichkeit ist, fehlt ihm nichts von allem, was allgemein und absolut sein kann. »Während er aber alles in allem ist, ist er alles so, dass er das eine nicht mehr ist als das andere, weil er nicht so eines ist, dass er nicht auch ein anderes wäre.« 189 Gott ist folglich auch all das Geschöpfliche, das sein kann. Ihm fehlt kein geschöpfliches Sein – etwa das Sonne-Sein. Er hat es vielmehr in einer besseren Seinsweise, weil er es auf vollkommene und göttliche Weise hat. So kann er uns etwa – wie die Sonne – Licht und Wärme spenden, aber auf vollkommene, göttliche Weise. All das lässt sich nun nach Cusanus in einem kurzen Wort mit ganz einfacher Bedeutung zusammenfassen: »das Können ist [posse est], das heißt, dass das Können sei. Und weil das, was ist, wirklich ist, ist das Können soweit Sein als das Können wirkliches Sein ist. Nennen wir es also Können-Ist [possest].« 190 Gott ist das Können-Ist (possest). In diesem Namen, der sich aus Können (posse) und Sein (esse) bzw. ist (est) zusammensetzt 191, ist für Cusanus alles zusammengefaltet. Deshalb ist das Können-Ist nach menschlichem Begreifen ein hinreichender Name Gottes. Er ist der 188 189 190 191

P 275, 277. P 283. P 285. Vgl. P 301.

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Das Können selbst

Name aller Namen, »der Name aller und aller einzelner Namen und zugleich von keinem einzigen« 192. »Dieser Name führt also«, so folgert Cusanus, »den Betrachtenden über allen Sinn, Verstand und alle Vernunft hinaus zur mystischen Schau, in welcher der Aufstieg aller erkennenden Kraft sein Ende und die Enthüllung des unbekannten Gottes ihren Anfang hat.« 193 Wäre das Können-Ist nicht, wäre nichts. Da aber etwas ist, kann das Können-Ist nicht nicht sein. Es ist folglich die absolute Notwendigkeit. 194 Da es alles ist, alles umfasst und alles in sich einschließt, ist alles, was ist, in ihm und ist alles das, was es ist, in ihm. 195 Alles, was gemacht ist, muss in Ewigkeit in ihm gewesen sein. Alles, was jetzt lebt und sich bewegt, lebt und bewegt sich in ihm. Außerhalb seiner ist nichts. Das Können-Ist steht über allem, sogar über dem Sein und dem Nicht-Sein. 196 Der allmächtige Gott kann nämlich aus dem NichtSein die Welt erschaffen. In ihm ist das Nicht-Sein das Können-Ist selber, da in ihm das Nicht-Sein mit dem Machen-Können zusammenfällt. 197 Da das Nicht-Sein durch den allmächtigen Gott sein kann, ist es auch ganz wirklich, denn das absolute Können ist im allmächtigen Gott als Wirkliches. Kann aus dem Nicht-Sein etwas werden, dann ist es unbedingt in der unendlichen Möglichkeit und Mächtigkeit (potentia) eingefaltet. Zum Können-Ist gehört demnach für Cusanus sowohl das Sein als auch in gewissem Sinn das Nicht-Sein. Das Nicht-Sein setzt das Sein einerseits voraus und negiert es andererseits. 198 Das Sein, das vom Nicht-Sein vorausgesetzt wird, ist darum unbedingt ewig. Denn es steht vor (ante) dem Nicht-Sein. Es ist das Sein Gottes. Das Sein hingegen, das vom Nicht-Sein negiert wird, hat seinen Anfang nach (post) dem Nicht-Sein. Es ist das Sein der Welt. Von allen Dingen der Welt gilt: das eine ist nicht das andere. 199 So ist etwa der Himmel nicht das Meer und das Meer nicht die Erde. Das zeigt, dass alle Dinge nach (post) dem Nicht-Sein und später als das Nicht-Sein sind. Sie stammen vom ewigen Sein her und 192 193 194 195 196 197 198 199

P 285; vgl. 299. P 285. Vgl. P 287; 301. Vgl. P 287. Vgl. P 299. Vgl. P 303. Vgl. P 349. Vgl. P 351.

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Das Können-Selbst (posse ipsum)

sind nach dem Nicht-Sein das, was sie sind. »Da dem Nicht-Sein, das sich nicht von selbst in das Sein zu bringen vermag, die Ewigkeit vorausgeht, müssen alle Dinge durch das ewige Sein aus dem NichtSein oder aus dem Nicht-Bestehen hervorgeführt werden; darum ist das ewige Sein die Seinsnotwendigkeit für alles.« 200 Während Gott als solcher nicht durch das Nicht-Sein bestimmt ist, ist die Schöpfung in einem dreifachen Sinn durch das Nicht-Sein bestimmt. Die begrenzten Geschöpfe sind erstens nicht der unendliche Gott. Jedes Geschöpf unterscheidet sich zweitens von allen anderen Geschöpfen und ist damit jeweils nicht das andere Geschöpf. Die Geschöpfe sind, nachdem Gott sie schöpferisch aus sich entfaltet hat, drittens nicht mehr die Geschöpfe, die sie vor ihrer Entfaltung als in Gott eingefaltete waren. Dennoch kommt dem Nicht-Sein der Geschöpfe in Gott Wirklichkeit zu, insofern die Geschöpfe in Gott als dem Können-Ist eingefaltet sind und somit nicht nur möglich, sondern wirklich sind. Gott ist Cusanus zufolge demnach vor dem Nicht-Sein. Die Welt dagegen hat nach dem Nicht-Sein ihren Anfang genommen. 201 Aber auch in Gott als solchem ist das Nicht-Sein. In diesem Punkt kann Cusanus auf der Linie seines eigenen Gedankengangs ergänzt werden. Denn gemäß der Dreieinigkeit Gottes ist der Vater als Person nicht der Sohn, der Sohn als Person nicht der Heilige Geist und der Heilige Geist als Person nicht der Vater. In diesem Sinn gibt es auch in Gott ein wirkliches Nicht-Sein. Aber auch dieses Nicht-Sein verdankt sich dem Können-Ist, das Gott philosophisch bedacht seinem Wesen nach ist. Aber selbst den Begriff des Können-Ist (possest) wird Cusanus in seiner letzten Schrift »De apice theoriae« (Der Gipfel der Schau; 1464) durch einen noch genaueren und besseren Gottesbegriff zu überbieten versuchen. 202 Dort steht am Anfang die Feststellung: »Wer P 351. Vgl. P 355. 202 Zwischen dem Werk über »Das Nicht-Andere« (1462) und dem letzten Werk »De apice theoriae« (1464) befindet sich chronologisch das Werk »De venatione sapientia« (1463), in dem Cusanus bisherige wichtige begriffliche Annäherungen an Gott wiederholt und zusammenfasst. Zehn Felder oder Reviere behandelt er auf der Jagd nach Weisheit: 1. das belehrte Nichtwissen, 2. das Können-Sein (possest), 3. das Nicht-Andere, 4. das Licht, 5. das Lob, 6. die Einheit, 7. die Gleichheit, 8. die Verbindung, 9. die Grenze, 10. die Ordnung (Nikolaus von Kues: Philosophisch-theologische Werke. Lateinisch – deutsch. Mit einer Einleitung von Karl Bormann. Band 4, c. 11, n. 30, 45). In 200 201

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Das Können selbst

immer sucht, sucht etwas; wenn er nicht irgend Etwas [aliquid] oder ein ›Was‹ [quid] suchte, dann würde er überhaupt nicht suchen.« 203 Das Was (quid) oder die Washeit (quidditas), die alle suchen und zumindest von ferne schauen, ist »das unveränderliche Grundbestehen allen Grundbestandes«, »ein und dieselbe Hypostase von allem«. 204 Diese Hypostase oder dieses Grundbestehen muss aber sein können, so schließt Cusanus. Denn könnte das Grundbestehen nicht sein, d. h. hätte es nicht die Möglichkeit und die Fähigkeit zu sein, gäbe es das Grundbestehen nicht und gäbe es nichts von allem. »Weil es sein kann, kann es [aber] auf keinen Fall ohne das Können-Selbst [posse ipsum] sein. Denn wie könnte es ohne das Können [posse] sein? Also ist das Können selbst, ohne das nichts sein kann, dasjenige, ohne das nichts in irgendeiner Weise grundbestandlich sein kann.« 205 Weit passender als das Können-Ist (possest) oder sonst irgendeine Bezeichnung bezeichnet daher nach Cusanus das Können-Selbst (posse ipsum) dasjenige, ohne das nichts sein, leben oder verstehen könnte. 206 Kann es überhaupt benannt werden, dann wird es das Können-Selbst, über das hinaus nichts mächtiger, früher, besser oder vollkommener sein kann, besser benennen. Kein Name kann deutlicher, wahrer oder einfacher sein als das »Können-Selbst«. Die Wahrheit des Können-Selbst (posse ipsum) leuchtet Cusanus zufolge jedem Menschen ein. Es gibt keinen Knaben oder Jüngling, der das Können-Selbst nicht kennt, »da doch jeder sagt, er könne essen, er könne laufen und er könne sprechen« 207. Jeder Könnende setzt das Können-Selbst insofern voraus, als ohne seine Voraussetzung überhaupt nichts sein kann. Es ist deshalb nichts bekannter, leichter, sicherer, früher, stärker, fester, beständiger oder glorreicher als das Können-Selbst. Alles Können in der Welt hat seine Kraft, so Cusanus, vom »absoluten […] und ganz allmächtigen Können-Selbst, dem gegenüber nichts Mächtigeres empfunden, vorgestellt oder gedacht werden kann. Denn es ist das Können jeden Könnens.« 208 »Darum ist das den ersten zehn Kapiteln geht es im Wesentlichen um das posse fieri (das WerdenKönnen), mit dem sachlich die in Gott eingefaltete Welt gemeint ist. 203 AP [= De apice theoriae] 363. 204 AP 365. 205 AP 365. 206 Vgl. AP 365, 367. 207 AP 367. 208 AP 369.

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Das Können-Selbst (posse ipsum)

Können-Selbst die Washeit und Hypostase von allem. In seiner Macht müssen notwendig alle Dinge enthalten sein, sowohl jene, die sind, als auch jene, die nicht sind.« 209 Das Können-Selbst übersteigt laut Cusanus wegen seiner übergroßen Erhabenheit unsere vernunftmäßige Fassungskraft, genauer gesagt, unser Vernunft-Denken. 210 Wir können mit unserem Geist, der dazu da ist, das Können-Selbst zu schauen 211, das Können-Selbst schauen, aber nicht begreifen. 212 Unser Geist muss sich deshalb vom Begreifen zum einfachen Schauen des Unendlichen erheben. Die Schau des unendlichen Können-Selbst »über alle begreifbare Kraft [vis] und Mächtigkeit [potentia] hinaus ist das höchste Können des Geistes. In ihm offenbart sich das Können-Selbst am meisten […].« 213 »Der Gipfel der Schau [apex theoriae] ist [also]«, so Cusanus, »das Können-Selbst, das Können jedes Könnens, ohne das niemand etwas betrachten kann.« 214 Denn das Können-Selbst hat allein die Macht, die Sehnsucht des Geistes zu stillen. Es ist über jeden Zweifel erhaben. 215 Wer daran zweifelt, dass es das Können-Selbst gibt und es Voraussetzung von allem ist, der setzt es zwangsläufig voraus, denn sonst könnte er nicht zweifeln. Da er zweifelt, kann er zweifeln. Gibt es aber das Zweifeln-Können, dann gibt es auch das Können-Selbst. Mit dem Können-Selbst wird gemäß Cusanus der dreieinige Gott bezeichnet, der deshalb den Namen »der Allmächtige« (omnipotens) oder »das Können jeder Mächtigkeit« (posse omnis potentiae) trägt. 216 Diese Feststellung rundet Cusanus schließlich mit den Worten ab: »Bei ihm [dem Allmächtigen] ist alles möglich und nichts unmöglich. Er ist die Stärke der Starken und die Kraft der Kräfte. Seine vollkommenste Erscheinung über die hinaus es keine vollkommenere geben kann, ist Christus, der uns zur klaren Betrachtung des Können-Selbst durch Wort und Beispiel führt.« 217

209 210 211 212 213 214 215 216 217

AP 369. Vgl. AP 371, 373. Vgl. AP Grundsätze VI 381. Vgl. AP 373. AP 373. AP 379. Vgl. AP 375. AP Grundsätze XII 385. AP Grundsätze XII 385.

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Das Können selbst

Cusanus hat damit nach eigener Einschätzung den genausten und angemessensten Gottesbegriff gefunden, der möglich ist, wohl wissend, dass Gott auch diesen Begriff unendlich übersteigt. Wie für Thomas von Aquin der höchste philosophische Gottesbegriff das Sein selbst ist, ist für ihn am Ende der höchste philosophische Gottesbegriff das Können selbst. Mit diesem Begriff gelingt es ihm insbesondere, den prozesshaften und dynamischen Charakter der Wirklichkeit Gottes in Bezug auf die Welt auszudrücken. Gott ist der Grund der Welt, in dem alles schon vollkommene Wirklichkeit ist, was in der Welt möglich ist und wirklich wird. Er ist der Möglichkeitsgrund der Welt, der alles in der Welt ermöglicht. Cusanus sagt damit philosophisch das, was in der Bibel so formuliert ist: Bei Gott ist alles möglich. 218

8.10 Reflexion: Gottesbegriffe erster und zweiter Ordnung Die hier im Wesentlichen chronologisch behandelten Werke des Nikolaus von Kues zeigen klar: Cusanus suchte sein ganzes Leben lang nach dem angemessensten Gottesbegriff. Sein Weg führte ihn bereits in seinem frühen Hauptwerk »De docta ignorantia« vom absolut Größten über das Unendliche, die absolute Notwendigkeit, das Sein und die Ewigkeit hin zum absolut Einen oder zur absoluten Einheit. Obwohl für ihn aufgrund seiner negativen Theologie Gott bei allen Begriffen, die wir ihm zusprechen mögen, der im Grunde Namenlose und Unbegreifliche war und blieb, suchte er weiter nach dem angemessensten und genauesten Gottesbegriff. Denn immerhin können wir Gott im Sinne der docta ignorantia irgendwie begreifen, wenn auch nur auf unbegreifliche Weise. So wurde Gott für Cusanus zunehmend das Sehen und das Laufen, die Wahrheit und die Weisheit und der Begriff der Begriffe. Von besonderer Bedeutung in seiner Gesamttheorie waren dann auch der Zusammenfall der Gegensätze, die Einfaltung von allem und die Genauigkeit oder das Maß von allem. Seine philosophische Suche nach dem besten Gottesbegriff wurde schließlich gekrönt durch die »Entdeckung« des Nicht-Anderen und des Können-Ist, wobei er letzteres schließlich durch den noch einfacheren und genaueren Begriff des Können-Selbst ersetzte. Bei all der Ernsthaftigkeit des Suchens und der Begeisterung über Gefundenes geht Cusanus bei seinem Bemühen um den optima218

Mk 10,27 par.; vgl. Lk 1,37.

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Reflexion: Gottesbegriffe erster und zweiter Ordnung

len Gottesbegriff von Anfang an sehr reflektiert vor. Er ist sich der Relativität des Unterfangens in einer doppelten Hinsicht immer bewusst. Zum einen mögen für uns verschiedene Bestimmungen Gottes angemessen sein. Für Gott selbst in seiner absoluten Einfachheit fallen jedoch alle Bestimmungen, die wir an ihm erkennen und unterscheiden können, vollkommen zusammen, sodass am Ende nur das völlig einfache, wenn auch dreieine Wesen Gottes bleibt. Zum anderen ist und bleibt Gott selber insofern immer der Unbegreifliche, als er jeden Begriff und jeden Namen, den wir ihm geben mögen, unendlich übersteigt. So suchte Cusanus ein Leben lang nach dem genauesten Gottesbegriff, wohl wissend, dass wir uns Gott begrifflich bestenfalls annähern können. Wegen seiner Unbegreiflichkeit und seiner unendlichen Erhabenheit ist es uns nicht möglich, einen genauen Begriff für Gott zu finden. Kommt doch nur ihm selbst die absolute Genauigkeit zu, die er selber ist. Im Rückblick auf die bisher behandelten Denker von Platon bis Cusanus zeichnet sich so etwas wie eine traditionelle Lehre von den Gottesbegriffen oder Eigenschaften Gottes ab, die hier kurz systematisch zusammengefasst und dargeboten werden soll. 219 Bereits für Platon war die Idee des Guten den anderen Ideen gegenüber und damit noch mehr der sichtbaren Welt gegenüber transzendent. Als Grund von allem existierte sie für ihn auf andere Weise als alles andere oder war sogar ein ganz anderes Wesen als alles andere. Auch für christliche Denker ist Gott der Welt gegenüber transzendent. Seine Transzendenz bedeutet nicht, dass er außerhalb und in diesem Sinn jenseits der Welt wäre. Er ist vielmehr welttranszendent, weil er metaphysisch wesentlich anders als die Welt und insofern »weltjenseitig« ist. Weil er im seinsmäßigen oder qualitativen und nicht im räumlichen Sinn der Welt transzendent ist, vermag er zugleich der Welt immanent zu sein, d. h. in der Welt zu sein. Er ist überall in der Welt. Gott ist demzufolge transzendent, weil und insofern er eine ganz andere Seinsweise und Seinsqualität hat als der 219 Zu den Eigenschaften Gottes siehe Wolf Krötke: Gottes Klarheiten. Eine Neuinterpretation der Lehre von Gottes »Eigenschaften«, Tübingen 2001; Thomas Marschler: Die Attribute Gottes in der katholischen Dogmatik, in: Thomas Marschler/Thomas Schärtl (Hg.): Eigenschaften Gottes. Ein Gespräch zwischen systematischer Theologie und analytischer Philosophie, Münster 2016 [= Marschler/Schärtl 2016], 3–33; Wolf Krötke: Die Attribute Gottes in der neueren deutschsprachigen evangelischen Dogmatik, in: Marschler/Schärtl 2016, 35–48.

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Das Können selbst

Mensch und alle übrigen Wesen. Dementsprechend ist er, um bei Platons Idee des Guten zu bleiben, auf ganz andere Art und Weise gut wie etwa Menschen gut sind und sein können. Die Transzendenz Gottes muss jedoch sogleich ergänzt werden durch eine weitere formale Wesenseigenschaft: die Analogie, wie sie vor allem Thomas von Aquin vertreten hat. Gott ist nicht nur der Welt gegenüber auf transzendente Weise gut, er ist ihr gegenüber zugleich auf analoge Weise gut. Weil Gott der Schöpfer und der Grund der Welt ist, besteht zwischen ihm und der Welt ein analoges Verhältnis. Trotz der metaphysischen Andersartigkeit Gottes d. h. seiner Transzendenz, sind nämlich die Geschöpfe aufgrund ihrer Erschaffung durch Gott dem Schöpfer nicht ganz unähnlich. Bei aller Unähnlichkeit gibt es zwischen ihnen und dem Schöpfer eine gewisse ontologische Ähnlichkeit. So heißt es etwa vom Menschen im biblischen Schöpfungsbericht, Gott habe ihn zu seinem Ebenbild erschaffen (Gen 1,27). 220 Als Bild Gottes ist der Mensch Gott in gewissem Sinn ähnlich. Die Analogie gilt von allen Vollkommenheiten der Welt, die wir Gott zusprechen. Zwar ist das Gutsein Gottes ganz anderer Art als das Gutsein des Menschen und ihm deshalb sehr unähnlich. Aber es besteht doch auch eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Gutheit des von Gott erschaffenen Menschen und der Gutheit Gottes, des Schöpfers, selbst. Auch Gottes Liebe und seine Schönheit ist unserer Liebe und Schönheit analog. Als vollkommenstes Wesen muss Gott nicht nur gut sein. Er muss es auch auf vollkommene Weise sein. Gott ist vollkommen gut. Er könnte nicht besser sein. Seine Gutheit ist unüberbietbar. Damit hängt eng ein weiteres formales Wesensprädikat Gottes zusammen: die Unendlichkeit. Ist Gott vollkommen und unüberbietbar gut, dann muss er unendlich gut sein. Wäre er nämlich nur auf endliche, d. h. begrenzte Weise gut, wäre seine Gutheit nicht wirklich vollkommen und könnte grundsätzlich überboten werden. Die Vollkommenheit Gottes schließt deshalb seine Unendlichkeit ein, die nicht räumlich und zeitlich und auch nicht einfach quantitativ zu verstehen ist, sondern qualitative Unbegrenztheit bedeutet. Gott ist die schlechthin un220 Die Gottebenbildlichkeit des Menschen ist weder allein auf der Erkenntnisseite noch allein auf der Willensseite zu suchen. Sie besteht nicht nur in seinem Vernunftbesitz, aber auch nicht nur in seinem Besitz der Willensfreiheit. Vielmehr ist der menschliche Geist als ganzer Bild Gottes und soll dies immer mehr werden.

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Reflexion: Gottesbegriffe erster und zweiter Ordnung

begrenzte Fülle des Seins und des Lebens. Seine Vollkommenheiten sind schlechthin unerschöpflich. 221 Mit der Vollkommenheit und Unendlichkeit Gottes geht wiederum die Unbedingtheit einher. Ist Gott gut, so ist er unbedingt oder, was hier dasselbe bedeutet, absolut gut. Das kann zunächst einmal heißen, dass er ausschließlich gut und in keiner Weise schlecht ist, dass er wegen seiner metaphysischen Vollkommenheit gar nicht böse sein und auch nicht schlecht handeln kann. Es besagt aber vor allem: Gott hat seine Gutheit aus sich selbst und nicht von einem anderen. Er hat nicht teil an einem Guten, das von ihm verschieden wäre, sondern ist das Gute selbst. Gott ist seinem metaphysischen Wesen nach absolut und unbedingt, weil er im Gegensatz zu allen Entitäten in der Welt durch nichts anderes bedingt oder verursacht ist. Er hat sein Sein aus sich selbst. Er ist, mit Thomas gesprochen, das sich durch sich selbst vollziehende Sein selbst. Deshalb kommen ihm nicht einfach materiale, d. h. inhaltliche Prädikate wie »weise« und »schön« zu. Vielmehr ist er aus sich heraus die Weisheit und die Schönheit selbst. Er lebt und liebt nicht nur. Er ist aus sich heraus das Leben und die Liebe selbst. Schließlich ist Gott auch noch auf einfache Weise gut, weil sein metaphysisches Wesen einfach ist. Diese Einfachheit bedarf einer Erklärung. Unsere Erkenntnis Gottes geht von der vielfältigen Welt aus und ist durch sie geprägt. In der Welt, insbesondere in der Mitwelt, d. h. unter uns Menschen, machen wir die Erfahrung von Eigenschaften, die wir grundsätzlich positiv bewerten und deshalb im Prinzip für Vollkommenheiten halten, wie etwa Treue, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Um unsere Erfahrungen mit Gott auszudrücken, übertragen wir verschiedene Vollkommenheiten auf Gott und schreiben sie ihm ausdrücklich zu. Oft werden die Gotteserfahrungen zunächst in konkreten Geschichten festgehalten, weil sie geschichtliche Erfahrungen mit Gott sind. Die Bibel ist voll von solchen Geschichten. Theologen und Philosophen denken dann auf einer abstrakteren Ebene über diese geschichtlichen oder aber auch über eigene Gotteserfahrungen nach. Gemäß der traditionellen Lehre von der Einfachheit Gottes, die in ihrer radikalen Form auf Plotin zurückgeht 222, gibt es in Gott selbst 221 Zur Unendlichkeit Gottes siehe auch Christian Tapp: Unendlichkeit Gottes, in: Marschler/Schärtl 2016, 129–151. 222 Siehe Kap. 4.2.1.

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Das Können selbst

jedoch bezüglich der Vollkommenheiten keinerlei Verschiedenheit, weshalb die verschiedenen Vollkommenheiten in Gott zusammenfallen. All die verschiedenen Wesenseigenschaften, die wir Gott zuschreiben, wie etwa die Gutheit, die Wahrheit und die Schönheit, unterscheiden sich in und für Gott selber nicht. In Gott selbst gibt es demnach nur eine einzige Vollkommenheit, die sein Wesen ausmacht. Christliche Denker übernahmen die Lehre von der Einfachheit Gottes, ergänzten sie jedoch durch die Lehre von den drei göttlichen Personen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Demnach gibt es in Gott nur eine einzige wirkliche Verschiedenheit, und das ist die zwischen Vater, Sohn und Geist. 223 Bei den Gottesbegriffen ist folglich deutlich zu unterscheiden zwischen Begriffen, die inhaltlich angeben, was Gott ist, und solchen, die anzeigen, wie oder auf welche Weise Gott das ist, was er ist. Die ersten kann man Begriffe erster Ordnung nennen, die zweiten Begriffe zweiter Ordnung. Mithilfe von Begriffen der ersten Ordnung lässt sich etwa von Gott aussagen: er ist gut, er ist weise, er ist schön. Mithilfe der Begriffe zweiter Ordnung lässt sich dann präzisieren, auf welche Weise Gott gut, weise und schön ist: er ist auf transzendente, analoge, vollkommene, unendliche, unbedingte und einfache Weise gut, weise und schön. Auf jeden Begriff erster Ordnung können und müssen sämtliche Begriffe der zweiten Ordnung angewandt werden.

223 Zur Einfachheit Gottes siehe auch Eleonore Stump: Die Einfachheit Gottes und Thomas von Aquins Quanten-Metaphysik, in: Marschler/Schärtl 2016, 231–250; Thomas Schärtl: Einfachheit Gottes und die Trinität, in: Marschler/Schärtl 2016, 379–409.

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9. Das Innerste im Menschen Die »Innere Burg« von Teresa von Avila

Die »Wohnungen der Inneren Burg« 1 gelten als das Hauptwerk von Teresa von Avila (1515–1582) und als Meisterwerk nicht nur der christlichen Literatur, sondern der Weltliteratur überhaupt. 2 Darin vergleicht die spanische Mystikerin die menschliche Seele mit einer Burg, in der sich sieben konzentrisch um die Mitte geordnete Wohnungen bzw. Wohnungsreihen befinden. 3 So schreibt sie gleich am Beginn ihrer Schrift: »Als ich heute unseren Herrn [d. h. Gott oder Christus] anflehte, er möge durch mich reden […], bot sich mir an, was ich jetzt sagen will, sozusagen als eine Art Ausgangspunkt, nämlich unsere Seele als eine gänzlich aus einem einzigen Diamanten oder sehr klaren Kristall bestehende Burg zu betrachten, in der es viele Gemächer gibt, so wie es im Himmel viele Wohnungen gibt (Joh 14,2).« 4

Teresa von Avila: Wohnungen der Inneren Burg. Vollständige Neuübertragung. Gesammelte Werke Band 4. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Ulrich Dobhan OCD/Elisabeth Peeters OCD, Freiburg i. Br. 2005 (spanisch: »Moradas del Castillo Interior«; kurz auch: Innere Burg; abgekürzt: M). 2 Zu Leben und Werk Teresas siehe Waltraud Herbstrith. Teresa von Avila. Lebensweg und Botschaft (3. Auflage), München 1999; Alois Prinz: Teresa von Ávila. Die Biographie. Mit Abbildungen, Berlin 2014; Rosemarie Winter: Wo hast Du Dich verborgen, Geliebter? Klassische spanische Mystik und ihr philosophisches und arabisch/ persisches Gedankengut, Marburg 2015 [= Winter 2015], 61–133. 3 Zu Teresas Inspiration für das Bild von sieben konzentrischen, ineinander liegenden Inneren Burgen oder von einer Inneren Burg mit sieben konzentrischen Wohnungen oder Wohnbereichen sowie vor allem zur Verbindung des Bildes mit der Sufi-Mystik (d. h. der islamischen Mystik) siehe M, Einführung, 28–41; Winter 2015, 79–84. 4 1M 1,1 (= Erste Wohnungen der Inneren Burg 1. Kapitel, 1. Abschnitt). 1

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Das Innerste im Menschen

9.1 Erste Wohnungen Den sieben konzentrisch angelegten Wohnungsreihen oder Wohnbereichen der inneren Burg entsprechend untergliedert Teresa ihr Werk in sieben Teile (Erste Wohnungen, Zweite Wohnungen etc.), die jeweils mehrere Kapitel umfassen. Im Teil über die Ersten Wohnungen 5 stellt sie die Protagonisten vor: Gott (Dios), den Schöpfer und Herrn von allem, und die menschliche Seele (alma). Gott wohnt in der innersten Mitte der menschlichen Seele, er weilt in der innersten – der siebten und vornehmsten – Wohnung der Seelenburg. 6 Das ist die Grundvoraussetzung und Kernaussage bei Teresas Vergleich der menschlichen Seele mit einer inneren Burg. Gott wohnt im Innersten der Seele eines jeden Menschen und ist und bleibt immer dort, unabhängig davon, wie sich ein Mensch verhält. 7 Dort gehen auch »die höchst geheimen Dinge zwischen Gott und der Seele« 8 vor sich. Für Gott, der in der Seelenmitte gegenwärtig ist, gebraucht Teresa das Bild von einem König, der in einem prachtvollen Palast lebt, von einer Quelle, aus der lebendige Wasser des Lebens hervor strömen, und von einer Sonne, die niemals ihren Glanz und ihre Schönheit verliert. 9 Dabei teilt sich die Sonne vom inneren Palast aus überall hin mit. 10 Freilich dringt von ihrem Licht beinahe nichts in die Ersten Wohnungen ein. 11 Die menschliche Seele versteht Teresa manchmal im Gegensatz zum Leib. 12 Meist meint sie damit aber den ganzen Menschen, die ganze menschliche Person, besonders in ihrer spirituellen Dimension. Die Seele ist »von Gott so verschieden […] wie der Schöpfer vom Geschöpf, da sie ja Geschöpf ist« 13. Aber sie ist von Gott nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen (Gen 1,26). Daher lobt und rühmt Teresa die »gewaltige Schönheit«, die »riesige Fassungskraft« und die

Der Teil über die Ersten Wohnungen enthält zwei Kapitel (1M 1 und 1M 2). Vgl. 1M 1,3; 2,3; 4M 3,3. 7 Vgl. 1M 2,3. 8 1M 1,3. 9 Vgl. 1M 1,1; 2,1; 2,3; 2,8; 2,14. 10 Vgl. 1M 2,8; 7M 2,6. 11 Vgl. 1M 2,14. 12 Vgl. 1M 1,2. 13 1M 1,1. 5 6

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Erste Wohnungen

»große Würde« der Seele. 14 Unser Verstand reicht freilich nicht aus, die Seele zu begreifen, genauso wenig wie er ausreicht, Gott zu begreifen. Für die Seele verwendet Teresa das Bild von einem »Diamanten oder sehr klaren Kristall«, von einer orientalischen Perle, von einem »Lebensbaum, der an den lebendigen Wassern des Lebens – das ist Gott selbst – gepflanzt ist«, und von einer »Zwergpalme, die viele Schalen hat, die all das Köstliche umgeben«. 15 Das prominenteste Bild ist und bleibt aber das einer strahlend schönen, beglückenden Burg. 16 Der rohen Einfassung oder der Ringmauer der Burg entsprechen die Leiber. 17 Im Inneren der Burg, also der Seele selbst, gibt es nicht nur sieben Wohnungen, sondern sieben Wohnungsreihen oder Wohnbereiche mit jeweils vielen Wohnungen – Teresa spricht in Bezug auf die Ersten Wohnungen sogar von einer Million Räumen 18 –, die alle in konzentrischen Kreisen um die Mitte herum angesiedelt sind. 19 Auch die einzelnen Wohnungen soll man sich nach Teresa groß und geräumig vorstellen, »denn die Dinge der Seele muss man sich immer in Fülle und Weite und Größe vorstellen«, weshalb man die Seele auch nirgendwo einengen oder einzwängen sollte. 20 Laut Teresa soll der Mensch in das Innere seiner Seelenburg eintreten. Zwar ist der Mensch in gewissem Sinn immer schon in seiner Seele, da er ja sie selbst ist. Aber es gibt, wie Teresa sagt, »zwischen Drinnensein und Drinnensein einen großen Unterschied« 21. Viele Menschen halten sich ihrer Einschätzung nach »nur im Wehrgang der Burg«, d. h. im äußeren Bereich auf und wissen nicht einmal, »was es an diesem kostbaren Ort alles gibt, noch wer drinnen ist, noch was es da für Gemächer gibt«. 22 Es gilt bewusst in das Innere der Seelenburg einzutreten und dieses Innere Schritt für Schritt zu entdecken. Das Eingangstor zum Inneren der Burg besteht für Teresa im inneren Beten (oración bzw. oración mental). »So viel ich verstehen 14 15 16 17 18 19 20 21 22

1M 1,1. 1M 1,1; 2,1; 2,8. Vgl. 1M 2,1; 1,5. Vgl. 1M 1,2. Vgl. 1M 2,12. Vgl. 1M 1,3; 2,8. 1M 2,8. 1M 1,5. 1M 1,5.

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Das Innerste im Menschen

kann«, so führt sie aus, »ist das Eingangstor zu dieser Burg das innere Beten und die Betrachtung, und damit meine ich das mündliche nicht weniger als das betrachtende; um nämlich Gebet zu sein, muss es immer mit Betrachtung einhergehen.« 23 Inneres Beten bestimmt Teresa als das »Verweilen bei einem Freund, mit dem wir oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen, dass er uns liebt« 24. Bei dieser Art des Betens geht es im weitesten Sinn um »die innere Haltung, die alles Gebet – ob mündlich oder nur im Herzen – begleiten sollte, nämlich […] die betende Aufmerksamkeit auf das verborgen gegenwärtige Du Gottes und die personale [freundschaftliche] Hinwendung zu ihm« 25. Zum inneren Beten gehört für Teresa konkret die Betrachtung (consideración) bzw. die Meditation (meditación). »[Diese] steht für die diskursive Betrachtung (discurrir) von Glaubenswahrheiten, Schriftstellen usw., bei welcher der Hauptakzent auf die nachdenkende und einfühlende Tätigkeit des Menschen fällt. Ziel der Meditation ist es, Gott besser kennen und lieben zu lernen. Bei der Meditation überwiegt die Leistung des Menschen; sie ist die Vorstufe zur Kontemplation, bei der die Leistung des Menschen zurücktritt und die Selbstmitteilung Gottes in das Zentrum rückt.« 26

Um über das innere Beten in das Innere der eigenen Seele eintreten zu können, sind für Teresa insbesondere zwei Tugenden vonnöten, die für sie eng miteinander zusammenhängen: die Demut (humilidad) und die Selbsterkenntnis (conocimiento de sí). 27 Die Demut ist eine der wichtigsten Grundhaltungen der teresianischen Spiritualität. Laut Teresa gibt es für uns Menschen, solange wir auf dieser Erde leben, »nichts Wichtigeres als die Demut« 28. Die Demut ist »das Fundament« 29 des ganzen geistlichen Baus. Gott ist 1M 1,7. Teresa von Avila: Das Buch meines Lebens. Vollständige Neuübertragung. Gesammelte Werke Band 1. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Ulrich Dobhan OCD/Elisabeth Peeters OCD, Freiburg i. Br. 2001 [spanisch Libro de la Vida = V], 8,5. 25 M Anhang I (»Inneres Beten«), 383. Die Zitate aus dem Anhang [»M Anhang I …«] stammen nicht von Teresa, sondern von den Herausgebern der »Wohnungen der Inneren Burg«. 26 M Anhang I (»Meditation«), 385. Teresa selbst definiert die Meditation als »ein ausführliches Nachsinnen mit dem Verstand« (6M 7,10; vgl. etwa auch 6M 7,5). 27 Zum Zusammenhang der beiden vgl. etwa 6M 5,10; 9,15. 28 1M 2,9. Vgl. etwa auch 3M 2,6.8; 4M 2,9; 6M 3,18; 5,10; 9,11.12.15; 10,7; 7M 4,2.14; M [Nachwort] 2. 29 7M 4,8. 23 24

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Erste Wohnungen

ein so großer Freund der menschlichen Demut, weil er selbst die »höchste Wahrheit« ist, und Demut darin besteht, »in der Wahrheit [zu] leben«. 30 »Es ist nämlich«, so Teresa, »eine ganz große Wahrheit, dass wir von uns aus nichts Gutes haben, sondern nur Elend und Nichtssein […]. Je besser ein Mensch das erkennt, desto wohlgefälliger ist er der höchsten Wahrheit [Gott], da er in ihr lebt.« 31 Demut hat somit für Teresa mit einer realistischen Selbsteinschätzung zu tun. Der vor Gott demütige Mensch weiß, »dass er von Gott geschaffen ist und nicht kraft eigener Leistung, sondern aus Gottes Liebe lebt« 32 und als Geschöpf Gottes zur Freundschaft mit Gott berufen ist. »Der demütige Mensch begegnet [aber] nicht nur Gott, sondern auch seinen Mitmenschen mit einer realistischen Selbsteinschätzung, in der er sich weder überschätzt noch auf ungesunde Weise abwertet.« 33 Neben der Demut ist daher auch die Selbsterkenntnis ein Schlüsselbegriff der Spiritualität Teresas. 34 Ohne das ehrliche Bemühen, in der eigenen Wahrheit zu leben, gelangt der Mensch nicht zu tiefer Gotteserkenntnis. 35 Die Selbsterkenntnis, nicht auf dem rechten Weg zu sein, führt zum Tor der Inneren Burg. 36 Und wenn Gott einen Menschen mit tiefen inneren Erfahrungen beschenken will, gibt er ihm »zuvor eine tiefe Selbsterkenntnis, die diese Gnaden verursacht« 37. Umgekehrt ist die wahre Selbsterkenntnis die Frucht der Gotteserkenntnis. So schreibt Teresa: »Meines Erachtens kommen wir mit der Selbsterkenntnis an kein Ende, wenn wir uns nicht auch bemühen, Gott zu erkennen. Beim Anblick seiner Größe mag uns unsere Unzulänglichkeit aufgehen, und beim Anblick seiner Reinheit werden wir unseren Schmutz sehen; bei der Betrachtung seiner Demut sehen wir, wie viel uns fehlt, um demütig zu sein.« 38

6M 10,7; vgl. M epíl 2. 6M 10,7. 32 M Anhang I (»Demut«), 377. 33 M Anhang I (»Demut«), 377. 34 Vgl. 1M 1,8; 6M 5,10; 9,15; 10,7. Neben der Selbsterkenntnis hängt für Teresa auch die Herzensreinheit eng mit der Demut zusammen (vgl. 6M 8,4.10). 35 Vgl. M Anhang I (»Selbsterkenntnis«), 386. 36 Vgl. 1M 1,8. 37 6M 9,15; vgl. M Einführung, 49. 38 1M 2,9. 30 31

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Das Innerste im Menschen

Je mehr der Mensch in der Gotteserkenntnis wächst, desto mehr wächst er auch in der wahren Selbsterkenntnis, und umgekehrt. Zu seiner wahren Selbsterkenntnis und zu seiner wahren Demut gehört es auch, sich seiner Würde als Geschöpf Gottes, das zur Freundschaft mit Gott berufen ist, bewusst zu werden.

9.2 Zweite Wohnungen Im Teil über die Zweiten Wohnungen betont Teresa, wie wichtig die Ausdauer für den Beter ist, um in die innersten Wohnungen zu gelangen 39, zumal die »bösen Geister« alles versuchen werden, um den Beter wieder aus der Inneren Burg hinauszutreiben. 40 Dem Menschen, der sich auf den Weg des inneren Betens gemacht hat, ruft Gott immer wieder einmal zu, »doch näher zu ihm zu kommen« 41. Er spricht zu ihm »durch Worte, die man von guten Leuten vernimmt, oder in Predigten oder durch das, was man in guten Büchern liest, […] oder auch durch Krankheiten und Schwierigkeiten, ferner durch eine Wahrheit, die er uns in den Augenblicken lehrt, in denen wir im inneren Beten verweilen« 42. Großartig und hilfreich ist es für den Beter zu Beginn des Weges, mit Menschen umzugehen und sich mit Personen zu besprechen, die schon Erfahrung mit dem inneren Beten haben und in weiter innen gelegene Seelenwohnungen eingetreten sind. 43 Mit ihnen darf er regen Austausch haben, damit sie ihn mitreißen. 44 Teresa rät dem Beter und der Beterin auf dem Weg nach Innen keine Gewalt anzuwenden, sondern immer sanft vorzugehen. 45 Ruft doch auch Gott den Menschen immer ganz sanft zu sich. 46 Die Sanftheit (suavidad) spielt eine überragende Rolle in Teresas Pädagogik. 47 Beim Beten und Betrachten soll die Beterin auf Christus schauen. Denn Christus selbst hat gesagt: »Niemand wird zu meinem Vater 39 40 41 42 43 44 45 46 47

Vgl. 2M 1,3; auch 3M 1,1. Vgl. 2M 1,3–5. 2M 1,2. 2M 1,3. Vgl. 2M 1,6; 1,10. Vgl. 2M 1,6. Vgl. 2M 1,10; 4M 3,7; M epíl 2. Vgl. 2M 1,2; 4M 3,3. Vgl. 2M 1,10 Anmerkung 32.

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Dritte Wohnungen

hinaufgehen, außer durch mich (Joh 14,6)«, und: »Wer mich sieht, sieht meinen Vater (Joh 14,9)«. 48 »Wenn wir ihn aber«, so folgert Teresa, »nie anschauen und nie bedenken, was wir ihm verdanken und welchen Tod er für uns erlitten hat, dann weiß ich nicht, wie wir ihn kennen lernen oder in seinem Dienst Werke vollbringen könnten […].« 49 Deshalb sollen wir unsere Augen auf Christus, unser Gut, und dabei insbesondere auf Christus, den Gekreuzigten, richten, um die wahre Demut zu lernen. 50 Christus ist der »Spiegel, den wir anschauen und in dem unser Bild eingemeißelt ist« 51. In ihm erkennen wir die Wahrheit von uns selbst. Teresas Spiritualität ist dementsprechend stark christuszentriert.

9.3 Dritte Wohnungen Den Seelen, die bereits in die Dritten Wohnungen eingetreten sind, hat nach Ansicht Teresas Gott »keine geringe, sondern eine sehr große Gnade erwiesen, da sie über die ersten Schwierigkeiten hinausgekommen sind« 52. Von ihnen gibt es, wie Teresa glaubt, durch die Güte des Herrn viele in der Welt. Sie hegen den aufrichtigen Wunsch, Gott nicht durch Sünden zu »beleidigen« und hüten sich sogar vor lässlichen, d. h. geringfügigen Sünden. Sie kennen Zeiten der Sammlung und üben sich in Werken der Nächstenliebe. Auf dieser Stufe des geistlichen Lebens ist mit Phasen der Trockenheit (sequedad) beim inneren Beten zu rechnen. Damit ist die Unfähigkeit gemeint, am Gebet oder an spirituellen Übungen Geschmack zu finden. 53 Gott will mit diesen Trockenheiten den Menschen von der Abhängigkeit von vordergründigen Glücksempfindungen befreien und sein ganzes Streben auf das Wesentliche ausrichten, nämlich die Hinwendung zu ihm – Gott. Mit den Worten Teresas heißt das: Gott möchte oftmals, »dass seine Erwählten ihr Elend zu spüren bekommen, und entzieht ihnen ein wenig seine Gunst«, damit

48 49 50 51 52 53

2M 1,11. 2M 1,11. Vgl. 1M 2,11; 7M 4,8. 7M 2,8. 3M 1,5. Vgl. M Anhang I (»Trockenheit«), 386 f.

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Das Innerste im Menschen

sie schneller ihre Fehler erkennen und an Demut, Frieden und Gleichmut gewinnen. 54 Auf dem geistlichen Weg ist für Teresa das Loslassen (dejamiento) bzw. die Losgelöstheit (desasimiento) äußerst wichtig. 55 Solange wir uns selbst nicht loslassen, droht Gefahr, auf der Stelle zu treten. 56 Wer hingegen »im Loslassen von allem verharrt« 57, wird erreichen, was er beabsichtigt. Das Loslassen »steht für das innere Freiwerden von allem, was den Gottsucher, die Gottsucherin daran hindert, sich mit ganzem Herzen auf die Liebe einzulassen« 58. »Sich selbst« zu lassen, »das heißt nach und nach die Selbstbezogenheit des alten Menschen hinter sich zu lassen und selbstlos lieben zu lernen […]. Auch wenn die aktive Einübung dieser Grundhaltung eine wichtige Voraussetzung für den Fortschritt auf dem geistlichen Weg bzw. für die Kontemplation ist […], ist die echte Loslösung eine Frucht der tieferen Gotteinung (vgl. 7M 3,8).« 59 Mit dem Loslassen hängt daher für Teresa eng die »Einübung ins Ich-Sterben« 60 (mortificación) zusammen. Darunter ist in der Nachfolge Christi, des Gekreuzigten, die Überwindung des tief verwurzelten Egoismus des »alten Menschen« (vgl. Eph 4,22; Kol 3,9) zu verstehen, indem man allem »abstirbt«, was einen in unfruchtbarer Weise an sich selbst bindet, um so zum »neuen«, innerlich freien und selbstlos liebenden Menschen zu werden. 61

9.4 Vierte Wohnungen Im Teil über die Vierten Wohnungen unterscheidet Teresa zwischen Glücksempfindungen und Wonnen. 62 Unter einer Glücksempfindung (contento) versteht sie die Erfahrung einer inneren Befriedigung und emotionalen Ergriffenheit, die durch die Meditation, d. h. die aktive Beschäftigung mit geistlichen Themen, oder das innere Beten hervor54 55 56 57 58 59 60 61 62

3M 2,2; vgl. 1,9. Vgl. etwa 6M 5,9; sowie M Anhang I (»Loslassen/Loslösung«), 384. Vgl. 3M 2,9. 3M 1,8. M Anhang I (»Loslassen/Loslösung«), 384. M Anhang I (»Loslassen/Loslösung«), 384. Vgl. etwa auch 6M 5,9 Anmerkung 22. 6M 8,10; 7M 4,14. M Anhang I (»Einübung ins Ich-Sterben«), 377. Vgl. 4M 1,4.5; 4M 2,2–6; vgl. auch bereits 3M 2,10.

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Vierte Wohnungen

gerufen wird. 63 Glücksempfindungen »beginnen«, wie sie schreibt, »in unserer Natur selbst« – sind also »natürlichen Ursprungs« – »und enden in Gott«. 64 Da sie nur eine natürliche Folge der Meditation sind, vermögen sie das Herz nicht zu erweitern. 65 Unter Wonne (gusto) versteht Teresa hingegen die Erfahrung, unversehens und ganz ohne eigenes Bemühen oder Zutun von der beglückenden Gegenwart Gottes innerlich berührt und ergriffen zu werden. 66 »Die Wonnen […] beginnen in Gott« 67 und werden der Gottsucherin oder dem Gottsucher in der Kontemplation als reines Geschenk zuteil. Da sie übernatürlichen, nämlich göttlichen Ursprungs sind, vermögen sie das Herz sehr zu erweitern. 68 Gott schenkt, wie Teresa mehrmals hervorhebt, Wonnen und andere mystische Gebetserfahrungen, wie er will und wem er will. 69 Teresa vergleicht die beiden verschiedenen Gebetserfahrungen bildlich mit zwei Brunnen, deren Becken sich auf unterschiedliche Weise mit Wasser füllen. 70 Beim einen kommt das Wasser, das hier für die Glücksgefühle steht, »von weiter her durch viele Röhren und Technik« 71. Es wird durch die eigene Anstrengung des Betrachtens und Nachdenkens ins Becken der Seele geleitet, was nicht ohne Geräusch abgeht. Das andere Becken, dessen Wasser hier für die Wonnen steht, ist dagegen »unmittelbar am Quellort des Wassers erbaut und füllt sich nach und nach ohne jedes Geräusch« 72. Das Wasser quillt hier, wie Teresa schildert, »im größten Frieden und in aller Ruhe und Zärtlichkeit aus unserem eigenen tiefsten Innern hervor« und ergießt sich »nach und nach in alle Wohnungen und Seelenvermögen, bis es sogar den Leib erreicht«. 73 Sobald dieses »himmlische Wasser«, dessen Quelle Gott selber ist, aus der Tiefe in uns, aus unserer Seelenmitte »hervorzuquellen beginnt«, so fährt Teresa fort, »sieht es so aus, als dehne und weite sich nach und nach unser ganzes

63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73

Vgl. M Anhang I (»Glückserlebnis/Glücksempfindung«), 381 f. 4M 1,4. Vgl. 4M 1,5. Vgl. 4M 1,4 Anmerkung 12; M Anhang I (»Wonne«), 389. 4M 1,4. Vgl. 4M 2,5.6. Vgl. 4M 1,2; 2,6.10; 5M 1,12; 6M 4,12; 8,5. Vgl. 4M 2,2–6. 4M 2,3. 4M 2,3. 4M 2,4.

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Das Innerste im Menschen

Innere«. 74 Da das Wasser der Wonnen seinen Ursprung in Gott selbst hat, vermag es das Herz und die Seele zu erweitern. Für Teresa gehört die Gebetserfahrung der Wonnen zum Gebet der Ruhe (oración de quietud) 75, während die Gebetserfahrung der Glücksempfindungen dem Gebet der Sammlung (oración de recogimiento) zuzuordnen ist. 76 Das »Gebet der Sammlung« stellt eine Vorstufe zum Gebet der Ruhe dar. Es »steht für die ersten, anfanghaften Erfahrungen einer nicht mehr nur aktiv angestrebten, sondern unwillkürlichen Sammlung in der Gegenwart Gottes« 77. Das »Gebet der Ruhe« hingegen »steht für die Anfänge kontemplativen […], mystischen oder übernatürlichen, also mehr von passivem Empfangen als von aktivem Tun geprägten Betens. Die charakteristischen Empfindungen, die dem Beter hier ohne sein eigenes Zutun zuteil werden, sind innere Ruhe und eine unwillkürliche Sammlung in der Gegenwart Gottes.« 78 Die drei Vermögen der Seele – das Erinnerungsvermögen (memoria), das Erkenntnisvermögen (entendimiento) und das Empfindungsvermögen bzw. der Wille (voluntad) – sind hier bereits weitgehend zur Ruhe gekommen, und die Seele weilt schon tief in der Versenkung (embebecimiento) in Gott. 79 Immer wieder bezeichnet sich Teresa selbst als erbärmlich (ruin) und spricht von ihrer oder unserer Erbärmlichkeit (ruindad). 80 Damit meint sie die Unfertigkeit und Unzulänglichkeit, die Begrenztheit und Unfähigkeit des Menschen in seiner gebrochenen Existenz. 81 Dahinter steht »die Erfahrung, das Gute zwar zu erkennen und sogar zu wollen, es aber nicht auch schon vollbringen zu können« 82. Mit der Selbstcharakterisierung als »erbärmlich« gesteht sich Teresa die Unfähigkeit ein, ohne Gottes Hilfe etwas Gutes zustande zu bringen, und drückt sie die tiefe Wahrheit aus, »dass letztlich alles Gute von

4M 2,6. Vgl. 4M 2,2; zum Gebet der Ruhe vgl. 4M 2 und 5M. 76 Zum Gebet der Sammlung vgl. 4M 3. 77 M Anhang I (»Gebet der Sammlung«), 380. Auch dem Gebet der Sammlung spricht Teresa neben einer Verlebendigung des Glaubens bereits »eine Ausdehnung oder ein Weitwerden der Seele« zu (4M 3,9). 78 M Anhang I (»Gebet der Ruhe«), 379. 79 Vgl. 4M 2,6; 3,4.7; 3,13; 6M 2,2.5; 4,9; 7,13. 80 Z. B. 1M 1,3; 4M 1,11–13. 81 Vgl. M Anhang I (»Erbärmlich, Erbärmlichkeit«), 378. 82 M Anhang I (»Erbärmlich, Erbärmlichkeit«), 378. Vgl. auch die Klage des Paulus im Römerbrief (Röm 7,14–25). 74 75

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Fünfte Wohnungen

Gott kommt« 83. Je besser daher ein Mensch die Größe Gottes erkennt, für um so erbärmlicher hält er sich und für um so mehr verwiesen auf Gott erlebt er sich. 84 Paradoxerweise kann jedoch zugleich mit dem Bewusstsein der eigenen Erbärmlichkeit vor Gott das Bewusstsein für die von Gott geschenkte eigene Würde wachsen.

9.5 Fünfte Wohnungen In den Fünften Wohnungen beginnt für Teresa das eigentliche mystische Leben: die tiefe Einung mit Gott. 85 Hier geschieht, christlich ausgedrückt, die Umwandlung des alten in den neuen Menschen. 86 Hier tritt Gott vollends als der Haupthandelnde und als der Beschenkende in den Vordergrund. Zum Bereich der Fünften Wohnungen gehört die Gebetserfahrung, mit Gott eine bestimmte Zeit geeint zu sein. Diese Gebetserfahrung nennt Teresa das »Gebet der Gotteinung« (oración de unión). Bei ihm sind die Vermögen und Kräfte in der Seele sowie die Sinne »für die Dinge der Welt und uns selbst«, wie sie sagt, »ganz eingeschlafen«, »um um so mehr in Gott zu leben«. 87 Mit dem »Einschlafen« oder dem »Schlaf der Seelenvermögen« (sueño de las potencias) meint sie dabei, dass die Seelenvermögen in ihrer Tätigkeit zwar nicht ganz außer Kraft gesetzt sind, aber doch kaum noch selbst aktiv, sondern allenfalls rezeptiv tätig sind. 88 Beim »Gebet der Gotteinung« sind die Seelenvermögen in die intensive Begegnung mit dem als gegenwärtig erfahrenen Gott einbezogen. 89 Das Erinnerungsvermögen und das Erkenntnisvermögen bzw. der Verstand sind ganz ruhig, und der Wille ist Gott ganz hingegeben 90, sodass die Seele »nichts anderes mehr weiß oder will, als dass Gott mit ihr mache, was er nur möchte« 91. Der Beter ist »also vorüM Anhang I (»Erbärmlich, Erbärmlichkeit«), 378. Vgl. 4M 3,9; M Anhang I (»Erbärmlich, Erbärmlichkeit«), 378. 85 Vgl. 5M 1,1 Anmerkung 1. 86 Vgl. dazu im Neuen Testament: Joh 3,3; Röm 5,12–21; 6,4; 1 Kor 5,7; 2 Kor 5,17; Gal 6,15; Eph 4,17–24 (besonders 4,24); Kol 3,1–17; 1 Petr 2,2. 87 5M 1,3.4; vgl. 1,12. 88 Vgl. M Anhang I (»Schlaf der Seelenvermögen«), 385. 89 Vgl. M Anhang I (»Gebet der Gotteinung«), 379. 90 Vgl. 5M 1,12; 4,5. 91 5M 2,12. 83 84

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bergehend – ohne sein eigenes Zutun, als reines Geschenk – in all seinen Seelenvermögen mit Gott geeint« 92. Beim Gebet der Gotteinung erfährt die Beterin Gott als gegenwärtig. Gottes »Gegenwart« (presencia) ist ein Schlüsselbegriff der Gebetslehre Teresas. 93 Wer wirklich beten will, muss sich ihr zufolge bewusst in die Gegenwart Gottes versetzen und Gott als reales und ihm zugewandtes Du ernst nehmen. Da Gott immer im Innern des Menschen gegenwärtig ist, ist es besonders hilfreich und zielführend, in das eigene Innere einzukehren, um Gott dort als gegenwärtig zu betrachten oder zu erleben. Obwohl Gott immer im Innern des Menschen gegenwärtig ist, tritt er beim Gebet der Gotteinung, wie Teresa ausführt, in die Seelenmitte ein 94, ist er dem innersten Wesen der Seele besonders nahe und angeeint. 95 Er »möchte, dass sich die Seele seiner in ihrer eigenen Mitte erfreut« und macht sich dann »derart im Innern dieser Seele fest, dass sie keinesfalls daran zweifeln kann, dass sie in Gott und Gott in ihr war, sobald sie wieder zu sich kommt«. 96 Nach dem Gebet der Gotteinung bleibt laut Teresa in der Seele eine unbezweifelbare »Gewissheit« bezüglich der Gegenwart Gottes zurück, »die ihr nur Gott [selbst] einprägen kann«. 97 Für Teresa ist demnach das Kriterium für die Echtheit einer Erfahrung des Gebets der Gotteinung gewissermaßen eine fortdauernde Evidenz. Es ist während der Gebetserfahrung und danach selbstevident, dass es nur Gott selber sein kann, der hier erfahren wird oder erfahren wurde. Neben dem Kriterium der tiefen inneren Gewissheit 98 für die Echtheit der Gotteserfahrung kennt Teresa auch das Kriterium der positiven Wirkungen im Alltag 99 und der Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift sowie mit der Lehre der Kirche. 100 Die eigentliche Gebetserfahrung der Gotteinung dauert nach Teresa in den Fünften Wohnungen nur »kurze Zeit«, »nie eine halbe

M Anhang I (»Gebet der Gotteinung«), 379. Vgl. M Anhang I (»Gegenwart«), 380. 94 Vgl. 5M 1,12. 95 Vgl. 5M 1,5. 96 5M 1,12; 1,9. 97 5M 1,10; vgl. 1,11. 98 Vgl. auch 6M 3,7. 99 Vgl. etwa 6M 3,6. 100 Vgl. 6M 3,4. Zu den Kriterien insgesamt vgl. 5M 1,9 Anmerkung 31. 92 93

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Stunde lang«. 101 An ihr ist der Mensch nur rezeptiv beteiligt. 102 Er kann diese Erfahrung, auch wenn er sich noch so sehr bemüht und anstrengt, nicht selber hervorrufen. 103 Es ist Gott, der diese Erfahrung schenkt, wem und wann er will. Dennoch kann sich der Mensch auf die Gebetserfahrung vorbereiten. 104 Nach Teresa können wir viel tun, »indem wir uns bereit machen« 105. So können wir etwa Gott bitten, in unsere Seele »Kräfte zum Graben« 106 hineinzugeben, bis wir den verborgenen Schatz und die kostbare Perle in unserem Innern finden. Wer Gott gibt, was er hat, und nichts für sich zurückbehält, wer sich wirklich Mühe gibt, voranzukommen, dem verspricht Teresa, Gott werde ihm große Gnaden gewähren und er werde große Dinge erleben. 107 Wie nahezu alle Mystiker und Mystikerinnen hält Teresa die mystische Erfahrung der Gotteinung für im Grunde unbegreiflich und unaussprechlich. 108 Dennoch versucht sie die Erfahrung bzw. die Erfahrungen mit der Hilfe Gottes bzw. des Heiligen Geistes so gut wie möglich zu beschreiben. 109 Während der Gebetserfahrung »sieht, hört oder erkennt« die Seele »nichts«, wie Teresa sagt. 110 Gott lässt sich nicht sinnlich wahrnehmen oder empirisch erkennen. Dennoch spricht Teresa von einem Sehen oder einem Anschauen (vista) Gottes 111, das sie als ein Verspüren erklärt: »Beachtet«, so Teresa wörtlich, »dass ich sage: ›Gott sehen [ver]‹, denn ich habe schon gesagt, dass er sich bei dieser Art der Einung zu verspüren [sentir] gibt.« 112 In der Kontemplation (contemplación), die für Teresa zwar eigentlich schon beim Gebet der Ruhe in den Vierten Wohnungen anhebt, aber im engeren Sinn erst mit dem Gebet der Gotteinung in den Fünften 5M 1,3; 2,7; vgl. 4,4. Vgl. 5M 1,11.12. 103 Vgl. 5M 1,11.12; 2,9. 104 Vgl. 5M 1,2; 2,1. 105 5M 2,1; vgl. 1,2. Siehe aber auch 5M 4,10, wo Teresa einschränkend ergänzt, »wie gering all das ist, was wir da dienen und erleiden und tun können, um uns für so große Gnaden bereit zu machen.« 106 5M 1,2; Teresa spielt hier auf Jesu Gleichnisse vom verborgenen Schatz im Acker und von der kostbaren Perle an (Mt 13,44–46). 107 Vgl. 5M 1,3; 4,10; 2,7. 108 Vgl. 5M 1,1. Vgl. auch 1M 2,7; 4M 1,1; 6M 1,13.15; 2,3; 8,6; 7M 1,1. 109 Vgl. 4M 1,1; 5M 1,1; 4,11; 7M 1,1. 110 5M 1,9. 111 5M 2,6; 4,4.5. 112 5M 2,6; vgl. 5M 4,4.5; 6M 1,1. 101 102

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Wohnungen gegeben ist, »wird dem Beter ein intuitives Erahnen und Erspüren der Gegenwart Gottes oder Christi zuteil, die zugleich Liebe zu diesem geheimnisvollen, aber sehr realen Gegenüber weckt« 113. Durch die geschenkte Selbstmitteilung Gottes wird der Beter immer mehr zum schweigenden Empfänger. Die Kontemplation, durch die das diskursive Denken der Meditation immer mehr durch ein intuitives »Schauen« und Verspüren der Gegenwart Gottes oder Christi abgelöst wird, ist, wie sich schon beim Gebet der Gotteinung gezeigt hat, »nicht machbar, sondern reines Geschenk, auch wenn der Mensch sich für sie bereit machen kann (disponerse), indem er sich auf das innere Beten und die Nachfolge Christi im Alltag einlässt« 114. »Für Teresa bleibt auch in der tiefsten Kontemplation die Du-Beziehung zu Christus bestehen. Der beste Weg, um zur Kontemplation zu gelangen, ist [für sie] die Pflege einer freundschaftlichen Beziehung zur ›Menschheit Christi‹, also zu Jesus von Nazareth, wie ihn die Evangelien schildern.« 115 Im Teil über die Fünften Wohnungen beginnt Teresa ihr großartiges Gleichnis von der Seidenraupe zu erzählen, dessen beide wichtigsten Bestandteile die Seidenraupe und der Schmetterling sind. 116 Es setzt ein mit dem »Samenkorn«, das »wie tot« ist, sich aber zu einer Raupe, »groß und hässlich«, bzw. zu einem Wurm entwickelt. 117 »Dieser Wurm beginnt zu leben«, so Teresa wörtlich, »sobald er in der Wärme des Heiligen Geistes die allgemeine Gnadenhilfe 118, die Gott uns allen schenkt, und dazu noch die Hilfsmittel zu nutzen beginnt, die er in seiner Kirche hinterlassen hat, etwa die regelmäßige Beichte, beständige gute Lektüre und Predigten […].« 119 »Sobald nun diese Raupe ausgewachsen ist, beginnt sie […] die Seide hervorzubringen und das Haus zu bauen, in dem sie sterben soll.« 120 »Ster-

M Anhang I (»Kontemplation«), 384. M Anhang I (»Kontemplation«), 384. 115 M Anhang I (»Kontemplation«), 384. Vgl. etwa 6M 7,5. 116 Vgl. 5M 2,2 Anmerkung 4. 117 5M 2,2. 118 »Unter allgemeiner Gnadenhilfe wurde die göttliche Hilfe verstanden, die allen Gläubigen kraft der Taufe zuteil wird und zur Erlangung der ewigen Seligkeit notwendig ist, dazu aber auch genügt, im Gegensatz zur besonderen Gnadenhilfe, die darüber hinaus einzelnen Menschen in bestimmten Situationen zuteil wird« (5M 2,3 Anmerkung 9). 119 5M 2,3. 120 5M 2,4. 113 114

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ben, ja sterben soll diese Raupe […].« 121 Ist sie gestorben, dann schlüpft »ein winziger, sehr anmutiger, weißer Schmetterling« 122 aus, der umherfliegt und »nie rastet, weil er nirgends seine wahre Ruhe findet« 123. Am Ende, in den Siebten Wohnungen, wird auch der »kleine Falter« selbst »vor übergroßer Freude, einen Rastplatz gefunden zu haben«, sterben. 124 Was will Teresa mit diesem Gleichnis sagen? Sie selbst liefert großteils die Deutung. »Das tote Samenkorn bezeichnet den Zustand der Sünde, doch die Gnade, d. h. das Werk des Heiligen Geistes, belebt den Wurm (die Seele) […].« 125 Die Seele baut sich ihr Haus. »Dieses Haus aber«, so Teresa, »ist Christus.« 126 Im Haus stirbt die Seele schließlich den mystischen Tod. Sie stirbt für die Welt 127, so wie die Welt für sie stirbt. 128 Und sie stirbt für sich selbst. Es stirbt ihr Egoismus, ihr egoistisches Ich. Durch das mystische, existentielle Sterben wird der Mensch von seiner sündhaften Selbstverfangenheit befreit. 129 In ihrer Lebensbeschreibung (Libro de la Vida) ruft Teresa jubelnd aus: »Der Herr sei gepriesen, dass er mich von mir selbst befreit hat!« 130 Das Haus, das sich die Seele baut, um darin zu sterben, ist dabei Christus selbst. 131 Gott selbst wird die von der Seele angefertigte Wohnung. 132 Mit dieser Deutung nimmt Teresa die neutestamentliche Lehre auf, wonach im Gläubigen selbst Christus, bzw. Gott wohnt und lebt. 133 Die Erfahrung der Einwohnung Christi bzw. Got5M 2,6. 5M 2,2; vgl. 2,7. 123 5M 4,2; vgl. 2,8. 124 7M 3,1; vgl. 2,5; vgl. auch 6M 6,4. 125 5M 2,2 Anmerkung 4. 126 5M 2,4. 127 Vgl. 5M 2,7. 128 Vgl. etwa Paulus, der im Galaterbrief mit Blick auf Jesus Christus, der für ihn am Kreuz gestorben ist, sagt: »Ich aber will mich allein des Kreuzes Jesu Christi unseres Herrn, rühmen, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt« (Gal 6,14). 129 Vgl. V 22,17. Vgl. etwa auch den Römerbrief, wo Paulus erklärt: »Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde« (Röm 6,7). 130 V 23,1. 131 Vgl. 5M 2,4. 132 Vgl. 5M 2,5. 133 So etwa verkündet Jesus im Johannesevangelium in Bezug auf Gott, seinen Vater, und sich selbst: »mein Vater wird ihn [den Gläubigen, der Jesus Christus liebt und an seinem Wort festhält] lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen« (Joh 14,23; vgl. auch 17,23). So heißt es etwa im Epheserbrief: »Durch ihn [Christus 121 122

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tes in der Seele vertieft sich nach Teresa noch in den Sechsten und Siebten Wohnungen, sodass die Gläubige am Ende mit Paulus sagen kann: Christus lebt in mir und ich lebe in Christus. 134 Deshalb stirbt für Teresa im Gleichnis am Ende auch der kleine, rastlos umherfliegende Falter. D. h., am Ende stirbt die Seele in gewissem Sinn noch einmal, nachdem sie für sich und andere rastlos Gutes getan hat. 135 Sie stirbt aus übergroßer Freude darüber, den Rastplatz gefunden zu haben, der darin besteht, in und mit Christus zu leben und ein Geist mit Gott geworden zu sein. 136 Die Gebetserfahrung der Gotteinung in den Fünften Wohnungen ist für Teresa vor allem von zwei Empfindungen begleitet: von großem Glück und tiefem Frieden. 137 Mit den Fünften Wohnungen verbinden sich für sie aber auch schmerzliche Empfindungen. Sie spricht von vielen neuen Prüfungen, vom Kreuz und von großem Weh. 138 Die Seele empfindet hier einen Schmerz, der »bis ins Innerste der Eingeweide geht«, und »sich so anfühlt, als würde es die Seele zerreißen und zermalmen«. 139 Sie fühlt Schmerz besonders darüber, innerlich noch nicht ganz aus der Welt herausgekommen zu sein und Gottes Willen noch nicht ganz ergeben zu sein. 140 Es schmerzt sie sehr, dass – wie Teresa es ausdrückt – Gott beleidigt wird und so viele See-

Jesus] werdet ihr im Geist zu einer Wohnung Gottes erbaut (Eph 2,22); »Durch den Glauben wohne Christus in eurem Herzen« (Eph 3,17). Im Kolosserbrief ist zu lesen: »Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott« (Kol 3,3); im ersten Thessalonicherbrief: »Er [Jesus Christus] ist für uns gestorben, damit wir vereint mit ihm leben« (1 Thess 5,10); im ersten Johannesbrief: »Wer den Sohn [Gottes] hat, hat das Leben« (1 Joh 5,12); und in der Offenbarung des Johannes: »Ich [Christus] stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir« (Offb 3,20). Vor allem wird vom Geist Gottes (vom Heiligen Geist) gesagt, er wohne in den Gläubigen (vgl. Röm 8,9; 8,11; 2 Tim 1,14; Jak 4,5). 134 Vgl. 7M 3,1; 2,5. Wiederum im Galaterbrief sagt Paulus von sich: »nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat« (Gal 2,20). Außerdem hebt Paulus immer wieder hervor, der Gläubige lebe und sei »in« Christus. 135 Vgl. 5M 4,2. 136 Vgl. 7M 2,5. 137 Vgl. 5M 2,7; 2,10. 138 Vgl. 5M 2,9.10. 139 5M 2,11. 140 Vgl. 5M 2,10.

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len verloren gehen. 141 Es erwacht in ihr aber auch eine große Liebe und eine starke Sehnsucht, die weit über diese Schmerzen hinausgehen, nämlich die Sehnsucht danach, alle Seelen mögen gerettet werden, d. h. alle Menschen mögen das ewige Leben bei Gott erlangen. 142 Zu Beginn des 3. Kapitels der Fünften Wohnungen kündigt Teresa an, »eine weitere Art der Gotteinung« 143, die wahre und eigentliche Gotteinung darlegen zu wollen. Das Einswerden bzw. Einssein mit Gott, die Gotteinung (unión con Dios) ist das Ziel des geistlichen Lebens. 144 Wachsende Gotteinung bedeutet nun aber für Teresa insbesondere, dass der Mensch sich immer mehr dem Willen Gottes hingibt. Bereits bei den Zweiten Wohnungen hatte sie den Menschen, der mit dem inneren Beten anfängt, aufgefordert, »darauf hin zu arbeiten und sich zu entschließen und sich mit allem ihm möglichen Eifer darauf einzulassen, seinen Willen auf den Willen Gottes einzustimmen« 145. Darin bestehe die »höchste Vollkommenheit […], die man auf dem geistlichen Weg erlangen kann« 146. Die »wahre Gotteinung« können wir laut Teresa mit der Hilfe des Herrn sehr wohl erlangen, »wenn wir uns selbst bemühen, sie uns zu verschaffen, indem wir unsere Eigenwilligkeit aufgeben und sie an das binden, was jeweils Gottes Wille ist«. 147 Die »Einung mit Gottes Willen« – »die Hingabe unseres Willens an den Willen Gottes« – ist für Teresa sowohl die »wahre« Gotteinung als auch die »eindeutigste und sicherste« Gotteinung und die Gotteinung, nach der sie sich ein Leben lang gesehnt hat und um die sie Gott immer wieder gebeten hat. 148 Sie ist für sie wichtiger als die vorübergehende ekstatische Gotteinung im Gebet. »Glücklich die Seele, die sie erlangt hat, denn schon in diesem Leben wird sie in Ruhe leben können und ebenso im anderen […].« 149 Die wahre Vollkommenheit besteht für Teresa – mit anderen Worten – in der Gottes- und Nächstenliebe. 150 Das hatte sie bereits bei den Ersten Wohnungen klar gemacht. Wir sind um so vollkomVgl. 5M 2,10–14. Vgl. 5M 2,13. 143 5M 3 Überschrift. 144 Vgl. M Anhang I (»Gotteinung«), 383. 145 2M 1,8. Vgl. z. B. auch 3M 2,6.12; 4M 2,8; 3,6. 146 2M 1,8. 147 5M 3,3. 148 5M 3,3; 3,5. 149 5M 3,3. 150 So kann Teresa z. B. im Zusammenhang des Betens sagen, »dass es nicht darauf ankommt, viel zu denken, sondern viel zu lieben« (4M 1,7). 141 142

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mener, mit je größerer Vollkommenheit wir die beiden Gebote der Gottes- und der Nächstenliebe halten. 151 Gott verlangt von uns nach Teresa nur diese zwei Dinge: »Liebe zu seiner Majestät und zum Nächsten; das ist es, woran wir arbeiten müssen. Wenn wir die in aller Vollkommenheit beobachten, tun wir seinen Willen, und so werden wir mit ihm vereint sein. Doch wie weit sind wir davon entfernt, diese beiden Dinge so zu tun, wie wir es einem so großen Gott schuldig sind […].« 152

Das sicherste Zeichen, ob wir das Doppelgebot der Liebe halten, ist nach dem Urteil Teresas »die treue Einhaltung der Nächstenliebe, denn ob wir Gott lieben, kann man nie wissen (auch wenn es deutliche Anzeichen gibt, um zu erkennen, ob wir ihn lieben), die Liebe zum Nächsten erkennt man aber sehr wohl« 153. Je mehr wir in der Liebe zum Nächsten vorankommen, desto mehr schreiten wir auch in der Liebe zu Gott voran. Als Lohn für die Liebe, die wir dem Nächsten entgegenbringen, lässt Gott, so Teresa, »auch die zu seiner Majestät tausendfach wachsen« 154. Umgekehrt werden wir laut Teresa nie so weit kommen, »die Nächstenliebe in Vollkommenheit zu haben, wenn sie nicht nach und nach aus der Wurzel der Gottesliebe erwächst, da unsere natürliche Veranlagung böse ist« 155. Das heißt: je mehr wir in der Gottesliebe wachsen, desto vollkommener wird auch unsere Nächstenliebe. Gottes- und Nächstenliebe bedingen sich gegenseitig.

9.6 Sechste Wohnungen In den Sechsten Wohnungen nehmen die Prüfungen und die Schmerzen für die Seele noch zu. So ruft Teresa aus: »Ach mein Gott, was für innere und äußere Prüfungen erleidet sie, bis sie in die Siebte Wohnung eintritt!« 156 Auch spricht Teresa von der »großen Qual«, »die

Vgl. 1M 2,17; vgl. auch 6M 9,10. 5M 3,7. Wenn die Gottes- und Nächstenliebe, so sagt Teresa auch, »in großer Vollkommenheit geschieht, haben wir alles getan« (5M 3,9). 153 5M 3,8. Die Liebe muss, wie Teresa auch sagt, »durch Werke erprobt sein« (3M 1,7), wobei es nicht auf die Größe der Werke ankommt (vgl. 7M 4,15). 154 5M 3,8. 155 5M 3,9. 156 6M 1,1. 151 152

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Sechste Wohnungen

mit dem Eintritt in die Siebte Wohnung verbunden ist«. 157 »Es ist nicht zu sagen«, so erklärt sie, »denn es sind Bedrängnisse und geistliche Schmerzen, für die man keinen Namen findet.« 158 Die Seele erlebt eine so spürbare und unerträgliche innere Bedrängnis, wie man sie wohl nur in der Hölle erleidet – ohne irgendeinen Trost. 159 Sie fühlt sich manchmal ganz »verzagt« und »verängstigt«, »verlassen« und »von Gott verworfen«. 160 Sie macht »Dürrezeiten« durch und befindet sich »mit ihrem Verstand in Dunkelheit und Trockenheit«. 161 Ihre Sehnsucht nach Gott und ihr innerer Schmerz wachsen, fast bis zur Unerträglichkeit. 162 Aber Gott gibt, so fügt Teresa hinzu, »nicht mehr auf als man ertragen kann« 163. Er lässt auf diese Weise die Beterin ihre »Armseligkeit« und »Nichtigkeit« erkennen. 164 Teresa empfiehlt in diesen Stürmen und Zeiten der Glaubenskrise »sich äußeren Werken der Nächstenliebe zu widmen und auf das Erbarmen Gottes zu hoffen« 165; denn es gibt in solchen Zeiten »keine andere Abhilfe als auf das Erbarmen Gottes zu warten« 166. All die inneren Leiden und Qualen, Schmerzen und Bedrängnisse deutet sie als Reinigung und Läuterung der Seele, vergleichbar der Reinigung und Läuterung der Seele im jenseitigen Fegfeuer. 167 Sie sind notwendig, um in die Siebten Wohnungen eintreten und mit Gott ganz geeint werden zu können. Im Teil über die Sechsten Wohnungen schildert Teresa sehr ausführlich paramystische Begleitphänomene wie Auditionen (d. h. innere Ansprachen) 168, Visionen (d. h. innere Schauen, wobei Teresa zwischen imaginativen Visionen, also mit den »Augen der Seele« wahrgenommenen bildhaften Vorstellungen, und geistigen oder intellektuellen Visionen, also intuitiven Einsichten ohne jede bildhafte Vorstellung, unterscheidet) 169, Ekstasen (d. h. innere Erhebungen, 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169

6M 1,15. 6M 1,13. Vgl. 6M 1,9. 6M 6,5; 1,12.9. 6M 1,8; 3,5. Vgl. 6M 11. 6M 1,6. 6M 1,10; vgl. 6M 1,12; 5,6. 6M 1,13. 6M 1,10. Vgl. 6M 11,3.6. Vgl. 6M 3. Vgl. 6M 9; 6M 8. Als Beispiel für eine intellektuelle Vision führt Teresa das Er-

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Entrückungen, Verzückungen, Geistesflüge und Ähnliches) 170 oder innere Jubelrufe 171. Bei diesen Phänomenen handelt es sich um Erlebnisse, die auf dem mystischen Weg nach innen ganz plötzlich und ohne eigenes Zutun auftreten können, aber keineswegs unbedingt auftreten müssen. Sie sind »charakteristisch für die Übergangsphase, in der ein Mensch auf dem Weg der Gotteinung zwar schon [weit] fortgeschritten, aber noch nicht zur tiefsten Einung gelangt ist« 172. Bei der tiefsten Einung in den Siebten Wohnungen hören im Normalfall die paramystischen Begleiterscheinungen auf. 173 Auch für Johannes vom Kreuz, den Gefährten Teresas, sind Ekstasen, Verzückungen und ähnliches »typische Begleiterscheinungen der Kontemplation bei Fortgeschrittenen, die noch nicht ganz geläutert sind« 174. Bei Menschen, die die vollkommene Gotteinung erlangt haben, kommen diese Phänomene nicht mehr vor. Das Wesentliche, das in den Sechsten Wohnungen geschieht, drückt Teresa – einer langen Tradition folgend 175 – im Bild der geistlichen Verlobung (desposorio espiritual) aus. 176 Der Bräutigam, d. h. Christus bzw. Gott, und die Braut, d. h. die Seele, verloben sich auf geistig-geistliche Weise. In den Siebten Wohnungen folgt dann die geistliche Vermählung. Im Bereich der Sechsten Wohnungen ist die Seele, wie Teresa schreibt, »bereits fest entschlossen, keinen anderen Bräutigam [als Gott] zu nehmen« 177, und nimmt dafür die erwähnten Prüfungen und Schwierigkeiten in Kauf. Zwar ist ihre Einung mit Gott noch nicht so dauerhaft wie bei der geistlichen Vermählung, sondern nur

lebnis an, mit großer Gewissheit Jesus Christus neben sich zu verspüren (vgl. 6M 8,2.3.). 170 Vgl. 6M 4; 6M 5. 171 Vgl. 6M 6,10. 172 M Anhang I (»Verzückung«), 387 f., hier 388. 173 Vgl. 7M 3,12. 174 2 N 1,2, 95 Anm. 5 [= Johannes vom Kreuz: Die dunkle Nacht; zweites Buch; Kap. 1; Abschnitt 2; Seite 95; Anmerkung 5]. 175 In der frühen christlichen und in der rabbinischen Literatur entwickelte sich aus Kommentaren zum »Hohenlied« (des Alten Testaments) das Bild der Verlobung bzw. Vermählung Zions, der Kirche, der einzelnen Seele oder einer gottgeweihten Jungfrau mit Gott bzw. mit Christus. 176 Vgl. 5M 4,3.4; 6M 1,1; 4,2; 7M 2,4. 177 6M 1,1. Auch die Entschlossenheit (determinación) spielt in Teresas Spiritualität eine große Rolle. Siehe die entsprechenden Stellenangaben in 6M 1,1 Anmerkung 7.

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Siebte Wohnungen

vorübergehend. 178 Aber Gott befähigt hier die Seele allmählich, den Mut aufzubringen, sich mit ihm »zu verbinden und ihn zum Bräutigam zu nehmen« 179. Er gibt ihr, um im Bild zu bleiben, »Juwelen« 180, d. h. er schenkt ihr große Gnaden 181 und gibt sich in Freundschaft mit ihr ab. 182 So wird die Seele von der Liebe ihres Bräutigams verwundet. 183 »Sie fühlt sich«, wie Teresa sagt, »aufs köstlichste verwundet […].« 184 Sie erkennt bei dieser Liebesverwundung, »dass es etwas Kostbares ist, und möchte von jener Wunde nie mehr geheilt sein« 185. Nach Teresa verbinden sich in dieser Liebesbeziehung paradoxerweise Schmerz und Wonne, Verwundung und Genuss miteinander. 186 Gemeint ist damit eine immer stärker werdende Sehnsucht der Seele, Gott zu sehen, ihn zu genießen, immer mit ihm zusammen zu sein und sich ganz seinem Dienst hinzugeben. 187 Und tatsächlich macht die Seele jetzt immer wieder die frohmachende und beseligende Erfahrung 188, dass Gott, ihr Bräutigam, »da ist« und »bei ihr« ist 189 und sie ihn und seine Gegenwart genießen kann. 190 Als Wirkung dieser Erfahrung bleiben in ihr vor allem einerseits Schmerz über ihre Sünden 191 und andererseits große Ruhe und innerer Friede zurück. 192

9.7 Siebte Wohnungen In den Siebten Wohnungen findet zwischen Gott und der Seele bildlich gesprochen die geistliche Vermählung (matrimonio espiritual) statt. 193 Sie ist die tiefste Gotteinung, die in diesem Leben möglich ist. 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193

Vgl. 7M 2,4; M Anhang I (»geistliche Verlobung«), 381. 6M 4,1. 6M 5,11. Vgl. 6M 2. Vgl. 6M 9,6. Vgl. 6M 1,1. 6M 2,2. 6M 2,2. Vgl. 6M 2,2 Anmerkung 4. Vgl. 6M 1,1; 2,1.4.8; 4,1.15; 6,5.6; 8,4; 6M 11 Überschrift; 7M 2,9; 3,4.6. Vgl. 6M 6,11.13; 11,11. 6M 2,2.8; 2,4. Vgl. 6M 6,10. Vgl. 6M 7,1–4. Vgl. 6M 3,6; 6,6.10; 8,7. Vgl. 7M 1,2.3.5; 2,1–3; 4,6.

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Das Innerste im Menschen

Während sich bei der geistlichen Verlobung Gott und die Seele noch oft trennen 194, können sie sich bei der geistlichen Vermählung nicht mehr trennen. 195 Vielmehr bleiben sie nun für immer zusammen. Gewährt Gott einer Seele die Gnade der geistlichen Vermählung, »versetzt er sie zuerst in seine Wohnung« 196, welche die siebte, die innerste Wohnung in der Seelenmitte ist. Nach Teresas Beschreibung vollzieht sich die gottgewirkte mystische Vermählung dann durch eine intellektuelle Vision der allerheiligsten göttlichen Dreifaltigkeit. 197 Die Seele erfährt in größter Klarheit jede der drei göttlichen Personen für sich 198 – den Vater, den Sohn, den Heiligen Geist – und sieht eindeutig, »dass sie im Innern ihrer Seele weilen; im aller-, allertiefsten Innern, in etwas Abgrundtiefem« 199. Von da an fühlt die Seele immer in sich diese angenehme wunderbare göttliche Gesellschaft. 200 Außer von einer intellektuellen Vision der göttlichen Dreieinigkeit kann nach Teresa die geistliche Vermählung mit Gott auch von »einer imaginativen Vision seiner allerheiligsten Menschheit« 201, d. h. von einer inneren bildhaften Schau des Menschen Jesus von Nazareth begleitet sein. Freilich ist sich Teresa dessen bewusst, dass die Gotteinung auf verschiedene Weisen – z. B. auch ohne Visionen – eintreten kann. Die Gotteinung der geistlichen Vermählung findet jedenfalls »in der innersten Mitte der Seele« statt, »wo Gott selbst weilt«. 202 Die Seele bewegt sich nicht mehr aus dieser Mitte fort. 203 Sie bleibt immerzu »in jener Mitte bei ihrem Gott« 204. Deshalb ist sie nahezu immerfort so eng mit Gott verbunden, »dass ihr von daher die Kraft zuströmt« 205, und wird sie »dessen gewahr, dass sie ihn mit BestänVgl. 7M 2,4. Vgl. 7M 2,2. 196 7M 1,5; vgl. 1,3; 2,9; M [Nachwort] 2. 197 Siehe dazu Michael Strucken: Trinität aus Erfahrung. Ansätze zu einer trinitarischen Ontologie in der Mystik von Ignatius von Loyola, Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz, Bonn 1999. 198 Vgl. 7M 1.6. 199 7M 1,7. 200 Vgl. 7M 1,7–10; 2,4. 201 7M 2,1. 202 7M 2,3. 203 Vgl. 7M 2,6; 1,10; M [Nachwort] 2. 204 7M 2,4. 205 6M 1,2. 194 195

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Siebte Wohnungen

digkeit bei sich hat« 206. Obwohl sich die Seele fast immer der Gegenwart Gottes in ihrer innersten Mitte erfreut 207, wird sich jedoch, so schränkt Teresa ein, die geistliche Vermählung »wohl nie in aller Vollkommenheit erfüllen […], solange wir leben« 208. Gott ist immer im Wesenskern der Seele gegenwärtig, doch bleibt das meist verborgen. Durch die tiefe Gotteinung dringt diese Gegenwart jedoch ins Bewusstsein. »In der geistlichen Verlobung ist dies nur vorübergehend der Fall, in der geistlichen Vermählung dauerhaft.« 209 Da für Teresa »ein ganz deutlicher Unterschied« zwischen dem Geist und der Seele besteht, »auch wenn sie noch so sehr ein Ganzes sein mögen« 210, kann sie die Gotteinung in den Siebten Wohnungen auch als Einung des menschlichen Geistes mit dem Geist Gottes beschreiben. 211 Der Geist der Seele wird eins mit Gott, der ebenfalls Geist ist. 212 So vereinen sich menschlicher Geist und göttlicher Geist. Der Mensch wird ein Geist mit Gott. 213 Infolge der Einung mit Gott im Geist vertiefen und verstetigen sich die Ruhe und der Friede der Seele in den Siebten Wohnungen. Die Seele weilt »fast ständig in innerer Ruhe« 214. Sie hat ihren »wahren« Frieden gefunden. 215 Dies ist aber nach Teresa nicht so zu verstehen, »als stünden die Seelenvermögen und Sinne und Leidenschaften beständig in diesem Frieden« 216. Es kann und wird in den anderen Wohnungen außerhalb der Siebten Wohnung immer wieder einmal zu »Zeiten des Streits, der Prüfungen und Mühen«, zu großem »Wirrwarr« und »Lärm« kommen. 217 Aber all das kann der Seele »im Normalfall« ihren großen Frieden in den Siebten Wohnungen nicht nehmen, »da die Leidenschaften bereits überwunden sind«. 218 Ähnliches gilt von der inneren Ruhe. 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218

7M 3,7. Vgl. 7M 3,11.15. 7M 2,1. 7M 2,4 Anmerkung 18. 7M 1,11. Vgl. 7M 2,3.5.9; 4,10. Vgl. 7M 2,3. Vgl. 7M 2,5. 7M 3,10; vgl. 3,11; 4,10; M [Nachwort] 2. Vgl. 7M 3,13. 7M 2,10. 7M 2,10.11. 7M 2,10.11; vgl. 2,6.9; 3,15.

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Das Innerste im Menschen

Da man bei mystischen Erfahrungen die Echtheit vor allem an den Wirkungen erkennen kann, schildert Teresa einige Wirkungen, die sie als Kriterium für die Echtheit der mystischen Vermählung ansieht. 1. Die Selbstvergessenheit: Die mit Gott vermählte Seele ist, wie Teresa schreibt, »so wundersam selbstvergessen, dass es […] so aussieht, als gäbe es sie nicht mehr, noch wolle sie auch nur im geringsten etwas sein« 219. 2. Die Sehnsucht zu leiden: Die Seelen verspüren »eine große Sehnsucht [für Gott oder Christus] zu leiden«, wichtiger ist aber ihre übergroße Sehnsucht, »es möge sich der Wille Gottes in ihnen erfüllen«. 220 »Es erleben diese Seelen auch eine große innere Freude, wenn sie verfolgt werden, […] ohne jegliche Feindseligkeit gegenüber denen, die ihnen Böses tun oder tun wollen, im Gegenteil, sie gewinnen sie besonders lieb […].« 221 3. Die Sehnsucht zu dienen: Die Seelen haben eine große Sehnsucht, Gott »zu dienen«, und eine große Festigkeit, »sich in nichts von seinem Dienst oder ihren guten Entschlüssen abbringen zu lassen«. 222 4. Die Losgelöstheit: Die Seelen erfahren eine »große Losgelöstheit von allem, und die Sehnsucht, entweder immer allein oder aber mit etwas beschäftigt zu sein, das zum Nutzen der Seelen ist« 223. 5. Trost und Ruhe: Für die Seelen gibt es kaum mehr Trockenheiten oder innere Prüfungen 224, »fast keine Dürrezeit oder innere Unruhezustände mehr […], wie es sie in allen anderen Wohnungen gab« 225. Sie weilen »fast ständig in innerer Ruhe« 226.

219 220 221 222 223 224 225 226

7M 3,2. 7M 3,4. 7M 3,5. 7M 3,6; 4,2. 7M 3,8. Vgl. 7M 3,8. 7M 3,10. 7M 3,10.

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Siebte Wohnungen

6.

Die Gottesgewissheit: Die Seelen verweilen beständig »in der Gewissheit, dass es Gott ist« 227, mit dem sie zusammen sind. Alle Gnaden, die Gott »der Seele hier erweist, kommen ohne jede Mithilfe der Seele, abgesehen von der bereits geleisteten, sich ganz Gott hinzugeben« 228. Hier hat die Seele auch keine Angst mehr vor dem Tod. 229 Wiederum warnt Teresa vor dem Missverständnis, die von ihr genannten Wirkungen seien »bei diesen Seelen beständig da« 230. Sie sind »im Normalfall« da. »Denn ab und zu überlässt unser Herr [Gott] sie ihrer Natur, und da sieht es nicht anders aus, als würden sich alle giftigen Viecher aus dem Vorwerk und den Wohnungen dieser Burg zusammentun, um sich an ihnen für die Zeit zu rächen, in der sie ihrer nicht habhaft werden können.« 231 Aber, so fügt Teresa hinzu, solch eine Aufregung dauert »nicht lange […]: einen Tag höchstens oder kaum länger« 232. »Es sind Stürme, die wie eine Woge rasch vorübergehen, doch dann kehrt wieder Windstille ein, denn die Gegenwart des Herrn, in der sie bleiben, lässt sie alles bald vergessen.« 233 »Auch komme es«, schreibt Teresa, »nicht in den Sinn, dass diese Seelen nicht doch noch viele Unvollkommenheiten begingen, ja sogar Sünden […].« 234 Damit wehrt sie sich gegen ein falsches Heiligkeitsideal. Tiefe Gottverbundenheit schützt nicht vor Anfechtungen, vor Fehlern oder sogar vor schuldhaftem Verhalten aus menschlicher Schwäche. 235 »Wir sind keine Engel«, sagt Teresa in ihrer Lebensbeschreibung, »sondern haben einen Leib. Uns zu Engeln aufschwingen zu wollen, während wir noch hier auf Erden leben – und dazu noch so sehr der Erde verhaftet, wie ich es war –, ist Unsinn«! 236 »Zu welchem Zweck«, so lässt sich fragen, »erweist Gott in dieser Welt so viele Gnaden?« 237 Die Antwort Teresas ist klar: Nicht zu dem Zweck, die Seelen »zu verwöhnen; das wäre ein großer Irr227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237

7M 3,10. 7M 3,10. Vgl. 7M 3,7. 7M 4,1. 7M 4,1. 7M 4,2. 7M 3,15. 7M 4,3. Vgl. 7M 4,3 Anmerkung 4. V 22,10. Vgl. 7M 4,4.

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tum« 238. Die Gnaden sind vielmehr dazu da, »um unsere Schwachheit zu stärken« 239, »um ihn [Jesus Christus] im vielfältigen Leiden nachzuahmen« 240, vor allem aber um »Kräfte für seinen Dienst zu haben« 241 und Werke hervorzubringen. »Dazu ist das innere Beten da«, so schreibt Teresa, »dazu dient diese geistliche Vermählung, dass ihr immerfort Werke entsprießen, Werke!« 242 Gemeint sind Werke der Nächstenliebe. Dabei kommt es jedoch nicht auf die Zahl und die Größe, d. h. auf die Quantität der Werke an; »denn der Herr schaut nicht so sehr auf die Größe der Werke, als vielmehr auf die Liebe, mit der sie getan werden« 243. Marta und Maria müssen laut Teresa zusammengehen. 244 D. h., mit der Kontemplation soll die Aktion einhergehen. Das beschauliche Leben soll in ein tätiges Leben münden und sich mit ihm verbinden. 245 »Der Mensch, der ganz in seiner innersten Mitte angelangt ist, wird also wieder hinausgeschickt, um die empfangene Gottesliebe in seinen Alltag einfließen zu lassen, nicht zuletzt auch durch praktische Nächstenliebe, die [für Teresa] als Prüfstein für die Echtheit der Gotteserfahrung gilt.« 246 Insgesamt lässt sich Teresas Beschreibung der Gotteinung als Konkretisierung und Ergänzung dessen auffassen, was Augustinus in den Büchern XI–XIII seines Werkes »De Trintitate« als Angleichung der äußeren geistigen Dreieinheit des Menschen von Erinnerung (memoria), Denken (cogitatio) und Wille (voluntas) an Gott beschrieben hat. 247 Die menschliche Geistseele kann ein genaueres Bild der Trinität werden, indem sie sich der Einwohnung des dreifaltigen Gottes in ihrer innersten Wohnung bewusst wird. 7M 4,4; vgl. 4,12. 7M 4,4. 240 7M 4,4. 241 7M 4,12. 242 7M 4,6. 243 7M 4,15. 244 Vgl. 7M 4,12; 7M 4 Überschrift. »Eine Anspielung auf Lk 10,38–42; vgl. auch bereits 7M 1,10. In der traditionellen Auslegung stehen Marta und Maria (von Betanien) für die beiden Pole der Aktion und der Kontemplation« (7M 4 Überschrift Anmerkung 1). 245 Damit nähert sich Teresa dem Ideal des Ignatius von Loyola, des Gründers des Jesuitenordens: Contemplativus in actione – beschaulich in der Tätigkeit (vgl. 7M [Nachwort] 2 Anmerkung 8). 246 7M 4,6 Anmerkung 13. 247 Siehe Kap. 5. 238 239

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Reflexion: zwei interreligiöse Parallelen

9.8 Reflexion: zwei interreligiöse Parallelen 9.8.1 Die hinduistische Lehre vom atman Die Überzeugung Teresas, Gott wohne in der innersten Mitte eines jeden Menschen, und nicht nur etwa getaufter Christen, mag man als erstaunlich empfinden. Sie erlaubt es, den Blick zu weiten und auf nichtchristliche Religionen zu richten. Nach einer der vielen verschiedenen hinduistischen religiösen Vorstellungen ist der Mensch aus drei Schichten aufgebaut. 248 Die äußerste Schicht bildet der Körper. Er stirbt immer wieder auf der langen Reise der Wiedergeburten der Seele und spielt bei der Vollendung des Menschen keine Rolle mehr. Die zweite Schicht besteht in der individuellen Seele (jivataman 249), die manchmal als feinstoffliche Wirklichkeit gedacht wird und jedenfalls eng mit dem Körper verbunden ist. In sie geht das karma ein, das die Qualität des gegenwärtigen Lebens und der künftigen Wiedergeburt bestimmt. Unter karma ist die einzelne Tat, die Folge der Tat oder die Gesamtheit der Tatenfolgen sowie das Gesetz der Tatenvergeltung zu verstehen. Solange die individuelle Seele des Menschen noch mit karma beladen und belastet ist, ist sie dem Kreislauf der Wiedergeburten (samsara) verhaftet und muss wiedergeboren werden. In der dritten, innersten Schicht begegnet der Mensch in sich dem atman. Der Ausdruck atman hängt mit dem Wort »atmen« zusammen und bedeutet soviel wie die eigentliche Seele, der Seelengrund. Der atman macht das Innerste des Menschen aus. Er ist unveränderlich und ewig und wird in den Upanishaden des Öfteren mit dem brahman, der höchsten, unveränderlichen und ewigen, durch nichts bedingten Wirklichkeit gleichgesetzt. Das brahman ist der metaphysische Grund von allem. Er ist an sich nicht-personal und ohne Eigenschaften (nirguna-brahman), hat aber eine der Welt zugewandte Seite mit Eigenschaften (saguna-brahman). Diese Seite trägt die persönlichen Züge einer Gottheit wie Vishnu, Shiva, Shakti, Krishna oder Ganesha und gilt als der Herr (ishvara) der Welt.

248 Siehe dazu Johannes Herzgsell SJ: Das Christentum im Konzert der Weltreligionen. Ein Beitrag zum interreligiösen Vergleich und Dialog, Regensburg 2011, 41, 216 f., 285–287. 249 Alle einschlägigen Fremdwörter in diesem Abschnitt stammen aus dem Sanskrit.

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Gemäß dieser Vorstellung besteht das spirituelle Ziel des Menschen darin, sich in einem längeren Bewusstseinsprozess des atman im eigenen Inneren bewusst zu werden, so die avidya (Unwissenheit) bezüglich der wahren Wirklichkeit zu überwinden und die Einheit mit dem atman bzw. brahman zu realisieren. Dazu dienen verschiedene Yogas oder Wege, etwa der Weg des pflichtbewussten Handelns (karma-yoga), der Weg der Erkenntnis (jnana-yoga) und der Weg der persönlichen Gottesliebe (bhakti-yoga). 250 Wer auf einem dieser Wege die Einheit mit der höchsten Wirklichkeit des atman/brahman erreicht hat, besitzt kein karma mehr. Damit ist für ihn die lange Reihe der Wiedergeburten beendet und er hat moksha oder mukti, d. h. die Befreiung oder Erlösung erlangt. Er geht für immer ein ins brahman. Zwischen dieser hinduistischen Auffassung und der christlichen Auffassung bestehen etliche philosophische, theologische, psychologische und andere Unterschiede. Für Christen ist das Leben einmalig und wird im Jenseits durch eine leibliche Auferstehung vollendet, während für Hindus erst nach vielen Leben eine Vollendung erlangt wird, bei der der Leib keine Bedeutung mehr hat. Für Christen ist die höchste Wirklichkeit der eine Gott, mithin eine personale Größe. Hindus sehen hingegen den atman oder das brahman als eine an sich nicht-personale oder vielleicht überpersonale Größe an. Die Liste der Unterschiede auf der Ebene der Überzeugungen ließe sich fortsetzen. Trotz dieser Unterschiede zeigt sich eine tiefe spirituelle und existentielle Parallele zwischen dem Prozess der Gotteinung, wie ihn die Christin Teresa von Avila beschreibt, und dem Prozess der Einung mit der höchsten Wirklichkeit, wie ihn bestimmte Hindus begreifen. Demnach findet der Mensch in seinem Innersten eine göttliche Wirklichkeit vor. Diesem Innersten kann und soll er sich durch inneres Beten oder Meditieren in einem längeren Läuterungs- und Bewusstseinsprozess annähern. Das Ziel dieses spirituellen und existentiellen Prozesses ist erreicht, wenn der Mensch sich der göttlichen Wirklichkeit in seinem Innersten bewusst geworden ist und gerade so die Einheit mit dieser Wirklichkeit vollzogen hat. Der spirituell und existentiell befreite Mensch hat sein egoistisches Ich überwunden und sein 250 Siehe dazu die Bhagavadgita (Bhagavadgita. Das Lied der Gottheit. Aus dem Sanskrit übersetzt von Robert Boxberger. Neu bearbeitet und herausgegeben von Helmuth von Glasenapp, Stuttgart 1955).

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Reflexion: zwei interreligiöse Parallelen

wahres Selbst gefunden. Er lebt fortan aus seiner göttlichen Mitte heraus und erkennt die Wirklichkeit, wie sie an sich ist, also die Wahrheit. Allerdings ist bei aller Parallelität noch auf einen bleibenden Unterschied hinzuweisen. Während sich Hindus, die diese Auffassung von Spiritualität haben, persönlich mit dem atman/brahman identifizieren, ist sich Teresa mit zunehmender Gotteinung des Unterschiedes zwischen Gott und ihr selbst bewusst geworden, weshalb sie immer wieder darüber klagt, selber elend oder ein Elend zu sein. Während der Hindu aus seiner Überzeugung heraus sagen kann: Ich bin brahman, würde Teresa sagen: Gott ist alles, ich bin nichts (sp. nada); Gott ist heilig, ich bin Sünderin.

9.8.2 Die taoistische Lehre vom tao Eine andere interreligiöse Parallele lässt sich zwischen Teresas Lehre von Gott als dem Innersten des Menschen und der Lehre vom tao, wie sie sich in dem Laotse zugeschriebenen chinesischen Werk »Tao te king« niederschlug 251, entdecken. Tao bedeutet im chinesischen wörtlich »Weg«. 252 Es kann aber 251 Siehe dazu Laotse: Tao te king. Das Buch des alten Meisters vom Sinn und Leben. Aus dem Chinesischen übersetzt und erläutert von Richard Wilhelm (Übersetzung und Erläuterungen von Richard Wilhelm folgen der Ausgabe Jena 1911), Köln 2010. Zur Entstehung, Verfasserschaft und Datierung des Textes siehe die Einleitung von Wolfgang Kubin in: Lao Zi (Laotse). Der Urtext. Übersetzt und kommentiert von Wolfgang Kubin, Freiburg i. Br. 2011, 7–18. Kubin zufolge stammt der Urtext des »Daodejing« (»Tao te king«) aus der Zeit zwischen 350 und 300 v. Chr. Bei ihm handelt es sich nicht um den einheitlichen Text eines einzigen Verfassers, sondern um ein Spruchgut, das sich im Laufe längerer Zeit ansammelte. Dieser Text wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten von vielen ergänzt und schließlich vielleicht von einer einzigen Person in die heute bekannte Form mit 81 Abschnitten gebracht, vielleicht von Lia Xiang, der im 1. Jahrhundert v. Chr. lebte. Einen Lao Zi (Lao tse) gab es nach Kubin vermutlich nie, oder wenn doch, so war er vielleicht der vorletzte Redakteur des heute bekannten »Daodejing«. Er kann dann aber nicht im 6. oder 5. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben, wie lange Zeit angenommen wurde, sondern müsste einige Zeit nach dem 4. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben, vielleicht im 3. oder 2. Jahrhundert v. Chr. 252 Siehe dazu auch die einschlägigen Artikel aus dem Lexikon der östlichen Weisheitslehren. Buddhismus – Hinduismus – Taoismus – Zen (Herausgeber und Verfasser: Ingrid Fischer-Schreiber, Franz-Karl Ehrhard, Kurt Friedrichs, Michael S. Diener) (Zweite Auflage), Bern, München, Wien 1986.

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auch »Lehre« meinen. Das tao ist gemäß dem »Tao te king« das allumfassende erste Prinzip, das allen Erscheinungen zugrunde liegt. Aus ihm, dem Namenlosen und nicht Benennbaren, entspringt das Universum. Die Namenlosigkeit ist eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften. Das tao wirkt spontan und gemäß seiner Natur (tzu-jan). Sein Wirken ist ohne Aktion und ohne Absicht (wu-wei). In der Erscheinungswelt zeigt es sich durch seine »Kraft« (te). Te ist die Wirkkraft des tao, die jedes einzelne Ding vom tao erhält und die es zu dem macht, was es ist und wodurch es sich in der phänomenalen Welt manifestiert. Te bezeichnet aber auch die durch die Verwirklichung des tao gewonnene »Tugend«. Im »Tao te king« wird es mit den gleichen Attributen beschrieben wie das tao selbst: es ist tief, geheimnisvoll; es befähigt den Menschen, zur kindlichen Unschuld, zur Schlichtheit (p’u) zurückzukehren. Das tao ist nicht nur der Urgrund, aus dem alles hervorgegangen ist, sondern auch das Ziel, zu dem alles zurückkehrt. Es selbst stellt die Bewegung der Rückkehr (fu) dar. In sich entfaltet es den polaren Gegensatz von yin und yang. Deren konkrete Erscheinungen im Universum sind Himmel und Erde. Durch yin und yang bringt das tao die Fünf Elemente (wu-hsing; »Fünf Beweger«) hervor, zu denen Wasser, Feuer, Holz, Metall und Erde gerechnet werden. Diese Elemente sind wiederum die Grundlage für das Entstehen der »Zehntausend Dinge« oder »Zehntausend Wesen« (wan-wu) d. h. aller Erscheinungen bzw. der gesamten Welt der Erscheinungen. Mit yin und yang wurde ursprünglich der nördliche (kalte, trübe) und der südliche (warme, helle) Hang eines Berges bezeichnet. Ihnen wurden dann weitere Eigenschaften zugesprochen. So ist yin das Weibliche, Passive, Empfangende, Dunkle, Weiche sowie die Stille oder Ruhe und yang das Männliche, Aktive, Schöpferische, Helle, Harte und die Bewegung. Bei yin und yang handelt es sich somit um polar-konträre Gegensätze. Der Prozess des Hervorbringens aller Erscheinungen wird zyklisch verstanden. Es gibt ein endloses Entstehen und Vergehen, indem alles in seinen Gegenpol umschlägt, wenn es seine extreme Ausbildung erreicht hat. Diese ständige »Wandlung« hervorzubringen, ist die Grundeigenschaft von yin und yang. Der Wandel ist – vermittelt durch yin und yang – die Bewegung des tao selbst. Alles entsteht demnach aus einer Kombination von yin und yang. Das bekannte yin-yang-Symbol deutet darauf hin, dass jede 284 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

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der beiden Kräfte auf dem Höhepunkt ihrer Ausbildung schon den Keim ihrer polaren Entsprechung in sich trägt und beginnt, in diese umzuschlagen. Von daher gibt es in der Welt der Zehntausend Wesen nichts ohne seinen polaren Gegensatz. Es gibt nichts Schönes ohne Hässliches, nichts Gutes ohne Schlechtes, nichts Schweres ohne Leichtes usw. Das eine bedingt das andere. Das eine kann ohne das andere nicht sein. Erst beide Pole zusammen bilden das Ganze. Diese Lehre vom tao und seinem Gegensatz zwischen yin und yang lässt aus abendländischer Sicht zwei Deutungen zu, die einander nicht unbedingt auszuschließen brauchen. 1. Das Ideal aller Wesen besteht darin, ständig zwischen den Polen yin und yang zu oszillieren. Die Pendelbewegung selbst ist das Wesentliche und Eigentliche der Erscheinungswelt. Alles ist unentwegt in der Veränderung, im Wandel begriffen. Für jedes Einzelwesen, aber auch für das gesamte Universum gilt: yin und yang steigen und sinken immer abwechselnd. Nach einer Hochphase des yang folgt zwingend ein Absinken von yang und ein Ansteigen von yin, und umgekehrt. Hat beispielsweise eine Bewegung ihr Ende erreicht, so wird sie still, und diese Stille erzeugt yin. Hat diese Stille ihr Ende erreicht, geht sie wieder in Bewegung über. So haben wir abwechselnd bald Bewegung, bald Ruhe. Dieser stete Wandel ist vom tao selbst durch die polaren Kräfte von yin und yang verursacht. Indem Menschen sich dem tao anvertrauen und das tao in sich wirken lassen, bleiben sie in einer Bewegung, die eigentliches Leben ist. 2. Der Gegensatz von yin und yang lässt sich aber auch in dem Sinn verstehen, dass es jeweils um einen Ausgleich zwischen den Polen geht. Das, was zu scharf ist, soll mild werden; das, was zu mild ist, soll schärfer werden. 253 Ein Mensch, der zu weich ist, sollte härter werden, ein Mensch, der zu hart ist, weicher. Jeder Mensch sollte in sich ein Gleichgewicht zwischen yin und yang finden. Jedes Einzelwesen sollte eine Balance zwischen den Polen anstreben. Die Mitte zwischen den Polen wäre der anzustrebende Idealzustand. Für Menschen könnte das bedeuten, ganz allgemein durch ihre Lebensweise und speziell durch meditative Übungen jeweils ein Gleichgewicht zwischen passiv und aktiv, zwischen weiblich und männlich, zwischen weich und hart, zwischen empfangend und schöpferisch usw. zu suchen. Dieses Gleichgewicht zwischen yin und yang ließe sich dann 253

Vergleiche dazu Tao te king, Kap. 4.

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entweder als etwas Allgemeines verstehen, das bei allen Menschen bzw. Wesen gleich wäre, oder als etwas Individuelles, das bei jedem Menschen bzw. Wesen verschieden sein könnte. Der Mensch muss dabei aber das Ideal des Gleichgewichts gar nicht oder nicht nur aus eigener Kraft erreichen. Das tao selber sorgt für den Ausgleich in allem. Es macht, lässt man es nur wirken, weiblicher, was zu männlich ist, und männlicher, was zu weiblich ist. Das tao selber stellt über die Kräfte des yin und yang das Gleichgewicht in allem her. Entscheidend wäre es demnach für den Menschen, das tao in sich wirken zu lassen und in Übereinstimmung mit dem tao zu leben. Die taoistische Lehre vom tao und seinen beiden gegensätzlichen Polen von yin und yang scheint auf den ersten Blick sehr weit von Teresas christlicher Gotteslehre entfernt zu sein. Metaphysisch gesehen scheint es sich um zwei verschiedene Welten zu handeln, auf die sich die beiden Lehren beziehen. Es scheint nur wenige Berührungspunkte zwischen den beiden Welten zu geben. Das »Tao te king« bietet aber nicht nur eine metaphysische Lehre vom tao, sondern auch eine lebenspraktische Lehre vom sogenannten sheng-jen, dem Weisen oder Heiligen. 254 Mit ihm ist nicht eine bestimmte historische Gestalt gemeint. Es geht vielmehr beim shengjen um das Lebensideal eines jeden Menschen. Bedenkt man dieses Ideal vom taoistischen Weisen oder Heiligen, beginnen sich spirituelle und existentielle Parallelen zwischen der Lehre des »Tao te king« und der Lehre Teresas abzuzeichnen. Der taoistische Heilige will fu (Wiederkehr, Rückkehr) erreichen: er will zum tao, aus dem er ursprünglich hervorgegangen ist, zurückkehren. Da alle Erscheinungen aus dem tao hervorgehen und wieder zum tao zurückkehren müssen und die Rückkehr die Bewegung des tao selbst ist, will er demzufolge die Bewegung des tao selbst mitvollziehen, will mit dem tao zum tao zurückkehren. Damit will er p’u (Rohholz, unbehauener Klotz) erreichen: Einfachheit, Schlichtheit, Einfalt, Leere. P’u ist das Endziel der Rückkehr und zeigt sich in Begierdelosigkeit und absichtslosem Handeln (wu-wei). Wer die Einfachheit erlangt hat, hat die Vollkommenheit erreicht und ist zum tao zurückgekehrt. Aus diesem Grund strebt der taoistische Heilige ming (Helligkeit) an: die Erleuchtung. Sie besteht inhaltlich darin, dass der Taoist 254

Richard Wilhelm übersetzt den Ausdruck sheng-jen mit »der Berufene«.

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Reflexion: zwei interreligiöse Parallelen

das universelle Gesetz der Rückkehr aller Erscheinungen zum Ursprung, der das tao ist, intuitiv oder existentiell erkennt. Durch die Erleuchtung kehrt er in das tao zurück und verwirklicht dessen Einfachheit, Einheit und Leere. Um wiederum zur Erleuchtung zu gelangen, sucht der taoistische Heilige die Stille. Sie ist der wesentliche Zugang zum tao. Durch das Verweilen in Stille verwirklicht er in sich das tao. Und zur Stille findet er durch die Methode des Verlierens, Loslassens oder Leerwerdens: »Nach Wissen zu suchen heißt, Tag für Tag dazugewinnen; das Tao suchen heißt, Tag für Tag verlieren.« 255 Durch das Verharren in Stille kommt jedes innere oder äußere Geschehen zur Ruhe, alle Begrenzungen und Bedingungen schwinden. Laut Chuang-tzu 256 erstrahlt dann das Himmlische Licht in einem, wodurch man sein wahres Selbst sehen und das Absolute verwirklichen kann. Deshalb gilt der Aufruf: Gib dich hin der äußersten Leere; versenke dich inbrünstig in Stille … ! 257 Der taoistische Heilige will zum wu-wei (Nicht-Tun) kommen: zum absichtsloses Handeln. Dazu wendet er sich dem tao zu. Denn wer sich dem tao widmet, nimmt jeden Tag hinsichtlich seiner Aktivitäten und seiner Begierden ab. Indem er von Stufe zu Stufe abnimmt, gelangt er zum wu-wei, zum »Nicht (mehr) Handeln«. 258 Und indem er nicht mehr handelt, gibt es nichts, das er nicht bewirkt. Wu-wei ist die Haltung des taoistischen Heiligen, die darin besteht, nicht in den natürlichen Lauf der Dinge einzugreifen und selbst spontan und frei von egoistischen Absichten oder Interessen zu handeln. Wu-wei bezeichnet demnach nicht ein absolutes Nichts-Tun, sondern ein von Begierde und egoistischer Ausrichtung freies Handeln. Der Taoist ahmt das tao selbst nach, das wirkt, ohne zu handeln. Indem das tao beständig ohne Aktion (wu-wei) ist, gibt es nichts, was nicht geschieht. 259 Der Taoist hütet sich deshalb in Nachahmung des tao, in den Lauf der Dinge einzugreifen, und gibt allem die Möglichkeit, sich gemäß seiner eigenen Natur frei zu entfalten. Er will daTao te king, Kap. 48. Taoistischer Weiser, der etwa von 369–286 v. Chr. lebte und mit Lao-tzu als Begründer des philosophischen Taoismus gilt. Nach ihm ist auch sein Werk benannt: Chuang-tzu, das auch unter dem Namen »Wahres Buch vom südlichen Blütenland« bekannt ist. Siehe Lexikon der östlichen Weisheitslehren, 81–83. 257 Vgl. Tao te king, Kap. 16. 258 Vgl. Tao te king, Kap. 48. 259 Vgl. Tao te king, Kap. 37. 255 256

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Das Innerste im Menschen

durch tzu-jan (von-selbst-so seiend) erreichen: Spontaneität und Natürlichkeit. Tzu-jan steht für ein Leben, das spontan und frei ist, frei von menschlicher Willkür und frei von äußeren Einflüssen. Es bedeutet die Harmonie mit sich selbst, das Sein in seiner höchsten Verwirklichung, die absolute Treue zu sich selbst. Tzu-jan ist das Ziel des absichtslosen Handelns und dessen Norm. 260 Es ist folglich insgesamt das Ziel des taoistischen Heiligen, die Einheit mit dem tao zu verwirklichen. Das tao ist geheimnisvoll mitten in der Welt der Zehntausend Wesen gegenwärtig. Es ist eine immanente Kraft in den Wesen. Nach dem »Tao te king«-Spezialisten Akira Ohama sollte der Taoist nicht voluntaristisch die Vereinigung mit dem tao erstreben, sondern sich dessen bewusst werden, dass das tao in ihm anwesend ist und wirkt und dass deshalb seine innerste Kraft mit dem tao identisch ist. 261 Der Taoist sucht die Bewegung und die Haltung des tao nachzuvollziehen. Er sucht die Rückkehr in das tao und damit den Zustand der Einfachheit und Leere zu erlangen. Er sucht in der Haltung des absichtslosen und begierdelosen Handelns sowie des spontanen und naturgemäßen Handelns zu leben. Dies kann ihm nur gelingen, weil ihm das tao schon innewohnt. Er muss sich »nur« der Kraft des tao in seinem Innersten bewusst werden und dieser Kraft in sich Raum geben. Er muss soweit loslassen, dass die Kraft des tao in ihm sich entfalten kann. Dann kann er ein Leben gemäß dem tao führen. Im tao und in der Kraft des tao kehrt er dann in das tao zurück. Auch unter konkret-spiritueller Hinsicht bleiben Unterschiede zwischen der Lehre vom tao und Teresas Lehre von Gott als dem Innersten des Menschen bestehen. Diese Unterschiede dürften vor allem zwei Gründe haben. Zum einen hält der Taoist das tao für eine nicht-personale Wirklichkeit, während für Teresa Gott ein personales Wesen mit Selbstbewusstsein und freiem Willen ist. Zum anderen kennt der Taoist keinen personalen Mittler auf dem Weg zur Einung mit dem tao, während für Teresa die Vermittlung durch Jesus Christus auf dem Weg zur Gotteinung von größter Wichtigkeit ist. Dennoch konvergieren die beiden Lehren hinsichtlich ihres spirituellen Ideals. Die Haltung des taoistischen Heiligen ähnelt der spirituellen Haltung Teresas. Angezielt ist ein Mensch, der sich durch inneres Beten bzw. durch Stille und Meditation auf das Göttliche im 260 261

Vgl. Tao te king, Kap. 25. Siehe dazu den Artikel »Tzu-jan« im Lexikon der östlichen Weisheitslehren, 413 f.

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Reflexion: zwei interreligiöse Parallelen

eigenen Inneren einlässt und diesem Göttlichen in sich selbst Raum gibt, sodass es sich in ihm entfalten kann. Durch die zunehmende Einung mit dem Göttlichen wird der Mensch selber leer und frei von egoistischen Begierden und Absichten. Er wird einfach und demütig. Er lässt das Göttliche in sich wirken und lebt in Harmonie mit ihm. Das befähigt ihn schließlich dazu, selber spontan, natürlich und frei zu leben.

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10. Das Feuer der Liebe »Nacht« und »Flamme« bei Johannes vom Kreuz

10.1 Einführung in die Gesamtspiritualität Der große Mystiker und bedeutende Schriftsteller Johannes vom Kreuz 1 (1542–1591) verfasste vier Hauptwerke 2: »Aufstieg auf den Berg Karmel« 3 – »Die dunkle Nacht« 4 – »Der Geistliche Gesang« 5 – »Die lebendige Liebesflamme« 6. In diesen Werken zeichnet sich ein Gesamtkonzept seiner Spiritualität ab.7 Demnach endet das Leben des Zum Leben und zur Person des Johannes siehe Erika Lorenz: Auf der Jakobsleiter. Der mystische Weg des Johannes vom Kreuz, Freiburg i. Br. 1991; Reinhard Körner: Johannes vom Kreuz. Unter Mitarbeit von Ulrich Dobhan und Thomas Röhr, Freiburg i. Br. 1993. 2 Zur Entstehung dieser Werke siehe jeweils die Einführung; z. B. N [= Noche Oscura] Einführung 10. 3 Subida del Monte Carmelo; das Gedicht »Die dunkle Nacht«, das diesem Werk und dem Werk »Die dunkle Nacht« vorangestellt ist, entstand 1578/79 – nach der Gefangenschaft des Johannes in Toledo (d. h. nach August 1578); die ersten Kapitel des Kommentars zum Gedicht schrieb Johannes zum Teil bereits zwischen November 1578 und Juni 1579, dann vor allem zwischen 1582 bis 1588, hauptsächlich aber von April 1587 bis Juni 1588. 4 Noche Oscura; das Gedicht »Die dunkle Nacht« entstand 1578/79 (nach August 1578); den Kommentar dazu schrieb Johannes zwischen 1582 und 1588. 5 Cántico espiritual; die meisten Strophen des Gedichts entstanden im Gefängnis von Toledo (Dezember 1577 bis August 1578); bis 1584 hatte das Gedicht literarisch Gestalt angenommen; 1584 schrieb Johannes einen in sich geschlossenen Kommentar dazu. 6 Llama de amor viva; das Gedicht entstand 1584 oder kurz davor; die erste Kommentarfassung dazu schrieb Johannes 1585/86, die zweite vermutlich erst 1591. 7 Siehe dazu Ulrich Dobhan/Reinhard Körner (Hrsg.): Johannes vom Kreuz. Lehrer des »Neuen Denkens«. Sanjuanistik im deutschen Sprachraum, Würzburg 1991; Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Studie über Johannes vom Kreuz. Neu bearbeitet und eingeleitet von Ulrich Dobhan OCD (Edith Stein Gesamtausgabe 18) (3. Auflage), Freiburg i. Br. 2007; Manuel Schlögl: Mystik – Atheismus – Dunkle Nacht. Johannes vom Kreuz und Therese von Lisieux im Gespräch mit dem neuzeitlichen Atheismus, Regensburg 2013, 185–242. 1

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Einführung in die Gesamtspiritualität

Menschen nicht einfach mit dem Tod. Es hat vielmehr ein übergeordnetes Ziel. »Johannes vom Kreuz betrachtet sich und seine Mitmenschen von dem Ziel her und auf das Ziel hin, das die neutestamentliche Offenbarung vorgibt: ›Was Gott erstrebt, ist, uns zu Göttern durch Teilhabe [participación] zu machen, wie er Gott von Natur ist‹ (Weisungen 8 2,27). An der Seite Gottes Gott sein – in freier dialogischer Partnerschaft –, das ist die Zukunft, zu der hin der Mensch unterwegs ist. In der Ewigkeit vollendet, wird er wie eine jede der drei göttlichen Personen sein: so zuwendungs- und liebesfähig wie Gott, so wahr, so kreativ […].« 9

Johannes zufolge wird der Mensch an Gott (Dios) selber teilnehmen, der Heiligsten Dreifaltigkeit zugesellt sein und an ihren Werken mitwirken. 10 Er wird mit den drei göttlichen Personen in einer vollendeten persönlichen Beziehung leben und zugleich allen Menschen so vollendet zugewandt sein, wie die drei göttlichen Personen einander zugewandt sind. Von dieser absoluten Zukunft her und auf diese hin deutet Johannes vom Kreuz das menschliche Leben. »Alles Suchen und Sehnen, Ringen und Streben« des Menschen ist für ihn »Ausdruck eines Entwicklungsgeschehens auf dieses Ziel hin«. 11 Die Erschaffung von uns Menschen ist noch nicht abgeschlossen. 12 Der Gegensatz zwischen unserer jetzigen Verfassung und dem, was nach biblischer Verheißung aus uns werden soll, lässt Johannes vom Kreuz unser Leben als einen Prozess der »Umformung in Gott hinein« 13 (transformatión en Dios) begreifen: Wir Menschen erleben mit, wie Gott uns »nach seinem Bilde« formt, und wie wir aufgerufen sind, dabei mitzuwirken. Damit greift Johannes wie schon vor ihm Augustinus und Cusanus das biblische Verständnis vom Menschen als Bild Gottes (Gen 1,27) auf. Wir sind schon Bild Gottes. Aber wir können, sollen und dürfen es in diesem Leben immer noch mehr werden. Nach Johannes kommt es darauf an »himmelsfähig zu werden, sich einzuleben in das bereits begonnene, der Vollendung harrende Reich Gottes, [und] d. h. beziehungsfähig zu werden nach dem Maße Mit den Weisungen sind geistliche Anweisungen gemeint, die Johannes hinterließ. N [= Noche Oscura] Einführung 12 f. 10 Vgl. Der Geistliche Gesang 39,6. 11 N Einführung 13. 12 Siehe dazu Kap. 15.4. 13 »Aufstieg auf den Berg Karmel« I 4,3, 67 f. (»Gleichgestaltung mit Gott« oder »Liebesgleichgestaltung«); zitiert nach N Einleitung 13. 8 9

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Das Feuer der Liebe

Gottes, beziehungsfähig zu Vater, Sohn und Geist, zu jedem Mitmenschen, zu aller Schöpfung« 14. Vor diesem Hintergrund gehören für Johannes Mystik, Geschwisterlichkeit, Liebe und eine recht verstandene Askese zusammen. Ein Mystiker ist »ein Mensch, der mit dem Gott lebt, an den er glaubt« 15. Und bei der Geschwisterlichkeit geht es darum, sich, getragen von der Beziehung zu Gott, persönlich zum Mitmenschen und zur gesamten Schöpfung hinzuwenden. Wesentlich ist dabei für Johannes die Liebe, aus der heraus dies geschieht. Die Liebe ist der Weg zum Ziel, wie sie auch das Ziel selber ist. Deshalb beteuert Johannes immer wieder: »Am Abend deines Lebens wirst du nach der Liebe gefragt.« 16 Schließlich gehört zur Liebe auch das »Zurücknehmen« 17 (negación), d. h. das Loslassen und Hergeben und in diesem Sinn die Askese. Um sich auf Gott und auf die Mitmenschen einlassen zu können, gilt es loszulassen: nicht nur die Dinge, die Menschen und sich selbst, sondern auch Gott bzw. falsche Erwartungen, Vorstellungen oder Begriffe von Gott. Denn ein wozu auch immer »instrumentalisierter« Gott steht der Wirklichkeit des Reiches Gottes genauso entgegen wie das egozentrische Festhalten an sich selbst und an den Dingen. Mit dem Bildwort »dunkle Nacht« bezeichnet Johannes von Kreuz »jene schmerzlichen Lebensphasen, in denen der Mensch scheinbar Gott nicht mehr ›erfährt‹. Gerade in solchen Zeiten kann er lernen, herzugeben und loszulassen […].« 18 Bei allem Suchen nach Gott muss und darf man laut Johannes wissen: Wenn der Mensch Gott sucht – viel mehr noch sucht Gott den Menschen. 19 Von Gott her besteht die Beziehung zum Menschen längst. Gott ist jedem Menschen immer schon ganz nahe und bei ihm. Das Reich Gottes ist, wie Jesus Christus verkündet hat, schon angebrochen. Gott selber treibt Johannes zufolge den »Umformungsprozess« voran und wird ihn auch vollenden. »Der Schöpfer bleibt dem Menschen treu als sein Vollender.« 20 Johannes vom Kreuz verdankt diese Sicht »seiner tiefen inneren N Einführung 13. N Einführung 14. 16 »Worte von Licht und Liebe. Briefe und kleinere Schriften« 59; zitiert nach N Einführung 14. 17 »Aufstieg auf den Berg Karmel« I 2,1, 58 (»Zurückstellen« und »Aufgeben«). 18 N Einführung 15. 19 Vgl. »Die lebendige Liebesflamme« [= L] 3,28, 133 f. 20 N Einführung 16. 14 15

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Die dunkle Nacht

Ich-Du-Beziehung zu Jesus Christus, der Offenbarung Gottes in Person« 21. »Mit gleicher Dringlichkeit und Entschiedenheit wie seine Gefährtin Teresa von Ávila betont er die Notwendigkeit, dass man sich dem Menschgewordenen zuwenden müsse, um nicht fehlzugehen. Denn wer unser göttliches Gegenüber ist, so arbeitet er klar heraus […] 22, lässt sich nur an Jesus von Nazaret erkennen. Am Tun und Sagen einer historisch Mensch gewordenen Person hat sich Gott offenbart. In Jesus von Nazaret kommt er dem Menschen entgegen, damit er ihn kennen und im Erkennen lieben lerne, in ihm und in der Beziehung zu ihm dem Reich Gottes begegne und dabei ein ›anderer Christus‹ werde, ein Gott an der Seite Gottes. Der Prozess der ›Umformung in Gott hinein‹ wird so ein Prozess der ›Angleichung an den Geliebten‹ […], an den, der – wie bereits die Vätertheologen sagen – ›Mensch wurde, damit der Mensch Gott werde‹.« 23

Für Johannes steht demnach im Mittelpunkt des geistlichen Lebens das leidenschaftliche Interesse an der Person Jesu Christi, an seiner Mystik, an seiner Geschwisterlichkeit, an seinem Reich Gottes.

10.2 Die dunkle Nacht En una noche oscura – »In einer dunklen Nacht«: Mit diesen Worten beginnt Johannes vom Kreuz »das Gedicht, das dem ganzen Werk den Titel gab. Literarische Qualität und tiefe Spiritualität haben es zu einem Klassiker gemacht.« 24 Wie bei allen Hauptwerken bildet auch N Einführung 16. Vor allem in »Aufstieg auf den Berg Karmel« II 22,5–8, 262–266. 23 N Einführung 16. Die Vätertheologen sagten (ausgehend von 2 Petr 1,4: Das Wort ist Fleisch geworden, um uns »Anteil an der göttlichen Natur« zu geben): »Dazu ist das Wort Gottes Mensch geworden und der Sohn Gottes zum Menschensohn, damit der Mensch das Wort in sich aufnehme und, an Kindesstatt angenommen, zum Sohn Gottes werde« (Irenäus, hæer. 3,19,1). Das Wort Gottes »wurde Mensch, damit wir vergöttlicht würden« (Athanasius, inc. 54,3). Thomas von Aquin schrieb schließlich: »Weil uns der eingeborene Sohn Gottes Anteil an seiner Gottheit geben wollte, nahm er unsere Natur an, wurde Mensch, um die Menschen göttlich zu machen« (Thomas v. A., opusc. 57 in festo Corp. Chr. 1) (alles zitiert nach dem Katechismus der Katholischen Kirche, Oldenbourg 1993, n. 460, 148). 24 Johannes vom Kreuz: Die dunkle Nacht. Vollständige Neuübersetzung. Sämtliche Werke Band 1. Herausgegeben und übersetzt von Ulrich Dobhan OCD, Elisabeth Hense, Elisabeth Peeters OCD. Mit einer Einleitung von Ulrich Dobhan OCD und Reinhard Körner OCD, Freiburg i. Br. (11. Auflage) 2013 [= N], aus der Kurzbeschreibung vor Beginn des offiziellen Titels und des Textes. 21 22

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Das Feuer der Liebe

in der »Dunklen Nacht« den Ausgangspunkt ein selbst verfasstes Gedicht, das Johannes dann im weiteren Werk Strophe für Strophe und innerhalb einer Strophe Vers für Vers geistlich-theologisch zu erklären sucht. In der »Dunklen Nacht« umfasst sein Gedicht acht Strophen mit jeweils fünf Versen. Von diesen Strophen kommentiert und interpretiert er aber tatsächlich nur die ersten beiden. Bei der dritten Strophe begnügt er sich mit einigen allgemeinen Hinweisen. Zur vierten bis achten Strophe fehlt jeglicher Kommentar. 25 Den beiden kommentierten Strophen entsprechend unterteilt Johannes das Werk in zwei Bücher. In ihnen beschreibt er den zweifachen geistlichen Läuterungsprozess (purgación oder purificación) des Menschen. Im ersten Buch behandelt er die Nacht der Sinne, den Läuterungsprozess im Sinnenbereich (sentido), im zweiten Buch die Nacht des Geistes (espíritu), den, wie er es ausdrückt, »tiefinnerlichen« 26 Läuterungsprozess. Insgesamt will er bei der Deutung der beiden Gedichtstrophen erklären, »wie sich ein Mensch auf dem geistlichen Weg verhält, um zur vollkommenen Liebeseinung [unión de amor] mit Gott zu gelangen, sofern das in diesem Leben möglich ist« 27. Wörtlich spricht Johannes hier nicht vom Menschen, sondern von der Seele (alma). Wie für Teresa von Avila bezeichnet auch für ihn der Ausdruck »Seele« nicht nur den seelischen Bereich des Menschen, sondern die ganze Person, wobei deren geistliche Dimension hervorgehoben ist. 28 Im Anschluss an die scholastische Tradition unterscheidet er im Menschen drei Bereiche: den Wesenskern (sustancia), den Geist und den Sinnenbereich. Innerhalb des Geistes unterscheidet er dann mit Augustinus wiederum drei Seelenvermögen: das Erkenntnis-, Empfindungs- und Erinnerungsvermögen.

10.2.1 Die Nacht der Sinne »In diese dunkle Nacht beginnen die Menschen hineinzugehen, wenn Gott sie nach und nach aus dem Zustand der Anfänger herausholt – d. h. aus dem Meditieren […] auf dem geistlichen Weg – und anfängt, sie in den Zustand der Fortschreitenden, d. h. der Kontemplativen, zu versetzen. Wenn sie die-

25 26 27 28

Vgl. N Vorwort an den Leser 26, hier insbesondere Anmerkung 5. 2 N 93. Vgl. N Vorwort an den Leser 26. N Titel 25. Vgl. N Anhang (»Mensch bzw. Menschenseele), 214.

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Die dunkle Nacht

sen durchschritten haben, erreichen sie den Zustand der Vollkommenen, d. h. den Zustand der gottgewirkten Einung des Menschen mit Gott.« 29

Unter Anfängern versteht hier Johannes Menschen, »die sich bereits ernsthaft um ein geistliches Leben bemühen« 30. Mit dem Meditieren bzw. der Meditation ist bei ihm wie schon bei Teresa die diskursive Betrachtung von Glaubenswahrheiten, Schriftstellen und ähnlichem gemeint. Bei der Meditation überwiegt noch die nachdenkende und einfühlende Tätigkeit und damit die Leistung des Menschen, während bei der Kontemplation die Leistung des Menschen zurücktritt und die Selbstmitteilung Gottes in den Mittelpunkt rückt. Bei der Kontemplation empfängt der Mensch Johannes zufolge durch liebendes Aufmerken auf Gott die Gnade (gracia) oder Selbstmitteilung Gottes (comunicación de Dios), die ihm ohne sein eigenes Zutun zuteil wird. 31 Dabei werden ihm das Licht, d. h. die Weisheit, und die Wärme, d. h. die Liebe Gottes eingegossen. »Sie läutert und erleuchtet ihn bzw. eint ihn mit Gott. Anfangs wird die Kontemplation als dunkel und schmerzlich erfahren, weil sie dem Menschen sein eigenes Ungeläutertsein vor Augen führt. […] Später erfährt sie der Mensch als ein umfassendes Erkennen und Lieben […]. In der Kontemplation werden dem Menschen Glaube, Hoffnung und Liebe vermittelt, mit denen er die Selbstmitteilung Gottes aufnehmen kann.« 32

Um die Nacht der Sinne besser verständlich zu machen, beschreibt Johannes zunächst einige für Anfänger typische Unvollkommenheiten, die jeweils in geistlicher Hinsicht zu verstehen sind: die Überheblichkeit, die Habgier, die Unzucht, den Zorn, die Genusssucht, den Neid und die Trägheit. 33 Diese Unvollkommenheiten nehmen im Laufe der Nacht der Sinne ab. Während der Mensch in der Nacht der Sinne eine Läuterung durchmacht, indem sich sein Sinnenbereich dem Geist anpasst, macht der Mensch in der Nacht des Geistes eine Läuterung und Entblößung durch, indem sich sein Geist auf die Liebeseinung mit Gott einstellt und vorbereitet. 34 Die Nacht der Sinne ist Johannes zufolge allgemein 1 N 1,1, 31 f. [= 1. Buch der »Dunklen Nacht«; 1. Kapitel; 1. Abschnitt; Seite 31 f.]. 1 N 1,1, 31, Anm. 21. 31 Vgl. N Anhang (»Kontemplation«), 210 f. 32 N Anhang (»Kontemplation«), 211. Zur Gnade und Selbstmitteilung Gottes siehe Kap. 13.2. 33 Vgl. 1 N 2–7. 34 Vgl. 1 N 8,1, 58. 29 30

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Das Feuer der Liebe

und stößt vielen zu. Die mit ihr verbundene Läuterung »ist bitter und fürchterlich für das Reich der Sinne« 35. Denn die Anfänger auf dem Weg zu Gott sind »noch sehr von Unzulänglichkeit, Eigenliebe und Wohlgeschmack durchsetzt.« 36 »Gott aber will sie weiterführen und aus dieser unzulänglichen Liebe zu einer höheren Stufe der Gottesliebe heraufholen und sie von der unzulänglichen Übungsweise im Sinnenbereich und den Gedankengängen befreien […]. Er möchte sie in die Übung des Geistes stellen, wo sie sich ausgiebiger und schon mehr befreit von Unvollkommenheiten mit Gott austauschen können.« 37

Deshalb mutet er ihnen starke Trockenheit und Dunkelheit zu. »Gott lässt sie«, wie Johannes sagt, »in solcher Trockenheit zurück, dass sie in geistlichen Dingen und guten Übungen […] nicht nur keinen Saft und Geschmack mehr finden, sondern im Gegenteil in diesen Dingen Unbehagen und Bitterkeit empfinden.« 38 Und er lässt sie »so sehr im Dunkeln, dass sie nicht wissen, wohin sie mit ihren Vorstellungen und Gedankengängen gehen sollen« 39. Für Johannes gibt es drei Kennzeichen, mittels deren sich die läuternde Trockenheit in der Nacht der Sinne »von Sünden oder Unvollkommenheiten, von Nachlässigkeit und Lauheit, oder von einer schlechten Gemütsverfassung oder einem körperlichen Unwohlsein« 40 unterscheiden lässt. 1. Der Mensch findet in dieser Situation »nicht nur keinen Geschmack und Trost in den göttlichen, sondern genauso wenig in den geschaffenen Dingen« 41. 2. Der Mensch ist ganz bekümmert und denkt voll schmerzlicher Sorge dauernd an Gott, weil er meint, Gott nicht zu dienen, sondern Rückschritte zu machen, wie das auch aus seiner Unfähigkeit, die göttlichen Dinge zu verkosten, zu ersehen ist. 42 3. Der Mensch kann nicht mehr, wie gewohnt, mit der Vorstellungskraft meditieren und diskursiv nachdenken, »mag er auch noch soviel von sich aus tun. Hier beginnt Gott nämlich sich mitzuteilen, 35 36 37 38 39 40 41 42

1 N 8,2, 58. 1 N 8,3, 59. 1 N 8,3, 59. 1 N 8,3, 60. 1 N 8,3, 60. 1 N 9,1, 61. 1 N 9,2, 62. Vgl. 1 N 9,3, 62.

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Die dunkle Nacht

und zwar nicht über den Sinnenbereich […], sondern durch den reinen Geist, in dem es keine aufeinanderfolgenden Gedanken gibt.« 43 Johannes rät Menschen, die sich in einer solche Lage sehen, sich zu trösten, geduldig auszuharren und sich nicht zu grämen. 44 Sie sollen ihre Seele frei von allen Erkenntnissen und Gedanken ausruhen lassen. »Sie sollen sich einzig mit einem liebevollen und ruhigen Aufmerken auf Gott zufriedengeben und unbesorgt und ohne Leistungsdruck sein und ohne ihn verspüren oder verschmecken zu wollen […].« 45 Was die Menschen in der Nacht der Sinne geistlich voranbringt, ist die Kontemplation. Johannes unterscheidet noch nicht, wie das später geschah, zwischen erworbener und eingegossener Kontemplation. 46 Für ihn ist jede Kontemplation per definitionem eingegossen. Aber mit ihm lassen sich zwei Formen der Kontemplation auseinanderhalten: eine läuternde, die beim ungeläuterten Menschen Trockenheit und Leere verursacht, und eine einende, die sich beim Menschen um so deutlicher als Liebe und Fülle äußert, je geläuterter der Mensch bereits ist. 47 Dem Menschen, der sich in der Nacht der Sinne befindet, rät er daher: »Er schaffe Raum, dass er im Geist der Liebe, die diese dunkle und geheime Kontemplation mit sich bringt und die dem Menschen anhaftet, entbrenne und sich entflamme. Kontemplation ist ja nichts anderes als ein geheimes, friedliches und liebendes Einströmen Gottes, sodass er, wenn man ihm Raum gibt, den Menschen im Geist der Liebe entflammt.« 48

Johannes definiert Kontemplation demnach als ein »geheimes, friedliches und liebendes Einströmen Gottes«, das den Menschen »im Geist der Liebe entflammt«. 49 Die Nacht des Sinnes bringt nach Johannes dem Menschen vier Vorteile: 1. Er erlangt die wahre Selbsterkenntnis und nimmt seine Unzulänglichkeit und Armseligkeit wahr, sodass er nun nichts mehr von

43 44 45 46 47 48 49

1 N 9,8, 66. Vgl. 1 N 10,3, 69. 1 N 10,4, 70. Vgl. N 10,6, 71, Anm. 125. Vgl. 1 N 11,1, 73, Anm. 128. 1 N 10,6, 71. 1 N 10,6, 71.

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Das Feuer der Liebe

sich selbst hält, noch vor Selbstzufriedenheit glänzt, weil er weiß, wie wenig er von sich aus zu tun vermag. 50 2. Mit dem Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit und Armseligkeit wächst der Einblick in die Größe und Herrlichkeit Gottes. Deshalb sagte – so Johannes – der heilige Augustinus: »Gib mich mir zu erkennen, Herr, und ich werde dich erkennen«. 51 Der Mensch denkt nun immer an Gott, »voll Furcht und Besorgnis, er könnte auf dem geistlichen Weg zurückfallen« 52. 3. Aus den Trockenheiten und der Leere der Nacht holt sich der Mensch auch geistliche Demut, die dann zur Nächstenliebe führt, »weil er die Nächsten nun schätzt und nicht mehr über sie urteilt wie früher« 53. 4. Schließlich schwinden beim Menschen nach und nach die Unvollkommenheiten und er kommt in allen Tugenden voran, so zum Beispiel in der Geduld und in der Langmut. 54 In der Nacht der Sinne »wächst im Menschen die Sorge um Gott und die brennende Sehnsucht, ihm zu dienen« 55. Gott führt den Menschen gemäß Johannes den Weg der Fortschreitenden und Fortgeschrittenen, den man auch den Weg der Erleuchtung oder der eingegossenen Kontemplation nennt. 56

10.2.2 Die Nacht des Geistes War schon die Nacht der Sinne schlimm genug, so ist nach Johannes die zweite Nacht, die Nacht des Geistes, noch schwerer. Mit ihr kann man nichts vergleichen, »weil sie grauenvoll und schauderhaft für den Geist ist« 57. Nur im puren Glauben (fe) kann der Mensch den schmalen, dunklen, fürchterlichen Weg dieser Nacht gehen. 58 Johannes erklärt auch diese Nacht zunächst als »ein Einströmen Vgl. 1 N 12,2, 76–77. Soliloquia, lib. 2, 1,1: Deus semper idem; noverim me, noverim te. Vgl. 1 N 12,5, 80, Anm. 137. 52 1 N 13,4, 84. 53 1 N 12,8, 81. 54 Vgl. 1 N 12,9, 82; 13,5, 84; vgl. auch 13,6, 85. 55 1 N 13,13, 88. 56 Vgl. 1 N 14,1, 89. 57 1 N 8,2, 58; vgl. 14,1, 89. 58 Vgl. 1 N 11,4, 75; auch 2 N 2,5, 98. 50 51

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Die dunkle Nacht

Gottes in den Menschen, das ihn von seinen gewohnheitsmäßigen natürlichen und geistlichen Unkenntnissen und Unvollkommenheiten läutert« 59. Es ist für ihn die gleiche liebende Weisheit, die den Menschen in der Nacht der Sinne und in der des Geistes erleuchtet und läutert. Im Unterschied zur Nacht der Sinne bereitet die Nacht des Geistes jedoch den Menschen unmittelbar auf die höchste Liebeseinung mit Gott vor, weshalb sie auch viel schmerzlicher und qualvoller ist als jene. Da Gott den Menschen hier auf geheimnisvolle Weise in der Vollkommenheit der Liebe unterrichtet, wird sie auch »mystische Theologie« genannt. Die Nacht des Geistes ist so schmerzhaft und qualvoll, weil es zwischen der göttlichen und der menschlichen Wirklichkeit, die sich hier einen, einen Gegensatz gibt. Vor diesem Hintergrund erläutert Johannes vier Arten des Leids und des Schmerzes dieser Nacht. 1. Bei der Nacht des Geistes stößt in den Menschen das göttliche Licht in den Menschen hinein. Da der Mensch aber noch nicht ganz erhellt ist, bewirkt es in ihm geistliche Nacht (noche) und Finsternis (tiniebla). 60 Diese tun ihm weh, weil zwischen ihm, der noch dunkel und ungeläutert ist, und dem göttlichen Licht, das klar und lauter ist, ein scharfer Gegensatz besteht. Deshalb meint er auch, »Gott sei gegen ihn und er selbst sei zum Gegner Gottes geworden« 61. 2. Auch empfindet der Mensch »wegen der moralischen und geistlichen Schwäche seiner natürlichen Veranlagung« 62 diese Nacht als schmerzhaft. »Da diese göttliche Kontemplation mit einer gewissen Kraft in den Menschen hineinstößt, um ihn allmählich zu stärken und zu beherrschen, fügt sie dem Menschen in seiner Schwäche einen solchen Schmerz zu, dass er fast ohnmächtig wird […].« 63 Es ist, als würden sein Sinn und sein Geist von einer riesigen, unsichtbaren Last niedergedrückt, weshalb er Schmerz und Todesangst aussteht. »Unter der Last dieses Erdrücktwerdens und dieses Gewichtes fühlt sich der Mensch meilenweit davon entfernt, in Gottes Gunst zu stehen […].« 64 Das ist für Johannes um so verwunderlicher, als die Hand Gottes von sich aus so sanft und zärtlich ist, hier aber als so schwer und ablehnend empfunden wird. Dabei rührt Gott den 59 60 61 62 63 64

2 N 5,1, 103. Vgl. 2 N 5,3, 104. 2 N 5,5, 105 f. 2 N 5,6, 106; Hervorh. J. H. 2 N 5,6, 106; Hervorh. J. H. 2 N 5,7, 107.

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Das Feuer der Liebe

Mensch nur an, »und das noch voller Erbarmen. Denn er tut dies ja, um dem Menschen Gnaden zu schenken, und nicht um ihn zu bestrafen!« 65 3. Die dritte Art von Leid und Schmerz, die den Menschen in der Nacht des Geistes quält, rührt vom Gegensatz zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen her, die hier eins werden. 66 Dabei ist das Göttliche die läuternde Kontemplation und das Menschliche das Subjekt, der Mensch. Das Göttliche dringt in den Menschen ein, um ihn zu erneuern und zu vergöttlichen, indem es ihn von allen angewöhnten Neigungen und Eigenschaften des alten Menschen befreit. »So sehr zerstückelt und zerschneidet das Göttliche den Wesenskern des Geistes […], dass der Mensch sich im Angesicht und Anblick seiner Armseligkeiten in einem grausamen geistlichen Tod aufgelöst und zerschmolzen fühlt.« 67 4. »Die vierte Art von Schmerz wird im Menschen durch eine andere einzigartige Eigenschaft dieser dunklen Kontemplation verursacht, nämlich durch ihre Majestät und Größe.« 68 Diese lässt den Menschen ein weiteres ihm eigenes Extrem spüren: seine innerste Armut und Armseligkeit, eine tiefe Leere, Einsamkeit und Verlassenheit. Auf diese Weise wird der Mensch in seinem Wesenskern zunichte und leer. Er selbst wird betrübt und vertilgt, zerstückelt und zermalmt. Auch seine Seelenvermögen sind von der Vernichtung betroffen. Sein Erkenntnisvermögen (entendimiento) wird von seinem Licht, sein Empfindungsvermögen (voluntad) von seinen Neigungen und sein Erinnerungsvermögen (memoria) von seinen Erwägungen und Erkenntnissen geläutert. 69 Die natürlichen Seelenvermögen müssen, wie Johannes sagt, »hinsichtlich der göttlichen Dinge dunkel gemacht werden« 70. Sie müssen in ihrem allzu beschränkten, häufig fehlgeleiteten menschlichen Wirken zunichte werden, damit sich Gott ihnen mitteilen und in ihnen wirken kann. 71 Denn solange sie 2 N 5,7, 107. Vgl. 2 N 6,1, 107. 67 2 N 6,1, 107 f. 68 2 N 6,4, 109; Hervorh. J. H. 69 Vgl. 2 N 8,2, 119. Die Beschreibung, wovon das Erinnerungsvermögen geläutert wird, zeigt, dass wie für Augustinus auch für Johannes vom Kreuz die memoria wesentlich mehr umfasst als bloße Erinnerungen. Siehe dazu Kap. 5.4. 70 2 N 16,4, 158. 71 Vgl. dazu auch N Anhang (»Seelenvermögen«), 216. 65 66

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Die dunkle Nacht

noch nicht geläutert sind, fehlt ihnen die Kraft und die Fähigkeit, »die übernatürlichen Dinge auf die diesen entsprechende, nämlich göttliche Weise zu verschmecken und zu empfangen« 72. Die dunkle Nacht holt den Geist mit seinen Seelenvermögen »allmählich aus seinem normalen und gewöhnlichen Gespür für die Dinge heraus, um ihn zum göttlichen Sinn zu führen« 73. Sie verdunkelt den Geist zwar, »aber«, so Johannes, »nur deshalb, um ihm bezüglich aller Dinge Licht zu spenden«. 74 »Sie macht ihn zwar demütig und erbarmenswürdig, aber doch nur, um ihn zu erheben und aufzurichten; auch macht sie ihn arm und leer von jedem Besitz und jeder natürlichen Neigung, aber nur, damit er sich auf göttliche Weise ausweiten kann, um alle Dinge von oben und alle Dinge von unten zu genießen und zu schmecken; denn nun eignet ihm in allem die umfassende Freiheit des Geistes [libertad de espíritu].« 75

Die Nacht verdunkelt das Innere des Menschen, bis sein Geist demütig und sanft wird und so subtil, einfach und feinfühlig ist, dass er sich einen kann mit dem Geist Gottes. 76 Gott macht »den Menschen«, so fasst Johannes zusammen, »sehr demütig, um ihn danach sehr hoch zu erheben«. 77 Bei der Liebeseinung mit Gott gibt es Johannes zufolge unterschiedliche Stufen – je nachdem welche Liebeseinung Gott dem einzelnen Menschen in seinem Erbarmen gewährt. Dementsprechend fällt auch der Läuterungsprozess mehr oder weniger stark und länger oder kürzer aus. In jedem Fall muss aber die Läuterung, soll sie tatsächlich etwas sein, einige Jahre andauern, mag sie auch noch so stark sein. 78 Für Johannes steht die Läuterung der Nacht des Geistes auf einer Linie mit der Läuterung des Menschen nach dem Tod, die traditionell »Fegfeuer« (purgatorium) genannt wird. D. h., »sofern diese Läuterung nicht bereits in diesem Leben erfolgt, muss sie nach dem Tod stattfinden« 79. Umgekehrt wird ein Mensch, der diesen Läuterungs-

72 73 74 75 76 77 78 79

2 N 16,4, 158. 2 N 9,5, 127. 2 N 9,1, 123. 2 N 9,1, 123. Vgl. 2 N 7,3, 115. 2 N 6,6, 111. Vgl. 2 N 7,4, 115. 2 N 6,6, 112, Anm. 33.

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Das Feuer der Liebe

prozess in diesem Leben durchmacht, nach Johannes jenen Ort des Fegfeuers nicht betreten oder sich nur sehr kurz dort aufhalten. 80 Wie bei Teresa von Avila in ihrem Werk der »Wohnungen der Inneren Burg« dem Gleichnis von der Seidenraupe eine zentrale Bedeutung zukommt, nimmt bei Johannes vom Kreuz im Werk der »Dunklen Nacht« ein Vergleich eine zentrale Stellung ein. Er selbst will durch den Vergleich, der seiner Bedeutung wegen hier in seiner ganzen Länge zitiert wird, den Läuterungsprozess der Nacht des Geistes von Grund auf erklären. »Um das bereits Gesagte und das, was noch zu sagen ist, deutlicher zu machen, muss hier noch folgendes angemerkt werden: Dieses läuternde und liebende Erkennen oder das göttliche Licht, von dem wir hier sprechen, geht bei der Läuterung des Menschen und dessen Vorbereitung auf die vollkommene Einung mit sich genauso um wie das Feuer mit einem Holzscheit, das es in sich überformt. Das erste, was echtes Feuer mit einem Holzscheit macht, ist, es allmählich auszutrocknen, indem es alle Feuchtigkeit heraustreibt und alles Wasser, das es enthält, herausweinen lässt; dann macht es das Holzscheit schwarz, dunkel und hässlich und gibt ihm dazu noch einen üblen Geruch. Durch die allmähliche Austrocknung befördert und treibt es alle hässlichen und dunklen Bestandteile, die dem Holzscheit im Gegensatz zum Feuer anhaften, heraus ans Licht. Und indem das Feuer das Holz allmählich von außen her entflammt und erhitzt, überformt es dieses in sich selbst und macht es so schön wie das Feuer. In dieser Schlussphase gibt es für das Holzstück kein Erleiden und keine Eigenwirkung mehr außer seiner Schwere und Masse, die noch dichter ist als die des Feuers. Es hat jetzt die Eigenschaften und die Wirkungen des Feuers in sich: Es ist trocken und macht trocken, es ist warm und macht warm, es ist licht und macht licht, und es ist viel leichter als vorher, weil das Feuer in ihm diese Eigenschaften und Wirkungen hervorruft.« 81

Der ausführlichen Beschreibung des Gleichnisses lässt Johannes unmittelbar eine anfängliche Deutung folgen. »Genauso müssen wir uns dieses göttliche Liebesfeuer der Kontemplation vorstellen. Bevor es den Menschen mit sich eint und in sich überformt, läutert es ihn zuerst von allen gegensätzlichen Bestandteilen. Es lässt seine hässlichen Züge herauskommen und macht ihn schwarz und dunkel, sodass er sich schlechter vorkommt als vorher und hässlicher und abscheulicher als sonst. Während diese göttliche Läuterung nach und nach alle bösen und

Vgl. 2 N 6,6, 111 f. 2 N 10,1, 131. Beim Vergleich mit dem Holzscheit handelt es sich um ein klassisches Bild bei den geistlichen Schriftstellern (vgl. 2 N 10,1, 131, Anm. 55).

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üblen Launen entfernt, die er nicht bemerkte, da sie sich sehr tief in ihm verwurzelt und eingenistet hatten, sodass er nicht verstand, dass er soviel Böses in sich hatte, werden sie ihm jetzt vor Augen geführt, damit sie ausgetrieben und zunichte gemacht werden. Erleuchtet durch dieses dunkle Licht der Kontemplation, sieht er sie nun sehr deutlich (obwohl er nicht schlechter ist als vorher, weder in sich, noch vor Gott), da er nun in sich sieht, was er vorher nicht sah; von daher hat er deutlich den Eindruck, er sei so schlecht, dass er für Gott nicht nur nicht sehenswert, sondern sogar verabscheuenswert ist und dass Gott ihn bereits tatsächlich verabscheut. Ausgehend von diesem Vergleich können wir nun vieles von dem verstehen, was wir gerade sagen und noch sagen wollen.« 82

Nach dieser grundsätzlichen Deutung arbeitet Johannes sieben konkrete Vergleichspunkte heraus. 83 1. Das Licht und die liebende Weisheit, die sich mit dem Menschen einen und ihn überformen sollen, sind dieselben wie die, die ihn am Anfang läutern und vorbereiten. 2. Die Schmerzen, die der Mensch in der Nacht des Geistes erleidet, sind nicht von der göttlichen Weisheit, sondern durch seine eigene Schwäche und Unvollkommenheit verursacht. 3. »Wenn die Unvollkommenheiten ein Ende nehmen, hat das Leiden für den Menschen auch ein Ende, und es bleibt nur das Genießen.« 84 Dies gilt sowohl in Bezug auf die diesseitige wie in Bezug auf die jenseitige Läuterung. 4. Dadurch dass der Mensch durch das göttliche Liebesfeuer (llama de amor) geläutert und gereinigt wird, wird er immer mehr in Liebe entflammt. »Doch spürt der Mensch diese Liebesentflammung nicht immer, sondern nur ab und zu […].« 85 Dann hat er Gelegenheit, das Gute, das Gott in ihm gewirkt hat, in sich zu bemerken. 5. Nach solchen Erleichterungen leidet der Mensch allerdings noch intensiver und empfindlicher als vorher. Denn das Liebesfeuer verletzt ihn nun in dem, was tiefer in seinem Inneren verzehrt und geläutert werden soll. »Dabei ist das Leiden des Menschen um so innerlicher, subtiler und geistiger, als das Feuer die innerlichsten, feinsten und geistigsten Unvollkommenheiten nach und nach auszehrt, die ganz im Innern verwurzelt sind.«

82 83 84 85

2 N 10,2, 131 f. Siehe dazu 2 N 10,3–10, 132–135. 2 N 10,5, 133. 2 N 10,6, 133.

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6. Deshalb hat der Mensch den Eindruck, alles Gute sei für ihn zu Ende und er sei voller Schlechtigkeiten, denn in dieser Zeit kommt bei ihm nichts als nur Bitterkeit an. Freilich wird er in Zeiten des Aufatmens bereits mehr von innen her genießen, weil die Läuterung bereits tiefer im Inneren stattgefunden hat. 7. »Der Mensch genießt in diesen Zwischenzeiten sehr ausgiebig, so sehr, dass er […] manchmal gar meint, die schlimmen Zeiten würden nicht wieder kommen, obwohl sie doch schon bald wiederkommen werden. Doch wenn er aufmerksam ist, entgeht ihm nicht, dass da noch eine Wurzel geblieben ist […].« 86 Johannes zufolge greift das göttliche Liebesfeuer während der Nacht des Geistes im Menschen nach und nach um sich. 87 Im menschlichen Geist entbrennt dadurch eine starke Liebesleidenschaft und Liebessehnsucht, die Johannes ähnlich wie Teresa von Avila als eine zugleich köstliche und qualvolle Verwundung (herida) kennzeichnet. 88 Die auf diese Weise erwachte Liebe hat ihm zufolge bereits etwas von der Gotteinung (unión con Dios) an sich. Sie ist mehr Tun Gottes als Tun des Menschen und wird vom Menschen passiv aufgenommen. »Trotzdem bleibt für den Menschen hier etwas zu tun, nämlich seine Zustimmung zu geben. Doch ist es einzig und allein die sich ihm einende Liebe Gottes, welche in ihm Wärme und Kraft, Gestimmtheit und Leidenschaft der Liebe einprägt […].« 89 All die Wirkungen des göttlichen Liebesfeuers im Menschen fasst Johannes im Begriff der Liebesentflammung (inflamación de amor) zusammen. Diese spürt der Mensch am Beginn der Nacht noch nicht, weil das Liebesfeuer mit seiner Wirkung noch nicht begonnen hat. 90 Doch mit der Zeit, wenn ihn das Liebesfeuer nach und nach erwärmt, »spürt er recht häufig diese Entflammung und Wärme der Liebe« 91. Bei der Liebesentflammung hält Gott alle Kräfte und Seelenvermögen des Menschen auf sich konzentriert, sodass der Mensch gemäß dem biblischen Liebesgebot beginnt, Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft zu lieben 92. Auch die Seelen86 87 88 89 90 91 92

2 N 10,9, 134. Vgl. 2 N 11,1, 135. Vgl. 2 N 11,6, 138. Siehe dazu Kap. 9.6. 2 N 11,2, 136. Vgl. 2 N 13,5, 147. 2 N 12,5, 143. Dtn 6,5; vgl. Mk 12,30 par.

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vermögen werden demnach bei der Liebesentflammung umgeformt. Das Erkenntnisvermögen, das Empfindungsvermögen und das Erinnerungsvermögen des Menschen werden mit den ihnen entsprechenden göttlichen Vermögen geeint und, wie Johannes kühn ausführt, selbst vergöttlicht. 93 So wird aus dem alten Menschen ein neuer und aus dem irdischen Menschen ein himmlischer. So wie Johannes vom Kreuz den mystischen Aufstieg zu Gott durch die Nacht der Sinne und des Geistes beschreibt, wechseln einander über einen längeren Zeitraum hinweg Phasen des Leidens und der Qual und Phasen der Faszination und des Genusses ab, bis der Weg in die bleibende intuitive Schau Gottes und in die stetige Liebeseinung mit Gott mündet. Seine Schilderung deckt sich demnach unter existentieller Rücksicht mit der zweifachen Beschreibung des Aufstiegs zum Guten und zum Schönen bei Platon. 94 Auch Platon deutet im Höhlengleichnis ein Ende des leidvollen Aufstiegs an, wenn er den Befreiten schließlich an die Oberfläche gelangen lässt, an der nur noch die wahre Sonne des Guten scheint. Der Läuterungsprozess, wie Johannes vom Kreuz ihn wiedergibt, entspricht aber auch existentiell dem, was Plotin und Teresa von Avila je auf ihre Weise über den Aufstieg zum Göttlichen gesagt hatten. 95

10.3 Die lebendige Liebesflamme Das letzte und reifste Hauptwerk des Johannes vom Kreuz ist »Die lebendige Liebesflamme« (Llama de amor viva). Ihm ist ein Gedicht von vier Strophen mit je sechs Versen vorangestellt, die Johannes nacheinander und Vers und für Vers kommentiert, mit Ausnahme der letzten Strophe, die er nur noch kurz behandelt. Sein Werk der »Lebendigen Liebesflamme« lässt sich als Fortsetzung der »Dunklen Nacht« lesen, die wiederum Voraussetzung des ersteren ist. Während Johannes in der »Dunklen Nacht« wie schon zuvor im »Aufstieg auf den Berg Karmel« den spirituellen Weg in den Blick nimmt, wendet er sich in der »Lebendigen Liebesflamme« dem spirituellen Ziel zu. Er wagt sich »an die Beschreibung der tiefsten spirituellen und mysti-

93 94 95

Vgl. 2 N 13,11, 151. Siehe Kap. 1.3. Siehe Kap. 4 und Kap. 9.

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schen Erfahrungen heran, die einem Menschen in diesem Leben zuteil werden können« 96. Es hieße aber Johannes vom Kreuz gründlich missverstehen, würde man meinen, er habe mit der »Lebendigen Liebesflamme« ein esoterisches Werk für eine kleine Gruppe von Eingeweihten oder Auserwählten, also für eine kleine Elite schreiben wollen. Vielmehr dürfte er »von Anfang an damit gerechnet haben, dass dieses Werk innerhalb kurzer Zeit genauso in spirituellen Kreisen kursieren würde wie seine übrigen Schriften auch« 97. Zudem »ist er viel zu sehr Seelsorger, um nur solche Gottsucher ansprechen und bestärken zu wollen, die bereits am Ende des Weges angelangt sind« 98. Auch sein Werk »Die Lebendige Liebesflamme« schrieb er daher bewusst für alle. »Wenn Johannes vom Kreuz über Erfahrungen schreibt, die etwas von der Fülle am Ziel des geistlichen Weges aufleuchten lassen, so deshalb, weil er der Überzeugung ist, dass sie von Gott her eben nicht nur einer Elite, sondern jedem Suchenden zugedacht sind, sofern er sich wirklich auf eine persönliche Gottesbeziehung einlässt und sich von ihm an die Hand nehmen lässt. Es ist, als wollte der Mystagoge seinen Lesern sagen: Der Weg, den ich in meinen übrigen Werken aufgezeigt habe, führt wirklich ans Ziel; ich habe es selbst erprobt. Haben Sie nur Mut, diesen Weg zu gehen!« 99

Johannes möchte zeigen, »wer Gott ist, wie sehr er um den Menschen wirbt und was er ihm zu schenken bereit ist« 100. Er möchte die Leserinnen und Leser seines Werkes ermutigen, sich ganz auf diesen Gott der Liebe einzulassen. Sucht Gott den Menschen doch »noch viel dringlicher« 101 als dieser ihn. Bei der Beschreibung seiner Grenzerfahrungen steht Johannes vor dem Dilemma, einerseits über seine wunderbaren Erfahrungen mit Gott berichten zu wollen, um auch andere für den Weg zu Gott zu begeistern, andererseits aber zu wissen, dass diese Erfahrungen letztlich unaussprechlich sind. 102 Trotz ihrer Unaussprechlichkeit entschied er sich dafür, über sie, soweit es möglich ist, zu sprechen. L Einführung 25 [L = Llama de amor viva; es wird dabei immer auf die zweite Fassung (LB) Bezug genommen]. 97 L Einführung 26. 98 L Einführung 26. 99 L Einführung 26 100 L Einführung 26. 101 L 3,28, 133 f. [= »Llama de amor viva« 3. Strophe, 28. Abschnitt, Seite 133 f.] 102 Vgl. L 2,21, 97. 96

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Der Gottsucher der »Lebendigen Liebesflamme« ist ein Grenzgänger. Er bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Erde und Himmel, zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen der höchsten spirituellen und mystischen Vollendung, die einem Menschen in diesem Leben möglich ist, und der vollen Gleichgestaltung mit Gott (transformación en Dios) im Jenseits. Zu diesem Weg an der Grenze, auf dem der Mensch für das Jenseitige erwacht und Gott zu schauen beginnt, schreibt Johannes: »Es ist daher, sofern ich etwas von dem verstehe, wie sich dieses Erwachen und diese Schau des Menschen vollzieht, so, dass Gott dem Menschen, der wie jedes Geschöpf wesenhaft in ihm weilt, einige der vielen Schleier und Vorhänge, die er vor sich hängen hat, wegnimmt, damit er ihn sehen kann, wie er ist; und dann scheint und leuchtet ein wenig im Halbdunkel – weil nicht alle Schleier weggenommen werden – dieses durch sein von Liebreizen erfülltes Antlitz durch.« 103

Die geistliche Verfassung, die Johannes hier anzielt, übersteigt die bewährten Schemata, deren er sich selber in seinen anderen Werken noch bedient hatte: das Schema von Läuterung – Erleuchtung – Einung, und das Schema Anfänger – Fortgeschrittene – Vollkommene. Hatte Johannes nach eigenen Worten früher 104 vom höchsten Grad an Vollkommenheit gesprochen, »zu dem man in diesem Leben gelangen kann, die die Gleichgestaltung mit Gott ist«, so handeln seine Strophen der »Lebendigen Liebesflamme« »von der noch bewährteren und vervollkommneteren Liebe in ebendieser Verfassung der Gleichgestaltung«. 105 Denn die Liebe kann sich mit der Zeit und durch Übung bewähren und viel mehr »verwesentlichen« 106, d. h. noch wesentlicher werden, bis der Mensch durch das göttliche Liebesfeuer erglüht und entflammt, Funken sprüht und auflodert. Der Mensch ist dann »dem Liebesfeuer schon so sehr gleichgestaltet und in ihm bewährt, dass er mit diesem Feuer nicht nur geeint, sondern es schon zur lebendigen Flamme in ihm geworden ist« 107. Das Hauptthema der »Lebendigen Liebesflamme« ist darum bei Johannes nicht einfach die Erleuchtung oder die Gotteinung, sondern

103 104 105 106 107

L 4,7, 183. Insbesondere im »Geistlichen Gesang«. L Vorwort 3, 46. L Vorwort 3, 46 f. L Vorwort 4, 47.

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die Verherrlichung (glorificatión) des Menschen. 108 »Und das bedeutet nicht weniger, als dass der dreieine Gott dem Menschen Anteil an seinem eigenen trinitarischen Liebesleben gibt.« 109 Die Teilnahme am trinitarischen Leben Gottes bringt Johannes an zwei Stellen besonders deutlich zum Ausdruck. So schreibt er bereits im Vorwort, »dass zu dem, der ihn [Gott] liebt, Vater, Sohn und Heiliger Geist kommen und Wohnung in ihm nehmen (Joh 14,23); das geschehe, indem er [Gott] ihn im Vater, Sohn und Heiligen Geist im Leben Gottes leben und wohnen lässt« 110. Bei der Erklärung der ersten Gedichtstrophe stellt Johannes dann die Teilhabe des Menschen am innergöttlichen Leben so dar: »Und man möge es nicht für unglaubwürdig halten, dass bei einer bereits erprobten, geläuterten, im Feuer der Betrübnisse und Mühsale und vielfältiger Versuchungen geprüften und in der Liebe für treu befundenen Menschenseele in diesem Leben die Erfüllung dessen nicht ausbleibt, was der Sohn Gottes versprochen hat, nämlich dass, wenn jemand ihn liebt, die Heiligste Dreifaltigkeit zu ihm kommen und festen Wohnsitz in ihm nehmen werde (Joh 14,23). Das geschieht, indem sie ihr das Erkenntnisvermögen auf gottgewirkte Weise mit der Weisheit des Sohnes erleuchtet und ihr Empfindungsvermögen im Heiligen Geist erfreut, und der Vater sie macht- und kraftvoll in die abgründige Umarmung seiner Süße hineinzieht.« 111

In der ersten Strophe des Gedichts beschreibt Johannes dann vor allem das Wirken des Heiligen Geistes im Inneren des Menschen. Das Liebesfeuer bzw. die Liebesflamme ist der Heilige Geist selbst. 112 In der zweiten Strophe besingt Johannes das je eigene Wirken aller drei Personen. Es sind, wie er sagt, »die drei Personen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit« – Vater, Sohn und Heiliger Geist – […], die in ihm [dem Menschen] das »göttliche Werk der Gotteinung vollbringen«. 113 In der dritten Strophe lobt Johannes die göttliche Dreifaltigkeit in ihrer ungeteilten Einheit. Sie teilt dem Menschen ihre göttlichen Eigenschaften, wie Stärke, Schönheit, Gerechtigkeit usw., mit. Und der Mensch gibt Gott immer wieder das zurück, was er von ihm empfängt. »Denn da der Mensch hier mit Gott eins geworden ist, ist 108 109 110 111 112 113

Vgl. z. B. L 1,1, 50; auch L 1,30, 76. L Einführung 29. L Vorwort 2, 46. L 1,15, 61. Vgl. z. B. L 1,3, 51; 1,4, 52; 1,9, 56; 1,36, 81. L 2,1, 83.

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er in gewisser Weise Gott durch Teilhabe; und wenn auch nicht so vollkommen, wie im anderen Leben, so ist er doch […] wie Gottes Schatten.« 114 Der Mensch gibt immer wieder Gott an Gott in Gott zurück. Er vermag das nun. »Denn hier sieht der Mensch, dass Gott wirklich sein ist, und dass er ihn als Erbbesitz mit Eigentumsrecht als Gottes Adoptivkind besitzt, aufgrund der Gnade, die Gott dem Menschen erwies, ihm sich selbst zu geben; und dass er Gott als etwas, was ihm gehört, geben und mitteilen kann, wem er aus freiem Willen möchte. Und so gibt ihn die Menschenseele ihrem Liebsten, nämlich Gott selbst, der sich ihr gab, womit sie Gott alles begleicht, was sie ihm schuldet, insofern als sie ihm aus freiem Willen ebenso viel gibt, wie sie von ihm empfängt.« 115

In der vierten Strophe dankt Johannes schließlich Gott für zwei Wirkungen im Inneren des Menschen: für das Erwachen Gottes in der Seele und für das Hauchen Gottes in der Seele. Mit Ersterem meint er die Mitteilung des Sohnes Gottes bei der Gotteinung, mit Letzterem die Mitteilung des Heiligen Geistes. Wie für Teresa bedeutet für Johannes die Gotteinung keinen Rückzug in die reine Innerlichkeit, sondern die volle Integration von »Innenwelt« und »Außenwelt«. »Die Gleichgestaltung mit Gott befähigt den Menschen gerade dazu, die Schöpfung, seine Mit-Welt, mit neuen Augen zu sehen. Eine völlige Umkehrung findet statt: Nun findet der Mystiker nicht mehr Gott in seiner Schöpfung, sondern er sieht die Schöpfung in Gott und mit den Augen Gottes.« 116 Er erwacht wie aus einem tiefen Schlaf und sieht die Wirklichkeit endlich so wie sie wirklich ist, d. h. wie sie vor Gott ist. Diese Umkehr der Sichtweise formuliert Johannes in metaphysischer Ausdrucksweise so: »Und wenn es auch wahr ist, dass der Mensch hier merkt, dass diese Dinge von Gott unterschieden sind, insofern als sie geschaffenes Sein sind und er sie mit ihrer Kraft, Ursache und Lebendigkeit in Gott sieht, so ist doch die Erkenntnis, dass Gott seinem Wesen nach all diese Dinge in unendlichem Überschwang ist, so groß, dass der Mensch die Dinge besser im Wesen Gottes als in ihnen selbst erkennt. Und das ist die große Beseligung dieses Erwachens: die Geschöpfe durch Gott zu erkennen, und nicht Gott durch die Geschöpfe, was bedeutet, die Wirkungen in ihrer Ursache zu erkennen und nicht die Ursache in den

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L 3,78, 174. L 3,78, 174. L Einführung 30 f.

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Wirkungen, was eine Erkenntnis von hinten ist; jene andere Erkenntnis ist aber eine wesenhafte.« 117

Johannes vom Kreuz bestätigt durch mystische Erfahrung, was die Theologie lehrt: Alle Menschen haben durch die Liebe Gottes bereits teil an der Dreieinigkeit Gottes selbst. Sie sind in die Liebe des Vaters und des Sohnes durch den Heiligen Geist, der die Liebe selber ist, einbezogen. Die andere Seite dieser theologischen Wahrheit ist: Der Heilige Geist wohnt jedem Menschen schon in seinem Innern ein. All das ist bereits Wirklichkeit. Wir Menschen müssen uns dessen nur noch durch einen Läuterungsprozess bewusst werden.

10.4 Reflexion: zwei interreligiöse Parallelen 10.4.1 Die buddhistische Lehre vom Leerwerden Johannes vom Kreuz beschreibt die Nacht der Sinne und die Nacht des Geistes als einen Prozess der Läuterung und des Leerwerdens. In der Nacht der Sinne werden die Sinne leer gemacht, sodass sich der Mensch seiner Armseligkeit bewusst wird und demütig wird. In der Nacht des Geistes wird das egoistische Ich oder Selbst vernichtet. Der Mensch macht die äußerste Leere, Einsamkeit und Verlassenheit durch, um, auf diese Weise geläutert, mit dem Geist Gottes geeint werden zu können. Zu diesem Leerwerden in den beiden Nächten gibt es eine Parallele im Buddhismus. 118 Der Buddhismus ist in noch reinerer Form als der Hinduismus eine Erlösungsreligion. Für ihn bedeutet Erlösung letztlich die endgültige Befreiung aus dem leidvollen Dasein des samsara 119 (des Kreislaufs der Wiedergeburten). In seiner Predigt von Benares zeigte Buddha den buddhistischen Erlösungsweg auf. In ihr verkündete er die Vier Edlen Wahrheiten. Gemäß der Ersten Edlen Wahrheit, der »Wahrheit vom Leiden«, ist alles Dasein leidvoll und deshalb unbefriedigend, frustrierend. Das L 4,5, 182. Siehe dazu Johannes Herzgsell SJ: Das Christentum im Konzert der Weltreligionen. Ein Beitrag zum interreligiösen Vergleich und Dialog, Regensburg 2011 [= Herzgsell 2011], Kap. 1.2.3; 2.1.4; 2.2.4; 2.4.3. 119 Sofern nicht eigens als Sprache Pali angegeben ist, stammen in diesem Unterkapitel alle einschlägigen Fremdwörter aus dem Sanskrit. 117 118

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Leid (duhkha; Pali: dukkha) ist neben der Vergänglichkeit und neben dem Nicht-Selbst (anatman; Pali: anatta) ein Daseinsmerkmal des samsara. Weil alles vergänglich ist, ist alles mit Leid behaftet und besitzt nichts ein unvergängliches Selbst. Die Zweite Edle Wahrheit, die »Wahrheit von der Entstehung des Leidens«, deckt als Ursache des Leidens den Durst oder das Begehren (trishna; Pali: tanha) oder das Anhaften auf. Das Begehren bindet die Wesen an den Daseinskreislauf (samsara). Die Dritte Edle Wahrheit, die »Wahrheit von der Überwindung des Leidens«, besagt, dass durch die restlose Aufhebung oder Vernichtung des Begehrens dem Leiden ein Ende gesetzt werden kann. Das Erlöschen der Begierde ist das nirvana (Pali: nibbana). Die Vierte Edle Wahrheit, die »Wahrheit vom Weg zur Überwindung des Leidens«, gibt als Mittel zur Beendigung des Leidens den »Edlen Achtfachen Pfad« an. Dieser Pfad zeigt, wie die grundlegende Unwissenheit (avidya), die zusammen mit dem Begehren hauptsächlich das Leiden verursacht, überwunden werden kann. Gemäß der Zweiten Edlen Wahrheit, der »Wahrheit von der Entstehung des Leidens«, ist das Leiden verursacht durch das Begehren. Im Durst, im Begehren oder im Anhaften besteht die Ursache des Leidens. Des Weiteren ist das Leiden durch die Einbildung eines in sich existierenden substantiellen Ich verursacht. Weil dieses Ich eine Illusion ist, die nur durch ständige Selbst-Stabilisierung aufrechterhalten werden kann, entsteht ein unablässiges Begehren und Anhaften, das diese Illusion eines stabilen Ich kurzzeitig aufrechterhält. Das Ich schafft sich also gleichsam selbst eine (Schein-)Existenz, indem es Dinge und Vorstellungen begehrend auf sich bezieht und daran anhaftet. Weil aber alle Dinge in Veränderung begriffen sind, gelingt diese Stabilisierung nicht wirklich. Dadurch wird das eingebildete Ich bedroht und reagiert wegen des frustrierten Begehrens mit Hass gegenüber den Dingen und Personen, die es nicht besitzen kann. Die Dinge und Personen werden demzufolge nicht wahrgenommen als das, was sie sind, sondern in der egozentrischen Projektion des Begehrens bzw. des Hasses. Überwindung des Leidens bedeutet deshalb, diese falsche Wahrnehmung des Ich zu überwinden. Um das Leiden zu überwinden, muss der Mensch also vorrangig die falsche Wahrnehmung des substantiellen Ich und in diesem Sinn die Unwissenheit überwinden. Ist sie überwunden, schwinden auch die anderen Bewusstseinsverunreinigungen, nämlich die Gier und der Hass. 311 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

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Hat der Mensch sein Bewusstsein geleert und gereinigt, hat er Unwissenheit und Begehren überwunden, hört auch prinzipiell sein Leiden auf und er kann dem Kreislauf der Wiedergeburten und damit der Vergänglichkeit entrinnen. Ein Auslöschen der Bewusstseinsverunreinigungen, ein Sich-Lösen vom Anhaften, ein Entkommen aus den Bedingungen des samsarischen Daseins und damit ein Ende des Leidens ist gemäß der Dritten Edlen Wahrheit, der »Wahrheit von der Überwindung des Leidens« möglich, weil es ein Nicht-Bedingtes – das nirvana – gibt. Da es das nicht-bedingte nirvana gibt, kann der Mensch aus den Bedingungen des leidvollen samsarischen Daseins befreit und erlöst werden. Die Erlösung im Buddhismus beruht somit auf einem zweifachen Leerwerden. Der Mensch soll zum einen frei werden von seinem Begehren der Dinge, von seinem Anhaften an ihnen, und er soll sich zum anderen von seiner egoistischen Ich-Vorstellung lösen, um so die Unwissenheit zu überwinden und zum wahren Selbst zu gelangen. Diesem zweifachen Leerwerden lässt sich bei Johannes vom Kreuz die Nacht der Sinne und die Nacht des Geistes zuordnen. In der Nacht der Sinne soll der Mensch von seinem sinnlichen Begehren und Anhaften erlöst werden. In der Nacht des Geistes soll sein egoistisches Ich vernichtet werden, damit er zu seinem wahren Selbst finden kann. Wie beim Buddhismus ein solcher Prozess des Leerwerdens und der Läuterung nur in der Kraft des nirvana möglich ist, ist bei Johannes vom Kreuz die zweifache »Entleerung«, Vernichtung und Läuterung nur in der Kraft des göttlichen Liebesfeuers möglich. 120

120 Eine Parallele zur Lehre von der dunklen Nacht bei Johannes wäre beispielsweise auch die Lehre von der »Entwerdung« im Sufismus, d. h. in der islamischen Mystik. »Der Mystiker beseitigt [hier] alles, was zwischen ihm und Gott liegt: die Welt, die Gesellschaft der Menschen, vor allem aber sich selbst, und alle seine Eigenschaften, sowie sein eigenes Wollen und Erkennen. Durch dieses bis zum äußersten geführte ›Entwerden‹ kann der Mystiker bis zum verborgenen Geheimnis des göttlichen Wesens vorstoßen und Gott intuitiv und direkt erkennen« (Adel Theodor Khoury: Mystik, in: Adel Theodor Khoury/Ludwig Hagemann/Peter Heine: Islam-Lexikon. A–Z. Geschichten – Ideen – Gestalten (Überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe), Freiburg i. Br. 2006, 459–467, hier 462 r. Sp.).

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Reflexion: zwei interreligiöse Parallelen

10.4.2 Die buddhistische Lehre von der Buddha-Natur Nach Johannes vom Kreuz soll durch die dunkle Nacht aus dem alten ein neuer, aus dem irdischen ein himmlischer Mensch werden. Auch dazu findet sich eine Parallele im Buddhismus. 121 Nach dem Mahayana-Buddhismus besitzen alle Wesen die Buddha-Natur (buddhata), das Wahre Wesen, die »Soheit« (tathata). Die Buddha-Natur bringt alle Erscheinungsformen hervor und macht deren Wesen aus. Sie ist das tatsächliche und undifferenzierte Wesen aller Erscheinungsformen. Von daher haben alle Erscheinungen im Prinzip die gleiche Möglichkeit, die Buddha-Natur zu verwirklichen. Allerdings ist innerhalb des Mahayana umstritten, ob nur Lebewesen oder auch unbelebte Erscheinungsformen die Buddha-Natur besitzen. Alle Lebewesen haben an der universellen Buddha-Natur teil. Der Mahayana-Buddhismus spricht in dem Zusammenhang vom »Buddha [tathagata] im Embryozustand« (tathagatagarbha). Alle Lebewesen sind »Buddhas im Embryozustand«, sind potentielle Buddhas. In ihnen existiert der Samen oder die Potenz zur Buddhaschaft. Deshalb können sie zur völligen Erleuchtung kommen. Da alle Lebewesen oder Wesen an dieser Potenz teilhaben, wird die Erleuchtung universell sein. Die embryonische verborgene Buddha-Natur der Lebewesen ist dabei die persönliche Widerspiegelung des Absoluten. Wie der Begriff der Buddha-Natur so bezeichnet auch der Begriff der Soheit die absolute und wahre Natur, die allen Erscheinungen innewohnt und im Gegensatz zur Erscheinung als solcher steht. Die Erscheinung hat keine Eigennatur (svabhava) und ist nichts anderes als die Buddha-Natur. Im Zen-Buddhismus heißt die Buddha-Natur bussho (jap.). Das eigene wahre Selbst lässt sich nicht von der Buddha-Natur unterscheiden. Aufgrund der Leerheit (shunyata; Pali: sunnata) von allem liegt freilich die Buddha-Natur jenseits aller Beschreibung oder Vorstellung. Ziel des Zen ist es, zur Wahrheit der Buddha-Natur zu erwachen, d. h. sich der eigenen Buddha-Natur, die identisch ist mit der universellen, bewusst zu werden. Die Botschaft des Zen lautet daher: »Du bist bereits ein Buddha«. Der Weise soll sich deshalb nicht eigentlich darum bemühen, irgendein Ziel (den Himmel, die Erleuch121

Siehe dazu Herzgsell 2011, 349–351 (Kap. 2.4.4.3).

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Das Feuer der Liebe

tung) zu erlangen, sondern aufzudecken und zu entdecken, was er bereits ist und schon die ganze Zeit gewesen war, nämlich die absolute Buddha-Natur, welche die eigene Natur und die Natur aller Erscheinungen ist. Bei der Erlösung bzw. der Erleuchtung holt der Mensch nur bewusstseinsmäßig oder existentiell das ein, was er im Grunde schon ist: die absolute Buddha-Natur. Für Buddhisten, zumindest für Buddhisten des Mahayana und hier noch einmal besonders für Zen-Buddhisten, besteht demnach die wahre Selbstfindung des Menschen in der Entdeckung und Aufdeckung der eigenen Buddha-Natur. Ist sich der Buddhist der BuddhaNatur, die seine eigene Natur und die Natur aller Wesen ist, bewusst geworden und hat er sie in diesem Sinn »verwirklicht«, so hat er sein wahres Selbst gefunden und lebt sein wahres Selbst. Bei allen metaphysischen Unterschieden zwischen der buddhistischen Auffassung von der Buddha-Natur und der christlichen Auffassung von Gott zeigt sich hier wieder eine echte Parallele zwischen buddhistischer und christlicher Spiritualität. Durch Realisierung der eigenen Buddha-Natur wird im Buddhismus der Mensch zu einem neuen Menschen umgeformt und gelangt so zu seinem wahren Selbst. Dieser Umformung entspricht bei Johannes vom Kreuz die Umwandlung vom alten in den neuen, vom irdischen in den himmlischen Menschen, wodurch der Mensch sein wahres Selbst findet.

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11. Das vollkommenste Wesen »Exerzitien« (Ignatius) und »Meditationen« (Descartes)

11.1 Einleitung In diesem Kapitel sollen die ignatianische Spiritualität und die cartesische Philosophie, die beide für den Beginn der Neuzeit stehen, miteinander verglichen werden. 1 Das legt sich deshalb nahe, weil René Descartes (1596–1650) am Collège Royal der Jesuiten in La Flèche (Anjou) ausgebildet wurde und neben der scholastischen Philosophie und der neuen Naturwissenschaft auch die ignatianischen Exerzitien kennen lernte. 2 1637 veröffentlichte Descartes anonym den »Discours de la methode« (Erörterung der Methode). Vier Jahre später, 1641, erschien die erste Auflage der »Meditationes de prima philosophia« (Meditationen über die Erste Philosophie). Bereits ein Jahr später, 1642, folgte die zweite Auflage der Meditationen, die neben den bisherigen Einwänden und Erwiderungen zudem noch die Einwände des Jesuiten Bourdin enthielt. 3 1644 brachte Descartes die »Principia philosophiae« (Prinzipien der Philosophie) heraus, in der er seine Metaphysik und Naturphilosophie noch einmal zusammenfasste. Da die »Meditationen« das metaphysische Hauptwerk Descartes’ darstellen, stützt und beschränkt sich hier der Vergleich von cartesischer Phi-

Zu Leben und Werk des Ignatius von Loyola siehe Stefan Kiechle: Ignatius von Loyola. Meister der Spiritualität, Freiburg i. Br. 2001; Cándido de Dalmases SJ: Ignatius von Loyola. Versuch einer Gesamtbiographie, München 2006; Peter Knauer: Hinführung zu Ignatius von Loyola, Freiburg i. Br. 2006. Zu Leben und Werk René Descartes’ siehe Hans Poser: René Descartes. Eine Einführung, Stuttgart 2003. 2 Vgl. dazu und zum Folgenden Harald Schöndorf: René Descartes, in: Harald Schöndorf/Emerich Coreth: Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts (Grundkurs Philosophie 8). 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 2000, 31–65, hier 31 f. 3 Zu den »Meditationen« Descartes’ siehe René Descartes: Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Übersetzt und herausgegeben von Christian Wohlers, Hamburg 2009; Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Descartes’ Meditationen, Frankfurt a. M. 2011. 1

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losophie und ignatianischer Spiritualität, was die Seite Descartes’ angeht, auf dieses Werk. Iñigo López de Loyola (1491–1556), der sich später Ignatius nannte, wurde als Gründer der Gesellschaft Jesu (d. h. des Jesuitenordens) und als Initiator der ignatianischen Spiritualität bekannt. 4 Nach seiner inneren Bekehrung mit 30 Jahren begann er schon bald selber geistliche Übungen zu machen und immer wieder Anweisungen dazu niederzuschreiben. So entstanden die »Geistlichen Übungen« (d. h. das Exerzitienbuch). 5 Noch vor seinem »Geistlichen Tagebuch« 6, vor seinem »Bericht des Pilgers« – der Autobiographie, die er in den letzten Jahren vor seinem Tod diktierte 7 – und vor den zum Teil von ihm selbst erarbeiteten »Satzungen der Gesellschaft Jesu« 8 sind seine »Geistlichen Übungen« 9 der primäre Quellentext der ignatianischen Spiritualität. 10 Deshalb wird sich der Vergleich von cartesischer Philosophie und ignatianischer Spiritualität was die ignatianische Seite angeht auf das Exerzitienbuch konzentrieren. Es wird hier also der Text der »Meditationen« von Descartes mit dem Text der »Geistlichen Übungen« des Ignatius von Loyola verglichen.

Vgl. Peter Knauer: Einleitung, in: Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen nach dem spanischen Autograph übersetzt von Peter Knauer SJ, Würzburg 1998, 9–24, hier 9. Falls nicht eigens anders vermerkt, halte ich mich bei Zitaten aus den »Geistlichen Übungen« (d. h. dem Exerzitienbuch = EB) an die Übersetzung von Peter Knauer. 5 Der von Ignatius selbst korrigierte und deshalb Autograph genannte spanische Text aus dem Jahr 1544 darf als der ursprüngliche ignatianische Gesamttext gelten. Vgl. dazu Peter Knauer: Einleitung, in: Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen nach dem spanischen Autograph übersetzt von Peter Knauer SJ, Würzburg 1998, 9–24, hier 12. 6 Ignatius von Loyola: Das geistliche Tagebuch. Hrsg. von Adolf Haas SJ und Peter Knauer SJ, Freiburg u. a. 1961. 7 Ignatius von Loyola: Der Bericht des Pilgers. Übersetzt und erläutert von Burkhart Schneider. Mit einem Vorwort von Karl Rahner (5. Aufl.), Freiburg u. a. 1986. 8 Satzungen der Gesellschaft Jesu und Ergänzende Normen. Deutsche Übersetzung der im Auftrag der 34. Generalkongregation herausgegebenen lateinischen Ausgabe. Herausgegeben von der Provinzialskonferenz der zentraleuropäischen Assistenz, München 1997. 9 Zur Exerzitienspiritualität siehe Rita Haub/Bernd Paal: Die Exerzitien des heiligen Ignatius. Bilder und Betrachtungen, Würzburg 2006; Willi Lambert: Gotteskontakt. Leben und beten mit den Exerzitien des Ignatius von Loyola, Würzburg 2014. 10 Wichtig für die ignatianische Spiritualität sind außerdem die Briefe des Ignatius. 4

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Absicht und Ziel der »Meditationen« und der »Geistlichen Übungen«

11.2 Absicht und Ziel der »Meditationen« und der »Geistlichen Übungen« Was Descartes mit seinen »Meditationen über die Erste Philosophie« beabsichtigt, verrät er sogleich im Untertitel der zweiten Auflage seines Werkes, indem er es als »Meditationen« kennzeichnet, »in denen die Existenz Gottes und die Verschiedenheit der menschlichen Seele vom Körper bewiesen wird« 11. Dem Untertitel der ersten Auflage war bereits zu entnehmen gewesen, dass neben der Existenz Gottes die Unsterblichkeit der Seele bewiesen werden sollte. 12 Descartes will demnach in seinen Meditationen allein mit Gründen der natürlichen Vernunft, d. h. rein philosophisch beweisen, dass Gott existiert und dass die menschliche Seele sich wirklich vom Körper unterscheidet und im Unterschied zu ihm unsterblich ist. 13 Ignatius gibt den Sinn und das Ziel seiner »Geistlichen Übungen« so an: »Geistliche Übungen, um über sich selbst zu siegen und sein Leben zu ordnen, ohne sich bestimmen zu lassen durch irgendeine Anhänglichkeit, die ungeordnet wäre« 14. Für Ignatius besteht somit das spirituelle Ziel der Exerzitien darin, frei zu werden; frei zu werden von allem, was einen am Dienst für Gott, für Jesus Christus und für den Mitmenschen hindert; frei zu werden im Sinne der Freiheit der Kinder Gottes. 15 Eine solche Freiheit bzw. Befreiung lässt sich nach Ignatius nur durch die Vertiefung des Glaubens an Gott und an Jesus Christus sowie durch eine Teilhabe am Heiligen Geist, der der Geist Jesu Christi und der Kirche ist, erlangen. 16

Descartes, René: Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gerhart Schmidt, Stuttgart 1983, 23. 12 Descartes, René: Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gerhart Schmidt, Stuttgart 1983, 21, 23. 13 Vgl. Descartes’ Grußwort an die Doktoren der Theologischen Fakultät von Paris, in: Descartes, René: Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gerhart Schmidt, Stuttgart 1983, 32–43. 14 EB Nr. 21 [= Exerzitienbuch Nr. 21]. 15 Vgl. dazu das »Suscipe«-Gebet bei der »Betrachtung zur Erlangung der Liebe«, wo es heißt: »Nimm hin, Herr, und empfange meine ganze Freiheit …« (EB Nr. 234). Zitiert nach Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Übertragung und Erklärung von Adolf Haas. Mit einem Vorwort von Karl Rahner, Freiburg i. Br. 1966. 16 Vgl. Peter Knauer: Einleitung, in: Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen nach dem spanischen Autograph übersetzt von Peter Knauer SJ, Würzburg 1998, 9–24, hier 13 f. Vgl. auch EB Nr. 365. 11

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11.3 Die Struktur der »Meditationen« und der »Geistlichen Übungen« Descartes’ Werk besteht aus sechs Meditationen. Für jede Meditation ist ein Tag vorgesehen. 17 In der Ersten Meditation führt Descartes einen universalen methodischen Zweifel ein, indem er begründet, weshalb wir an allem, etwa den Beweisen der Mathematik, besonders aber an der Existenz der materiellen Dinge zweifeln können. 18 Bereits in der Zweiten Meditation findet der umfassende Zweifel ein Ende an der Selbstgewissheit des Ich als eines geistigen Wesens. Solange ich zweifle, solange ich getäuscht werde oder mich täusche, solange ich denke, existiere ich notwendigerweise, und zwar als ein denkendes Ding. In der Dritten Meditation beweist Descartes die Existenz Gottes. Die Vorstellung von Gott als einer unendlichen, absolut vollkommenen Substanz kann in uns, die wir bloß endliche, unvollkommene geistige Substanzen sind, nur von Gott selbst verursacht sein, der deshalb notwendigerweise existiert. In der Vierten Meditation erklärt Descartes, warum wir überhaupt irren können: Weil nämlich unser Wille weiter reicht als unser Verstand und wir deshalb immer wieder urteilen, wo wir kein sicheres Wissen haben. In der Fünften Meditation beweist Descartes noch einmal die Existenz Gottes. Da Gott seinem Wesen nach das vollkommenste Seiende ist, Existenz aber eine Vollkommenheit darstellt, gehört zum Wesen Gottes selbst die Existenz, d. h. existiert Gott notwendigerweise. Existiert aber ein allmächtiger und gütiger Gott, so haben wir allen Grund, die klaren und deutlichen Erkenntnisse in der Arithmetik und der Geometrie für gewiss zu halten.

Vgl. M 2 Nr. 1 [= Zweite Meditation Nr. 1]. Zeitlich würden die sechs Tage der »Meditationen« bei Descartes in etwa den »fünf bis acht oder zehn Tage[n]« der alljährlichen (»kleinen«) Exerzitien entsprechen, die es neben den »Großen« 30-tägigen Exerzitien gibt (Peter Knauer: Einleitung, in: Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen nach dem spanischen Autograph übersetzt von Peter Knauer SJ, Würzburg 1998, 9–24, hier 19). 18 Vgl. Descartes, René: Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gerhart Schmidt, Stuttgart 1983, »Übersicht der folgenden sechs Meditationen«, 53–61, hier 53. 17

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Die Struktur der »Meditationen« und der »Geistlichen Übungen«

Da unsere Sinneswahrnehmungen, so argumentiert Descartes in der Sechsten Meditation, nicht unserer Willkür unterliegen, haben wir schließlich auch allen Grund anzunehmen, dass es Körper außerhalb unserer selbst gibt und wir selber einen Körper besitzen, der sich als ausgedehntes, teilbares Ding von unserem geistigen Ich als denkendem, unteilbaren Ding unterscheidet, aber »mit ihm [auch] ein einheitliches Ganzes bildet« 19. Die »Geistlichen Übungen« des Ignatius bestehen aus Vier thematischen Wochen, von denen – zumindest bei den ursprünglichen sogenannten »Großen Exerzitien« – jede etwa eine Woche dauert, sodass die Exerzitien insgesamt 30 Tage in Anspruch nehmen. 20 Die Länge der einzelnen Wochen ist jeweils der Exerzitantin oder dem Exerzitanten individuell anzupassen. Unter »Geistlichen Übungen« versteht Ignatius »jede Weise, das Gewissen zu erforschen, sich zu besinnen, zu betrachten, mündlich und geistig zu beten, und andere geistliche Betätigungen« 21. Die Erste Woche ist ganz der Erwägung und Betrachtung der eigenen Sünden und der eigenen Erlösungsbedürftigkeit gewidmet. 22 In der Zweiten Woche steht die Geburt Jesu Christi, sein verborgenes Leben in Nazaret und sein öffentliches Wirken bis zum Palmsonntag im Mittelpunkt. Die Dritte Woche hat das Leiden Jesu Christi zum Thema. In der Vierten Woche wird schließlich die Auferstehung und die Himmelfahrt Jesu Christi meditiert. Ignatius stellt an den Beginn der Ersten Exerzitienwoche das sogenannte »Prinzip und Fundament«, in dem er den Sinn des menschlichen Lebens darlegt: »Der Mensch ist geschaffen, um Gott unseren Herrn zu loben, ihm Ehrfurcht zu erweisen und ihm zu dienen und mittels dessen seine Seele zu retten […].« 23 In der Praxis der Exerzitien nimmt dieser Vorspann oft großen thematischen und zeitlichen Raum ein, sodass man beinahe von einer eigenständigen Einheit vor Descartes, René: Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gerhart Schmidt, Stuttgart 1983, »Übersicht der folgenden sechs Meditationen«, 53–61, hier 59. 20 Vgl. EB Nr. 4. 21 EB Nr. 1. 22 Vgl. zum Folgenden auch Peter Knauer: Einleitung, in: Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen nach dem spanischen Autograph übersetzt von Peter Knauer SJ, Würzburg 1998, 9–24, hier 15. 23 EB Nr. 23. 19

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der Ersten Exerzitienwoche sprechen könnte. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass in der Praxis auch der Ausklang der Exerzitien in der sogenannten »Betrachtung zur Erlangung der Liebe« 24 gern und bisweilen erheblich ausgedehnt wird, ergeben sich sechs thematische Einheiten der ignatianischen Exerzitien, denen dann in gewissem Sinn die sechs Meditationen Descartes’ entsprechen würden. Diese mögliche strukturelle oder formale Parallele sollte jedoch nicht überbewertet werden. Sehr auffällig hingegen ist in der Tat, dass Descartes seine philosophischen Überlegungen und Gedankengänge »Meditationen« (lat. meditationes) nennt. Diese Bezeichnung war in der Philosophie bis dahin ganz unüblich. Die Gedankengänge sollen nicht nur intellektuell nachvollzogen, sondern betrachtet, erwogen und existentiell verinnerlicht werden, wie die fünf täglichen Übungen der Kontemplation (Betrachtung) oder Meditation (Besinnung) 25 in den ignatianischen Exerzitien nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Gemüt 26 und mit den Sinnen 27, mit dem ganzen Körper 28 und mit der ganzen Existenz vollzogen werden sollen, um den ganzen Menschen anzusprechen und zu verändern. Bekannt ist in dem Zusammenhang die Feststellung des Ignatius: »Denn nicht das viele Wissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Innerlich-dieDinge-Verspüren-und-Schmecken.« 29 Die Meditationen sollen und wollen bei Descartes wie bei Ignatius existentiell erschüttern. Wie sehr ihn der universale Zweifel in der Ersten Meditation persönlich erschüttert hat, schildert Descartes am Beginn der Zweiten Meditation: »Die gestrige Meditation hat mich in so mächtige Zweifel gestürzt, dass ich sie nicht mehr loswerden kann; und doch sehe ich keinen Weg zu ihrer Lösung. Mir ist, als wäre ich unversehens in einen tiefen Strudel geraten und würde so herumgewirbelt, dass ich auf dem Grund nicht Fuß fassen, aber auch nicht zur Oberfläche emporschwimmen kann. Doch ich will den

EB Nrn. 230–237. Zitiert nach Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Übertragung und Erklärung von Adolf Haas. Mit einem Vorwort von Karl Rahner, Freiburg i. Br. 1966. 25 Vgl. z. B. EB Nrn. 12, 77. 26 Vgl. z. B. EB Nrn. 48, 55. 27 Vgl. z. B. EB Nrn. 65–70. 28 Vgl. z. B. EB Nrn. 76, 89, 252. 29 EB Nr. 2. 24

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Die einzelnen Meditationen

Mut nicht sinken lassen und noch einmal denselben Weg versuchen, den ich gestern gegangen war […].« 30

Der Meditierende soll sich in der Ersten Meditation Descartes’ vom Zweifel existentiell betreffen lassen, wie sich der Meditierende in der Ersten Exerzitienwoche von seiner Sünde existentiell betreffen lassen und darüber Reue und Schmerz empfinden sowie Tränen vergießen soll. 31 An der jeweils angezielten existentiellen Erschütterung oder Betroffenheit wird ein äußerst wichtiges psychologisches Prinzip beider Werke deutlich. Die Teile bauen jeweils im vollen Sinn des Wortes aufeinander auf. Nur wer in der Ersten philosophischen Meditation bei Descartes den Zweifel existentiell wirklich erlebt hat, kann in der Zweiten Meditation die existentielle Erleichterung über die Ich-Gewissheit und in der Dritten Meditation die existentielle Erleichterung und Freude über die Gottesgewissheit erleben, um schließlich vom umfassenden Zweifel nach und nach ganz befreit zu werden. Nur wer in der Ersten geistlichen Exerzitienwoche die Erschütterung über seine Sünden existentiell durchlitten hat, kann sich in der Zweiten Woche ganz dem Leben Jesu zuwenden. Und nur wer in der Dritten Woche die Qual und die Pein Jesu mitgelitten hat, kann dann mit Christus in der Vierten Woche in den Osterjubel ausbrechen. Nur wenn das Ziel einer Einheit wenigstens im Großen und Ganzen erreicht worden ist, ist es sinnvoll zur nächsten Einheit weiterzugehen. In dem Sinn bauen die Meditationen bei Descartes psychologischphilosophisch so streng aufeinander auf, wie es die Exerzitienwochen bei Ignatius psychologisch-geistlich tun.

11.4 Die einzelnen Meditationen 11.4.1 Die Erste Meditation In der Ersten Meditation beginnt Descartes 32 an allem zu zweifeln, was nicht absolut gewiss ist, um zu einem sicheren, unbezweifelbaren Fundament der Erkenntnis, des Wissens und der Wissenschaften zu M 2 Nr. 1. Vgl. z. B. EB Nr. 4. 32 Genauer gesagt der Ich-Autor im Text; ich werde aber weiterhin von Descartes reden. 30 31

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gelangen. Als erstes lässt sich an der Existenz 33 und an den Eigenschaften 34 der materiellen Dinge zweifeln. So räumt Descartes in der Sechsten Meditation ein, sich bei der sinnlichen Wahrnehmung von Türmen, »die von ferne rund aussahen, von nahem viereckig« 35, und von Statuen, die sich von unten gesehen gar nicht groß ausnahmen, aber aus der Nähe als sehr groß und mächtig erwiesen 36, getäuscht zu haben. Als nächstes lässt sich an der Existenz und den Eigenschaften des eigenen Körpers zweifeln. Wiederum in der Sechsten Meditation weist Descartes auf das Phänomen des Phantomschmerzes hin. 37 Leute, denen man ein Bein oder einen Arm abgenommen hat, können Schmerzen an der Stelle des fehlenden Körperteils empfinden. Wir können uns folglich – so der Schluss Descartes’ – nicht nur bei äußeren, sondern auch bei inneren Sinneseindrücken täuschen. 38 Auch könnte ich meinen Körper mit all seinen Eigenschaften sowie die ganze Außenwelt träumen. Alles, was ich wachend zu empfinden glaube, könnte ich auch im Schlaf, im Traum erleben. 39 Alle Wissenschaften, die von der Betrachtung der Körper abhängen – wie die Physik, die Astronomie und die Medizin – könnten von daher auf einem grundsätzlichen Irrtum hinsichtlich der Ausdehnung, der Gestalt, der Quantität, der Qualität, des Ortes und der Zeit der Körper beruhen. 40 Schließlich lässt sich auch an scheinbar so sicheren Wissenschaften wie der Arithmetik und der Geometrie zweifeln. Denn es könnte uns Gott, der uns geschaffen hat und alles vermag, etwa die irrigen Überzeugungen, 2 und 3 ergäben zusammen 5 oder ein Quadrat habe nicht mehr als vier Seiten, sowie die fälschlichen Überzeugungen, es gebe einen Himmel und eine Erde und viele Körper, einflößen. 41 Als allmächtiger Schöpfer könnte er alles so eingerichtet haben, dass wir in allem irren. Und täuscht er uns nicht in allem, da er als gütig gilt 42, so könnte uns doch »ein ebenso böser und listiger Geist« 43 (lat. genius 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Vgl. M 2 Nr. 2. Vgl. M 6 Nr. 7. M 6 Nr. 7. Vgl. M 6 Nr. 7. Vgl. M 6 Nr. 7. Vgl. M 1 Nr. 3; M 6 Nr. 7. Vgl. M 1 Nrn. 5 f.; M 2 Nr. 6; M 6 Nr. 7. Vgl. M 1 Nr. 7. Vgl. M 1 Nrn. 9 f.; M 2 Nr. 3; M 3 Nr. 4; M 6 Nr. 7. Vgl. M 1 Nrn. 9, 12. M 1 Nr. 12.

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Die einzelnen Meditationen

malignus), ein höchst mächtiger und höchst schlauer Betrüger 44 (deceptor summe potens, summe callidus) in allem täuschen. Im Text der Ersten Meditation fallen zwei offenkundige Parallelen zur ignatianischen Exerzitienspiritualität auf. 1. Um alle Meinungen umstürzen zu können und ein sicheres Fundament des Wissens zu erreichen, sucht Descartes die Einsamkeit. Es trifft sich »sehr günstig«, schreibt er, »dass ich heute meinen Geist von allen Sorgen losgelöst und mir ungestörte Muße verschafft habe. Ich ziehe mich also in die Einsamkeit zurück und will ernst und frei diesen allgemeinen Umsturz aller meiner Meinungen vornehmen.« 45 Diese äußere Situation des Rückzugs und der Einsamkeit erinnert genau an die Situation, die Ignatius für die Exerzitien empfiehlt: Der Exerzitant wird in den »Geistlichen Übungen« »um so mehr Nutzen ziehen«, so schreibt Ignatius, »je mehr er sich von allen Freunden und Bekannten und von jeder irdischen Sorge absondert; etwa indem er aus dem Haus zieht, wo er weilte, und ein anderes Haus oder Zimmer nimmt, um darin so geheim wie möglich zu wohnen […]« 46. Ignatius legt eine solche Einsamkeit vor allem nahe, weil der Exerzitant sich dann umso leichter Gott nähern und von ihm Gnaden empfangen kann. 47 2. Descartes nimmt an, »ein ebenso böser wie mächtiger und listiger Geist« 48 könnte all sein Bestreben darauf richten, ihn zu täuschen. Genau vor solch einem »bösen Geist« 49 bzw. »bösen Engel« 50, der danach strebt, den Exerzitanten zu täuschen, warnt Ignatius in den Regeln zur Unterscheidung der Geister für die Zweite Woche. 51 Diesem Geist ist es eigen, die Gestalt eines Lichtengels, d. h. eines guten Engels anzunehmen und die Seele durch Täuschungen zu seinen schlechten Absichten zu ziehen. 52 Ignatius gibt dem Exerzitanten in diesen Regeln Kriterien an die Hand, wie er diese Täuschungen durchschauen und sich davor hüten kann. Letztlich ist die Täuschung 44 45 46 47 48 49 50 51 52

Vgl. M 2 Nrn. 3, 6. M 1 Nr. 1. Vgl. auch M 3 Nr. 1. EB Nr. 20. Vgl. EB Nr. 20. M 1 Nr. 12. EB Nr. 336. EB Nr. 332. Vgl. EB Nrn. 328–336. Vgl. EB Nrn. 332, 334.

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durch den bösen Geist am ehesten und sichersten durch jenen Trost zu überwinden, den nur die Gegenwart Gottes selbst der Seele zu schenken vermag. 53 Die ignatianische Unterscheidung der Geister spiegelt sich auch in einem Abschnitt der Dritten Meditation wider. Dort unterscheidet Descartes zwischen drei Arten von Vorstellungen im Bewusstsein, indem er nach ihrer Ursache fragt. 54 Die einen sind angeboren, d. h. von Gott verursacht – so die Vorstellung vom eigenen geistigen Ich und die Vorstellung von Gott. Die anderen sind selbst verursacht, so etwa Phantasievorstellungen, die man selber bildet. Die dritten sind von außen verursacht, so die Sinneswahrnehmungen von äußeren materiellen Dingen. Ignatius hatte bei der Unterscheidung der Geister für die Zweite Woche zwischen Trostempfindungen, die von Gott verursacht sind 55, Trostempfindungen, die vom guten Engel verursacht sind 56, und sozusagen »falschen« Trostempfindungen, die vom bösen Engel stammen 57, unterschieden. Wie der Trost von Gott bei Ignatius als das Fundament aller Trosterfahrungen gelten darf, darf die angeborene Vorstellung vom eigenen Ich und von Gott bei Descartes als das Fundament aller übrigen Vorstellungen angesehen werden.

11.4.2 Die Zweite Meditation Gibt es, so fragt Descartes in der Zweiten Meditation, etwas von allem bisher Angezweifelten – also meinen Sinnen, meinem Körper und allen übrigen Körpern – Verschiedenes, das in keiner Weise angezweifelt werden kann? 58 – Die Antwort kann nur Ja lauten. Denn selbst wenn Gott oder ein bösartiger Betrügergeist mich ständig täuscht, muss es mich zumindest als Getäuschten geben. 59 Selbst wenn ich alles träumen oder mir einbilden sollte, muss es mich irgendwie als Träumenden geben. Und selbst wenn ich an allem zweifle, muss es mich in irgendeiner Weise als den Zweifelnden geben. 53 54 55 56 57 58 59

Vgl. EB Nr. 330. Vgl. M 3 Nr. 7. Vgl. EB Nr. 330. Vgl. EB Nr. 331. Vgl. EB Nr. 331. Vgl. M 2 Nr. 3. Vgl. M 2 Nrn. 3, 9.

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Die einzelnen Meditationen

Doch wer ist dieses Ich, das da getäuscht wird oder sich täuscht, das da alles träumt oder bezweifelt? – so fragt Descartes weiter. Das kann nur ich sein, insofern ich denke und Bewusstsein (cogitatio) habe, sofern ich Geist (mens) bzw. Seele (animus) bzw. Verstand (intellectus) bzw. Vernunft (ratio) bin. 60 Daran dass ich denke und Bewusstsein habe, merke ich, dass ich sicher bin, sicher existiere. 61 Solange ich denke, ist demnach der Satz »Ich bin«, »Ich existiere« absolut gewiss 62 und notwendig wahr 63. Damit ist ein erstes unerschütterliches Fundament in der Erkenntnis erreicht, das über jeden Zweifel erhaben ist. Es muss mich zumindest als denkendes Ding (res cogitans) geben, als ein »Ding, das«, wie Descartes ausführt, »zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will, das auch bildlich vorstellt und empfindet«. 64 Die Erkenntnis, dass ich als geistiges Wesen existiere, ist für mich viel wahrer und gewisser, viel deutlicher und evidenter als die Erkenntnis, dass es bestimmte Körper außerhalb meiner und meinen eigenen Körper gibt. 65 Mit der Ich-Gewissheit ist in Descartes’ Zweiter Meditation ein erstes Prinzip und Fundament der Erkenntnis erreicht, das selbst über allem Zweifel steht und von dem her sich schließlich dann der universale methodische Zweifel wieder rückgängig machen lässt. In diesem Prinzip und Fundament hallt zumindest psychologisch und existentiell das Prinzip und Fundament der Exerzitien nach. 66 Dabei ist jedoch zu beachten, dass Ignatius zwar dieses Prinzip und Fundament gewissermaßen als theologisch-spirituelle Voraussetzung den dann folgenden Betrachtungen von der Ersten bis zur Vierten Woche voranstellt, dieses Prinzip und Fundament aber erst im Laufe der Exerzitien existentiell ganz eingeholt werden kann und soll. Dem Exerzitanten wird erst im Verlauf der »Geistlichen Übungen« der Sinn seines Lebens, nämlich Gott zu loben und zu dienen, um so das eigene Heil zu erlangen, konkret und ganz persönlich aufgehen. Eine erste Stufe zu diesem Prinzip und Fundament erreicht er in der Ersten

60 61 62 63 64 65 66

Vgl. M 2 Nr. 6. Vgl. M 2 Nr. 3. Vgl. M 2 Nrn. 4, 6; M 3 Nr. 4. Vgl. M 2 Nrn. 3, 6. M 2 Nr. 8. Vgl. M 2 Nr. 6; M 3 Nrn. 1 f. Vgl. M 2 Nrn. 15 f., auch 4. Vgl. EB Nr. 23.

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Woche, indem er sich bei all seiner Sündhaftigkeit der Barmherzigkeit Gottes bewusst wird. Das Gespräch mit dem ans Kreuz gehefteten Christus und Herrn, der für meine Sünden gestorben ist, ist getragen von diesem Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes. 67 Gott hat mir immer schon alle meine Sünden vergeben. Durch seine Barmherzigkeit hat meine Qual und mein Leiden an meinen Sünden ein Ende. Und wie bei Ignatius mit der Gewissheit der Barmherzigkeit Gottes die Sündenqual am Ende der Ersten Woche ein Ende hat, so findet bei Descartes der quälende Zweifel der Ersten Meditation mit der Ich-Gewissheit in der Zweiten Meditation bereits ein Ende. Von nun an kann der spirituelle bzw. philosophische Prozess auf einer anderen Stufe, auf einer höheren Ebene weitergehen.

11.4.3 Die Dritte Meditation In der Dritten Meditation legt Descartes als allgemeine Regel fest, »dass alles das wahr ist, was ich ganz klar und deutlich auffasse« 68. Da aber die metaphysische, wenn auch schwache Möglichkeit besteht, ein Gott könnte uns auch bei den so klaren und deutlichen Erkenntnissen wie der der Arithmetik und der Geometrie täuschen, ist in erster Linie zu untersuchen, ob es überhaupt einen Gott gibt, und falls es ihn gibt, ob er ein Betrüger sein könnte. 69 Zu diesem Zweck wendet sich Descartes den Vorstellungen (ideae) in seinem Bewusstsein zu 70 und stellt fest, dass sich ihm von diesen Vorstellungen die einen als angeboren, andere als von außen Vgl. EB Nr. 53. M 3 Nr. 2. Das Wahrheitskriterium, das Descartes von der Ich-Gewissheit her gewinnt, ist demnach die clara quaedam et distincta perceptio (die klare und deutliche Erfassung). »Was darunter zu verstehen ist, erläutert Descartes in den Meditationen allerdings nicht […]. Offensichtlich ist dieser Ausdruck zu Descartes’ Zeit in der Philosophie geläufig und bedarf für den damaligen Leser eigentlich keiner weiteren Erläuterung. Von der reinen Wortbedeutung her bedeutet ›clare‹ so viel wie ›hell‹ und wird ›obscure‹ (dunkel) entgegengesetzt, meint also ein eindeutig bestimmbares Erfassen von etwas, während ›distincte‹ wörtlich ›unterschieden‹ heißt und im Gegensatz zu ›confuse‹ (verworren) steht, also einen von anderem abgrenzbaren Gehalt meint« (Harald Schöndorf: René Descartes, in: Harald Schöndorf/Emerich Coreth: Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Grundkurs Philosophie 8. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 2000, 31–65, hier 46). 69 Vgl. M 3 Nr. 4. 70 Vgl. M 3 Nrn. 5 f. 67 68

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gekommen und wieder andere als von ihm selbst gebildet darstellen. 71 Zudem kann er in sich zwischen Vorstellungen von bloßen Zustandsweisen, d. h. Akzidenzien, und von Substanzen unterscheiden, wobei letztere mehr »objektive«, d. h. objektbezogene, vorgestellte Realität besitzen und insofern etwas Größeres sind. 72 Noch größer ist die Vorstellung vom höchsten Gott, der ewig, unendlich, allweise, allmächtig und der Schöpfer aller Dinge ist. Denn diese Vorstellung von Gott als unendlicher Substanz enthält wiederum mehr »objektive«, d. h. vorgestellte Realität in sich als die Vorstellungen von endlichen Substanzen. Inhaltlich gesehen findet Descartes in sich Vorstellungen von Gott, von leblosen körperlichen Dingen, von Engeln, von Tieren und von Mitmenschen vor. 73 Durch das natürliche Licht (lumen naturale) der Vernunft offenbaren sich aber nunmehr zwei Prinzipien. Erstens: Jede Bewusstseinsvorstellung muss als Wirkung letztlich von einer wirklichen und nicht nur von einer vorgestellten Ursache hervorgebracht sein. Zweitens: Die wirkende Ursache muss wenigstens ebenso viel »formale«, d. h. wirkliche Realität besitzen, wie die bewirkte Vorstellung an »objektiver«, d. h. vorgestellter Realität enthält. Mit anderen Worten: Die wirkende Ursache muss in ihrer tatsächlichen metaphysischen Realität mindestens so vollkommen sein wie die in der Vorstellung vorgestellte Realität. Nun könnte nach Descartes das eigene Ich als geistiges Wesen ohne Weiteres die Vorstellungen von leblosen Körpern, Engeln, Tieren und Mitmenschen verursacht haben, da das eigene Ich als geistige Substanz metaphysisch mindestens so vollkommen ist wie die vorgestellten Realitäten. Nur die Vorstellung von Gott als einer unendlichen, absolut vollkommenen Substanz kann nicht aus dem eigenen Ich hervorgegangen sein, da dieses Ich selbst nur eine endliche, unvollkommene Substanz ist. Die Vorstellung von Gott kann demzufolge nur vom unendlichen Gott selbst stammen, dessen notwendige Existenz damit bewiesen ist. 74 Mit den Worten Descartes’: »Wir müsVgl. M 3 Nr. 7. Vgl. M 3 Nr. 13 73 Vgl. M 3 Nr. 17. 74 Vgl. M 3 Nrn. 22–24. Zu den Gottesbeweisen in den »Meditationen« siehe Hermann Schrödter: Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott. Zu Stellung, Struktur und Funktion des Gottesbeweises bei Descartes unter Beifügung des lateinischen und französischen Textes der »Meditationes III–V« mit neuer Übersetzung, 71 72

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sen überhaupt den Schluss ziehen, dass daraus allein, dass ich bin und eine Vorstellung des vollkommensten Seienden, d. h. Gottes, in mir ist, sich mit voller Evidenz beweisen lässt, dass Gott auch existiere.« 75 Da die Vorstellung von Gott weder über die Sinne von außen kommen kann noch vom eigenen endlichen Geist herrühren kann, ist sie – wie die Vorstellung vom eigenen geistigen Ich selbst – angeboren. Für Descartes ist die Gottesvorstellung die wahrste, klarste und deutlichste und damit die gewisseste Vorstellung von allen Vorstellungen, noch wahrer und deutlicher als die Vorstellung vom eigenen geistigen Ich. 76 Mit der Gewissheit Gottes ist demnach ein zweites und noch tieferes, genauer gesagt das tiefste Prinzip und Fundament der Erkenntnis erreicht. Da Gott das vollkommenste Wesen ist, kann er unmöglich täuschen oder betrügen. 77 Denn wie das natürliche Licht der Vernunft offenbar macht, entspringt aller Lug und Trug einem Mangel, steckt in allem Betrug und in aller Täuschung etwas von einer moralischen Unvollkommenheit, was mit der absoluten Vollkommenheit Gottes unvereinbar wäre. 78 Mit der Gewissheit der Existenz eines allmächtigen und allgütigen Gottes ist Descartes in der Dritten Meditation zu einem zweiten, noch tiefer gehenden Prinzip und Fundament gelangt. Dieses Fundament kann psychologisch-existentiell als Entsprechung zu dem neuen Fundament gesehen werden, das der Exerzitant in der Zweiten Woche legt. Durch die Gewissheit der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und die Betrachtung des Lebens Jesu Christi gewinnt der Glaube und das geistliche Leben des Exerzitanten eine neue Tiefe. Durch die Vertrautheit mit Jesus Christus verlegt der Exerzitant den Schwerpunkt und Mittelpunkt seines Lebens existentiell von der eigenen Person weg zur Person Jesu Christi hin. Ganz ähnlich verlagert sich in der Dritten Meditation das Fundament des Meditierenden vom eigenen geistigen Ich zu Gott. Von daher und von da an kann der Bewusstseinsprozess in einer neuen Tiefe fortgeführt werden.

Frankfurt a. M. 2001; Rainer Schäfer: Zweifel und Sein. Der Ursprung des modernen Selbstbewusstseins in Descartes’ cogito, Würzburg 2006, 209–272. 75 M 3 Nr. 36. Vgl. M 4 Nr. 1. 76 Vgl. M 3 Nr. 25; M 4 Nr. 1. 77 Vgl. M 4 Nr. 17. 78 Vgl. M 3 Nr. 38; M 4 Nrn. 2, 17.

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11.4.4 Die Vierte Meditation Kann Gott als vollkommenstes Wesen nicht betrügen und nicht täuschen, woher kommt es dann, so fragt Descartes in der Vierten Meditation, dass ich gelegentlich irren und überhaupt irren kann? Eine erste, recht allgemeine metaphysische Antwort darauf lautet nach Descartes: Weil ich selbst, der ich von Gott geschaffen und ganz von ihm abhängig bin 79, gleichsam »ein Mittelding zwischen Gott und Nichts oder dem vollkommensten Sein und dem Nichtsein« 80 bin, also metaphysisch unvollkommen bin, kann ich überhaupt irren. Eine zweite, sehr spezielle erkenntnistheoretische oder anthropologische Antwort heißt nach Descartes: In mir befinden sich zwei ungleichartige Vermögen. Mein Erkenntnisvermögen, d. h. mein Verstand (intellectus) ist – wie auch mein Erinnerungsvermögen und mein Vorstellungsvermögen – »äußerst gering und eng begrenzt« 81. Vieles kann ich grundsätzlich nicht oder nicht genau erkennen. Mein Urteilsvermögen bzw. mein Wahlvermögen, d. h. mein Wille (voluntas) oder meine Freiheit der Willkür (libertas arbitrii), ist hingegen in gewissem Sinn prinzipiell unbeschränkt. Ich kann mir dieses Vermögen gar nicht größer vorstellen, da ich im Prinzip alles beurteilen und bewerten kann, alles tun oder auch nicht tun kann im Sinn von bejahen oder verneinen, erstreben oder meiden kann. 82 Da sich mein im Prinzip unbegrenzter Wille weiter erstreckt als mein eng begrenzter Verstand, kann es immer dann zum Irrtum kommen, sobald ich meinen Willen nicht auf die Reichweite meines Verstandes einschränke, sondern dort noch bewerte, beurteile und will, wo von meinem Verstand her keine klare und deutliche Erkenntnis vorliegt. Um den Irrtum zu vermeiden, schlägt Descartes deshalb vor, nur dann ein Urteil zu fällen oder eine Entscheidung zu treffen, wenn der Verstand eine klare und deutliche Einsicht hat, ansonsten aber den Willen zu zügeln und sich jeden Urteils zu enthalten. 83 Positiv ließe sich dieses Prinzip so formulieren: Bevor ich mich entscheide, muss ich mich

79 80 81 82 83

Vgl. M 4 Nr. 1. M 4 Nr. 4. M 4 Nr. 8. Vgl. M 4 Nr. 8. Vgl. M 4 Nrn. 15, 17.

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möglichst gründlich und umfassend über das informieren, was für die Entscheidung bedeutsam ist oder sein könnte. Auf diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, weshalb für Descartes die eigentliche Freiheit des Menschen nicht in einer indifferenten Wahlfreiheit, also der Freiheit, willkürlich dies oder jenes wählen zu können, besteht, sondern in der Fähigkeit, dem, was als das Wahre oder das Gute oder was als Wille Gottes klar und deutlich erkannt und eingesehen wurde, zuzustimmen. 84 Im Zentrum der Vierten Meditation steht die Freiheit des Menschen. Für Descartes stellt die indifferente Wahlfreiheit, bei der es den Wählenden zu keiner Seite mehr hintreibt als zur anderen, »die niedrigste Stufe der Freiheit« 85 dar, während für ihn die höchste Stufe der Freiheit darin liegt, das Wahre oder Gute oder das Wirken Gottes im eigenen Innersten einzusehen, dadurch ganz eindeutig zu einer Seite der Wahl hinzuneigen und diese Seite dann um so freier zu wählen. Ignatianische Exerzitien sind ursprünglich und eigentlich Wahlexerzitien. Der Exerzitant soll am Ende der Zweiten Woche eine (Lebens-)Entscheidung treffen 86, etwa ob er heiraten oder Priester werden will. 87 Dazu unterscheidet Ignatius drei »Wahlzeiten«, d. h. Weisen, in denen sich die Entscheidung vollziehen kann. 88 Bei der ersten Weise bewegt und zieht Gott den Willen der Seele so stark an, dass sie dem Gezeigten folgt, ohne zu zweifeln noch zweifeln zu können. 89 Bei der zweiten Weise hat der Exerzitant aus der Erfahrung von Tröstungen und Trostlosigkeiten 90 und aus der Erfahrung der Unterscheidung verschiedener Geister so viel Klarheit und ErkenntVgl. M 4 Nr. 8. M4 Nr. 8. 86 Vgl. EB Nrn. 169–188. 87 Vgl. EB Nr. 171. 88 Vgl. EB Nrn. 175–188. 89 Vgl. EB Nr. 175; vgl. auch Nrn. 330, 336. 90 Vgl. EB Nrn. 316 f. Geistlichen Trost charakterisiert Ignatius so: »Ich nenne es Trost, wenn in der Seele eine innere Bewegung verursacht wird, durch welche die Seele in Liebe zu ihrem Schöpfer und Herrn zu entbrennen beginnt […] Desgleichen, wenn einer Tränen vergießt, die ihn zur Liebe Seines Herrn bewegen […] Schließlich nenne ich Trost jeglichen Zuwachs an Hoffnung, Glaube und Liebe und jede innere Freude, die zu den himmlischen Dingen und zum eigenen Seelenheil aufruft und hinzieht, indem sie der Seele Ruhe und Frieden in ihrem Schöpfer und Herrn spendet« (EB Nr. 316; zitiert nach Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Übertragung und Erklärung von Adolf Haas, Freiburg i. Br. 1966, 104 f.). 84 85

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nis gewonnen, dass es ihn eindeutig zu einer Seite der Wahl zieht. 91 Bei der dritten Weise fühlt sich der Exerzitant geistlich weder zu der einen noch zu der anderen Seite hingezogen, weshalb er sich durch natürliches vernunftmäßiges Abwägen der Gründe für eine Seite entscheidet. 92 Descartes stuft die dritte »Wahlzeit« der Exerzitien als die niedrigste Stufe der Freiheit ein, während er die zweite und vor allem die erste »Wahlzeit« als eine höhere bzw. die höchste Stufe der Freiheit betrachtet. Je stärker Gott einen Menschen zu einer bestimmten Entscheidung drängt, desto größer ist dessen innere Freiheit, sofern er diesem Drängen Gottes folgt. Im »Suscipe«-Gebet bietet der Exerzitant daher Gott am Ende der Exerzitien seine ganze Freiheit an: »Nimm hin, Herr, und empfange meine ganze Freiheit, mein Gedächtnis, meinen Verstand und meinen ganzen Willen, meine ganze Habe und meinen Besitz; Du hast es mir gegeben, Dir, Herr, gebe ich es zurück; alles ist Dein, verfüge nach Deinem ganzen Willen; gib mir Deine Liebe und Gnade, das ist mir genug.« 93

11.4.5 Die Fünfte Meditation In der Fünften Meditation beweist Descartes noch einmal die Existenz Gottes. Zwar brauche ich nicht notwendig auf den Gedanken Gottes zu kommen, aber wenn ich an ihn als das erste und höchste Seiende denke, muss ich ihm notwendig alle Vollkommenheiten zuschreiben. 94 Erkenne ich nun, dass auch das Sein, d. h. das Dasein, die Existenz, eine Vollkommenheit ist, bleibt nur der Schluss, dass das erste und höchste Seiende existiert. Der Syllogismus Descartes’ ist demnach denkbar einfach 95: (1) Gott ist das vollkommenste Seiende (ens summe perfectum). (2) Sein (existentia) ist eine Vollkommenheit (perfectio). (3) Also existiert Gott mit Notwendigkeit. Vgl. EB Nr. 176. Vgl. EB Nrn. 177–188. 93 EB Nr. 234 (zitiert nach Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Übertragung und Erklärung von Adolf Haas. Mit einem Vorwort von Karl Rahner, Freiburg i. Br. 1966). Dieses Gebet gehört zu der die Exerzitien abschließenden »Betrachtung zur Erlangung der Liebe« (EB Nrn. 230–237). 94 Vgl. M 5 Nr. 11. 95 Vgl. M 5 Nr. 8. 91 92

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Die Nichtexistenz Gottes lässt sich nicht denken. Bei ihm – und ihm allein – kann die Existenz (existentia) nicht vom Wesen (essentia) getrennt werden, gehört die Existenz zum Wesen selbst. 96 Aus der Erkenntnis, dass Gott als vollkommenstes Seiendes notwendig existiert und nicht betrügen kann und dass alles von ihm, dem Schöpfer, notwendig abhängt, folgt nun nach Descartes, dass alles, was ich klar und deutlich erfasse, insofern es ohne Zweifel von Gott bewirkt ist 97, auch wirklich wahr ist. 98 Denn von der Erkenntnis Gottes hängen die Gewissheit und die Wahrheit alles weiteren Wissens ab. 99 Von daher dürfen zunächst einmal alle Sätze der Arithmetik und der Geometrie, ganz allgemein der reinen, abstrakten Mathematik, die wir klar und deutlich erfassen, als wahr und gewiss gelten. 100 Sind das Dasein und die Allmacht und die Allgüte Gottes gewiss, so sind auch alle Sätze der Mathematik gewiss. Der erneute Gottesbeweis in der Fünften Meditation stellt inhaltlich in gewissem Sinn eine überflüssige Wiederholung dar, im Ganzen des existentiellen Bewusstseinsprozesses dagegen eine erneute Vertiefung. Von nun an kann der radikale Zweifel radikal ausgeräumt werden. Diese erneute Vertiefung lässt sich psychologischexistentiell vielleicht als Entsprechung zur Gewissheit der Auferstehung Jesu Christi in der Vierten Exerzitienwoche auffassen. Wie durch die Begegnung der Apostel mit dem Auferstandenen für die Apostel selbst alle Zweifel behoben waren, dass Jesus Christus beim Vater ein himmlisches Leben weiterlebt und der Sohn Gottes war und ist, lassen sich durch die erneute Vergegenwärtigung Gottes in der Fünften Meditation alle Zweifel zerstreuen, Gott könne uns betrügen und wir könnten uns in allem, was wir klar und deutlich erkennen, täuschen. Die Gegenwart des Auferstandenen bzw. Gottes kann alle Glaubenszweifel und existentiellen Zweifel aufheben.

Vgl. M 5 Nrn. 8, 10 f. Vgl. M 6 Nr. 1. 98 Vgl. M 5 Nr. 15. 99 Vgl. M 5 Nrn. 13, 16. 100 Vgl. M 5 Nrn. 5–7, 14–16. 96 97

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11.4.6 Die Sechste Meditation Nun bleibt noch zu untersuchen übrig, wie Descartes zu Beginn der Sechsten Meditation feststellt, ob es materielle Dinge gibt. 101 Zunächst einmal darf als gewiss gelten, was an den Körpern Gegenstand der Mathematik ist, wie etwa die Ausdehnung, die Gestalt, die Größe, die Lage und die Bewegung, die ich klar und deutlich erkennen kann. 102 D. h., gibt es materielle Dinge, dann sind sie sicher ausgedehnt, haben eine bestimmte Gestalt und Größe etc. Darüber hinaus glaube ich an den äußeren Dingen Licht und Farben, Töne, Gerüche, ertastbare Eigenschaften wie Härte und Wärme sowie Geschmacksqualitäten sinnlich wahrzunehmen, wenn auch nicht so klar und deutlich wie die erstgenannten Eigenschaften der Ausdehnung, der Gestalt usw. Die Sinneswahrnehmungen gingen aber ganz offensichtlich von Körpern außerhalb meiner aus. »Ich merkte nämlich«, so lautet die Begründung Descartes’, »dass sie ganz ohne mein Zutun sich einstellten, sodass ich, auch wenn ich es wollte, kein Objekt sinnlich hätte auffassen können, das nicht dem Sinnesorgan gegenwärtig gewesen wäre, dass ich es aber sinnlich auffassen musste, wenn es diesem gegenwärtig war.« 103 Im Unterschied zu Vorstellungen, die wir mit Hilfe unserer Einbildungskraft selbst gebildet haben, sind die sinnlichen Wahrnehmungen von äußeren Körpern »weit lebhafter, ausgeprägter und in ihrer Art weit deutlicher« 104 als jene sowie unabhängig von der eigenen Willkür. 105 Schließlich lehrt mich die Natur 106, dass ich einen eigenen Körper habe, der ein ausgedehntes, teilbares Ding ist, weshalb ich als denkendes, unteilbares Ding wirklich von ihm verschieden bin und ohne ihn existieren kann. 107 Trotz dieser Verschiedenheit bin ich aber mit meinem Körper »aufs innigste verbunden« 108 und »bilde mit ihm ein einheitliches Ganzes« 109. Ich darf grundsätzlich dem trauen, was mich die Natur lehrt, da 101 102 103 104 105 106 107 108 109

Vgl. M 6 Nr. 1. Vgl. auch M 5 Nr. 2. Vgl. M 5 Nr. 3; M 6 Nr. 6. M 6 Nr. 6. M 6 Nr. 6. Vgl. M 6 Nrn. 7, 10. Zu dieser Wendung Descartes’ siehe M 6 Nrn. 6, 11–15. Vgl. M 6 Nrn. 9,19. M 6 Nr. 9; vgl. Nr. 13. M 6 Nr. 13.

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die beiden grundsätzlichen Irrtümer bezüglich meiner Sinneswahrnehmungen ausgeschlossen sind. Der erste große befürchtete Irrtum ist insofern ausgeschlossen, als Gott in seiner Allgüte nicht betrügen kann und in seiner Allmacht und Allgüte die Existenz eines bösen Betrügers, der mich täuscht, zu verhindern weiß. 110 Aber auch der zweite große gehegte Zweifel ist unbegründet, insofern ich sehr wohl zwischen Wachzustand und Traum zu unterscheiden vermag. Descartes schreibt dazu: »Jetzt sehe ich, wie groß der Unterschied zwischen beiden ist: niemals verknüpft das Gedächtnis die Träume mit allem anderen, was wir im Leben tun; bei dem jedoch, was wir im Wachen erleben, ist dies der Fall.« 111 Durch den universalen kohärenten Zusammenhang all meiner Sinneswahrnehmungen und meines ganzen Lebens ist die Möglichkeit ausgeschlossen, dass ich alles nur träume. Zwar kann und werde ich immer wieder in Einzelfällen irren und mich täuschen. Aber die Gewissheit der Existenz eines allgütigen und allmächtigen Gottes zusammen mit der grundlegenden Vertrauenswürdigkeit der von ihm geschaffenen Natur lassen einen prinzipiellen, universalen Zweifel an meiner Erkenntnis- und Wahrheitsfähigkeit unberechtigt erscheinen. Im Vertrauen auf Gott darf ich meiner Erkenntnis grundsätzlich trauen. Alle fundamentalen Zweifel sind nun beseitigt. Derjenige, der Descartes’ philosophische Meditationen ganz mitvollzogen und verinnerlicht hat, geht mit großem erkenntnistheoretischen Optimismus aus ihnen hervor und kann mit Zuversicht und Freude ins alltägliche Leben zurückkehren. Diese Freude und diese Zuversicht drückt Descartes freilich nicht am Ende der Sechsten Meditation aus, die mit einem Eingeständnis der Schwäche der menschlichen Natur endet, sondern bereits am Ende der Dritten Meditation, das damit psychologisch-emotional wie auch inhaltlich den eigentlichen Höhepunkt der Meditationen bildet. Dort schreibt Descartes: »Doch bevor ich […] zu den andern Wahrheiten […] vorzudringen versuche, will ich hier noch ein wenig bei der Betrachtung Gottes verweilen. Ich will seine Eigenschaften bei mir erwägen und die Schönheit dieses unermesslichen Lichts, soweit mein geblendetes geistiges Auge es zu ertragen vermag, anschauen, bewundern, anbeten. Wie nämlich unserem Glauben nach in der bloßen Betrachtung der göttlichen Majestät die höchste Glück110 111

Vgl. M 6 Nr. 24. M 6 Nr. 24.

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seligkeit des jenseitigen Lebens besteht, so werden wir dessen inne, dass wir jetzt schon durch diese, wenn auch viel unvollkommenere Betrachtung die höchste Lust erfahren können, deren wir in diesem Leben fähig sind.« 112

Dieser Schluss der Dritten Meditation darf als ein Echo der »Betrachtung zur Erlangung der Liebe« 113 verstanden werden, mit der die »Geistlichen Übungen« als ihrem Höhepunkt ausklingen. Der Exerzitant soll sich ganz am Ende in großer Dankbarkeit an die von Gott empfangenen Wohltaten der Schöpfung, der Erlösung und besonderer Gaben erinnern und sich bewusst machen, wie Gott in all seinen Geschöpfen wohnt, wirkt und sich für ihn abmüht.

11.5 »Geistliche Übungen« und »Meditationen« als Verinnerlichungsprozess Für Descartes ist Philosophie sowohl eine theoretische als auch eine kontemplative Lebensform. Sie ist eine theoretische Wissenschaft, die methodisch so streng vorgehen muss wie die Mathematik, um zu sicheren Erkenntnissen zu gelangen. In den »Meditationen« stellt sie sich als ein streng deduktives System dar, das auf zwei Prinzipien beruht, von denen das zweite – was den Weg der Erkenntnis betrifft – aus dem ersten folgt: 1. Ich existiere als denkendes Wesen. 2. Gott existiert als vollkommenstes Wesen. Alles Weitere lässt sich daraus ableiten. Insofern fasst Descartes Philosophie als eine methodisch strenge, theoretische Wissenschaft auf. Inwieweit er sie in den »Meditationen« zugleich und in einem als kontemplative Lebensform versteht, ist durch die Nähe zur ignatianischen Exerzitienspiritualität deutlich geworden. Bei den »Meditationen« Descartes’ handelt es sich um philosophische Betrachtungen, bei den »Geistlichen Übungen« des Ignatius um spirituell-theologische. Von daher unterscheiden sich beide Werke im ersten Ansatz methodisch und inhaltlich sehr stark. Trotzdem weisen die zahlreichen aufgezeigten Übereinstimmungen und Parallelen darauf hin, dass es zwischen beiden Werken eine tiefere Gemeinsamkeit gibt und dass die Meditationen Descartes’ zutiefst von den ignatianischen Exerzitien inspiriert sind. 112 113

M 3 Nr. 39. EB Nrn. 230–237.

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Beide Werke stellen eine Anleitung zu einem existentiellen Bewusstseinsprozess dar. Auch wenn in den »Geistlichen Übungen« des Ignatius nicht viel von einem Gesamtprozess der Verinnerlichung die Rede ist, so ist doch jedem, der sich auf diese Übungen eingelassen hat, klar, dass in den Vier Exerzitienwochen sich nicht einfach der Betrachtungsstoff ändert, sondern dass in diesen Übungen die Dynamik eines Prozesses der Bewusstseinsveränderung und der Verinnerlichung steckt. Der Exerzitant soll sich der Gegenwart Jesu Christi und der Gegenwart Gottes immer existentieller und innerlicher bewusst werden. Ganz ausdrücklich verweist Descartes auf diesen dynamischen Prozess der Verinnerlichung, wenn er am Beginn der Dritten Meditation ausführt: »Ich will nun meine Augen schließen, meine Ohren verstopfen, alle meine Sinne will ich abwenden […] Zu mir allein will ich reden und tiefer in mein Inneres blicken und mich so allmählich mit mir selbst bekannter und vertrauter zu machen suchen.« 114 Auf diesem Weg nach Innen entdeckt Descartes zunächst sein eigenes geistiges Ich und dann – als etwas, das noch innerlicher, evidenter und gewisser ist – die Vorstellung bzw. die Gegenwart Gottes in sich. Wie der geistliche Weg der ignatianischen Exerzitien ist der Denkweg Descartes’ im Grunde ein Prozess der Bewusstseinsveränderung und der Verinnerlichung, an dessen Ende die Gewissheit der Gegenwart Gottes in allen Dingen und der Gegenwart aller Dinge in Gott steht. 115

11.6 Reflexion: Der ontologische Gottesbeweis 11.6.1 Anselms und Descartes’ ontologischer Gottesbeweis Descartes erntete mit seinen »Meditationen« nicht nur etwa für seinen individualistischen, weltenthobenen Ansatz oder für seinen LeibSeele-Dualismus, sondern auch für seine Gottesbeweise Kritik. Den Typ von Gottesbeweis, den er in der Fünften Meditation vertrat, hatte bereits vor ihm Anselm von Canterbury (1033–1109) in seiner M 3 Nr. 1 (Hervorh. J. H.). Zum Gott suchen und finden gemäß der ignatianischen Spiritualität siehe Ignatius von Loyola: In allem – Gott, Würzburg 2006; Josef Thorer (Hg.): Gott suchen und finden nach Ignatius von Loyola, Würzburg 2013. 114 115

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Reflexion: Der ontologische Gottesbeweis

Schrift »Proslogion« (Anrede) vorgebracht. Er wurde später von Immanuel Kant als »ontologischer« Gottesbeweis bezeichnet und als solcher kritisiert. Kant hielt diesen Gottesbeweis für den zentralen Gottesbeweis. Von ihm hingen die beiden anderen – der kosmologische und der physikotheologische bzw. teleologische – ab. War deshalb der ontologische Gottesbeweis als denkungültig widerlegt, so waren für Kant auch die beiden anderen Gottesbeweise »erledigt«. Im »Proslogion« definiert Anselm Gott als id quo maius cogitari non potest: als »das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann« oder als »das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann« 116, hier abgekürzt id quo. Das id quo stellt sprachlich eigentlich keinen Gottesbegriff dar, der normalerweise mit einem Substantiv wiedergegeben wird, sondern eine Gotteskennzeichnung, zu der ein ganzer Relativsatz gehört. Der Einfachheit halber wird auch sie hier Gottesbegriff genannt. Nach Anselm könnte nun ein törichter Mensch, wie die Toren aus Psalm 14 und 53, in seinem Herzen sagen: »Es gibt keinen Gott« 117. Sagt er dies, so versteht er immerhin den Begriff Gott und weiß, dass damit das id quo gemeint ist. Das id quo ist somit in jedem Fall in seinem Verstand (in intellectu). Es kann aber nicht nur in seinem Verstand sein. Denn dann wäre es nicht das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, weil man sich dann denken könnte, dass das id quo sowohl im Verstand als auch, über den Verstand hinaus, in der Wirklichkeit ist und somit größer ist als das id quo, das sich nur im Verstand befindet. Denn etwas, das sowohl im Verstand als auch in der Wirklichkeit existiert, ist nach Anselm auf jeden Fall größer als etwas, das nur im Verstand existiert. Also muss, so folgert, Anselm, Gott als das id quo auch in der Wirklichkeit existieren, womit seine reale Existenz bewiesen wäre. 118 Gegen diese Beweisführung wurde eingewandt, es werde bei ihr unzulässigerweise vom Begriff auf die Wirklichkeit, von der Ebene Anselm von Canterbury: Proslogion. Anrede. Lateinisch/Deutsch. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Robert Theis, Stuttgart 2005 [= Proslogion], 2. Kapitel, 21–23. 117 Psalm 14,1; Psalm 53,2. 118 Zu Anselms Gottesbeweis siehe Harald Schöndorf SJ: Der Gottesbeweis des Proslogions von Anselm von Canterbury, in: Felix Resch (Hg.): Die Frage nach dem Unbedingten. Gott als genuines Thema der Philosophie. Festschrift zu Ehren von Prof. Dr. Josef Schmidt SJ, Dresden 2016 [= Resch 2016] 51–69. 116

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des bloßen Denkens auf die Ebene der denkunabhängigen Realität geschlossen. Wäre dies legitim, so könnte man beispielsweise vom bloßen Begriff einer vollkommenen Insel auf deren Wirklichkeit schließen. 119 Darauf lässt sich wiederum mit Anselm und Descartes erwidern, dass nur zum Begriff Gottes das reale Sein gehört, nicht aber zu irgendeinem anderen Begriff. Diese Ansicht teilte im Grunde auch Thomas von Aquin. 120 Für ihn fällt in Gott, und nur in Gott, das Wesen und das Sein zusammen. Gottes Wesen ist sein Sein bzw. das Sein selbst. Da dieses Wesen Gottes für uns aber nicht von vornherein feststeht, müssen wir es erst erkennen. Deswegen können wir nach Thomas nicht von vornherein aus dem Gottesbegriff das reale Sein Gottes folgern. Wir können zunächst einmal die Nichtexistenz Gottes denken. Descartes variiert in seiner Fünften Meditation Anselms Gottesbeweis. Gott ist demnach das vollkommenste Wesen, das Wesen, das sämtliche Vollkommenheiten besitzt. Das Sein oder die Existenz ist aber eine Vollkommenheit. Folglich muss Gott in Wirklichkeit existieren. Weil Gott allein das vollkommenste Wesen ist, kommt es nach Descartes auch nur dem Gottesbegriff zu, das Sein oder die Existenz in sich einzuschießen.

11.6.2 Kants Gottesbegriff und Kritik am ontologischen Gottesbeweis Kant dürfte bei seiner Kritik am ontologischen Gottesbeweis eher die Version Descartes’ als die Anselms vor Augen gehabt haben. Für ihn ist Gott formal betrachtet ein Ideal der reinen theoretischen Vernunft 121, das wir denken müssen, dessen Existenz wir aber nicht erkennen können. Um die absolute Einheit der Bedingungen aller Gegenstände des Denkens überhaupt denken zu können, müssen wir

119 Das war die Kritik und das Beispiel des Mönches Gaunilo von Marmoutiers, kurz nach dem Erscheinen des »Proslogion«. Anselm stellte in seiner Erwiderung klar, dass seine Argumentation einzig und allein auf den Begriff Gottes (das id quo) zutreffe. 120 Vgl. ST I q.2 a.1 und a.2. 121 Siehe dazu und zum Folgenden Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Band 1 und 2, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1974 [= KrV], A 568–620/B 596–648, 512–548.

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Reflexion: Der ontologische Gottesbeweis

Gott als regulative Idee denken, die diese letzte Einheit von allem garantiert. Um den Inhalt des Gottesbegriffes zu bestimmen, wendet Kant den Grundsatz der durchgängigen Bestimmung auf Gott an. 122 D. h., von allen möglichen Prädikaten überhaupt wird festgestellt, ob sie auf Gott zutreffen oder nicht. Demzufolge gehört zum Gottesbegriff die Gesamtheit aller positiven überempirischen Prädikate wie Allmacht, Allwissenheit, Allgüte usw. Die Gesamtheit dieser Prädikate fasst Kant in dem Begriff des »Alls der Realität« (omnitudo realitatis) zusammen. Zur personalen Vorstellung von Gott gelangen wir, indem wir dieses All der Realität zu einem Einzelwesen hypostasieren. Nach Kant müssen wir Gott als allerrealstes Wesen denken, können aber über seine Existenz nichts aussagen. Denn daraus, dass wir Gott denken müssen, folgt nicht schon, dass Gott real existiert. Seine Existenz könnten wir nur erkennen, wenn wir ihn erfahren könnten. Das ist aber nach Kant grundsätzlich unmöglich, da unsere Erfahrung immer nur sinnlich-empirische Erfahrung sein kann, Gott sich aber als überempirisches Wesen nicht empirisch erfahren lässt. Gemäß Kant sind grundsätzlich nur drei Gottesbeweise oder Arten von Gottesbeweisen möglich 123, die er so charakterisiert: 1. Beim ontologischen (auch transzendentalen, apriorischen), wie ihn Anselm und Descartes vorgetragen hatten, wird völlig apriorisch und rein begrifflich, d. h. ohne Bezug auf eine Erfahrung, vom Begriff Gottes auf das Dasein Gottes geschlossen. 2. Beim kosmologischen Gottesbeweis wird aus der (aposteriorischen bzw. empirischen) Erfahrung der Existenz der Welt das Dasein Gottes gefolgert. 3. Beim physikotheologischen Gottesbeweis wird aus einer bestimmten Erfahrung d. h. aus der (aposteriorischen bzw. empirischen) Erfahrung der Beschaffenheit der Welt das Dasein Gottes erschlossen. 124 Am ontologischen Gottesbeweis kritisiert Kant ganz grundsätzlich die Annahme, zum Begriff eines Wesens gehöre die Existenz. Ihm zufolge können wir von jedem Wesen, also auch von Gott, ohne Vgl. KrV A 572/B 600, 515. Vgl. KrV A 591/B 619, 528. 124 Zur gegenwärtigen Diskussion des Gottesgedankens und Gottesbeweises überhaupt sowie zu diesen drei Arten des Gottesbeweises siehe Thomas Buchheim/Friedrich Hermanni/Axel Hutter/Christoph Schwöbel (Hg.): Gottesbeweise als Herausforderung für die moderne Vernunft, Tübingen 2012. 122 123

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logischen Widerspruch behaupten, es existiere nicht. 125 Denn wenn wir behaupten, es existiere nicht, heben wir das Wesen selbst auf und mit ihm alle Prädikate, die zu ihm gehören. D. h., wir heben mit dem Subjekt den gesamten Subjektbegriff auf. Dann gibt es aber nichts mehr, dem das Prädikat »existiert nicht« widersprechen könnte. Beispielsweise enthält der Satz »Gott ist nicht allmächtig« einen Widerspruch, weil zum Begriff Gottes die Allmacht gehört. Aber der Satz »Gott existiert nicht« enthält keinen Widerspruch, weil mit ihm das Ding (Gott) und mit ihm sein ganzer Begriff (der Gottesbegriff) negiert ist und es nichts mehr gibt (d. h. es kein Subjekt mehr im Satz gibt), dem das Prädikat »existiert nicht« widersprechen könnte. Kant resümiert seine Argumentation in dem berühmt gewordenen Satz: »Sein ist offenbar kein reales Prädikat« 126. Nach Kant ist das Prädikat »existiert« 127 kein reales Prädikat, d. h. kein Prädikat, das irgendeinen Inhalt besäße, weil es nur die Position eines Dinges angibt, aber überhaupt nichts über den Inhalt bzw. das Wesen oder Sosein eines Dinges sagt. Der Ausdruck »existiert« drückt aus, dass ein Ding wirklich, und nicht nur möglich oder denkbar ist. Aber er sagt überhaupt nichts über das Wesen des Dinges selber aus. 100 wirkliche, d. h. real existierende Taler haben deshalb nicht mehr Inhalt als 100 mögliche, d. h. bloß gedachte Taler. Daraus ergibt sich Kant zufolge auch, dass Existentialsätze, Sätze der Form »x existiert«, keine analytischen, sondern nur synthetische Sätze sein können. 128 Nach Kant setzen sich Begriffe ausschließlich aus realen Prädikaten, d. h. aus inhaltlich gehaltvollen Eigenschaften zusammen. Da »Existenz« bzw. »Dasein« oder »Sein« kein reales Prädikat ist, kann die Existenz nicht zum Begriff eines Dinges gehören. Dann ist aber der ontologische Gottesbeweis unmöglich, da er ganz wesentlich voraussetzt, dass zum Begriff Gottes die Existenz gehört. Für Kant bedeutet das, dass wir ein absolut notwendiges Wesen nicht wirklich, d. h. konkret inhaltlich denken können. Denn dazu müssten wir ein Wesen denken können, zu dessen Begriff die Existenz gehört, was nach Kant unmöglich ist, da Existenz kein reales Prädikat ist und somit überhaupt nicht zum Begriff eines Wesens Vgl. KrV A 594–596/B 622–624, 530 f. KrV A 599/B 627, 533. 127 Substantivisch: »Existenz«, »Dasein«, »Sein«. 128 Bei analytischen Sätzen ist der Prädikatbegriff im Subjektbegriff enthalten (z. B. »Eine Kugel ist rund«), bei synthetischen Sätzen ist hingegen der Prädikatbegriff nicht im Subjektbegriff enthalten (z. B. »Diese Kugel ist rot«). 125 126

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Reflexion: Der ontologische Gottesbeweis

gehören kann. Ein ontologischer Gottesbeweis, der vom Begriff Gottes auf das Dasein Gottes schließt, ist deshalb für Kant unmöglich. Ein absolut notwendiges Wesen können wir nicht wirklich denken.

11.6.3 Eine transzendentalphilosophische Deutung des Beweises Unter Logikern ist umstritten, ob der Ausdruck »Existenz«, wie von Kant angenommen, bloße Vorhandenheit bedeutet, also bloßes Wirklichsein ohne jeden Inhalt – vergleichbar dem Existenzquantor in der modernen Logik –, oder eine inhaltlich gehaltvolle Eigenschaft darstellt. 129 Der Ausdruck »notwendige Existenz« kann hingegen als reales Prädikat im Sinne Kants verstanden werden: als inhaltlich gehaltvolle Eigenschaft, als Vollkommenheit (in der Terminologie der Scholastik) oder als großmachende Eigenschaft (in der Terminologie der heutigen analytischen Philosophie). Er muss vielleicht sogar als reales Prädikat aufgefasst werden, insofern ein notwendig existierendes Wesen in jedem Fall ewig existiert – es kann ja nie nicht existieren – und Ewigkeit zweifelsohne eine inhaltlich gehaltvolle Eigenschaft darstellt. Dann kann aber das Prädikat der notwendigen Existenz auch zum Begriff eines Wesens gehören, konkret zum Begriff Gottes. D. h., wir können Gott so denken, dass zu seinem Begriff die notwendige Existenz gehört. Allgemeiner: wir können ein absolut notwendiges Wesen konkret inhaltlich denken. Zum gleichen Schluss gelangt man, wenn man etwa den Gottesbegriff von Thomas von Aquin zugrunde legt. Nach Thomas ist Gott das aus sich seiende Sein selbst. Zu seinem Wesen gehört das Sein, ja sein Wesen besteht in seinem Sein, das das Sein selbst ist. Dabei versteht Thomas unter Sein die absolute und unendliche Fülle des Wirklichseins, wozu alle reinen, d. h. ins Unendliche steigerbaren Vollkommenheiten gehören, aber auch die Existenz im Sinne des wirklichen Vorhandenseins gehört. Für Thomas ist »Sein« – im Gegensatz zu Kant – kein inhaltlich leeres Prädikat, sondern das inhaltlich gehaltvollste Prädikat überhaupt, also das allerrealste Prädikat (einschließlich der Existenz). Auch von Thomas her lässt sich denken, dass zum Wesen Gottes und damit zum Begriff Gottes, der ja das Wesen Gottes erfassen soll, das Sein als reales Prädikat gehört. Dann 129 Siehe dazu Winfried Löffler: Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 2006, 57–59, hier 58.

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ist es aber auch möglich, Gott als absolut notwendiges Wesen zu denken. 130 Dennoch ist Kants Kritik am ontologischen Gottesbeweis insofern zuzustimmen, als wir rein theoretisch aus dem Begriff Gottes allein nicht das Dasein Gottes folgern können. Wir können rein theoretisch immer einen Begriff Gottes denken, zu dem die Existenz nicht gehört. Wir können immer rein theoretisch denken, dass Gott nicht existiert. Wir können, hierin ist Kant recht zu geben, immer mit dem Ding (dem Subjekt) den Begriff (Subjektbegriff) negieren. Wir gelangen also höchstens zu der Aussage: (1) Wenn Gott existiert, existiert er notwendig. Daraus ergibt sich die Aussage: (2) Wenn Gott nicht existiert, ist es unmöglich, dass er existiert. Nicht aber folgt daraus die Aussage: (3) Also existiert Gott. Trotzdem ist gegen Kant daran festzuhalten: Wir können ein Wesen, nämlich Gott, denken, zu dessen Begriff die notwendige Existenz gehört, auch wenn aus dessen Begriff und Denkmöglichkeit rein theoretisch allein noch nicht die reale Existenz folgt. Es ist aber Gott allein, zu dessen Begriff die notwendige Existenz gehört. Gott allein können und müssen wir als unbedingt notwendiges Wesen denken. Trotz Kants – in gewissem Sinn – berechtigter Kritik am ontologischen Gottesbeweis ist zunächst einmal sein Prinzip, dass wir grundsätzlich jedes Subjekt aufheben, d. h. ohne Widerspruch negieren können, zu relativieren. Man denke an Aussagen wie »Ich existiere nicht«. Diese Aussage, von einem Existierenden gesprochen, enthält zwar streng genommen keinen logischen Widerspruch, insofern zum Begriff »Ich« nicht notwendig die Existenz gedacht werden muss, aber sie enthält einen existentiellen oder performativen Widerspruch. Denn der Inhalt der Aussage widerspricht dem Vollzug der Aussage. Rein logisch-theoretisch oder abstrakt-theoretisch kann ich zwar sinnvoll denken, dass ich nicht existiere. So kann ich etwa denken, meine Eltern wären sich nie begegnet und ich würde deshalb nicht existieren. Aber existentiell und konkret kann ich nicht denken, dass ich nicht existiere. Ich kann mich nicht als Subjekt aufheben, negieren, ohne einen existentiellen Widerspruch zu vollziehen. Ich kann nicht wirklich konkret denken, dass ich nicht existiere, während 130 Siehe dazu auch Ruben Schneider: Entität oder Totalität? Zu Kants Kritik am ontologischen Gottesbeweis, in Resch 2016, 113–140.

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Reflexion: Der ontologische Gottesbeweis

ich das denke. Ich kann meine eigene Existenz nicht wirklich wegdenken. Die Unmöglichkeit eines existentiellen Widerspruchs eröffnet wiederum den Ansatz für einen Gottesbeweis. Ist unsere Existenz untrennbar mit dem Unendlichen – mit Gott – verwoben, weil wir selber zwar endliche Wesen sind, aber geistig auf das Unendliche dynamisch ausgerichtet sind 131, würde Gott in gewissem Sinn zu unserer Existenz gehören und könnten wir ihn ohne existentiellen Widerspruch nicht negieren. Mit der Behauptung, Gott existiere nicht, würden wir die transzendentale Bedingung der Möglichkeit unserer Existenz leugnen und vergleichbar der Behauptung »Ich existiere nicht« einen existentiellen Widerspruch vollziehen. In dem Zusammenhang ist auch schon Kants Prinzip kritisch zu hinterfragen, dass uns nur empirische, sinnliche Erfahrung möglich ist. Seine eigene Lehre von der transzendentalen Apperzeption (d. h. von unserem Selbstbewusstsein) legt so etwas wie eine geistige, transzendentale, übersinnliche Erfahrung unseres Selbst nahe. Nach Kant ist das transzendentale Ich oder Selbst eine rein formale Bedingung der Erkenntnis. Wir müssen ein Ich oder Selbst als letzte Möglichkeitsbedingung der Einheit unseres Bewusstseins annehmen, ohne es erfahren zu können. Spricht aber nicht viel für die Auffassung, dass wir in all unseren wechselnden Bewusstseinsakten unser Ich oder Selbst ständig miterfahren? Dann aber erfahren wir auf geistige, transzendentale Weise unser Ich oder Selbst als den letzten Grund der Einheit unseres Bewusstseins. Wir haben dann eine transzendentale Erfahrung von unserem transzendentalen Ich oder Selbst. Analog dazu und im Zusammenhang damit ist dann aber auch eine geistige, transzendentale Erfahrung Gottes grundsätzlich denkbar. Thomas und Kant ist zuzustimmen, wenn sie den ontologischen Gottesbeweis ablehnen, insofern in ihm aus einem bloß gedachten Begriff Gottes dessen Existenz abgleitet werden soll. Aber der ontologische Gottesbeweis muss nicht als eine rein logisch-begriffliche Deduktion verstanden werden, bei dem von bloß Gedachtem auf Reales geschlossen wird. Und er sollte auch nicht so verstanden werden. Denn im Gegensatz zu Kant ist weder für Anselm noch für Descartes der Gottesbegriff etwas von uns Menschen Erdachtes. Bei Anselm wird das deutlich, wenn er nach seiner Definition Gottes erklärt, wir könnten 131

Das wird im Einzelnen im Kapitel über Karl Rahner (Kap. 13.1) dargelegt.

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die Nicht-Existenz Gottes nicht denken. 132 Ist etwas von uns bloß gedacht, können wir es jederzeit wieder »wegdenken«, denken, dass es nicht existiert. Das ist aber bei Gott laut Anselm nicht möglich. Wir können bei ihm nicht denken, dass er nicht existiert. Das heißt aber, dass das id quo kein von uns bloß gedachter Begriff ist, sondern eine Vorgegebenheit unseres Denkens und Bewusstseins. Anselm fasst die Gotteskennzeichnung des id quo nicht als einen von ihm genial erdachten Gottesbegriff auf, sondern als etwas, was der Mensch in seinem Geist vorfindet. Das bestätigt sich, wenn er später im »Proslogion« erklärt, das id quo sei nicht nur etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, sondern »etwas Größeres, als gedacht werden kann« 133. Gott ist demnach etwas, das unser Denken übersteigt. Etwas von uns bloß Gedachtes oder Erdachtes würde unser Denken nicht übersteigen. Die gleiche Interpretation legt sich bei Descartes’ ontologischem Gottesbeweis nahe. Dieser Beweis muss von Descartes’ zweitem Gottesbeweis in der Dritten Meditation aus gelesen werden. Demzufolge können wir alles Unvollkommene in der Welt als grundsätzlich Unvollkommenes nur deshalb erkennen, weil wir zumindest intuitiv ein absolut Vollkommenes kennen, an dem wir alles Unvollkommene in der Welt messen. 134 Die Einsicht in ein absolut Vollkommenes ist die Bedingung der Möglichkeit für uns, alles Endliche und Weltliche in seiner Vollkommenheit bzw. Unvollkommenheit beurteilen zu können. Das absolut Vollkommene wird von uns daher in aller Erkenntnis von Endlichem transzendental miterkannt und in aller Erfahrung von Weltlichem transzendental miterfahren. 135 Auch bei Descartes erweist sich damit der Gottesbegriff als etwas nicht bloß von uns Gedachtes, sondern etwas unserem Denken und Bewusstsein Vorgegebenes. Descartes bringt das zum Ausdruck, indem er von der Idee Gottes als angeborener Idee spricht. Vgl. Proslogion 3. Kapitel, 25. Proslogion 15. Kapitel, 49 (quiddam maius quam cogitari possit). 134 Wörtlich schreibt Descartes: »[…] dass mithin in gewissem Sinne die Vorstellung des Unendlichen der des Endlichen, d. h. die Vorstellung Gottes der des Ich vorausgeht. Wie könnte ich denn wissen, dass ich zweifle, dass ich begehre, d. h., dass mir etwas fehlt und dass ich unvollkommen bin, wenn in mir nicht die Vorstellung eines vollkommereren Seienden wäre? Denn ich bemerke meine Mängel, indem ich mich mit ihm vergleiche« (M 3 Nr. 24). 135 Zur transzendentalphilosophischen Deutung des anselmischen Gottesbeweises siehe Raimund Litz: Inwiefern kann das anselmische Argument als Form einer transzendentalen Erfahrung gedeutet werden?, in Resch 2016, 141–161. 132 133

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Reflexion: Der ontologische Gottesbeweis

Wir denken uns Gott nicht als vollkommenstes Wesen aus. Wir erfahren ihn vielmehr transzendental als die absolute Vollkommenheit selbst in all unseren geistigen Vollzügen mit. Mit Karl Rahner lässt sich Gott als der absolut vollkommene und unendliche geistige Horizont unseres Bewusstseins verstehen, innerhalb dessen wir alles, was uns in der Welt begegnet, beurteilen. Es ist dieser geistig unbegrenzte Horizont absoluter Vollkommenheit, der uns in der Welt immer weiter nach dem Vollkommeneren suchen und streben lässt. Das Dasein Gottes lässt sich weder deduktiv noch induktiv beweisen. Es lässt sich nicht aus irgendwelchen Voraussetzungen aussagenlogisch oder begrifflich herleiten. Erst recht lässt es sich nicht durch eine empirische Induktion erschließen, etwa durch den Nachweis, dass die Mehrheit der Menschen an einen Gott oder an ein Göttliches glaubt. Aber das Dasein Gottes lässt sich durch eine transzendentale Reflexion aufweisen. Bei ihr wird die letzte Bedingung der Möglichkeit unserer geistigen Vollzüge bedacht und auf eine Erfahrung aufmerksam gemacht, die all diese Vollzüge begleitet. 136

136 Zum ontologischen Gottesbeweis siehe auch folgende Beiträge in Resch 2016: Felix Resch: Letztbegründung und Gottesbeweis. Zu Josef Schmidts noologisch-apagogischer Rekonstruktion des ontologischen Gottesbeweises, 39–49; Peter Ehlen SJ: Der »ontologische Beweis« in Simon L. Franks Metaphysik, 71–88.

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12. Vater, Sohn und Heiliger Geist Die drei Reiche Gottes bei G. W. F. Hegel

12.1 Die »Phänomenologie des Geistes« und die »Enzyklopädie« In seiner »Phänomenologie des Geistes« 1 verfolgte Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) 2, wie er selbst schreibt, die Idee, »von der ersten, einfachsten Erscheinung des Geistes, dem unmittelbaren Bewusstsein, anzufangen und die Dialektik desselben bis zum Standpunkte der philosophischen Wissenschaft zu entwickeln, dessen Notwendigkeit durch diesen Fortgang aufgezeigt wird« 3. Es geht in der »Phänomenologie des Geistes« um einen phänomenologischen Aufstieg. 4 Ziel des Aufstiegs ist das »absolute Wissen«, d. h. die vollkommene Einheit von Subjekt und Objekt, von Erkennendem und Erkanntem, der Standpunkt der Identität also. Das absolute Wissen soll dann nach Hegel der Ausgangspunkt wahrer Wissenschaft sein. Das Ziel des absoluten Wissens kann nicht direkt durch einen Sprung erreicht werden, sondern nur durch einen langen dialektischen VerDie »Phänomenologie des Geistes« war Hegels erstes Hauptwerk. Es wurde 1807 veröffentlicht. 2 Zur Einführung in Leben, Werk und System Hegels siehe Dina Emundts/Rolf-Peter Horstmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Einführung, Stuttgart 2002. 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I–III (Werke in zwanzig Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel) (Werke 8– 10), Frankfurt a. M. 1970 [= E], I § 25, 92. 4 Zu dieser Einführung in die »Phänomenologie des Geistes« und die »Enzyklopädie« siehe Josef Schmidt: III. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, in: Emerich Coreth/Peter Ehlen/Josef Schmidt: Philosophie des 19. Jahrhunderts (Grundkurs Philosophie 9) (Dritte, durchgesehene Auflage), Stuttgart, Berlin, Köln, 1997 [= Schmidt 1997], 51– 104 (Nr. 83–184). Vgl. Josef Schmidt: V. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) – Wirklichkeit des Geistes, in: Peter Ehlen/Gerd Haeffner/Josef Schmidt: Philosophie des 19. Jahrhunderts. (Grundkurs Philosophie 9) (5., vollständig überarbeitete Auflage), Stuttgart 2016, 72–129. 1

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Die »Phänomenologie des Geistes« und die »Enzyklopädie«

mittlungsprozess. Wichtig ist deshalb nicht nur das isolierte »Resultat« des Vermittlungsprozesses, das absolute Wissen als solches, sondern der Weg dahin. Das wirkliche Ganze ist das Resultat zusammen mit seinem Werden, also Weg und Ziel zusammen. 5 Aus religionsphilosophischer Sicht ist an der »Phänomenologie des Geistes« bedeutsam, dass der Weg des Menschen zum »absoluten Wissen« auch der Weg ist, auf dem sich das Absolute, letztlich Gott selbst begreift. Im Absoluten, d. h. im alles Umfassenden und Bestimmenden, kann es Unterschiede und Unterscheidung nur geben als Selbstunterscheidung. So verstanden ist das Absolute »Subjekt« und nicht bloß »Substanz«. Als solches muss es den Prozess seiner Erkenntnis mit umgreifen. Es ist »lebendige Substanz«, »Bewegung des Sichselbstsetzens oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst«. 6 Diese Formulierungen aus der »Phänomenologie des Geistes« weisen schon auf Kerngedanken von Hegels Religionsphilosophie hin. Das Einzelne kann nur aus dem Ganzen begriffen werden, und das Ganze ist das Absolute selbst, Gott. Um das Ganze geht es auch in Hegels berühmten Sätzen aus der Vorrede zur »Phänomenologie des Geistes«: »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.« 7 Dieses Ganze stellt sich dem Denken als Zusammenhang dar, als System. »Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann [deshalb] allein das wissenschaftliche System derselben sein.« 8 Gefühl und Begeisterung können »die Anstrengung des Begriffs« 9 – ein wichtiger Ausdruck bei Hegel – nicht ersetzen. Zwar ist der Gegenstand der Philosophie das Erhabenste überhaupt, nämlich Gott. »Die Philosophie aber muss sich hüten, erbaulich sein zu wollen.« 10 Die »Phänomenologie des Geistes« handelt vom Aufstieg des menschlichen Bewusstseins bis zum wahren Wissen. Bei diesem Aufstieg erweist sich das jeweilige Wissen immer wieder als Schein, der Vgl. Schmidt 1997, 58. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (Werke in zwanzig Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel) (Werke 3), Frankfurt a. M. 1970 [= PG], 23. 7 PG 24. 8 PG 14. 9 PG 56. 10 PG 17. 5 6

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

durch »bestimmte Negation« überwunden werden muss, um zu einem höheren positiven Wissen zu gelangen, das dann wiederum negiert werden muss. Hegel nennt diese dialektische Bewegung, die das menschliche Bewusstsein an sich selbst ausübt, dasjenige, was eigentlich Erfahrung genannt wird. In der »Phänomenologie des Geistes« sucht Hegel dementsprechend die Erfahrung des menschlichen Bewusstseins nachzuzeichnen. Er tut dies vom Standpunkt des Philosophen aus, der das absolute Wissen bereits erreicht hat. Diese überlegene Perspektive des Philosophen gibt Hegel mit dem Ausdruck »für uns« wieder, d. h. für uns Philosophen. Das einfache Bewusstsein hat aber diesen Standpunkt noch nicht erreicht. Es ist noch auf einer unteren Stufe befangen. »Für es« ist der Weg mit seinen einzelnen Stufen und das Ziel noch nicht klar. Der Philosoph hingegen kennt bereits das Ziel des Aufstiegs des Bewusstseins: das absolute Wissen, bei dem »der Begriff dem Gegenstande, der Gegenstand dem Begriffe entspricht« 11. Dort legt das Bewusstsein »seinen Schein« ab und wird »die Erscheinung dem Wesen gleich«. 12 Ausgehend von der sinnlichen Gewissheit gelangt das Bewusstsein jeweils durch bestimmte Negation über die Wahrnehmung und die Verstandeserkenntnis zum Selbstbewusstsein, vom Selbstbewusstsein mittels der Herr-Knecht-Dialektik schließlich zur Vernunfterkenntnis, bei der das Bewusstsein schon imstande ist, alle Grenzen zu überschreiten und auf das Ganze der Realität auszugreifen, und von der Vernunfterkenntnis über die Stufe des Geistes, mit seinen drei Facetten der Sittlichkeit, der Bildung und der Moralität über die Stufe der Religion hin zum absoluten Wissen der Philosophie. Im religionsphilosophischen Zusammenhang ist die vorletzte Stufe, die Stufe der Religion, von besonderem Interesse. Hegel unterscheidet auf dieser Stufe des Bewusstseins drei Formen der Religion: die natürliche Religion, die Kunst-Religion und die offenbare Religion. In der natürlichen Religion wird das alles umfassende und alles so mit sich vereinende und versöhnende Göttliche in Symbolen von Licht und Finsternis und in Pflanzen- und Tiergestalten dargestellt sowie in gewaltigen Bauwerken, etwa den Pyramiden in Ägypten, verehrt. In der Kunst-Religion, die mit der griechischen Religion

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PG 74. PG 81.

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Die »Phänomenologie des Geistes« und die »Enzyklopädie«

identisch ist, erscheint das Göttliche auf prekäre Weise in menschlicher Gestalt. »In der ›[…] offenbaren Religion‹ wird jedoch die Vermenschlichung Gottes in einer Weise zum Thema, die das Göttliche nicht auflöst, sondern ihm aufs höchste gerecht wird. Gott wird nach der christlichen Religion selbst Mensch. Er offenbart sich im Menschen. Er zeigt sich als Geist, als Selbst, das auch das andere seiner erträgt, das in dieses andere seiner selbst sich entäußert, darin bei sich bleibt und es so mit sich versöhnt. Die Religion als die Sphäre der Versöhnungsgewissheit hat hier ihre unüberbietbare Vollkommenheit erreicht.« 13

Religion ist für das Bewusstsein die Gewissheit einer übergeordneten, allumfassenden Versöhnung. In der offenbaren Religion des Christentums ist nach Hegel das Bewusstsein zu der Erfahrung gelangt, dass sein umfassender Gegenstand, nämlich das Göttliche oder Gott, mit ihm eins ist, dass die göttliche Substanz Subjekt ist. 14 Damit ist inhaltlich das Ziel des Aufstiegs schon ganz erreicht. Was nun noch bleibt, ist die Aufgabe, dem Bewusstsein dieses Inhaltes die gemäße Form zu geben. »Diese letzte Gestalt des Geistes, der Geist, der seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich die Form des Selbsts gibt und dadurch seinen Begriff ebenso realisiert, als er in dieser Realisierung in seinem Begriffe bleibt, ist das absolute Wissen; es ist der sich in Geistsgestalt wissende Geist oder das begreifende Wissen.« 15

Die »Form des Selbsts« ist dabei nichts anderes als die Struktur des Selbstbewusstseins: »die Selbstbezüglichkeit in der Unterschiedenheit von sich, das Beisichsein im anderen seiner selbst«. 16 Hegel nennt diese Struktur den »Begriff«. Er ist die Struktur des Wissenden und des Gewussten, des Subjekts und Objekts, ebenso wie die Struktur der Einheit beider. Mit anderen Worten: In der Religion erreicht das menschliche Bewusstsein inhaltlich betrachtet bereits seine höchste Stufe. Es ist sich in der Religion dessen bewusst, mit dem Göttlichen eins zu sein. Aber diesem religiösen Bewusstsein fehlt noch die entsprechende Form, die es erst in der Philosophie erlangt. Erst in der Philosophie

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Schmidt 1997, 73. Vgl. Schmidt 1997, 73. PG 582. Schmidt 1997, 73.

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

ist sich das menschliche Bewusstsein seiner Struktur, wie Hegel sagt, seines Begriffes voll und ganz bewusst. Es weiß dann in der höchsten Form, dass es Selbstbewusstsein ist. Das Bewusstsein weiß, dass es sich auf sich selbst bezieht und bezogen ist, indem es sich auf anderes, von ihm Unterschiedenes bezieht. Es ist sich dessen bewusst, bei sich zu sein, indem es beim anderen seiner selbst, kurz, beim anderen, ist. Das genau ist die Struktur bzw. der Begriff des menschlichen Geistes und, da der menschliche Geist, wie im religiösen Bewusstsein deutlich geworden ist, mit dem Göttlichen eins ist, eben auch des göttlichen Geistes. Indem sich das menschliche Bewusstsein in der Philosophie seiner eigenen Struktur und seines eigenen Begriffes bewusst geworden ist, ist der Standpunkt des absoluten Wissens erreicht. Dieses absolute Wissen, das durch den Aufstieg in der »Phänomenologie des Geistes« erreicht worden ist, gilt es dann Hegel zufolge wissenschaftlich-systematisch zu entfalten. Hegel selbst nimmt diese Entfaltung im System seiner »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« vor. Die »Enzyklopädie« (3. Auflage 1830) umfasst drei große Teile: 1. Die Wissenschaft der Logik; 2. Die Philosophie der Natur; 3. Die Philosophie des Geistes. Den dritten Teil untergliedert Hegel wiederum in drei Abschnitte: 1) der subjektive Geist, 2) der objektive Geist und 3) der absolute Geist. Dabei behandelt Hegel im Abschnitt über den subjektiven Geist die Anthropologie (konkret die Seele), die Phänomenologie des Geistes (konkret das Bewusstsein) und die Psychologie (konkret den Geist), im Abschnitt über den objektiven Geist das Recht, die Moralität und die Sittlichkeit. Im Abschnitt über den absoluten Geist fragt Hegel schließlich nach dem letzten und umfassendsten Zusammenhang. 17 Es kann dies nur das Absolute selbst sein, eben der absolute Geist, der die Welt in ihrer Einheit von Natur und Geschichte trägt und begründet und die letzte Einheit von Subjekt und Objekt darstellt. Dieser Geist ist für Hegel die »absolute Idee« und heißt in religiöser Sprache Gott. Damit ist das Thema, das im letzten Abschnitt der »Enzyklopädie« noch zu behandeln ist, angegeben: die Religion. »Die Religion«, so Hegel, »wie diese höchste Sphäre im allgemeinen bezeichnet werden kann, ist ebensosehr als vom Subjekte ausgehend und in demselben sich befindend als objektiv von dem absoluten Geiste ausgehend zu be-

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Vgl. Schmidt 1997, 90.

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Die »Phänomenologie des Geistes« und die »Enzyklopädie«

trachten, der als Geist in seiner Gemeinde ist.« 18 Die Religion ist demnach vom Menschen her und von Gott her zu bestimmen. Obwohl Hegel diese höchste Sphäre des Geistes dem Inhalt nach der Religion zuordnet, unterteilt er diese Sphäre noch einmal gemäß den Formen, nach denen der absolute Geist aufgefasst werden kann. Diese Formen sind die »Anschauung«, die »Vorstellung« und das »Denken«. Ihnen entsprechen die drei großen Weisen der Vergegenwärtigung des Absoluten, wie sie sich in der Geschichte ausgebildet haben: die Kunst, die Religion und die Philosophie. »Die Kunst ist die Vergegenwärtigung des Absoluten in der Form der Anschauung. In den Kunstwerken kommt die ›absolute Idee‹ im wörtlichen Sinne zur ›Erscheinung‹. Die Schönheit besteht im Gelingen dieser Erscheinung. Das Wahre soll dem Bewusstsein aufgehen, indem es sinnlich anschaubar wird. ›Das Schöne bestimmt sich dadurch als das sinnliche Scheinen der Idee‹ (Ä I 151).Als Erscheinung des Absoluten steht für Hegel Kunst von vornherein in einer religiösen Dimension.« 19

Ein Zugang zu Gott kann Kunst nur sein, wenn Gott diesen Zugang aus seiner Souveränität heraus gewährt. 20 Dies ist aber der Fall, weil er sich in der menschlichen Subjektivität »offenbart«, wie es das Christentum als die »wahrhafte« oder die »geoffenbarte Religion« lehrt. Gott ist Geist, der sich offenbart, sich manifestiert, er ist »Geist für den Geist«, nämlich für den menschlichen Geist. Dieses Offenbaren und Sich-Manifestieren Gottes ereignet sich in der Geschichte und gipfelt nach der christlichen Lehre in der Geschichte Jesu Christi. Das religiöse Bewusstsein wird seines Gottes dadurch inne, dass es sich die Offenbarung Gottes in der Geschichte, die Offenbarungsgeschichte, »vorstellend« vergegenwärtigt. »Vorstellung« allein vermag aber laut Hegel den wahrhaften geistigen Gehalt der Offenbarungsgeschichte nicht voll zu erfassen. Sie betrachtet ihn zu sehr nach seiner geschichtlichen Seite und bedarf daher der spekulativen Ergänzung durch Theologie und Philosophie. »Im religiösen Glauben ist die Einheit mit dem absoluten Geist als Versöhnung mit Gott bereits grundsätzlich vollbracht. Doch muss diese Einheit, E III § 554, 366. Schmidt 1997, 91 (Ä I = Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I (Werke in zwanzig Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel) (Werke 13), Frankfurt a. M. 1970. 20 Vgl. Schmidt 1997, 92 f. 18 19

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

soll sie vollkommen sein, bis in die ›Spitze‹ des Subjekts hinein verwirklicht werden, d. h. auch dort, wo das Subjekt in höchster Eigenständigkeit nur sich selbst verantwortlich ist, nämlich im Denken.« 21

Aus diesem Grund macht Gottes Offenbarung nicht irgendwo vor dem Denken halt, sondern gilt gerade dem Denken und muss von diesem aufgenommen werden. Die denkende Betrachtung des religiösen Inhalts ist auch deshalb angemessen, weil der Gegenstand der Betrachtung, der absolute Geist oder Gott, Subjekt ist, Selbstbezug und Selbstvermittlung wie der denkende Mensch selbst. Damit wird erst die Philosophie oder eine mit ihr eins gewordene Theologie Gott gerecht. Nach Hegel vergegenwärtigen mithin Kunst, Religion und Philosophie den absoluten Geist, das Absolute, Gott. Die Kunst tut dies in der Form der Anschauung, die Religion in der Form der Vorstellung und die Philosophie in der Form des Denkens. Hegel erkennt den »Inhalt« von Kunst und Religion an, auch die »Formen«, in denen sich der Inhalt zunächst darstellt, d. h. die Anschauung und die Vorstellung. 22 Zugleich fordert er jedoch eine Befreiung von der Einseitigkeit der Formen, nämlich von der Unmittelbarkeit der Anschauung und dem Trennenden und Positiven der Vorstellung. Er fordert die Erhebung zur »absoluten Form« – dem Denken. Durch diese Erhebung gelangt das Denken zur absoluten Selbstvermittlung. In ihr erfasst das Denken zutiefst sich selbst und seinen Gegenstand: den absoluten Geist, Gott. Damit ist das Programm der »Phänomenologie des Geistes« zum Ziel gekommen und die »Enzyklopädie« vollendet. Das Absolute, Gott, das anfänglich als »Substanz« betrachtet wurde, ist als »Subjekt« erkannt, »dessen Gegenwart das Denken ist«. 23

12.2 Das Reich des Vaters Im letzten Teil seiner »Vorlesungen über die Philosophie der Religion« entfaltet Hegel seine Trinitätsspekulation. 24 Dabei widmet er Schmidt 1997, 96 f. Vgl. Schmidt 1997, 97. 23 Schmidt 1997, 97. 24 Hegel hielt seine Vorlesungen über die »Philosophie der Religion« insgesamt viermal: 1821, 1824, 1827 und 1831. Als Text ist hier zugrundegelegt: Georg Wilhelm 21 22

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Das Reich des Vaters

jeder einzelnen göttlichen Person ein eigenes Kapitel 25 und vertritt eine Drei-Reiche-Lehre. 26 Im ersten Kapitel befasst er sich mit dem Reich des Vaters. 27

Friedrich Hegel:Vorlesungen über die Philosophie der Religion I und II (Werke in zwanzig Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel) (Werke 16 und 17) (6. bzw. 8. Auflage), Frankfurt a. M. 2012 bzw. 2013. In seinen »Vorlesungen über die Philosophie der Religion« geht Hegel in der Einleitung unter anderem auf die Stellung der Religionsphilosophie zur Philosophie und zur Religion und auf das Verhältnis der Religionsphilosophie zu den Zeitprinzipien des religiösen Bewusstseins ein. Der erste Teil ist dann dem Begriff der Religion gewidmet. Hegel befasst sich darin mit Gott, mit dem religiösen Verhältnis und mit dem Kultus (d. h. der Gottesverehrung). Im zweiten Teil behandelt Hegel die bestimmte Religion und darin in einem ersten Abschnitt die Naturreligion, zu der für Hegel unter anderem die chinesische, die indische (d. h. hinduistische), die buddhistische und die ägyptische zählt, in einem zweiten Abschnitt die Religion der geistigen Individualität, zu der für Hegel die jüdische, die griechische und die römische Religion gehört. Im dritten Teil erörtert Hegel die absolute Religion, unter der er das Christentum versteht. Dieser Teil umfasst ein Kapitel über das Allgemeine dieser Religion, ein Kapitel über den metaphysischen Begriff der Idee Gottes und ein Kapitel, das mit »Einteilung« überschrieben ist. Dieses Kapitel, also das dritte Kapitel im dritten Teil der religionsphilosophischen Vorlesungen, enthält Hegels Trinitätsspekulation (213–344). Es ist selbst in drei Teile unterteilt: I. Gott in seiner ewigen Idee an und für sich: Das Reich des Vaters; II. Die ewige Idee Gottes im Elemente des Bewusstseins und Vorstellens, oder die Differenz: Das Reich des Sohnes; III. Die Idee im Element der Gemeinde: Das Reich des Geistes. Vgl. dazu Jörg Splett: Die Trinitätslehre G. W. F. Hegels (Symposion 20), Freiburg/München 1965 [= Splett 1965], 126–136. 25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel:Vorlesungen über die Philosophie der Religion II (Werke in zwanzig Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel) (Werke 17) (8. Auflage), Frankfurt a. M. 2013 [= VPR II], 218–240; 241–299; 299–344. Vgl. dazu Peter Trawny: Die Zeit der Dreieinigkeit. Untersuchungen zur Trinität bei Hegel und Schelling, Würzburg 2002, 54–79. 26 Im Hintergrund steht hier bei Hegel die Drei-Reiche-Lehre, genauer die Drei-Zeitalter-Lehre des Joachim von Fiore (1130/1135–1202). Dieser hatte die Geschichte in drei Zeitalter eingeteilt und mit der Trinität in Verbindung gebracht. Demnach gab es eine Zeit des Vaters, die eine Zeit des Gesetzes war und dem Alten Testament entsprach, eine Zeit des Sohnes, die eine Zeit der Gnade war und die mit dem Neuen Testament begann und nach Fiores Vorhersage 1260 enden sollte, und eine Zeit des Heiligen Geistes, die eine Zeit der überreichlichen Gnade sein würde. Letztere würde ein glückliches Zeitalter sein, in dem die Bergpredigt vollständig eingehalten und der Geist der Armut gelebt würde sowie die Kriege beendet wären. Alle wären dann unmittelbar vom Heiligen Geist erleuchtet und besäßen geistliche Kenntnis (intelligentia spiritualis). 27 VPR II 218–140. Zur Trinitätslehre Hegels insgesamt siehe Gisbert Greshake: Der

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

12.2.1 Die Bestimmung des Elementes Hegel sucht zunächst einmal Gott ohne die inneren trinitarischen Beziehungen und ohne die schöpferische Beziehung zur Welt zu erfassen. 28 Gott ist so betrachtet Gott an und für sich vor oder außer der Welt. Er ist in dieser Form nur ewige, abstrakte Idee und dem Menschen nur im Element des Gedankens oder Denkens, und zwar des reinen, allgemeinen Denkens, nicht des konkret begreifenden Denkens gegeben. Das menschliche Bewusstsein kann Gott hier nicht empfinden oder fühlen, weil das seine Erscheinung in der Welt voraussetzen würde. Es denkt Gott auch nicht durch verstandesmäßiges Räsonieren oder Reflektieren, bei dem Gott nur als zufällig existierend gedacht würde. Es denkt vielmehr Gott mit Hilfe der Vernunft als notwendig existierendes Wesen. Aber es kann hier nur das allgemeine Wesen Gottes denken. Gott ist für es allgemeiner Gegenstand seines Denkens. Gott so gedacht ist Geist, denkender Geist und Geist im Element der Freiheit, d. h. freier Geist. Gott denkt sich hier unmittelbar selbst, er ist reine geistige Anschauung, reine Einheit oder Identität mit sich selbst, ungetrübtes Licht ohne alles Finstere oder Dunkle. 29 Keinerlei Unterschied ist in ihm – etwa der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt. Sein Wesen ist in keiner Weise mit dem Anderssein behaftet.

12.2.2 Die absolute Diremtion Gott als reine Einheit ohne jede Verschiedenheit und ohne jedes Anderssein gibt es nicht und hat es nie gegeben. In Gott ist es immer schon zur, wie Hegel sagt, »absoluten Diremtion« gekommen, d. h. wörtlich zur Entzweiung, Trennung, Entfremdung, gemeint ist Unterscheidung. 30 Wie lässt sich diese innere Unterscheidung in Gott aber denkerisch nachvollziehen? Hegel skizziert dazu zwei denkerische Wege des Menschen zu Gott, wobei der eine Weg dem aposteriorischen Typ, der andere dem

Dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie (4., durchgesehene und erweiterte Auflage), Freiburg i. Br. 2001, 136–141. 28 Die Bestimmung des Elementes: VPR II 218–220. 29 Vgl. auch VPR II 223. 30 Die absolute Diremtion: VPR II 220 f.

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Das Reich des Vaters

apriorischen Typ der Gottesbeweise entspricht. Auf dem einen Weg geht der Mensch vom unmittelbaren, einzelnen Sein, d. h. von einzelnen endlichen und weltlichen Seienden aus und gelangt – wie etwa beim kosmologischen oder teleologischen Beweis des Daseins Gottes – durch schlussfolgerndes Denken zu Gott als reiner, in sich ungeschiedener Unendlichkeit. Beim zweiten Weg geht der Mensch – dem ontologischen Gottesbeweis entsprechend – vom Resultat des ersten Weges aus, nämlich vom Allgemeinen des Denkens und des Begriffs von Gott, und gelangt auf diese Weise zur inneren Unterschiedenheit Gottes. Hegel setzt bei dieser Überlegung voraus, dass das Allgemeine nicht abstrakt bleibt, sondern konkret wird, indem es sich in Bewegung setzt und sich von sich unterscheidet. Anders gesagt: Für Hegel gehört ganz allgemein zum Begriff, sicher aber speziell zum Begriff Gottes eine innere Verschiedenheit. Der Begriff als solcher hat die Struktur einer Einheit mit sich in Unterschiedenheit. Deshalb gehört zum Begriff Gottes die innere Verschiedenheit seiner Einheit. Zum Allgemeinen oder zum Begriff Gottes gehört es, wie Hegel formuliert, »sich in sich zu unterscheiden«, den Unterschied in sich zu haben oder zu halten. 31 Vor diesem Hintergrund kennzeichnet Hegel das Denken des Endlichen, bei dem der Mensch mithilfe seines Verstandes die Einheit ohne Verschiedenheit oder auch die Verschiedenheit ohne Einheit denkt, als abstraktes Denken, das Denken des unendlichen Gegenstandes oder des Unendlichen, bei dem der Mensch mithilfe seiner Vernunft die Einheit mit Verschiedenheit oder in Verschiedenheit denkt, als konkretes Denken. 32 Abstraktes Denken sieht von Unterschieden ab oder bleibt bei Unterschieden stehen, ohne zur höheren Einheit vorzudringen, konkretes Denken nimmt bei aller Einheit und bei allem Allgemeinen und Gemeinsamen auch die Unterschiede wahr bzw. bei den Unterschieden die höhere Einheit.

12.2.3 Die Dialektik der Dreieinigkeit Gottes Um nun die Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes spekulativ genauer zu entwickeln, geht Hegel als erstes von der These aus, Gott sei Geist. 33 31 32 33

Vgl. VPR II 220. Vgl. VPR II 221. Dreieinigkeit: VPR II 221–240.

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

Gott ist Geist. So steht es schon im Johannesevangelium (Joh 4, 24). Gott ist der allgemeine Geist, der sich aber besondert, d. h. der eine besondere, konkrete Gestalt annimmt oder hat, nämlich die Gestalt der Dreieinigkeit. Dies ist die absolute Wahrheit über Gott, und die Religion, die dies zum Inhalt hat, ist die wahre Religion, und diese ist nach Hegel das Christentum. Gott als Geist ist Prozess, Bewegung, Leben. Und die Bewegung und das Leben besteht darin, dass Gott sich in sich selbst unterscheidet, sich in sich selbst bestimmt, sich als dem Allgemeinen in sich selbst das andere, Besondere oder von ihm Unterschiedene gegenüberstellt, aber so, dass der Unterschied in der Einheit aufgehoben, sozusagen wie nicht gesetzt ist, und so das eine in dem anderen bei sich selbst ist. Im konkreten Blick auf Gott Vater und Gott Sohn bedeutet dies für den Vater: In der Gottheit als Geist ist der Vater vom Sohn verschieden, aber dies in einer Einheit oder Identität, sodass der Vater im Sohn durch den Heiligen Geist ganz bei sich selbst ist. Die Dreieinigkeit als Einheit und Unterschiedenheit ist für Hegel in der ganzen Idee Gottes von vornherein enthalten. Die These, Gott sei Geist, lässt sich Hegel zufolge auch nach der Weise der Empfindung ausdrücken und besagt dann, dass Gott die Liebe ist. Gott ist Liebe. So heißt es bereits im Ersten Johannesbrief (1 Joh 4, 8). Doch was ist Liebe? »Liebe ist«, so Hegel, »ein Unterscheiden zweier, die doch füreinander schlechthin nicht unterschieden sind […].« 34 Das Gefühl und das Bewusstsein dieser Identität oder Einheit trotz der Unterschiedenheit ist Liebe. In der Liebe bin ich außer mir, nämlich beim anderen, habe ich mein Selbstbewusstsein nicht in mir, sondern im anderen, und ist umgekehrt der andere außer sich und hat sein Selbstbewusstsein nur in mir. Die Liebenden sind nur das Bewusstsein ihres Außersichseins und ihrer Identität. Das Anschauen, Fühlen oder Wissen dieser Einheit in Verschiedenheit und im Außersichsein ist Liebe. Hegel sucht nun von den beiden Thesen aus, dass Gott Geist und Liebe ist, die Idee der heiligen Dreieinigkeit Gottes, wie sie in der christlichen Religion ausgesprochen ist, möglichst genau zu bestimmen. Dabei ist der Begriff des Geistes für ihn noch mehr geeignet als der Begriff der Liebe, das Wesen Gottes zu erfassen. 35 Denn die Be34 35

VPR II 222. Vgl. VPR II 234.

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Das Reich des Vaters

stimmung des Geistes, der bei sich ist und frei ist, ist die höhere Bestimmung, insofern sie eine begriffliche Bestimmung ist, während die Bestimmung der Liebe nur eine Bestimmung der Empfindung nach ist. 36 Bei der Idee der Dreieinigkeit Gottes handelt es sich für Hegel um eine ewige, einfache, absolute, reine, spekulative Idee, die dem Menschen im Element des reinen Denkens, und zwar des Denkens durch die Vernunft gegeben ist. Mit seiner Vernunft vermag der Mensch die Dreieinigkeit Gottes als konkrete Idee, die neben dem Allgemeinen auch das Besondere in sich enthält, zu denken, während er mit seinem Verstand nur in der Lage ist, eine abstrakte Idee vom Wesen Gottes zu gewinnen. 37 Sich der reinen Idee Gottes bewusst zu werden, stellt die höchste geistige Tätigkeit des Menschen dar. 38 Der Mensch erlangt dabei »die höchste Ruhe des Denkens« 39. Die Idee der Dreieinigkeit Gottes ist zugleich der reine Begriff Gottes und die absolute Wahrheit. Da die Idee alle Wahrheit und die eine Wahrheit ist, muss alles Besondere, was als Wahrhaftes aufgefasst wird, nach der Form dieser Idee aufgefasst werden. 40 Das gilt auch von der Welt in ihrer Konkretheit und Endlichkeit. Da sie von Gott hervorgebracht wurde, macht die göttliche Idee der Dreieinigkeit die Grundlage dessen aus, was sie überhaupt ist. 41 Nach Hegel gilt daher ganz allgemein: Die Wahrheit von etwas erkennen heißt, es nach der Form der göttlichen Idee der Dreieinigkeit überhaupt erkennen und bestimmen. D. h., alles, auch alles in der Welt muss im Lichte und in der Perspektive der Dreieinigkeit Gottes gesehen werden. Der Inhalt der Idee vom dreieinigen Gott ist den Menschen von Gott selbst mitgeteilt, geoffenbart. 42 Für sie ist er »ein Gegebenes und Empfangenes« 43. Sie kennen ihn im Mysterium des Dogmas in der christlichen Religion. Demnach ist Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, dreieiner Gott. Die Menschen glauben an diesen Inhalt und können ihn aufnehmen, weil sie Geist sind, so wie Gott Geist ist. Aber sie können den Inhalt zunächst nur in ihrer Vorstellung aufnehmen, 36 37 38 39 40 41 42 43

Vgl. VPR II 242. Vgl. VPR II 230. Vgl. VPR II 222. VPR II 222. Vgl. VPR II 235. Vgl. VPR II 236. Vgl. VPR II 222; 231. VPR II 222.

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

noch nicht begreifen. Der Inhalt muss aber begriffen werden, er muss in die Form des Begriffes, in die Form des reinen Denkens, in spekulative Form gebracht werden. 44 Und genau das ist die Aufgabe der Philosophie, »das Tun der Philosophie« 45. Bei der Dreieinigkeit Gottes ist das Verhältnis von Vater und Sohn »aus dem organischen Leben genommen« 46. Es drückt ein natürliches Verhältnis aus, das aber nur vorstellungsweise, nur bildlich gebraucht wird, weshalb es nie ganz dem entspricht, was es darstellen soll. 47 Die Aussage: »Gott erzeugt ewig seinen Sohn«, die in der Sprache der Religion und der bildlichen Vorstellung artikuliert ist, muss in die Sprache der Philosophie und des spekulativen und konkreten Denkens, d. h. des Begreifens, übersetzt werden. Dann heißt die Aussage: »Gott unterscheidet sich von sich« 48. Laut Hegel fangen wir so von Gott zu sprechen an. Gott unterscheidet sich von sich und »ist in dem gesetzten anderen schlechthin bei sich selbst« 49. Das ist »die Form der Liebe« 50. Im Hintergrund dieser Aussage steht die im Prinzip bereits von Aristoteles vertretene These, Gott sei reine geistige Tätigkeit, wie die Scholastik sagte: actus purus, d. h. reine Wirklichkeit, reiner geistiger Vollzug und damit Wissen. Zum Wissen gehört aber »ein anderes, das gewusst wird, und indem das Wissen es weiß, so ist es ihm angeeignet« 51. Der spekulative Grundgedanke, Gott unterscheide sich von sich, setze sich ein anderes und eigne sich dieses andere so an, dass er im anderen ganz bei sich selbst ist, kehrt nun bei Hegel in mehr oder weniger starken Variationen immer wieder. So kann Hegel ganz einfach sagen: Gott ist die Liebe, »dies Unterscheiden und die Nichtigkeit dieses Unterschieds« 52. Oder: »Gott setzt sich in diesen Unterschied und hebt ihn ebenso auch auf […].« 53 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Vgl. VPR II 231. VPR II 223. VPR II 223; vgl. 231. Vgl. VPR II 223. VPR II 223. VPR II 223. VPR II 223. VPR II 223. VPR II 222. VPR II 225.

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Das Reich des Vaters

Dass Gott bei dem von sich Unterschiedenen durch die Aufhebung des Unterschieds ganz bei sich ist, drückt Hegel etwa so aus: »Gott schaut in dem Unterschiedenen sich an, ist in seinem anderen nur mit sich selbst verbunden, ist darin nur bei sich selbst, nur mit sich zusammengeschlossen, er schaut sich in seinem anderen an.« 54 Als eine Art Zusammenfassung oder Definition der spekulativen Idee der Dreieinigkeit Gottes darf folgende Formulierung Hegels gelten: »Gott in seiner ewigen Allgemeinheit ist dies, sich zu unterscheiden, zu bestimmen, ein anderes seiner zu setzen und den Unterschied ebenso aufzuheben, darin bei sich zu sein, und nur durch dies Hervorgebrachtsein ist der Geist […].« 55 Der spekulative Grundgedanke der Dreieinigkeit Gottes besteht gewissermaßen in einer doppelten zeitgleich-ewigen Bewegung, die in traditioneller religiöser Sprache ausgedrückt einerseits der ewigen Zeugung des Sohnes durch den Vater und andererseits der ewigen Hauchung des Heiligen Geistes durch den Vater und den Sohn entspricht. Gott setzt in sich ein anderes und setzt damit den Unterschied, ja den realen Widerspruch. 56 Denn indem der Vater vom Sohn verschieden und zugleich mit ihm eins ist, ist er mit ihm zugleich

VPR II 228. VPR II 231. 56 Logisch lässt sich zwischen unechten (subjektiven, psychologischen, scheinbaren), sich nicht wirklich ausschließenden Gegensätzen (z. B. »Gott ist gerecht« und »Gott ist barmherzig«) und echten, sich ausschließenden Gegensätzen unterscheiden. Bei den sich ausschließenden oder ausschließlichen Gegensätzen unterscheidet man logisch zwischen kontradiktorischen und konträren. Der kontradiktorische Gegensatz, auch Kontradiktion oder Widerspruch genannt, ist der logische Gegensatz, der besteht, wenn eine Aussage die Negation der anderen ist bzw. ein Begriff die Negation des anderen ist. Beispiele für kontradiktorische, widersprüchliche Begriffe wären Sein – Nichtsein (Nichts); weiß – nicht-weiß; Möglichkeit – Unmöglichkeit. Bei kontradiktorischen Gegensätzen können nicht beide Aussagen zugleich wahr sein (z. B. nicht »x ist möglich« und »x ist unmöglich«). Aber es muss immer eine von den entgegengesetzten Aussagen wahr sein (z. B. »x ist möglich« oder »x ist unmöglich«). Beispiele für konträre Begriffe wären: Sein – Anders-Sein; weiß – schwarz; Kreis – Quadrat; Maximum – Minimum. Bei konträren Gegensätzen können nicht beide entgegengesetzte Aussagen zugleich wahr sein (z. B. nicht »x ist weiß« und »x ist schwarz«). Es ist jedoch möglich, dass keine der beiden Aussagen wahr ist (z. B. »x ist rot«). Während folglich von zwei kontradiktorischen Sätzen immer der eine wahr und der andere falsch sein muss, wobei der eine aus dem anderen durch logische Negation formal ableitbar ist, können zwei konträre Gegensätze auch zusammen falsch sein, weshalb der eine aus dem anderen durch Negation nicht logisch ableitbar ist. 54 55

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

nicht-identisch und identisch. 57 Gott belässt es aber nicht bei diesem Widerspruch, sondern hebt ihn dialektisch auf. Er bringt die widersprüchlichen Bestimmungen weg, sodass das andere ganz mit ihm eins wird, er ganz bei sich im anderen ist. Kurz: Gott setzt den Widerspruch in sich und negiert ihn absolut. 58 Erst die ganze dialektische Bewegung, die reale Überwindung des realen Widerspruchs, macht die konkrete, spekulative Idee der Dreieinigkeit aus, ihren ewigen Prozess 59, ihre »Lebendigkeit« 60, ihre wahrhafte Wirklichkeit, ihre Wahrheit, ihre Unendlichkeit 61. Würden wir nur sagen: »Gott der Vater«, hätten wir nur die abstrakte Allgemeinheit Gottes, seine unterschiedslose unmittelbare Identität mit sich selbst, aber noch nicht seine Besonderheit und seine wahre Unendlichkeit erreicht. »Seine Unendlichkeit ist eben dies, dass er diese Form der abstrakten Allgemeinheit, der Unmittelbarkeit aufhebt, wodurch der Unterschied gesetzt ist; aber er ist ebenso, diesen Unterschied aufzuheben.« 62 Auch macht nicht der innere Widerspruch allein, sondern erst der innere Widerspruch zusammen mit seiner dialektischen Aufhebung die geistige Einheit Gottes aus. 63 Für Hegel bleibt der Unterschied oder Widerspruch in Gott zwischen Vater und Sohn auch nach seiner Aufhebung im Heiligen Geist

Vgl. z. B. VPR II 221. Hegel wählt in diesem Zusammenhang bewusst nicht nur den Begriff der Einheit, sondern auch den der Identität. 58 Vgl. VPR II 225. 59 Vgl. VPR II 223. 60 VPR II 225. 61 Vgl. VPR II 227. 62 VPR II 227. 63 Vgl. VPR II 232. Mit seiner Dialektik setzt sich Hegel über zwei in der klassischen und der formalen zweiwertigen Logik gültige Sätze hinweg: über den Satz der Identität und den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch. Nach dem Satz der Identität kann etwas nur mit dem identisch sein, was von ihm ununterscheidbar ist, d. h. nur mit sich selbst (a = a). Nach dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch kann etwas nicht zugleich unter derselben Rücksicht sein und nicht sein, bzw. ist es unmöglich, dass eine Aussage und zugleich ihre Negation (ihr kontradiktorischer Gegensatz) wahr ist (nicht: a und nicht-a). Gegen den Satz der Identität verstößt Hegel im Zusammenhang der Dreieinigkeit Gottes, wenn er erklärt, der Vater sei gerade mit sich identisch, indem er mit dem von ihm verschiedenen Sohn identisch ist. Und den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch hebt er im Zusammenhang der Dreieinigkeit Gottes auf, indem er erklärt, der Vater sei mit dem Sohn zugleich nicht-identisch und identisch. Noch direkter verstößt er gegen den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, wenn er bereits die allererste Unterscheidung in Gott als Widerspruch deutet. Ähnlich verhält es sich Hegel zufolge bei der Gott-Welt-Beziehung. 57

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bestehen. Unter einer absoluten Negation oder Aufhebung des Unterschieds in Gott ist im Sinne Hegels keine abstrakte Negation oder Aufhebung gemeint, bei der am Ende der Unterschied nicht mehr vorhanden ist, sondern ein dialektisches Aufheben im bekannten dreifachen hegelschen Sinn. 64 Demzufolge hat das Aufheben den Sinn von 1. Negieren (Beseitigen), 2. Aufbewahren (Bewahren) und 3. Hinaufheben (auf eine höhere Stufe). 65 Im Zusammenhang der Dreieinigkeit Gottes bedeutet dies: 1. Der Unterschied oder Widerspruch zwischen Vater und Sohn wird insofern aufgehoben, als alles Trennende, Entzweiende und Entfremdende, das mit diesem Unterschied einhergehen könnte, völlig behoben, entfernt, beseitigt ist. 2. Der Unterschied zwischen Vater und Sohn bleibt auch nach seiner Aufhebung im Heiligen Geist bewahrt, erhalten. 3. Der Unterschied zwischen Vater und Sohn ist durch die Aufhebung im Heiligen Geist auf eine höhere Stufe gehoben, in eine höhere Einheit integriert. Die Einheit der Dreieinigkeit Gottes ist insofern eine höhere, nämlich wahrhaft geistige Einheit als jene hypothetische, völlig abstrakte und unterschiedslose Einheit Gottes mit sich selbst, als in ihr der Unterschied zwischen Vater und Sohn zugleich vollkommen bewahrt und vollkommen überbrückt ist. Eine differenzierte Einheit stellt für Hegel grundsätzlich eine höhere Einheit dar als eine völlig ununterschiedene, eine vermittelt-unmittelbare eine höhere als eine bloß unmittelbare. Vater und Sohn sind in der Gottheit nicht einfach identisch miteinander, wodurch sie sich nicht mehr voneinander unterscheiden ließen, sondern sind gerade in ihrer Nicht-Identität identisch miteinander.

12.2.4 Der Ernst der Liebe Gottes ewige geistige Bewegung besteht darin, sich zu unterscheiden und diesen Widerspruch in sich aufzuheben. Hegel kritisiert nun al-

Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik. Erstes Buch. Die Lehre vom Sein; allerdings unterscheidet Hegel an dieser Stelle nur zwei Bedeutungen von Aufheben, nämlich das Negieren (aufhören lassen, ein Ende machen) und das Aufbewahren (Erhalten). 65 Lateinisch: 1. tollere, 2. conservare, 3. elevare. 64

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lerdings an dieser inneren geistigen Bewegung Gottes, das Sich-vonsich-Unterscheiden oder Sich-in-sich-Unterscheiden, mit dem die Bewegung anhebe, sei nur ein Spiel, dem der eigentliche Ernst fehle. Hegel spricht vom »Spiel dieses Unterscheidens, mit dem es kein Ernst ist« 66, und sagt: »Es ist dies Unterscheiden nur eine Bewegung, ein Spiel der Liebe mit sich selbst, worin es nicht zur Ernsthaftigkeit des Andersseins kommt, zur Trennung und Entzweiung.« 67 Was meint Hegel damit? Warum ist das Unterscheiden in Gott für ihn nur ein Spiel, dem der eigentliche Ernst fehlt? Es ist nur Spiel, weil das, was Gott von sich unterscheidet, nicht die Gestalt des Andersseins hat, sondern das Unterschiedene unmittelbar nur das ist, von dem es geschieden wurde – nämlich Gott. 68 Unterscheidet sich Gott von sich, ist das Unterschiedene wiederum Gott. Das andere, das Gott setzt, ist selbst Gott. In traditionell-religiöser Sprache ausgedrückt: Der Sohn, den der Vater in Ewigkeit zeugt, ist Gott, genauso wie der Vater. Das andere, das Gott in seiner Dreieinigkeit setzt, ist daher nicht wirklich anders, das Unterschiedene nicht wirklich verschieden, weil es wieder Gott, wieder unendliche Wirklichkeit ist. Deshalb sagt Hegel, dass die Unterschiede in der Dreieinigkeit Gottes nur ideell sind 69, aber »nicht in der Tat als Unterschiede gesetzt sind« 70, dass das Unterschiedene »im Schoße Gottes bleibt« und deshalb »der Unterschied keiner ist«. 71 »Der Prozess ist so nichts als ein Spiel der Selbsterhaltung, der Vergewisserung seiner selbst.« 72 Ganz anders verhält es sich dagegen bei der Erschaffung der Welt durch Gott. Die »Welt ist da bestimmt als das wesentlich andere Gottes, die Negation von Gott, außer, ohne Gott, gottlos seiend« 73. Erschafft Gott die Welt, so setzt er ein anderes, das ihm gegenüber wirklich und wesentlich anders ist, nämlich endliche, nichtgöttliche Wirklichkeit, während das andere, das Gott in seiner Dreieinigkeit setzt, von ihm nicht wirklich oder wesentlich verschieden ist, sondern unendliche, göttliche Wirklichkeit ist – wie er selbst. Deshalb erhält 66 67 68 69 70 71 72 73

VPR II 222. VPR II 242. Vgl. VPR II 223. Vgl. VPR II 226. VPR II 227. VPR II 239. VPR II 235. VPR II 226.

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nach Hegel das Sich-Unterscheiden Gottes, das göttliche Setzen eines anderen erst bei der äußeren Erschaffung der Welt seinen wahren, vollen Ernst, während es im Inneren der Dreieinigkeit für Hegel nur ein Spiel ist. Diese metaphysische Beurteilung Hegels ist jedoch aus zwei Gründen fragwürdig. Zum einen widerspricht diese Beurteilung all jenen Formulierungen Hegels, in denen der Unterschied, den Gott bei seiner Dreieinigkeit in sich setzt, als Widerspruch und damit als größtmöglicher logischer Gegensatz aufgefasst wird. Zwar spricht Hegel nicht unmittelbar davon, dass Gott in sich den Widerspruch setzt, aber er spricht davon, dass Gott nach der Setzung des Unterschieds in sich den Widerspruch aufhebt bzw. auflöst. Der Gegensatz, der – religiös ausgedrückt – zwischen Vater und Sohn besteht, ist philosophisch konkret gedacht der größtmögliche logische Gegensatz, der Widerspruch. Der größtmögliche logische Gegensatz lässt aber auch einen größtmöglichen metaphysischen Gegensatz vermuten. 74 Zum anderen ist direkt metaphysisch zu bedenken, dass Gott an und für sich aus seinem Wesen heraus unendlich ist. Er ist unendliche Wirklichkeit. Das bedeutet wiederum metaphysisch, dass alles an Gott als solchem unendlich ist und nichts an ihm nach endlichem Maß gemessen werden kann. Das gilt dann aber auch, wenn Gott sich in sich von sich unterscheidet. Der Unterschied, der dadurch in Gott besteht, ist dann ebenfalls ein unendlicher, d. h. nach irdischem Maß nicht fassbarer oder begreiflicher. Deshalb könnte der Unterschied metaphysisch nicht größer sein. Es handelt sich bei diesem Unterschied um den größtmöglichen überhaupt, den wir metaphysisch denken können. Jeder andere Unterschied ist im unendlichen Unterschied in Gottes Dreieinigkeit gewissermaßen enthalten, inbegriffen oder mitgedacht, wie Hegel selber beim Reich des Sohnes darlegen wird. Dann ist aber das Sich-Unterscheiden Gottes in der Dreieinigkeit nicht Spiel, sondern, wenn man so will, größter Ernst, ein Ernst, der größer nicht sein könnte. Der Sohn ist vom Vater unendlich verschieden, weshalb der Unterschied nur in einer unendlichen göttlichen Bewegung, im unendlichen Heiligen Geist, überbrückt und in der höchsten geistigen Einheit aufgehoben und integriert werden kann. Gott benötigt nicht die Welt, um ein wirklich anderes, einen wirklichen Unterschied zu setzen. Indem der göttliche Vater das andere seiner als göttlichen Sohn hervorbringt, setzt er den größtmög74

Siehe dazu Kap. 14.8.3.

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

lichen wirklichen Unterschied überhaupt, der zugleich wie die göttliche Einheit selbst und mit der göttlichen Einheit zusammen die größtmögliche Vollkommenheit darstellt. Aus diesem Grund ist auch die innergöttliche dreieine Liebe die größtmögliche und absolut vollkommene Liebe.

12.2.5 Verstand und Vernunft Die spekulative Idee der Dreieinigkeit Gottes in ihrer Lebendigkeit, Wirklichkeit, Wahrheit und Unendlichkeit kann der Mensch laut Hegel nur mit seiner Vernunft, nicht aber mit seinem Verstand, geschweige denn mit seinem sinnlichen Wahrnehmungsvermögen erkennen. Für das Sinnliche und den Verstand des Menschen ist die göttliche ewige Idee ein unbegreifliches Geheimnis. Nur mit der Vernunft als seinem spekulativen Denk- und Erkenntnisvermögen vermag der Mensch diese Idee zu denken. Sucht der Verstand das Wesen Gottes zu erfassen, denkt er sich Gott als einen Träger von bestimmten Eigenschaften. Als dieser Träger ist Gott aber für ihn ein in sich selbst unterschiedsloses Subjekt. 75 Der Verstand spricht Gott viele Prädikate zu, etwa die Prädikate der Güte und der Allmacht oder – in Bezug auf die Welt – der Allgegenwart und der Allweisheit. 76 Dadurch erhält Gott viele Namen. Er wird der »Vielnamige«. Das Ungenügen und eigentlich Mangelhafte an dieser Weise, Gott durch Prädikate zu bestimmen, besteht darin, dass der Verstand die bestimmten Inhalte der Prädikate nicht lebendig-dynamisch, sondern unbeweglich, statisch (»stehend«) und starr denkt. Dadurch geraten die Prädikate in Entgegensetzung und Widersprüche zueinander. So ließe sich etwa die Barmherzigkeit Gottes als im Widerspruch zu seiner Gerechtigkeit stehend denken. Infolge seines statischen Denkens ist nun aber der Verstand nicht in der Lage, die Unterschiede und Widersprüche, auf die er gestoßen ist, in einer höheren, geistigen Einheit aufzuheben und aufzulösen. »Das nicht spekulative, das verständige Denken ist«, so Hegel, »das, in welchem stehengeblieben wird beim Unterschied als Unterschied« 77 oder beim Widerspruch 75 76 77

Vgl. VPR II 224. Vgl. VPR II 224 f. VPR II 227.

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Das Reich des Vaters

als Widerspruch, ohne zur Aufhebung oder Auflösung derselben fortzuschreiten. Der Verstand kennt nur, wie Hegel ausführt, »die abstrakte Identität mit sich, nicht die konkrete, dass diese Unterschiede in einem sind« 78. Hegel gemäß ist der Verstand aufgrund seiner abstrakten, starren Denkweise überhaupt nicht imstande, etwas Lebendiges, das Leben als Leben zu begreifen. Dies gilt bereits für das Tierisch-Lebendige. »Das Lebendige hat Bedürfnisse und ist so Widerspruch, aber die Befriedigung ist Aufheben des Widerspruchs.« 79 Der Verstand vermag zwar den Widerspruch zwischen dem Lebewesen und seinen Trieben und Bedürfnissen zu denken, nicht aber die Aufhebung des Widerspruchs, die das Leben selbst durch die Befriedigung seiner Bedürfnisse vollzieht. Kann der Verstand schon nicht das organische Leben begreifen, um wie viel weniger dann das geistige Leben Gottes. Infolge seines statischen Denkens bleibt der Verstand letztlich ganz dem Endlichen verhaftet. So denkt der Verstand etwa »Gott den Vater«, bleibt aber dann bei diesem Abstraktum einer unmittelbaren Identität Gottes mit sich stehen und schreitet nicht zur Selbstvermittlung des Vaters durch den Sohn und den Heiligen Geist voran, sodass Gott nur in seiner Allgemeinheit, nicht in seiner Besonderheit gedacht ist und auf die Weise der Endlichkeit, nicht der Unendlichkeit erfasst ist. 80 Oder der Verstand denkt sich auf der einen Seite das Endliche und auf der anderen Seite das Unendliche, schreibt beiden Absolutheit zu und endet somit bei einem Widerspruch, den er nicht mehr aufzulösen imstande ist. Auch hier wird das Verhältnis von Endlichem und Unendlichem auf endliche, nicht auf unendliche Weise gedacht. Hegel nennt schließlich drei konkrete Probleme, mit denen der Verstand beim Denken der Dreieinigkeit Gottes nicht fertig wird. 81 Da er die Zahlen ins Spiel bringt, kann er die Dreiheit und die Einheit Gottes nicht dialektisch zusammen denken. Weil für ihn die Personen ganz für sich seiende, isolierte Wesen sind, kann er die Einheit der drei göttlichen Personen nicht verstehen. Und weil er nicht einsieht, dass bereits der Vater Besonderheit und damit Geist ist, kann er auch

78 79 80 81

VPR II 230. VPR II 229. Vgl. VPR II 227 f. Vgl. VPR II 231–236.

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

nicht verstehen, wie Gott sowohl in seiner Allgemeinheit als auch in der Besonderheit der dritten Person Geist sein kann. Auf wahrhaft unendliche, nämlich dynamisch-lebendige, spekulative Weise denkt nur die Vernunft Gott selbst und sein Verhältnis zur Welt, indem sie Gott als dreieinen d. h. als lebendige Einheit in Verschiedenheit und das Gott-Welt-Verhältnis als ein Vermittlungsund Versöhnungsgeschehen auf eine lebendige Einheit in Verschiedenheit hin denkt. Für das Sinnliche und für den Verstand hingegen bleibt die Idee der Dreieinigkeit Gottes ein Geheimnis, das sie nicht wirklich erfassen können. Wie für Platon und Nikolaus von Kues stellt für Hegel die Vernunft das höhere Erkenntnisvermögen dar, das dem Verstand übergeordnet ist. Nach Platon können wir mit unserem Verstand zwar Mathematik treiben, nicht aber die Ideen erkennen. Das vermögen wir nur mit unserer Vernunft. 82 Laut Cusanus können wir mit unserem Verstand nicht den Zusammenfall der Gegensätze in Gott denken. Wohl aber können wir mit unserer Vernunft diesen Zusammenfall erkennen. 83 Auch bei Cusanus erweist sich damit der Verstand als unfähig, das Göttliche oder Gott angemessen zu denken. Das dem unendlichen dreieinen Gott entsprechende Erkenntnisvermögen ist die Vernunft. Dieser Auffassung ist auch Hegel. Für ihn können wir nicht mit dem abstrakten Denken unseres Verstandes, sondern nur mit dem konkreten Denken unserer Vernunft die Dreieinigkeit Gottes erfassen. Denn nur mit unserer Vernunft sind wir in der Lage, dialektisch zu denken und so die dynamische, lebendige Identität von Identität und Nicht-Identität in Gottes Dreieinigkeit zu begreifen. Haben wir aber einmal diese Identität von Identität und NichtIdentität in Gott begriffen, so ist für uns alles begreiflich. 84

12.3 Das Reich des Sohnes Beim Reich des Vaters ging es um die ewige, spekulative Idee der Dreieinigkeit Gottes, um Gott an und für sich. Beim Reich des Sohnes geht es nun um die Differenz zwischen Unendlichem und Endlichem,

82 83 84

Siehe Kap. 1.1.3. Siehe Kap. 8.5. Vgl. Splett 1965, 137.

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Das Reich des Sohnes

um Gott in der Welt. 85 Während die göttliche Idee beim Reich des Vaters in der Bestimmung der Unendlichkeit betrachtet wurde, wird sie beim Reich des Sohnes in der Bestimmung der Endlichkeit betrachtet. 86 Und während die göttliche Idee im Reich des Vaters im Element des Denkens auftrat, tritt sie nun im Reich des Sohnes im Element der Erscheinung in der Welt auf. Der Gott, der an und für sich dreieinig existiert, ist Gegenstand für den Menschen, insofern der Mensch denkendes Subjekt ist. Der Gott, der in der Welt erscheint, ist Gegenstand für den Menschen, insofern der Mensch ein endliches, empirisch-konkretes, sinnliches Subjekt ist. 87 Die göttliche Idee wird hier nicht vom Menschen gedacht, sondern wahrgenommen. 88 Der Mensch gelangt hier bezüglich der Idee Gottes von der absoluten Wahrheit zur Gewissheit und zum unmittelbaren Wissen.

12.3.1 Das Setzen des Unterschiedes Wie dargelegt, fehlt nach der Einschätzung Hegels dem Sich-Unterscheiden Gottes in der Dreieinigkeit der letzte Ernst. Beim Unterschied zwischen Vater und Sohn handelt es sich laut Hegel nur um den abstrakten Unterschied im Allgemeinen, noch nicht um den Unterschied in seiner Eigentümlichkeit. 89 »Die Unterschiedenen sind«, wie Hegel sagt, »als dasselbe gesetzt«, nämlich jeweils als Gott. 90 Der Unterschied zwischen Vater und Sohn ist in der Dreieinigkeit noch nicht vollendet. Er wird gemäß Hegel erst in der Menschwerdung des Sohnes vollendet. Denn erst in der Menschwerdung haben die Unterschiedenen wirklich verschiedene Bestimmungen: der Vater die Bestimmung der Göttlichkeit und der Unendlichkeit, der Sohn die Bestimmung des Menschseins und der Endlichkeit. Erst durch die Menschwerdung erhält der Sohn die Bestimmung »des anderen als solchen«, ist er »ein Freies, für sich selbst«, erscheint er »als ein Wirkliches außer, ohne Gott«. 91 Erst dadurch kommt der Unterschied zu seinem vollen Recht, dass bei der Menschwerdung des Sohnes das 85 86 87 88 89 90 91

Vgl. VPR II 241–299. Vgl. VPR II 241. Vgl. VPR II 241. Vgl. VPR II 242. Setzen des Unterschiedes: VPR II 242 f. VPR II 243. Vgl. VPR II 243.

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

Unterschiedene »das Anderssein als Seiendes« 92 ist, d. h. das Anderssein als weltliches, endliches Seiendes im Unterschied zum göttlichen, unendlichen Sein. Es gehört zur absoluten Freiheit der göttlichen Idee, dass Gott bei der Menschwerdung des Sohnes in Freiheit das andere als ein Freies, Selbständiges aus sich in die Welt hinein entlässt. Schon bei der Erschaffung der Welt entlässt Gott in seiner absoluten Freiheit ein Selbständiges aus sich. Sein Erschaffen der Welt als eines Selbständigen ist allgemeine Voraussetzung für seine Menschwerdung.

12.3.2 Die Welt Entsprechend den drei Reichen Gottes – dem Reich des Vaters, dem Reich des Sohnes 93 und dem Reich des Geistes – unterscheidet Hegel drei Sphären Gottes. In der ersten Sphäre existiert der ewige, wahrhafte Gott nur in seiner Dreieinigkeit, nur in seiner ewigen Wahrheit, nur an und für sich, ohne Zeit und ohne Welt, bzw. vor der Zeit und vor der Welt. 94 In der zweiten Sphäre – der »Sphäre der Bestimmung« 95 – existiert zusammen mit Gott die äußerliche, endliche Welt, die Welt der Endlichkeit, der Raum und die Welt des endlichen Geistes, d. h. des Menschen. Die Welt scheint hier nur das andere, »das Bestimmte, das Unterschiedene, Beschränkte, Negative« Gott gegenüber zu sein und deshalb auch »außer der Wahrheit« zu sein. 96 In dieser Sphäre erscheint Gott in seinem Sohn in der Welt, um die Welt mit sich zu versöhnen. In der dritten Sphäre realisiert und manifestiert sich Gott in seinem Heiligen Geist in der Welt und versöhnt und eint konkret die Welt mit sich. Hegel sucht nun in mehreren Anläufen klar zu machen, dass sich die zweite Sphäre begrifflich-gedanklich betrachtet im Grunde nicht von der ersten Sphäre unterscheidet. 97 So erklärt er vorab: »Das

92 93 94 95 96 97

VPR II 243. Die Welt: VPR II 243–251. Vgl. VPR II 244 f. VPR II 244. VPR II 245. Vgl. VPR II 245–249.

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Das Reich des Sohnes

Verhältnis dieser zweiten Sphäre zur ersten ist hiermit so bestimmt, dass es dieselbe Idee an sich ist, aber in dieser anderen Bestimmung […].« 98 Die Welt erscheint zwar Gott gegenüber als das andere als solches, als selbständige andere Wirklichkeit, aber für Hegel besitzt sie keine wahrhafte Wirklichkeit, da sie nur geschaffenes, gesetztes Sein, nicht – wie bei Gott – Sein aus sich ist. So sagt Hegel: »Die Wahrheit der Welt ist nur ihre Idealität, nicht dass sie wahrhafte Wirklichkeit hätte; sie ist dies, zu sein, aber nur ein Ideelles, nicht ein Ewiges an sich selbst, sondern ein Erschaffenes; ihr Sein ist nur ein gesetztes. Das Sein der Welt ist dies, einen Augenblick des Seins zu haben, aber diese ihre Trennung, Entzweiung von Gott aufzuheben, nur dies zu sein: zurückzukehren zu ihrem Ursprung, in das Verhältnis des Geistes, der Liebe zu treten.« 99

Die Welt hat nur einen Augenblick des Seins, in dem sie von Gott getrennt und entzweit ist. Es ist ihre Bestimmung, dass die Trennung und Entzweiung von Gott aufgehoben wird und sie zu Gott zurückkehrt, selber Geist und Liebe wird und so eins wird mit Gott. Der Prozess der Welt besteht darin, »aus dem Abfall, der Trennung zur Versöhnung überzugehen« 100, »sich aufzuheben und Moment des [göttlichen] Prozesses zu sein«, zu erscheinen, aber dann »überzugehen und sich in die letzte [göttliche] Idee zurückzunehmen«. 101 Die Welt ist so gesehen »das Gegenteil des Selbständigen« 102. Für unsere menschliche Vorstellung besteht natürlich ein großer Unterschied zwischen der Welt und Gott so wie zwischen ihren Prozessen. Für unsere Vorstellung ist eine sinnliche, zeitliche Welt »in der Tat vorhanden« 103, ist die Welt ein an und für sich Seiendes 104, ein Selbständiges. Suchen wir aber die endliche Welt nicht unserer Vorstellung nach, sondern dem Begriff nach zu erkennen, zeigt sich, dass die Welt an sich nur relative Wirklichkeit, nur Erscheinung ist, nicht das an und für sich Seiende und dass ihr deshalb eigentliches Sein, für sich bestehende Selbständigkeit nicht zukommt. Ihre Selbständigkeit

VPR II 245. VPR II 243 f. 100 VPR II 244. 101 VPR II 247. 102 VPR II 247. 103 VPR II 247. 104 Vgl. VPR II 245; 247. 98 99

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erweist sich dann als »nur das für sich negative Moment des Andersseins …, das als solches keine Wahrheit hat« 105. Dem Begriff nach ist die endliche Welt nur ein Moment der göttlichen Idee oder des göttlichen Prozesses selbst, nämlich das Moment des Gesetztseins, des Andersseins oder des anderen, des Negativen. In Gott selbst ist das Jetzt und Fürsichsein der Welt nur »das verschwindende Moment der Erscheinung« 106, wobei selbst das »Verschwinden« hier nicht zeitlich aufgefasst werden darf. Im reinen Begriff oder reinen Gedanken der Welt ist keinerlei Zeit. In ihm ist nur »der einfache Gedanke des anderen« 107 enthalten. Dieser einfache Gedanke des anderen gehört aber bereits zur ewigen Idee der Dreieinigkeit Gottes. In der Dreieinigkeit setzt Gott der Vater das andere seiner, den Sohn, um sich mit diesem im Heiligen Geist ganz zu versöhnen, ganz eins zu werden. Ganz analog setzt Gott bei der Erschaffung der Welt das andere seiner, um es durch den Sohn im Heiligen Geist ganz mit sich zu versöhnen, ganz mit sich zu einen. Der Gedanke der Welt als anderes und ihres Prozesses ist schon im Gedanken der Dreieinigkeit Gottes und seines Prozesses enthalten. Er ist nur Moment am Gedanken oder an der Idee der Dreieinigkeit Gottes. Deshalb kann Hegel ausführen, dass es sich beim Akt der Erschaffung und der Versöhnung der Welt durch Gott und dem innertrinitarischen Akt der Entzweiung und Einung in Gott streng begrifflich gedacht um ein und denselben Akt Gottes handelt. 108 Denn in der Ewigkeit Gottes gibt es nach Hegel keine verschiedenen Akte, Handlungen oder Tätigkeiten Gottes. Das bedeutet freilich nicht, dass »der ewige Sohn des Vaters, der sich selbst gegenständlich seienden Göttlichkeit, dasselbe sei als die Welt und unter jenem nur dieses zu verstehen sei« 109. Im Gegensatz zum ewigen göttlichen Sohn ist für Gott das andere der Welt nicht das göttliche andere, sondern das bestimmte andere, d. h. das andere in einer bestimmten, endlichen, nichtgöttlichen Gestalt, in Gestalt der Erscheinung. Die göttliche Idee kommt in der Welt »als Totalität der Erscheinung« 110 selber zur Erscheinung, äußert sich in ihr, drückt sich in ihr aus, manifestiert sich in ihr. Trotz des Unterschiedes zwischen dem göttlichen und dem 105 106 107 108 109 110

VPR II 246. VPR II 246. VPR II 246. Vgl. VPR II 245. VPR II 245. VPR II 247.

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Das Reich des Sohnes

weltlichen anderen ist dem reinen Begriff und Gedanken nach sowohl die innergöttliche trinitarische Entfaltung Gottes als auch die »äußere« Erschaffung und Versöhnung der Welt durch Gott im Grunde nichts anderes als der Prozess, »sich als anderes zu unterscheiden und dies in sich zurückzunehmen, sodass dies Zurück ebenso das Außen als das Innen ist« 111. Nach Hegel besteht in gewissem Sinn nur für unsere menschliche Vorstellung ein Unterschied zwischen der Welt und Gott, zwischen dem Prozess der Welt und dem innergöttlichen dreieinigen Prozess. Mit unserem begrifflichen Denken, mit dem wir gemäß Hegel im Gegensatz zu unserem Vorstellen die Wirklichkeit an und für sich erreichen, sollten wir jedoch das andere der Welt nur als ein Moment des innergöttlichen anderen auffassen und den Prozess der Welt, bei dem Gott die Welt von sich unterscheidet und mit sich versöhnt, nur als ein Moment des innergöttlichen dreieinigen Prozesses verstehen, bei dem sich Gott in sich von sich unterscheidet und diesen Unterschied aufhebt. Mit dieser Überlegung gelingt es Hegel deutlich zu machen, dass der göttliche dreieinige Prozess die innergöttliche Voraussetzung und Bedingung der Möglichkeit für Gott selbst ist, eine Welt als das andere seiner zu erschaffen und mit sich zu versöhnen. Weil Gott in sich das göttliche andere setzt und in sich zurücknimmt, kann er auch das endliche, weltliche andere setzen und in sich zurücknehmen, mit sich versöhnen und einen. In der Bewegung der Welt setzt sich nur die dreieinige Bewegung Gottes fort. In ihr manifestiert sich die innergöttliche Bewegung. Problematisch an der ganzen Überlegung ist allerdings Hegels Tendenz, die Wirklichkeit und das Sein der Welt zu sehr zu relativieren und metaphysisch abzuwerten. Zwar ist das Sein der Welt tatsächlich nur relatives Sein, insofern es von Gott erschaffen ist und von ihm metaphysisch ganz abhängt, aber als relatives Sein ist es doch echtes Sein und nicht nur etwa Erscheinung im Sinne von Schein. Der Welt kommt keine absolute Selbständigkeit zu. Aber ihr ist von Gott dem Schöpfer eine wenngleich relative, so doch wirkliche Selbstständigkeit verliehen, die in der menschlichen Freiheit gipfelt. Auch wenn die Welt nur nichtgöttliche, endliche, sinnliche, zeitliche Wirklichkeit ist, ist sie doch wahrhaft Wirklichkeit. 112 111 112

VPR II 248. Siehe Kap. 15 und 16.

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12.3.3. Die Menschwerdung Gottes Nach Hegel genügt es nicht, die Einheit und Versöhntheit des endlichen Menschen mit dem unendlichen Gott im allgemeinen Gedanken des Menschen aufzuweisen. 113 Vielmehr muss der Mensch, soll das Bewusstsein von der Einheit von Gott und Mensch ganz in ihn und seine Endlichkeit eindringen, diese Einheit und Versöhntheit unmittelbar erfahren. Das geschieht aber genau in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. 114 Bei der Menschwerdung Gottes denkt der Mensch nicht nur notwendig die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur, sondern erfährt sie. Die Idee der Einheit der göttlichen und menschlichen Natur wird durch die Menschwerdung Gottes für den Menschen Gegenstand seiner unmittelbaren sinnlichen Anschauung und damit Gewissheit. Sie wird von ihm gesehen und erfahren. Sie kommt für ihn in einem einzelnen Menschen in der zeitlichen Welt zur Erscheinung. Im Gottessohn, im Gottmenschen wird ihm das Göttliche unmittelbar gegenwärtig und gewiss. 115 Der Mensch erkennt die Einheit von Gott und Mensch, von göttlicher und menschlicher Natur nicht nur allgemein dem Gedanken nach, sondern konkret in seiner geschichtlichen und weltlichen Wirklichkeit. Die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur, wie sie in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus zur Erscheinung kommt, macht »die ansichseiende, substantielle Seite« 116 der Versöhnung des Menschen in sich aus und bildet deren »notwendige Grundlage« 117. Nur weil und insofern der Mensch um diese Einheit weiß, besteht für ihn die Möglichkeit zur realen konkreten Versöhnung in sich selbst und mit sich selbst. Für Hegel ist die Bestimmung, »dass Gott Mensch wird, damit der endliche Geist das Bewusstsein Gottes im Endlichen selbst habe«, »das schwerste Moment in der Religion«. 118 In Jesus von Nazaret ist Gott erschienen. Jesus von Nazaret ist die Erscheinung Gottes, die für die Gemeinde, d. h. für die Gemeinschaft der Jünger und Jüngerinnen

113 114 115 116 117 118

Vgl. VPR II 274 f. VPR II 251–299, insbesondere 274–299. Vgl. VPR II 275; 274; 277. VPR II 271. VPR II 273. VPR II 276.

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Das Reich des Sohnes

wesentlich ist. »Erscheinen ist Sein für anderes; dies andere ist die Gemeinde.« 119 Die historische Erscheinung Gottes in Jesus Christus kann auf zweierlei Weise betrachtet werden: einmal als Mensch und dann im Geiste und mit dem Geiste, d. h. einmal nach der menschlichen Seite hin und einmal nach der göttlichen Seite hin. 120 Das eine ist die rein historische, unmittelbare Betrachtung, das andere ist die Betrachtung durch den Glauben. Durch den Glauben wird das menschliche Individuum Jesus von Nazaret als von göttlicher Natur gewusst, wodurch das Jenseits Gottes aufgehoben wird. Denn in Jesus Christus ist Gott selbst und die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur geoffenbart. 121 In ihm ist auf äußere, geschichtliche Weise geoffenbart, dass die »göttliche Gegenwart wesentlich identisch ist mit dem Menschlichen« 122, wodurch die unendliche Entzweiung zwischen unendlichem Gott einerseits und endlicher Welt und endlichem Menschen andererseits aufgehoben ist. 123 Da Jesus Christus zugleich Gott und Mensch war und ist, war und ist Gott nicht nur im Jenseits, sondern auch im Diesseits. Zur menschlichen Seite der Erscheinung Gottes in Jesus Christus gehört die Lehre Jesu Christi und das Leben und Schicksal Jesu Christi. 124 Im Mittelpunkt der Lehre Jesu Christi steht das doppelte Liebesgebot, das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe 125, und die Verkündigung des Reiches Gottes 126. Die Grundbestimmung im Reich Gottes ist »die Gegenwart Gottes, sodass den Mitgliedern dieses Reichs nicht nur empfohlen wird Liebe zu den Menschen, sondern das Bewusstsein, dass Gott die Liebe ist« 127. Das Reich Gottes ist der Zustand der Versöhnung des Menschen mit Gott, eine Wirklichkeit, in der Gott herrscht, in der die Geister und Herzen der Menschen mit Gott versöhnt sind. 128 Der Mensch hat sich in dieses Reich als Reich

119 120 121 122 123 124 125 126 127 128

VPR II 278. Vgl. VPR II 278. Vgl. VPR II 289. VPR II 285. Vgl. VPR II 278. Vgl. VPR II 279; 285. Vgl. VPR II 283 f. Vgl. VPR II 281. Vgl. VPR II 288. Vgl. VPR II 280.

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

der Liebe zu Gott zu versetzen, er hat sich unmittelbar in diese Wahrheit zu werfen. 129. Zum Leben und Schicksal Jesu Christi gehört für Hegel vor allem der gewaltsame Tod als der »Mittelpunkt, um den es sich dreht« 130. Der Tod Christi ist einerseits der Tod eines Menschen und insofern ein natürlicher Tod 131, der das unvermeidliche Ende eines jeden menschlichen Lebens darstellt. Er ist aber andererseits geistig aufgefasst ein Tod, der »selbst zum Heile, zum Mittelpunkt der Versöhnung wird« 132. Denn dem Geist und der göttlichen Seite nach betrachtet ist der Tod Christi der Tod Gottes selbst. »Gott ist gestorben, Gott ist tot – dieses ist der fürchterlichste Gedanke, dass alles Ewige, alles Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden.« 133

Gott hat das, was ihm ursprünglich und eigentlich fremd ist, als Eigenes angenommen. Indem Gott Mensch wird und als Mensch schließlich leidet und stirbt, eignet er sich das Menschsein in all seiner Endlichkeit und Erniedrigung als ihm Fremdes an. 134 Er nimmt mit dem Menschsein die »Endlichkeit in all ihren Formen, die in ihrer äußersten Spitze das Böse ist« 135, an. Er nimmt mit der Menschlichkeit »die höchste Abhängigkeit, die letzte Schwäche und Stufe der Gebrechlichkeit« 136, die eben der natürliche Tod selber ist, in sich auf. Gott selbst erleidet somit durch seine Menschlichkeit das Böse, das von außen an ihn herantritt, und den Tod, der innerlich zu seinem menschlichen Leben gehört. Das Menschliche, »das Endliche, Gebrechliche, die Schwäche, das Negative« wird so »göttliches Moment selbst«, ein Moment, das »in Gott selbst ist«. 137 Gott nimmt aber alles Negative des Menschseins auf sich, nur um es selbst zu negieren. Er nimmt den Tod auf sich, nur um ihn selbst zu töten. Denn es bleibt nicht beim Tod Gottes.

129 130 131 132 133 134 135 136 137

Vgl. VPR II 281 f. VPR II 286 f. Vgl. VPR II 296; 293. VPR II 296. VPR II 291. Zum Tod Gottes siehe Kap. 14.7. Vgl. VPR II 292. VPR II 292. VPR II 297. VPR II 297.

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»Der Verlauf bleibt […] nicht hier stehen, sondern es tritt nun die Umkehrung ein; Gott nämlich erhält sich in diesem Prozess, und dieser ist nur der Tod des Todes. Gott steht wieder auf zum Leben: es wendet sich somit zum Gegenteil.« 138

Indem Christus von den Toten aufersteht, geht Gott aus dem Tod hervor und tötet den Tod. »Am Tode Christi ist dieses Moment zuletzt noch hervorzuheben, dass Gott es ist, der den Tod getötet hat, indem er aus demselben hervorgeht […].« 139 Der Tod Christi ist infolge seiner Auferstehung von den Toten der Tod des Todes selbst, »die Negation der Negation« 140. Indem Christus zu ewigem Leben aufersteht, wird der Tod, der die Negation des natürlichen Lebens ist, selbst negiert und mit ihm die Endlichkeit getötet, das Böse vernichtet. »In dem Tode Christi ist für das wahrhafte Bewusstsein des Geistes die Endlichkeit des Menschen getötet worden. Dieser Tod des Natürlichen hat auf diese Weise allgemeine Bedeutung; das Endliche, Böse überhaupt ist vernichtet. Die Welt ist so versöhnt worden; der Welt ist durch diesen Tod ihr Böses an sich abgenommen worden.« 141

Indem Gott das Menschsein in seiner ganzen Endlichkeit bis hinein in den Tod als das Anderssein, als das Negative annimmt und durch die Auferstehung Jesu Christi negiert und somit mit sich eint und versöhnt, ist in Gott selbst das Moment des Andersseins, der Negation, aber mehr noch das Moment der Einheit mit dem Anderssein, das Moment der Negation der Negation enthalten. 142 Die sich darin zeigende Struktur ist aber genau die Struktur der Dreieinigkeit Gottes, der Geistigkeit Gottes an sich. Gott vollzieht in sich die Bewegung, das andere seiner zu setzen – das ist die Negation – und dann durch VPR II 291. VPR II 292. 140 VPR II 292. 141 VPR II 295. Hegel sagt nicht nur, dass durch die Auferstehung Jesu die Endlichkeit des Menschen getötet und vernichtet wurde, sondern sogar dass die Menschlichkeit (selbst) vernichtet wurde und das Menschliche nur ein verschwindendes Moment an Gott selbst sei (vgl. VPR II 296; 298). Aber er meint auch mit Letzterem die Endlichkeit des Menschen in ihrer Negativität und will nicht bestreiten, dass Jesus Christus auch nach dem Tod Mensch geblieben ist, wenn auch verklärter, auferstandener. Im Sinne Hegels könnte man formulieren: Durch Tod und Auferstehung Jesu wurde die Menschlichkeit im dreifachen Sinn aufgehoben – nämlich durch den Tod vernichtet, durch die Auferstehung aber aufbewahrt und auf eine höhere Stufe gehoben. 142 Vgl. VPR II 297. 138 139

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

die Vereinigung mit diesem anderen den Unterschied aufzuheben und so zu sich zurückzukehren – das ist die Negation der Negation. 143 Auf diese Weise vollendet Gott in sich seine Liebe und seinen Geist. Diese innere Bewegung seiner Liebe und seines Geistes kommt dann in seiner Menschwerdung zum Ausdruck, wo er durch das Leben, Leiden und Sterben Jesu Christi das Menschsein als ihm Fremdes, als für ihn anderes ganz annimmt – das ist die Negation – und durch die Auferstehung Jesu Christi dieses Fremde und andere des Menschseins und Weltseins ganz mit sich versöhnt und eint – das ist die Negation der Negation. Für die Menschen tritt im Schicksal Jesu das innere dreieinige Leben Gottes, die innere ewige Bewegung und Geschichte Gottes in Erscheinung. Die erste göttliche Idee der inneren Dreieinigkeit wird für den Menschen in der zweiten göttlichen Idee »als Idee in der Erscheinung« 144 sinnlich anschaulich und sinnlich gewiss. Mit dem Bewusstsein, Gott sei in Jesus Christus erschienen und habe in ihm sein innerstes geistiges Leben geoffenbart, entsteht die Gemeinde, d. h. die Gemeinschaft der Christusjünger und -jüngerinnen. Dieses Bewusstsein hebt nach dem Tod und der Auferstehung Jesu mit der Ausgießung des Heiligen Geistes an. 145

12.4 Das Reich des Geistes 12.4.1 Der Heilige Geist als Geist der Gemeinde Beim Reich des Vaters war dem Menschen die göttliche Idee als Begriff gegeben. 146 Beim Reich des Sohnes war die Idee für die Gemeinde anschaulich vorhanden. Beim Reich des Geistes findet nun der Übergang der Idee in die Gemeinde selbst statt. 147 Im Reich des Sohnes war für die Menschen die göttliche Idee in der empirischen Einzelheit und der sinnlichen Erscheinung des menschlichen Individuums Jesus von Nazaret unmittelbar gegenwärtig. Für die Menschen hatte die unendliche Liebe, mit der Gott den

143 144 145 146 147

Vgl. VPR II 298. VPR II 298. Vgl. VPR II 296. Vgl. VPR II 299. VPR II 299–344.

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Das Reich des Geistes

unendlichen Schmerz der Entzweiung zwischen Göttlichem und Menschlichem, Gutem und Bösem überwand, »ihre objektive Gestalt und Anschauung im Leiden, Sterben und in der Erhöhung Christi« 148. Die unendliche, alles versöhnende Liebe Gottes wurde für sie in Jesus Christus gegenständlich anschaulich. 149 Durch den Tod Jesu Christi ist aber für die Menschen die göttliche Idee im Element der einzelnen sinnlichen Erscheinung verschwunden. 150 Sie ist den Sinnen entrückt worden, sie ist vorbeigegangen. Ihre unmittelbare sinnliche Gegenwart, ihr Jetzt, ist vorübergegangen, ihre sinnliche Geschichte als unmittelbare vorbei. Deshalb ist es zunächst Aufgabe der Gemeinde der Christusgläubigen, die durch die Ausgießung des Heilgen Geistes nach Tod und Auferstehung Jesu entstanden ist, sich Jesus Christus als den Sohn Gottes durch sinnliche Vorstellung zu vergegenwärtigen und »die göttliche Idee in der Weise der Einzelheit zu verehren und sich anzueignen« 151. Die sinnliche Erscheinung Gottes, die mit dem Tod Jesu verschwunden ist, soll nun nach der Auferstehung Jesu zunächst in den Raum der sinnlichen Vorstellung erhoben werden. 152 Die religiöse Gemeinde vergegenwärtigt sich durch sinnliche Vorstellung Jesus Christus, indem sie sich durch Erinnerung das vergangene irdische Leben Jesu, also die Vergangenheit vorstellt und indem sie sich durch Hoffnung und Erwartung die Wiederkunft Jesu Christi, also die Zukunft vorstellt. Aber auch die Vorstellung des vergangenen und künftigen Lebens Jesu Christi stellt noch etwas Sinnliches und damit Äußerliches dar, das Hegel zufolge der Vergeistigung und der Verinnerlichung bedarf. In der Gemeinde soll es im Heiligen Geist zu einem »Übergang«, zu einer »Wendung aus der Äußerlichkeit in das Innere« kommen. 153 Es soll eine Umkehr vom Äußeren zum Inneren, vom Sinnlichen zum rein Geistigen stattfinden. Die religiöse Vorstellung der Gemeinde soll ganz und gar »vergeistigt« 154 werden. »Die Bildung

148 149 150 151 152 153 154

VPR II 303. Vgl. VPR II 305. Vgl. VPR II 301 f. VPR II 300. Vgl. VPR II 301 f. VPR II 302. VPR II 301.

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der Gemeinde hat den Inhalt«, so Hegel, »dass die sinnliche Form in ein geistiges Element übergeht.« 155 Die Individuen der Gemeinde sollen sich dessen bewusst werden, von Gott mit unendlicher Liebe geliebt zu sein und durch Jesus Christus ganz mit Gott versöhnt und eins zu sein. Schien zunächst nur der einzelne Mensch Jesus von Nazaret unendlichen Wert zu besitzen, insofern nur er mit Gott ganz geeint war, so zeigt sich jetzt durch die Vermittlung des Heiligen Geistes, dass jedes menschliche Subjekt aufgrund der unendlichen Liebe Gottes »in sich unendlichen Wert hat« und unendliche, »absolute Freiheit« ist. 156 Dank der unendlichen Liebe Gottes, wie sie in Jesus Christus erschienen ist, weiß sich das einzelne menschliche Subjekt als unendlich, als ewig und unsterblich. Vor Gott sind alle Menschen gleich. Alle haben die absolute und ewige Bestimmung, »Bürger im Reiche Gottes zu sein« 157. »Alle Menschen sind zur Seligkeit berufen; das ist das Höchste und das einzig Höchste.« 158 Sie sollen Gott schauen. 159 Indem der Heilige Geist den einzelnen Gläubigen der Gemeinde vermittelt, Subjekte von unendlichem Wert und unendlicher Wesenhaftigkeit zu sein 160, unendliche Freiheit und zu ewigem Leben berufen zu sein, vermittelt er ihnen auch, dass sie selbst wesentlich Geist sind und mit dem göttlichen Geist selbst eins sind. Da nun der göttliche Geist selbst Liebe ist, die Liebe »eben der Begriff des Geistes selbst« 161 ist, sind die Gläubigen als geistige Wesen zur geistigen Liebe aufgefordert. Diese geistige Liebe ist laut Hegel »weder menschliche Liebe, Menschenliebe, Geschlechtsliebe, noch Freundschaft« 162. Sie ist vielmehr »durch die Wertlosigkeit aller Besonderheit vermittelt« 163. Sie geht demzufolge nicht auf das Besondere, d. h. sie beschränkt sich nicht auf einzelne, besondere Menschen, sondern zielt auf das Allgemeine, d. h. auf alle Mitmenschen. Sie schließt alle ein und schließt niemanden aus. Sie ist auf alle Menschen ausgerichtet und schafft damit Einheit, wahre Einheit. Aufgrund der wahren Ein155 156 157 158 159 160 161 162 163

VPR II 301. VPR II 300; vgl. 302 f. VPR II 303. VPR II 305. Vgl. VPR II 303. Vgl. VPR II 302. VPR II 304. VPR II 304. VPR II 304.

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Das Reich des Geistes

heit des Geistes und der Liebe in der Gemeinde ist für Hegel die Vielheit der Subjekte und Individuen in der Gemeinde sogar »nur ein Schein« 164. Im Geist und in der wahrhaft geistigen, allgemeinen Liebe sind die Gläubigen der Gemeinde wahrhaft eins. Durch den Heiligen Geist werden sich die Gläubigen dessen bewusst, selbst Geist und Liebe zu sein. Der Geist und die Liebe machen »ihr wahrhaftes Selbstbewusstsein, ihr Innerstes und Eigenstes« 165 aus. Aber sie sind sich dabei dessen bewusst, nicht als Einzelne Geist und Liebe zu sein, sondern als Gemeinde. Ihr inneres Selbstbewusstsein ist »wirkliches, allgemeines Selbstbewusstsein« 166. »So ist diese Liebe der Geist als solcher, der Heilige Geist. Er ist in ihnen, und sie sind und machen aus die allgemeine christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen.« 167 Sind sich die Gläubigen ihrer unendlichen Subjektivität, ihres Geistes und ihrer Liebe in sich selbst bewusst geworden, ist der Geist Gottes gewissermaßen von der Objektivität der Erscheinung in Jesus Christus zu seiner ursprünglichen und eigentlichen Gestalt, nämlich der Subjektivität, zurückgekehrt und damit zu sich selbst zurückgekommen. »Der Geist ist die unendliche Rückkehr in sich, die unendliche Subjektivität, nicht als vorgestellte, sondern als die wirkliche, gegenwärtige Göttlichkeit, – also nicht das substantielle Ansich des Vaters, nicht das Wahre in dieser gegenständlichen Gestalt des Sohnes, sondern das subjektiv Gegenwärtige und Wirkliche, das eben selbst so subjektiv gegenwärtig ist als die Entäußerung in jene gegenständliche Anschauung der Liebe und ihres unendlichen Schmerzes und als die Rückkehr in jener Vermittlung. Das ist der Geist Gottes oder Gott als gegenwärtiger, wirklicher Geist, Gott in seiner Gemeinde wohnend.« 168

Der Geist der Gemeinde ist für Hegel nichts anderes als die jetzige Gegenwart Gottes in der Welt, nichts anderes als der Heilige Geist selbst. Beim Reich des Sohnes war die göttliche Idee durch die Unmittelbarkeit und Objektivität der einzelnen sinnlichen Erscheinung des Menschen Jesus von Nazaret gekennzeichnet. Im Reich des Geistes ist die göttliche Idee durch die Vermittlung durch die eigene Sub-

164 165 166 167 168

VPR II 303; vgl. 304. Vgl. VPR II 305. VPR II 299 (Hervorh. J. H.); vgl. 302. VPR II 305. VPR II 305.

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

jektivität gekennzeichnet. Dank der Vermittlung des Heiligen Geistes erkennen die Gläubigen der Gemeinde, dass in ihrer eigenen Subjektivität und Geistigkeit der göttliche Geist selber gegenwärtig ist, ja dass ihre Subjektivität und Geistigkeit eins ist mit dem göttlichen Geist. Durch die Entwicklung des menschlichen Geistes, die auch schon vor dem Christus-Ereignis vom Heiligen Geist beeinflusst war, besaß der Mensch schon vor dem Erscheinen Jesu Christi eine Ahnung von der Subjektivität und Dreieinigkeit Gottes sowie von der eigenen unendlichen Subjektivität. Ohne diese Ahnung hätte er die Menschwerdung Gottes sowie dessen Versöhnungswerk nicht verstehen können. Aber diese Ahnung wird erst durch das Erscheinen Gottes in Jesus Christus in dessen nachösterlicher Deutung im Heiligen Geist zur vollen Glaubensgewissheit.

12.4.2 Die Realisierung der Gemeinde Die reale, bestehende Gemeinde ist für Hegel das, »was wir im allgemeinen die Kirche nennen« 169. Das Bestehen der Gemeinde ist ihr »fortdauerndes, ewiges Werden, welches darin begründet ist, dass der Geist dies ist, sich ewig zu erkennen«, sodass in der Gemeinde immer neu »das göttliche Selbstbewusstsein hervorgeht«. 170 Die bestehende Gemeinde, die Kirche hat den Zweck, »dass die Subjekte zu der Wahrheit kommen, die Wahrheit sich aneignen und dadurch der Heilige Geist in ihnen auch real, wirklich, gegenwärtig werde, in ihnen seine Stätte habe, dass die Wahrheit in ihnen sei und sie im Genusse, in der Betätigung der Wahrheit, des Geistes seien, dass sie als Subjekte die Betätigenden des Geistes seien« 171. Die Wahrheit, die sich die Subjekte aneignen sollen, ist hier bei der bestehenden Gemeinde oder Kirche schon vorausgesetzt, schon vorhanden. Sie muss nicht erst wie beim Entstehen der Gemeinde erzeugt werden. Und diese »Wahrheit, die so vorausgesetzt, vorhanden ist«, ist für Hegel primär »die Lehre der Kirche, die Glaubenslehre«, die dem Inhalt nach »die Lehre von der Versöhnung« ist. 172 169 170 171 172

VPR II 320. VPR II 320. VPR II 320. VPR II 320.

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Das Reich des Geistes

Durch das Sakrament der Taufe ist der einzelne Mensch dazu bestimmt, an dieser Wahrheit der Versöhnung »teilzunehmen, derselben teilhaftig zu werden« 173. Der Mensch ist durch die Taufe »in der Gemeinschaft der Kirche, worin das Böse an und für sich überwunden, Gott an und für sich versöhnt ist« 174. Da das Kind bei der Taufe noch nicht realisierter Geist ist, sondern nur die Fähigkeit, das Vermögen hat, Geist zu sein, als Geist wirklich zu werden, muss der Mensch, so Hegel, »zweimal geboren werden, einmal natürlich und sodann [im Erwachsenenalter] geistig, wie der Brahmane« 175. Der Mensch muss oder soll sich im Laufe seines Lebens die Wahrheit der Versöhnung aneignen. Bei dieser Aneignung handelt es sich laut Hegel »nur um Angewöhnung an das Gute und Wahre« 176. Es geht nicht darum, »das Böse zu überwinden, denn das Böse ist [bereits] an und für sich überwunden« 177. »Mit der einen Bestimmung des Glaubens, dass das Subjekt nicht ist, wie es sein soll, ist zugleich die absolute Möglichkeit verknüpft, dass es seine Bestimmung erfülle, von Gott zu Gnaden angenommen werde. Dies ist die Sache des Glaubens.« 178. Der Mensch sollte in seinem Leben versuchen, »das Böse nicht aufkommen zu lassen« 179. Wenn und insofern das Böse aber aufkommt, indem er Böses tut, ist dieses Böse im Grunde »ein an sich Nichtiges, über das der Geist mächtig ist, sodass der Geist die Macht hat, das Böse ungeschehen zu machen« 180. Durch Reue und Buße lässt sich zwar das Geschehene nicht auf sinnliche Weise ungeschehen machen, »aber auf geistige Weise, innerlich« 181. Dem Menschen wird »verziehen; er gilt als ein vom Vater Angenommener unter den Menschen« 182. Der Mensch sollte in seinem Leben versuchen, sein vereinzeltes, partikulares Fürsichsein, seine Selbstsucht aufzuheben und zum Begriff des Geistes vorzudringen, der nicht ein partikulär-beschränkter, 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182

VPR II 322. Vgl. VPR II 322. VPR II 323. VPR II 324. VPR II 324. VPR II 324. VPR II 324. VPR II 324. VPR II 325. VPR II 325.

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

sondern ein allgemeiner Geist ist. 183 Bei diesem Streben wirken Mensch und göttlicher Geist zusammen. »Das Tun im Glauben an die an sich seiende Versöhnung ist einerseits das Tun des Subjekts, andererseits das Tun des göttlichen Geistes; der Glaube selbst ist der göttliche Geist, der im Subjekte wirkt.« 184 Die Aneignung der Versöhnung und der Gegenwart Gottes gipfelt nach Hegel schließlich in der sakramentalen Feier der Gemeinde. »Das Letzte in dieser Sphäre ist der Genuss dieser Aneignung, der Gegenwärtigkeit Gottes. Es handelt sich eben um die bewusste Gegenwärtigkeit Gottes, Einheit mit Gott, die unio mystica, das Selbstgefühl Gottes. Dies ist das Sakrament des Abendmahls, in welchem auf sinnliche, unmittelbare Weise dem Menschen gegeben wird das Bewusstsein seiner Versöhnung mit Gott, das Einkehren und Innewohnen des Geistes in ihm.« 185

Dennoch ist für Hegel auch diese Form der Aneignung des Göttlichen noch einmal zu übersteigen.

12.4.3 Die Realisierung des Geistigen zur allgemeinen Wirklichkeit Nach dem Entstehen und Bestehen der Gemeinde geht es nun noch um eine »Umwandlung, Umformung der Gemeinde« 186. Die göttliche Idee bzw. das Reich Gottes ist dem Subjekt in der Religion nur als »Gefühl« oder »Empfindung« in seinem Inneren gegeben. 187 Der göttliche Inhalt wird in der Religion »nur vorgestellt«, »nicht geschaut« und ist noch »nicht in sich entwickelt«. 188 Der Genuss der göttlichen Gegenwart ist in der Religion »nur ein einzelnes Moment« 189. »Das Jetzt des Genusses zerrinnt in der Vorstellung teils in ein Jenseits, in einen jenseitigen Himmel, teils in Vergangenheit, teils in Zukunft. Der Geist aber ist sich schlechthin gegenwärtig und fordert eine erfüllte Gegenwart; er fordert mehr als nur Liebe, trübe Vorstellungen; er fordert, dass der

183 184 185 186 187 188 189

Vgl. VPR II 326. VPR II 326. VPR II 327. VPR II 329. VPR II 329. VPR II 329. VPR II 329.

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Reflexion

Inhalt selbst gegenwärtig sei oder dass das Gefühl, die Empfindung entwickelt, ausgebreitet sei.« 190

Da die Religion bislang nur im Inneren des Subjekts als Gefühl und Empfindung oder als Vorstellung besteht, muss sie objektiviert werden, muss sie durch Objektivität ergänzt werden. 191 Diese Objektivität wird gemäß Hegel in der Philosophie erreicht. Obwohl im religiösen Glauben schon der wahrhafte Inhalt der göttlichen Idee vorhanden ist, bedarf er der Philosophie, insofern ihm noch »die Form des Denkens« 192 fehlt. »Gefühl, Vorstellung, können wohl den Inhalt der Wahrheit haben, aber sie selbst sind nicht die wahrhafte Form, die den wahrhaften Inhalt notwendig [d. h. vernünftig] macht. Das Denken ist der absolute Richter, vor dem der Inhalt [des Glaubens] sich bewähren und beglaubigen soll.« 193

»Die Philosophie denkt, was das [religiöse] Subjekt als solches fühlt […].« 194 Von daher ist es für Hegel in der Philosophie »einzig nur darum zu tun, die Vernunft der Religion zu zeigen« 195, zu zeigen, dass die Religion vernünftig ist. So betrachtet ist die Philosophie Theologie, die die Versöhnung Gottes mit sich selbst und mit der Welt denkt. 196

12.5 Reflexion 12.5.1 Die drei Formen des Bewusstseins von Gott Hegel unterscheidet drei Formen oder Stufen des Geistes oder Bewusstseins, in denen dem Menschen die göttliche Idee, der göttliche Inhalt, die göttliche Wahrheit gegenwärtig ist. In der Religion besteht die Form im Gefühl bzw. in der Empfindung oder in der Vorstellung, vor allem aber im Glauben. In der Aufklärung besteht Hegel zufolge VPR II 329 f. Vgl. VPR II 330. 192 VPR II 341. Zum Verhältnis von religiöser Vorstellung und begreifendem Denken bzw. Religion und Philosophie bei Hegel siehe Walter Jaeschke: Die Religionsphilosophie Hegels, Darmstadt 1983, 110–119. 193 VPR II 341. 194 VPR II 342. 195 VPR II 341. 196 Vgl. VPR II 341 f. 190 191

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

die Form im abstrakten Verstandesdenken, in der Reflexion. In der Philosophie ist die Form das Begreifen, der konkrete Gedanke. 197 An der Form des Gefühls, der Vorstellung und des Glaubens bemängelt Hegel, sie sei geistig noch unentwickelt, sie habe noch nicht die Form des Denkens erreicht. Bei der religiösen Vorstellung kommt ihm zufolge noch hinzu, dass der Inhalt der sinnlichen Vorstellung entweder ins Jenseits, in den jenseitigen Himmel oder im Diesseits in die Vergangenheit des irdischen Lebens Jesu oder in die Zukunft der Wiederkunft Christi verlegt wird, also nicht in der Gegenwart selbst gegenwärtig wird. Die göttliche Wahrheit, der göttliche Geist sollte jedoch dem Menschen ganz in der Gegenwart präsent sein. Im Denken der Aufklärung wird nach Hegel zwar bereits durch Reflexion das Denken erreicht, weshalb das Subjekt hier schon zu sich kommt und sich seines Beisichseins und seiner Freiheit bewusst wird. Aber dieses Denken bleibt noch ganz subjektiv, weshalb es die objektive Wahrheit der göttlichen Idee nicht erkennen und anerkennen kann, und es bleibt noch ganz abstrakt, weswegen es den konkreten Inhalt der göttlichen Idee nicht erfassen kann. Nur die Form des Begreifens, des konkreten Vernunftdenkens wird dem objektiven, konkreten Inhalt der göttlichen Idee ganz gerecht, weil nur darin die Notwendigkeit, d. h. die Vernünftigkeit der göttlichen Wahrheit ganz erkannt und entwickelt wird. Für Hegel sind somit Vorstellen, Empfinden und Glauben sowie abstraktes Denken im Vergleich zum Begreifen niedrigere und unvollkommenere Formen des Geistes. Das Begreifen ist für ihn die absolut höchste Form des Geistes, zu der der Mensch in diesem Leben fähig ist. Was meint er aber mit dem Begreifen als der höchsten Form des Geistes? Vieles im hier behandelten Text zur Trinität in den »Vorlesungen über die Philosophie der Religion« spricht dafür, dass Hegel unter Denken begriffliches Denken versteht. Denken in Begriffen ist immer auch ein Denken in Worten, insofern Begriffe durch Worte repräsentiert werden. Gemäß dieser Bedeutung von Denken wäre es für den Menschen die höchste Form der Vergegenwärtigung des göttlichen

197 Zu Hegels Religionsphilosophie insgesamt siehe Martin Wendte: Gottmenschliche Einheit bei Hegel. Eine logische und theologische Untersuchung, Berlin 2007; Günter Rohrmoser: Glaube und Vernunft am Ausgang der Moderne. Hegel und die Philosophie des Christentums. Herausgegeben von Harald Seubert, St. Ottilien 2009.

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Reflexion

Inhalts, wenn er, wie es ganz der Philosophie zu entsprechen scheint, über diesen Inhalt in Worten nachdenken würde. Für Hegel ist jedoch Denken mehr als ein solches begriffliches Denken. Unter dem Ausdruck »Begriff« versteht Hegel hier beim Geist nämlich nicht einfach das, was für gewöhnlich mit Begriffen gemeint und durch Worte repräsentiert wird (lat. conceptus), sondern die Struktur des Geistes selbst. Der menschliche Geist begreift mithilfe seines konkreten Vernunftdenkens sich selbst oder den göttlichen Geist. Dadurch erfasst er seine eigene geistige Struktur auf geistige Weise, wird er sich dieser Struktur vollkommen bewusst. Der Mensch begreift seine Subjektivität und Geistigkeit, wenn er sich dessen bewusst wird, dass er ganz bei sich ist, indem er bei anderem ist, dass er, indem er ganz zum anderen ausgeht, ganz zu sich zurückkehrt und so den Unterschied aufhebt, sei dieses andere für ihn nun der andere Mensch, das andere der Umwelt oder das göttliche Andere. Zu diesem Bewusstsein gehört aber nicht wesentlich und nicht notwendig das Denken in Begriffen bzw. Worten. Dieses Gewahrwerden des anderen und darin des Eigenen und der Einheit mit dem anderen muss nicht den Charakter begrifflichen Denkens haben, sondern kann eine Art rein geistiges Schauen sein. Hegel hat genau dies im Sinn, wenn er der Religion vorhält, dass in ihr der göttliche Inhalt »nicht geschaut, nur vorgestellt« 198 wird. Die göttliche Wahrheit, die göttliche und menschliche Geistigkeit und Subjektivität, soll in der Philosophie, die hier Theologie ist, geistig geschaut und nicht nur wie in der Religion vorgestellt oder empfunden oder wie in der Aufklärung rein abstrakt gedacht werden. Die höchste Form des menschlichen Geistes besteht nach dieser Deutung nicht im begrifflichen Denken, sondern im Denken oder Begreifen, das reines geistiges Schauen ist. Die höchste Form des menschlichen Geistes, die höchste Berufung des Menschen wäre es dann, im göttlichen Geist den göttlichen Geist selbst und den eigenen Geist sowie ihre Einheit rein geistig zu schauen.

12.5.2 Die Drei-Reiche-Lehre Bei Hegel ist das Reich des Vaters notwendige ontologische Bedingung für das Reich des Sohnes, und dieses für das Reich des Geistes. 198

VPR II 329 (Hervorh. J. H.).

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

Ohne das Reich des Vaters gäbe es kein Reich des Sohnes und ohne Reich des Sohnes kein Reich des Geistes. Auch epistemologisch setzt das Reich des Geistes das Reich des Sohnes und dieses das Reich des Vaters voraus. Nur weil wir das Reich des Vaters, die Dreieinigkeit Gottes erkannt haben, können wir nach Hegel das Reich des Sohnes erkennen. Nur deshalb können wir die Erscheinung Gottes im Menschen Jesus von Nazaret als Sohn Gottes identifizieren. Und nur weil wir die Erscheinung Gottes erkannt haben, können wir uns eine Vorstellung vom Sohn Gottes machen und von der Vorstellung vom Sohn aus zum reinen Denken des Heiligen Geistes gelangen. So wie Hegel das Reich des Geistes schildert, könnte der Eindruck entstehen, die beiden vorhergehenden Reiche des Vaters und des Sohnes seien zwar die Bedingung für das Reich des Geistes gewesen, hätten aber darin selbst keine Bedeutung mehr. Die Reiche des Vaters und des Sohnes scheinen im Reich des Geistes keine Rolle mehr zu spielen. Sie scheinen dem Reich des Geistes ganz gewichen und gewissermaßen untergegangen zu sein. Eine solches Verständnis wäre jedoch ein Missverständnis. Denn die drei Reiche Gottes bilden im Sinne Hegels eine dialektische Einheit. Das Reich des Vaters ist im Reich des Sohnes »aufgehoben«. Es ist nicht einfach durch dieses abgelöst, sondern in diesem bewahrt und auf eine höhere Stufe gehoben. Das gleiche gilt vom Reich des Sohnes. Es ist durch das Reich des Geistes nicht einfach beendet, sondern wird in diesem Reich auf höhere Weise fortgesetzt. Das Reich des Vaters bewahrt seine Bedeutung im Reich des Sohnes und im Reich des Geistes und gewinnt sie hier erst ganz, wie auch das Reich des Sohnes im Reich des Geistes seine Bedeutung behält, ja erst richtig erhält. Das Reich des Sohnes ist auch im Reich des Geistes von bleibender Bedeutung, weil die Vorstellung vom Sohn Gottes, die sich die Gemeinde erst im Heiligen Geist richtig bilden kann, nicht nur eine Anfangserscheinung im Reich des Geistes darstellt, sondern darin für immer bedeutsam bleibt. Denn für die Gläubigen ist es sinnvoll und wichtig, auch wenn sie sich rein geistig der Gegenwart des göttlichen Geistes in ihrem Inneren bewusst sind, sich das konkrete Leben, Leiden, Sterben und Auferstehen des Gottessohnes vorzustellen. 199 Da 199 Siehe dazu auch: Georg Sans SJ: Philosophische Begriffe ohne religiöse Vorstellungen sind leer. Hegel über das Wissen vom Unbedingten und den Glauben an Gott, in: Felix Resch (Hg.): Die Frage nach dem Unbedingten. Gott als genuines Thema der

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Reflexion

der menschgewordene Gottessohn vollkommener, idealer Mensch war, bleibt sein konkretes Leben Vorbild, Maßstab und Norm für alle Gläubigen und für alle Menschen zu allen Zeiten. Wir können zwar nur im Heiligen Geist das konkrete Leben Jesu angemessen verstehen, aber die Gegenwart des Heiligen Geistes kann für uns die Vorstellung vom konkreten Leben Jesu – in eben seiner Konkretheit – nicht einfach ersetzen. 200 Die göttliche Idee, die wir im Reich des Geistes als innerliche subjektive Wirklichkeit erfahren, bleibt deshalb für uns auch in diesem Reich zugleich eine äußerliche, objektive, geschichtliche Wirklichkeit. Ähnliches gilt vom Reich des Vaters. Um das Reich des Geistes richtig verstehen und einordnen zu können, müssen wir uns des Reiches des Vaters, d. h. der Dreieinigkeit Gottes als solcher bewusst sein. Nur dann können wir erkennen, dass wir durch die Gegenwart des Heiligen Geistes in uns und in der ganzen Menschheit in die Dreieinigkeit Gottes aufgenommen und hineingenommen sind, da der Geist Gottes das Band der Liebe zwischen Vater und Sohn ist. Im Reich des Geistes ist nicht nur der Heilige Geist in der Welt gegenwärtig. Durch die Gegenwart des Heiligen Geistes lebt vielmehr der dreieine Gott als solcher in uns und leben wir in Gott als dem Dreieinen. Damit erweist sich auch das Reich des Vaters als von bleibender Bedeutung im Reich des Geistes. Die drei Reiche Gottes sind demnach nicht einfach als drei geschichtliche Perioden aufzufassen, die einander zeitlich folgen und einander ablösen. Eine solche Auffassung würde eine spekulative und mystische Verkürzung des Gottesgeheimnisses bedeuten. 201 Sie Philosophie. Festschrift zu Ehren von Prof. Dr. Josef Schmidt SJ, Dresden 2016, 385– 400. 200 Wie die religiöse Vorstellung nicht einfach durch begreifendes Denken überholt werden kann, so kann auch auf einer abstrakteren wissenschaftlichen Ebene die Theologie nicht einfach durch die Philosophie überwunden werden. »Die Aufhebung der Theologie in Philosophie ist unmöglich, so unmöglich wie die Deduktion der Offenbarung« (Michael Schulz: Sein und Trinität, 321). 201 Vgl. dazu Katharina Comoth: Die Idee als Ideal. Trias und Triplizität bei Hegel, Heidelberg 1986 [= Comoth 1986], 50 f. Aus diesem Grund hatte bereits das IV. Laterankonzil (1215) die Drei-Zeitalter-Lehre des Joachim von Fiore verworfen. »Thomas und Bonaventura haben sie als theologisch unhaltbar zurückgewiesen: Alles vereinzelte oder geschaffene Sein muss jederzeit vom trinitarischen Schöpfer geprägt sein. Deshalb ist es unzulässig, einen dreigestuften Geschichtsverlauf gesondert und überbietend jeweils einer einzelne göttlichen Person zuzuordnen« (Comoth 1986, 50 Anm. 73).

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Vater, Sohn und Heiliger Geist

sind stattdessen in ihrem spekulativen Kern als drei innere Momente in Gott zu begreifen, durch die Gott sich zu sich selbst vermittelt, oder als drei Sphären in der Gottheit, die in ihrer Wirksamkeit und Bedeutung entsprechend der innergöttlichen Perichorese 202 gleichzeitig und ineinander bestehen. Obwohl sich Hegel in seiner Dreifaltigkeitsspekulation auf die heilsökonomische Trinität konzentriert und die immanente nur eine untergeordnete Rolle spielt, setzt auch bei ihm die heilsökonomische die immanente voraus und offenbart diese, weshalb er von vornherein beim Reich des Vaters eine immanente Trinität lehrt. 203

202 Mit der Perichorese ist die vollständige gegenseitige Durchdringung der drei göttlichen Personen ohne Verschmelzung ineinander gemeint. 203 Vgl. Splett 1965, 143–145. Zur Einheit von heilsökonomischer und immanenter Trinität siehe Kap. 6.6.2.

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13. Das heilige Geheimnis Der Denkansatz von Karl Rahner

13.1 Der philosophische Ansatz Der Religionsphilosoph und Theologe Karl Rahner (1904–1984) ging im Laufe seines Lebens auf sehr viele und sehr verschiedene theologische Fragen und Probleme ein. 1 Doch zeigt sich bei aller Bandbreite seiner Themen, dass er immer wieder von einem bestimmten Grundansatz aus dachte und von daher die theologischen Fragen und Probleme zu lösen suchte. Genau besehen kommen in seinem denkerischen Grundansatz zwei Ansätze zusammen, die er zunächst eine Zeit lang unabhängig voneinander entwickelte. Das ist zum einen sein philosophischer Ansatz, der sich als transzendental-anthropologisch charakterisieren lässt. Und das ist zum anderen sein gnadentheologischer Ansatz. Diese beiden Ansätze brachte Rahner schließlich selber in seiner Theorie von der übernatürlich-gnadenhaft erhobenen Transzendenz des Menschen zusammen. Seinen transzendental-anthropologischen philosophischen Ansatz verdankte Rahner in hohem Maße Joseph Maréchal (1878– 1944), einem belgischen Jesuiten. 2 Bereits 1927, mit 23 Jahren, übersetzte er in seinem sogenannten Maréchal-Exzerpt ein bedeutendes Zu Leben und Werk Karl Rahners siehe Karl Heinz Neufeld: Die Brüder Rahner. Eine Biographie (2., durchgesehene und erweiterte Auflage), Freiburg i. Br. 2004; Herbert Vorgrimler: Karl Rahner. Zeugnisse seines Lebens und Denkens (2. Auflage), Kevelaer 2011. 2 Rahner bezeugte selbst in einem Interview mit Karl Lehmann, in seinem philosophischen Denken sehr stark von der Erkenntnismetaphysik von Joseph Maréchal beeindruckt und geprägt gewesen zu sein (vgl. Paul Imhof/Hubert Biallowons (Hrsg.): Glaube in winterlicher Zeit. Gespräche mit Karl Rahner aus den letzten Lebensjahren, Düsseldorf 1986, 28.). Zu Rahners Grundansatz und seinen Anwendungen siehe Johannes Herzgsell: Dynamik des Geistes. Ein Beitrag zum anthropologischen Transzendenzbegriff von Karl Rahner, Innsbruck 2000 [= Herzgsell 2000]; sowie Johannes Herzgsell SJ: Karl Rahner: Religionsphilosoph, Theologe und geistlicher Schriftstel1

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Das heilige Geheimnis

erkenntnismetaphysisches Werk von Maréchal und fasste es zusammen. 3 In seinen eigenen frühen philosophischen Schriften, vor allem in seiner abgelehnten philosophischen Dissertation »Geist in Welt« 4 von 1936, in seinem religionsphilosophischen Werk »Hörer des Wortes« 5 von 1937 und in einem Aufsatz über »Die Wahrheit bei Thomas von Aquin« 6 von 1938 entwickelte er dann daraus seinen eigenen Ansatz. Als ein Schlüsseltext dafür darf ein Abschnitt aus »Hörer des Wortes« 7 gelten. Dort kreisen seine Gedanken um den von ihm so genannten »Vorgriff«. Diesen Ausdruck hatte er bereits in »Geist in Welt« eingeführt als sachliche Entsprechung zu dem, was bei Thomas von Aquin der excessus 8, der Überschritt, heißt. Im Abschnitt in »Hörer des Wortes« begründet Rahner in einzelnen argumentativen Schritten die Vorhandenheit des Vorgriffs und erläutert genauer seine Struktur, um mit seiner Hilfe das Wesen des Menschen zu bestimmen. Den Ausgangspunkt seiner Überlegung bildet die Insichselberständigkeit des Menschen. Indem der Mensch in Urteilen wissenddenkend und frei handelnd mit der Welt umgeht, stellt er sich der Welt gegenüber und hebt sich von der Welt ab, wodurch er ganz zu sich kommt und seine Insichselberständigkeit als Subjekt erkennt. ler, in: Janez Perčič/Johannes Herzgsell (Hg.): Große Denker des Jesuitenordens, Paderborn 2016, 87–106. 3 Rahner will, wie er selber schreibt, in seinem Maréchal-Exzerpt »die Hauptgedanken des erkenntnistheoretischen Systems J. Maréchals wiedergeben, so wie es im fünften Heft seines ›Le point de départ de la métaphysique‹ entwickelt wird« (Karl Rahner: Sämtliche Werke. Band 2 [= SW 2], Die Grundlagen einer Erkenntnistheorie bei Joseph Maréchal, Freiburg i. Br. 1996, 373–406, hier 373). 4 SW 2, Geist in Welt. Zur Metaphysik der endlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin, 3–300 [= GW [1936]]. (Hinter der Angabe des Werkes wird jeweils in eckigen Klammern das Jahr der Entstehung, mit dem nicht immer das Erscheinungsjahr übereinstimmt, oder der Erstveröffentlichung angeführt.) 5 SW 4, Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie, Freiburg i. Br. 1997, 2–278 [= HW [1937]]. 6 SW 2, Die Wahrheit bei Thomas von Aquin, 301–316. 7 HW [1937] (in SW 4) 2–278, hier 82–98. Sehr ausführlich legte Rahner seinen philosophischen Ansatz später dann vor allem zu Beginn des »Grundkurses des Glaubens« (Einleitung, Erster und Zweiter Gang) dar. Eine gute eigene Zusammenfassung seiner gesamten Transzendenztheorie bot er auch noch einmal in einem Abschnitt des ursprünglich als Meditation gehaltenen Textes »Erfahrung des Heiligen Geistes« (XIII [1976] 226–251, hier 232–238). 8 GW [1936] (in SW 2) 116.

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Der philosophische Ansatz

Rahner fragt nun: »Welches ist die apriorische transzendentale Bedingung der Möglichkeit dieser Insichselberständigkeit« 9, die zur Wesensverfassung des Menschen gehört? Dazu geht er genauer auf die Eigentümlichkeit eines Urteils ein. In einem Urteil wird ein Einzelnes unter einen allgemeinen Begriff gebracht. Bedingung der Möglichkeit dafür ist wiederum die Abstraktion. »Durch Abstraktion wird das Allgemeine im Besonderen, im Einzelnen erfasst […].« 10 Durch Abstraktion wird die Washeit eines Einzelnen erfasst »als eine Bestimmung, die sich grundsätzlich weiter erstreckt als gerade nur auf dieses bestimmte Einzelne« 11. Im Akt der Abstraktion greift deshalb der Mensch apriori, d. h. von vornherein, über dieses Einzelne hinaus auf mehr als das, was dieses Einzelne ist. Dieses »Mehr« kann aber nach Rahner nur die absolute Weite der erkennbaren Gegenstände überhaupt sein. 12 Der Mensch erfasst also seinen einzelnen Gegenstand in einem Vorgriff auf die absolute Weite seiner möglichen Gegenstände. Damit ist aber für Rahner noch nicht das letzte Worauf des Vorgriffs erreicht. Das letzte Worauf kann weder der unbegrenzte Horizont von Raum und Zeit im Sinne Kants sein, da Raum und Zeit nur relativ und quantitativ unbegrenzt sind, der Vorgriff jedoch auf etwas schlechthin, d. h. auch qualitativ Unbegrenztes geht. Noch kann das Worauf des Vorgriffs das Nichts im Sinne Heideggers sein, weil sich das Nichts nicht positiv bejahen lässt, im Vorgriff aber etwas positiv bejaht wird. Das Worauf kann deshalb nach Rahner nur das Sein überhaupt im Sinne der philosophia perennis von Platon bis Hegel sein. »Die Weite des Vorgriffs geht auf das Sein überhaupt, das an sich keine innere Grenze hat und so auch das absolute Sein Gottes einschließt.« 13 Der Vorgriff muss auf die Unendlichkeit des Seins gehen, weil nur der Ausgriff auf die Unendlichkeit als schlechthin unbegrenzte Fülle des Seins und der Wirklichkeit das Endliche als Endliches offenbaren, die Endlichkeit alles unmittelbar Gegebenen enthüllen kann. 14 Dieses letzte Argument wird Rahner später in einem Vortrag

HW [1937] 86. HW [1937] 90. 11 HW [1937] 90. 12 Vgl. HW [1937] 92. 13 HW [1937] 94. 14 Vgl. HW [1937] 96. 9

10

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Das heilige Geheimnis

von 1969 mit dem Titel »Gotteserfahrung heute« 15 noch einmal aufnehmen und zuspitzen. Der Mensch erfährt sich demnach real-seinsmäßig auf vielfältige Weise begrenzt, intentional-bewusstseinsmäßig jedoch in gewissem Sinn grundsätzlich unbegrenzt. Um sich als seinsmäßig begrenzt erfahren zu können, muss er nämlich geistig die Grenze schon prinzipiell überschritten haben, was wiederum nur der Vorgriff auf das Unumfassbare, auf das Geheimnis, Gott genannt, ermöglichen kann. Der Vorgriff auf Sein schlechthin »in seiner ihm an ihm selber zukommenden Unendlichkeit« gehört, so schließt Rahner seine Überlegung in »Hörer des Wortes« ab, »zur Grundverfassung des menschlichen Daseins«. 16 In ihm wird, so betont er noch einmal, »auch das unendliche Sein Gottes mitbejaht« 17. Den Vorgriff wird Rahner später bevorzugt die Transzendenz des Menschen nennen. Die Transzendenz auf das Sein überhaupt bzw. auf Gott ist für ihn »ein apriori mit dem menschlichen Wesen gegebenes Vermögen« 18 und macht die eigentliche Geistigkeit des Menschen aus 19. »Der Mensch ist [primär] Geist«, so Rahner, »d. h. er lebt sein Leben in einem dauernden Sichausstrecken nach dem Absoluten, in einer [dynamischen] Offenheit zu Gott […].« 20 Es fällt auf, dass Rahner damit den Ausdruck »Transzendenz« durchaus eigenwillig verwendet. Mit Transzendenz ist nicht wie gewöhnlich die Wesenseigenschaft Gottes gemeint, die Welt unendlich zu übersteigen. Vielmehr steht die Transzendenz für die Wesenseigenschaft des Menschen, geistig schon immer alles Weltlich-Endliche auf den unendlichen Gott hin zu überschreiten. Freilich hat diese menschliche Transzendenz ihren Grund in der göttlichen Transzendenz. Nur weil sich der unendliche Gott dem Menschen immer schon eröffnet hat, vermag der Mensch alles Weltlich-Endliche auf den unendlichen Gott hin zu übersteigen. Rahner wird seinen transzendental-anthropologischen philosophischen Ansatz aus »Hörer des Wortes« im Großen und Ganzen in seinen späteren Schriften, etwa in verschiedenen Texten in den Karl Rahner: Schriften zur Theologie. Band I–XVI, Zürich Einsiedeln Köln 1954– 1984; in: Band IX [= IX], 161–176, hier 167 f. 16 HW [1937] 98. 17 HW [1937] 98. 18 HW [1937] 92. 19 Vgl. HW [1937] 82. 20 HW [1937] 102. 15

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Der philosophische Ansatz

»Schriften zur Theologie« oder im »Grundkurs des Glaubens« von 1976, beibehalten. Allerdings wird er einige inhaltliche Ergänzungen, Akzentverschiebungen und terminologische Veränderungen vornehmen. So ergänzt er bereits in »Hörer des Wortes« selbst die Erkenntnisseite der Transzendenz durch ihre Willensseite. 21 Der Mensch ist nicht nur in seinem Erkennen dynamisch auf das absolute Sein, sondern auch in seinem Wollen dynamisch auf den absoluten Wert ausgerichtet. In Gott fallen absolutes Sein und absoluter Wert zusammen. Für Rahner gehören fortan immer beide Seiten, die der Erkenntnis und die des Willens oder der Freiheit, als zwei sich notwendig ergänzende und einander bedingende Momente zur Transzendenz des Menschen als dynamischer Offenheit für Gott. Der Mensch ist, wie Rahner prägnant sagt, »erkennend und wollend das Wesen absoluter, unbegrenzter Transzendenz« 22. Statt vom Worauf der Transzendenz spricht Rahner dann von ihrem Woraufhin 23 und ihrem Wovonher 24 und lässt die Transzendenz auf das »Namenlose«, das »Unabgrenzbare«, das »Unverfügbare«, insbesondere aber auf das »heilige Geheimnis« gehen. 25 »Der Mensch ist also wirklich«, so Rahner, »weil sein eigentliches Wesen als Geist seine Transzendenz ist, das Wesen des heiligen Geheimnisses.« 26 Auch wird Rahner später in Bezug auf die Transzendenz des Menschen gern den Begriff der Erfahrung verwenden. Der Mensch macht die »Erfahrung der Transzendenz«, er macht in seinen geistigen Vollzügen immer schon eine »Transzendenzerfahrung«, eine »(transzendentale) Gotteserfahrung« 27 oder kurz eine »transzendentale Erfahrung«. 28 Seine Transzendenzerfahrung macht den subjektiVgl. HW [1937] 152–164. »Über den Begriff des Geheimnisses in der katholischen Theologie«, in: IV [1959] 51–99, hier 68. 23 Vom »Woraufhin« bereits in HW [1937] 154. 24 Und vom »Wovonher« z. B. in: Karl Rahner: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg i. Br. 1976 [= GG [1976] 32]. Der »Grundkurs des Glaubens« ist auch veröffentlicht in SW. Band 26. Grundkurs des Glaubens, Solothurn/Düsseldorf/Freiburg 1999, wird hier aber immer nach der Erstausgabe von 1976 zitiert. 25 IV [1959] 70–73. 26 IV [1959] 74; vgl. z. B. auch: GG [1976] 32. 27 Zum Thema Gotteserfahrung in Exerzitien siehe Andreas R. Batlogg: Die Mysterien des Lebens Jesu bei Karl Rahner. Zugang zum Christusglauben (2. Auflage), Innsbruck 2003, 15–121. 28 Z. B. IV [1959] 69; VIII [1965] 174; VI [1964] 68 f.; vgl. GG [1976] 31 f. 21 22

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Das heilige Geheimnis

ven transzendentalen Pol seines Bewusstseins aus, im Unterschied zum objektiven kategorialen, d. h. gegenständlichen Pol. 29 Sie stellt sein transzendentales Mitbewusstsein dar, im Gegensatz zu seinem kategorial-gegenständlichen Bewusstsein. 30 Gott wird immer und in allem vom Menschen als Bedingung der Möglichkeit seines Erkennens und Wollens, als unendlicher Horizont seines Geistes, als Grund seines Selbstbewusstseins und Bewusstseins sowie allen Seins miterfahren. 31

13.2 Der gnadentheologische Ansatz Nach seiner Promotion und Habilitation in Theologie begann Rahner seine akademische Tätigkeit 1937 mit dem Traktat »De Gratia Christi«. 32 Im Vergleich zur Schultheologie, wie er sie noch kennengelernt hatte, fallen an seiner Gnadenvorlesung hauptsächlich drei Neuerungen auf. 1. Er stellt an den Beginn seiner Vorlesung den universalen Heilswillen Gottes. Gott will unwiderruflich das Heil aller Menschen. Daraus wird sich für ihn später konsequent die Universalität der Gnade ergeben. Alle Menschen sind begnadet. 2. Er rückt in die Mitte seiner Gnadentheologie die ungeschaffene Gnade, die letztlich Gott selber ist, im Unterschied zur geschaffenen Gnade, die eine geschöpfliche Wirklichkeit am Menschen ist. Damit denkt er zunächst die Gnade konsequent »von oben«, streng theozentrisch, nicht anthropozentrisch. 3. Für ihn liegt die Gnade Gottes nicht jenseits des menschlichen Bewusstseins, sondern kann vom Menschen bewusst erfahren werden. In seinen späteren Schriften werden sich zahlreiche »Summarien der Gnadenerfahrung« finden, in denen er in mystagogischer Absicht

Vgl. V [1961] 228. Vgl. GG [1976] 31. 31 Vgl. GG [1976] Zweiter Gang. 32 Siehe dazu und zum Folgenden Roman Siebenrock: Gnade als Herz der Welt. Der Beitrag Karl Rahners zu einer zeitgemäßen Gnadentheologie, in: Mariano Delgado/ Matthias Lutz-Bachmann (Hrsg.): Theologie aus Erfahrung der Gnade. Annäherungen an Karl Rahner, Berlin 1994, 34–71; sowie Paul Rulands: Menschsein unter dem An-Spruch der Gnade. Das übernatürliche Existential und der Begriff der natura pura bei Karl Rahner, Innsbruck 2000 [= Rulands 2000], hier besonders 63–96. 29 30

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Der gnadentheologische Ansatz

die Gnadenerfahrung in ihrer Vielfalt möglichst konkret zu beschreiben sucht. Ein Schlüsseltext für Rahners Verständnis der ungeschaffenen Gnade liegt in dem 1939 erschienen Artikel »Zur scholastischen Begrifflichkeit der ungeschaffenen Gnade« 33 vor. Darin beginnt er seinen eigenen gnadentheologischen Ansatz zu entwickeln. Um das Wesen der diesseitigen ungeschaffenen wie geschaffenen Gnade zu bestimmen, geht er vom letzten jenseitigen Ziel des Menschen aus: der visio beatifica – der unmittelbaren beseligenden Anschauung Gottes. Dabei teilt er die Auffassung der scholastischen Theologie, dass die diesseitige Gnade und die jenseitige Gottesschau des Menschen nicht bloß moralisch-juridisch, sondern ontologisch miteinander zusammenhängen. 34 Die diesseitige Gnade als Ganzes ist der noch verborgene und zu entfaltende, aber schon wirkliche und seinshafte Anfang und der »gleichartige Keim« 35 der jenseitigen unmittelbaren Gottesschau. Die erste und wesentliche ontologische Voraussetzung der jenseitigen Anschauung Gottes, in der der Mensch Gott vollkommen und unmittelbar erkennt und liebt, besteht für Rahner in der Selbstmitteilung Gottes an den Menschen in quasi-formaler Kausalität, bei der Gott sein göttliches Sein als Form dem endlichen, geschaffenen menschlichen Geist als Materie mitteilt und gewissermaßen einprägt, ohne sich dadurch selber zu verändern. 36 Rahner bestimmt nun das Wesen der ungeschaffenen Gnade, indem er diese erste und wesentliche ontologische Voraussetzung der visio beatifica auf die diesseitige Gnade überträgt. 37 Demnach liegt das Wesen der streng übernatürlichen, ungeschaffenen Gnade in der Selbstmitteilung Gottes an den Menschen in quasi-formaler Kausalität. Gott teilt sich in der ungeschaffenen Gnade als er selbst dem Menschen mit. Die »Selbstmitteilung Gottes« wird bei Rahner zum Ausdruck par excellence für die ungeschaffene Gnade. Dabei handelt es sich für ihn bei der Selbstmitteilung Gottes an den Menschen um eine echt trinitarische Selbstmitteilung Gottes, um die Gnade Jesu Christi,

33 34 35 36 37

I [1939] 347–375. Vgl. I [1939] 354. I [1939] 354.362 f. Vgl. I [1939] 363 f.; GG [1976] 128 f. Vgl. I [1939] 362–365.

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um die Ausgießung und Einwohnung des Hl. Geistes im Menschen, um die Selbstmitteilung des Vaters durch den Sohn im Heiligen Geist. 38 Zentral für Rahners Gnadentheologie ist dann auch seine Lehre vom »übernatürlichen Existential« des Menschen, die er im Artikel »Über das Verhältnis von Natur und Gnade« 39 1950 systematisch entwickelte. Inhaltlicher Ausgangspunkt seiner Überlegung ist die Ungeschuldetheit der Gnade und der Gottesschau. Die jenseitige beseligende Gottesschau und die diesseitige heiligmachende und rechtfertigende Gnade sind als Selbstmitteilung Gottes in Liebe wesensmäßig ungeschuldet. Was »ungeschuldet« im theologischen Sinn bedeutet, weiß man nach Rahner, wenn man weiß, was personale Liebe ist, nicht umgekehrt. 40 Gott ist Liebe, er will sich selbst schenken, seine Liebe verschwenden, und diese Liebe ist wesensmäßig ungeschuldet. 41 Da der Mensch auf das übernatürliche Ziel der Teilhabe am innergöttlichen Leben ausgerichtet ist, muss er in seinem konkreten Wesen eine Anlage für das übernatürliche Ziel, eine innere Hinordnung auf die ungeschuldete, übernatürliche Gnade und Gottesschau besitzen. 42 Diese Hinordnung muss aber selber ungeschuldet und übernatürlich sein, weil Gott sonst sich selber die Erfüllung der menschlichen Hinordnung schulden würde und somit Gnade und Gottesschau nicht mehr ungeschuldet wären. Die innere, selbst ungeschuldete, übernatürlich-gnadenhafte Hinordnung des Menschen auf die Rechtfertigungsgnade und die Gottesschau nennt Rahner übernatürliches Existential, weil sie dem Menschen mit seiner konkreten Existenz als bleibende Verfassung gegeben ist und seine ganze Existenz prägt. Dank dieses Existentials vermag der Mensch die Gnade und die Liebe, die Gott selbst ist, aufzunehmen und zu empfangen. 43 Da das übernatürliche Ziel das wahre Ziel des Menschen ist, macht das übernatürliche Existential das InVgl. I [1939] 372–375. I [1950] 323–345. Vgl. »Zum theologischen Begriff der Konkupiszenz«, in: I [1941; ergänzt 1954] 377–414, hier 406–414; »Über das Verhältnis des Naturgesetzes zur übernatürlichen Gnadenordnung« [1956], in: Orientierung 20 (1956) 8–11; »Natur und Gnade«, in: IV [1960] 209–236. Siehe dazu Rulands 2000, 124–143. 40 Vgl. I [1950] 337. 41 Vgl. I [1950] 336. 42 Vgl. I [1950] 334 f.342. 43 Vgl. I [1950] 338. 38 39

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Der gnadentheologische Ansatz

nerste und Eigentlichste, die innerste Mitte und den Wurzelgrund der menschlichen Existenz aus. 44 Vom übernatürlichen Existential her bestimmt Rahner schließlich die reine Natur (natura pura) des Menschen. Er setzt diese mit der potentia oboedientialis gleich, mit der Möglichkeit oder Fähigkeit des Menschen, eine übernatürlich-göttliche Selbstmitteilung, falls sie sich ereignet, gehorsam anzunehmen, ohne dass dadurch solch eine übernatürlich-göttliche Selbstmitteilung dem Menschen geschuldet wäre. Rahner versteht von daher die reine Natur des Menschen als positive Anlage, als Begierde oder als Offenheit für das Übernatürliche. 45 Die menschliche Natur ist demnach der Gnade nicht nur nicht entgegengesetzt, sondern positiv auf sie ausgerichtet. Der Mensch ist somit von seiner Natur aus auf das übernatürliche gnadenhafte Existential hingeordnet, von diesem Existential aus auf die heiligmachende Gnade und von dieser Gnade aus auf die Gottesschau. Das eine ist jeweils Voraussetzung des anderen, das andere jeweils Erfüllung des einen. Rahners Lehre vom übernatürlichen Existential klingt wie eine furchtbar komplizierte, abstrakte Theorie. Sie ist es in gewissem Sinn auch, jedenfalls so, wie Rahner sie begründet. Was er jedoch mit dem übernatürlichen Existential meint, lässt sich an einem einfachen Bild veranschaulichen – einem Bild von Teresa von Avila. Demnach ist die menschliche Seele wie eine Burg mit sieben inneren Wohnungen, die man sich wie konzentrische Kreise vorstellen kann. 46 In der innersten, der siebten Wohnung wohnt Teresa zufolge Gott selbst. Genau das will Rahner mit seinem Theologumenon vom übernatürlichen Existential sagen. In der innersten Mitte der menschlichen Existenz hat sich Gott schon jedem Menschen mit seiner göttlichen Wirklichkeit mitgeteilt. Darum schuldet es Gott gewissermaßen dem Menschen, ihn schließlich ganz mit seinem göttlichen Leben zu erfüllen und ihn ganz in sein göttliches Leben hineinzunehmen. Wäre der Mensch ein im theologischen Sinn rein natürliches Wesen, würde sich in der siebten Wohnung seiner Seelenburg nur er selbst befinden, nicht aber Gott. Einem solchen Menschen würde Gott das übernatürliche ewige göttliche Leben nicht schulden. Das übernatürliche Existential ist für Rahner selbst schon Gnade 44 45 46

Vgl. I [1950] 338.340. Vgl. I [1950] 329.335 f.342. Siehe Kap. 9.

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und wie jede Gnade immer auch schon Gnade Jesu Christi. Die Gnade des übernatürlichen Existentials stellt die objektive Erlösung und Rechtfertigung des Menschen dar. 47 Sie ist beim unmündigen Menschen »im bloßen Modus des Angebotes«, beim »Mündigen« entweder »im Modus der Annahme« (d. h. der Rechtfertigung) oder »im Sünder im Modus der Ablehnung« gegeben. 48 Im »Grundkurs des Glaubens« erklärt Rahner ausdrücklich, die Gnade und die Selbstmitteilung Gottes im übernatürlichen Existential sei auch als angebotene schon wirkliche Gnade und wirkliche Selbstmitteilung Gottes. 49

13.3 Die Verbindung der beiden Ansätze Der Sache nach stellte Rahner bereits in seiner Theorie vom übernatürlichen Existential des Menschen die Verbindung seines anthropozentrischen philosophischen Ansatzes von unten und seines theozentrischen gnadentheologischen Ansatzes von oben her, insofern er die Natur des Menschen als Dynamismus des Geistes immer schon durch das übernatürliche Existential übernatürlich-gnadenhaft erhöht sein ließ. 50 Durch die innere, selbst schon übernatürlich-gnadenhafte Hinordnung auf das übernatürliche Ziel der Rechtfertigungsgnade und der visio beatifica ist die natürliche dynamische Transzendenz des Menschen immer schon übernatürlich-gnadenhaft erhoben zu einer übernatürlichen Transzendenz auf die absolute Unmittelbarkeit und Nähe Gottes, auf das ewige Leben, auf den dreifaltigen Gott selbst und die Schau des dreifaltigen Gottes. 51 Die Transzendenz des Menschen ist, wie Rahner sagt, »faktisch schon immer von der übernatürlichen Gnade erhoben« 52. In ihr teilt sich Gott bereits als er selbst in ungeschaffener Gnade dem Menschen mit 53, weshalb sie von vornherein wirklich schon eine »gnadengetragene«, Vgl. »Fragen der Kontroverstheologie über die Rechtfertigung«, in: IV [1958] 237– 271, hier 250. 48 XIV [1980] 99. 49 Vgl. GG [1976] 134. 50 Vgl. I [1950] 342. 51 Vgl. z. B. IV [1960] 225. 52 »Die Logik der existentiellen Erkenntnis bei Ignatius von Loyola« [1956], in: Karl Rahner: Das Dynamische in der Kirche (Quaestiones disputatae 5), Freiburg i. Br. 1958, 74–147, hier 126. 53 Vgl. VII [1958] 489 f. 47

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Die Verbindung der beiden Ansätze

»pneumatisch erhöhte und vergöttlichte Transzendenz« ist. 54 Deshalb spricht Rahner nunmehr konsequent von der »übernatürlichen Transzendenz« oder der »übernatürlich erhöhten« bzw. »übernatürlich erhobenen Transzendenz« des Menschen und meint damit die übernatürlich-gnadenhaft erhöhte Ausrichtung des Menschen auf Gott. Durch die vergebende und vergöttlichende Selbstmitteilung Gottes ist die menschliche Transzendenz immer schon auf das übernatürliche Ziel des inneren göttlichen Lebens hin finalisiert, dynamisiert, radikalisiert. Für Rahner stellt deshalb die übernatürlich begnadete Transzendenz des Menschen eine transzendentale Bewegung des menschlichen Geistes auf das übernatürliche Ziel der visio beatifica dar – eine Bewegung, die von Gott selbst getragen ist, die Gott selbst durch seine Selbstmitteilung »vom Inneren ihrer selbst her« 55 trägt. Insofern bewegt sich der Mensch im Ziel auf das Ziel zu, weshalb er jetzt schon die Unmittelbarkeit und Nähe Gottes erfahren kann. 56 Zu seiner übernatürlich erhöhten Transzendenz und damit zu Gott und Gottes Selbstmitteilung muss der Mensch in Freiheit Stellung beziehen. Er kann die Gnade Gottes in Freiheit glaubend, hoffend und liebend annehmen oder in Freiheit ablehnen. 57 Aber ihm ist nicht nur geboten, sie anzunehmen und sich darauf einzulassen, sondern ihm ist von der absoluten Selbstmitteilung Gottes in seiner Transzendenz auch gesagt, »dass, wer absolut loslässt, nur von der Nähe der unendlichen Liebe verschlungen wird, es ist gesagt, dass, wer den unendlichen Weg antritt, ankommt und immer schon angekommen ist, und dass die absolute Armut und der Tod für die, die sich darauf und auf deren ganze Grausamkeit einlassen, nichts anderes sind als der Anfang des unendlichen Lebens« 58. Die angebotene Selbstmitteilung Gottes in der übernatürlichen Transzendenz macht nach Rahner jeden Menschen schon jetzt zum Kind Gottes 59 – wenn auch verborgen – und bietet jedem Menschen eine echte Heilsmöglichkeit, »die nur durch die eigene, schwere, per-

VII [1958] 489.490. X [1972] 168. 56 Vgl. GG [1976] 137.144.290 f. 57 Vgl. VII [1958] 490;VI [1964] 69; VI [1965] 486; Karl Rahner: Gnade als Freiheit. Kleine theologische Beiträge, Freiburg i. Br. 1968, 52–58; GG [1976] 131. 58 GG [1976] 131. 59 Vgl. z. B. GG [1976] 126. 54 55

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sönliche Schuld eines Menschen ohne Verwirklichung bleiben kann« 60.

13.4 Der Grundansatz in 16 Thesen Um der besseren Verständlichkeit willen sei Rahners schwieriger denkerischer Grundansatz noch einmal vereinfacht in 16 Thesen dargelegt und zusammengefasst. Die Thesen sind in vier Gruppen unterteilt.

13.4.1 Der Mensch als geistiges Wesen (1) Der Mensch bildet eine Leib-Seele-Einheit bzw. eine MaterieGeist-Einheit. Dem Geist kommt dabei der Primat vor der Materie zu. Der Mensch ist primär ein geistiges Wesen. Diese philosophisch-anthropologische These ließe sich beispielsweise mit Descartes begründen. Der Mensch kann an der Existenz seines Geistes, im Unterschied zur Existenz seines Körpers, nicht zweifeln. 61 Aus diesem epistemologischen Primat des Geistes gegenüber dem Körper ließe sich ein ontologischer Primat des Geistes gegenüber dem Körper herleiten. (2) Die Geistigkeit des Menschen besteht im Wesentlichen in seiner erkenntnismäßigen grundsätzlich unbegrenzten Offenheit für alle Wirklichkeit: für alle weltliche, endliche Wirklichkeit, aber auch für die unendliche Wirklichkeit, die religiös Gott genannt wird. Rahner bezeichnet die menschliche geistige Offenheit zunächst als »Vorgriff«, dann als »Transzendenz« des Menschen. Die gegenteilige Behauptung, der Mensch sei für eine bestimmte endliche Wirklichkeit oder die unendliche Wirklichkeit grundsätzlich nicht offen und könne diese grundsätzlich in keiner Weise erkennen, würde einen performativen Widerspruch, d. h. einen Selbstwiderspruch enthalten. (3) Der Mensch vermag alle endlichen Wirklichkeiten als endliche zu erkennen, und zu erkennen, dass keine endliche Wirklichkeit auf Dauer seinen unbegrenzt weiten geistigen Horizont – seine innerste Sehnsucht, sein tiefstes Wünschen, sein letztes Streben etc. 60 61

VIII [1966] 358. Siehe Kap. 11.4.2.

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Der Grundansatz in 16 Thesen

– zu erfüllen vermag. Daran erkennt er, dass er geistig alle endlichen Wirklichkeiten immer schon auf die unendliche Wirklichkeit hin übersteigt. Rahner macht sich die transzendentalphilosophische Methode von Immanuel Kant (1724–1804) zu eigen, kommt aber zu ganz anderen Ergebnissen. Während für Kant die transzendentale Idee Gottes nur von der Vernunft gedacht wird, Gott selbst aber in keiner Weise erkannt oder erfahren wird, wird nach Rahner die Wirklichkeit des unendlichen Gottes in jeder Erfahrung des Endlichen als Endlichen transzendental – als Bedingung der Möglichkeit einer jeden gegenständlichen Erkenntnis – miterfahren. Deshalb spricht Rahner auch von der transzendentalen Gotteserfahrung, die jeder Mensch immer schon macht. (4) Der Mensch ist nicht nur in seinem Erkennen auf das absolute Sein, sondern auch in seinem Streben und Wollen auf den absoluten Wert ausgerichtet. Er kann sich geistig mit nichts Geringerem als einem absoluten, unendlichen Wert begnügen. Das absolute Sein und der absolute Wert fallen in Gott zusammen. Die menschliche Transzendenz – die dynamische geistige Bezogenheit auf Gott – hat eine Erkenntnis- und eine Willensseite.

13.4.2 Das Ziel des Menschen und die Selbstmitteilung Gottes (5) Das letzte und eigentliche Ziel des Menschen liegt in der visio beatifica – in der jenseitigen unmittelbaren glückseligen Anschauung Gottes. (6) Um Gott nach dem Tod im Jenseits in Glückseligkeit unmittelbar schauen zu können, muss der Mensch Gott ähnlich werden bzw. Gott ähnlich geworden sein. Das Gott-Ähnlich-Werden ist die ontologische Voraussetzung der visio beatifica. 62 (7) Der Mensch kann Gott nur ähnlich werden, wenn sich ihm Gott als er selbst mitteilt, d. h. wenn Gott dem Menschen sein eigenes göttliches Leben schenkt. Rahner spricht hier von einer »quasi-formalen Kausalität«. Wie sich eine Form der Materie einprägt, so prägt sich gewissermaßen das göttliche Leben dem Menschen ein und überformt, erhöht und vergöttlicht ihn, sodass menschliche und göttliche Vgl. dazu 1 Joh 3,2: »Wir wissen, dass wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist«.

62

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Das heilige Geheimnis

Wirklichkeit ungetrennt und unvermischt ineinander sind. Sie sind dann in Verschiedenheit eins, wie in Jesus Christus die beiden Naturen – die menschliche und die göttliche – ungetrennt und unvermischt eins sind. (8) Gott teilt sein göttliches Leben dem Menschen nicht erst nach dem Tod mit, sondern bereits in diesem Leben in der sogenannten ungeschaffenen Gnade. Während Gott bei der geschaffenen Gnade dem Menschen eine irdische Wirklichkeit – sozusagen »etwas« (z. B. Gesundung) – schenkt, schenkt er ihm in der diesseitigen ungeschaffenen Gnade sich selbst, sein eigenes göttliches Leben. Ungeschaffene Gnade ist im wesentlichen Selbstmitteilung Gottes.

13.4.3 Das »übernatürliche Existential« des Menschen (9) Gott will das Heil aller Menschen. 63 Der theologische Begriff des Heils umfasst das ganzheitliche, leib-seelisch-geistige Wohl des Menschen: seine volle Identität, Selbstfindung und Selbstverwirklichung; sein vollkommenes Glück; seine volle Gemeinschaft mit den Mitmenschen und der Welt. Gott will das größtmögliche Wohl aller Menschen in diesem Leben und will, dass alle Menschen das jenseitige Ziel der visio beatifica erreichen. (10) Weil Gott das Heil aller Menschen will, beschenkt er alle Menschen schon in diesem Leben mit seiner ungeschaffenen Gnade. Jeder Mensch ist jetzt schon begnadet, besitzt jetzt schon, wenn auch zunächst nur anfanghaft und keimhaft, göttliches Leben. In jedem Menschen gibt es einen göttlichen Funken. Meister Eckhart (ca. 1260–1328) spricht diesbezüglich vom »Seelenfünklein« im Menschen. Nach Teresa von Avila wohnt in der innersten, siebten Wohnung der Seelenburg eines jeden Menschen Gott selbst. Rahner nennt die immer schon allen Menschen angebotene und gegebene Grundgnade »übernatürliches Existential« 64. Kein Mensch ist ein rein natürliches Wesen. Jeder Mensch besitzt jetzt schon anfanghaft übernatürliches göttliches Leben. Und dieses göttliche Leben bestimmt und prägt jetzt schon die ganze Existenz des Menschen. Vgl. 1 Tim 2,4: Gott »will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen«. 64 Den Begriff des Existentials übernahm Rahner von Martin Heidegger (1889– 1976). 63

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Der Grundansatz in 16 Thesen

(11) Die Natur des Menschen ist dem Übernatürlichen, d. h. Göttlichen nicht entgegengesetzt, sondern auf es hingeordnet. Bereits die menschliche Natur ist dank der unbegrenzten geistigen Offenheit auf göttliches Leben ausgerichtet und in der Lage, es zu empfangen und in sich aufzunehmen. Das ließe sich beispielsweise über die menschliche Vernunft verdeutlichen. Der Mensch ist nach alter Definition ein vernunftbegabtes Lebewesen (gr. zoon logon echon, lat. animal rationale). Durch seine Vernunft ist er aber schon insofern positiv auf Gott bezogen, als Gott selbst λόγος (lógos) d. h. ein vernunftbegabtes Wesen ist, dessen Vernunft freilich nicht – wie die menschliche – begrenzt, sondern unendlich und vollkommen ist. (12) Trotzdem ist und bleibt die göttliche Selbstmitteilung immer, wie die Theologen sagen, »ungeschuldet«, d. h. ein freies Geschenk der Liebe Gottes. Gott ist Liebe, er will sich selbst schenken, seine Liebe verschwenden, und diese Liebe ist wesensmäßig ungeschuldet.

13.4.4 Die Rechtfertigung des Menschen (13) Durch die jedem Menschen immer schon von Gott geschenkte Grundgnade des »übernatürlichen Existentials« ist die Transzendenz eines jeden Menschen immer schon übernatürlich-gnadenhaft erhoben. Jeder Mensch ist nicht nur irgendwie erkenntnismäßig auf einen fernen Gott bezogen, sondern auf einen nahen Gott und dessen inneres göttliches Leben selbst hingeordnet. Die geistige Offenheit des Menschen, seine »Transzendenz«, ist immer schon anfanghaft von göttlichem Leben erfüllt. Der Mensch beginnt seine geistige Bewegung auf das letzte und eigentliche Ziel hin – das Gott selber ist – nicht beim Punkt Null, sondern er bewegt sich, wie Rahner kühn formuliert, im Ziel auf das Ziel zu, d. h. in Gott auf Gott zu. Gott ist immer schon beim Menschen. Der Mensch muss sich dessen aber erst bewusst werden und in diesem Sinn zu Gott kommen. Er muss erst lernen, selber bei Gott zu sein. (14) Dem Mensch kann die Grundgnade des »übernatürlichen Existentials« auf dreierlei Weisen gegeben sein. Dem unmündigen Menschen, etwa einem Kind, ist die Grundgnade zwar schon wirklich gegeben, aber er besitzt sie nur in der Weise des Angebotes. Der mündige Mensch hat bereits Stellung zum Selbstangebot Gottes bezogen und besitzt die Grundgnade entweder als gläubiger Mensch in der 403 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Das heilige Geheimnis

Weise der Annahme, d. h. der »Rechtfertigung«, oder als schwerer Sünder in der Weise der Ablehnung. Durch die Annahme der Gnade ist der Mensch, wie Theologen sagen, »gerechtfertigt«. Das bedeutet: Er befindet sich im rechten Verhältnis zu Gott. (15) Zum Gnadenangebot Gottes muss der Mensch in Freiheit Stellung beziehen. Er kann die Gnade Gottes in Freiheit glaubend, hoffend und liebend annehmen oder in Freiheit ablehnen. Durch die angebotene Selbstmitteilung Gottes in der übernatürlichen Transzendenz ist für Rahner jeder Menschen schon jetzt Kind Gottes – wenn auch verborgen. Jeder Mensch besitzt eine echte Heilsmöglichkeit, die er nur durch persönliche schwere Schuld verfehlen kann. (16) Deshalb kann auch jeder Nichtchrist das Heil erlangen. Denn jedem Menschen ist es möglich, die Grundgnade in Freiheit anzunehmen. Auch der überzeugte Atheist kann, indem er seinem Gewissen entsprechend handelt, die Selbstmitteilung Gottes existentiell bejahen und damit das vollziehen, was christlich Glaube heißt und für das Heil notwendig ist.

13.5 Die menschliche Freiheit Der Mensch ist in seinem Leben dazu aufgerufen, das Gnadenangebot Gottes in Freiheit anzunehmen. Wie eine solche Annahme oder auch eine Ablehnung in Freiheit geschehen kann, legte Rahner in einer eigenen Theologie der Freiheit dar. 65 Die Freiheit oder der Wille bildet neben der Erkenntnis die zweite Seite der menschlichen geistigen Offenheit. Ähnlich wie Rahner bei der Erkenntnis zwischen einer kategorialen und einer transzendentalen Gestalt unterscheidet, unterscheidet er bei der Freiheit zwischen einer kategorialen und einer transzendentalen Form. Beide Formen sind aufeinander bezogen und ineinander gegeben. 66 Sie stellen gewissermaßen zwei notwendige Pole der einen menschlichen Freiheit dar. 67 »Theologie der Freiheit«, in: VI [1964] 215–237; vgl. auch GG [1976] 46–53, 101– 104. Siehe dazu Herzgsell 2000, 92–106; Thorsten Becker: Von Gott her und auf Gott hin. Analyse des christlichen Freiheitsvollzugs im Werk Karl Rahners, Hamburg 2013; Klaus Vechtel SJ: Eschatologie und Freiheit. Zur Frage der postmortalen Vollendung in der Theologie Karl Rahners und Hans Urs von Balthasars, Innsbruck 2014, 49–84. 66 Vgl. VI [1964] 228. 67 Vgl. GG [1976] 47. 65

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Die menschliche Freiheit

Mit kategorialer Freiheit ist die Wahl- oder Entscheidungsfreiheit des Menschen gemeint. Der Mensch kann zwischen erfahrbaren einzelnen Objekten und einzelnen Verhaltensweisen den Objekten gegenüber wählen. 68 Eine echte Wahl- oder Willensfreiheit liegt für Rahner vor, wenn die aktive Entscheidung oder Handlung eines Menschen weder »von einer inneren Zuständlichkeit des Menschen« noch »von einer äußeren Situation […] im voraus kausal schon festgelegt« ist 69, wenn sie also innerlich und äußerlich kategorial indeterminiert ist. 70 Die kategoriale Wahlfreiheit, zwischen diesem und jenem entscheiden zu können, wäre jedoch für sich allein genommen ein »neutrales«, »sachhaftes«, »gleichgültiges« und rein »formales« Vermögen 71, das den Menschen selbst im Grunde existentiell unberührt ließe. Als bloße »Aktfreiheit« 72 ließe sich Freiheit zwar von den Handlungen des Menschen, nicht aber vom Menschen selbst aussagen. Daher ergänzt und vertieft Rahner die reine Wahl- oder Aktfreiheit um die »Freiheit im theologischen Verstand« 73, die er auch transzendentale Freiheit nennt 74. Im Unterschied zur kategorialen Freiheit bezieht sich die theologische oder transzendentale Freiheit nicht auf einzelne Objekte oder Handlungen, sondern auf den Menschen als solchen und ganzen, auf den Menschen als Subjekt und Person. In seiner Freiheit bestimmt der Mensch letztlich, wer er selbst ist und sein will. Er entscheidet sich letztlich nicht für oder gegen etwas, sondern entscheidet über sich selbst. Er hat die Möglichkeit, zu sich selber ja oder nein zu sagen. 75 Transzendentale Freiheit besagt daher für Rahner Selbstverständnis, Selbstvollzug, Selbstverwirklichung oder Selbstverfügung des Menschen. 76 Dabei geschieht die transzendentale Entscheidung des Menschen über sich selbst – als Subjekt und Person – notwendig durch kategoriale Freiheitsentscheidungen. Der Mensch kann seine transzenden68 69 70 71 72 73 74 75 76

Vgl. VI [1964] 216.223 f. VI [1964] 222; vgl. 215. Vgl. VI [1964] 218. VI [1964] 216.218.220–225. VI [1964] 222. VI [1964] 216. Vgl. VI [1964] 222.228; GG [1976] 47 f.; vgl. 103. Vgl. VI [1964] 223. Vgl. VI [1964] 223 f.

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Das heilige Geheimnis

tale Freiheit nur in seiner kategorialen Wahlfreiheit und durch sie vollziehen. 77 Wie die transzendentale Erkenntnis des Menschen notwendig kategorial vermittelt ist, so ist es auch die transzendentale Freiheit des Menschen. Der Mensch übt seine transzendentale Freiheit notwendig am »endlichen Material« 78 des Lebens, am »konkreten Einzelnen der Erfahrung« 79 aus, indem er sich für oder gegen dieses oder jenes Kategoriale entscheidet. Die einzelnen kategorialen Freiheitsakte des Menschen wirken auf die transzendentale Freiheit und die Transzendenz des Menschen selbst ein oder zurück und lassen so das transzendentale Subjekt als solches nicht unverändert. Der transzendentale »Raum« bleibt, wie Rahner sagt, vom kategorialen »Eingeräumten« nicht unberührt. 80 Eine transzendentalphilosophische Reflexion ergibt nun, dass die kategoriale Freiheit des Menschen auf eine doppelte Weise bedingt ist. 81 Zum einen erweist sich die transzendentale Freiheit des Menschen als Bedingung der Möglichkeit seiner kategorialen Wahlfreiheit; zum anderen erweist sich Gott als Bedingung der Möglichkeit der transzendentalen Freiheit des Menschen. In seiner Transzendenz und damit in seiner transzendentalen Freiheit ist der Mensch auf den unendlichen, absoluten Horizont bezogen. Von daher kann er jeden bestimmten einzelnen Gegenstand relativieren und sich ihm gegenüber indifferent und frei verhalten. Insofern ist die kategoriale Freiheit des Menschen bedingt und ermöglicht durch seine transzendentale Freiheit. Tragender Grund der Transzendenz und der transzendentalen Freiheit des Menschen ist aber Gott, der sich dem Menschen als das Woraufhin seiner Transzendenz von sich aus eröffnet und »zuschickt«. 82 Die transzendentale Freiheit ist von daher ermöglicht und »ermächtigt« von Gott. 83 Gott ist dem Menschen – ursprünglich und eigentlich – unthematisch in seinem unendlichen Horizont oder als dieser Horizont gegeben. Nun kann sich der Mensch aber in seiner transzendentalen Freiheit seinem Horizont selbst gegenüber frei verhalten. Insofern ist 77 78 79 80 81 82 83

Vgl. VI [1964] 219 f. VI [1964] 219. VI [1964] 220. VI [1964] 219. Vgl. VI [1964] 216 f. Vgl. VI [1964] 217. VI [1964] 218.

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Die menschliche Freiheit

menschliche Freiheit in ihrem Ursprung Freiheit Gott gegenüber, Freiheit des Ja oder Nein zu Gott. 84 Gott ist folglich nicht nur der tragende Grund, sondern auch der eigentliche »Gegenstand« der transzendentalen Freiheit des Menschen. 85 Diese Freiheit ist daher Freiheit von Gott her und auf Gott hin. 86 Gott ist das Wovonher und das Woraufhin der menschlichen Transzendenz auch und gerade als Freiheit. 87 Die transzendentale oder theologische Freiheit besteht nach Rahner im Grunde in einer einzigen Freiheitstat, in einem einzigen Grundakt, in einer einzigen Grundentscheidung (option fondamentale). Sie ist weder identisch mit einzelnen kategorialen Freiheitsakten – auch nicht mit dem letzten vor dem Tod –, noch stellt sie einfach das »moralische Fazit« 88 der Summe der freien Einzelakte dar. Und doch wird sie vom Menschen im Ganzen seines Lebens und d. h. im Ganzen seiner freien Einzelentscheidungen vollzogen. Damit ist Rahner nach seinen Überlegungen zur Freiheit bei einer Art Definition der transzendentalen Freiheit oder der Freiheit im theologischen Sinn angelangt. Ihr zufolge ist Freiheit die totale Selbstverfügung des Subjektes vor Gott auf Endgültigkeit hin. 89 Einfacher gesagt: Die eigentliche Freiheit des Menschen besteht darin, sich vor Gott endgültig selbst zu bestimmen. Auch im »Grundkurs des Glaubens« tauchen bei Rahner die drei wesentlichen Aspekte der transzendentalen Freiheit auf: 1. Freiheit als Selbstverfügung, 2. Freiheit als Entscheidung des Verhältnisses zu Gott und 3. Freiheit als Setzung von Endgültigkeit. Rahner selbst fasst die drei Aspekte zusammen: »Bei unseren Überlegungen über das Wesen subjekthafter Freiheit kommt es darauf an, zu begreifen, dass die Freiheit der Selbstverfügung eine Freiheit gegenüber dem Subjekt als ganzem ist, eine Freiheit zur Endgültigkeit und eine Freiheit, die in einem freien absoluten Ja oder Nein gegenüber jenem Woraufhin und Wovonher der Transzendenz vollzogen wird, das wir ›Gott‹ nennen.« 90

84 85 86 87 88 89 90

Vgl. VI [1964] 220. Vgl. VI [1964] 218–220. Vgl. VI [1964] 216. Vgl. VI [1964] 229. VI [1964] 224. Vgl. VI [1964] 221–225. GG 104.

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Das heilige Geheimnis

Die drei Aspekte der transzendentalen Freiheit sind notwendig ineinander verschränkt. Der Mensch bezieht in seiner Freiheit durch das Ganze seines Lebens unweigerlich und endgültig Stellung sowohl zu sich selbst als auch zu Gott. 91

13.6 Die anonymen Christen Rahner brachte seine Theorie von den anonymen Christen erstmals 1963 im Beitrag »Die anonymen Christen« mit Hilfe seines denkerischen Ansatzes zum Ausdruck und legte sie später in mehreren Beiträgen unter verschiedenen Fragestellungen mit einigen Ausweitungen und Präzisierungen erneut dar. 92 Nach Rahner müssen, wenn Gott das Heil aller Menschen will und ein im weitesten Sinn christlicher Glaube heilsnotwendig ist, irgendwie alle Menschen Glieder der Kirche sein können. 93 Dann muss es aber auch einen »anonymen heilsnotwendigen und heilswirksamen Glauben« 94 und ungetaufte »anonyme Christen« geben. Das ist möglich, weil jeder Mensch in seiner übernatürlichen Transzendenz schon das Angebot der Gnade und damit die transzendentale Offenbarung Gottes erfährt. »Nimmt der Mensch«, so Rahner, »diese Offenbarung an, so setzt er den Akt übernatürlichen Glaubens. Er nimmt aber diese Offenbarung auch schon an, wenn er sich selbst wirklich ganz annimmt […].« 95 Der Mensch, der »in der schweigenden Redlichkeit der Geduld die Pflicht seines Alltags übernimmt und lebt, im Dienst an seiner sachlichen Aufgabe und an den Forderungen, die die ihm anvertrauten Menschen an ihn stellen« 96, vollzieht bereits den heilsnotwendigen Glauben, auch wenn er ungetauft ist und die christliche Botschaft nicht kennt. Vgl. GG 105. »Die anonymen Christen« [1963], in: VI 545–554 (der unveröffentlichte Beitrag von 1963 wurde für die Veröffentlichung in den »Schriften zur Theologie« VI 1965 durch weitere Hinweise ergänzt, die einige Einwände zu berücksichtigen versuchten; vgl. VI 558.); »Atheismus und implizites Christentum« [1967], in: VIII 187–212; »Anonymes Christentum und Missionsauftrag der Kirche« [1970], in: IX 498–515; »Bemerkungen zum Problem des ›anonymen Christen‹« [1971], in: X 531–546; »Anonymer und expliziter Glaube« [1974], in: XII 76–84. 93 Vgl. VI [1963] 545–549. 94 XII [1974] 76–84, besonders 76.83 f. 95 VI [1963] 549. 96 VI [1963] 549. 91 92

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Die anonymen Christen

»In der Annahme seiner selbst nimmt der Mensch [aber] Christus als absolute Vollendung und Garant seiner eigenen anonymen Bewegung auf Gott hin durch die Gnade an, und die Übernahme dieses Glaubens ist nochmals nicht Tat des Menschen allein, sondern Werk der Gnade Gottes, die die Gnade Christi ist, und das heißt wiederum auch: die Gnade seiner Kirche […].« 97

Da alles Heil »das Heil Christi ist, weil es ein anderes Heil nicht gibt« 98, und da alle Gnade Gnade Christi ist 99, weil alle Gnade immer schon durch Christus vermittelt ist, kann der ungetaufte Mensch, der die Gnade Gottes in seiner eigenen transzendentalen Subjekthaftigkeit bejaht, laut Rahner mit vollem Recht als »anonymer Christ« bezeichnet werden. 100 Der »anonyme Christ« besitzt bereits die heiligmachende Gnade und ist gerechtfertigt und geheiligt, ist Kind Gottes und Erbe des Himmels, bevor er ein ausdrücklich christliches Glaubensbekenntnis angenommen hat und getauft worden ist. 101 Er hat in Freiheit das gnadenhafte Selbstangebot Gottes durch Glaube, Hoffnung und Liebe angenommen, lebt im Stand der Gnade Christi und besitzt den Heiligen Geist, ohne durch Taufe und Kirchenzugehörigkeit zum ausdrücklichen, gesellschaftlich verfassten Christentum zu gehören. 102 Rahner versteht von daher unter »anonymem Christentum« den »Zustand jenes Menschen, der einerseits im Stande der Rechtfertigung und Gnade lebt und anderseits mit der ausdrücklichen Predigt des Evangeliums noch nicht in Berührung gekommen ist« 103. Ganz ausdrücklich bezieht er in ein solches »anonymes Christentum« Atheisten ein, die ihrem Gewissen entsprechend handeln. 104 Der gerechtfertigte Atheist hat die transzendentale Gotteserfahrung in einer positiven Entscheidung der Treue des Gewissens in Freiheit angenommen, obwohl er sie nicht richtig objektiviert und interpretiert. 105

VI [1963] 550. VI [1963] 546. 99 Vgl. z. B. VIII [1967] 187; X [1971] 533. 100 Vgl. VI [1963] 550.; zur Terminologie siehe vor allem X [1971] 531 f. 101 Vgl. IX [1970] 502. 102 Vgl. X [1971] 534.543. 103 VIII [1967] 187. 104 VIII [1967] 187–212, besonders 189.201; vgl. z. B. VI [1963] 553; IX [1970] 502 f.; X [1971] 535; XII [1974] 83. 105 Vgl. VIII [1967] 201; X [1971] 543 f. 97 98

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Das heilige Geheimnis

Das Zweite Vatikanische Konzil hatte erklärt, dass Gott Menschen, die ohne ihre Schuld das Evangelium nicht kennen, auf Wegen, die (nur) er kennt, zum heilbringenden Glauben führen kann. 106 Indem Rahner seinen denkerischen Ansatz zur Theorie vom »anonymen Christen« weiterentwickelte und damit eine theologische Erklärung lieferte, wie Nichtchristen zum Heil gelangen können, ist es ihm vielleicht gelungen, dieses Geheimnis Gottes, auf das das Zweite Vatikanische Konzil hinweist, ein klein wenig zu lüften.

13.7 Mystik 13.7.1 Definition von Mystik In den 1970er Jahren entfaltete Rahner ausgehend von seiner Theorie der natürlich-übernatürlichen Transzendenz des Menschen systematisch seine Mystiktheorie. 107 Dabei geht er von einem klaren dogmatischen Grundsatz aus. Zwischen Glaube und Gnadenerfahrung einerseits und Glorie und unmittelbarer Anschauung Gottes andererseits gibt es in diesem Leben keinen Zwischenzustand. 108 Eine Erfahrung, die die »gewöhnliche« diesseitige Glaubens- und Gnadenerfahrung des Christen bzw. des Menschen »spezifisch und heilsbedeutsam«, mithin wesentlich übersteigen würde, beliefe sich bereits auf eine vorübergehende Teilnahme an der unmittelbaren Anschauung Gottes. Eine solche Anschauung Gottes ist aber denen vorbehalten, »die durch den Tod schlechthin in die wirkliche Endgültigkeit eingegangen sind« 109 und so die letzte Vollendung erlangt haben. Mystik ist daher theologisch-dogmatisch nur innerhalb des normalen Rahmens von Gnade und Glaube zu entwerfen. Jede andere Auffassung von Mystik würde, so Rahner, »die Mystik überschätzen

Vgl. Ad gentes 7. Siehe dazu Johannes Herzgsell: Karl Rahners Theologie der Mystik, in: Andreas Schönfeld (Hrsg.): Spiritualität im Wandel. Leben aus Gottes Geist. Festschrift zum 75. Jahrgang von »Geist und Leben« – Zeitschrift für christliche Spiritualität begründet als Zeitschrift »Aszese und Mystik« 1925–2002, Würzburg 2002, 65–76. 108 Vgl. »Mystische Erfahrung und mystische Theologie« [1974], in: XII 428–438, hier 431 f. 109 XII [1974] 432. 106 107

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Mystik

oder das ›gewöhnliche‹ christliche Gnadenleben in seiner eigentlichen Tiefe und Radikalität grundsätzlich unterschätzen« 110. Von diesem dogmatischen Grundsatz aus versucht Rahner nun das Wesen der Mystik zu bestimmen, indem er die mystische Erfahrung als besondere Glaubens- und Gnadenerfahrung in seinen Grundansatz einordnet. Mystische Erfahrung ist von daher nichts anderes als eine besondere »Spielart« der allgemeinen übernatürlichen Transzendenzerfahrung des Menschen und damit eine »Spielart« der jedem Menschen angebotenen Geisterfahrung, der jedem Menschen möglichen Gnadenerfahrung im Glauben. 111 Sie muss »jene gnadenhafte Geisterfahrung sein, die mit Glaube, Hoffnung und Liebe in der Selbstmitteilung Gottes an den Menschen gegeben ist« 112. Dabei ist unter Geisterfahrung in diesem Zusammenhang immer auch und vor allem die Erfahrung des Geistes Gottes, die Erfahrung des Heiligen Geistes gemeint, und nicht nur die Selbsterfahrung des Menschen als Geist. Da sich mystische Erfahrung nicht im übernatürlichen Bereich grundlegend von der »gewöhnlichen« Transzendenzerfahrung unterscheiden kann, weil sie sonst ja doch eine Art wesentlich andere, höhere Gnadenerfahrung wäre, muss sie sich im natürlichen Bereich abheben. Rahner denkt dabei insbesondere an »naturale« Versenkungserfahrungen, die sich von den psychologischen Gegebenheiten des Alltags, d. h. von alltäglichen Bewusstseinszuständen unterscheiden. 113 Er beschreibt Mystik deshalb als »die besondere Art einer in sich selbst natürlichen Transzendenzerfahrung und ›Rückkehr‹ zu sich selbst« 114. Damit will er aber selbstverständlich nicht sagen, es handle sich um eine rein natürliche Erfahrung. Da alle seelischen und geistigen Vorgänge im Menschen immer und überall auch schon übernatürlich »erhoben« sind, sind mystische Erfahrungen psychologisch außergewöhnliche, von der Gnade erhobene und eigentlich übernatürliche Geisterfahrung einschließende Erscheinungen. 115 Mystik ist für Rahner daher eine natürlich-übernatürliche Transzendenzerfahrung, bei der das »naturale Substrat« 116 anders ist, bei der 110 111 112 113 114 115 116

»Mystik, V. Theologische Interpretation« [1973], in: HTTL 5, 145 f., hier 145. Vgl. XII [1974] 432 f. XII [1974] 433. Vgl. XII [1974] 432–437, besonders 436. XII [1974] 434. Vgl. XII [1974] 435 f. XII [1974] 436.

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Das heilige Geheimnis

die natürliche Dimension verstärkt und intensiviert ist. Das erklärt, weshalb der Mystiker seine Erfahrung als außergewöhnlich wahrnimmt und als besondere »Gnade« hinsichtlich ihres Geschenkcharakters und ihrer Zielausrichtung empfindet. Die mystische Erfahrung kann ein Hinweis darauf sein, »dass ein Christ die ihm angebotene Gnade der Selbstmitteilung Gottes in existentiell intensivem Grad angenommen hat« 117. Ihre besondere psychologische, an sich naturale Eigenart kann dazu beitragen, dass die übernatürlichen Akte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe existentiell tiefer im Kern der Person wurzeln und »in höherem Maß das ganze Subjekt prägen und durchformen« 118. Damit greift Rahner einen früheren Gedanken auf, demzufolge »die ungeheure Steigerung der existentiellen Tiefe der Akte, die dem Menschen möglich ist« 119, auf die mystische Erfahrung hinausläuft. Mit der größeren natürlichen personalen Tiefe der mystischen Erfahrung geht sowohl eine größere Reflexivität als auch eine größere »Reinheit der (an sich natürlichen, wenn auch durch die Gnade erhobenen) Transzendenzerfahrung« 120 einher. Unter Reflexivität versteht Rahner hier die Deutlichkeit der Erfahrung im Bewusstsein, nicht die ausdrückliche Reflexion über die Erfahrung. Mit der Reflexivität wächst die Reinheit, d. h. die Unabhängigkeit von gegenständlichen Inhalten. Für Rahner kann die Transzendenz »als reine, d. h. als gegenständlich nicht vermittelte höchstens (wenn überhaupt) in der Erfahrung der Mystik und vielleicht der letzten Einsamkeit und Todesbereitschaft in asymptotischer Annäherung gegeben sein« 121. Mystik zielt tendentiell auf eine ungegenständliche, »weiselose« Transzendenzerfahrung in Reinheit, auf eine Transzendenzerfahrung, bei der die kategoriale Vermittlung ganz oder teilweise ausfällt. 122 Wie für Teresa von Avila und für Johannes vom Kreuz ist und bleibt für Rahner aus Sicht christlicher Theologie die mystische Transzendenzerfahrung, wie ungegenständlich, »weiselos« und unvermittelt sie auch immer erlebt und ausgelegt wird, in jedem Fall

117 118 119 120 121 122

XII [1974] 437. XII [1974] 434. III [1944] 34. HTTL 5 [1973] 146; vgl. XII [1974] 434 f. GG [1976] 45 f. Vgl. XII [1974] 435.

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Mystik

durch Jesus Christus vermittelt. 123 In der gegenständlich kaum oder nicht vermittelten, wenngleich in letzter theologischer Instanz durch Jesus Christus vermittelten mystischen Erfahrung kann sich der Mensch über kürzere oder längere Zeiträume hinweg seiner Transzendenz als solcher in hohem Maße bewusst werden. Sie ist das selbstverständlich unter der Vorsehung Gottes stehende »immer radikalere Zu-sich-selbst-Kommen der Transzendentalität des Menschen als der absoluten Offenheit auf das Sein überhaupt, auf den personalen Gott, auf das absolute Geheimnis« 124. Mystik ist für Rahner demnach annähernd reine, d. h. gegenständlich kaum oder nicht mehr vermittelte, natural intensivierte und von daher deutlich bewusste und zu sich selbst kommende übernatürliche Transzendenzerfahrung. In der mystischen Erfahrung wird sich der Mensch seiner Transzendenz als Ausrichtung auf den Gott des ewigen Lebens deutlicher bewusst. Er erfährt seine Transzendenz als solche intensiver. Seine Transzendenz kommt zu sich. Da sich aber Gott dem Menschen in die unbegrenzte geistige Offenheit seiner Transzendenz hinein immer schon in ungeschaffener Gnade als er selbst mitgeteilt und geoffenbart hat, ist die mystische Erfahrung zugleich immer auch intensivere Gnaden- oder Geisterfahrung im Glauben.

13.7.2 Mystik des Alltags Insofern mystische Erfahrungen intensivere Transzendenzerfahrungen bzw. intensivere Gnaden und Geisterfahrungen im Glauben sind, sind sie für Rahner durchaus keine Vorkommnisse, »die schlechterdings jenseits der Erfahrung eines gewöhnlichen Christen liegen« 125. Vielmehr bezeugen die Mystiker eine Erfahrung, »die jeder Christ, ja jeder Mensch machen und anrufen kann, die er aber leicht übersieht oder verdrängt« 126. Daher ist Mystik »uns nicht so fern, wie wir zunächst zu vermuten versucht sind« 127. Die gnadenhafte Geisterfah123 Vgl. »Transzendenzerfahrung aus katholisch-dogmatischer Sicht« [1977], in: XIII 207–225, hier besonders 214–216. 124 »Mystik – Weg des Glaubens zu Gott« [1978], in: Georg Sporschill (Hrsg.): Horizonte der Religiosität. Kleine Aufsätze, Wien 1984, 11–24, hier 21. 125 »Erfahrung des Heiligen Geistes« [1976], in: XIII 226–251, hier 231. 126 XIII [1976] 231. 127 XIII [1976] 231.

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Das heilige Geheimnis

rung, die Transzendenzerfahrung im Heiligen Geist, kann »auch mitten im Alltag geschehen« 128. Von daher prägt Rahner den Begriff einer Mystik des Alltags. 129 Unter der Mystik des Alltags sind bestimmte »konkrete Lebenserfahrungen« des einzelnen, besondere »konkrete Erfahrungen« in der existentiellen Geschichte des Individuums zu verstehen. 130 Solche Erfahrungen suchte Rahner mehrfach zu schildern. 131 In seinem Aufsatz »Über die Erfahrung der Gnade« 132 von 1954 etwa heißt es: »Haben wir schon einmal geschwiegen, obwohl wir uns verteidigen wollten, obwohl wir ungerecht behandelt wurden? Haben wir schon einmal verziehen, obwohl wir keinen Lohn dafür erhielten […]? […] Waren wir schon einmal restlos einsam? Haben wir uns schon einmal zu etwas entschieden, rein aus dem innersten Spruch unseres Gewissens heraus […]? […] Haben wir schon einmal versucht, Gott zu lieben, dort, wo keine Welle einer gefühlvollen Begeisterung einen mehr trägt […]? […] Waren wir einmal gut zu einem Menschen, von dem kein Echo der Dankbarkeit und des Verständnisses zurückkommt […]?« 133

Rahner erläutert die mystischen Erfahrungen des Alltags an Beispielen, er beschreibt sie aber auch abstrakt. Es handelt sich um bestimmte, besondere Erfahrungen. »So gibt es auf jeden Fall konkrete Erfahrungen in unserer existentiellen Geschichte, in denen diese, an sich immer gegebene, transzendentale Geisterfahrung sich deutlicher in unser Bewusstsein vordrängt, Erfahrungen, in denen (umgekehrt) die einzelnen Gegenstände der Erkenntnis und der Freiheit, mit denen wir es im Alltag zu tun haben, durch ihre Eigenart deutlicher und eindringlicher uns auf die begleitende transzendentale Geisterfahrung aufmerksam machen, in denen sie deutlicher von sich aus schweigend in jenes unbegreifliche Geheimnis unserer Existenz, das uns immer umgibt XIII [1976] 248. Vgl. XIII [1976] 235.243.245. 130 XIII [1976] 238 f. 131 Z. B.: »Über die Erfahrung der Gnade« [1954], in: III 105–109; »Gotteserfahrung heute« [1969] in: IX [1969] 161–176, besonders 168–170; Karl Rahner: Einübung priesterlicher Existenz, Freiburg i. Br. 1970, 18–21; Karl Rahner: Chancen des Glaubens. Fragmente einer modernen Spiritualität (HB 389), Freiburg i. Br. 1971, 52 f.; Karl Rahner: Wagnis des Christen: Geistliche Texte, Freiburg i. Br. 1974, 24–29; »Erfahrung des Heiligen Geistes« [1976] in: XIII 226–251, hier 239–242; vgl. auch GG [1976] 135–139. Vgl. dazu Roman Siebenrock 1994, 34–71, hier 62 f. Anm. 35. 132 »Über die Erfahrung der Gnade« [1954], in: III 105–109; vgl. »Erfahrung des Heiligen Geistes« [1976], in: XIII 226–251, hier 239–242. 133 III [1954] 106 f. Vgl. IX [1969] 161–176, hier besonders 168. 128 129

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Mystik

und auch unser Alltagsbewusstsein trägt, verweisen, als es sonst in unserem gewöhnlichen und banalen Alltagsleben geschieht. Die Alltagswirklichkeit wird dann von sich aus Verweis auf diese transzendentale Geisterfahrung, die schweigend und wie scheinbar gesichtslos immer da ist.« 134

In mystischen Erfahrungen des Alltags, so ist Rahners abstrakte Beschreibung zu verstehen, wird die Transzendenz intensiver erfahren, weil die gegenständliche, kategoriale Wirklichkeit von sich aus stärker und eindringlicher als für gewöhnlich auf die Transzendenz verweist. Dabei unterscheidet Rahner zwei Arten von Erfahrung. 135 Bei der einen Art von Erfahrung besitzt die gegenständliche Wirklichkeit, die von sich aus stärker auf das Transzendente verweist, in sich eine vom Menschen positiv erlebte oder erfahrene Qualität. Der Verweis auf das Transzendente ist dann »durch die Positivität solcher kategorialer Wirklichkeit gegeben […], in der die Größe und Herrlichkeit, Güte, Schönheit und Durchlichtheit unserer einzelnen Erfahrungswirklichkeit auf das ewige Licht und das ewige Leben verheißend hinweist« 136. So etwa, »wo die bruchstückhafte Erfahrung von Liebe, Schönheit, Freude als Verheißung von Liebe, Schönheit, Freude schlechthin erlebt und angenommen wird« 137. Diese Art von Erfahrung entspräche dem theologischen Weg der via eminentiae (des Weges des Überstiegs), bei dem die endliche positive Qualität einer gegenständlichen Wirklichkeit von sich aus auf die unendliche positive Qualität der göttlichen Wirklichkeit verweist, etwa wenn durch menschliche Liebe die göttliche Liebe sichtbar wird, oder in weltlicher Schönheit die unendliche Schönheit oder Über-Schönheit Gottes aufleuchtet. Bei der anderen Art von Erfahrung besitzt die gegenständliche Wirklichkeit, die von sich aus stärker auf das Transzendente verweist, in sich eine vom Menschen negativ erlebte oder erfahrene Qualität. »Aber es ist auch ohne Weiteres verständlich, dass ein solcher Hinweis dort am deutlichsten erfahren wird, wo die umgreifbaren Grenzen unserer Alltagswirklichkeiten brechen und sich auflösen, wo Untergänge solcher Wirklichkeiten erfahren werden, wenn Lichter, die die kleine Insel unseres Alltags erhellen, ausgehen und die Frage unausweichlich wird, ob die

134 135 136 137

XIII [1976] 238. Vgl. XIII [1976] 238–243. XIII [1976] 238. XIII [1976] 242.

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Das heilige Geheimnis

Nacht, die uns umgibt, die Leere der Absurdität und des Todes ist, die uns verschlingt, oder die selige Weihnacht, die schon innerlich durchlichtet den ewigen Tag verheißt.« 138

Die andere Art von Erfahrung liegt vor, wenn in einer Erfahrung von Einsamkeit, Angst oder Verzweiflung eine tiefere Erfahrung von Geborgenheit und Hoffnung gemacht wird. Diese Art von Erfahrung entspräche dem theologischen Weg der via negationis (des Weges der Verneinung), bei dem durch Verneinung einer negativen Einzelerfahrung die Positivität der dahinterliegenden transzendenten Wirklichkeit aufscheint. Im Unterschied zur eigentlichen Mystik fällt in der Mystik des Alltags das Gegenständliche bzw. die gegenständliche Vermittlung in der Transzendenzerfahrung nicht teilweise oder ganz aus, sondern macht als solches deutlicher und dringlicher auf die Transzendenz aufmerksam. Wo der Mensch solche besonderen Erfahrungen in seinem Leben macht, da ist nach Rahner »die Mystik des Alltags, das Gottfinden in allen Dingen; da ist die nüchterne Trunkenheit des Geistes« 139. In den Zusammenhang der Mystik des Alltags wäre schließlich auch der berühmt gewordene Satz Rahners aus dem Jahre 1966 einzuordnen: »der Fromme von morgen wird ein ›Mystiker‹ sein, einer, der etwas ›erfahren‹ hat, oder er wird nicht mehr sein« 140. Es gab also und gibt, so Rahner, Mystik. 141 Die eigentlichen Mystiker bezeugen uns eine intensive Erfahrung des Geistes Gottes. Aber diese Erfahrung ist nicht exklusiv. Alle Christen, ja alle Menschen können eine intensivere Erfahrung des Heiligen Geistes im Glauben machen. »Wir sagen, ja wir bekennen als Christen, auch gestützt auf das Zeugnis der Schrift, dass wir eine solche Erfahrung des Geistes haben können, ja sogar als Angebot an unsere Freiheit notwendig haben. Solche Erfahrung ist gegeben, auch wenn wir sie meist im Betrieb unseres Alltags übersehen, sie vielleicht verdrängen und nicht wahrhaben wollen.« 142

Deshalb sollte jeder Mensch in seinem Leben und Alltag die Erfahrung des Geistes zu machen suchen. Und wenn wir nun »diese Erfah-

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XIII [1976] 238. XIII [1976] 243. »Frömmigkeit früher und heute« [1966], in: VII 11–31, hier 22. Vgl. XIII [1976] 229 f. XIII [1976] 233.

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Gott als das heilige Geheimnis

rung des Geistes machen, dann haben wir […] auch schon faktisch die Erfahrung des Übernatürlichen gemacht« 143. »[Wir wissen,] wenn wir in dieser Erfahrung des Geistes uns loslassen, wenn das Greifbare und Angebbare, das Genießbare versinkt, wenn alles nach tödlichem Schweigen tönt, wenn alles den Geschmack des Todes und des Untergangs erhält, oder wenn alles wie in einer unnennbaren, gleichsam weißen, farblosen und ungreifbaren Seligkeit verschwindet, dann ist in uns faktisch nicht nur der Geist, sondern der Heilige Geist am Werk. Dann ist die Stunde seiner Gnade. Dann ist die scheinbar unheimliche Bodenlosigkeit unserer Existenz, die wir erfahren, die Bodenlosigkeit Gottes, der sich uns mitteilt, das Anheben des Kommens seiner Unendlichkeit, die keine Straßen mehr hat, die wie ein Nichts gekostet wird, weil sie die Unendlichkeit ist. Wenn wir losgelassen haben und uns nicht mehr selbst gehören, wenn wir uns selbst verleugnet haben und nicht mehr über uns verfügen, wenn alles und wir selbst wie in eine unendliche Ferne von uns weggerückt ist, dann fangen wir an, in der Welt Gottes selbst, des Gottes der Gnade und des ewigen Lebens zu leben.« 144

Das wird uns nach Rahner am Anfang noch ungewohnt vorkommen, und wir werden immer wieder versucht sein, in das Vertraute und Nahe zurückzufliehen. »Aber wir sollten uns doch allmählich an den Geschmack des reinen Weines des Geistes, der vom Heiligen Geist erfüllt ist, zu gewöhnen suchen. Wenigstens so weit, dass wir den Kelch nicht zurückstoßen, wenn seine Führung und Vorsehung ihn uns reicht.« 145

13.8 Gott als das heilige Geheimnis In seinen drei Vorlesungen »Über den Begriff des Geheimnisses in der katholischen Theologie« 146 entfaltete Rahner Ende der 50er-Jahre den Gottesbegriff, der am stärksten mit ihm verbunden wird: das heilige Geheimnis. Für ihn ist das Geheimnis ein Grundbegriff der christlichen Dogmatik. 147 Im religionsphilosophischen und theologi-

XIII [1976] 244 (= III [1954] 108). XIII [1976] 244 (= III [1954] 108). 145 XIII [1976] 244 (= III [1954] 108). 146 IV [1959] 51–99. Vgl. dazu auch »Über die Verborgenheit Gottes«, in: XII [1974] 285–305; »Fragen zur Unbegreiflichkeit Gottes nach Thomas von Aquin«, in: XII [1974] 306–319; »Um das Geheimnis der Dreifaltigkeit«, in: XII [1975] 320–325. 147 Vgl. IV [1959] 51. 143 144

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schen Zusammenhang darf im Unterschied zu anderen Zusammenhängen das Geheimnis nicht als das bloß Vorläufige verstanden werden, sondern muss als das Ursprüngliche und Bleibende aufgefasst werden. 148 Denn auch in der jenseitigen visio beatifica, der beseligenden Schau Gottes, bleibt Gott für uns der Unbegreifliche und Namenlose. Das macht genau den Inhalt unserer Schau und den Gegenstand unserer seligen Liebe aus, dass uns Gott gerade in seiner Unendlichkeit und damit Unbegreiflichkeit selbst nahe ist. Bei der endgültigen Schau Gottes übersteigt unsere Liebe unser verstandesmäßiges Erkenntnisvermögen, das ein »Vermögen des richtenden Urteils« und »des umgreifenden Begreifens« ist. 149 Deshalb vollendet sich unsere Vernunft nicht im begrifflichen Verstandesdenken, sondern in der Liebe, die allein dem Gegenstand – Gott – angemessen ist. Die Liebe ist die Vollendung der Erkenntnis selbst. Für Rahner ist von seinem philosophischen Ansatz her der Mensch, wie dargelegt, das Wesen der Transzendenz. Indem der Mensch seine Endlichkeit radikal erfährt, greift er über diese Endlichkeit hinaus und greift vor auf die Unendlichkeit der Wirklichkeit. Ihm schickt sich die unverfügbare und schweigende Unendlichkeit der Wirklichkeit als Geheimnis dauernd zu. Das, worauf sich die menschliche Transzendenz richtet und von woher sie eröffnet ist, nennt Rahner zunächst einmal sehr formal das Woraufhin oder Wovonher der Transzendenz. Von diesem Woraufhin oder Wovonher sagt Rahner nun aus, es sei namenlos, unabgrenzbar und unverfügbar. 1. Das Woraufhin ist namenlos. Diese Namenlosigkeit begründet Rahner folgendermaßen: »Denn jeder Name grenzt ab, jeder Name unterscheidet, kennzeichnet etwas, indem – auswählend unter vielen Namen – dem Gemeinten ein bestimmter Name gegeben wird. Der unendliche Horizont (das Woraufhin der Transzendenz), die uns tragende Eröffnung der unbegrenzten Möglichkeiten, diesem und jenem Bestimmten zu begegnen, lässt sich nicht auch wieder mit einem Namen benennen, der dieses Woraufhin unter die Wirklichkeiten einreihen würde, die auf dieses Woraufhin und von diesem Wovonher erfasst werden.« 150

Vgl. IV [1959] 57 f. IV [1959] 60. 150 GG 70. Rahner übernahm seine Überlegungen aus der zweiten Vorlesung »Über den Begriff des Geheimnisses in der katholischen Theologie« (IV [1959] 67–82) in den »Grundkurs des Glaubens«, weshalb hier nach dem Grundkurs zitiert wird. 148 149

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Rahner fasst das Woraufhin der Transzendenz als den unendlichen Horizont auf, innerhalb dessen wir bestimmte Gegenstände erfassen und benennen. Der unendliche Horizont selbst ist für uns Bedingung der Möglichkeit, Gegenstände zu unterscheiden, zu bestimmen, zu benennen. Aber genau deshalb kann er nicht in den Horizont selbst, also in sich selbst, eingerückt werden und wie ein bestimmter Gegenstand erfasst und benannt werden. Eine Benennung des Woraufhin oder des Horizonts etwa als das oder der »Unendliche« wäre von uns nur dann richtig verstanden, »wenn wir sie«, so Rahner, »als reinen Hinweis auf jenes Schweigen der transzendentalen Erfahrung verstehen«. 151 2. Das Woraufhin ist unabgrenzbar oder uneingrenzbar. Dies begründet Rahner so: »Unabgrenzbar ist das Woraufhin der Transzendenz weil der Horizont nicht im Horizont selbst gegeben sein, das Woraufhin der Transzendenz hereingeholt und so vom anderen unterschieden werden kann. Der letzte Maßstab kann nicht noch einmal gemessen werden. Die Grenze, die allem seine ›Definition‹ gibt, lässt sich nicht wiederum durch eine noch weiter entfernt liegende Grenze bestimmen. Die unendliche Weite, die alles einfängt und alles einfangen kann, lässt sich nicht noch einmal einfangen.« 152

Als letzte grenzenlose Grenze und als letzter Maßstab kann das Woraufhin der Transzendenz nicht noch einmal selbst begrenzt und gemessen werden. 3. Das Woraufhin ist unverfügbar. Die Begründung hierfür lautet bei Rahner: »Das Woraufhin der Transzendenz lässt nicht über sich selbst verfügen, weil wir dann wieder über es hinübergreifen und es in einen anderen, weiteren höheren Zusammenhang einordnen würden; was ja gerade dem Wesen dieser Transzendenz und des eigentlichen Woraufhin dieser Transzendenz widerspricht. Dieses Woraufhin ist die unendliche, stumme Verfügung über uns.« 153

Wir können über das Woraufhin, das einen unendlichen Horizont darstellt, nicht hinübergreifen und verfügen. »Es entzieht sich nicht nur physisch, sondern auch logisch jeder Verfügung vonseiten des endlichen Subjekts.« 154 151 152 153 154

GG 71. GG 72. GG 73. GG 72.

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Mit der Namenlosigkeit, Unabgrenzbarkeit und Unverfügbarkeit des Woraufhin variiert Rahner nur das Thema der Unbegreiflichkeit. Weil wir das Woraufhin nicht durch einen über es nochmals hinausgreifenden Vorgriff umgreifen und so bestimmen können, ist es das unbegreifliche Geheimnis, und dieses unbegreifliche Geheimnis ist nichts anderes als Gott selbst. Die immer gegebene transzendentale Erfahrung der ursprünglichen Verwiesenheit auf das absolute Geheimnis macht unsere Grunderfahrung Gottes aus. Insofern haben wir Gott niemals »als einen einzelnen Gegenstand unter anderen für sich […], sondern immer nur als das Woraufhin der Transzendenz, die [freilich] nur in der kategorialen Begegnung […] mit der konkreten Wirklichkeit […] zu sich selbst kommt« 155. Mit unseren Begriffen können wir Gott, der das Woraufhin unserer Transzendenz und als solcher die Bedingung der Möglichkeit, der tragende Grund und der unendliche Horizont unseres Begreifens ist, nicht umgreifen, nicht begrenzen, nicht in Kategorien oder Klassen, Koordinaten- oder Begriffssysteme einordnen. Wir können mit ihnen höchstens auf das unbegreifliche Geheimnis ausgreifen, hinweisen und hindeuten. Wir können mit ihnen die Richtung angeben, in der Gott zu denken ist. Aber Gott denkerisch wirklich einholen können wir mit ihnen nicht. Die Aussage, Gott sei unbegreiflich, sagt deshalb primär nicht etwas über Gott an sich aus, sondern über unsere bleibende Endlichkeit. Für Rahner hat die menschliche Transzendenz zwei Seiten: zum einen die Erkenntnis und zum anderen den Willen, die Freiheit oder die Liebe. Von daher fährt er in der Bestimmung des göttlichen Geheimnisses fort: »Das Woraufhin der Transzendenz kann nun weiterhin, insofern diese Transzendenz als eine solche der Freiheit und Liebe angesehen wird, als das Heilige bestimmt werden. Denn das Woraufhin einer absoluten Freiheitstranszendenz, das als das Unverfügbare, Namenlose und absolut Verfügende über der Transzendenz als liebender Freiheit waltet, ist genau das, und zwar als einziges, was wir ›heilig‹ im ursprünglichen Sinn nennen können.« 156

Das, was als das Unverfügbare über unsere Freiheit und Liebe waltet und diese als ihr Grund ermöglicht, verdient als einziges den Namen »heilig«.

155 156

GG 73. IV [1959] 73.

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Reflexion

»Denn wie wollte man das namenlose, verfügende, uns in unsere Endlichkeit hinein verweisende Geliebte nennen, wenn nicht ›heilig‹, und was könnte man heilig nennen, wenn nicht dieses, oder wem käme der Name ›heilig‹ ursprünglicher zu als eben diesem unendlichen Woraufhin sich eröffnender Liebe, die vor diesem Unumgreifbaren und Unsagbaren erzitternde Anbetung wird?« 157

So erweist sich das Woraufhin unserer unbegrenzten geistigen Offenheit in Erkenntnis und Liebe als das heilige Geheimnis. Dieses ist aber nichts anderes als Gott. Gott ist uns Menschen als heiliges Geheimnis gegeben. 158 Diese Bestimmung kommt ihm nicht zufällig zu. Sie ist seine primäre Bestimmung, die auch nur ihm allein gebührt. »Gott wäre nicht Er, würde er aufhören, dieses heilige Geheimnis zu sein.« 159 Deshalb haben wir die höchste Gotteserkenntnis dann erreicht, wenn wir um den Geheimnischarakter Gottes in höchster Weise wissen. 160 Die heilige Geheimnishaftigkeit Gottes nimmt für uns in der unmittelbaren jenseitigen Gottesschau noch zu. Sie macht auch im Jenseits nicht die Begrenzung unserer Seligkeit aus, sondern diese Seligkeit selbst. Wie für Thomas von Aquin das durch sich selbst seiende Sein selbst und für Nikolaus von Kues das Können selbst, so ist für Rahner das heilige Geheimnis der angemessenste Gottesbegriff. Wie Thomas und Cusanus ist sich Rahner aber auch bei diesem Begriff dessen bewusst, dass Gott ihn – wie jeden anderen Begriff auch – unendlich übersteigt. Eben das soll ja mit ihm ausgedrückt werden.

13.9 Reflexion 13.9.1 Kategoriale und transzendentale Offenbarung Rahners philosophischer und theologischer Grundansatz kommt auch in seiner Offenbarungstheologie zum Tragen. So bezeichnet er die Selbstmitteilung Gottes in der menschlichen Transzendenz auch als »transzendentale Selbstmitteilung« 161 oder als »existentielle

157 158 159 160 161

IV [1959] 73. Vgl. IV [1959] 75. IV [1959] 75. Vgl. IV [1959] 80 f. VIII [1966] 360.

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Selbstmitteilung« 162. Diese erfüllt ihm zufolge von sich selbst her den Begriff einer Offenbarung. 163 Deshalb ist für ihn die transzendentale Selbstmitteilung Gottes in der inneren Existenz eines jeden Menschen transzendentale Offenbarung Gottes. 164 Durch das übernatürliche Existential hat sich Gott jedem Menschen immer und überall schon transzendental geoffenbart. Immer wieder kehrt Rahner den Offenbarungscharakter des übernatürlichen Existentials hervor und fügt hinzu, dass in der persönlichen Annahme der transzendentalen Selbstzusage Gottes – und sei sie noch so unreflektiert und unausdrücklich – aus christlicher Sicht bereits echter Glaube vollzogen wird. 165 Für Rahner ist die innerlich-transzendentale Selbstmitteilung Gottes an den Menschen selber geschichtlich, und zwar nicht nur vom Menschen her, insofern sich der Mensch zu dieser Selbstmitteilung geschichtlich verhalten, sie etwa frei annehmen oder frei ablehnen kann, sondern auch von Gott her, der sich dem Menschen innerlich in immer neuer Weise selbst offenbaren und selbst mitteilen kann. 166 In systematischer Hinsicht unterscheidet Rahner daher zwei bzw. drei Weisen der Offenbarung Gottes. 167 In der sogenannten natürlichen Offenbarung, die aber faktisch immer auch schon übernatürlich ist, macht sich Gott dem Menschen bereits in dessen unbegrenzter geistiger Offenheit kund, sodass der Mensch mittels seiner Vernunft das Endliche als Endliches erkennen und übersteigen kann. Offen bleibt für den Menschen dabei, ob Gott für ihn ewige Ferne oder radikale Nähe, Gericht oder Vergebung bedeutet. In der eigentlichen Offenbarung wird dem Menschen die innere Wirklichkeit Gottes und sein personales, freies Verhalten dem Menschen gegenüber bekannt. Weil und insofern diese Offenbarung gnadenhaft ist und von Gott her im engeren Sinn personal, frei und unIX [1970] 251. Vgl. V [1962] 123. 164 Vgl. VI [1965] 286. 165 Vgl. V [1961] 73; V [1962] 123; VI [1965] 286; VI [1965] 486; VIII [1966] 347; X [1971] 541 f. 166 Vgl. GG [1976] 145–147. 167 Siehe dazu Karl Rahner/Herbert Vorgrimler: Kleines Theologisches Wörterbuch (10., unter Mitarbeit von Kuno Füssel völlig neu bearbeitete Auflage), Freiburg i. Br. 1976 [= KTW [1976]], »Offenbarung« 304–309; Karl Rahner (Hrsg.): Herders Theologisches Taschenlexikon [HTTL]. Band 5, Freiburg i. Br. 1973, »Offenbarung. II. Theologische Vermittlung«, 237–245; GG [1976] 173–177. 162 163

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Reflexion

geschuldet ergeht, ist sie personale Offenbarung oder Selbstoffenbarung Gottes. 168 Die eigentliche, personale Selbstoffenbarung hat zwei Seiten: eine dem Menschen von Innen zukommende, also innerlich-transzendentale und eine dem Menschen von Außen zukommende, also äußerlich-geschichtliche. 169 Die innerlich-transzendentale Offenbarung besteht dem übernatürlichen Existential gemäß in der inneren gnadenhaften Selbstoffenbarung Gottes im Kern der geistigen Person eines jeden Menschen. Die äußerlich-geschichtliche Offenbarung, die Rahner kategorial-geschichtliche Offenbarung nennt, ist im Wesentlichen das, wovon die Bibel Zeugnis ablegt. Sie deckt sich weitgehend mit der ausdrücklichen und amtlichen Heils- und Offenbarungsgeschichte und hat ihren absoluten Höhepunkt in Jesus Christus. 170 Die transzendental-innerliche Offenbarung wird durch die kategorial-geschichtliche objektiviert und zu sich selbst vermittelt. 171 Sie findet in ihr ihre Ausdrücklichkeit 172, ihre Vergegenständlichung 173, ihre Reflexivität 174, ihre notwendige Selbstauslegung. 175 Die kategorial-geschichtliche Offenbarung ist die geschichtliche »Übersetzung« der transzendentalen Offenbarung und macht diese eindeutig. Für Rahner handelt es sich dabei streng genommen nicht um zwei Offenbarungen, sondern um zwei ursprünglich verschiedene, aber aufeinander verwiesene und einander notwendig ergänzende Momente der einen Selbstoffenbarung Gottes. 176 Den beiden Momenten entsprechen die beiden heilsökonomischen »Sendungen« oder Selbstmitteilungen Gottes – die transzendentale oder existentielle des Heiligen Geistes 177 im Inneren eines jeden Menschen und Vgl. z. B. KTW [1976] 305; VIII [1966] 347; GG [1976] 173–177. Vgl. GG [1976] 174. 170 Vgl. KTW [1976] 305–308; GG [1976] 174–177. 171 Vgl. z. B. IX [1970] 251. 172 Vgl. z. B. VI [1964] 549; Rahner spricht hier alternativ auch von ihrer Thematisierung (z. B. XII [1974] 84). 173 Vgl. z. B. GG [1976] 176; Rahner spricht hier alternativ auch von ihrer Objektivation (z. B. IX [1970] 251) oder ihrer Gegenständlichkeit (z. B. GG [1976] 176). 174 Vgl. z. B. X [1971] 108. 175 Vgl. z. B. GG [1976] 157–159. 176 Vgl. z. B. GG [1976] 174. 177 Zu Rahners Theologie des Heiligen Geistes und der Erfahrung des Heiligen Geistes siehe Renate Kern: Theologie aus Erfahrung des Geistes. Eine Untersuchung zur Pneumatologie Karl Rahners, Innsbruck 2007. 168 169

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die kategorial-geschichtliche des »Logos«, des Sohnes, in der Geschichte der Menschheit. 178 Indem Rahner seine Theorie von der übernatürlich erhöhten Transzendenz des Menschen in der Offenbarungstheologie anwendet, gelangt er dem Begriff und der Sache nach zur innerlich-transzendentalen Selbstoffenbarung Gottes, die in der äußerlich-geschichtlichen Selbstoffenbarung Gottes ihre Ausdrücklichkeit und Eindeutigkeit gefunden hat. Was der Mensch durch die transzendentale Offenbarung im Inneren seiner Existenz aufgrund der Einwohnung des Heiligen Geistes vom Wesen, vom Willen und von der Liebe Gottes ahnt, wird für ihn durch die von außen an ihn ergehende kategorial-geschichtliche Offenbarung in Jesus Christus zur Gewissheit im Glauben.

13.9.2 Nichtchristliche Heilsbringer Der religionstheologische Inklusivismus, demzufolge zwar dem Christentum dank Jesus Christus eine herausragende Sonderstellung unter den Religionen zukommt, aber auch nichtchristliche Religionen mehr oder weniger echte Heils- und Offenbarungsreligionen darstellen, geht, zumindest was das katholische Christentum betrifft, sehr stark auf Karl Rahner zurück. 179 Wie Rahner in seinem Vortrag »Über die Heilsbedeutung der nichtchristlichen Religionen« von 1975 ausführt, darf die Geschichte der nichtchristlichen Religionen als ein Stück der eigentlichen positiven Offenbarungs- und Heilsgeschichte betrachtet werden. 180 Nichtchristliche Religionen sind nicht bloß Religionen »von unten«, d. h. menschliche Produkte, sondern auch Niederschlag göttlicher Offen-

Vgl. IX [1970] 251. Rahner entwickelte seine inklusivistische Position allmählich in vier religionstheologischen Aufsätzen, in denen er sich mit dem grundsätzlichen Verhältnis des Christentums zu den anderen Religionen beschäftigt; besonders im letzten der vier Texte (aus dem Jahre 1975) denkt er sehr klar in Richtung eines Inklusivismus: »Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen« [1961], in: V 136–158 (= SW 10, 557–573); »Kirche, Kirchen und Religionen« [1966], in: VIII 355–373; »Jesus Christus in den nichtchristlichen Religionen« [1974], in: XII 370–383 (bzw. GG [1976] 303– 312); »Über die Heilsbedeutung der nichtchristlichen Religionen« [1975], in: XIII 341–350. 180 Vgl. XIII [1975] 348.344. 178 179

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barung und Gnade, also auch Religionen »von oben«. 181 Sie spielen eine Vermittlungsrolle in Bezug auf das Heil. 182 Sie haben eine positive Heilsfunktion für ihre Anhänger. 183 Sie sind »Heilswege« 184. Im »Grundkurs des Glaubens« von 1976 bekräftigt Rahner seinen religionstheologischen Inklusivismus und erklärt und begründet ihn von seinem Ansatz her näher. Da die Religionsgeschichte als ganze immer schon von der transzendentalen Selbstoffenbarung Gottes mitgetragen ist, gibt es keine Religion, die vom Menschen ganz allein gestiftet wäre. 185 Vielmehr ist jede Religion immer schon auch von Gottes übernatürlicher gnadenhafter innerlich-transzendentaler Selbstmitteilung gestiftet und ermöglicht. 186 Nun ist aber nicht auszuschließen, dass es auch in der außerchristlichen Religionsgeschichte eine gottgewirkte richtige und reine Selbstauslegung der transzendentalen Selbstoffenbarung Gottes gibt, also eine kategorialgeschichtliche Selbstoffenbarung Gottes. Rahner rechnet zumindest mit »kurzen Teilgeschichten« 187 einer solchen kategorial-geschichtlichen Offenbarung außerhalb der alt- und neutestamentlichen Offenbarung. Wie man sich eine solche gelungene Selbstauslegung konkret vorstellen kann, wird deutlich durch die Art und Weise, wie Rahner Propheten als Offenbarungsträger charakterisiert. »Der Prophet ist, theologisch richtig gesehen, nichts anderes als der Glaubende, der seine transzendentale Gotteserfahrung richtig aussagen kann. Sie wird im Propheten, vielleicht im Unterschied zu anderen Glaubenden, so ausgesagt, dass sie auch für andere zur richtigen und reinen Objektivation von deren eigener transzendentaler Gotteserfahrung wird und in dieser Richtigkeit und Reinheit erkannt werden kann.« 188

Der Prophet wird so »produktives Vorbild, erweckende Kraft und auch Norm für andere« 189. Überträgt man das, was Rahner theologisch über Propheten als Offenbarungsträger aussagt, in analogem Sinn auf Religionsgründer 181 182 183 184 185 186 187 188 189

Vgl. XIII [1975] 346 f.344. Vgl. XIII [1975] 347 f. Vgl. XIII [1975] 349. XIII [1975] 350. Vgl. GG [1976] 150. Vgl. GG [1976] 150 f. GG [1976] 160; vgl. 162. GG [1976] 163. GG [1976] 163.

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und außergewöhnliche religiöse Persönlichkeiten nichtjüdischer und nichtchristlicher Religionen wie etwa Buddha, Muhammad oder Mahatma Gandhi, dann wird verständlich, wie es in diesen Religionen zu einer kategorial-geschichtlichen Selbstoffenbarung Gottes kommen kann. Diese Gründergestalten und anderen großen Gestalten haben nicht nur persönlich eine außergewöhnlich tiefe transzendentale Gotteserfahrung gemacht, sondern diese Gotteserfahrung so ausgelegt, dass sie auch für andere zur richtigen und wegweisenden Selbstauslegung ihrer eigenen transzendentalen Gotteserfahrung und somit zur kategorial-geschichtlichen Selbstoffenbarung Gottes geworden ist. So wird theologisch nachvollziehbar, wie es in nichtchristlichen Religionen echte »Heilsbringergestalten« 190 geben kann und inwiefern diese Religionen für ihre Anhänger echte Heils- und Offenbarungsreligionen sein können.

13.9.3 Eine freiheitstheoretische Begründung des Geheimnisses Gottes Wie Thomas von Aquin versteht und begründet Karl Rahner die Unbegreiflichkeit und Geheimnishaftigkeit Gottes primär erkenntnistheoretisch. Demzufolge können wir Menschen das unendliche Wesen Gottes nur unangemessen erkennen und begreifen, weil wir selbst nur endliche Wesen sind. Das ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, die Geheimnishaftigkeit Gottes zu erklären. Im Anschluss an Rahner selbst, der bei Gott neben der Unbegreiflichkeit auch sehr stark die Heiligkeit hervorhebt und an unserer menschlichen Transzendenz neben der Erkenntnisseite auch die Seite der Liebe betont, lässt sich der Geheimnischarakter Gottes auch freiheitstheoretisch begründen. 191 Demnach ist Gott für uns nicht nur unbegreiflich, weil und insofern er ein unendliches Wesen ist, sondern auch und vor allem weil er ein freies Wesen ist. 192 Eine freiheitstheoretisch begründete negative Theologie kann eine erkenntnistheoretisch begründete ergänzen GG [1976] 312. Siehe dazu Johannes Herzgsell SJ: Die Unbegreiflichkeit Gottes. Einige Bemerkungen zur negativen Theologie, in: Johannes Herzgsell/Janez Perčič (Hg.): Religion und Rationalität (Quaestiones disputatae 244), Freiburg i. Br. 2011, 46–48. 192 Vgl. dazu Magnus Striet: Offenbares Geheimnis. Zur Kritik der negativen Theologie, Regensburg 2003. 190 191

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und legt sich aus philosophiegeschichtlichen und offenbarungstheologischen Gründen nahe. Wir verstehen seit der Neuzeit Gott wohl nicht mehr – wie etwa Thomas von Aquin – so sehr als das Sein selbst, denn als die vollkommene Freiheit. Und Jesus Christus, der für Christen die Selbst- und Wesensoffenbarung Gottes selbst ist, hat Gott als Liebe, insbesondere auch als Liebe zu uns geoffenbart. In Freiheit und aus Liebe hat Gott uns ins Dasein gerufen, vergibt uns unser Versagen und unsere Schuld, will uns vollenden und uns vergöttlichen, d. h. uns an seinem eigenen göttlichen Leben Anteil geben. Eine solche Freiheit als Liebe oder Liebe in Freiheit ist für uns aber nicht wirklich zu begreifen und zu ergründen. Sie stellt für uns ein letztes unfassliches Faktum dar, das wir nur staunend und dankbar annehmen, aber nicht noch einmal von irgendwo anders her ergründen oder ableiten könnten. Gott ist aber nicht nur für uns, sondern auch an sich – seinem Wesen nach – Liebe. Die Liebe macht sein Wesen aus. Gott liebt sich selbst. Hier könnte man die spekulative Frage aufwerfen, ob Gott aus Freiheit oder aus Notwendigkeit seinem Wesen nach Liebe ist. Logisch und begrifflich scheint es nicht notwendig zu sein, dass Gott die Liebe ist. Wir können widerspruchsfrei einen Gott denken oder begrifflich bestimmen, der nicht Liebe wäre. Wäre es aber auch metaphysisch möglich, dass Gott nicht die Liebe ist? Was das faktische metaphysische Wesen Gottes angeht scheinen in Gott Freiheit und Notwendigkeit paradoxerweise zusammenzufallen. Gott kann nichts anderes als Liebe sein, um er selbst zu sein, und dennoch ist er es in Freiheit. Aus rein innerer, durch nichts von außen erzwungener Notwendigkeit und damit in Freiheit vollzieht Gott sein Wesen als Liebe. Damit ist und bleibt aber auch die Liebe Gottes, die sein metaphysisches Wesen ausmacht, und nicht nur die Liebe Gottes zu uns frei und insofern für uns unbegreiflich und unergründlich. Warum Gott in Freiheit sein eigenes Wesen als Liebe bestimmt und uns in Freiheit liebt, ist das eigentliche und bleibende, unerforschliche und unverfügbare Geheimnis Gottes. Aber Gott hat seine Liebe uns Menschen offenbart, weshalb er für uns nicht einfach das vollkommen verborgene, dunkle Geheimnis, sondern das offenbare Geheimnis ist (vgl. Kol 1,26). In einer freiheitstheoretisch begründeten negativen Theologie kann vielleicht noch mehr als in einer erkenntnistheoretisch fundierten die Unbegreiflichkeit und Geheimnishaftigkeit Gottes im positiven Licht eines bleibenden Wunders erscheinen. Die Liebe Gottes ist ein Wunder, über das wir in alle Ewigkeit nicht genug werden staunen können. 427 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

14. Der für uns Leidende Das Leiden Gottes nach H. U. v. Balthasar

14.1 Das antike Ideal der Apathie (Jürgen Moltmann) Aus der antiken Welt begegnete dem frühen Christentum die Apathie (apatheia) als metaphysisches Axiom bezüglich des Wesens Gottes und als ethisches Ideal des Menschen. In seinem Werk »Der gekreuzigte Gott« 1 beschreibt und beurteilt Jürgen Moltmann dieses Axiom und Ideal in etwa wie folgt. 2 Seit Platon und Aristoteles wird die metaphysische und ethische Vollkommenheit Gottes als Apathie 3 charakterisiert. Nach Plato ist Gott gut und kann darum nicht Urheber von Übeln, d. h. von Bösem, von Strafen und von Leiden sein. Plato verwirft die dichterischen Vorstellungen von launischen, neidischen, rächenden und strafenden Göttern als Gott unangemessen. Weil Gott vollkommen ist, ist er bedürfnislos. Weil er bedürfnislos ist, ist er unveränderlich. Jede Veränderung würde einen Mangel an Sein bedeuten und damit eine Bedürftigkeit anzeigen. Und weil Gott unveränderlich ist, ist er auch apathisch oder apathetisch, d. h. leidenslos und leidenschaftslos. Denn mit Pathos 4 – mit Leiden und Leidenschaften – würde auch notwendig eine Veränderung einhergehen. Aristoteles vertritt daher in seiner »Metaphysik« direkt den metaphysischen Grundsatz: Gott ist apathisch. 5 Gott vermag als actus purus – als reiner Wirklichkeit ohne unverwirklichte Möglichkeiten –und als reiner Ursächlichkeit, auf die nichts einwirken kann, nichts zu widerfahren, das er erleiden müsste. Jürgen Moltmann: Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München 1972 [= Moltmann 1972]. 2 Moltmann 1972, 255–258. 3 Vom Griechischen: ἀπάθεια (apátheia) = Unempfindlichkeit, Leidenschaftslosigkeit. 4 Vom Griechischen: πάθος (páthos) = Schmerz, Leiden, Leidenschaft. 5 Metaphysik XII, 1073 a 11. 1

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Das antike Ideal der Apathie (Jürgen Moltmann)

»Als der Vollkommene ist er ohne Affekte. Zorn, Hass und Neid sind ihm fremd.« 6 Allerdings sind ihm ebenso fremd Liebe, Mitleid und Erbarmen. Der apathische Gott des Aristoteles denkt ewig sich selbst. Er ist in sich das Denken des Denkens (gr. νόησις νοήσεως; nóēsis noē´ seōs). Der Ethik der Stoa zufolge muss der Weise – der Mensch, der die Weisheit anstrebt – dem Göttlichen in seiner Vollkommenheit und Apathie ähnlich werden und an dessen Sphäre teilhaben. Deshalb muss er Bedürfnisse und Triebe überwinden und ein von Mühe und Furcht, von Zorn und Liebe freies Leben führen. Der Weise steht fest in der Ataraxie – der Unerschütterlichkeit – und besitzt die Apathie – die Leidenschaftslosigkeit. Seine Erkenntnis ist weder von Affekten der Seele noch von Bedürfnissen des Leibes getrübt. »Im Denken des Denkens findet er Ruhe in Gott … Er lebt in der höheren Sphäre des Logos.« 7 Die stoische Ethik überbietet insofern die in der Antike anfänglich und auch von Aristoteles gepriesene Mittellage (Metriopathie) im Gefühls- und Sinnenleben durch die erstrebte Apathie des Weisen. Der stoische Weise strebt nicht eine Mittellage in seinen Gefühlen und Leidenschaften an, sondern die völlige Leidenschaftslosigkeit. Das antike Judentum, vornehmlich durch Philon, und das antike Christentum nahmen in ihrer Theologie und Ethik dieses menschliche Apathie-Ideal auf und suchten es zu erfüllen und zu überbieten. Philon stellt Abraham als Vorbild der Apathie hin. Die Apathie gilt auch ihm als Ideal und Ziel der Vollkommenheit. Doch sucht der Mensch nach seiner Ansicht – im Unterschied zum stoischen Verständnis – nicht, für sich selbst frei und mit sich zufrieden zu sein, sondern im Dienst Gottes frei und bedürfnislos zu werden. Gemäß antiker jüdischer und christlicher Auffassung kann der Mensch nicht aus eigener Kraft und Anstrengung die Apathie erreichen. Nur Gott kann die Kraft zur Apathie geben. Um das metaphysische Axiom der göttlichen Apathie und das ethische Ideal der menschlichen Apathie in der Antike angemessen verstehen und einschätzen zu können, ist es wichtig, die damalige Vieldeutigkeit der Begriffe des pathos und der apatheia zu kennen. Mit pathos wurden Bedürftigkeit, Zwang, Trieb, Abhängigkeit, nie-

6 7

Moltmann 1972, 257. Moltmann 1972, 257.

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Der für uns Leidende

dere Leidenschaften und ungewollte Leiden bezeichnet. 8 Apatheia meinte Unerreichbarkeit für äußere Einwirkung, Unempfindlichkeit, wie sie toten Dingen eigen ist, und Freiheit des Geistes von inneren Bedürfnissen und äußeren Beeinträchtigungen. Sie stand im physischen Sinn für Unveränderlichkeit, im psychischen Sinn für Unempfindlichkeit und im ethischen Sinn für Freiheit. Dementsprechend wurden im antiken Griechentum, Judentum und Christentum unter Pathos nur die niedrigen Leidenschaften und Zwänge verstanden, die den Menschen unfrei machen. Apathie bedeutete im Gegenzug nicht Versteinerung oder Teilnahmslosigkeit des Menschen, »sondern die Freiheit des Menschen und seine Weltüberlegenheit in der Entsprechung zur vollkommenen, bedürfnislosen Freiheit der Gottheit« 9. Durch die Apathie tritt der Mensch in die höhere, gottentsprechende Sphäre des Logos ein. Das antike Christentum brachte die Apathie in Verbindung mit der agape – mit der christlichen Liebe. Ihm galt die Apathie als Voraussetzung oder Ermöglichungsgrund einer Liebe, die aus der Befreiung von den inneren und äußeren Fesseln des Fleisches (sarx) entspringt und ohne Eigensucht und Angst liebt. »Liebe entsteht aus Geist und Freiheit, nicht aus Trieb und Angst. Der apathische Gott konnte darum als der zu sich befreiende und freie Gott begriffen werden.« 10 Das antike Christentum nahm die mit der Apathie ausgedrückte Verneinung von Not, Trieb und Zwang sowohl in Bezug auf Gott als auch in Bezug auf den Menschen auf. Sie verband die Apathie mit der Liebe und erfüllte sie so mit einem neuen positiven Inhalt. Der apathische Gott war der von allen von außen kommenden Leiden und von allen Leidenschaften freie und daher zu vollkommener Liebe fähige Gott, der apathische Mensch dementsprechend der von unfreiwilligem Leiden und von niederen Leidenschaften freie, zur selbstlosen Liebe fähige Mensch. »Erst eine lange jüdische und christliche Sprachgeschichte hat« – so Moltmann – »die Worte verändert und in einen anderen Bedeutungshof gestellt.« 11 Sie hat Leidenschaft mit der in Freiheit vollzogenen Liebe zum anderen, auch zum ungleichen verbunden und den Sinn des Leidens der Liebe aus der Passionsgeschichte Israels und Vgl. Moltmann 1972, 256. Moltmann 1972, 258. 10 Moltmann 1972, 258. 11 Moltmann 1972, 258. 8 9

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Christi verstehen gelernt und gelehrt. Durch sie hat somit der Begriff des pathos eine neue, positive Bedeutung gewonnen. Pathos hat nun mit Leben und Lebendigkeit zu tun. Es steht zumindest auch für den Sinn, der das Leben erfüllt, es lebendig macht und beglückt. 12 Pathos als Leid und Leidenschaft muss nun nicht mehr von vornherein vom Wesen Gottes als Liebe ferngehalten werden. Die Liebe Gottes kann ein Pathos einschließen. Während also das antike Christentum unter pathos vor allem niedere Leidenschaften und unfreiwilliges Leiden versteht und deshalb Gott und seiner Liebe jedes pathos ab- und völlige Apathie zuspricht, verbindet das neuzeitliche Christentum mit pathos echtes Leben und Lebendigkeit und scheut sich deshalb nicht, Gott und seiner Liebe ein Pathos zuzuschreiben.

14.2 Das Leiden Gottes in der biblischen Überlieferung (H. U. v. Balthasar) 14.2.1 Das Pathos Gottes im Alten Testament Im Vierten Band seiner »Theodramatik« geht Hans Urs von Balthasar (1905–1988) 13 unter dem Titel »Der Schmerz Gottes« auf theologische Ansätze zum Leiden Gottes ein. 14 Dass neuere Theologen vom Schmerz Gottes reden, obwohl sie den herkömmlichen Grundsatz von der Unveränderlichkeit Gottes und die Gefahr eines Rückfalls in die Mythologie kennen, hängt für Balthasar mit der Abwendung von einer griechischen Theo-Ontologie des »absoluten Seins« und Hinwendung zu einer johanneischen Bestimmung Gottes als der Liebe schlechthin zusammen. 15 Er fragt: »Wie sollte ein Gott der Liebe angesichts der Sünde, noch mehr angesichts einer eventuellen Verdammnis einiger seiner Geschöpfe, und zuallermeist angesichts der Kreuzesverlassenheit seines Sohnes in ungerührter ›Leidenschaftslosigkeit‹ (apatheia) verharren?« 16. All das muss Gott berühren und ihm einen unendlichen Schmerz bereiten. Die Berührbarkeit Gottes, Vgl. Moltmann 1972, 258. Zu Leben und Werk Balthasars siehe Peter Henrici: Hans Urs von Balthasar. Aspekte seiner Sendung, Einsiedeln/Freiburg 2008. 14 Hans Urs von Balthasar: Theodramatik. Vierter Band. Das Endspiel, Einsiedeln 1983 [= TD IV], 191–222. 15 Vgl. TD IV 191. 16 TD IV 191. 12 13

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sein Schmerz (bis an die Grenze des Todes) kann – laut Balthasar – »deshalb nicht als offenbarungswidrig abgetan werden, weil die Vorstellung einer schmerzlichen Berührbarkeit Gottes sich auf biblische, vorab alttestamentliche Aussagen berufen kann, während die ›Rede vom Tod Gottes‹ als christologische Aussage seit der frühen Patristik und thematisch in der Auseinandersetzung des 5. und 6. Jahrhunderts um die Formel ›einer aus der Trinität hat gelitten (und ist gestorben)‹ aktuell war« 17. Das Zeugnis vom Schmerz und vom Leid Gottes im Alten Testament lässt sich mit Balthasar etwa so wiedergeben. 18 Der Gott des Alten Bundes ist in seinem Verhältnis zum Volk Israel Schmerzen zugänglich, weil es ungehorsam ist und den Bund, den Gott mit ihm geschlossen hat, immer wieder verletzt. Als Gott sah, »dass auf der Erde die Schlechtigkeit des Menschen zunahm und dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens immer nur böse war«, heißt es in Genesis weiter: »Da reute es den Herrn, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem Herzen weh« (Gen 6,5–6). Die Israeliten stellten Gott immer wieder auf die Probe. »Sie reizten den heiligen Gott Israels«, so lesen wir im Psalm 78 (Ps 78,41). Sie lehnten sich gegen Gott auf »und betrübten seinen heiligen Geist«, wie Jesaja sagt (Jes 63,10). Gemäß Deuteronomium »erzürnen« sie Gott (Dt 4,25), gemäß Jesaja »belästigen« sie ihn (Jes 7,13). Es scheint, als würden im Herzen Gottes verschiedene Regungen einander widerstreiten: schmerzlicher Zorn einerseits, Liebe andererseits, und die Liebe muss jeweils den Zorn überwinden. So ruft – nach Hosea (11,8–9) – Gott, der Herr: »Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, wie dich aufgeben, Israel? … Mein Herz wendet sich gegen mich, mein Mitleid lodert auf. Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken und Efraim nicht noch einmal vernichten. Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte. Darum komme ich nicht in der Hitze des Zorns.«

Und nach Jeremia spricht Gott: »Ist mir denn Efraim ein so teurer Sohn oder mein Lieblingskind? Denn sooft ich ihm auch Vorwürfe mache, muss ich doch immer wieder an ihn denken. Deshalb schlägt mein Herz für ihn, ich muss mich seiner erbarmen – Spruch des Herrn« (Jer 31,20). Zwar lodert nach alttestamentlicher Vorstellung

17 18

TD IV 192. Vgl. TD IV 192 f.

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im Herzen Gottes immer wieder der Zorn gegen Israel auf, aber er wird auch immer wieder durch die Liebe, das Mitleid und das Erbarmen im Herzen Gottes besänftigt. Darüber hinaus weisen manche Stellen im Alten Testament zwar nicht direkt, aber doch indirekt auf den Schmerz und das Leid Gottes mit seinem Volk hin. 19

14.2.2 Die Berührbarkeit Jesu Christi im Neuen Testament Die Evangelien bezeugen die Berührbarkeit und Empfindsamkeit Jesu Christi auf mehrfache Weise. Gemäß Lukas weinte Jesus über die Stadt Jerusalem, als er sie sah, weil sie die Zeit der Gnade nicht erkannte (Lk 19,41.44). Und gemäß Johannes begann Jesus zu weinen, als er die um Lazarus Trauernden weinen sah (Joh 11,35). Matthäus beschreibt den Überdruss Jesu, als seine Jünger aufgrund ihres Unglaubens einen mondsüchtigen Jungen nicht heilen können (Mt 17,17). Sowohl nach Markus als auch nach Matthäus schreit Jesus in der Todesstunde am Kreuz: »Eloi, Eloi, lema sabachtani?, das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« 20 Auch ist in den Evangelien ausdrücklich von einer inneren Erregung und Erschütterung (Joh 11,33), vom Zorn und von der Trauer Jesu die Rede (Mk 3,5). Balthasar kommentiert die Stellen im Neuen Testament, die Jesu Regungen und sein Pathos bezeugen, zunächst einmal verhältnismäßig knapp: »Angesichts der alttestamentlichen Texte wird man [diese] Stellen […] nicht allzu rasch auf seine ›menschliche Natur‹ einschränken, da diese doch sicherlich hierin Offenbarung des ›Herzens Gottes‹ ist. Damit öffnet sich ein Raum für ein Bedenken der ›Menschlichkeit Gottes‹ : mehr als im Alten Bund wird der ganze Mensch, mit seiner Leiblichkeit, der Sprache seiner Affekte, der Symbolik seiner Gebärden, seiner Freuden, Schmerzen, Wunden, seinem Sterben zum Medium der ›Selbstauslegung‹ Gottes.« 21

19 20 21

Hos 6,4–6; Hos 4,6; Jer 12,7–8. Mk 15,34; vgl. Mt 27,46. TD IV 194.

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14.3 Das Leiden Gottes in der rabbinischen Theologie (Reinhard Neudecker) In seinem Buch »Die vielen Gesichter Gottes« 22 widmet Reinhard Neudecker ein Kapitel dem rabbinischen Verständnis des Leidens Gottes. 23 Die Rabbinen, d. h. die Gelehrten der talmudischen Zeit im Judentum 24, hielten ihre religiösen Erfahrungen und theologischen Einsichten in den ersten sechs Jahrhunderten unserer Zeitrechnung fest. Auch wenn sie in ihren Texten 25 meist von der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk Israel sprechen, »so sind doch alle […] Menschen mitgemeint« 26. Für die rabbinischen Theologen ist Gott einer, der mit den Menschen leidet. Seine »Liebe zu Israel und zu den Menschen zeigt sich auch und vor allem in seiner Solidarität mit den Leidenden« 27. So verkündet etwa der leidende Prophet Jeremia: »Der Zusammenbruch der Tochter meines Volkes hat mich gebrochen« (Jer 8,21). Dazu heißt es in einem rabbinischen Gleichnis, dass der König, als er hörte, sein Sohn sei verwundet, zu rufen begann: »Ich bin verwundet!«. So sprach nach rabbinischer Auslegung gleichsam Gott, der Heilige: »Weil die Tochter meines Volkes verwundet ist, bin ich verwundet!« 28 Gott selbst ist verwundet, wenn sein Volk oder jemand aus seinem Volk verwundet ist. Von daher nennt Rabbi Jannai das Volk Israel – in einem Wortspiel anhand des Hohen Liedes (5,2) – »Gottes ZwilReinhard Neudecker: Die vielen Gesichter des einen Gottes. Christlich-jüdischer Dialog: Eine Anfrage an Exegese, Theologie und Spiritualität, Rom/Vallendar–Schönstatt 2010 [= Neudecker 2010]. 23 Reinhard Neudecker: Die vielen Gesichter des einen Gottes, Dritter Teil, Die vielen Gesichter des einen Gottes: zum Gottesverständnis im rabbinischen Judentum, III. Gott ist einer, der mit den Menschen leidet, 153–159. 24 Die Rabbinen sind von den späteren Rabbinern zu unterscheiden. 25 Neudecker erklärt dazu: »Es handelt sich um Texte, die man im Unterschied zur ›schriftlichen‹ Tora (Bibel) ›mündliche‹ Tora nennt, weil sie als mündlich überkommene göttliche Unterweisung, besser: als Weisung […], vom Meister an den Jünger weitergegeben bzw. im Lehrhaus oder in der Synagoge vorgetragen wurde, um dann etwa ab Anfang des dritten Jahrhunderts in den unter dem Sammelbegriff Talmud und Midrasch bekannten Textsammlungen niedergelegt zu werden. Die rabbinischen Texte teilt man ein in solche der gesetzlichen Weisung (Halacha, das ›Gehen‹, der Lebensweg) und in jene der nichtgesetzlichen Weisung (Haggada, ›Erzählung‹)« (Neudecker 2010, 142). Neudecker berücksichtigt in seiner Darlegung nur die Haggada. 26 Neudecker 2010, 145. 27 KlglZ I,18 (Neudecker 2010, 153). 28 Neudecker 2010, 154. 22

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lingsschwester« und fährt fort: »Wenn bei Zwillingen einer Kopfschmerzen hat, spürt es auch der andere.« 29 Ist das Volk Israel in Not, so befindet sich auch Gott, der Heilige, in Not. Für die Rabbinen leidet Gott hauptsächlich aufgrund der Zerstörung des Tempels. 30 Angesichts dieser Katastrophe weint er und muss getröstet werden (vgl. Jes 40,1). Dem berühmten Rab zufolge ruft Gott dreimal in der Nacht aus: »Wehe mir, dass ich mein Haus zerstört, meinen Tempel verbrannt und meine Kinder unter die Völker der Welt verbannt habe!« 31 Gott leidet nicht nur an der Zerstörung des Tempels. Er leidet nicht minder an der Verbannung seines Volkes. Dabei leidet er mit seinem in die Verbannung geratenen Volk nicht nur aus der Distanz des Himmels, sondern begibt sich selbst in seiner Schekina, d. h. seiner Gegenwart bei seinem Volk in der Welt, in die Verbannung. 32 Das war insbesondere die Erfahrung und Lehre Rabbi Akibas, der schreibt: »Wohin immer die Israeliten verbannt wurden, dorthin wurde gleichsam die Schekina mit ihnen verbannt.« 33 Wohin auch immer die Israeliten verbannt wurden – nach Ägypten, nach Babylon, nach Elam oder nach Edom –, die Schekina war bei ihnen. Beim Leiden mit seinem Volk kennt Gottes Liebe kein Maß. Gott »geht, wie Rabbi Eleasar aus Modiim sagt, mit Israel sogar in die Verbannung der Hölle und wird dort im Feuer gerichtet« 34. Wie Rabbi Eleasar betont, ist nicht geschrieben: »der Herr wird richten«, sondern: »er wird gerichtet werden«. 35 »Gott und Israel gehören«, so Neudecker, »als Partner zusammen. Gemeinsam gehen sie in die Verbannung, und gemeinsam keh-

ExR 2,5 (Neudecker 2010,154). Der erste jüdische (d. h. der salomonische) Tempel in Jerusalem wurde 587 v. Chr. von den Babyloniern, der zweite jüdische (d. h. der herodianische) Tempel in Jerusalem 70 n. Chr. von den Römern zerstört. 31 bBer 3a Ms. München (Neudecker 2010, 156). 32 Neudecker zufolge dürfte die Schekina zunächst den Ort bezeichnet haben, an dem Gott normalerweise »wohnt« (schakan) oder wohnen sollte, also besonders den Tempel. »Sie weilt aber auch auf Bergen wie dem Sinai, auf Bäumen und Sträuchern wie dem Dornbusch« (Neudecker 2010, 171). Nach rabbinischem Verständnis gibt es keinen Ort auf Erden, an dem die Schekina nicht wäre. »Vor allem aber ruht sie auf Israel und den Menschen« (Neudecker 2010, 171). 33 MekJ, Bo 14 [S. 51–52] (Neudecker 2010, 156 f.). 34 Neudecker 2010, 157. 35 Neudecker 2010, 157. 29 30

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ren sie zurück.« 36 So ist Gott, der Herr, als sein Volk aus dem Land Ägypten herausgeführt worden ist, gemeinsam mit seinem Volk aus Ägypten ausgezogen. »Wie das Leid, das Israel trifft, zugleich Leid für Gott bedeutet, so ist die Hilfe, die Israel erfährt, zugleich Hilfe für Gott. […] Ebenso ist jede Hilfe, die Gott zuteil wird, zugleich Hilfe für Israel. […] Indem also Gott dem Volk Israel hilft und es erlöst, hilft und erlöst er sich selbst.« 37

So sehr identifiziert sich Gott mit seinem Volk, dass dessen Leiden und dessen Erlösung sein eigenes Leiden und seine eigene Erlösung ist. Da mit der Befreiung aus Ägypten die Exilsituation des Volkes Israel noch lange nicht zum Abschluss gekommen ist, bedürfen Gott und Israel weiterhin der Erlösung. In seiner Schekina befindet sich Gott weiterhin mit seinem Volk im Exil und wird weiterhin mit seinem Volk leiden, bis er es – und mit ihm sich selbst – am Ende erlöst.

14.4 Die Apathie und das Pathos Gottes bei den Vätern (H. U. v. Balthasar) Hans Urs von Balthasar zufolge verteidigten einzelne Väter 38 »die Apathie Gottes in einer Weise […], die griechische philosophische Einflüsse verrät« 39. Aber insgesamt verfolgten die Väter die Absicht, von Gott nur ein bestimmtes Pathos in einem doppelten Sinn fernzuhalten: nämlich ein Pathos, das ein unfreiwilliges äußeres Widerfahrnis darstellt, und ein Pathos, das in einem inneren Zusammenhang mit der Sünde steht. 40 Zum Pathos im ersten Sinn führt Balthasar aus: »Pathos kann in Gott nicht sein, sofern dieses ein ungewolltes Bestimmtwerden von außen her besagt.« 41 Positiv heißt das: Leidet Gott – auch der Menschgewordene –, dann geht das auf einen vorausgehenden aktiven freien Willensentschluss zurück. Gott hat sich in Freiheit entschieden, den Menschen durch sein Leiden zu retten. Aufgrund der Neudecker 2010, 158. Neudecker 2010, 158 f. 38 Mit den Vätern sind die Kirchenväter, d. h. die frühen christlichen Theologen des 2.–7. Jahrhunderts gemeint. 39 TD IV 195. 40 Vgl. TD IV 197–199. 41 TD IV 200. 36 37

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Die Apathie und das Pathos Gottes bei den Vätern (H. U. v. Balthasar)

Aktivität und Freiwilligkeit seines Leidens leidet er in gewissem Sinn »impassibel«. Er ist ein freiwillig Leidender, der dem Leiden nicht unter-, sondern überlegen ist und durch seine Passion das Leiden und den Tod »unterwandert« und damit beide zerstört. 42 Auch ein Pathos im zweiten Sinn ist bei Gott auszuschließen. Gott bzw. Christus kann kein Pathos zugeschrieben werden, das Ausdruck der philautia, d. h. der Eigenliebe oder Selbstsucht wäre und somit als solches sündhaft wäre. 43 Vielmehr kann der Menschgewordene jene Leiden und Leidenschaften erleiden, die beim Menschen naturhaft und schuldlos sind, sowohl weil er Mensch ist als auch weil sein göttlicher Wille es ausdrücklich so will oder zulässt. Auch hier gilt demnach: Gott bzw. Christus leidet aufgrund eines vorausliegenden aktiven Willens. Indem Christus ohne Sünde und Neigung zur Sünde unser Leiden und unsere Leidenschaften freiwillig auf sich nimmt, heilt er unsere Verfallenheiten von innen her, berührt und heilt er als Arzt unsere Krankheiten. Gott ist ein Pathos im Sinne unfreiwilligen Erleidens und sündhafter Leidenschaft fremd. Das bedeutet für die Väter jedoch nicht, dass er nicht empfindsam, d. h. gefühllos wäre. Stattdessen vertreten die Väter weitgehend eine Lehre vom Pathos Gottes als ewiger göttlicher Lebendigkeit. 44 Zorn, Trauer, Reue, Erbarmen und Geduld sind Ausdruck dieser göttlichen Lebendigkeit. Sie sind in Analogie zu menschlichen Affekten zu verstehen, ohne dass damit nach Balthasar eine metaphysische Veränderlichkeit Gottes einherginge. Besonders weit ging, was das Verständnis von der inneren Lebendigkeit Gottes anbelangt, Origenes. »Ausgehend von der menschlichen Berührbarkeit durch fremde Not, verlegt der Alexandriner die passio des Mitleids in den ewigen Sohn: Hätte er sie nicht in der Ewigkeit für unser Elend empfunden, so wäre er nicht Mensch geworden und hätte sich nicht kreuzigen lassen […].« 45 Aus Mitleid mit uns Menschen hat der Sohn Gottes für uns gelitten. Sein Leiden war ein Leiden der Liebe. Nach Origenes lassen sich von daher auch Rückschlüsse auf Gott den Vater ziehen. Auch er, der Langmütige und Erbarmungsvolle, muss »irgendwie erleidend« sein und ebenso wie der Sohn unsere 42 43 44 45

Vgl. TD IV 197. Vgl. TD IV 198. Vgl. TD IV 200. TD IV 199.

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passiones erleiden. Er ist somit keineswegs rein leidenslos (impassbiblis). Er kennt zwar in und für sich kein Leiden und besitzt so gesehen eine echte apatheia, lässt sich aber in seinem Heilswerk in der Welt und für sie vom Leiden der Geschöpfe wahrhaft berühren. Die Auffassung der Väter vom Pathos Gottes ging laut Balthasar später vor allem aufgrund der Lehre, es bestehe eine reale Beziehung nur von der Kreatur zu Gott, nicht aber von Gott zur Kreatur 46, tendenziell verloren und wurde als Anthropomorphismus abgetan. Erst im 19. und 20. Jahrhundert wurden die Schrifttexte, die »etwas so anderes als die Impassibilität des göttlichen Wesens […] künden«, wieder ernstgenommen und »eine Theologie des Schmerzes« entwickelt. 47

14.5 Das Leiden des Gottessohnes bei Martin Luther (Jürgen Moltmann) Auf dem Konzil von Chalkedon (451) definierten die Konzilsväter, dass Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist, dass er vollkommen der Gottheit nach und vollkommen der Menschheit nach ist. 48 Christus besitzt demnach zwei Naturen, die einerseits unvermischt und andererseits ungetrennt sind. Dabei ist er aber einer und derselbe. Beide Naturen kommen bei ihm in einer Person und Hypostase zusammen. Jesus Christus ist gemäß Chalkedon eine Person, bzw. Hypostase in zwei Naturen, der göttlichen und der menschlichen, oder er ist zwei Naturen in einer Person. Um die Einheit Christi noch stärker hervorzuheben, fügte das II. Konzil von Konstantinopel (553) in der Sache hinzu: Die zwei Naturen, die unter sich verschieden sind, existieren konkret in der Einheit eines zusammengesetzten Wesens (d. h. einer zusammengesetzten Hypostase), nämlich des Gott-Menschen. 49 Moltmann zufolge versperrte diese altkirchliche Zwei-NaturenLehre in der Christologie den Zugang zum Leiden und zum Tod Gottes. Denn die Natur Gottes galt als unveränderlich und leidensSo Thomas von Aquin (siehe Kap. 7.7). TD IV 200 f. 48 Vgl. DH 301–303. (DH = Denzinger, Heinrich/Hünermann, Peter: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen (37. Auflage) Freiburg i. Br. 1991. 49 Vgl. DH 423–430. 46 47

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Das Leiden des Gottessohnes bei Martin Luther (Jürgen Moltmann)

unfähig. 50 Darum konnte »der Gottmensch Christus nur ›nach dem Fleisch‹ und ›im Fleisch‹, d. h. in seiner menschlichen Natur gelitten haben. Zwar hatte die umstrittene theopaschitische Formel behauptet: ›Einer aus der heiligen Trinität hat im Fleisch gelitten‹ […], aber weiter ging der christologische Angriff auf die Vorherrschaft des Apathieaxioms in der Christologie nicht.« 51 Augustinus beispielsweise rechnete die Attribute der Knechtsgestalt Jesu, wie seine Ohnmacht, seine Leidensfähigkeit usw., allein der menschlichen Wirklichkeit Jesu zu. 52 Auch für mittelalterliche Theologen wie Thomas von Aquin gehörte das Leiden zur angenommenen, leidensfähigen Menschennatur, nicht aber zur annehmenden, leidensunfähigen Gottesnatur selbst. 53 Moltmann macht dagegen geltend, dass die Person Christi die zweite Person der Trinität, der ewige Gottessohn ist. »D. h. die göttliche Natur ist in Christus nicht als Natur, sondern als Person wirksam. Die zweite Person der Trinität ist das personbildende Zentrum in dem Gottmenschen Christus. Die menschliche Natur Christi hingegen ist mit der Person Christi nicht gleich ursprünglich identisch, sondern wird von der göttlichen Person des Gottessohnes durch seine Inkarnation angenommen (assumptio humanae naturae [die Annahme einer menschlichen Natur]) und wird in der Person Christi zur konkreten Existenz Jesu Christi.« 54

Die zweite göttliche Person mit ihrer göttlichen Natur nimmt durch die Menschwerdung eine menschliche Natur als ihre eigene Wirklichkeit an, bleibt aber bestimmendes Personzentrum auch für die menschliche Natur. Die scholastische Theologie habe – so Moltmann – zwar die communicatio idiomatum (den Austausch der Eigentümlichkeiten) gelehrt, derzufolge aufgrund der Einheit beider Naturen in der Person Christi die Prädikate der göttlichen Natur auf die menschliche Natur und die Prädikate der menschlichen Natur auf die göttliche Natur übertragen werden können. 55 Aber diese communicatio gäbe es nur in concreto, nicht in abstracto. D. h., man könne sagen: Christus, der Sohn Gottes, litt und starb. Man könne aber nicht sagen: also ist die 50 51 52 53 54 55

Vgl. Moltmann 1972, 214. Moltmann 1972, 215. Vgl. DT X,7. Vgl. Moltmann 1972, 216. Moltmann 1972, 218. Vgl. Moltmann 1972, 219.

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göttliche Natur leidensfähig und sterblich, sondern nur: also ist die Person Christi sterblich. Noch Zwingli habe die communicatio idiomatum rein rhetorisch verstanden und den Unterschied der beiden Naturen betont, weshalb für ihn Gott durch die Annahme der menschlichen Natur Christi in seiner Souveränität unberührt geblieben sei und Christus nur nach seiner Menschheit, seiner Hülle aus Fleisch um unseretwillen gelitten habe und gestorben sei. 56 Auch Melanchton habe die communicatio nicht für einen realen Austausch der Eigentümlichkeiten, sondern nur für eine praedicatio gehalten – eine bloße Aussageweise, eine bloße Redefigur der Verkündigung. Erst Martin Luther habe damit ernst gemacht, »dass nicht zwei gleichwertige Naturen in einer Person nur zu denken sind, sondern eine göttliche Person eine anhypostatische menschliche Natur [wirklich] angenommen hat« 57. Er habe die Einheit der Person Christi hervorgehoben. Für ihn »ist die Person Christi durch die göttliche Person bestimmt. Darum leidet und stirbt auch die göttliche Person im Leiden und Sterben Christi.« 58 Diese Einsicht Luthers habe die Rede vom »Tod Gottes« ermöglicht.

14.6 Das Leiden Jesu Christi bis zum Tod (Neues Testament) Von Vorstufen des Leidens während seines öffentlichen Wirkens abgesehen beginnt die eigentliche Passion Jesu 59 nach dem letzten Abendmahl mit dem Gebet in Getsemani (Mk 14,32–42). 60 Jesus Vgl. Moltmann 1972, 219 f. Moltmann 1972, 219. 58 Moltmann 1972, 220. 59 Vgl. zum Leiden Jesu bis zum Tod Hans Urs von Balthasar: Mysterium Paschale, Leibzig 1983 (Lizenzausgabe des Buches »Mysterium Salutis«, Band 3/2, Das Christusereignis, Zweiter Halbband von Hans Urs von Balthasar mit freundlicher Genehmigung des Verlages Benziger Einsiedeln, Zürich, Köln. 1969 by Benziger Verlag Einsiedeln, Zürich, Köln. Nur zum Vertrieb und Versand in der Deutschen Demokratischen Republik und in den sozialistischen Ländern bestimmt.) [= MP], 89–130. 60 Die Evangelien stellen eine eigene literarische Gattung dar. Sie verstehen sich in erster Linie nicht als historische Berichte, sondern als Glaubenszeugnisse. Obwohl die Passionsgeschichten historisch dichter und »wahrer« sein dürften als andere Textpassagen in den Evangelien, dienen auch ihre Aussagen häufig einzig und allein einer theologischen Absicht oder sind, bei historischem Kern, theologisch überhöht. 56 57

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Das Leiden Jesu Christi bis zum Tod (Neues Testament)

packt Entsetzen und Unruhe, und er sagt zu den Jüngern Petrus, Jakobus und Johannes, die er mit sich genommen hatte: »Meine Seele ist bis zum Tod tiefbetrübt« (Mk 14,34). Dann bittet er Gott, seinen Vater, angesichts des bevorstehenden Leidens: »Abba – Vater, alles ist dir möglich, nimm diesen Kelch von mir! Doch nicht was ich will, sondern was du willst (soll geschehen)« (Mk 14,36). Und nach Lukas betet er in seiner Angst noch angespannter, und sein Schweiß fällt wie Bluttropfen auf die Erde herab (Lk 22,44). In Getsemani beginnt für Jesus die Vereinsamung gegenüber Gott und gegenüber den Jüngern. Beim Gebet in Getsemani ringt sich Jesus zum äußersten Gehorsam Gott gegenüber 61 und zum äußersten Dienst für die Menschen durch (vgl. Mk 10,43–45 par). Über seinen Gehorsam gegenüber Gott hatte der johanneische Jesus bereits gesagt 62: Ich bin nicht vom Himmel gekommen, um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. 63 Und die Dienstbereitschaft des Menschensohnes, mit dem Jesus sich selbst meint, hatte der markinische Jesus so erklärt: »Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele« (Mk 10,45). Dass der Gehorsam der Inbegriff des Lebens Jesu war und Jesu Gehorsam vor dem Tod am Kreuz nicht Halt machte, fasst der Christushymnus im Philipperbrief (2,6–11) beeindruckend zusammen: »Er [Christus], der in der Gestalt Gottes war und das Gott-gleich-Sein nicht für einen Raub [etwas Festzuhaltendes] gehalten hat, sondern sich entleert hat, indem er die Gestalt eines Knechtes angenommen hat, ist den Menschen gleich geworden. Und an der Haltung [äußeren Erscheinung] wie ein Mensch vorgefunden, hat er sich selbst erniedrigt und ist gehorsam geworden bis zum Tod, und (zwar) zum Tod am Kreuz. Deswegen hat ihn Gott auch über alle Maßen erhöht und ihm den Namen über jeden Namen geschenkt […]« (Phil 2,6–9).

In seinem Gehorsam war Jesus bereit, das Äußerste zu erleiden. Der Hebräerbrief geht sogar soweit, diesen Zusammenhang zu verkehren: »Obwohl er der Sohn war, hat er an dem, was er litt, den Gehorsam gelernt« (Hebr 5,8). Jesus lernt gewissermaßen erst am Leiden, was Vgl. Joh 4,34; 5,19; 8,55; 12,49. Mit dem johanneischen Jesus ist die Gestalt Jesu gemeint, wie sie im Johannesevangelium dargestellt ist (mit dem markinischen entsprechend die des Markusevangeliums etc.). 63 Vgl. Joh 6,38; auch Hebr 10,7. 61 62

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Der für uns Leidende

Gehorsam eigentlich bedeutet. Sein Gehorsam, d. h. sein immerwährendes Hören auf den Vater, vollendet sich in seinem Leiden. Zum Kreuz, das vor ihm liegt und vor dem er Todesangst hat, das er aber gehorsam annimmt, gehört nicht zuletzt das Verworfenwerden (Mk 8,31), die Schande (Hebr 12,2) und die Schmach (Hebr 11,26). Jesus kann das auf sich nehmen, weil er nicht seine eigene Ehre sucht, sondern die seines Vaters (Joh 8,49 f.). Bevor Jesus im Anschluss an sein Gebet von Judas verraten wird, sagt er zu seinen Jüngern: »Siehe, der Menschensohn wird in die Hände der Sünder übergeben« (Mk 14,41). Das Wort für »übergeben« mit dem Stamm »geben« – im Griechischen παραδιδόναι ((para)didónai) – lässt sich auch als »preisgeben«, »überantworten«, »ausliefern«, »überliefern« oder »(da)hingeben« übersetzen. Dieser Begriff spielt eine Schlüsselrolle bei den Berichten und theologischen Reflexionen über das Leiden Jesu. Er enthält verschiedene Aspekte und weist mehrere Dimensionen auf. Von der Übergabe Jesu war schon vorher mehrfach in den Leidensweissagungen in passiver Form die Rede: Der Menschensohn wird in die Hände der Menschen, genauer der Hohenpriester und Schriftgelehrten übergeben werden. 64 Der eigentlich Handelnde ist bei dieser Übergabe Gott. Von ihm sagt Paulus im Römerbrief: »Er hat sogar den eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben« (Röm 8,32). Aus Liebe zu uns Menschen und um uns ganz mit sich zu versöhnen, setzt Gott seinen Sohn der furchtbaren Leidens- und Kreuzessituation aus. Mit diesem Dahingeben seines Sohnes für uns hat er uns, wie Paulus ergänzt, alles gegeben, alles geschenkt. Im Leiden und Sterben des Sohnes drückt sich damit die äußerste Liebeshingabe Gottes, des Vaters, an uns aus. Daneben ist auch die Rede von einer Selbsthingabe Jesu. Er gibt sein Leben, wie bereits erwähnt, als Lösegeld für viele (Mk 10,45). 65 Beim Abendmahl gibt er, seine Lebenshingabe am folgenden Tag vorwegnehmend, den Jüngern in Gestalt von Brot und Wein seinen Leib und sein Blut. 66 Paulus wird später von sich bekennen: »Ich lebe, aber nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch im Mk 9,31; 10,33. Des öfteren wird nunmehr, wie hier, statt des Wortes παραδιδόναι (paradidónai = übergeben) einfach das Wort διδόναι (didónai = geben) verwendet. 66 Lk 22,19; vgl. 1 Kor 11,24. 64 65

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Das Leiden Jesu Christi bis zum Tod (Neues Testament)

Fleisch lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich dahingegeben hat« (Gal 2,20). Jesus Christus hat sein Leben für uns alle hingegeben, um uns von allen tödlichen Mächten zu befreien. Nicht weniger als uns gibt sich Jesus seinem Vater hin. Beim Sterben am Kreuz sagte er nach dem Johannesevangelium: »Es ist vollbracht«. Und als er das Haupt geneigt hatte, gab er den Geist auf (Joh 19,30). Gemäß dem Lukasevangelium rief Jesus mit lauter Stimme und sagte: »Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist.« Als er dies aber gesagt hatte, hauchte er den Geist aus (Lk 23,46). Jesus gibt im Augenblick des Sterbens seinen Geist auf, indem er ihn seinem Vater anempfiehlt und anvertraut. Auf diese Weise vollzieht er die letzte Hingabe an den Vater. Schließlich gibt es noch einen Dritten, der im Zusammenhang mit dem Leiden Jesu »ausliefert« oder »überliefert«. Das ist, wie bereits angedeutet, Judas. Als Jesus ihn sieht, sagt er: »Siehe, der mich Verratende ist nahe gekommen« (Mk 14,42), wobei das Wort »verraten« hier genau »ausliefern«, »überliefern«, »übergeben«, »preisgeben« meint. Die Kette der »Überlieferer« geht von Judas aus noch weiter. Judas liefert Jesus nämlich den jüdischen Hohenpriestern, Schriftgelehrten und Ältesten aus (Mk 14,43). Diese aber übergeben ihn dem römischen Statthalter Pilatus (Mk 15,1). Pilatus schickt ihn zum jüdischen König Herodes, der ihn dann wieder zu Pilatus zurückschickt (Lk 23,7.11). Zuletzt liefert Pilatus Jesus nach dessen Geißelung den Hohenpriestern und Anführern mitsamt der jüdischen Menge aus, damit er gekreuzigt würde. 67 Er überantwortet ihn ihrem Willen (Lk 23,25). Die dreifache Kette des Preisgebens deckt die Schuld aller auf. Alle sind am Leiden und Tod Jesu schuld. Und alle suchen sich »durch das Weiterschieben des Verurteilten aus der Schuldschlinge zu ziehen« 68. »Niemand will es gewesen sein. Und gerade so werden alle ihrer Schuld überführt.« 69 Jesus lässt sich im Auftrag seines Vaters und doch ganz aus freiem Willen den Sündern ausliefern (vgl. Joh 10,17). Weil er uns geliebt hat, hat er sich selbst für uns dahingegeben (vgl. Eph 5,2). In 67 68 69

Mk 15,15; Joh 19,16. MP 103. MP 103. Vgl. Joh 18,31; 19,12; Mt 27,24.

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Der für uns Leidende

seiner Liebe zu uns bekundet sich die absolute Liebe des Vaters zu uns. Das Johannesevangelium fasst diese Liebe noch einmal so zusammen: »So hat Gott die Welt geliebt, dass er den einziggeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengeht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott sandte den Sohn nicht in die Welt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird« (Joh 3,16 f.).

Als Judas Jesus mit einem Kuss verrät, ist er von einer großen Schar von Männern begleitet, die mit Schwertern und Knüppeln bewaffnet sind und von den Hohenpriestern, Schriftgelehrten und Ältesten des Volkes geschickt sind (Mk 14,43). Diese Männer gehen zu Jesus hin, halten ihn fest, ergreifen und fesseln ihn. 70 Jesus lässt sich ohne Widerstand gefangen nehmen. Er verzichtet auf jede Gegenwehr, auch auf jede Hilfe vom Vater, der ihm, würde er ihn darum bitten, sogleich mehr als zwölf Legionen Engel zur Seite stellen würde (Mt 26,52 f.). Nach seiner Festnahme verlassen alle Jünger Jesus und fliehen (Mk 14,50). Jesus wird zum Hohenpriester geführt und von ihm und vom Hohen Rat verhört (Mk 14,53–64). Bei falschen Zeugenaussagen gegen ihn schweigt er beharrlich. Von nun an wird er weitgehend schweigen, wie das Lamm, das zum Schlachten geführt wird, im Lied des Gottesknechtes bei Jesaja seinen Mund nicht auftut (Jes 53,7). Als Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt, hatte ihn schon Johannes der Täufer vorgestellt (Joh 1,29). Als Jesus sich schließlich dazu bekennt, der Messias zu sein, verurteilen ihn alle und sprechen ihn des Todes schuldig. Einige beginnen ihn anzuspucken und sein Gesicht zu verhüllen, ihn mit Fäusten zu schlagen und als Propheten zu verspotten (Mk 14,65). Auch die Diener der Hohenpriester schlagen ihn. Wie es Jesus Petrus vorausgesagt hatte, verleugnet dieser ihn dreimal (Mk 14,66–72). Gleich am frühen Morgen 71 lassen die Hohenpriester mit den Ältesten und Schriftgelehrten und der ganze Hohe Rat Jesus fesseln, abführen und Pilatus übergeben (Mk 15,1). Pilatus befragt Jesus (Mk 15,2–15). Er will ihn freilassen. Doch die von den Hohenpriestern aufgewiegelte Menge fordert die Freilassung des Mörders Barabbas und schreit auf die Frage des Pilatus hin, was er dann mit Jesus tun 70 71

Mt 26,50; Joh 18,12. Es ist sechs Uhr gemeint.

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Das Leiden Jesu Christi bis zum Tod (Neues Testament)

solle: »Kreuzige ihn! … Kreuzige ihn!« (Mk 15,12–15), woraufhin Pilatus Barabbas freilässt und ihnen Jesus, nachdem er ihn hatte geißeln lassen, überantwortet, damit er gekreuzigt werde. Die römischen Soldaten führen Jesus daraufhin in den Palasthof, ziehen ihm einen Purpurmantel an, setzen ihm eine Dornenkrone auf, verspotten ihn, schlagen ihn und spucken ihn an (Mk 15,16–20). Als Jesus mit der Dornenkrone und im Purpurmantel herauskommt, sagt Pilatus zur Menge: »Siehe, der Mensch!« (Ecce Homo!) (Joh 19,5). Zu ergänzen ist: »Siehe, Gott!« (Ecce Deus!). Das Bild des geschundenen und gepeinigten Jesus ist das Bild Gottes selbst. Dann führen sie Jesus an den Ort Golgota, das heißt an den »Schädelort«, und kreuzigen ihn (Mk 15,22–37). Die Leute, die vorübergehen, lästern ihn. Die Hohenpriester und Schriftgelehrten verspotten ihn. Die mit ihm Mitgekreuzigten schmähen ihn. Um die Schrift zu erfüllen, sagt er: »Mich dürstet« (Joh 19,28). Paradoxerweise ist der, aus dem lebendiges Wasser und ewiges Leben sprudelt, das in Ewigkeit nicht mehr dürsten lässt, am Verdursten. 72 Und in der neunten Stunde 73 schreit Jesus mit lauter Stimme auf: Eloi, Eloi, lema sabachtani?, das heißt übersetzt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34). Bald darauf stößt Jesus einen lauten Schrei aus und haucht (seinen Geist) aus (Mk 15,37). So stirbt Jesus in größter Gottverlassenheit. 74 Über das Leiden und Sterben Jesu wird Paulus später soteriologisch 75 ausführen: Gott hat seinen Sohn in der Gestalt des Fleisches der Sünde und wegen der Sünde in die Welt gesandt und hat damit die Sünde im Fleisch verurteilt (Röm 8,3). Indem Gott seinen Sohn in die menschliche Wirklichkeit, die von der Sünde geprägt und durch sie versehrt ist, schickt und seinen Sohn, ohne dass dieser selbst gesündigt hätte, infolge der Sünde leiden lässt, vernichtet er die Sünde.

Joh 4,10.13 f.; 7,37–39. Nach unserer Zeitrechnung um 15.00 Uhr. 74 Das laute Schrein Jesu verbietet m. E. die Vorstellung, er habe in seinem letzten Todeskampf einfach vertrauensvoll den Psalm 22 gebetet, der mit der Klage »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« beginnt, aber dann sehr vertrauensvoll endet. 75 Die Soteriologie ist die Lehre vom Erlösungswerk Christi und befasst sich hauptsächlich mit der Frage, wie, wovon und wozu uns Christus erlöst hat. Die Christologie ist hingegen die Lehre von der Person Christi und beschäftigt sich insbesondere mit der Frage, wie in Christus die Menschheit und die Gottheit zusammen gedacht werden können. 72 73

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Der für uns Leidende

Gott hat damit den, der die Sünde nicht gekannt hat, wie Paulus sagt, »für uns zur Sünde gemacht« (2 Kor 5,21), damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden, das heißt, von Gott her gerecht werden. Durch sein Leiden und Sterben hat uns Christus vom Fluch des Gesetzes und damit der Sünde losgekauft, indem er für uns zum Fluch geworden ist. Denn – so die Begründung des Paulus – es ist geschrieben: verflucht ist jeder der am Holz hängt (Gal 3,13). Am Kreuz vollzieht sich somit das göttliche Gericht über die Sünde. Durch den Kreuzestod Jesu hat Gott die Sünde verurteilt und uns all unsere Sünden vergeben (Kol 2,13). Er hat den Schuldschein, der gegen uns sprach, dadurch ausgelöscht, dass er ihn aus unserer Mitte weggenommen und an das Kreuz genagelt hat (Kol 2,14). So hat Christus durch sein Blut am Kreuz Frieden gestiftet und wollte Gott durch ihn alles mit sich versöhnen (Kol 1,20). Am Kreuz vollzieht sich aber auch das göttliche Gericht über Satan. Denn durch den Kreuzestod und die darauf folgende Auferstehung Jesu ist der Herrscher dieser Welt gerichtet (Joh 16,11) und wird hinausgestoßen nach draußen. 76 Von nun an ist Christus der einzige Gebieter und Herr (Jud 4). Denn er muss herrschen, bis Gott ihm alle Feinde unter seine Füße gelegt hat. 77 Als letzter Feind wird der Tod vernichtet. Wenn Christus dann jede Herrschaft, Macht und Kraft vernichtet hat und seine Herrschaft Gott, dem Vater, übergibt, wird er sich selber dem, der ihm alles unterworfen hat, unterwerfen, damit Gott alles in allem ist. Für Hans Urs von Balthasar ist die theologisch einzig mögliche Lesart des Kreuzes eine trinitarische. 78 Beim Kreuzesgeschehen hat der dreieine Gott gehandelt. Ursprünglich handelt Gott, der Vater: Von ihm heißt es im 2. Korintherbrief: »Aber das alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt hat« (2 Kor 5,18). Und es wird noch einmal hervorgehoben, dass es Gott [der Vater] in Christus war, der die Welt mit sich versöhnt hat (2 Kor 5,19). Und es ist der Heilige Geist, der dann nach der Auferstehung Jesu Christi das Werk der Versöhnung weiterführt und vollendet. 79 Durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist, ist die Liebe Gottes in unsere Herzen ausgegossen (Röm 5,5). Gott hat ihn als Unterpfand in unsere Herzen 76 77 78 79

Joh 12,31; vgl. Joh 14,30; Lk 10,18. 1 Kor 15,24–28, hier 25. Vgl. MP 126–130. Vgl. Lk 12,12; Joh 14,26; 1 Kor 12,3; Tit 3,5.

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Das Leiden Jesu Christi nach dem Tod (H. U. v. Balthasar)

gegeben (2 Kor 1,22). Dabei ist der Geist Gottes, der in uns wohnt, nichts anderes als der Geist Christi, sodass Christus in uns ist. 80 Christus, der Sohn Gottes, hat durch sein Leiden, Sterben und Auferstehen die Gesamtschuld der Welt auf sich genommen und hinweggenommen. Das konnte er nur aufgrund seiner Gottmenschlichkeit. Denn wer außer ihm hätte die Macht gehabt, sein Leben hinzugeben, und die Macht, es wieder zu nehmen (Joh 10,18)? Da Gott nicht durch einen rein juristischen Akt wie etwa eine Amnestie oder ein Dekret den Menschen ihre Sünden vergeben und die Welt mit sich versöhnen konnte, musste der Sohn, um den Abgrund zwischen der sündigen Menschheit und Gott zu schließen und die vergebende Liebe Gottes bei den Menschen ganz real werden zu lassen, die ganze Sündenfolge erleiden. Sein Leiden ist – Balthasar zufolge – auch noch nach seinem Tod, wenn auch auf andere Weise, bis zur Auferstehung weitergegangen, wobei er nicht nur solidarisch mit den Menschen, sondern stellvertretend für sie gelitten hat. 81

14.7 Das Leiden Jesu Christi nach dem Tod (H. U. v. Balthasar) So ausführlich die Evangelien das Leiden Jesu bis zu seinem Tod und seinem Begräbnis schildern, so schweigsam werden sie »naturgemäß«, was die Zeit zwischen seiner Grablegung und dem Auferstehungsereignis anbelangt. 82 Für Hans Urs von Balthasar ist »Totsein kein partielles, sondern den Menschen als ganzen affizierendes Geschehen« 83. Wer tot ist, lässt jedes spontane Handeln hinter sich. Totsein besagt reine Passivität. Jesus war wirklich tot. »Wie er auf Erden solidarisch war mit den Lebenden, so ist er im Grabe solidarisch mit den Toten […].« 84 Vgl. Röm 8,9–11. Zum Kreuzesgeschehen und Kreuzesverständnis siehe Peter Lüning: Der Mensch im Angesicht des Gekreuzigten. Untersuchungen zum Kreuzesverständnis von Erich Przywara, Karl Rahner, Jon Sobrino und Hans Urs von Balthasar, Münster 2007. 82 Siehe dazu sowie zum ganzen Kapitel MP 131–166, hier 131. Zum Descensus Christi und seiner Bedeutung bei Balthasar siehe auch Klaus Vechtel SJ: Eschatologie und Freiheit. Zur Frage der postmortalen Vollendung in der Theologie Karl Rahners und Hans Urs von Balthasars, Innsbruck 2014, 220–261. 83 MP 131. 84 MP 131. 80 81

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Der für uns Leidende

Wegen der Passivität im Totsein vermeidet Balthasar die traditionelle Aussage, Jesus sei zu den Toten hinabgestiegen. 85 Denn das Wort »hinabsteigen« (descendere) drücke zu sehr eine Tätigkeit, ein aktives Handeln aus. Stattdessen spricht Balthasar von Jesu »Sein mit den Toten« oder von Jesu »Gang zu den Toten« 86 – in Anlehnung an den Ersten Petrusbrief, in dem es heißt: »So hat er [Jesus] auch den Geistern im Gefängnis, zu denen er hingegangen ist, (das neue Heil) gepredigt« (1 Petr 3,19). Auf diese Weise wurde auch den Toten das Evangelium, d. h. die Frohbotschaft verkündet (1 Petr 4,6). 87 Auch dieses Predigen oder Verkündigen darf nach Balthasar dann natürlich nicht aktivisch verstanden werden. Es geht vielmehr um ein »Kundwerden (lassen)«, um eine »sich durchsetzende Auswirkung« des am Kreuz grundsätzlich abgeschlossenen Werkes der Erlösung. 88 Auch handelt es sich beim Gang Jesu zu den Toten in einem gewissen Sinn um ein zeitloses Geschehen, da im »Reich« der Toten keine Zeit, zumindest aber nicht die gewöhnliche irdische Zeit gilt. Indem Jesus zu den Toten hingeht und bei ihnen ist, setzt sich die Erlösung, die er aktiv durch sein Leiden am Kreuz bewirkt hat, im Totenreich durch und wirkt sich dort ganz aus. Die Passivität im Totsein verbietet laut Balthasar auch jeden Mythos von einem Kampf Jesu in der Unterwelt. Als Toter war Jesus ein Kraftloser, der zu keinem Kampf fähig war. 89 Jesus befindet sich nach dem Tod im Totenreich, alttestamentlich als sheol bezeichnet. 90 Zwar kennt das Alte Testament keine Kommunikation und keinen »Verkehr« zwischen dem lebendigen Gott und diesem Totenreich, aber es weiß um die Macht Gottes über dieses Reich, sodass er ebenso töten wie lebendig machen, zur sheol hinunterführen wie aus ihr wieder heraufführen kann. 91 Das Allesentscheidende des Seins Jesu im Reich der Toten ist auf diesem Hintergrund nicht sein Hingang zu den Toten, sondern seine Rückkehr von dort. Gott hat Jesus nicht in der sheol, nicht im Hades gelassen. Er hat ihn von dort heraus- und heraufgeführt. Er hat ihn von den Toten er-

85 86 87 88 89 90 91

Wörtlich: descendit ad inferna (er steigt zur Unterwelt hinab). MP 133. Vgl. MP 133. MP 133 f. Vgl. MP 134–136. Vgl. MP 136 f. 1 Sam 2,6; Tob 13,2; Weish 16,13.

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Das Leiden Jesu Christi nach dem Tod (H. U. v. Balthasar)

weckt. Das Neue Testament hebt etwa fünfzigmal auf dieses »von den Toten« ab. Dabei wird die Auferstehung Jesu zunächst einmal wiederum als passives Geschehen geschildert. Es ist primär Gott der Vater, der hier aktiv handelt und Jesus auferweckt (z. B. Röm 4,23), und erst in einem weiteren Sinn Christus selbst, der von den Toten aufersteht. Durch das, was durch Christus geschieht, entwaffnet Gott alle lebensfeindlichen Mächte und Gewalten, stellt sie öffentlich zur Schau und triumphiert über sie (vgl. Kol 2,15). Zu diesen Mächten und Gewalten zählen neutestamentlich insbesondere der Satan, der Hades (d. h. das Totenreich, die Unterwelt), die Sünde und der Tod. 92 Jesus Christus, der bereits zu Lebzeiten begonnen hat, Satan auszutreiben 93, entmachtet ihn vollends, indem er in den innersten Bereich seiner Macht, in das Totenreich eindringt. Durch dieses Eindringen in die Unterwelt ist die Unterwelt selbst überwunden und besiegt. So kann der auferstandene Christus laut Offenbarung des Johannes von sich sagen: »Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig (bis) in die Ewigkeiten der Ewigkeiten, und ich habe die Schlüssel des Todes und des Totenreichs« (Offb 1,18). Da zwischen Sünde und Tod ein enger Zusammenhang besteht, insofern die Sünde den Tod hervorbringt 94, ist mit dem Tod, den Jesus überwindet, nicht nur der physische Tod, sondern auch und noch mehr der schlimmere Tod, der »geistige« Tod, der innere Sündentod selbst gemeint (Kol 2,13). Christus besiegt den Tod in all seinen Dimensionen wiederum gerade dadurch, dass er ihn von Innen erfährt und durchleidet. Aus Solidarität mit den Verstorbenen weilt Christus nach seinem Tod bei den Toten im Totenreich und entmächtigt dort alle todbringenden Mächte und Gewalten. Auf diese Weise wird der ganzen Schöpfung das Evangelium verkündet (vgl. Kol 1,23) und vollzieht sich die Versöhnung Gottes mit der ganzen Welt (2 Kor 5,19). Jesus hat sich nach seinem Tod mit den unerlöst-Toten solidarisiert. Dies bedeutet nach Balthasar, dass er all die negativen Erfahrungen 95 macht, die das Alte Testament mit der sheol verbindet. Die sheol, auf die sich auch das Neue Testament mit den Ausdrücken

92 93 94 95

Vgl. MP 136–143. Z. B. Mk 3,22–30; vgl. Lk 10,18; Joh 12,31; 16,11. Röm 5,12; Jak 1,15. Vgl. MP 143–151.

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Der für uns Leidende

»Hades« und »Tartarus [Hölle]« bezieht 96, ist wie ein »Kerker« (Jes 24,22), in dem Finsternis, Staub und Schweigen herrschen. 97 Daraus gibt es keine Rückkehr und darin gibt es kein Wirken, keinen Genuss und keine Kenntnis dessen, was auf Erden geschieht. 98 »Man lobt Gott dort nicht mehr […].« 99 Die Toten dort sind Kraftlose, die aller Kraft und Vitalität beraubt sind. Sie weilen im Land des Vergessens und sind wie Nichtseiende. Balthasar zufolge ist diese sheol eher geistig-existentiell als örtlich, eher als Zustand der Toten denn als Örtlichkeit aufzufassen. Es geht um geistig-seelische Leiden wie die Einsamkeit und das Entbehren der Anschauung Gottes, die Christus nach dem Grundprinzip, dass nur geheilt und erlöst ist, was erlitten ist, im Sein bei den Toten auf sich nimmt. Den sheol-Zustand der Toten vor Christus hält Balthasar allerdings für dialektisch-ambivalent und für theologisch unbestimmbar. 100 Denn einerseits stelle dieser Zustand die poena damni, d. h. die Strafe der Verdammnis ohne Hoffnung auf Erlösung dar. Andererseits wirke die Gnade Christi voraus, weshalb die Toten nicht die ganze Strafe der Verdammnis erlitten, sondern im Licht Christi, d. h. im Licht von Glaube, Liebe und Hoffnung auf Christus warteten. Nur Christus erleide den sheol-Zustand ohne jegliches Licht der Hoffnung. Die theologische Überzeugung, Christus habe ohne jede Hoffnung nach seinem Tod den sheol-Zustand durchlitten, weist bei Balthasar bereits darauf hin, dass Christus die äußerste Konsequenz der Solidarität mit den toten Menschen auf sich genommen hat. Christus erleidet im Unterschied zu allen anderen Toten die finsterste Finsternis und die tiefsten Tiefen der Unterwelt. Die äußerste Solidarität Christi mit uns Menschen erweist sich dadurch als Stellvertretung. Wie Christus starb, um uns vom physischen Tod zu erlösen, so erlitt er den Hades, um uns vom Hades zu erlösen, und das heißt hier, um uns vor dem Hades in seiner schrecklichsten Tiefe zu bewahren. Indem Christus durch sein Totsein in seiner Solidarität mit den Toten ihnen die ganze Erfahrung des Totseins erspart, insofern

Offb 1,18; 2 Petr 2,4; vgl. Jud 6. Zu den entsprechenden Stellenangaben im Alten Testament siehe MP 145. 98 Vgl. MP 145. 99 MP 145. 100 Vgl. MP 149 f. 96 97

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Das Leiden Jesu Christi nach dem Tod (H. U. v. Balthasar)

immer schon ein himmlischer Lichtschimmer von Glaube, Liebe und Hoffnung den Abgrund erhellt, nimmt er stellvertretend diese ganze Erfahrung auf sich. 101 Einzig und allein er ist über die allgemeine Todeserfahrung hinausgeschritten und hat die ganze Tiefe des Abgrunds ausgemessen. In seinem einzigartigen Totsein erfährt er Balthasar zufolge am Karsamstag in ganzer Intensität die furchtbaren Leiden des zweiten, des ewigen geistigen Todes. 102 Er hat eine unmittelbare Erfahrung des Todes, eine Anschauung des Todes (Nikolaus von Kues), weshalb sein Leiden das größte ist, das sich denken lässt. 103 Weil und insofern er bei seinem Aufenthalt in der sheol stellvertretend auf das Licht der Hoffnung und der Erlösung ganz verzichtet, erleidet er stellvertretend für die Sünder die Qual der Hölle, d. h. die Qual eines vollkommen aussichtslosen Getrenntseins von Gott, einer äußersten, an sich endgültigen Gottverlassenheit. In seiner Anschauung des zweiten Todes schaut Christus laut Balthasar zugleich die Sünde als solche. 104 In der ganzen Kraftlosigkeit, die den sheol-Zustand kennzeichnet, ist er mit der reinen Sünde als solcher konfrontiert, die nicht mehr am einzelnen Menschen haftet, sondern eine davon abstrahierte Realität darstellt. Christus schaut die ganze Realität der Sünde, die Realität der Sünde als ganzer. 105 Infolge dieses Anschauens und Erleidens der Weltsünde durch Christus ist in der Bildsprache der Offenbarung des Johannes Babylon als Inbegriff der Weltsünde gefallen (Offb 18,2). Die Stadt wird im Feuer verbrannt werden (Offb 18,8). Ihr Rauch steigt in alle Ewigkeit auf (Offb 18,21). Sie wird mit Wucht ins Meer hinabgeworfen und keinesfalls mehr gefunden werden (Offb 18,21). Das reine Böse wird sich selbst verzehren, ohne dass noch irgendetwas davon übrig bleibt. 106 Die Schau des Chaos der Sünde und der Hölle durch den Gottmenschen ist für uns zur Bedingung unserer Schau Gottes geworden. 107 Christus hat die unterste Hölle betreten und so aus dem Vgl. MP 151. Vgl. MP 152–155. 103 Vgl. MP 153. 104 Vgl. MP 155–157. 105 Balthasar weicht hier bewusst von der traditionellen Lehre der privatio boni ab, derzufolge das Böse und Schlechte bloß in einem Mangel des Guten besteht. Für ihn ist die Sünde als solche eine eigene Realität. 106 Vgl. MP 157. 107 Vgl. MP 157–159. 101 102

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Der für uns Leidende

Kerker des Todes einen Weg gemacht, der zu Gott führt (Gregor der Große). Jedes Mal wenn Gott in die Verlorenheit des sündigen Herzens eines lebenden Menschen geistig »hinabsteigt«, wiederholt sich der »Abstieg« seines Sohnes in die Abgründe der sheol am Karsamstag. 108 Durch diesen »Abstieg« hat Christus die Hölle verwüstet und von ihr Besitz ergriffen. Wie das Leiden Christi am Kreuz, so ist auch das Leiden Christi am Karsamstag in der sheol nach Balthasar trinitarisch zu verstehen. Gott, der Vater, hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit er sie rettet (vgl. Joh 3,17). Er hat aber damit dem Sohn ganz das Gericht übertragen. 109 Dadurch dass der Sohn am Karsamstag die ganze Dimension des Rein-Gegengöttlichen existentiell durchmisst, vollzieht sich das göttliche »Gericht« über die Hölle. Durch die barmherzige Liebe Gottes sind die »Pforten« der Hölle gesprengt, ist die Hölle kein Ort der reinen Gottferne mehr (Origenes), gibt es aus der Hölle von Gott her in alle Ewigkeit einen Ausgang. Als trinitarisches Ereignis ist der Gang zu den Toten für Balthasar »notwendig ein Heilsereignis« 110. Um das zu verstehen, ist es wichtig mit Balthasar eschatologisch zwischen Hades (sheol), Hölle und Fegfeuer zu unterscheiden. 111 Durch sein Sein bei den Toten hat uns Christus aus dem Hades befreit bzw. vor dem Hades bewahrt. Der Hades ist hier theologisch präzis als jener nach dem Tod eintretende, an sich endlose Zustand der Gottferne aufzufassen, der nur deshalb nicht Hölle ist, weil das Licht der Erlösungstat Christi auf ihn fällt und ihn durch die damit ermöglichten theologischen Tugenden von Glaube, Liebe und Hoffnung erträglich macht. Hölle hingegen ist, wie Balthasar zu Recht feststellt, »ein Produkt der Erlösung« 112 und als solches erst »nach« dem Erlösungswerk Christi möglich. 113 Das »nach« ist dabei aber nicht zeitlich, sondern sachlich zu verstehen. Nur infolge der Erlösungstat Christi ist uns Menschen auf eine unwiderrufliche und unüberbietbare Weise das Heil und die Gnade von Gott her angeboten. Hölle würde bedeuten, dass ein Mensch das 108 Vgl. MP 159. Balthasar, der gleich eingangs den Ausdruck »Abstieg« (descensus) als zu aktiv verworfen hat, verwendet hier die Ausdrücke von Gregor dem Großen. 109 Joh 5,22.27–30. 110 MP 159. 111 Vgl. MP 159–166. 112 MP 157. 113 Vgl. MP 160.

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Das Leiden Jesu Christi nach dem Tod (H. U. v. Balthasar)

durch Jesus Christus vermittelte absolute Heils- und Gnadenangebot Gottes in Freiheit endgültig ablehnen würde, was eine ewige, existentiell vollständige Trennung von Gott, mithin das, was man den zweiten, geistigen Tod nennt, zur Folge hätte. 114 Hölle im Sinn einer solchen unbedingten, endgültigen Zurückweisung Gottes bleibt eine reale menschliche Möglichkeit. Durch sein stellvertretendes Erleiden der Hölle eröffnet Christus jedoch den Sündern sozusagen eine dritte eschatologische 115 Möglichkeit neben dem »alttestamentlichen« sheol-Zustand und dem »neutestamentlichen« Zustand der Hölle, nämlich einem für gewöhnlich nachtodlichen Reinigungsprozess, traditionell in der katholischen Kirche »Fegfeuer« genannt. 116 Um diese eschatologische Möglichkeit zu verstehen, sind zunächst einige theologische Voraussetzungen zu klären. Nach biblischem Verständnis sind alle Menschen Sünder. 117 Wer schwer sündigt, lehnt im Wesentlichen Gott selbst ab und trennt sich von ihm. Diese Trennung kann er aber von sich aus durch nichts wieder rückgängig oder gut machen. Vom Menschen aus gesehen ist diese Trennung deshalb unwiderruflich und endgültig. Käme Gott dem Menschen in dieser Situation nicht entgegen, würde das für alle Menschen genau jenen Zustand bedeuten, den man traditionell als Hölle bezeichnet. Nun hat aber Gott durch das Erlösungswerk seines Sohnes Jesus Christus uns Menschen alle Sünden vergeben und die ganze Welt mit sich versöhnt. Dadurch ist von Seiten Gottes her endgültig die Trennung zwischen dem Menschen und Gott aufgehoben, der Abstand geschlossen, der Abgrund überbrückt, sodass Gott von sich aus in alle Ewigkeit dem Menschen ganz nahe ist. Der Mensch braucht von sich aus diese unwiderrufliche absolute Nähe Gottes nur noch anzunehmen und in seiner eigenen Wirklichkeit durch einen 114 Die Trennung wäre »nur« eine existentielle, nicht eine metaphysische, weil aufgrund seiner metaphysischen Abhängigkeit vom Schöpfer kein Geschöpf von Gott metaphysisch getrennt werden könnte, ohne aufzuhören zu existieren. 115 Die Eschatologie ist die Lehre von den »letzten Dingen«, zu denen der Tod, das Gericht, Himmel und Hölle, die Wiederkunft Christi, die Auferstehung des Leibes und die Vollendung und Verherrlichung der Welt gehören. 116 Da auch die Möglichkeit des »Fegfeuers« nicht zeitlich, sondern sachlich ein »Produkt« oder eine »Funktion« der Erlösungstat Christi ist, stellt sich die theologische Frage, ob die Toten jemals den alttestamentlichen sheol-Zustand erlitten haben oder nicht schon immer durch das Vorauswirken der Erlösungstat Christi unmittelbar nach dem Tod die Möglichkeit hatten, ganz bei Gott zu sein und dadurch vollends geläutert zu werden. 117 Vgl. Röm 5,12–21; 1 Joh 1,10.

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Prozess der Reinigung, Läuterung und Ausreifung durch das Feuer der göttlichen Liebe – »Fegfeuer« genannt – ankommen zu lassen. Durch sein stellvertretendes Erleiden der Hölle bei seinem Gang zu den Toten am Karsamstag hat Christus folglich alle Menschen was die Seite Gottes angeht vor der Hölle als letzter unausweichlicher Konsequenz der Sünde bewahrt. Das ist neutestamentlich gemeint, wenn immer wieder die Rede davon ist, wir sündige Menschen seien oder würden durch Christus gerettet. 118 Das »Sein mit den Toten« am Karsamstag ist ein Heilsgeschehen, weil Christus damit das Moment der Barmherzigkeit in das Totenreich gebracht hat (Origenes), weil er die Kreuzesfrucht in den Abgrund unserer Todesverlorenheit eingestiftet hat (Karl Rahner, Ladislaus Boros). 119 Das stellvertretende Erleiden der äußersten Gottferne durch Christus am Karsamstag lässt nach Balthasar auf das Heil aller Menschen hoffen. Ein solcher Heilsoptimismus beinhaltet neben dem festen Glauben, Gott wolle das Heil aller (1 Tim 2,4), die feste Hoffnung, alle Menschen werden das von Gott angebotene Heil auch tatsächlich annehmen. Für den Fall, dass ein Mensch sich im Leben und im Tod grundsätzlich dafür entschieden habe, das Heilsangebot Gottes und somit Gott selbst abzuweisen, rechnet Balthasar theologisch mit der Möglichkeit, ja Notwendigkeit einer postmortalen Begegnung mit Christus als dem Gottverlassenen. 120 In seinem zeitlosen »höllischen« Zustand der Trennung von Gott, zu dem er sich einzig und allein selbst verdammt hat, begegnet dieser Mensch Christus als dem, der in seinem zeitlosen Zustand des »Seins mit den Toten« vom Karsamstag der um seinetwillen noch viel absoluter von Gott verlassene, noch viel einsamere und ärmere Bruder ist. Durch die unabweisbare Anwesenheit des Bruders, der für ihn stellvertretend die Hölle durchlitten hat,

Mt 1,21; Joh 3,17; Röm 8,24; 2 Tim 4,18. Vgl. MP 162; 160. Vgl. zur Theologie des Leidens Christi am Kreuz und am Karsamstag die ergänzende und zusammenfassende Darlegung von Balthasar selbst: Hans Urs von Balthasar: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Band III,2.2. Neuer Bund [I.5. Wucht des Kreuzes a. Der Anprall, b. Kenose, c. Hölle], Einsiedeln 1969, 187–217. 120 Siehe Hans Urs von Balthasar: Theodramatik. Vierter Band. Das Endspiel [2. Teil B.4: Approximationen an die Hölle], Einsiedeln 1983 [= TD IV], 273–293, hier 283– 286; Balthasar bezieht sich in diesem Abschnitt sehr stark auf Schriften von Adrienne von Speyer. 118 119

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Reflexion

kann der zeitlos und »höllisch« in sich Verschlossene noch einmal aufgebrochen werden und zu Gott zurückkehren. Sicher ist diese theologische Spekulation und die mit ihr verbundene universale Hoffnung nicht. Aber da man niemals zu viel Vertrauen auf den Lieben Gott, der so mächtig und so barmherzig ist, haben kann (Therese von Lisieux) 121, ist die Hoffnung durchaus berechtigt. Jeder Christ soll den Mut zur kühnsten aller Hoffnungen für sich und für jeden Menschen aufbringen, dass im Tod durch die Kraft des Wunders des Leidens Christi »sein Verdammenswertes von ihm abgetrennt und zu dem unverwendbaren Rest, der vor den Türen der heiligen Stadt verbrannt wird, geschlagen werde« 122. Das Karsamstagsleiden Christi mündet schließlich in den Jubel und Triumph von Ostern: Jesus Christus ist von den Toten auferstanden, und wir alle werden mit ihm von den Toten auferstehen.

14.8 Reflexion 14.8.1 Argumente für die Leidensfähigkeit und das Leiden Gottes Zunächst einmal ist die Religionskritik, wie sie Xenophanes (570–475 v. Chr.), Platon, Aristoteles und andere griechische Philosophen übten, ernst zu nehmen. Wir dürfen uns keine zu anthropomorphe Vorstellung von den »Göttern« oder von Gott machen. Bestimmte pathē, bestimmte Affekte, Emotionen und Regungen 123, die wir schon bei Vgl. TD IV 291 f. TD IV 293. 123 In der Psychologie werden unter den Affekten (Gefühlen, Stimmungen, Emotionen) sieben »Primäraffekte« ausgemacht: Freude, Verzweiflung, Wut, Furcht, Ekel, Überraschung, Interesse. Weitere Affekte bzw. Gefühle oder Emotionen wie Scham, Schuld, Verachtung treten erst relativ spät in der menschlichen Entwicklung auf (gegen Ende des ersten Lebensjahres). In der Psychoanalyse werden Affekte, Gefühle und Emotionen so unterschieden: ein Affekt ist eine körperliche Reaktion (ohne bewusste Repräsentanz und bewusstes Erleben des Affekts); ein Gefühl ein bewusstes Wahrnehmen und/oder Erleben; und eine Emotion das Gesamtgeschehen (die körperliche Reaktion mitsamt der bewussten Eigenwahrnehmung). Mit Empathie wird die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Gedanken, Emotionen, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen und zu verstehen bezeichnet. Zur Empathie wird normalerweise auch die Fähigkeit zu angemessenen Reaktionen auf Gefühle anderer Menschen gerechnet (wie zum Beispiel Mitleid, Trauer, Schmerz und Hilfsbereitschaft aus Mitgefühl). 121 122

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uns Menschen als unvollkommen erachten, haben in unserer Vorstellung von Gott nichts verloren. Gott ist nicht launisch und jähzornig, nicht neidisch und nicht eifersüchtig. Er sinnt nicht auf Rache. Aber wir treffen bei uns Menschen auch auf Gefühle, die wir positiv beurteilen. Dazu gehört vor allem die Empathie im weitesten Sinn des Wortes, die Fähigkeit, mit anderen Menschen, aber auch mit höheren Tieren mitfühlen zu können. Nach allgemeinem Urteil fehlt einem Menschen, der nicht mit anderen mitempfinden kann, sich nicht mit anderen freuen, nicht mit anderen trauern, sich nicht mit anderen mitärgern und nicht mit anderen mitleiden kann, etwas Wesentliches des Menschseins. Empathie gilt uns zu Recht als ein hochzuschätzendes Vermögen, als eine Vollkommenheit. Ausgehend von dieser menschlichen Erfahrung und Einschätzung lässt sich ein philosophisches Argument für die Leidensfähigkeit Gottes entwickeln, in dessen Zentrum die intuitive Überzeugung steht, dass ein Gott, dem jegliche Empathie abginge, der völlig unfähig wäre, mit seinen Geschöpfen mitzuempfinden und insbesondere mitzuleiden, unvollkommen wäre. Das Argument könnte aus fünf Schritten bestehen. (1) Gott ist der Schöpfer der Welt. 124 (2) Zwischen der Schöpfung und Gott, dem Schöpfer, besteht eine seinsmäßige Analogie, d. h. bei aller Unähnlichkeit eine gewisse Ähnlichkeit hinsichtlich ihrer Vollkommenheiten. 125 (3) Die Fähigkeit, mit anderen mitempfinden und insbesondere mit anderen mitleiden zu können, ist eine Vollkommenheit unter den Geschöpfen. (4) Gott ist per definitionem das vollkommenste Wesen. (5) Also besitzt Gott die Vollkommenheit der Empathie und der (Mit-)Leidensfähigkeit. Die einzelnen Schritte sollen hier nicht eigens begründet und entfaltet werden. Es sei nur darauf hingewiesen, dass bei (5) an die Unendlichkeit Gottes zu denken ist. 126 Während bei uns Menschen als endlichen Wesen alle Vollkommenheiten eng begrenzt sind, sind sie bei Gott aufgrund seines unendlichen Wesens alle unendlich. Ist Gott leidensfähig, dann ist er es auf göttliche, und das heißt auf unendliche Weise. 124 125 126

Siehe Kap. 15. Siehe Kap. 7.7. Siehe Kap. 8.10.

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Reflexion

Des Weiteren ist bei (5) zu bedenken, dass aufgrund der absoluten Einfachheit des göttlichen Wesens alle Vollkommenheiten inhaltlich zusammenfallen, sich also nicht unterschieden. Die Leidensfähigkeit Gottes ist in Gott selbst und für Gott selbst nichts anderes als seine Barmherzigkeit, seine Treue und seine Gerechtigkeit. Nur uns mit unserer begrenzten Erkenntnis, die an die Vielfalt geschöpflicher Wirklichkeit gebunden ist, erscheint die eine Vollkommenheit Gottes aufgefächert in viele verschiedene Vollkommenheiten. Wie im allgemeinen Vermögen und Akt so sind bei Gott die Leidensfähigkeit und das tatsächliche Leiden voneinander zu unterscheiden. Leiden setzt einen unvollkommenen Zustand voraus. Einen solchen kann es nur in der Schöpfung bzw. in der Welt geben. Leidet Gott, dann leidet er in seiner Vollkommenheit nicht an sich, sondern an der unvollkommenen Schöpfung. Er leidet mit der Schöpfung und für die Schöpfung. Da Gott die Welt aus Liebe in absoluter Freiheit erschaffen hat, ist auch sein Leiden in Bezug auf die Welt von vornherein absolut freiwillig. Während wir Menschen nur zum Teil freiwillig leiden, zum größeren Teil aber unfreiwillig und vom Leiden oft »böse« überrascht werden, leidet Gott grundsätzlich freiwillig und kann ihn Leiden nicht völlig überraschen. Seinem Leiden geht immer ein aktiver freier Willensentschluss voraus, weshalb sein Leiden seine Souveränität nicht schmälert, sondern vielmehr Ausdruck seiner Souveränität ist. 127 Sein Leiden ist deshalb auch nie rein passiv. So sehr Balthasar die Passivität des Leidens Jesu Christi bei den Toten unterstreicht, so sehr ist er sich der grundlegenden Aktivität dieses Leidens bewusst, insofern ihm der völlig freie Entschluss Gottes vorausgegangen ist, für die Menschen selber Mensch zu werden und mit ihnen und für sie zu leiden. Das Leiden Gottes stellt demnach im Unterschied zu unserem menschlichen Leiden und in einer gewissen Paradoxie ein »souveränes Leiden« dar. Das Leiden Jesu von Nazaret ist durch die Passionsberichte der vier Evangelien historisch hinreichend dokumentiert. Wie Christen glauben, ist dieser Jesus nicht nur der »Gesalbte« (hebr. Messias; gr. Christus) gewesen, sondern der ewige Sohn Gottes. Die soteriologisch entscheidende Frage lautet deshalb, ob Jesus Christus nur in seiner Menschheit oder auch in seiner Gottheit gelitten hat, ob also in 127 Auf die Souveränität des leidenden Christus hebt vor allem das Johannesevangelium in seinem Passionsbericht ab.

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Jesus von Nazaret nur ein Mensch oder wirklich Gott selbst gelitten hat. Deshalb sei an dieser Stelle ein ausführlicheres, im Kern dogmatisches Argument für das tatsächliche Leiden des Gottessohnes angeführt. Es kann das Argument aus der Einheit der Person Christi genannt werden. Die Argumentation stützt sich auf die theologische (Glaubens-)Voraussetzung, dass Gott in Jesus von Nazaret Mensch geworden ist. Die Überzeugung, Gott sei Mensch geworden, soll an dieser Stelle nicht ausführlich begründet werden. Aber eine mögliche Argumentationslinie sei dazu skizziert. (1) Die Evangelien berichten von Frauen und Männern, die bezeugten, ihnen sei Jesus von Nazaret nach seinem Kreuzestod als von den Toten Auferstandener begegnet. 128 (2) Es gibt keine konkreten Gründe, an der Glaubwürdigkeit dieser Zeugen zu zweifeln. (3) Aufgrund der Glaubwürdigkeit der Zeugen ist es vernünftig, ihrer Botschaft zu trauen, d. h. darauf zu vertrauen, dass ihre Botschaft wahr ist. (Richard Swinburne spricht in dem Zusammenhang vom Principle of Credulity bzw. Testimony. 129 Auch Ignatius von Loyola kennt – christlich motiviert – das Glaubwürdigkeitsprinzip. 130) (4) Die Glaubhaftigkeit der Botschaft von der Auferstehung Jesu wird durch eine transzendentale Auferstehungshoffnung als einem Existential des Menschen bestärkt. D. h., diese Botschaft trifft nicht auf einen Menschen, der ihr gegenüber wie eine tabula rasa grundsätzlich neutral eingestellt wäre. Vielmehr hegt jeder Mensch offen eingestanden oder insgeheim den Wunsch, die Sehnsucht und die Hoffnung, nach dem Tod in ein vollkommen glückliches, ewiges, jenseitiges Leben einzugehen. 131 Mk 16,9–14; Mt 28,9 f.16–20; Lk 24,13–53; Joh 20,11–29; 21,1–23. Nach dem Glaubwürdigkeits- bzw. Zeugnisprinzip ist Erfahrungen und Erfahrungsberichten solange zu trauen, als ihr Inhalt nicht aus anderen Gründen höchst unwahrscheinlich ist (siehe Richard Swinburne: Die Existenz Gottes. Aus dem Englischen übersetzt von Rudolf Ginters, Stuttgart 1987, 350–376; 376–383). 130 In der Nr. 22 der »Geistlichen Übungen« schreibt Ignatius: »Damit sowohl der, welcher die geistlichen Übungen gibt, wie der, welcher sie macht, sich gegenseitig mehr helfen und nützen, müssen sie voraussetzen, dass jeder gute Christ mehr dazu bereit sein muss, die Aussage des Nächsten für glaubwürdig zu halten, als sie zu verurteilen. Vermag er sie nicht zu rechtfertigen, so forsche er nach, wie jener sie versteht […]« (Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Übertragung und Erklärung von Adolf Haas. Mit einem Vorwort von Karl Rahner, Freiburg i. Br. 1966, 25). 131 Siehe dazu Karl Rahner: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg i. Br. 1976 [= GG], 264 f.; vgl. 209 f.; 290 f. 128 129

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(5) Den Berichten in den Evangelien ist zu entnehmen, dass die ersten Zeugen bei ihrer Begegnung mit dem Auferstandenen in Jesus nicht nur einen auferstandenen Menschen erkannten, sondern in ihm auch ihren »Herrn und Gott« (vgl. Joh 20,28) erahnten. Sie ahnten, dass Jesus mehr als ein Prophet, mehr als der erwartete Messias, mehr als ein Mensch war, dass er der absolute Heilsbringer war, also derjenige, der den Menschen auf unwiderrufliche und unüberbietbare Weise Leben und Heil von Gott gebracht hat, und dass er damit selber Gott war. 132 (6) War Jesus Christus aber Gott, dann musste Gott selber Mensch geworden sein. Im Prolog des Johannesevangeliums wird das mit Blick auf Christus als das Wort Gottes zum Ausdruck gebracht: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. […] Und das Wort ist Fleisch [d. h. Mensch] geworden und hat unter uns gewohnt« (Joh 1,1.14).

14.8.2 Die Lehre von der hypostatischen Union Unter der Voraussetzung, dass Gott existiert, die Welt erschaffen hat und selber in der Welt Mensch geworden ist, soll nunmehr im Folgenden weiter dafür argumentieren werden, dass es vernünftig ist anzunehmen, Gott selber habe infolge seiner Menschwerdung gelitten. Denn versteht man, wie das Martin Luther oder später Karl Rahner getan haben, die Lehre von der »hypostatischen Union« Jesu Christi und die Idiomenkommunikation konsequent von der personalen Einheit Jesu Christi her, ergibt sich nahezu zwangsläufig das Leiden und damit die Leidensfähigkeit Gottes. Die Lehre von der »hypostatischen Union« Jesu Christi beruht auf der kirchenamtlichen und somit offiziell anerkannten Deszendenz-Christologie (Abstiegschristologie). 133 Im Zentrum dieser Christologie steht die theologische Grundaussage: Gott ist Mensch geworden. Aufgabe der Christologie ist es, diese Aussage theologisch zu deuten und zu entfalten. Dabei wird im Unterschied zu einer Aszen-

132 Eine systematische metaphysische Lehre von der Gottheit Jesu Christi wurde unter Zuhilfenahme griechischer Philosophie freilich erst in den der Kanonisierung des Neuen Testaments folgenden Jahrhunderten, besonders auf den großen christologischen Konzilien von Nizäa (325) und von Chalkedon (451), entwickelt. Siehe Kap. 2.2. 133 Siehe dazu und zum Folgenden Karl Rahner: GG 280–282.

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denz-Christologie die Bewegung nicht als ein Aufstieg von unten, vom Menschen (Jesus) zu Gott, sondern als ein Abstieg Gottes von oben zum Menschen (Jesus) beschrieben. 134 Die Deszendenz- oder Inkarnationschristologie setzt wiederum die klassische Trinitätstheologie voraus. Ihr zufolge sind in Gott drei voneinander verschiedene »Hypostasen« oder »Personen«, nämlich Vater, Sohn und Heiliger Geist. Die zweite Person ist von Ewigkeit her und unabhängig von der Inkarnation (d. h. der Menschwerdung) der »Sohn« oder der »Logos« (d. h. das Wort). Als solcher geht er durch ewige »Zeugung« vom Vater aus und besitzt durch diese Zeugung das göttliche Wesen oder die göttliche Natur vom Vater her. Er ist deshalb wesensgleich (d. h. wesensidentisch) mit dem Vater, obwohl er sich als Person in einer relationalen Gegensätzlichkeit von ihm unterscheidet. Diese göttliche Person des Sohnes oder Logos nimmt in einer »hypostatischen Union« eine volle menschliche Wirklichkeit – eben die Jesu von Nazaret – als ihre eigene Wirklichkeit an. Mit »hypostatischer Union« ist demnach gemeint, dass die göttliche Hypostase des Sohnes die Wirklichkeit eines Menschen mit sich eint und sich zu eigen macht. Der göttliche Sohn oder Logos eignet sich eine menschliche Natur mit allem, was sie ausmacht und was dazugehört, an, d. h. mit einer echten kreatürlichen »Subjekthaftigkeit«, wie sie sich in Zwischenmenschlichkeit, Selbstbewusstsein und Freiheit, aber auch in einer echten sittlich-religiösen Selbstständigkeit, wenn auch nicht metaphysischen Unabhängigkeit Gott gegenüber äußert. Eine solche menschliche Natur verbindet der göttliche Logos mit seiner Person oder Hypostase so, dass diese göttliche Hypostase der substantielle »Träger« dieser menschlichen Natur ist. Der letzte Träger oder das letzte Subjekt Jesu Christi ist deshalb die göttliche Hypostase oder Person des Logos. Das eigentliche ontologische und logische Subjekt Jesu Christi entsteht also nicht durch Einigung der beiden »Naturen« – der göttlichen und der menschlichen –, sondern ist das präexistente ewige Logos-Subjekt, das der Einigung vorausgeht und sie vollzieht. Es, und nicht das menschliche Subjekt ist das eigentliche und tiefste Subjekt Jesu Christi. Da mit diesem aber die menschliche Natur Jesu seinsmäßig und »substantiell« geeint ist, können alle Prädikate dieser menschlichen Natur wahrhaft vom göttlichen Person-Subjekt ausgesagt werden. 134

Zu Aufstiegs- und Abstiegs-Christologien siehe Kap. 2.1.3.

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Reflexion

Von daher findet die Lehre von der »hypostatischen Union« ihre Vollendung in der Lehre von der Idiomenkommunikation, die sowohl seinsmäßig als auch logisch zu verstehen ist. Weil das eine göttliche Logos-Subjekt, die zweite göttliche Hypostase oder Person, substantiell und wesentlich Besitzer und Träger der beiden »Naturen« ist, kann man von ihm, wie auch immer man es bezeichnet, die Eigentümlichkeiten beider Naturen aussagen. Man kann also z. B. nicht nur sagen: der ewige göttliche Sohn ist allwissend, sondern auch: der ewige Sohn Gottes hat gelitten und ist gestorben. Oder man kann nicht nur sagen: Jesus von Nazaret hat gelitten und ist gestorben, sondern auch: Jesus von Nazaret ist allwissend, ist Gott. Hat sich der göttliche Logos die menschliche Natur seinsmäßig und substantiell zu eigen gemacht, d. h. zu seiner eigenen Wirklichkeit gemacht, dann kann man aber nicht nur, sondern dann muss man von ihm als dem eigentlichen Subjekt Jesu Christi alles, was Jesus als Mensch getan, erlebt und erlitten hat, aussagen. Weil das PersonSubjekt Jesu Christi die Person des göttlichen Sohnes ist, ist diesem nichts von all dem fremd und äußerlich geblieben, was Jesus als Mensch erfahren hat, und hat diesen alles zutiefst berührt, was Jesus als Mensch betroffen hat. Hat Jesus gelitten, so hat der ewige Sohn Gottes gelitten. Ist Jesus gestorben, so ist auch der ewige Sohn Gottes gestorben. In und mit Jesus hat demzufolge der Sohn Gottes selbst gelitten. Gott selbst hat gelitten. An diese Feststellung schließt sich aber die soteriologische Frage an, inwiefern und inwieweit Gott gelitten hat. Balthasar geht bei der Beantwortung dieser Frage mit seiner Karsamstagssoteriologie besonders weit, so weit, wie Soteriologie überhaupt nur gehen kann. Für ihn hat der Sohn Gottes nicht nur solidarisch mit den Menschen gelitten, sondern – mehr noch – stellvertretend für sie. In der Aussage vom stellvertretenden Leiden Gottes gipfelt die Soteriologie. Ihr gemäß hat Gott das schlimmste Leiden, das sich als Folge aus unseren Sünden ergibt – vereinfacht Hölle genannt –, freiwillig auf sich genommen, um uns dieses Leiden zu ersparen, um uns davor zu bewahren, daraus zu retten. Gott geht so weit in seiner Liebe zu uns, dass er nicht nur solidarisch mit uns, sondern stellvertretend für uns leidet. Sein stellvertretendes Leiden berechtigt zu einer universalen Hoffnung. Wir dürfen und sollen hoffen, dass tatsächlich alle Menschen das ewige Heil bei Gott finden. Immer wieder weist Balthasar auf den trinitarischen Charakter des soteriologisch zentralen Kreuzes- und Karsamstagsgeschehens 461 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

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hin. Kreuz und Karsamstag sind trinitarische Heilsereignisse. Alle drei göttlichen Personen sind daran beteiligt. Die Initiative geht vom Vater aus, der den Sohn in die Welt sendet, damit er sie rettet. Der Vater setzt den Sohn dann auch der Situation des Leidens am Kreuz und bei den Toten aus. Der Heilige Geist wird die Sendung des Sohnes, sein Werk der Erlösung und der Versöhnung, nach dessen Auferstehung in der Welt fortsetzen. Der Sohn ist es aber, der das alles unmittelbar erleidet. Am Kreuz und in der sheol erleidet er stellvertretend für die Menschen die äußerste Gottverlassenheit. Er erfährt sich von Gott, dem Vater, verlassen, nicht weil sich der Vater real von ihm zurückziehen und trennen würde – das wäre aufgrund der Einheit des Wesens Gottes gar nicht denkbar. Vielmehr ist für ihn in dieser Situation der Vater, der ihm sonst als lebendiges Gegenüber gegenwärtig war, vollkommen verborgen. Hier findet Luthers Ausdruck vom deus absconditus (verborgenen Gott) seine tiefste Bedeutung. In der völligen Verborgenheit Gottes, des Vaters, erleidet der Sohn die größte Gottfinsternis, die sich denken lässt. Genauso wenig denkbar sind aber auch ein realer Rückzug und eine reale Trennung des Heiligen Geistes vom Sohn. Dem Heiligen Geist verdankt der Sohn seine irdische Existenz. 135 Von ihm war der Sohn als geistgesalbter Messias vollständig erfüllt. Deshalb kann der Geist den Sohn am Ende seines Lebens in der Leidenssituation nicht allein lassen. Vielmehr »stärkt« er ihm »den Rücken« und trägt ihn durch diese Situation, sodass dieser sie ertragen kann.

14.8.3 Die innergöttliche Voraussetzung des Leidens Das äußerste Leiden des Gottessohnes hat für Hans Urs von Balthasar eine innergöttliche Voraussetzung, eine innertrinitarische Bedingung der Möglichkeit. Für ihn ist der Sohn Gottes in seiner Menschwerdung zur äußersten »Kenose«, zum äußersten Leerwerden, zur äußersten Entäußerung fähig (vgl. Phil 2,7) 136, weil ihr – sachlich, nicht zeitlich verstanden – eine innergöttliche »Kenose« des Vaters voraus-

Lk 1,35; Mt 1,20. In Bezug auf die Menschwerdung Christi schreibt Paulus im Philipperhymnus (einem vermutlich vorpaulinischen liturgischen Text, den Paulus zitiert): ἐκένωσεν (ekénōsen) = er entäußerte sich (Phil 2, 7). Das Substantiv zu diesem Verb ist κένωσις (kénosis bzw. Kenose) = Leerwerden, Entäußerung. 135 136

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geht (Bulgakow). 137 Bei der ewigen »Zeugung« des Sohnes enteignet sich der Vater restlos seiner Gottheit und übereignet sie dem Sohn. In seiner vollkommenen Hingabe an den Sohn teilt er diesem alles Sein mit. »Dieser göttliche Akt, der den Sohn hervorbringt, […] ist die Setzung eines absoluten, unendlichen Abstands, innerhalb dessen alle möglichen andern Abstände, wie sie innerhalb der endlichen Welt bis einschließlich zur Sünde hin auftreten können, eingeschlossen und umfangen sind. In der Liebe des Vaters liegt ein absoluter Verzicht, für sich allein Gott zu sein, ein Loslassen des Gottseins und in diesem Sinn eine (göttliche) Gott-losigkeit (der Liebe natürlich), die man keineswegs mit der innerweltlichen Gottlosigkeit vermengen darf, die aber doch deren Möglichkeit (überholend) grundlegt.« 138

Der Sohn antwortet auf die Selbsthingabe des Vaters, indem er ebenso selbstlos sein göttliches Wesen, das er vom Vater empfangen hat, in ewiger Danksagung (Eucharistie) dem Vater zurück schenkt. Aus beiden geht als ihr subsistierendes »Wir« der gemeinsame Geist hervor, »der die unendliche Differenz zugleich offenhaltend (als Wesen der Liebe) besiegelt und, als der eine Geist beider, sie überbrückt« 139. Nach Balthasar besteht aufgrund der »Ur-Kenose« des Vaters zwischen Vater und Sohn eine unendliche Verschiedenheit und ein unendlicher Abstand, den der Heilige Geist sowohl offen hält (bezeugt, befeuert) als auch überbrückt. 140 Da jede Welt nur innerhalb dieses unendlichen Abstandes ihren Ort haben kann, ist »jedes mögliche Drama zwischen Gott und einer Welt immer schon [darin] miteinbeschlossen und überholt« 141. Durch den innergöttlichen Abstand ist alles, »was Trennung, Schmerz, Entfremdung in der Welt, und was Liebeshingabe, Ermöglichung von Begegnung, Seligkeit in ihr sein

137 Siehe dazu Hans Urs von Balthasar: Theodramatik. Dritter Band. Die Handlung [III.C.1. a) Immanente und ökonomische Trinität], Einsiedeln 1980 [= TD III], 297– 305, hier 300 f. 138 TD III 301. 139 TD III 301. 140 Balthasar spricht sogar von einer echten »Trennung« in Gott, von einer unfassbaren und unüberbietbaren »Trennung« Gottes von sich selbst (vgl. TD III 302). Diese Redeweise ist m. E. nicht mehr sachgemäß. Es ist sachlich zwischen einer unendlichen Verschiedenheit und in diesem qualitativen Sinn einem unendlichen Abstand in Gott einerseits und einer unendlichen Trennung in Gott andererseits zu unterscheiden. Ersteres kann und sollte Gott zugesprochen werden, Letzteres nicht, da es die Einheit des Wesens Gottes tritheistisch auflösen würde. 141 TD III 304.

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Der für uns Leidende

wird« 142, immer schon überboten. Jede Sünde, durch die sich der Mensch von Gott trennen kann, und jede »Hölle« als Zustand endgültiger existentieller Trennung von Gott ist deshalb immer schon trinitarisch vom unendlichen Abstand der göttlichen Liebe zwischen Vater und Sohn umfangen. Die innergöttliche »Kenose« (Entleerung) und der innertrinitarische Abstand zwischen Vater und Sohn lassen noch einmal die Leidensfähigkeit und das Leiden Gottes in einem etwas anderen Licht erscheinen. »Fragt man aber«, so Balthasar, »ob Leiden in Gott sei, so lautet die Antwort: in Gott ist der Ansatzpunkt für das, was Leiden werden kann, wenn die Vorsichtslosigkeit, mit der der Vater sich (und alles Seinige) weggibt […] auf eine Freiheit stößt, die diese Vorsichtslosigkeit nicht beantwortet […].« 143 Wird die Liebe Gottes durch menschliche Freiheit abgewiesen und ausgeschlagen, kann zum Heil des Menschen die innergöttliche »Kenose« zum Leiden Gottes werden. 144

TD III 302. TD III 305. 144 Zur Kenosis bei Balthasar und in der Kyoto-Schule siehe Alexander Hoffmann: Kenosis im Werk Hans Urs von Balthasars und in der japanischen Kyoto-Schule. Ein Beitrag zum Dialog der Religionen, Bonn 2008. 142 143

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15. Der Schöpfer Erschaffung, Erhöhung und Vollendung der Welt

In den letzten vier Kapiteln sollen nun noch einige klassische Eigenschaften Gottes näher untersucht werden: sein Schöpfertum, seine Allmacht, seine Allwissenheit und seine Ewigkeit. Als Grundlagentext dient hierzu Armin Kreiners Werk »Das wahre Antlitz Gottes – oder was wir meinen, wenn wir Gott sagen« 1. Kreiner rezipiert darin insbesondere die neueren Diskurse in der angelsächsischen analytischen Religionsphilosophie.

15.1 Die Schöpfung als creatio originans oder creatio ex nihilo 15.1.1 Die Grundzüge der Lehre Der Bibel zufolge ist Gott der Schöpfer der Welt (Gen 1 u. 2). 2 In Freiheit hat er die Welt erschaffen. 3 »Nach dem Modell der Freiheit entscheidet sich Gott frei und willentlich, eine von ihm unterschiedene Welt zu erschaffen. Die Existenz und Beschaffenheit der Welt gründet in der schöpferischen Absicht bzw. im Willen Gottes. Nichts, weder seine Natur noch etwas von Gott Unterschiedenes, zwingt ihn dazu, eine Welt zu erschaffen, und nichts zwingt ihn dazu, gerade diese Welt und keine andere zu erschaffen. Gott wäre auch dann noch Gott, wenn er keine Welt erschaffen hätte.« 4

Armin Kreiner: Das wahre Antlitz Gottes – oder was wir meinen, wenn wir Gott sagen, Freiburg i. Br. 2006 [= Kreiner 2006], 257–431. 2 Der Schöpfungsbericht von Gen 2 dürfte aus dem 9. Jh. v. Chr. stammen, der Schöpfungsbericht von Gen 1 dagegen aus der Zeit des Babylonischen Exils oder nach dem Exil (6./5. Jh.). 3 Zur ganzen Thematik der Schöpfung siehe Kreiner 2006, 257–305. 4 Kreiner 2006, 294. 1

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Der Schöpfer

Die Erschaffung der Welt ist eine vollkommen freie Handlung Gottes. Aber aus welchem Grund hat Gott die Welt erschaffen? Was hat ihn dazu motiviert? Als Grund, eine Welt zu erschaffen, kommt philosophisch betrachtet eigentlich nur die Werthaftigkeit bzw. Güte der Welt selbst in Frage. Weil die Welt intrinsisch wertvoll und gut ist, hat Gott sie hervorgebracht. Gott gibt damit den Geschöpfen Anteil an seiner eigenen intrinsischen Werthaftigkeit. Mehr theologisch gewendet könnte man sagen: Aus Liebe will Gott sich mitteilen und anderen Anteil an seinem Leben geben. Gott hat in vollkommener Freiheit und aus vollkommener Liebe die Welt um ihrer selbst willen erschaffen. Nach der christlichen Lehre von der creatio originans oder creatio ex nihilo, die ebenfalls auf die Bibel zurückgeht (2 Makk 7,28 5), hat Gott zu einem bestimmten Zeitpunkt, der entweder innerhalb einer bereits vorhandenen Zeit lag oder der den Anfang der Zeit bildete, die Welt aus nichts erschaffen. Aus nichts bedeutet: Gott hat die Welt aus nichts anderem als sich selbst hervorgebracht. Er hat sie nicht aus einem anderen, ihm schon irgendwie Vorgegebenen heraus geschaffen. Er hat sie vielmehr allererst ins Dasein gerufen. Die Erschaffung aus nichts bedeutet demzufolge positiv eine creatio entis qua entis (eine Erschaffung des Seienden als Seienden), und ist einer creatio ex aliquo (einer Erschaffung aus einem anderen) entgegengesetzt. Creatio ex nihilo bedeutet des Weiteren, dass Gott die Welt als eine von ihm verschiedene Wirklichkeit und damit als nichtgöttliche Wirklichkeit ins Sein gesetzt hat. In diesem Sinne ist die creatio ex nihilo der Emanation entgegengesetzt, bei der die Welt, die aus Gott hervorströmt, gewissermaßen selbst Teil des Göttlichen ist. Gott hat durch die creatio ex nihilo die Welt aber auch als eine eigenständige Wirklichkeit hervorgebracht. Obwohl die Welt ganz von Gott herkommt und von ihm abhängig bleibt, besitzt sie eine echte Selbständigkeit, stellt sie eine echte Eigenwirklichkeit dar. Gott hat sie mit der größtmöglichen Eigenständigkeit ausgestattet bis hin zur Entwicklung menschlicher Freiheit. Auch die menschliche Freiheit ist zwar von Gott als ihrem inneren Grund, der sie erst ermögDort heißt es: »Ich bitte dich, mein Kind, schau dir den Himmel und die Erde an; sieh alles, was es da gibt, und erkenne: Gott hat das aus dem Nichts erschaffen, und so entstehen auch die Menschen.«

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Die Schöpfung als creatio originans oder creatio ex nihilo

licht, bleibend abhängig, aber sie kann sich ihm gegenüber frei entscheiden – in einem echten Ja oder auch in einem echten Nein zu ihm. 6

15.1.2 Der kosmologische Gottesbeweis und das Kontingenz-Argument Zur Lehre von der creatio ex nihilo gibt es im Wesentlichen zwei große denkerische Alternativen. Der atheistischen Alternative zufolge existiert kein Gott und folglich kein von der Welt verschiedener Weltgrund. Es besteht nur die Welt. Die Welt existiert entweder von einem bestimmten Zeitpunkt an oder ewig. Existiert die Welt erst seit einer gewissen Zeit, dann müsste sie aus dem nichts entstanden sein. Das ist aber metaphysisch unmöglich. Denn aus nichts kann auch nichts werden – ex nihilo nihil fit, wie schon Thomas von Aquin feststellte. 7 Eine Argumentation für die These, die Welt könne nicht aus nichts entstanden sein, wäre etwa: 1. Hätte einmal das absolute Nichts bestanden, dann bestünde es notwendig und wäre Sein unmöglich. 2. Dass es aber Sein gibt, wissen wir mit unbezweifelbarer Sicherheit aus unserer eigenen Existenz, aus unserer Selbstgewissheit. 8 3. Folglich ist ein absolutes Nichts unmöglich und wenngleich theoretisch, so doch existentiell nicht wirklich denkbar, Sein hingegen notwendig. 9 Es ist demzufolge metaphysisch unmöglich, dass die Welt vor endlich langer Zeit aus dem absoluten Nichts entstanden ist. Diese Argumentation ließe sich wiederum in eine umfassendere Argumentation für die Existenz Gottes integrieren, die im Kern dem kosmologischen Argument entspräche, wie es Thomas von Aquin auf dem zweiten seiner »fünf Wege«, d. h. seiner fünf »Gottesbeweise« entwickelte. 10

Siehe Kap. 13.5. Vgl. Thomas von Aquin: Summa theologica [= ST] I q.2 a.3. 8 Siehe dazu Kap. 11.4.2. 9 Vgl. Josef Schmidt: Philosophische Theologie (Grundkurs Philosophie Band 5), Stuttgart 2003, 132–140 (Nr. 192–202), auch 79–82 (Nr. 99–101). 10 Siehe ST I q.2 a.3 resp. Siehe dazu auch Kap. 1.4. 6 7

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Der Schöpfer

(1) Alles, was in der Welt existiert, ist durch anderes bedingt/verursacht. (2) Wenn alles in der Welt bedingt/verursacht ist, kann die Welt als ganze nicht unbedingt/unverursacht sein. (3) Alles muss eine Bedingung/Ursache haben (metaphysisches Kausalprinzip). (4) Folglich muss die Welt als ganze eine Bedingung/Ursache haben. (5) Aus dem Nichts kann nichts entstehen. (6) Also kann das Nichts nicht die Bedingung/Ursache der Welt sein. (7) Die Reihe der Bedingungen/Ursachen kann nicht ins Unendliche gehen. 11 (8) Also muss es eine letzte Bedingung/Ursache geben, die nicht wiederum selbst durch anderes bedingt/verursacht ist. (9) Mit Gott ist metaphysisch ein Sein gemeint, das durch nichts anderes als sich selbst bedingt/verursacht ist, also unbedingt bzw. Ursache seiner selbst ist. (10) Folglich ist Gott die letzte Bedingung/Ursache der Welt. (11) Also existiert Gott. Gott ist die metaphysische Ursache der Welt, d. h. die Ursache für das Sein der Welt, ihre Seinsursache. Und Gott ist Bedingung der Welt. Seine Existenz ist notwendige Bedingung für die Welt. Würde er nicht existieren, gäbe es auch keine Welt. Aber durch seine Existenz allein ist Gott noch nicht hinreichende Bedingung für die Welt. Aus seinem Sein allein folgt keineswegs notwendig das Sein der Welt. Gott kann ohne Welt sein. Erst durch seinen freien Willensentschluss die Welt zu erschaffen, wird er auch hinreichende Bedingung für das Sein der Welt. Wenn Gott in seiner Freiheit beschließt, eine Welt zu erschaffen, dann erschafft er sie auch tatsächlich und dann existiert auch tatsächlich eine Welt. In diesem Sinn ist dann Gott notwendige und hinreichende Bedingung der Welt. Gott vermag die letzte Ursache und unbedingte Bedingung von allem zu sein, weil er ganz aus sich selbst heraus existiert, ganz in sich selbst gründet und so von nichts anderem mehr in seinem Sein abhängt. Besteht die Welt ewig, stellt sich metaphysisch das sogenannte Kontingenzproblem, das auch schon auftritt, wenn die Welt einen zeitlichen Anfang hat. In freier Anlehnung an das kosmologische Ar11

Das ist der sogenannte Ausschluss des Regressus ad infinitum.

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Die Schöpfung als creatio originans oder creatio ex nihilo

gument von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) lässt es sich mitsamt seiner Lösung etwa so darstellen 12: 1. In der Welt finden wir nur kontingente, d. h. metaphysisch nicht-notwendige Zustände oder Tatsachen vor. Für jede kontingente Tatsache muss es jedoch einen zureichenden Grund dafür geben, warum sie überhaupt ist und warum sie so ist, wie sie ist. 2. Was von einzelnen Tatsachen in der Welt gilt, gilt auch von der Welt als ganzer. Sie ist als ganze eine kontingente, d. h. metaphysisch nicht-notwendige Tatsache. Sie könnte auch nicht sein und sie könnte auch anders sein, als sie tatsächlich ist. Es muss demzufolge einen zureichenden Grund dafür geben, dass die Welt überhaupt ist und dass sie so ist, wie sie ist. 3. Als zureichender Grund für das Dasein und das Sosein der Welt kommt letztlich nur eine metaphysische Notwendigkeit in Frage. 4. Diese metaphysische Notwendigkeit ist Gott. Nach dem Kontingenzargument lässt sich also von der Tatsache der Welt, auch wenn diese ewig existieren sollte, auf Gott als metaphysisch notwendig existierendes Wesen schließen. Eine Welt ohne Gott ist demnach metaphysisch nicht denkbar. Die atheistische Alternative zur Lehre von der creatio ex nihilo scheidet folglich aus.

15.1.3 Die Ewigkeit der Welt? Die andere Alternative zur Lehre von der creatio ex nihilo hat eine altehrwürdige Tradition. Sie nimmt im Gegensatz zur atheistischen Alternative die Existenz Gottes an, geht jedoch im Gegensatz zur Lehre von der creatio ex nihilo von der Ewigkeit der Welt bzw. eines primordialen Materials aus. Gottes Schöpfungshandeln wird demgemäß nicht als ursprünglicher Akt aufgefasst, durch den die Welt ins Dasein gerufen wurde, sondern ausschließlich als Formung oder Gestaltung eines immer schon vorhandenen und in diesem Sinn unerschaffenen Materials. »Diese Schöpfungsvorstellung ist religionsgeschichtlich weit verbreitet. Einer ihrer ideengeschichtlich einflussreichsten Vertreter war Platon. Nach Siehe Gottfried Wilhelm Leibniz: Über den ersten Ursprung der Dinge, in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik. Hrsg. von Herbert Herring, Stuttgart 1966; vgl. Winfried Löffler: Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 2006 [= Löffler 2006], 61 f.

12

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Der Schöpfer

der im Timaios dargestellten Auffassung formte der Weltschöpfer bzw. Demiurg die unerschaffene Urmaterie nach dem Urbild der ewigen Ideen, wobei sich dieser Ordnungsprozess sowohl im zeitlichen als auch im zeitlosen Sinn verstehen ließ. Im 20. Jahrhundert griff Alfred North Whitehead auf diese Vorstellung zurück und propagierte sie als Alternative zur traditionellen christlichen Schöpfungslehre. In der von Whitehead beeinflussten Prozesstheologie wird Schöpfung als Schaffung von Ordnung aus einem ursprünglichen Chaos verstanden.« 13

Auch diese Alternative ist mit dem Problem konfrontiert, die Existenz der Welt metaphysisch nicht hinreichend begründen zu können. Wie kann eine Welt, die wir als endlich, bedingt und kontingent (d. h. nicht-notwendig) erfahren, in sich selbst gründen? Auch eine ewige Welt müsste, wenn auch nicht zeitlich, so doch metaphysisch, in Gott gründen. Ginge die Welt nicht auf einen freien Willensentschluss Gottes zurück, sondern wäre Gott gewissermaßen als zweites Prinzip neben ihm vorgegeben, schränkte das auch die Allmacht Gottes metaphysisch erheblich ein oder höbe sie gar auf und minderte demzufolge seine Vollkommenheit, die zu seinem Wesen gehört. Die entscheidende Frage lautet daher, ob die creatio ex nihilo notwendigerweise zeitlich zu denken ist oder ob sie sich nicht auch ewig denken ließe. Auch eine ewig existierende Welt hinge recht verstanden in ihrer Existenz ganz von Gott ab. Nur hätte Gott sie nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt erschaffen, sondern entließe sie als die nichtgöttliche Wirklichkeit in Ewigkeit aus sich. Der metaphysische Kerngedanke der creatio ex nihilo, nämlich der einer grundsätzlichen metaphysischen Abhängigkeit der Welt von Gott und von sonst nichts, ließe sich im Prinzip auch in Anbetracht einer ewigen Welt aufrechterhalten. Gegen die Ewigkeit der Welt wird bisweilen als philosophisches Argument angeführt, dass eine unendliche Vergangenheit der Welt eine aktual unendliche Reihe voraussetzen würde, eine aktual unendliche Reihe aber unmöglich sei. 14 Möglich sei nur eine potentiell unendliche Reihe, wie etwa die unendliche Menge der natürlichen Zahlen, die man durch beliebig langes Weiterzählen erzeugen kann. Dieses Argument ist allerdings umstritten, weil nicht klar ist, ob eine aktual unendliche Reihe, konkret eine unendliche Zeitspanne, die sich

13 14

Kreiner 2006, 261. Vgl. Löffler 2006, 62.

470 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die Schöpfung als creatio originans oder creatio ex nihilo

aus unendlich vielen Teil-Zeitspannen zusammensetzt, metaphysisch wirklich unmöglich ist. Rein philosophisch-apriorisch, d. h. vorgängig zur Erfahrung, scheint sich nicht leicht ausmachen zu lassen, ob die Welt ewig existiert oder einen zeitlichen Anfang hat. Es ist dies im Prinzip eine aposteriorische, d. h. die Erfahrung betreffende Frage, die für uns mit empirischen Mitteln sicher nicht leicht, wenn überhaupt jemals zu beantworten ist, oder eine Frage des theologisch-religiösen Glaubens.

15.1.4 Die physikalische Theorie vom Urknall Für einen zeitlichen Anfang der Welt sprechen derzeit zwei Argumente aus der modernen Physik. 15 Es gibt nämlich wenigstens zwei Befunde der physikalischen Kosmologie, die auf einen zeitlichen Anfang des Universums hindeuten. 1. »Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik (häufig ›Entropiesatz‹ genannt) besagt, dass ein abgeschlossenes physikalisches System immer und irreversibler Weise in einen Zustand höherer ›Entropie‹ ([…] [d. h.] Unordnung bzw. einheitliche[r] Energieverteilung) übergeht.« 16 Wird das Universum als abgeschlossenes System betrachtet, bedeutet dies erstens, dass dem Universum in ferner Zukunft der »Entropietod« bevorsteht, d. h. ein Zustand maximaler Entropie bzw. Unordnung, in dem sich nichts mehr verändert, und zweitens, dass das Universum einen zeitlichen Anfang gehabt haben muss. Würde das Universum nämlich bereits unendlich lang existieren, hätte es den Zustand maximaler Entropie bereits erreicht, was offensichtlich nicht der Fall ist. Der Entropiesatz deutet somit auf einen zeitlichen Anfang des Universums hin. 2. Für einen zeitlichen Anfang der Welt spricht auch die derzeit in der Physik immer noch vorherrschende Theorie vom Urknall des Weltalls. Dem kosmologischen Standardmodell zufolge begann die Geschichte des Universums vor ungefähr 14 Milliarden Jahren. Am Ursprung, also zum Zeitpunkt t = 0, befand sich das Universum im Zustand einer Singularität, d. h. in einem Zustand unendlicher oder extremer Dichte, Temperatur und Krümmung. Erst mit dem Urknall, 15 16

Vgl. Löffler 2006, 62–64. Löffler 2006, 62.

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Der Schöpfer

d. h. mit bzw. aus der Explosion der Singularität, entstanden Raum und Zeit. 17 Für die Theorie vom Urknall spricht zum einen die Expansion des Weltalls, die durch die Rotverschiebung des Lichts 18 gut belegt ist, und zum anderen die 2-Kelvin-Hintergrundstrahlung 19, eine richtungsmäßig gleichmäßige Strahlung aus allen Himmelsregionen, »die man gleichsam als Nachglühen des Urknalls betrachten kann« 20. Die Urknalltheorie legt mithin einen zeitlichen Anfang des Universums nahe. In welchem Verhältnis stehen nun die kosmologische Urknalltheorie und die christliche Schöpfungstheorie zueinander? Bei der Beantwortung dieser Frage ist von theologischer und philosophischer Seite aus große Vorsicht geboten. Denn es handelt sich bei den beiden Theorien um ganz unterschiedliche Typen von Theorien. Mit der Urknalltheorie wollen Physiker naturwissenschaftlich erklären, wie das Weltall entstanden sein könnte. Mit der Schöpfungstheorie wollen christliche Theologen und Philosophen hingegen begründen, warum es die Welt gibt. Hinter den beiden Theorien stehen also grundsätzlich verschiedene Fragestellungen. Der Physiker fragt, wie sich die Existenz des Weltalls mit naturwissenschaftlichen Mitteln erklären lässt. Der Philosoph fragt, warum es die Welt überhaupt gibt, warum nicht vielmehr nichts ist. Ihm geht es um eine metaphysische Letztbegründung der Existenz und Beschaffenheit der Welt. Der Theologe schließlich fragt, warum Gott die Welt erschaffen hat. Er will das Motiv für die Erschaffung der Welt und damit den Sinn der Welt ergründen. Von daher ist nur festzustellen: Die physikalische Urknalltheorie und die christliche Schöpfungstheorie widersprechen einander nicht. Sie sind bestenfalls aneinander anschlussfähig, können einander jedoch nicht bestätigen. Nach der Theorie vom Urknall hat die Welt einen zeitlichen Anfang. Diese Theorie ist jedoch hypothetisch. Sie kann sich zwar auf empirische Daten stützen, allen voran, wie erwähnt, die RotverschieVgl. Kreiner 2006, 274; Stefan Bauberger: Was ist die Welt? Zur philosophischen Interpretation der Physik 2003 [= Bauberger 2003], 193–201. 18 Rotverschiebung bedeutet, dass sich das Licht von Galaxien, die sich von uns entfernen, zu niedrigeren Frequenzen hin verschiebt. Mit der Rotverschiebung lässt sich die gleichmäßige Expansion des Universums feststellen. Vgl. Bauberger 2003, 190. 19 Die Hintergrundstrahlung ist eine empirisch nachgewiesene, das Universum gleichmäßig ausfüllende Wärmestrahlung, die vom heißen Anfangszustand des Universums übrig geblieben ist. Vgl. Bauberger 2003, 191. 20 Löffler 2006, 63. 17

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Die Schöpfung als creatio originans oder creatio ex nihilo

bung und die Hintergrundstrahlung, aber sie bleibt eine Hypothese, die sich als falsch herausstellen kann. Deshalb darf von naturwissenschaftlicher Seite aus nicht als gesichert gelten, dass die Welt einen zeitlichen Anfang hat. Aber ganz unabhängig davon, ob die Welt nun einen zeitlichen Anfang hat oder nicht: sie ist in jeden Fall nach dem Prinzip des zureichenden Grundes schon allein aufgrund ihrer Kontingenz (Nicht-Notwendigkeit) metaphysisch begründungsbedürftig. Nach dem Satz vom zureichenden Grund kann nichts ohne Grund sein, muss alles einen Grund haben. Nichts existiert oder geschieht, ohne dass es eine Ursache oder wenigstens einen bestimmenden Grund gibt, d. h. etwas, das dazu dienen kann, a priori zu begründen, weshalb etwas eher existiert als nicht existiert und weshalb etwas gerade so und nicht in einer anderen Weise existiert. 21 Nichts Kontingentes kann demnach letztlich in sich selbst gründen. Die Welt bedarf daher zu ihrer Existenz einer transzendenten, notwendig und aus sich selbst existierenden Ursache. Diese Ursache muss völlig anderer Art als die innerweltlichen Ursachen sein, soll sie doch die Welt allererst begründen. Man darf sie sich also nicht als Verlängerung der innerweltlichen Ursachen vorstellen. Vielmehr muss man sie sich als den Grund denken, der allein in sich selbst gründet. Diese Ursache oder diesen Grund identifiziert der Theismus mit dem personalen Gott der Bibel, der im Sinne der creatio ex nihilo die Welt aus freiem Willen erschafft. Wer nun dagegen einwenden würde, dass nach dem Satz vom zureichenden Grund auch Gott in seinem Dasein und Sosein einen Grund haben müsse, der von ihm verschieden ist, und dass deshalb ewig so weiter nach einem Grund gefragt werden könne, würde damit zeigen, dass er nicht verstanden hat, was philosophisch-metaphysisch mit Gott gemeint ist. Gott ist metaphysisch betrachtet eben der letzte Grund, der nicht mehr von einem weiteren Grund abhängt, weil er in sich selber gründet. Gott ist die letzte Ursache von allem, die selbst nicht mehr von etwas anderem verursacht ist, sondern selbst ursachelos ist oder Ursache ihrer selbst ist. D. h., Gott ist unter metaphysischer Rücksicht der letzte zureichende Grund selbst, hinter den zurückzufragen keinen Sinn mehr hat. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Dieœ Theodizee. Übersetzt von Artur Buchenau (2., durch ein Literaturverzeichnis und einen einführenden Essay von Morris Stockhammer ergänzte Auflage), Hamburg 1968, § 44.

21

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Der Schöpfer

15.1.5 Die Feinabstimmung des Universums Eng mit dem Urknall ist die so genannte »Feinabstimmung« (fine tuning) des Universums verknüpft. Nur in einem Universum, das bestimmte physikalische Anfangsbedingungen, Konstanten und Naturgesetze besitzt, war ein Entwicklungsprozess möglich, der zur Entstehung von Leben führte. »Die Anfangsbedingungen hängen mit der Beschaffenheit des Urknalls zusammen; die Konstanten betreffen unter anderem die Größe der Wechselwirkungen, der Massen der Elementarteilchen und der Lichtgeschwindigkeit; die Naturgesetze betreffen die kausalen Zusammenhänge zwischen diesen Größen. Minimalste Abweichungen hätten zu einem Universum geführt, in dem die Entstehung von Leben und Bewusstsein unmöglich gewesen wäre.« 22

All diese Parameter sind offenbar so aufeinander abgestimmt, dass Leben und Bewusstsein im Kosmos entstehen konnte. Deshalb spricht man von der kosmologischen »Feinabstimmung« dieser Parameter. »Diese Zusammenhänge werden seit einigen Jahren unter dem Stichwort ›anthropisches Prinzip‹ diskutiert. Die verschiedenen Versionen dieses Prinzips gehen davon aus, dass die grundlegenden physikalischen Parameter des Universums so aufeinander abgestimmt sind, dass sich menschliches Leben entwickeln konnte.« 23 Dem anthropischen Prinzip ist das kopernikanische Prinzip entgegengesetzt, das seit dem Beginn der Neuzeit vorherrschte. Diesem Prinzip zufolge befindet sich die Menschheit nicht im Zentrum eines für sie geschaffenen und »maßgeschneiderten« Universums, sondern auf einem gewöhnlichen Planeten in einem gewöhnlichen Sonnensystem. Der Mensch spielt im Universum keine ausgezeichnete, und schon gar keine zentrale Rolle, er ist nicht die »Krone der Schöpfung«, sondern, wie Jacques Monod es formulierte, ein »Zigeuner am Rande des Universums« 24. Das anthropische Prinzip kehrt dieses kopernikanische Prinzip in gewisser Weise wieder um. Ganz grundsätzlich lassen sich zwei Versionen von ihm unterscheiden, eine schwache und eine starke. Das

Kreiner 2006, 283 f. Kreiner 2006, 284. 24 Jacques Monod: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie (8. Auflage), München 1988, 151. 22 23

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Die Schöpfung als creatio originans oder creatio ex nihilo

schwache anthropische Prinzip besagt nach Brandon Carter, der 1974 den Ausdruck »anthropische Prinzipien« prägte: »Wenn das Universum bewusstseinsbegabte Beobachter wie uns Menschen (und damit vorher schon Galaxien, relativ kühle Planeten, schwere chemische Elemente, Leben auf Kohlenstoffbasis etc.) hervorgebracht hat, dann muss es bestimmte, eng umschriebene und fein abgestimmte Anfangsbedingungen erfüllt haben«. 25

In dieser Version leuchtet das anthropische Prinzip unmittelbar ein. Allerdings ist es auch nicht sonderlich spektakulär, sondern eher trivial. Aus der Tatsache, dass wir existieren, folgt zwangsläufig, dass das Universum physikalisch so beschaffen ist, dass wir entstehen konnten. Ansonsten gäbe es uns nicht. Spannender wird das anthropische Prinzip erst, wenn man bedenkt, dass die einschlägigen physikalischen Parameter des Universums auch anders beschaffen sein könnten. Die Parameter sind nicht notwendigerweise oder zwangsläufig so, wie sie sind. Sie könnten auch anders sein. Bereits geringfügige Abweichungen dieser Parameter hätten zur Entstehung eines Universums geführt, in dem die Entwicklung von Leben und Bewusstsein unmöglich gewesen wäre. Nur unter bestimmten, sehr eng umschriebenen Bedingungen konnte sich beispielsweise der für Leben unverzichtbare Kohlenstoff in den Sternen bilden. 26 Dazu kommt ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt: »Geht man davon aus, dass die genannten Parameter auch andere Werte annehmen könnten, erscheint das Zusammentreffen bzw. die Koinzidenz ihrer tatsächlichen Werte als extrem unwahrscheinlich. Verschiedentlich wird versucht, diese Unwahrscheinlichkeit zu quantifizieren. Dabei werden unterschiedliche Zahlen genannt, die allesamt eine exorbitante Unwahrscheinlichkeit zum Ausdruck bringen. Im Gegensatz zum kopernikanischen Prinzip erweckt die Feinabstimmung den Eindruck, als sei die Existenz des Menschen doch irgendwie geplant oder vorgesehen, als sei das gesamte Universum darauf ausgerichtet, Menschen hervorzubringen.« 27

Auf diesem Hintergrund lautet das starke anthropische Prinzip nach Carter: »Das Universum musste von seinen Anfangsbedingungen her so beschaffen sein, dass es früher oder später bewusstseinsbegabte

25 26 27

Löffler 2006, 72. Vgl. Bauberger 2003, 201. Kreiner 2006, 286.

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Der Schöpfer

Beobachter hervorbringen würde.« 28 Das »müssen« in dieser Formulierung des starken anthropischen Prinzips bringt entweder zum Ausdruck, dass Universen ein inneres Ziel in sich tragen, nämlich das Hervorbringen von bewussten Beobachtern, oder dass es einen externen Faktor gibt, der ihnen dieses Ziel eingestiftet hat. Als solch ein externer Faktor bietet sich der Schöpfergott des Theismus an. 29 Aber auch hier ist vom christlich-philosophischen und theologischen Standpunkt aus Vorsicht geboten. Die kosmologische Feinabstimmung, sofern man sie überhaupt für unwahrscheinlich hält 30, lässt sich mit der christlichen Schöpfungstheorie vereinbaren, kann diese aber nicht bestätigen. Die christliche Schöpfungstheorie kann der kosmologischen Feinabstimmung, falls sie tatsächlich extrem unwahrscheinlich ist, Sinn verleihen. Demnach hat ein personaler Schöpfergott in seiner Weisheit, Macht und Güte das Universum so geplant und erschaffen, dass in ihm menschliches Leben entstehen konnte. Es war von vornherein seine Schöpfungsabsicht, dass eines Tages ein Wesen wie der Mensch die Bühne der Welt betritt. In dieser Sicht steht der Mensch dann durchaus im Zentrum des Universums. Aber die christliche Schöpfungstheorie sollte wiederum nicht als eine Erklärung für die kosmologische Feinabstimmung im naturwissenschaftlichen Sinn aufgefasst werden, die die Existenz Gottes wahrscheinlicher macht. In den Naturwissenschaften gibt es durchaus eigene Versuche, eine solche Feinabstimmung – etwa durch die Annahme eines Multiversums 31 – zu erklären. Löffler 2006, 72. Siehe dazu Richard Swinburne: Argument from the Fine-Tuning of the Universe, in: John Leslie (ed.): Physical Cosmology and Philosophy, New York/London 1990, 154–173. 30 Gegen die Annahme, die Feinabstimmung sei extrem unwahrscheinlich, lässt sich argumentieren, eine solche Unwahrscheinlichkeit lasse sich nicht einschätzen oder gar genau berechnen, weil jeder Vergleichsmaßstab fehle (vgl. Löffler 2003, 73 f.). 31 Eine Vielzahl nebeneinander, nacheinander oder ineinander existierender Universen würde die Unwahrscheinlichkeit der Feinabstimmung unseres Universums erheblich reduzieren. Gäbe es tatsächlich viele Universen und hätten in jedem Universum die physikalischen Parameter andere Werte, dann wäre es wahrscheinlich, dass es unter all den vielen Universen auch welche gibt, bei denen die Feinabstimmung so beschaffen ist, dass Leben und Bewusstsein entstehen können. Eine solche Multiversum-Theorie wäre zwar konsistent mit anderen plausiblen physikalischen Theorien. Aber sie wäre vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus fragwürdig. Denn solche Universen, die zusätzlich zu unserem Universum existieren würden, ließen sich 28 29

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Die Schöpfung als creatio continua oder conservatio

15.2 Die Schöpfung als creatio continua oder conservatio 15.2.1 Die traditionelle Lehre Nach traditioneller christlicher Schöpfungslehre erschafft Gott die Welt nicht nur im Sinne der creatio ex nihilo in einem einmaligen absoluten Schöpfungsakt, sondern handelt vielmehr fortwährend schöpferisch. Er ruft die Welt nicht nur in einem einmaligen Akt ins Dasein, sondern erhält die Welt auch andauernd im Dasein. Dieses fortgesetzte, erhaltende schöpferische Handeln Gottes ist mit der Lehre von der creatio continua oder von der conservatio gemeint. Wie kommt es zur Vorstellung einer creatio continua und wie lässt sich diese philosophisch adäquat verstehen? Wenn Gott von Augenblick zu Augenblick jedes Seiende in der Welt im Sein bewahren soll, steht offensichtlich im Hintergrund die Vorstellung, alles Seiende habe eine gewisse metaphysische Tendenz, sich wieder in nichts aufzulösen. Ohne das kontinuierliche schöpferische Wirken Gottes würde jedes Geschöpf sogleich ins Nichts versinken. Kein Geschöpf hat von sich aus die Kraft, sich im Sein zu erhalten. Gott muss jeden Augenblick jedes Geschöpf und die Schöpfung insgesamt durch sein schöpferisches Handeln vor dem Sturz ins Nichts bewahren. Was spricht aber für die Annahme einer solchen metaphysischen Tendenz der Geschöpfe zum Nichts? Was wir beobachten, ist die Vergänglichkeit aller Dinge in der Welt. Alle Dinge, alle Geschöpfe entstehen und vergehen. Sie existieren nur über einen mehr oder weniger begrenzten Zeitraum hinweg. Dies verdeutlicht besonders unsere heutige dynamische Sicht des Weltalls. »Über entsprechend lange Zeiträume hinweg verändern sich sowohl die Makrostrukturen des Universums als auch die Mikrostrukturen im Universum: Galaxien entstehen und vergehen, Sterne werden geboren und sterben, biologische Arten entwickeln sich und verschwinden wieder, einzelne Lebewesen werden geboren und sterben, Moleküle und Atome bilden sich und lösen sich wieder auf.« 32

Jedes Seiende in der Welt, jedes einzelne Geschöpf vergeht früher oder später und löst sich damit in nichts auf. In diesem Sinn hat alles per definitionem empirisch nicht nachweisen. Die Hypothese von vielen Universen stellt folglich eine reine Spekulation dar. 32 Kreiner 2006, 267.

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Der Schöpfer

in der Welt, die Tendenz ins Nichts zu versinken. Aber lässt sich daraus schon schließen, dass alles Seiende jeden Augenblick – also stets – die Tendenz hat, ins Nichts abzugleiten? Die Seienden bestehen ja offensichtlich eine mehr oder weniger lange Zeit. Sie haben eine gewisse Dauer. Verdanken sie diese Dauer einzig und allein dem kontinuierlichen schöpferischen Handeln Gottes? Nach der geläufigen Auffassung von der creatio continua wäre dem so. Einzig und allein weil Gott es jeden Augenblick vor dem Nichts bewahrt, kann jedes Seiende eine Zeit lang existieren. Nach dieser Auffassung ist die creatio continua als ausschließliches Wirken Gottes zu verstehen. Das Geschöpf kann nichts zu seiner eigenen Erhaltung beitragen. Es ist in seiner Erhaltung ganz auf das Wirken Gottes angewiesen. Der Unterschied zwischen der creatio ex nihilo und der creatio continua beschränkt sich dementsprechend darauf, dass Gott bei der creatio ex nihilo die Welt allererst erschafft, d. h. als Wirklichkeit überhaupt erst hervorbringt, während er bei der creatio continua die bereits existierende Welt erhält, d. h. auf eine bereits vorhandene Wirklichkeit einwirkt. Aber in beiden Fällen, bei der creatio ex nihilo wie bei der creatio continua, ist es ausschließlich Gott, der wirkt. Nach diesem Verständnis von der creatio continua wirkt das Seiende bzw. das Geschöpf in keiner Weise bei der Erhaltung seines Seins mit.

15.2.2 Eine aktualisierte Lehre Die traditionelle Auffassung von der creatio continua erweist sich jedoch als unhaltbar. Sie lässt sich nicht aufrechterhalten, wenn man den nächsten Aspekt der Schöpfung, die creatio evolutiva, bedenkt. Der Lehre von der creatio evolutiva zufolge ermächtigt und befähigt Gott, der Schöpfer, die Geschöpfe zu einem echten Werden, zu Höherentwicklung und Entfaltung, zu Selbstüberbietung. Dabei wirken Schöpfer und Geschöpf zusammen. In der schöpferischen Kraft Gottes ist es der Welt möglich, sich selbst höher zu entwickeln, sich selbst zu überbieten. Billigt nun aber die Schöpfungslehre der Schöpfung in ihrer Vorstellung von der creatio evolutiva die Möglichkeit, die Fähigkeit und die Kraft zu, sich selbst zu entfalten und zu überbieten, dann muss sie ihr in ihrer Vorstellung von der creatio continua erst recht auch die geringere Möglichkeit zutrauen, sich selbst zu erhalten. 478 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die Schöpfung als creatio continua oder conservatio

Können sich die Geschöpfe selbst höher entwickeln und überbieten, dann müssen sie sich auch selbst – jedenfalls eine gewisse Zeit lang – erhalten können. Die creatio continua ist von daher als ein Zusammenwirken von Schöpfer und Geschöpf, von Gott und Welt zu deuten. Bei ihr wirkt nicht Gott allein, sondern die Welt wirkt mit. Gott befähigt die Geschöpfe über einen kürzeren oder längeren Zeitraum hinweg sich selbst im Sein zu erhalten. Nicht nur im Blick auf die creatio evolutiva, sondern bereits im Blick auf die creatio continua ist deshalb statt von einem ausschließlichen Wirken Gottes, von einem concursus divinus, einem göttlichen Zusammenlaufen oder -treffen, zu sprechen, also der Sache nach von einem göttlichen Mitwirken, einem Zusammenwirken von Schöpfer und Schöpfung. Die traditionelle Lehre von der creatio continua oder conservatio ist folglich angemessen so zu verstehen, dass Gott die Geschöpfe dazu befähigt, sich aus eigener Kraft jedenfalls eine Zeit lang selbst zu erhalten. Aber muss, so könnte man fragen, Gott überhaupt bei der Erhaltung der Schöpfung mitwirken? Könnte Gott die Welt nicht allererst im Sinne der creatio ex nihilo erschaffen haben und ihr dabei die Macht verliehen haben, sich ganz allein aus sich selbst im Sein zu erhalten? Mit anderen Worten: Könnte man nicht die ganze Tradition von der creatio continua einfach fallen lassen? Dagegen spricht jedoch wieder die eingangs erwähnte Vergänglichkeit der Geschöpfe. Hätten die Geschöpfe ganz von sich allein aus, sozusagen absolut die Macht, ihr Dasein zu bewahren, gäbe es, menschlich gesprochen, wohl kaum so viel Vergänglichkeit in der Welt. Menschen könnten dann souverän selbst bestimmen, wie lange sie leben oder ob sie überhaupt sterben. Die Kontingenzerfahrung des ungewollten Todes zeigt, dass der Mensch nicht einfach Herr über sein Leben und sein Sein ist. Nach Descartes ist dieselbe Kraft und Tätigkeit nötig, um ein Ding jeden Moment in seinem Sein zu erhalten, als es allererst ins Sein zu setzen. 33 Da die Dinge nicht die Möglichkeit und die Kraft besitzen, sich selbst zu erschaffen, sind sie dieser Logik zufolge auch nicht in der Lage, sich selbst allein aus eigener Kraft im Sein zu erhalten. Vgl. René Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, Dritte Meditation, Nr. 31.

33

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Der Schöpfer

Zumindest die Vergänglichkeit aller Geschöpfe weist darauf hin, dass sie nicht die absolute Macht haben, ihr Sein zu bewahren. Von daher ist es durchaus vernünftig, bei der Erhaltung der Schöpfung ein Zusammenwirken von Schöpfer und Geschöpf anzunehmen. Die Welt bleibt trotz ihrer Selbstständigkeit oder gerade in ihrer Selbständigkeit vom Wirken und Sein Gottes abhängig.

15.3 Die Schöpfung als creatio evolutiva 15.3.1 Das Mitwirken des Schöpfers bei der Evolution Die Lehre von der creatio evolutiva geht von der höchst plausiblen Hypothese aus, dass die Welt nicht statisch immer dieselbe gewesen ist, sondern sich dynamisch entwickelt hat. In der Welt und näherhin auf unserer Erde haben sich neue Seins- und Lebensformen entwickelt. Aus Strahlung haben sich Atomkerne entwickelt, aus Atomen und Molekülen haben sich Zellen entwickelt, aus Einzellern haben sich vielzellige Lebewesen entwickelt und aus neuronalen Strukturen hat sich Bewusstsein entwickelt. »Die gegenwärtige Standardtheorie für die Erklärung der Entstehung und Entwicklung von Leben und Bewusstsein ist die Evolutionstheorie in ihrer (neo-)darwinistischen Form. Sie erklärt die Entstehung des Lebens in seiner Mannigfaltigkeit als das Ergebnis natürlicher Mechanismen.« 34

Als entscheidender Mechanismus fungiert die natürliche Selektion (Auslese), welche die Vielfalt von Lebewesen und deren Angepasstheit an die Umwelt erklärt. Damit dieser Mechanismus überhaupt greifen kann, ist vorausgesetzt, dass biologische Systeme existieren, die sich fortpflanzen bzw. replizieren können. »Vorausgesetzt wird außerdem, dass es sich bei der Replikation nicht um exakte Kopien handelt, sondern dass Abweichungen auftreten. Zufällige genetische Veränderungen [Mutationen] führen zu Variationen innerhalb der Nachkommenschaft. Besser an ihre Umwelt angepasste Individuen ziehen daraus einen Selektionsvorteil, der sich vor allem darin äußert, dass sie sich bzw. ihre Gene erfolgreicher fortpflanzen können … Die Summierung von kleineren Veränderungen kann über entsprechend lange Zeiträume hinweg zur Entstehung neuer Arten führen. Die Entwicklung von einfache34

Kreiner 2006, 262.

480 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die Schöpfung als creatio evolutiva

ren zu immer komplexeren Lebewesen verdankt sich einer Reihe solcher Veränderungen, die einen Selektionsvorteil zur Folge haben.« 35

Die wichtigsten Faktoren der Evolution sind demnach Reproduktion, Variation (Mutation) und Selektion. »Ernsthaft umstritten ist mittlerweile nicht mehr, ob überhaupt eine Evolution stattfand, sondern ob die darwinistischen Prinzipien ausreichen, diesen Prozess zu erklären.« 36 Die darwinistische Theorie lässt sich sicher noch in Details verbessern, d. h. modifizieren und ergänzen. Aber reicht sie, reicht überhaupt eine naturwissenschaftliche Theorie aus, die Evolution hinreichend zu erklären? Das ist die philosophisch entscheidende Frage. Um diese Frage beantworten zu können, ist es wichtig, metaphysisch zu verstehen, was bei der Evolution geschieht. 37 Durch die Evolution entwickelt sich die Welt von einfacheren zu immer komplexeren und differenzierteren Daseinsweisen. Dabei entsteht jeweils wirklich neues, qualitativ höheres Sein: Leben, Bewusstsein und schließlich Selbstbewusstsein bzw. Geist. Metaphysisch betrachtet handelt es sich demnach bei der Evolution um ein echtes Mehrwerden, um eine echte Höherentwicklung, um einen echten Seinszuwachs. Kann aber, so fragt sich metaphysisch, das endliche Sein der Welt dieses echte qualitative Mehrwerden, diesen echten qualitativen Seinszuwachs ganz allein aus sich heraus vollzogen haben? Nach dem Satz vom zureichenden Grund ist das ganz offensichtlich unmöglich. Wenn ein endliches Seiendes sich seinsmäßig zu wirklich Neuem, Höherem steigert, reicht seine eigene innerweltliche, endliche Ursächlichkeit nicht aus, um dies zu vollbringen. Ein endliches Seiendes kann sich nicht selbst geben, was es nicht hat. Eine endliche Wirkung kann nicht einfach ganz allein aus sich heraus ihre endliche Ursache metaphysisch-ontologisch übertreffen. Wie umgekehrt eine endliche Ursache nicht allein aus sich heraus eine seinsmäßige höhere Wirkung hervorbringen kann. Für die höhere SeinsKreiner 2006, 262 f. Kreiner 2006, 263. 37 Siehe zum Folgenden Paul Overhage/Karl Rahner: Das Problem der Hominisation. Über den biologischen Ursprung des Menschen (Quaestiones disputatae 12/13) (zweite, ergänzte Auflage), Freiburg i. Br. 1961, 43–90; Béla Weissmahr: Gottes Wirken in der Welt. Ein Diskussionsbeitrag zur Frage der Evolution und des Wunders, Frankfurt a. M. 1973, 20–39; Béla Weissmahr: Selbstüberbietung und die Evolution des Kosmos auf Christus hin, in: Harald Schöndorf (Hg.): Die philosophischen Quellen der Theologie Karl Rahners, Freiburg i. Br. 2005, 143–177. 35 36

481 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Schöpfer

qualität der Wirkung gegenüber ihrer endlichen Ursache muss es einen Grund geben. Zur Begründung ihres Seinszuwachses bedarf es einer weiteren metaphysischen Ursache. Die Lehre von der creatio evolutiva sieht diese Ursache im schöpferischen Wirken Gottes gegeben. Gott ist schöpferisch-ursächlich an der Höherentwicklung der Welt beteiligt. Das wirklich Neue in der Welt ist zumindest auch von Gott verursacht. Es kann nicht von der Welt allein hervorgebracht sein. Könnte es nun sein, dass das wirklich Neue in der Welt nicht von Welt und Gott, sondern von Gott allein hervorgebracht ist, dass also Gott die alleinige Ursache des Neuen ist? Dieser Vorstellung zufolge hätte Gott jedes Mal, wenn sich die Schöpfung im Sinne der Evolution – etwa beim Übergang von anorganischer Materie zu Leben, von Leben zu Bewusstsein und von Bewusstsein zu Selbstbewusstsein – höher entwickelte, unmittelbar in die Schöpfung eingegriffen, ohne dass die Geschöpfe mitgewirkt hätten. Das qualitativ Neue in der Welt – etwa die geistige Seele des Menschen – wäre das Ergebnis eines gänzlich unvermittelten göttlichen Schöpfungsaktes. Eine solche Vorstellung lässt sich jedoch aus metaphysischen Gründen nicht nachvollziehen, nicht wirklich denken. Denn ein unmittelbares Eingreifen Gottes ohne innerweltliche Ursachen und über alle innerweltlichen Ursachen hinweg würde gegen zwei Prinzipien verstoßen. Es würde zum einen dem metaphysischen Kausalitätsprinzip, genauer, der metaphysischen kausalen Geschlossenheit der Welt widersprechen. Diesem Prinzip zufolge hat jede innerweltliche Entität und jedes innerweltliche Ereignis eine innerweltliche Ursache. Das Prinzip schließt nicht aus, dass auch eine andere, transzendente Ursache bei innerweltlichen Wirkungen mitgewirkt hat, aber es besagt, dass immer auch eine innerweltliche Ursache vorliegen muss. Wäre ein einzelnes Seiendes in der Welt einzig und allein von Gott erschaffen, dann hätte es keine metaphysische Wechselbeziehung zu den anderen Seienden der Welt, dann befände es sich nicht innerhalb des metaphysischen Zusammenhangs der Welt und d. h. es wäre metaphysisch betrachtet kein Seiendes innerhalb der Welt, sondern außerhalb ihrer. Jedes Seiende innerhalb der Welt ist folglich durch andere Seiende innerhalb der Welt zumindest mit verursacht. Nur die Welt in ihrem allerersten Anfang bzw. die Welt als ganzes verdankt sich einzig und allein der göttlichen Ursache. Zum anderen würde ein völlig unvermitteltes Eingreifen Gottes in die Welt gegen seine Göttlichkeit und Transzendenz verstoßen. 482 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die Schöpfung als creatio evolutiva

Gott kann immer nur als Gott, als transzendente göttliche Erstursache wirken. Er kann nicht an die Stelle innerweltlicher Ursachen, der sogenannten Zweitursachen treten. Er kann diese nicht ersetzen. Ansonsten würde er sich selbst zu einer innerweltlichen geschaffenen Entität degradieren, was ihm metaphysisch – von seinem göttlichen Wesen her – unmöglich ist. Gott kann folglich nicht allein das jeweils Neue in der Welt erwirkt haben. Das endliche Seiende in der Welt, die Geschöpfe, müssen das Neue miterwirkt haben, sonst wäre es nichts Neues innerhalb der Welt.

15.3.2 Das Zusammenwirken (cooperatio) bei der Evolution Das schöpferische Wirken Gottes im Sinne der creatio evolutiva lässt sich am besten begreifen als ein die Schöpfung Ermächtigen und Befähigen Gottes. Gott ermächtigt durch sein schöpferisches Wirken das endliche Seiende in der Welt dazu, im Sein wirklich zu wachsen. Der Schöpfergott befähigt die Geschöpfe, um es mit Karl Rahner zu formulieren, zu »aktiver Selbsttranszendenz« 38, also zu aktiver Selbstüberbietung. Der Begriff der aktiven Selbsttranszendenz soll dabei verdeutlichen, dass es einerseits wirklich das endliche Seiende selbst ist, das sich auf ein höheres Sein hin überschreitet, dass dies andererseits aber nur möglich ist »in der Kraft der absoluten Seinsfülle« 39, also in der Kraft Gottes. Mit Nikolaus von Kues gesprochen ist diese aktive Selbstüberschreitung der Geschöpfe nur aus dem posse ipsum, dem Können-Selbst heraus möglich. 40 Bei der Selbstüberbietung der Geschöpfe wirkt Gott im Sinne des concursus divinus mit. Nur weil Gott mitwirkt, können sich Geschöpfe seinsmäßig selbst überbieten, ist Evolution als Höherentwicklung möglich. Die Schöpfung und der Schöpfer wirken in ihrer jeweiligen Ursächlichkeit zusammen, aber weil ihnen eine ganz unterschiedliche Seinsweise zukommt, wirken sie auf grundlegend unterschiedliche Weise. Gott wirkt als völlig transzendente und zugleich der Schöpfung immanente göttliche Erstursache. Die Geschöpfe wirken als innerweltliche endliche Zweitursachen. Aufgrund der völSiehe z. B. Karl Rahner: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg i. Br. 1976 [= GG], 186. 39 GG 186. 40 Siehe Kap. 8.9. 38

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Der Schöpfer

ligen Ungleichartigkeit der Ursächlichkeiten ist das Zusammenwirken (cooperatio) nicht so zu verstehen, dass Gott als Teilursächlichkeit auf derselben Ebene wie die Geschöpfe wirkt und diese ergänzt. Vielmehr ermöglicht Gott als Grund allererst das geschöpfliche Wirken. Gott wirkt im Sinne der creatio evolutiva in der Welt schöpferisch mit. Das bedeutet gerade, dass er die Geschöpfe zur Eigenwirksamkeit befähigt, ihnen Eigenständigkeit und Eigenwirksamkeit verleiht, bis hin zur aktiven Selbstüberbietung. Als inadäquat hat sich somit einerseits die naturalistische Vorstellung von der Evolution als einer Selbstüberbietung der Welt allein aus eigener Kraft und andererseits die letztlich kreationistische Vorstellung von einem gänzlich unvermittelten Eingreifen Gottes in die Schöpfung bei der Evolution gezeigt. Mit dem Begriff der »aktiven Selbstüberbietung in der Kraft Gottes« dürfte hingegen der metaphysische Kern des Evolutionsgeschehens gut getroffen sein. Es stellt sich allerdings noch die Frage, ob Gott bei seinem schöpferischen Wirken im Sinne der creatio evolutiva nur gelegentlich wirkt, nämlich nur dann, wenn es um den Übergang zu wirklich Neuem und Höherem in der Schöpfung geht, oder ob er als schöpferische göttliche Erstursache immer in der Welt wirkt. Hier ist ein Blick zurück auf den zweiten Aspekt des schöpferischen Wirkens Gottes hilfreich, auf die creatio continua im Sinne der conservatio. Bei der Behandlung dieses Aspekts wurde das schöpferische Wirken Gottes als concursus divinus, als göttliches Mitwirken mit den Geschöpfen bestimmt. Gott ermöglicht den Geschöpfen die Selbsterhaltung. Auch der dritte Aspekt des schöpferischen Wirkens Gottes, die creatio evolutiva, erwies sich als concursus divinus, als göttliches Mitwirken mit den Geschöpfen. Gott ermöglicht den Geschöpfen die Selbstentfaltung und Selbstüberbietung. Die beiden Aspekte sind deshalb als Einheit zu betrachten. Es handelt sich um zwei Aspekte oder Momente ein und desselben schöpferischen Wirkens Gottes, des einen concursus divinus. Von der conservatio her ist nun aber klar, dass Gott immer wirkt. Gott wirkt als Erstursache permanent in der Welt. Er ist in der Welt ständig kreativ anwesend. Er ermächtigt die Geschöpfe im Sinne der conservatio zur Selbsterhaltung und im Sinne der creatio evolutiva zur Selbstentfaltung und Selbstüberbietung. Conservatio und creatio evolutiva sind als zwei Aspekte der creatio continua zu begreifen. Hat Gott einmal die Welt im Sinne der creatio ex nihilo erschaffen, dann wirkt er in ihr immer schöpferisch mit, dann ist er in der Schöpfung 484 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die Schöpfung als creatio evolutiva

stets als transzendent-immanente göttliche Erstursache kreativ anwesend, indem er die Geschöpfe zur Selbsterhaltung und zur Selbstüberbietung ermächtigt. Das schöpferische Wirken Gottes besteht im Wesen darin, der Welt Eigensein und Eigenwirksamkeit zu geben. Sein und Werden bzw. Wirken in der Welt sind als ganzes von Gott getragen und ermöglicht.

15.3.3 Die Lehre des Panpsychismus Die christliche Lehre von der creatio evolutiva lässt sich gut mit der metaphysischen Theorie des Panpsychismus oder Panexperientialismus vereinbaren. Dieser Theorie zufolge besitzen alle wirklichen Einzeldinge sowohl physische als auch (proto-)mentale Eigenschaften. 41 Bereits die grundlegenden physikalischen Entitäten, aus denen das Universum aufgebaut ist, weisen so etwas wie einen physischen Pol der kausalen Verursachung und einen geistigen Pol der teleologischen Gründe (Alfred North Whitehead), eine physische Außenseite und eine geistige Innenseite (Pierre Teilhard de Chardin), also eine physische und eine geistige Dimension auf. Dabei gehen die mentalen Eigenschaften in die metaphysische Natur der physikalischen Entitäten ein. Nur weil bereits kleinste physikalische Dinge proto-mentale Eigenschaften, d. h. Vorstufen des Geistigen und Mentalen haben, konnten sich im Laufe der Evolution zunehmend geistige Eigenschaften entwickeln und schließlich Geist erfahrbar aus der Materie hervorgehen. Zu den proto-mentalen Eigenschaften gehören die sogenannten Qualia, unter denen der subjektive Erlebnisgehalt mentaler Zustände zu verstehen ist, sowie alle Empfindungen und Erfahrungen im weitesten Sinn. Sie alle sind Vorformen des menschlichen phänomenalen Bewusstseins und befähigen die Individuen zur informationsverarbeitenden Rezeptivität und damit zur Repräsentation der Welt. Zu den höheren Aspekten des Geistigen zählen dann auch die Subjektivität, die Einheit subjektiven Erlebens, die Teleologie (Zweckgerichtetheit), die Spontaneität (Entscheiden, Freiheit), die Intentionalität Siehe dazu Godehard Brüntrup: Das Leib-Seele-Problem. Eine Einführung (Dritte, durchgesehene und erweiterte Auflage), Stuttgart 2008, 163–177; sowie den Artikel »Panpsychismus« in Wikipedia (Stand: 22. 09. 2016) (https://de.wikipedia.org/wiki/ Panpsychismus).

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Der Schöpfer

(Gerichtetheit), die Wahrnehmung, die Erinnerung und schließlich auch das Erkennen, Denken, Sprechen sowie das Selbstbewusstsein. Panpsychisten sprechen den kleinsten Bauteilen der Welt entweder direkt eine dieser Eigenschaften oder eine Vorform davon zu. Von solchen atomistischen Panpsychisten, für die alle Einzeldinge, auch die kleinsten, eine geistige Dimension besitzen, unterscheiden sich die holistischen Panpsychisten, die der Welt als ganzer geistige Eigenschaften zuschreiben und so die Geistigkeit aller Dinge von der Geistigkeit des Ganzen ableiten. Die Theorie des Panpsychismus erweist sich als anschlussfähig an die Lehre von der creatio evolutiva. Sie lässt sich in diese einordnen und kann diese konkretisieren. Das Wirken Gottes bei der Evolution besagt dann, dass Gott ganz unmittelbar auf die innere, geistige Dimension der Geschöpfe einwirkt und sie auf diese Weise zur Höherentwicklung befähigt. Ausgeschlossen ist jedoch ein unmittelbares Einwirken Gottes auf die physische Dimension der Geschöpfe. Auf diese Dimension nimmt Gott nur indirekt über sein Einwirken auf die mentale Seite Einfluss. 42

15.4 Die Schöpfung als creatio nova Eine Lehre von der Welt, die nur feststellte, dass die Welt existiert, dass das Universum expandiert, dass auf der Erde eine Evolution stattgefunden hat und dass das Universum dem »Energietod« entgegengeht, wäre philosophisch unvollständig. Die Gründe für die Existenz und die Höherentwicklung der Welt blieben ungenannt. Eine Schöpfungslehre, die nur feststellte, dass Gott die Welt allererst aus nichts erschaffen hat und zur Selbsterhaltung und zur Selbstentfaltung befähigt hat, wäre theologisch unvollständig. Eine wesentliche Dimension des Wirkens Gottes in der Schöpfung bliebe ungenannt, die Zukunft der Schöpfung bliebe völlig offen. Die Lehre von der creatio nova schließt diese Lücke. Während jedoch die Lehre von den drei ersten Aspekten oder Dimensionen des Schöpfertums Gottes, die Lehre von der creatio ex nihilo, von der creatio continua und von der creatio evolutiva, sowohl auf theologischen als auch auf philosophischen Überlegungen beruht, kann sich die Lehre vom vierten Aspekt des Schöpfertums Gottes, die 42

Siehe dazu auch Kap. 16.7.

486 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die Schöpfung als creatio nova

Lehre von der creatio nova, nur auf theologische Voraussetzungen stützen. Diese Lehre setzt einen ganz spezifischen, christlichen Glauben voraus. Es fragt sich, wie die im Glauben angenommene creatio nova philosophisch angemessen zu denken ist. Schöpfung als creatio nova (Neuschöpfung) lässt sich als Erneuerung und Vollendung der Welt charakterisieren. Bei dieser Art von Schöpfung geht es nicht nur um die letzte Vollendung des einzelnen Menschen bei der Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag oder um die letzte Vollendung der Welt als ganzer bei der Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten, sondern um ein Geschehen, das schon mitten im Leben des Einzelnen beginnen kann und in der Geschichte der Welt schon begonnen hat. Die Erneuerung bzw. der Beginn der Vollendung des Einzelnen und der Welt kommt in verschiedenen Wendungen im Neuen Testament zum Ausdruck. So verkündet Jesus: Das Reich Gottes ist nahe, ja es ist schon zu euch gekommen (vgl. Lk 11,20). Wer glaubt, hat bereits das ewige Leben (vgl. Joh 5,24). Die Auferstehung erfolgt nicht erst nach dem Tod, sie kann schon mitten im Leben beginnen (vgl. Joh 11,25 f.). Wir haben Gnade über Gnade empfangen (vgl. Joh 1,16). In Christus sind wir eine neue Schöpfung (vgl. 2 Kor 5,17). Paulus kann von sich sagen: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir (Gal 2,20). Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist (Röm 5,5), usf. Was bedeuten diese biblisch-religiösen Aussagen metaphysisch? Was ist ihr metaphysischer Kern? Zunächst einmal ist festzustellen, dass es sich bei der Erneuerung und Vollendung der Schöpfung nicht um Sachverhalte handelt, die ganz offen zu Tage liegen, die jedermann ganz selbstverständlich erkennen und zur Kenntnis nehmen kann, wie das bei den bisherigen Aspekten der Schöpfung in gewissem Sinn der Fall war. Dasein, Beschaffenheit und evolutive Entwicklung der Welt sind offenkundige Sachverhalte, sind Voraussetzung und Gegenstand vor allem auch der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Bei der creatio nova geht es nicht um offenkundige Sachverhalte, die zwar unterschiedlich gedeutet werden können, aber als solche allgemein erkennbar sind, sondern um Sachverhalte, die als solche nur dem Glauben und der Glaubenserfahrung zugänglich sind. Die Erneuerung und die Vollendung der Welt ist in keiner Weise Gegenstand empirischer Erkenntnis, sondern ausschließlich Gegenstand der Glaubenserkenntnis. Nur im Glauben ist dem Menschen die Erneuerung der Welt durch Gott einsichtig, 487 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Schöpfer

nur unter theologischen Voraussetzungen vermag der Mensch auf die Vollendung der Menschen und der Welt durch Gott zu hoffen. Was macht aber, noch einmal gefragt, den metaphysischen Kern dieses Glaubens aus? Die metaphysische Struktur des Geglaubten soll hier anhand des Begriffs der »Gnade« erläutert werden. Was ist Gnade? Worin besteht sie? Nach Karl Rahner ist Gnade im Wesentlichen Selbstmitteilung Gottes im strikten Sinn des Begriffs. 43 Bei der Gnade teilt Gott nicht etwas von ihm Verschiedenes mit, sondern sich selbst, d. h. sein eigenes göttliches Leben. Gnade als Selbstmitteilung Gottes setzt natürlich ein bereits existierendes Geschöpf voraus, das die Gnade empfangen kann. Gott teilt seine Gnade einem Geschöpf mit, indem er ihm etwas von seiner eigenen göttlichen Wirklichkeit schenkt. Hier wird nun sofort deutlich, dass es bei dieser Art von »schöpferischem« Wirken Gottes, nämlich bei seinem gnadenhaften Wirken, um eine ganz andere Art von Wirken geht als bei den bisher untersuchten Aspekten des schöpferischen Wirkens Gottes. Bei der creatio ex nihilo setzt Gott allererst die Welt als von ihm verschiedene, nichtgöttliche Wirklichkeit ins Dasein. Bei der creatio continua als conservatio befähigt Gott die Geschöpfe ihr eigenes Sein, also ihre nichtgöttliche Wirklichkeit zu erhalten. Bei der creatio continua im Sinne der creatio evolutiva entsteht als Neues wiederum nichtgöttliche Wirklichkeit. Gott ermächtigt die Geschöpfe aus sich heraus höheres Sein hervorzubringen, aber dieses Sein ist immer noch nichtgöttliche Wirklichkeit. Das, was Gott schöpferisch wirkt oder mitbewirkt, war bisher immer nichtgöttliche Wirklichkeit. Ganz anders verhält es sich bei der creatio nova. Hier bringt Gott durch sein gnadenhaftes Wirken sein eigenes göttliches Leben in die Welt. Das Neue, das durch dieses Wirken in die Welt kommt, ist nicht nichtgöttlicher, also weltlicher, sondern göttlicher Natur. Zwischen dem gnadenhaften und dem »gewöhnlichen« schöpferischen Wirken Gottes besteht demzufolge ein grundsätzlicher und wesentlicher metaphysischer Unterschied. Während beim »gewöhnlichen« schöpferischen Wirken Gottes im Sinne der creatio evolutiva die neue Wirklichkeit, die in der Welt entsteht, nichtgöttlicher Natur ist, ist beim gnadenhaften Wirken Gottes die neue Wirklichkeit, die in die Welt kommt, göttlicher Natur. Wie steht es aber bei der creatio nova mit dem concursus divi43

Siehe Kap. 13.2.

488 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die Schöpfung als creatio nova

nus, also dem Zusammenwirken von Schöpfer und Geschöpf, das bei der creatio continua sowohl in ihrem Aspekt der conservatio als auch in ihrem Aspekt der creatio evolutiva festgestellt wurde? Wirkt Gott bei der creatio nova, da es doch um die Mitteilung göttlicher Wirklichkeit an die Welt geht, ganz allein oder gibt es auch hier ein Zusammenwirken von Schöpfer und Geschöpf? Die Selbstmitteilung Gottes im strikten Sinn als Mitteilung seines göttlichen Lebens selbst setzt, wie gesagt, die Schöpfung als nichtgöttliche Wirklichkeit voraus, aber auch deren Bereitschaft und Fähigkeit, diese Selbstmitteilung zu empfangen. Diese Bereitschaft und Fähigkeit ist vor allem beim Menschen gegeben, ist er doch das Wesen, das dank seiner geistigen, im Prinzip unbegrenzten Offenheit metaphysisch so beschaffen ist, dass es das unendliche Leben Gottes empfangen kann. Beim Menschen zeigt sich nun, dass Gott niemandem seine Gnade aufdrängt. Gott bietet jedem seine Gnade an. Dem Menschen steht es aber frei, diese Gnade anzunehmen oder abzulehnen. Die Gnade Gottes wird im Leben des Menschen und damit in der Welt nur wirksam, wenn der Mensch sie in Freiheit annimmt. Nimmt der Mensch die angebotene Gnade Gottes in Freiheit an, dann wird sie ein inneres Moment seiner selbst, das für ihn selbst ein qualitatives Mehr bedeutet und ihn sozusagen »übernatürlich« erhöht. Mit jeder angenommenen Gnade kommt somit etwas wirklich Neues, etwas qualitativ Höheres in das Leben und in die Existenz eines Menschen und damit in die Welt. Dieses Neue in der Welt ist aber durch die Freiheit des Menschen vermittelt. Ohne menschliche freie Zustimmung würde die Gnade in der Welt nicht wirksam, ohne ihre freie Annahme käme nichts gnadenhaft Neues in die Welt. In diesem Sinne kann und muss man sagen, dass auch beim gnadenhaften Wirken Gottes in der Welt geschöpfliche Zweitursachen, besonders in Gestalt menschlicher Freiheit, mitwirken. Das Wirken der Geschöpfe, genauer des Menschen, bei der creatio nova besteht im Wesentlichen in der freien Zustimmung, im freien Empfang, und nicht in einem aktiven Aus-sich-selbst-Hervorbringen. Der Mensch kann die göttliche Gnade nicht aus sich hervorbringen. Kein Geschöpf kann als nichtgöttliche Wirklichkeit aus sich göttliche Wirklichkeit hervorbringen. Insofern ist im Gegensatz zur creatio evolutiva bei der creatio nova der Begriff einer aktiven Selbsttranszendenz unangebracht. Bei der creatio evolutiva bringt das Geschöpf aus sich heraus in der Kraft Gottes neue nichtgöttliche Wirklichkeit hervor. Bei der creatio nova nimmt das Geschöpf, genauer der 489 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Schöpfer

Mensch, in der Kraft Gottes die allein von Gott kommende göttliche Wirklichkeit an. Insofern diese Wirklichkeit, wenn der Mensch sie sich aneignet, ein echtes qualitatives Mehr und etwas wirklich Neues im Menschen und damit in der Welt bedeutet, kann man auch hier von einer Selbstüberbietung sprechen, aber im Unterschied zur creatio evolutiva nicht von einer aktiven, sondern von einer frei empfangenen Selbstüberbietung. Creatio nova stellt somit eine frei empfangene Selbstüberbietung der Geschöpfe dar. Bei der creatio nova »erneuert« Gott die Welt, indem er sich ihr als er selber mitteilt. Die erste »neue Schöpfung« im vollen Sinn des Wortes ist nach christlicher Überzeugung Jesus Christus. Ihm hat sich Gott in seiner ganzen göttlichen Fülle mitgeteilt. Und er hat als Mensch in Freiheit diese göttliche Selbstmitteilung ganz angenommen. Aber nicht nur Christus, sondern jeder Mensch, insoweit er die ihm von Gott angebotene Gnade angenommen hat, darf als neue Schöpfung betrachtet werden. Wird gesagt, Christus sei die erste neue Schöpfung oder die neue Schöpfung habe mit ihm begonnen, so ist das nicht unbedingt zeitlich zu verstehen, als habe es vor Christus keine Gnade und kein Wirken des Hl. Geistes in der Welt gegeben. Es hat schon vor Christus Gnade Gottes, ein Wirken des Heiligen Geistes in der Welt gegeben, aber sozusagen auf Christus hin, als Vorbereitung auf Christus. Aber mit dem Christusereignis hat die Selbstmitteilung Gottes an die Welt eine ganz neue Dimension erhalten. Mit und durch Christus ist das Reich Gottes in der Welt angebrochen. Seit dem Christusereignis ist das Wirken des Geistes Gottes in der Welt wesentlich intensiviert. Das alles ist freilich nur unter theologischen Voraussetzungen bzw. im Glauben einsichtig und nachvollziehbar. Im Glauben an die Auferstehung Jesu Christi gründet der christliche Glaube, dass Gott alle Menschen auferwecken und vollenden will und dass er die Welt als ganze vollenden wird. Vollendung der Geschöpfe und der Schöpfung insgesamt bedeutet, wie anhand der Gnade ausgeführt, nichts Geringeres als ihre Vergöttlichung, ihre Teilnahme am göttlichen Leben selbst. Die Vollendung der Welt steht nicht noch einfachhin aus, sie hat bereits mit ihrer »Erneuerung« in und durch Christus begonnen. Die Vergöttlichung der Welt ist schon lange im Gange. Letzte Vollendung des Menschen heißt nach christlichem Glauben und christlicher Hoffnung Auferstehung von den Toten und visio beatifica, unmittelbare Schau Gottes in vollkommener Glückseligkeit. 490 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die Schöpfung als creatio nova

Was die letzte Vollendung der Welt als ganzer beinhaltet, darüber lässt sich spekulieren. Werden sämtliche Geschöpfe am Leben Gottes teilhaben? Wird Gott die Schöpfung in einem einmaligen Akt, in dem er analog zur creatio ex nihilo ganz alleine wirkt, vollenden oder wird er die Eigenaktivität der Schöpfung bei ihrer letzten Vollendung einbeziehen? Diese metaphysischen Fragen können zumindest an dieser Stelle offen bleiben. Laut Neuem Testament wird jedenfalls Gott nach der Vollendung der Welt »alles in allem« (1 Kor 15,28) sein. Die Lehre von der creatio nova besagt demnach in ihrem metaphysischen Kern, dass Gott bereits begonnen hat, die Welt zu vergöttlichen, und dass er die Welt vollends vergöttlichen wird, d. h. an seinem göttlichen Leben teilhaben lassen wird.

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16. Der Allmächtige Gottes Zusammenwirken mit der Welt

Alle christlichen Glaubensbekenntnisse sagen von Gott aus, er sei allmächtig. 1 Metaphysisch folgt die Allmacht Gottes aus seinem vollkommenen, absoluten, notwendigen und unendlichen Wesen. 2 Gott kann im Sinne der potentia absoluta alles erschaffen, was möglich ist. Eine eigentliche positive und definitive Eingrenzbarkeit des Möglichen ist bei ihm an sich nicht denkbar. 3 In diesem Kapitel soll es nicht um die Allmacht Gottes als solche gehen, also nicht um die Frage, was Gott in seiner Allmacht alles möglich ist, sondern um sein tatsächliches allmächtiges Wirken in unserer tatsächlichen Welt. Deshalb lautet hier die Frage: Wie wirkt der allmächtige Gott in der Welt und was bewirkt er alles in der Welt? Dazu werden im Folgenden fünf Positionen dargelegt und beurteilt.

Zur Allmacht Gottes siehe Jan Bauke-Ruegg: Die Allmacht Gottes. Systematischtheologische Erwägungen zwischen Metaphysik, Postmoderne und Poesie, Berlin/ New York 1998; Wolf Krötke: Gottes Klarheiten. Eine Neuinterpretation der Lehre von Gottes »Eigenschaften«, Tübingen 2001, 201–245; Klaus von Stosch: Allmacht als Liebe denken: Zur Verteidigung einer theologischen Grunderkenntnis neuerer Theologie, in: Thomas Marschler/Thomas Schärtl (Hg.): Eigenschaften Gottes. Ein Gespräch zwischen systematischer Theologie und analytischer Philosophie, Münster 2016, 251–266. 2 Wie etwa die Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe folgen auch die Allmacht und die Allwissenheit aus dem ontologischen Gottesbegriff, demzufolge Gott unübertrefflich, d. h. absolut vollkommen ist. Siehe dazu Markus Enders: Zur Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe des unübertrefflichen Gottes. Oder: Lässt sich aus dem ontologischen Gottesbegriff ein gerecht und barmherzig richtendes Wirken Gottes ableiten?, in: Felix Resch (Hg.): Die Frage nach dem Unbedingten. Gott als genuines Thema der Philosophie. Festschrift zu Ehren von Prof. Dr. Josef Schmidt SJ, Dresden 2016, 247–267. 3 Vgl. Karl Rahner: Allmacht, in: Josef Höfer/Karl Rahner (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche (Zweite Auflage) Erster Band, Freiburg i. Br. 1957, 353–355. Siehe auch Kap. 8.9. 1

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Die Option von der Alleinwirksamkeit

16.1 Die Option von der Alleinwirksamkeit Eine erste Position deutet die Allmacht Gottes philosophisch-theologisch als Alleinwirksamkeit Gottes oder – was hier dasselbe bedeutet – als Allwirksamkeit oder Allursächlichkeit Gottes. Diese Position wurde im Christentum in gewissem Sinn von Luther und Calvin vertreten. Zu dieser Option tendieren auch Traditionen im Islam. Die Option besagt, dass alles, was in der Welt geschieht, von Gott allein verursacht ist. Alles, was sich in der Welt ereignet, ist von Gott positiv gewollt und von ihm allein sowie unvermittelt bewirkt, d. h. ohne Vermittlung durch weltliche Ursachen, die sogenannten Zweitursachen. Alles ist somit von Gott bestimmt bzw. determiniert. Gott übt seine Allmacht aus, indem er alles Geschehen in der Welt allein herbeiführt. Gegen diese Position lassen sich wenigstens drei massive Einwände erheben. 1. Eine faktische Alleinwirksamkeit Gottes in der Welt würde die Freiheit des Menschen und somit seine moralische Verantwortlichkeit aufheben. Bewirkt Gott alles allein in der Welt, dann determiniert er auch alles in der Welt. Ist aber alles determiniert, dann besitzt der Mensch keine echte Willensfreiheit mehr; denn diese würde voraussetzen, dass der Mensch unter denselben Bedingungen auch anders entscheiden könnte. Verursacht Gott alles allein in der Welt, dann ist sogar eine äußere Handlungsfreiheit des Menschen ausgeschlossen, denn dann ist Gott das einzig wirksam handelnde Subjekt in der Welt. Wer an menschlicher Freiheit festhalten will, muss deshalb die These von der Alleinwirksamkeit Gottes ablehnen. 2. Ein weiteres Problem der faktischen Allwirksamkeit Gottes ergibt sich im Zusammenhang der Theodizee-Problematik. 4 Wäre Gott allwirksam, dann wäre er auch der Urheber aller Übel in der Welt. Sämtliche natürliche Übel wären unmittelbar von ihm bewirkt. Aber auch alle moralischen Übel, jede sündhafte Handlung des Menschen, jede menschliche Verfehlung wäre von Gott selbst hervorgebracht, da es keine signifikante Freiheit des Menschen mehr gäbe. Selbst die Werke Satans wären von Gott hervorgerufen.

Siehe Armin Kreiner: Das wahre Antlitz Gottes – oder was wir meinen, wenn wir Gott sagen, Freiburg i. Br. 2006 [= Kreiner 2006], 314 f.

4

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Der Allmächtige

Ein allwirksamer Gott, der sämtliche Übel in der Welt verursacht und sogar allein verursacht, könnte zwar als allmächtiger Gott verstanden werden, niemals mehr aber als allgütiger Gott. Im Namen der Güte Gottes ist daher die These von der Allursächlichkeit Gottes zurückzuweisen. 3. Das dritte und entscheidende Problem der faktischen Alleinursächlichkeit Gottes besteht darin, dass sie die Lehre von der Schöpfung ad absurdum führt. 5 Der Begriff einer von Gott durchgängig bestimmten und vollkommen kontrollierten Welt ergibt weder metaphysisch noch theologisch einen Sinn. Denn eine von Gott vollständig bestimmte Schöpfung ließe sich kaum mehr als von Gott verschiedene Wirklichkeit verstehen. Zum Wirklichsein gehören eine gewisse ontologische Eigenständigkeit und Eigenwirksamkeit. Zum Wirklichsein gehören die Fähigkeit und die Macht zu wirken, d. h. sich selbst und andere Dinge beeinflussen zu können. Eine Schöpfung ohne jedes eigene Wirken wäre geradezu eine Schöpfung ohne eigene Wirklichkeit. Dass die Schöpfung echte Wirklichkeit ist, erfahren wir aber auf vielfältige Weise. Ihr jede Kausalität abzusprechen, ist daher metaphysisch abwegig. Aber auch theologisch ergibt die These von einer durchgängig von Gott bestimmten Schöpfung keinen Sinn. Die für die monotheistischen Religionen zentrale Rede von einer dialogischen Beziehung, einem Bund oder einer Partnerschaft zwischen Schöpfer und Geschöpf setzt nämlich ebenfalls voraus, dass die geschaffene Wirklichkeit eine gewisse Eigenständigkeit Gott gegenüber besitzt. Ansonsten entpuppt sich der Dialog zwischen Schöpfer und Geschöpf als göttliches Selbstgespräch. Alles in allem erweist sich die Theorie von der Alleinwirksamkeit Gottes als völlig unhaltbar. Insofern sie jegliche Eigenwirksamkeit der Welt leugnet, stellt sie eine metaphysische Absurdität dar.

16.2 Das interventionistische Modell Eine zweite Position zur philosophisch-theologischen Deutung des allmächtigen Wirkens Gottes zeichnet sich im interventionistischen Modell ab. Gemäß diesem Modell verläuft die innerweltliche Ereig-

5

Vgl. Kreiner 2006, 316.

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Das interventionistische Modell

nisabfolge normalerweise nach den weltimmanenten Gesetzmäßigkeiten. Aber Gott hat die Macht, jederzeit in das Weltgeschehen einzugreifen, und er greift tatsächlich wenigstens gelegentlich direkt in den Lauf der Dinge ein. Unter göttlichem Eingriff ist dabei ein Wirken Gottes in der Welt zu verstehen, bei dem innerweltliche Zweitursachen in keiner Weise mitwirken und das damit ein alleiniges Wirken Gottes in der Welt darstellt. Als Kandidaten für solch ein Eingreifen Gottes galten und gelten traditionell die Wunder. Sie sind außergewöhnliche Ereignisse, die der Mensch mit natürlichen Ursachen nicht erklären kann. Im interventionistischen Modell werden sie als spezielle göttliche Interventionen begriffen, die den natürlichen Ereignisverlauf beschleunigen, überragen oder ihm gar widersprechen, also die Naturgesetze durchbrechen. Das interventionistische Modell göttlichen Handelns scheint weitgehend der Vorstellungswelt der Bibel zu entsprechen. Es war lange Zeit das vorherrschende Modell in der christlichen Theologie und unter den christlichen Gläubigen. Aber gegen dieses Modell sprechen drei gewichtige Argumente, zwei metaphysische, die eng miteinander zusammenhängen, und ein theologisches. 1. Ein erster Einwand betrifft die Verendlichung Gottes. Würde Gott im Sinne des interventionistischen Modells zumindest gelegentlich als alleinige Ursache in den Ereignisverlauf der Welt eingreifen, dann würde er jeweils an Stelle einer endlichen innerweltlichen Ursache wirken, damit aber auch wie eine und als eine endliche innerweltliche Zweitursache. Das interventionistische Modell hat von daher eine Verendlichung und Verweltlichung Gottes zur Folge. Dies steht aber im Widerspruch zur Göttlichkeit und Transzendenz Gottes. Würde Gott beispielsweise die Plattentektonik der kontinentalen und ozeanischen Erdkruste so stabilisieren, dass keine Erd- und Seebeben mehr entstehen könnten, würde er wie eine physische Kraft und damit wie eine und als eine endliche innerweltliche Zweitursache wirken. Oder würde Gott, um menschliches Unheil zu verhindern, Kugeln und Raketen umleiten und Minen entschärfen, würde er wie ein physikalisches Objekt und somit als endliche innerweltliche Zweitursache wirken. 6 Das ist aber mit seiner Göttlichkeit und Transzen-

Vgl. Bernhard Grom: Deistisch an Gott glauben? Biblische Spiritualität und naturwissenschaftliches Weltbild, in: Stimmen der Zeit, Heft 1 – Januar 2009, Band 227, 40–52, hier 49.

6

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Der Allmächtige

denz nicht zu vereinbaren. Gott kann in der Welt nur als Erstursache, und d. h. auf göttliche und unendliche Weise wirken, nicht aber – wie eine innerweltliche Zweitursache – auf weltliche, endliche Weise. Damit kann er auch nicht als alleinige Ursache in das Weltgeschehen als solches eingreifen. Im Namen der prinzipiellen Unendlichkeit, Andersartigkeit und Transzendenz Gottes, kurz im Namen der Göttlichkeit Gottes, ist daher das interventionistische Modell abzulehnen. 2. Ein zweiter Einwand bezieht sich auf die Preisgabe der metaphysischen Geschlossenheit der Welt. Nach dem metaphysischen Kausalitätsprinzip gibt es für jede innerweltliche Entität und für jedes innerweltliche Ereignis zumindest auch eine innerweltliche metaphysische Ursache. Würde Gott im Sinne des interventionistischen Modells in die Welt eingreifen, dann würde dies den innerweltlichen metaphysischen Kausalzusammenhang stören oder gar zerstören. Es würde die Kontinuität und Einheit unserer Welterfahrung aufheben. Denn dann gäbe es absolute Anfangspunkte von Ereignisfolgen in der Welt, zu denen innerweltliche Entitäten in keiner Weise beitragen würden. Solche Ereignisse in der Welt, die metaphysisch ausschließlich von Gott abhingen, bildeten sozusagen metaphysische »Fremdkörper« in der Welt. Tatsächlich stehen – unserer Erfahrung nach – innerweltliche Ereignisse auch jeweils in einem Zusammenhang mit anderen innerweltlichen Ereignissen. Wer daher den innerweltlichen Zusammenhang bejaht, der Inhalt und zugleich notwendige Voraussetzung und unabdingbarer Rahmen all unserer Erfahrungen mit der Welt ist, muss konsequenterweise das interventionistische Modell verneinen. 3. Ein dritter, besonders gewichtiger Einwand betrifft das Theodizee-Problem. Schließt die Allmacht Gottes die Macht ein, jederzeit in den innerweltlichen Ereignisablauf als einzige Ursache eingreifen zu können, mithin auch jederzeit helfend und heilend in ihn eingreifen zu können, dann stellt sich die Frage, warum Gott dies in unzähligen Fällen unterlässt. Warum greift Gott nicht öfter zum Wohl seiner Geschöpfe in die Schöpfung ein? Warum bewahrt er seine Geschöpfe nicht öfter vor Leid? Warum hat Gott die beiden Weltkriege, die Shoah, den Großen Sprung nach vorn in China, den Steinzeitkommunismus in Kambodscha oder den Tsunami von 2004 und von 2011 nicht verhindert? Es wäre ihm nach interventionistischem Verständnis ein Leichtes gewesen. Gott scheint die schlimmsten natürlichen Katastrophen und die abscheulichsten menschlichen Verbrechen in der Welt zuzulassen, ohne verhindernd einzugreifen, obwohl 496 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die prozesstheologische Sicht

er dies dem interventionistischen Modell zufolge könnte. Ein solches Verhalten Gottes würde aber wiederum seiner Güte widersprechen. Ein Gott, der in seiner Allmacht die Möglichkeit hat, das Leid in der Welt ohne Weiteres zu verhindern oder zu lindern, dies aber unterlässt, kann kaum mehr als gütiger Gott angesehen werden. Eine Allmacht Gottes im interventionistischen Verständnis wäre mit der Allgüte Gottes unvereinbar. Wer daher an der Güte Gottes festhalten will, muss konsequenterweise das interventionistische Modell von der Allmacht Gottes zurückweisen.

16.3 Die prozesstheologische Sicht Eine dritte, ganz eigene Position bei der philosophisch-theologischen Deutung der Allmacht Gottes präsentiert die Prozesstheologie. Zwei Thesen dieser Theologie sind im Zusammenhang des allmächtigen Wirkens Gottes in der Welt besonders wichtig. 1. Gott übt bei seinem Wirken in der Welt niemals Zwang aus. 2. Beim Wirken Gottes in der Welt steht die Liebe, nicht die Macht im Vordergrund. Zu 1. Gott übt bei seinem Wirken in der Welt niemals Zwang aus. Die beiden bisher vorgestellten Modelle vom Wirken Gottes in der Welt gehen davon aus, dass Gott durch »Zwang«, d. h. völlig einseitig in der Welt wirken kann und tatsächlich so in der Welt wirkt. Nach dem Modell von der Alleinursächlichkeit Gottes übt Gott permanent Zwang auf die Welt aus, insofern er immer vollständig einseitig auf die Welt einwirkt. Nach dem interventionistischen Modell übt Gott zumindest gelegentlich Zwang auf die Welt aus, insofern er bei speziellen Interventionen vollkommen einseitig die Welt beeinflusst. Im Gegensatz dazu schließt die Prozesstheologie jedes Handeln Gottes durch Zwang kategorisch aus. Ihr zufolge wirkt Gott niemals durch Zwang in der Welt, weil er nicht durch Zwang in der Welt wirken kann. Und er kann in der Welt nicht durch Zwang wirken, weil er die Welt nicht erschaffen hat. Nach prozesstheologischer Überzeugung wurde die Welt nämlich nicht von Gott aus nichts erschaffen. Vielmehr existiert sie von sich aus seit Ewigkeit und ist somit Gott vorgegeben. Deshalb kann Gott auch ihre grundlegende metaphysische Beschaffenheit nicht aufheben oder radikal verändern. Zu den von Gott vorgefundenen metaphysischen Grund497 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Allmächtige

strukturen der Welt »gehört die unterschiedlich bemessene Macht weltlicher Entitäten, sich selbst zu bestimmen und andere Entitäten kausal zu beeinflussen. Diese Macht kann Gott nicht nach Belieben außer Kraft setzen.« 7 Wirkt Gott in der Welt, ist er daher auf die Kooperation der Geschöpfe angewiesen. Gott kann, wenn er in der Welt wirkt, immer nur mit der Welt und ihren Zweitursachen zusammenwirken, nie aber einseitig auf die Welt einwirken und so Zwang ausüben. Zu 2. Beim Wirken Gottes in der Welt steht die Liebe, nicht die Macht im Vordergrund. Nach prozesstheologischer Überzeugung ist überhaupt nicht die Macht, sondern die Liebe das zentrale Wesensmerkmal Gottes. Jesus Christus hat das Wesen Gottes nicht als Macht, sondern als Liebe geoffenbart. Das Kennzeichen von Liebe besteht aber darin, nicht durch Zwang, sondern durch Einladung zu wirken. 8 Gott interveniert nicht an bestimmten Raum-Zeit-Stellen der Welt, wie das der Interventionismus nahelegen könnte, sondern handelt permanent in der Welt durch Einladung oder Überzeugung. Sein Einfluss besteht darin, die Geschöpfe dazu einzuladen oder zu »locken«, sich seinem Willen entsprechend zu verhalten, d. h. ihre eigenen Möglichkeiten optimal auszuschöpfen, indem sie neue und immer wertvollere und intensivere Erfahrungen machen. Gott will, dass möglichst alle Geschöpfe eine möglichst hohe Seins- bzw. Lebensqualität erreichen. So besteht beispielsweise der Sinn menschlichen Lebens nicht primär darin, sich moralisch zu bewähren, eine moralische Haltung einzunehmen, moralische Gesetze zu befolgen. Die Prozesstheologie lehnt die Vorstellung von Gott als »kosmischem Moralisten« vehement ab.9 Vielmehr besteht ihr zufolge der primäre Sinn des menschlichen Lebens darin, mit der Hilfe Gottes die Seins- und Lebensqualität, die Lebensfreude und den Genuss des Lebens in der Welt zu mehren. 10 Gott wirkt folglich in Liebe in der Welt, indem er die Geschöpfe permanent dazu einlädt und motiviert, die eigenen positiven Seins- und Lebensmöglichkeiten zu verwirklichen.

Kreiner 2006, 334 f. Vgl. Kreiner 2006, 335. 9 Siehe John B. Cobb/David R. Griffin: Prozess-Theologie. Eine einführende Darstellung, Göttingen 1979 [= Cobb/Griffin 1979], 8. 10 Vgl. Cobb/Griffin 1979, 53–56. 7 8

498 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die prozesstheologische Sicht

Die Prozesstheologie hat ganz offensichtlich ihre Stärken und ihre sympathischen Züge. Eine ihrer großen Stärken liegt darin, mit ihrer Sicht der Macht Gottes das Theodizeeproblem konsistent lösen zu können. Gott verhindert Übel und Leid in der Welt nicht, weil er sie wegen der Vorgegebenheit und Eigenständigkeit der Welt nicht verhindern kann. Außerdem zeichnet die Prozesstheologie ein sympathisches Bild von Gott. Ein Gott, der nicht durch Zwang, sondern ausschließlich durch Liebe in der Welt wirkt, indem er die Geschöpfe dazu einlädt, lockt oder motiviert mit seiner Hilfe sich selbst auf höhere Seins- und Lebensqualität hin zu überbieten, ist zweifellos sympathischer als ein Gott, der die Geschöpfe zu bestimmtem Verhalten zwingt. Ein Gott, der permanent in der Welt durch Liebe wirkt, ist sympathischer und vertrauenswürdiger als ein Gott, der nur gelegentlich in die Welt eingreift. Und ein Gott, der immer mit den Geschöpfen zusammenwirkt, sodass sie als Partner Gottes erscheinen, ist sympathischer und letztendlich liebenswerter als ein Gott, der über die Geschöpfe hinweg oder gar gegen den Willen der Geschöpfe einseitig in der Welt wirkt. Dennoch ist die prozesstheologische Position mit gravierenden Problemen behaftet. Diese rühren letztlich alle daher, dass die Prozesstheologie die traditionelle Schöpfungslehre weitgehend aufgibt und damit die Allmacht Gottes metaphysisch ganz wesentlich einschränkt. Die Prozesstheologie lehnt sowohl den Gedanken der creatio ex nihilo, wonach Gott die Welt aus nichts erschaffen hat, als auch den Gedanken der creatio continua, wonach Gott die Schöpfung im Sein erhält, ab. Sie kennt nur den Gedanken der creatio evolutiva, wonach Gott die Materie dazu motiviert hat, sich immer höher – zu Leben, Bewusstsein und Selbstbewusstsein – zu entwickeln. Diese Reduzierung der Schöpfungslehre zieht konkret zwei schwerwiegende Probleme nach sich, ein metaphysisches und ein theologisches, genauer gesagt, ein eschatologisches. 1. Das metaphysische Problem Prozesstheologen nehmen an, die Welt existiere seit Ewigkeit und unabhängig von Gott. Sie deklarieren die Existenz der Welt sowie ihre ursprüngliche Beschaffenheit zu metaphysischen Notwendigkeiten. Ist dies aber mehr als eine bloße Deklaration? Ist nicht auch eine Welt, die faktisch ewig existiert, insofern eine kontingente Welt, als sie auch nicht hätte existieren können? Und ist die metaphysische Beschaffenheit der Welt, die es Gott überhaupt erst erlaubte, die Ma499 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Allmächtige

terie zur Evolution einzuladen, nicht insofern kontingent, als sie auch anders hätte sein können, sodass sich Leben, Bewusstsein und Geist nicht hätten entwickeln können? Aufgrund ihrer Kontingenz bedürfen die Existenz und die Beschaffenheit der Welt nach dem Satz vom zureichenden Grund einer metaphysisch stichhaltigen Begründung in Form einer Rückführung auf wirklich Notwendiges. Sie erklären sich nicht von allein. Infolge der Preisgabe der Lehre von der creatio ex nihilo bleiben Existenz und Beschaffenheit der Welt in der Prozesstheologie metaphysisch unbegründet. 2. Das theologisch-eschatologische Problem Da Gott nach prozesstheologischer Auffassung die Welt nicht erschaffen hat, ist jedes einseitige Handeln Gottes in und an der Welt ganz prinzipiell ausgeschlossen. Kann Gott dann aber den einzelnen Menschen vollenden, ihn also von den Toten erwecken? Mehr noch: kann Gott dann die Welt als ganze – auch in ihrer Materialität – vollenden? Die Vollendung des Menschen und die Vollendung der Welt sind zentrale Inhalte des christlichen, aber auch des jüdischen und des islamischen Glaubens und der jüdisch-christlich-islamischen Hoffnung. Ein Gott, der nicht die Macht hat, die Welt mit einer bestimmten Beschaffenheit aus nichts zu erschaffen, scheint auch nicht die Macht haben zu können, die Welt zu vollenden. Ein Gott, dem die Materialität der Welt vorgegeben ist, kann die Welt in ihrer Materialität auch nicht vollenden. Ein solcher Gott kann nicht garantieren, dass die Welt ihr Ziel, nämlich die volle Gemeinschaft oder Einheit mit Gott erreicht. Damit bricht aber ein zentraler Inhalt christlichen Glaubens und Hoffens weg. Soll die christliche Hoffnung nicht im Wesentlichen preisgegeben werden, ist wenigstens im Blick auf die letzte Vollendung der Welt die Möglichkeit eines einseitigen Handelns Gottes analog zu seinem einseitigen Handeln bei der Schöpfung aus nichts einzuräumen. Als Fazit lässt sich daher festhalten: Indem die Prozesstheologie wesentliche Teile der Schöpfungslehre fallen lässt, schränkt sie die Allmacht Gottes erheblich ein oder hebt sie gar auf. Der prozesstheologische Gott ist, pointiert gesagt, zwar ein liebender und liebenswürdiger Gott, aber auch ein metaphysisch schwacher, wenn nicht gar ohnmächtiger Gott.

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Die Auffassung des open view

16.4 Die Auffassung des open view Eine vierte philosophisch-theologische Position bezüglich der Allmacht Gottes stellt die Auffassung des sogenannten open view of God (auch open theism) dar. 11 Diese Position wird von Clark Pinnock und anderen vertreten und wird im evangelikalen Bereich heftig diskutiert. 12 Der open view sucht einen Kompromiss zwischen dem traditionellen Theismus und der Prozesstheologie, indem er zwar einerseits einige prozesstheologische Anliegen aufgreift, aber andererseits am traditionellen Allmachtsbegriff festhält. Der open view identifiziert den »klassischen« oder »konventionellen« Theismus vielfach mit der These der Allursächlichkeit Gottes und lehnt diese im Einklang mit der Prozesstheologie als inakzeptabel ab. »Dem klassischen Theismus gelinge es nicht, auf kohärente Weise der Autonomie und Freiheit der geschaffenen Wirklichkeit gerecht zu werden. Die kausale Beeinflussung verlaufe hier einseitig von Gott zur Welt, eine umgekehrte Beeinflussung werde entweder explizit ausgeschlossen oder lasse sich nicht mehr plausibel und kohärent integrieren. Dieser Ansatz widerspreche dem biblischen Befund, der gelebten Glaubenspraxis und führe außerdem zu unüberwindlichen Schwierigkeiten bei der Beantwortung des Theodizee-Problems, weil Gott letztendlich auch als Urheber des Übels erscheine. Diese Schwachpunkte habe der Prozesstheismus im Wesentlichen erkannt und zu Recht kritisiert.« 13

Andererseits geht für den open view die Prozesstheologie in ihrer Kritik am klassischen Theismus zu weit. Vor allem ihre Allmachtskritik sei überzogen.

Zum open theism siehe Johannes Grössl: Die Freiheit des Menschen als Risiko Gottes. Der Offene Theismus als Konzeption der Vereinbarkeit von göttlicher Allwissenheit und menschlicher Freiheit, Münster 2015. 12 Armin Kreiner charakterisiert den open view wie folgt: »Als Open View bezeichnet man die Position einer Gruppe von evangelikalen Theologen, die sich von der hauptsächlich calvinistisch geprägten Tradition distanzieren. Kennzeichnend für den Open View ist das Plädoyer für eine libertarianisch verstandene Willensfreiheit, für eine offene und deshalb auch für Gott nicht vollständig erkennbare Zukunft und für ein dialogisches und reziprokes Verständnis der Beziehung zwischen Gott und Schöpfung, wonach Gott ›offen‹ ist für kausale Einflüsse seitens der Welt. Verabschiedet bzw. modifiziert werden die traditionellen Vorstellungen der absoluten Unveränderlichkeit, Überzeitlichkeit, Allursächlichkeit und Selbstgenügsamkeit Gottes« (Kreiner 2006, 338, Anmerkung 111). 13 Kreiner 2006, 338 f. 11

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Der Allmächtige

»Während im klassischen Theismus die Eigenständigkeit der Welt gegenüber Gott zu kurz komme, bleibe im Prozesstheismus die Souveränität und Unabhängigkeit Gottes auf der Strecke. […] Die Welt werde zu einer metaphysischen Notwendigkeit, die Gottes Macht restringiere. Der entscheidende Kritikpunkt besagt, ein nur auf die Macht der Überredung angewiesener Gott könne nicht mehr als Garant dafür verstanden werden, dass die Schöpfung ihr von Gott vorgesehenes Ziel erreiche.« 14

Der Ausgang der Geschichte bleibe bei der Prozesstheologie definitiv offen. Der open view hält demnach mit dem klassischen Theismus, aber im Gegensatz zur Prozesstheologie grundsätzlich an der Allmacht Gottes fest. »Die Welt ist danach nicht metaphysisch notwendig, sondern von Gott in Freiheit aus nichts erschaffen. Gottes Macht umfasst deshalb die Möglichkeit, den weltlichen Ereignisverlauf interventionistisch bzw. einseitig zu bestimmen. Allerdings gibt Gott in der Regel einem Handeln durch ›Überredung‹ den Vorzug, auch wenn ein Handeln durch ›Zwang‹ für ihn immer möglich bleibt und bisweilen auch realisiert wird.« 15

Beim open view handelt es sich um eine Kompromissposition, insofern er einerseits die prozesstheologische Vorstellung von der »Macht durch Einladung« als überzeugend empfindet, andererseits aber an der traditionellen Vorstellung von der Allmacht Gottes festhält. Nach Überzeugung des open view wirkt Gott in der Regel durch Einladung in der Welt, obwohl er grundsätzlich auch durch »Zwang« wirken könnte. Gott gibt gewissermaßen freiwillig der Einladung den Vorzug vor dem »Zwang«. Er tut dies, weil er Liebe ist. Dabei gibt es aber einen Unterschied in der Auffassung von der Liebe Gottes zwischen dem open view und der Prozesstheologie. Während nach prozesstheologischer Deutung die Liebe Gottes ein wesentlicher Aspekt seiner Natur ist, weshalb er gar nicht anders als einladend handeln kann, ist nach der eher traditionellen Deutung und nach der Deutung des open view die göttliche Liebe ein freies bzw. gnadenhaftes Geschenk, insofern ihr eine freiwillige Selbstbeschränkung göttlicher Allmacht zugrunde liegt. Gott könnte aus Sicht des open view durch Zwang in der Welt wirken, aber er zieht es freiwillig aus Liebe vor, – jedenfalls im Allgemeinen – durch Einladung zu wirken.

14 15

Kreiner 2006, 339. Kreiner 2006, 340.

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Die Theorie vom Zusammenwirken mit den Zweitursachen

Was ist von der Option des open view zu halten? Wie ist sie zu beurteilen? Die Stärke des open view liegt in dem Versuch, grundsätzlich mit dem traditionellen Theismus an der Allmacht Gottes festzuhalten und zugleich der Liebe Gottes eine zentrale Stellung einzuräumen, wie das in der Prozesstheologie geschieht. Es ist der Versuch, die Allmacht und die Liebe Gottes zu verbinden und zusammen zu denken. Dieser Versuch gibt sicher grundsätzlich die richtige Richtung an. Aber der Kompromiss, den der open view dabei konkret eingeht, erweist sich als ein fauler Kompromiss. Die Kompromisslösung ist deshalb als halbherzig anzusehen, weil der open view mit ihr in den Interventionismus, den die Prozesstheologie zu Recht zu überwinden suchte, zurückfällt. Damit handelt sich der open view wieder sämtliche Probleme des interventionistischen Modells vom Wirken Gottes ein. Abgesehen von den erwähnten metaphysischen Problemen stellt sich für ihn vor allem wieder das Theodizee-Problem in aller Schärfe. Nach seiner Ansicht hat Gott die Macht, jederzeit einseitig in die Welt einzugreifen. Er tut es aber nur selten, weil er es aus Liebe vorzieht, statt durch Zwang durch Einladung zu wirken. Diese Lösung vermag jedoch angesichts des Theodizee-Problems nicht zu überzeugen. Sie bedeutet, dass Gott sich in vielen Fällen, in denen er zum Wohl der Welt eingreifen und schlimmstes Leiden verhindern könnte, aus Liebe zurückhält. Kann eine solche Zurückhaltung Gottes aber wirklich als Ausdruck seiner Liebe verstanden werden? Würde nicht die Liebe gebieten, wenigstens immer dann in die Welt einzugreifen, wenn dadurch schlimmstes Übel und schlimmstes Leiden zu verhüten wären? Würde nun eingewendet, Gott halte sich mit direkten Eingriffen in die Welt zurück, weil er aus Liebe die Autonomie der Welt respektiere, fragt sich, weshalb er dann nach Überzeugung des open view doch gelegentlich einseitig in die Welt eingreift und so die Autonomie der Welt verletzt. Die Position des open view erweist sich somit als inkohärent. Letztlich scheitert der open view durch seinen Rückfall in den Interventionismus am Theodizee-Problem.

16.5. Die Theorie vom Zusammenwirken mit den Zweitursachen Eine weitere philosophisch-theologische Position bei der Deutung der Allmacht Gottes liegt schließlich in der Theorie vom grundsätzlichen Zusammenwirken Gottes mit den Zweitursachen vor. Diese Theorie 503 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Allmächtige

geht vor allem auf Karl Rahner 16 und Béla Weissmahr 17 zurück. Ihre Grundthese lautet: Gott wirkt nicht nur vorwiegend zusammen mit geschöpflichen Ursachen in der Welt, sondern ausschließlich. Gott wirkt nur zusammen mit Zweitursachen in der Welt. Die Theorie vom Zusammenwirken Gottes mit den Zweitursachen in der Welt 18, kurz: die Theorie vom Zusammenwirken, wie sie hier im Anschluss an Rahner und Weissmahr dargelegt und entfaltet werden soll, lässt sich als eine Theorie verstehen, welche die Stärken der Prozesstheologie aufgreift bzw. schon mit sich bringt, deren Schwächen aber vermeidet, oder anders gesagt als eine Theorie, die versucht, wahre Liebe und wahre Allmacht Gottes miteinander zu verbinden. Hierin ähnelt diese Theorie der Auffassung des open view, fällt aber nicht wie diese in die Probleme des Interventionismus zurück. Um die Theorie vom Zusammenwirken richtig zu begreifen, ist es von entscheidender Bedeutung, die Schöpfungsabsicht Gottes richtig zu verstehen. Gott erschuf die Welt aus Liebe. Deshalb erschuf er sie als möglichst selbständige Wirklichkeit. Die Welt, konkret der Mensch, sollte der echte und freie Partner seiner Liebe sein. Hat Gott einmal die Welt grundsätzlich als eine selbständige erschaffen, kann er diese Selbständigkeit nicht mehr zurücknehmen oder aufheben, ohne seiner eigenen ursprünglichen Absicht zuwiderzuhandeln, sein Werk zu zerstören und so sich selbst zu widersprechen. Aus diesem Grund kann Gott nicht einseitig in die Welt eingreifen, kann Gott nicht Zwang auf die Welt ausüben, sondern nur zusammen mit ihr wirken, nur zusammen mit Zweitursachen in ihr handeln. Die Erschaffung einer autonomen Welt stellt von daher eine freiwillige, aber grundsätzliche Selbstbeschränkung der Allmacht Gottes dar. Wie wirkt Gott dann aber noch in der Welt? Im Gegensatz zur Prozesstheologie hält die Theorie vom Zusammenwirken an der traditionellen Schöpfungslehre voll und ganz fest. Z. B. Karl Rahner: Die Hominisation als theologische Frage, in: Paul Overhage/Karl Rahner: Das Problem der Hominisation. Über den biologischen Ursprung des Menschen (Quaestiones disputatae 12/13) (zweite, ergänzte Auflage), Freiburg i. Br. 1961, 13–90, bes. 80 f. 17 Z. B. Béla Weissmahr: Gottes Wirken in der Welt. Ein Diskussionsbeitrag zur Frage der Evolution und des Wunders, Frankfurt a. M. 1973 [= Weissmahr 1973]. 18 Die Theorie von Rahner und Weissmahr ist als Theorie von der (ausschließlichen) Vermittlung des Wirkens Gottes in der Welt durch Zweitursachen, kurz, als Theorie von der Vermittlung durch Zweitursachen bekannt. Um dem möglichen Missverständnis vorzubeugen, Gott wirke niemals unmittelbar in der Welt, spreche ich stattdessen von der Theorie vom Zusammenwirken Gottes mit den Zweitursachen. 16

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Die Theorie vom Zusammenwirken mit den Zweitursachen

Demnach liest sich die ganze Geschichte des Wirkens Gottes in der Welt in etwa wie folgt. 19 Gott hat im Sinne der creatio ex nihilo aus nichts anderem als sich selbst die Welt als nichtgöttliche Wirklichkeit ins Dasein gerufen. Damit hat er die Welt begründet. Die Welt ist und bleibt von daher vollständig von ihm abhängig. Gott hat die Welt geschaffen, damit sie dem starken anthropischen Prinzip entsprechend ein Wesen wie den Menschen aus sich hervorbringt und so zu sich selbst kommt. Auch beabsichtigte er von vornherein, dereinst selber Mensch in dieser Welt zu werden, ein Teil von ihr selbst, ihre Mitte. Seit Beginn erhält Gott die Schöpfung im Sinne der conservatio oder der creatio continua durch sein permanentes schöpferisches Wirken im Sein. Nach traditioneller Lehre wirkt Gott dabei völlig einseitig. Denkt man den Gedanken der Autonomie der Welt konsequent zu Ende, legt es sich jedoch nahe, dass Gott die Schöpfung von Anfang an mit einer metaphysischen Selbständigkeit bedacht hat, die es den Geschöpfen gestattet, auch selbst zu ihrer Selbsterhaltung beizutragen. Demnach hätten wir es schon auf der Ebene der Erhaltung der Schöpfung mit einem concursus divinus – einem echten Zusammenwirken von Schöpfer und Schöpfung – zu tun. Gott begnügt sich in seinem schöpferischen Wirken aber nicht damit, die Geschöpfe dazu zu befähigen, sich eine gewisse Zeit lang selbst zu erhalten. Er ermächtigt sie im Sinne der creatio evolutiva auch dazu, sich selbst zu entfalten und höher zu entwickeln – von anorganischer Materie zu Leben, von Leben zu Bewusstsein und von Bewusstsein zu Geist, also zu Selbstbewusstsein und Freiheit. Rahner spricht in dem Zusammenhang von der »aktiven Selbsttranszendenz« 20 oder auch »Wesensselbsttranszendenz« 21 der Geschöpfe. Diese Begriffe sollen verdeutlichen, dass es einerseits wirklich das Geschöpf, das endliche Seiende selbst ist, das sich auf ein höheres Sein hin überschreitet, dass dies andererseits aber nur möglich ist »in der Kraft der absoluten Seinsfülle«, d. h. in der Kraft des Schöpfergottes. Mit dem schöpferischen Wirken erschöpft sich jedoch Gottes Wirken in der Welt grundsätzlich noch nicht. Sobald nämlich mit dem Menschen ein Wesen in der Welt zu existieren beginnt, das dank Die folgenden Abschnitte stellen eine kurze Zusammenfassung von Kap. 15 dar. Karl Rahner: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg i. Br. 1976 [= GG], 186. 21 GG 187. 19 20

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Der Allmächtige

seiner Geistigkeit unmittelbar offen ist für den unendlichen Gott selbst, beginnt Gott auch gnadenhaft in der Welt zu wirken. Beim gnadenhaften Wirken teilt Gott dem Menschen seine eigene göttliche Realität mit. Der Mensch empfängt in der vergebenden und vergöttlichenden Gnade die Realität und das Leben Gottes selbst. Während Gott bei seinem schöpferischen Wirken es den Geschöpfen ermöglicht, ihre natürliche, d. h. weltlich-endliche Wirklichkeit zu bewahren und sich selbst auf eine höhere natürliche, d. h. höhere weltlichendliche Wirklichkeit hin zu überschreiten, ermöglicht es Gott bei seinem gnadenhaften Wirken den Menschen, sich auf die übernatürliche, d. h. göttlich-unendliche Wirklichkeit hin zu übersteigen. Die Selbsttranszendenz der Geschöpfe in der Evolution setzt sich gewissermaßen auf höherer Ebene in der Selbsttranszendenz des Menschen in der Gnade fort. Die gnadenhafte Selbstmitteilung Gottes an die Menschheit erreicht nach christlicher Überzeugung in der Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazaret ihren absoluten Höhepunkt. Jesus Christus lässt sich als der Mensch verstehen, dem sich Gott in seiner ganzen Fülle als er selbst mitgeteilt hat und der diese Selbstmitteilung Gottes – zum Heil aller Menschen – ganz angenommen hat. Ein Gott, der die Welt allererst aus nichts erschaffen hat, hat schließlich im Gegensatz zum prozesstheologischen Gott auch die Macht, die Welt zu vollenden. Ein solcher Gott kann die Schöpfung garantiert zu dem von ihm vorgesehenen Ziel der vollen Gemeinschaft und Einheit mit ihm führen. Abgesehen vom einmaligen einseitigen Akt der Erschaffung der Welt aus nichts und abgesehen vielleicht vom einmaligen einseitigen Akt der Vollendung der Welt ist Gott immer zusammen mit den Geschöpfen in der Welt tätig. Auch bei seinem gnadenhaften Wirken in der Welt wirkt er zusammen mit den Zweitursachen, nämlich mit der Freiheit des Menschen. Die immer angebotene Gnade Gottes kann nur dort in der Welt wirksam werden, wo wir Menschen sie glaubend, hoffend und liebend in Freiheit annehmen. Gott wirkt am meisten und am intensivsten zusammen mit unserer menschlichen Freiheit in der Welt. Nach der Theorie vom Zusammenwirken wirkt Gott folglich in der Welt immer nur zusammen mit Zweitursachen. Niemals wirkt er einseitig auf die Welt ein, niemals übt er Zwang auf die Welt aus. Darin unterscheidet sich auf der einen Seite diese Theorie von der Auffassung des open view. Darin stimmt auf der anderen Seite diese 506 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Zusammenfassung der Theorie

Theorie mit der Prozesstheologie überein. Was Letzteres angeht ist aber der Hintergrund der Übereinstimmung bei beiden Theorien, wie deutlich geworden ist, ein völlig anderer. Hier verzichtet Gott freiwillig um einer echten Selbständigkeit der Welt willen darauf, uneingeschränkt seine Macht auszuüben und alles in der Welt zu bestimmen. Dort in der Prozesstheologie besitzt Gott aufgrund der Vorgegebenheit der Welt überhaupt nicht die Macht, seinen Willen uneingeschränkt in der Welt durchzusetzen. Während hier die Beschränkung der Allmacht von einer wirklich souveränen, allmächtigen Liebe zeugt, die sich aus Liebe zum anderen selbst einschränkt, zeigt sie dort im Grunde eine echte Ohnmacht der Liebe an. Durch den Gedanken von Gottes freiwilliger, aber grundsätzlicher Selbstbeschränkung seiner Allmacht ist die Theorie vom Zusammenwirken auch in der Lage – wie die Prozesstheologie, wenn auch auf andere Weise, und im Gegensatz zum interventionistischen Modell – das Theodizeeproblem einigermaßen konsistent zu lösen. Gott verhindert Leid und Übel in der Welt nicht, weil er sie – recht verstanden – infolge einer willentlichen, aber grundsätzlichen Selbstbeschränkung seiner Allmacht zugunsten einer echten Selbständigkeit der Welt nicht verhindern kann. In der freiwilligen Selbstbeschränkung erweist sich die Allmacht Gottes letztlich als die Allmacht seiner freien Liebe, die in seiner Menschwerdung nicht davor zurückscheut, sich auch der freien Ablehnung des Menschen bis in die letzte Konsequenz hinein auszusetzen.

16.6 Zusammenfassung der Theorie Die Theorie vom Zusammenwirken Gottes mit den Zweitursachen schließt im Kern drei Thesen ein. (1) Gott wirkt selber nie als Zweitursache oder anstelle einer Zweitursache in der Welt. Er wirkt in der Welt immer nur als Erstursache, d. h. auf göttliche Weise. (2) Es gibt kein Geschehen in der Welt, das nicht auch durch Zweitursachen metaphysisch verursacht wäre. (3) Gott wirkt immer nur zusammen mit Zweitursachen in der Welt. Gott wirkt demzufolge niemals auf nichtgöttliche Weise und niemals auf völlig einseitige Weise, d. h. durch Zwang, ohne jede Mitwirkung der Geschöpfe, in der Welt. 507 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Allmächtige

Das Herausfordernde dieser Theorie besteht darin, bei bestimmten Ereignissen in der Welt, bei denen auf den ersten Blick Gott allein zu wirken oder zu handeln scheint, ein ursächliches Mitwirken der Geschöpfe anzunehmen. Dementsprechend hat beispielsweise Paulus, der bei seinem Damaskuserlebnis von Christus völlig überwältigt worden zu sein scheint 22, nach der Theorie vom Zusammenwirken bereits bei diesem Ereignis – vielleicht durch seinen vorausgehenden außergewöhnlichen religiösen Eifer als Jude – mitgewirkt, und nicht erst bei seiner eigentlichen inneren Umkehr auf dieses Ereignis hin. Ignatius von Loyola kennt in seinem Exerzitienbuch einen »Trost ohne vorausgehende Ursache« 23 und meint damit einen Trost 24 von Gott her, dem keine besondere willentliche oder verstandesmäßige In der Apostelgeschichte wird dieses Erlebnis wie folgt geschildert: »Unterwegs aber, als er [Saulus] sich bereits Damaskus näherte, geschah es, dass ihn plötzlich ein Licht vom Himmel umstrahlte. Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte: Saul Saul, warum verfolgst du mich? Er antwortete: Wer bist du, Herr? Dieser sagte: Ich bin Jesus, den du verfolgst. Steh auf und geh in die Stadt; dort wird dir gesagt werden, was du tun sollst« (Apg 9,3–6). Im Galaterbrief berichtet Paulus selbst allerdings nichts von einer Lichterscheinung oder einer hörbaren Stimme. Er schreibt dort nur von einer inneren Offenbarung: »Als aber Gott, der mich schon im Mutterleib auserwählt und durch seine Gnade berufen hat, in seiner Güte in mir seinen Sohn offenbarte, damit ich ihn unter den Heiden verkündige, da zog ich keinen Menschen zu Rate« (Gal 1,15 f.). 23 EB Nr. 330; dort schreibt Ignatius: »Allein Gott unserem Herrn kommt es zu, ohne vorausgehende Ursache der Seele Trost zu geben; denn es ist dem Schöpfer vorbehalten, in sie einzutreten, aus ihr auszugehen, in ihr Bewegungen hervorzurufen, indem er sie ganz zur Liebe Seiner Göttlichen Majestät hinzieht. Ich sage ohne Ursache, das heißt ohne vorausgehendes Gespür oder vorausgehende Erkenntnis irgendeines Gegenstandes, durch den eine solche Tröstung vermittels der Akte ihres Verstandes und Willens herbeigeführt würde« (zitiert nach Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Übertragung und Erklärung von Adolf Haas, Freiburg i. Br. 1966, 108). 24 Ganz allgemein beschreibt Ignatius geistlichen Trost wie folgt: »Ich nenne es Trost, wenn in der Seele eine innere Bewegung verursacht wird, durch welche die Seele in Liebe zu ihrem Schöpfer und Herrn zu entbrennen beginnt, und wenn sie infolgedessen kein geschaffenes Ding auf dem Antlitz der Erde mehr in sich zu lieben vermag, es sei denn im Schöpfer ihrer aller. Desgleichen, wenn einer Tränen vergießt, die ihn zur Liebe Seines Herrn bewegen, sei es aus Schmerz über seine Sünden oder über das Leiden Christi unseres Herrn oder über andere unmittelbar auf Seinen Dienst und Lobpreis hingeordnete Dinge. Schließlich nenne ich Trost jeglichen Zuwachs an Hoffnung, Glaube und Liebe und jede innere Freude, die zu den himmlischen Dingen und zum eigenen Seelenheil aufruft und hinzieht, indem sie der Seele Ruhe und Frieden in ihrem Schöpfer und Herrn spendet« (EB Nr. 316; zitiert nach Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Übertragung und Erklärung von Adolf Haas, Freiburg i. Br. 1966, 104 f.). 22

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Zusammenfassung der Theorie

Aktivität des Exerzitanten, wie etwa die Betrachtung einer Bibelstelle, vorausging. Auch bei einer solchen Form des Trostes nehmen Vertreter der Theorie vom Zusammenwirken an, der Mensch habe in irgendeiner Weise – etwa durch die vorangegangene Entscheidung, sich überhaupt Exerzitien zu unterziehen – zum Trostereignis, das von Gott allein verursacht zu sein scheint, ursächlich beigetragen. Bei den vielen Ekstasen, die Teresa von Avila im Zusammenhang der sechsten Wohnung der inneren Burg beschreibt 25, scheint es offensichtlich zu sein, dass Gott im Moment des Geschehens ganz allein handelt und der Beterin die äußerste Passivität auferlegt ist. Doch auch hier kann man etwa Teresas langen freiwilligen Gebetsweg, der diesen Phänomenen vorausging, als ursächliches Mitwirken an denselben auffassen. Die Beispiele machen deutlich, dass bei der Theorie vom Zusammenwirken die metaphysische Verursachung auf Seiten der Geschöpfe nicht in einem zu engen Sinn verstanden werden darf. Man muss sich von der Vorstellung lösen, die geschöpfliche Ursache, mit der Gott zusammenwirkt, müsse als bestimmtes abgrenzbares Ereignis, beim Menschen als eine bestimmte Handlung, entweder dem Wirken Gottes zeitlich unmittelbar vorausgehen oder mit ihm zeitlich zusammenfallen. Das kann zwar der Fall sein. Das geschöpfliche Wirken kann in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem göttlichen Wirken stehen. Es muss aber nicht der Fall sein. Die geschöpfliche Verursachung kann sich auch über einen längeren Zeitraum hinweg erstrecken und dem Wirken Gottes zeitlich weit vorausliegen. So könnte man beispielsweise im Fall Teresas annehmen, sie habe durch ihren langen freiwilligen Gebetsweg – freilich zusammen mit dem gnadenhaften Wirken Gottes – ihre Seele so disponiert, dass Gott in der beschriebenen Weise sich ihrer bemächtigen konnte. Das Beispiel der paramystischen Phänomene Teresas veranschaulicht auch, dass Gott nicht direkt auf die physische Dimension des Geschöpfs, hier also auf den menschlichen Körper, sondern immer nur auf die psychische oder mentale Seite des Geschöpfs, hier also auf die menschliche Seele, einwirkt und so immer nur indirekt über die geistige Innenseite die physische Außenseite beeinflusst. Auch bei physischen Wundern, wie etwa den von Ärzten als wissenschaftlich unerklärbar anerkannten Heilungen in Lourdes, wirkt Gott direkt nur auf die mentale Innenseite, nicht aber auf die Körper der Kranken 25

Siehe Kap. 9.6.

509 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Allmächtige

ein. Nur indirekt über psychische oder mentale Selbstheilungskräfte des Kranken bewirkt er die körperliche Heilung.

16.7 Drei Missverständnisse der Theorie Die Theorie von Gottes ausschließlichem Zusammenwirken mit Zweitursachen in der Welt ist vor allem drei Missverständnissen oder Fehldeutungen ausgesetzt: 1. dem Missverständnis, Gott übe indirekt Zwang auf die Welt aus, 2. dem Missverständnis, Gott wirke und handle im Grunde so gut wie nicht in der Welt, und 3. dem Missverständnis, Gott wirke und handle nie unmittelbar in der Welt. 1. Einer bestimmten Deutung zufolge kommt die Theorie vom Zusammenwirken der These von der Alleinwirksamkeit Gottes sehr nahe. Wirke Gott fortdauernd in der Welt zusammen mit Zweitursachen, so kontrolliere und bestimme er im Grunde doch alles in der Welt. Alles sei dann letztlich doch von Gott verursacht, zwar nicht allein von ihm wie bei der Allwirksamkeit Gottes, aber doch nahezu allein von ihm. In jedem Fall setze Gott seinen Willen in allem durch. Diese Deutung stellt eine krasse Fehldeutung dar. Während nach der Option von der Allwirksamkeit Gott permanent der Welt seinen Willen aufzwingt, indem er völlig einseitig in ihr wirkt und handelt, zwingt er nach der Theorie vom Zusammenwirken der Welt niemals seinen Willen auf, sondern wirkt und handelt immer zusammen mit den Geschöpfen, näherhin immer nur mit dem Einverständnis des Menschen. Demnach instrumentalisiert Gott nicht die Welt für seine Pläne, sondern respektiert, im Gegenteil, die Eigenwirksamkeit der Geschöpfe, allem voran die Freiheit des Menschen. Auch wenn die Geschöpfe sich nicht seinem Willen entsprechend verhalten, lässt er dies zu und zwingt sie nicht zu einem Verhalten, das seinem Willen konform ist. Während nach der Option von der Allursächlichkeit Gottes alles, was in der Welt geschieht, von Gott verursacht ist, und zwar ganz allein von ihm verursacht ist, geschieht nach der Theorie vom Zusammenwirken mit den Zweitursachen vieles in der Welt, das nicht von Gott verursacht ist. Wann immer Gott in der Welt wirkt, wirkt er zwar zusammen mit Zweitursachen, aber nicht immer, wenn Zweitursachen in der Welt wirken, wirkt Gott mit. Gott wirkt zwar unentwegt schöpferisch und gnadenhaft in der Welt. Deshalb muss er aber nicht bei allem, was sich in der Welt ereignet, mitwirken. An sittlich 510 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Drei Missverständnisse der Theorie

schlechten bzw. sündhaften Handlungen des Menschen als solchen ist er in keiner Weise beteiligt. An ihnen wirkt er nicht mit. Sie sind vom Menschen allein verursacht. Vieles, sehr vieles geschieht daher in der Welt, das Gott nicht will. Die These vom Wirken Gottes zusammen mit Zweitursachen ist demnach denkbar weit von der These der Alleinwirksamkeit Gottes entfernt. 2. Einer anderen Deutung zufolge stellt die Option vom göttlichen Zusammenwirken mit den Zweitursachen einen verschleierten Deismus dar. Die Option beschränke das Handeln Gottes in der Welt auf ein bestimmtes minimales schöpferisches Wirken, nämlich die Bewahrung der Naturordnung. Für ein freies und persönliches Handeln Gottes in der Welt lasse sie aber keinen Raum. Auch bei dieser Deutung handelt es sich um ein gravierendes Missverständnis. Während dem Deismus gemäß Gott nach der Erschaffung der Welt nicht mehr in der Welt wirkt, sondern die Welt gewissermaßen sich selbst überlässt, ist Gott nach der Theorie vom Zusammenwirken auch nach der Erschaffung der Welt fortgesetzt in der Welt tätig. Er wirkt ständig schöpferisch und gnadenhaft in der Welt. Schon beim »gewöhnlichen« schöpferischen Wirken Gottes ist dabei zu bedenken, dass Gott mit jedem individuellen Seienden bzw. Geschöpf auf individuell verschiedene und deshalb auf jeweils besondere Weise wirkt. 26 Auch und gerade beim gnadenhaften Wirken Gottes ist, wie die Erfahrung lehrt, von besonderen Weisen und von verschiedenen Intensitäten des Wirkens Gottes auszugehen. Das gnadenhafte Wirken Gottes in der Welt ist der Raum oder die Dimension, wo Gott im eigentlichen Sinn frei bzw. spontan und persönlich in der Welt wirkt, wo er im eigentlichen Sinn in der Welt »handelt«. Das freie und persönliche gnadenhafte Handeln Gottes in der Welt bezieht sich freilich in erster Linie oder ausschließlich auf Personen, also auf uns Menschen. Wir Menschen sind der eigentliche Partner Gottes in der Welt. Uns gegenüber handelt Gott im eigentlichen Sinn frei und persönlich. 27 Dank des frei agierenden und reagierenden, persönlichen gnadenhaften Handelns Gottes in der Welt gibt es eine echte Geschichte Gottes mit jedem einzelnen Menschen, mit der Menschheit als ganzer und insofern mit der Welt. Ein Gott, der andauernd schöpferisch in der Welt wirkt und der unentwegt frei und persönlich gnadenhaft

26 27

Vgl. Weissmahr 1973, 141. Vgl. Weissmahr 1973, 173 f.

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Der Allmächtige

in der Welt handelt, ist denkbar weit von einem deistischen Gott entfernt. 3. Ein weiteres Missverständnis in dem Zusammenhang wäre es, anzunehmen, Gott könne, weil er in der Welt immer nur zusammen mit Zweitursachen wirke, in der Welt in keiner Weise unmittelbar wirken. Insofern Gott in jedem Geschöpf unmittelbar gegenwärtig ist, kann er auch unmittelbar auf jedes Geschöpf einwirken. Das Zusammenwirken mit dem geschöpflichen Wirken steht seiner Unmittelbarkeit nicht im Wege. Gott kann seine Geschöpfe unmittelbar »von innen« bewegen, und er kann sie mittelbar »von außen« bewegen. 28 Gott kann einem Menschen unmittelbar in seinem Inneren etwas von sich mitteilen, er kann ihm aber auch etwas von außen durch andere Geschöpfe, namentlich durch Mitmenschen, mitteilen. Durch dieses innere und äußere Bewegen sucht Gott jedem Geschöpf zu helfen, sein Ziel, die volle Selbstverwirklichung und Selbstidentität, zu erreichen. Gott handelt unablässig unmittelbar und gnadenhaft an uns Menschen, damit wir – nochmals mit Rahner ausgedrückt und in schöner Parallele zur Prozesstheologie – zu einer immer »größeren Fülle und Innigkeit« und zu einem »immer näheren und bewussteren Verhältnis« zu ihm, unserem Grund, gelangen. 29 Gott wirkt unmittelbar in der Welt, indem er auf die geistige Innenseite der Geschöpfe, namentlich der Menschen, einwirkt. So kann er uns Menschen zum Beispiel Impulse, Ideen, Motive und ähnliches zu einem guten Werk eingeben. Öffnen wir uns in Freiheit seinen Impulsen, geben wir diesen Impulsen in uns Raum, eignen wir sie uns persönlich an und handeln wir dementsprechend in der Welt, dann wirken wir im Sinne Gottes in der Welt. Von Gott lässt sich dann sagen, er habe unmittelbar auf uns Menschen eingewirkt, aber dann zusammen mit uns Menschen und vermittelt durch unsere Freiheit in der Welt gewirkt. Mithilfe der panpsychistischen Unterscheidung zwischen einer geistigen Innenseite und einer physischen Außenseite der Geschöpfe lässt sich das Wirken Gottes in der Welt präziser erfassen. Wirkt Gott in der Welt, dann wirkt er unmittelbar immer nur auf die mentale Innenseite der einzelnen Geschöpfe und der gesamten Schöpfung ein. Die Geschöpfe sind durch ihre geistige Innenseite offen für sein unmittelbares Wirken. Diese Offenheit lässt dann auch Raum für ein 28 29

Vgl. Weissmahr 1973, 143. GG 192.

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Drei Missverständnisse der Theorie

besonderes Wirken oder Handeln Gottes, für das, was man »Wunder« und besondere »Eingriffe« nennt. Aber auch bei solchen Wundern und außergewöhnlichen Eingriffen, bei denen Gott sicherlich auf besonders intensive Weise an den Geschöpfen handelt, wirkt Gott nicht ohne die Geschöpfe. Er setzt sich nicht über sie hinweg, sondern setzt auch hier ihr Mitwirken voraus. Auch die Geschöpfe selbst tragen so zu den vielen Wundern in der Welt bei, die ja oft nicht äußerlich und spektakulär in Erscheinung treten, sondern sich vor allem im Innern des Menschen abspielen. Das wirft auch Licht auf ein ganz besonderes Wirken Gottes an der Welt, auf das Christen, aber nicht nur diese, hoffen: nämlich auf die Vollendung der Welt als ganzer. Nach christlicher Glaubensüberzeugung vollendet Gott nicht nur die einzelnen Menschen durch die leibliche Auferweckung, sondern die ganze Welt durch eine Art Neuschöpfung. Diese Neuschöpfung ließe sich in Analogie zur Erschaffung der Welt als völlig einseitiges Handeln Gottes an der Welt denken, was eine extreme Diskontinuität bedeuten würde. Die Theorie des Panpsychismus erlaubt es, die letzte Umwandlung und Vollendung der Welt dagegen in größerer Kontinuität zu denken. Da Gott immer auf die geistige Innenseite der Welt als ganzer und der einzelnen Entitäten einzuwirken vermag, besteht für ihn auch die Möglichkeit, die Welt relativ kontinuierlich zur Vollendung zu führen. In diese Richtung dachte insbesondere Pierre Teilhard de Chardin. Für Teilhard haben Mensch und Welt sowohl eine innerweltliche als auch eine überweltliche Zukunft. 30 Diese Zukunft muss der Mensch als eigene Tat und zugleich als freies Geschenk Gottes bewältigen. Da das Universum auf Konvergenz angelegt ist und die Menschheit unter dem Druck der Einigung steht, streben die Entfaltungslinien in der Geschichte auf einen letzten Punkt der Reife zu, den Teilhard mit dem letzten Buchstaben des griechischen Alphabets als Omega bezeichnet. Dieser Punkt Omega ist für ihn der »Brennpunkt an der Spitze des Universums« und zugleich gegenwärtig »im Innersten der geringsten Bewegung der Evolution«. Alles konvergiert in ihm und alles strahlt von ihm aus. Aus unserer Sicht ist er »zu-

Siehe zu diesem Abschnitt Adolf Haas: Teilhard de Chardin-Lexikon. Grundbegriffe – Erläuterungen – Texte. Freiburg i. Br. 1971; Band 1, Stichwort »Christus (VI) – Omega (Christ – Omega)«, 202; Band 2, Stichwort »Omega (Oméga) – Omegalisation (omégalisation) – omegalisieren (omégaliser)«, 208–217 (jeweils mit den entsprechenden Texten von Teilhard de Chardin und den Stellenangaben).

30

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Der Allmächtige

nächst einfach ein immanenter Brennpunkt der Konvergenz«. Aber tiefer gesehen »setzt er einen transzendenten, göttlichen Kern voraus«. Teilhard nennt ihn »das einzig wahre Omega« und identifiziert mit ihm den kosmischen oder universalen Christus. Das »weltliche« Omega, auf das hin sich die Menschheit in ihrer psycho-sozialen Evolution entwickelt, und das Christus-Omega, das das heilsgeschichtliche Endziel der Welt darstellt, können nach Teilhard nicht auseinanderfallen. Vielmehr müssen sich das kosmische Weltzentrum, das bei der Entwicklung des Menschen zu immer größerer Einheit vorausgesetzt ist, und das christliche Weltzentrum, das die Theologie in Gestalt des universalen Christus voraussetzt, in der konkreten Geschichte decken. Einerseits verlangt die sich einende Menschheit nach einem personalen »Gipfel« oder Zentrum ihrer Konvergenz, andererseits sammelt Christus als Gottmensch bereits durch Schöpfung und Erlösung alle Geschöpfe zur Einheit. In Christus-Omega kommen so nach Teilhard die evolutive Weiterentwicklung des Menschen und die Vollendung der Welt durch das weltimmanente Wirken Gottes, näherhin des kosmischen Christus und des Heiligen Geistes, zusammen. Die Vollendung der Welt muss von daher nicht notwendig als ein letztes, vollkommen einseitiges Eingreifen Gottes gewissermaßen »von außen« aufgefasst werden. Sie lässt sich auch als eine relativ kontinuierliche Entwicklung der Menschheit und der Welt denken, bei der Gott aus seiner Weltimmanenz heraus mit der Schöpfung zusammenwirkt. 31

16.8 Das Theodizeeproblem Schließlich sei noch der Frage nachgegangen, was die Theorie vom Zusammenwirken zur Lösung des Theodizeeproblems beitragen kann. Innerhalb des Theodizeeproblems lässt sich zwischen dem logischen oder apriorischen und dem empirischen oder aposteriorischen Problem unterscheiden. Beim logischen Problem geht es um die Frage, ob die Existenz eines allmächtigen und allgütigen Gottes überhaupt mit der Existenz der Übel in der Welt logisch vereinbar sei. Vgl. dazu Johannes Herzgsell SJ: Das Christentum im Konzert der Weltreligionen. Ein Beitrag zum interreligiösen Vergleich und Dialog, Regensburg 2011, 360 f.

31

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Das Theodizeeproblem

Im Anschluss an Friedrich Hermanni lässt sich dieses Problem wie folgt lösen. 32 Theisten gehen davon aus, dass es Übel in der Welt gibt. Kein vernünftiger Mensch wird das bestreiten. Theisten behaupten des Weiteren, dass Gott existiert und dass er allgütig, d. h. vollkommen gut, und dass er allmächtig ist. Dementsprechend lauten die drei theistischen Thesen, die den Ausgangspunkt des logischen Theodizeeproblems bilden: (1) Es gibt Übel in der Welt. (2) Gott existiert, und er ist vollkommen gut. (3) Gott existiert, und er ist allmächtig. In manchen Argumentationen wird noch als vierte These die Allwissenheit Gottes einbezogen. Kritiker des Theismus behaupten nun, die theistischen Thesen 1–3 seien logisch unvereinbar, und begründen dies folgendermaßen. Ein vollkommen guter Gott müsste jedes Übel, das er verhindern kann, auch tatsächlich verhindern. Nun ist Gott nach theistischer Voraussetzung nicht nur vollkommen gut, sondern auch allmächtig. Ein allmächtiger Gott könnte aber per definitionem jedes Übel verhindern, das er verhindern will. Aufgrund seiner vollkommenen Güte müsste somit Gott jedes Übel verhindern, das er verhindern kann. Aufgrund seiner Allmacht könnte Gott jedes Übel verhindern. Also müsste Gott jedes Übel verhindern. Folglich dürfte es kein Übel in der Welt geben. Es gibt aber Übel in der Welt. Also kann ein Gott, der zugleich vollkommen gut und allmächtig ist, nicht existieren. Anders gesagt: die theistischen Thesen 1–3 sind logisch unvereinbar. Die Thesen der Kritiker des Theismus lauten dementsprechend: (4) Ein vollkommen guter Gott würde notwendigerweise jedes Übel verhindern, das er verhindern kann. (5) Ein allmächtiger Gott könnte jedes Übel verhindern, das er verhindern will. Den folgenden Lösungsvorschlag unterbreitete Friedrich Hermanni bei seinem Vortrag »Theodizee – ein Lösungsvorschlag«, den er im Sommersemester 2012 an der Hochschule für Philosophie in München hielt. Ich beziehe mich dabei auf das verteilte Handout. Siehe dazu auch Friedrich Hermanni/Peter Koslowski (Hrsg.): Die Wirklichkeit des Bösen. Systematisch-theologische und philosophische Annäherungen, München 1998; Friedrich Hermanni: Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologische Grundlegung, Gütersloh 2002, hier besonders 266–291; Friedrich Hermanni: Metaphysik. Versuche über letzte Fragen, Tübingen 2011, hier besonders116–144.

32

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Der Allmächtige

(6) Die Annahmen 1–3 sind logisch unvereinbar. (aus 4 und 5) Angesichts der Übel in der Welt scheint es also einen vollkommen guten und allmächtigen Gott nicht geben zu können. Theisten können diese Argumentation jedoch wiederlegen, indem sie These 4 bestreiten und eine Gegenthese aufstellen. These 4 besagt, dass ein vollkommen guter Gott jedes Übel notwendigerweise verhindern würde, das er verhindern kann. Diese These ist falsch. Ein vollkommen guter Gott könnte nämlich höhere Güter wollen, mit denen in logisch notwendiger Weise Übel zusammenhängen. Er würde dann um der höheren Güter willen die Übel in Kauf nehmen, wäre aber immer noch vollkommen gut, weil die höheren Güter die Übel überwiegen, die mit ihnen logisch notwendigerweise verbunden sind. Es ist demnach logisch möglich, dass Gott die Übel nicht verhindert, weil ihre Zulassung mit größeren Gütern in logisch notwendiger Weise verbunden ist. Dann wäre die Existenz eines vollkommen guten und allmächtigen Gottes mit der Existenz der Übel in der Welt durchaus logisch vereinbar. Die theistischen Thesen, mit denen sich die Theismuskritik widerlegen lässt, lauten dementsprechend: (7) Die These 4 ist falsch. (8) Es ist logisch möglich, dass die Übel vom allmächtigen und vollkommen guten Gott deshalb nicht verhindert werden, weil ihre Zulassung mit größeren Gütern in logisch notwendiger Weise verknüpft ist. (9) Die theistischen Thesen 1–3 sind logisch vereinbar. (aus 8) Es kann also trotz der Übel in der Welt ein Gott existieren, der zugleich vollkommen gut und allmächtig ist. Damit wäre das logische Problem der Theodizee gelöst. Die Übel in der Welt sprechen, rein logisch betrachtet, nicht gegen die Existenz eines allgütigen und allmächtigen Gottes. An das logische Problem schließt sich aber sogleich das empirische Problem der Theodizee an. Es stellt sich nämlich die Frage, welche erfahrbaren höheren Güter es sein könnten, um derentwillen Gott die erfahrbaren Übel in der Welt in Kauf nimmt. Was könnte so ein Gut der Welt oder in der Welt sein, das die Übel in der Welt nicht nur ausgleicht, sondern gewissermaßen durch seine Güte und seinen Wert überwiegt? Nach der Theorie vom Zusammenwirken Gottes mit den Zweitursachen kommt als ein solches Gut die relative Selbständigkeit der Welt als ganze in Frage. Für Gott könnte die relative Autonomie der 516 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Das Theodizeeproblem

Welt, die in der menschlichen Freiheit gipfelt, einen so hohen Wert besitzen, dass er die darin unvermeidlichen Übel in Kauf nimmt. Wichtig ist in dem Zusammenhang daran zu erinnern, dass Gott dem starken anthropischen Prinzip entsprechend mit der Erschaffung der Welt die Entstehung des Menschen als echten Partners seiner Liebe von vornherein wollte. Sollen sich in der Welt aus einem evolutiven Zusammenhang heraus menschliche Wesen entwickeln, scheint die Möglichkeit natürlicher Übel unvermeidbar zu sein. Nimmt man die Verflochtenheit der Entstehung und Existenz des Menschen mit den physikalischen Beschaffenheiten des Universums und mit der Evolution ernst, dann hatte Gott nicht die Möglichkeit, den Menschen auf einem leidfreien Weg zu erschaffen. 33 Die natürlichen Übel scheinen die unvermeidliche Kehrseite der Güte der Welt und ihrer Entwicklung zu immer Höherem zu sein. Auch die Existenz moralischer Übel scheint in der realen Welt unvermeidlich zu sein, soll der Mensch ein wirklich freies Wesen sein. Die Möglichkeit des Menschen, moralisch Böses zu verüben, scheint die unvermeidliche Kehrseite seiner Möglichkeit zu sein, freier Partner der Liebe Gottes zu werden. In einer autonomen Welt scheinen Übel demzufolge unvermeidlich zu sein. Doch ist damit das empirische Problem der Theodizee schon gelöst? Man muss wohl einräumen: höchstens ansatzweise. Die Übel, die mit dem gesuchten höheren Gut einhergehen, sollen laut Lösung des logischen Problems der Theodizee ja nicht nur physisch oder metaphysisch, sondern logisch notwendigerweise mit diesem Gut verbunden sein. Besteht dieses Gut in der relativen Autonomie der Welt, dann bedeutet dies: Gott war es nicht nur metaphysisch, sondern logisch unmöglich, eine autonome Welt ohne Übel zu erschaffen. Die Übel in der Welt sind nicht nur die metaphysisch notwendige, sondern die logisch notwendige Folge der Autonomie der Welt. Dieser Gedanke ist schon nicht leicht nachzuvollziehen. Aber selbst wenn man einräumt, es sei Gott logisch unmöglich, eine autonome Welt ohne Übel zu erschaffen, bleibt das Ausmaßproblem der Theodizee damit noch ungelöst. 34 In einer autonomen Welt mag es zwar Übel geben müssen, sogar logisch notwendigerweise geben müssen, aber muss es Übel in diesem Ausmaß, wie wir sie in unserer Welt antreffen, geben? Ist das Ausmaß der Übel in der Welt 33 34

Vgl. Kreiner 2006, 298–305, insbesondere 303. Vgl. Löffler 2006, 128–132, hier besonders 129.

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Der Allmächtige

logisch notwendig? Spätestens dieser Gedanke ist nicht mehr erfahrungsmäßig nachvollziehbar. Wir erfahren die relative Selbständigkeit der Welt und unsere Freiheit nicht als so hohe Güter und Werte, dass wir ohne weiteres sagen könnten: Sie sind es wert, dass es all die Übel, die wir in der Welt antreffen, gibt; sie überwiegen in jedem Fall in ihrer Positivität die Negativität der Übel. Wie beim Geheimnis der Dreieinigkeit Gottes stoßen wir beim Theodizee-Problem an die Grenzen unseres Verstandes. Zwar lässt sich das logische Problem der Theodizee in seiner Abstraktheit lösen. Zwar bietet die Theorie vom Zusammenwirken Gottes mit der Welt infolge ihrer Grundüberzeugung von der Autonomie der Welt einen ersten Ansatz zur Bewältigung des empirischen Problems der Theodizee. Aber das ganze Problem der Theodizee lässt sich damit nicht lösen. Die Theorie vom Zusammenwirken Gottes mit den Zweitursachen kommt über einen ersten Ansatz zur Bewältigung des empirischen Problems nicht hinaus. Vor allem wenn man das Ausmaßproblem bedenkt, kann sie das empirische Problem der Theodizee nicht vollständig lösen. Es scheint keine befriedigende philosophische Lösung für das Theodizee-Problem zu geben. Für Gläubige bleibt die Zuflucht in den religiösen Glauben. Sie können darauf vertrauen, dass Gott in seiner Allwissenheit den Sinn der Übel kennt, der uns jetzt noch verborgen ist, und in seiner Allmacht das Böse in der Welt zu einem Guten zu verwandeln vermag, wie wir es uns jetzt nicht vorstellen können. Christen können sich damit trösten, »dass Gott selbst sich dem Übel in der Welt durch den grausamen Kreuzestod seines Sohnes Jesus Christus einerseits radikal ausgesetzt hat, dass das Übel aber [andererseits] durch dessen Auferstehung von den Toten letztlich überwunden ist« 35.

35

Löffler 2006, 132. Siehe dazu Kap. 14.6 und 14.7.

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17. Der Allwissende Die Vorsehung Gottes

17.1 Das Problem der Allwissenheit Die Allwissenheit Gottes ergibt sich metaphysisch allein schon aus der Vollkommenheit und Unendlichkeit des Wesens Gottes. Näherhin resultiert sie aus der göttlichen Allmacht, denn ein allmächtiges Wesen kann, wenn es will, alles wissen, was es wissen will. Der Begriff der Allwissenheit lässt sich folgendermaßen formalisieren: (1) Für jeden wahrheitsfähigen Satz p gilt, dass Gott weiß, ob p wahr oder falsch ist. Dabei sind unter wahrheitsfähigen Sätzen alle Sätze zu verstehen, die entweder wahr oder falsch sind bzw. sein können, also alle Sätze, die einen Wahrheitswert besitzen bzw. besitzen können. Gegen diese formalisierte Fassung der Allwissenheit Gottes in Satz (1) lässt sich einwenden, Gottes Wissen beziehe sich nicht auf Sätze oder Propositionen. Gott hat – so der Einwand – keine satzhaften oder propositionalen Überzeugungen wie wir Menschen. Vielmehr erkennt er auf eine ganz andere Art und Weise. Er erkennt auf intuitive und unmittelbare, nicht auf diskursive und vermittelte Weise. Und er erkennt die gesamte erkennbare Wirklichkeit nicht stückhaft, sondern als ganze. Dieser Einwand dürfte soweit berechtigt sein. Dennoch schließt die Allwissenheit Gottes die Erkenntnis aller Wahrheitswerte dessen ein, was menschlicherseits durch Sätze, Aussagen, Propositionen oder dergleichen zum Ausdruck gebracht wird. Gott weiß einschlussweise von jedem Sachverhalt, ob er besteht oder nicht besteht, auch wenn er Sachverhalte nicht als einzelne, sondern in ihrem Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit als ganzer erkennt und auch wenn er Sachverhalte nicht vermittelt durch Sätze oder Aussagen, sondern ganz unvermittelt erkennt. Das große Problem beim Allwissenheitsbegriff ist die Vereinbar519 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Allwissende

keit von göttlicher Allwissenheit und kreatürlicher Willensfreiheit. Es stellt sich unter einer doppelten Voraussetzung: (A) Die göttliche Allwissenheit erstreckt sich auch auf zukünftige kontingente Ereignisse. (B) Es gibt echte geschöpfliche Freiheit. Mit der Voraussetzung (A) ist genauer gemeint, dass Gott nicht nur um die vergangenen freien Handlungen der Menschen weiß und die gegenwärtigen freien Handlungen der Menschen erkennt – was beides unproblematisch ist –, sondern dass er auch die zukünftigen freien Handlungen der Menschen, die zukünftige kontingente (d. h. nichtnotwendige) Ereignisse darstellen, kennt. Mit der Voraussetzung (B) ist konkret gemeint, dass der Mensch libertarische (auch libertarianische) Freiheit, also echte Willensfreiheit, besitzt. Echte Willensfreiheit liegt dann vor, wenn die menschliche Person nicht nur bewusste Urheberin ihrer Handlung ist, sondern zudem die Möglichkeit hat, unter genau denselben Bedingungen auch anders zu handeln. Unter diesen beiden Voraussetzungen stellt sich das Problem der Vereinbarkeit von göttlicher Allwissenheit und menschlicher Freiheit in aller Schärfe. Denn weiß Gott heute schon, wie sich die menschliche Person P morgen entscheiden wird, dann scheint P keine Möglichkeit mehr zu haben, sich morgen anders zu entscheiden. P kann sich morgen nicht anders entscheiden, da sich sonst Gott geirrt hätte, was durch die Allwissenheit Gottes ausgeschlossen ist. Das Wissen Gottes als Allwissenheit ist nämlich per definitionem unfehlbar. Gott kann aufgrund seiner Allwissenheit nicht irren. Kein Geschöpf kann bewirken, dass Gott sich täuscht. Wenn Gott heute schon weiß, wie sich die Person P morgen entscheiden wird, scheint sich P morgen nicht mehr frei im Sinne echter Willensfreiheit entscheiden zu können, scheint irgendwie schon festgelegt zu sein, wie sie sich entscheidet. Oder noch einmal andersherum formuliert: Damit Gott heute schon erkennen kann, wie sich P morgen entscheidet, scheint die morgige Entscheidung von P heute schon irgendwie feststehen zu müssen. Dann scheint aber P morgen nicht mehr wirklich frei sein zu können. Für das Problem der Vereinbarkeit von göttlicher Allwissenheit und menschlicher Freiheit gibt es verschiedene Lösungsversuche. Im Folgenden sollen vier Lösungsmodelle vorgestellt und beurteilt werden. 520 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die boethianische Lösung

17.2 Die boethianische Lösung Setzt man auf Seiten des Menschen echte Willensfreiheit und auf Seiten Gottes Erkenntnis künftiger freier Entscheidungen oder Handlungen der Menschen voraus, lautet die eigentliche Frage, wie Gott etwas voraussehen kann, das erst noch geschehen wird, wenn nicht er, sondern die handelnde Person P Ursache dessen ist, was geschieht, und wenn die handelnde Person sich dabei frei entscheiden können soll. »Die Antwort des Boethius lautet: Gott existiert außerhalb der Zeit. Deshalb gibt es für Gott weder Vergangenheit noch Zukunft. Gott erkennt alles aus der Perspektive seiner ewigen Gegenwart, die die ganze Fülle des unbegrenzten Lebens gleichzeitig umgreift und besitzt.« 1 In seinem Werk »Trost der Philosophie« definiert Boethius (ca. 480–ca. 524) die Ewigkeit Gottes als »vollständigen und vollendeten Besitz unbegrenzbaren Lebens« 2 und deutet sie damit im Sinne einer Überzeitlichkeit oder Außerzeitlichkeit bzw. Zeitlosigkeit Gottes. Von daher lässt sich der Ausdruck »Vorherwissen« nicht eigentlich auf Gott anwenden, denn für die ewige göttliche Perspektive gibt es keinen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Aus seiner ewigen, sprich überzeitlichen oder zeitlosen göttlichen Perspektive erkennt Gott alles, was aus unserer zeitgebundenen menschlichen Perspektive geschah, geschieht und geschehen wird, gewissermaßen »gleichzeitig« als gegenwärtig. »Somit sieht Gott auch zukünftige freie Entscheidungen nicht im eigentlichen Sinn voraus, sondern er erkennt sie so, wie zeitlich existierende Wesen das erkennen, was sich gegenwärtig vor ihren Augen abspielt.« 3 Die Pointe von Boethius’ Lösung besteht demnach darin, die zeitgebundene menschliche Erkenntnis synchroner Handlungen auf die zeitenthobene göttliche Erkenntnis zu übertragen. Wie für uns gegenwärtige Ereignisse innerhalb unseres Wahrnehmungsraums synchron erkennbar sind, so sind für Gott alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignisse synchron erkennbar. Wie unsere Erkenntnis synchroner Ereignisse als solche keinerlei kausale BeArmin Kreiner: Das wahre Antlitz Gottes – oder was wir meinen, wenn wir Gott sagen, Freiburg i. Br. 2006 [= Kreiner 2006], 346. 2 Aeternitas igitur est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio (Boethius: Consolatio philosophiae. Trost der Philosophie. Lateinisch – deutsch, Düsseldorf/Zürich 2004, V 6p. 9–11, 262). 3 Kreiner 2006, 347. 1

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Der Allwissende

einflussung dieser Ereignisse impliziert, so schließt auch Gottes synchrone Erkenntnis aller Ereignisse der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als solche keinerlei kausale Beeinflussung dieser Ereignisse ein. Und wie unsere Erkenntnis synchroner menschlicher Handlungen mit deren Freiheit problemlos vereinbar ist, so ist Gottes synchrone Erkenntnis künftiger menschlicher Entscheidungen und Handlungen mit deren Freiheit ohne weiteres zu vereinbaren. Wir können Gegenwärtiges erkennen, ohne es durch unsere Erkenntnis kausal zu beeinflussen oder durch unsere Erkenntnis dessen Freiheit aufzuheben. Analog dazu kann Gott in seiner ewigen Gegenwart nicht nur alles Vergangene und Gegenwärtige, sondern auch alles Zukünftige schauen, ohne es durch sein Schauen kausal zu bestimmen und somit durch sein Schauen dessen Freiheit aufzuheben. Insofern scheint das Problem der Vereinbarkeit von göttlichem Wissen künftiger freier Handlungen einerseits und menschlicher Freiheit andererseits gelöst zu sein. Die Frage ist jedoch, ob sich die ewige göttliche und die zeitliche menschliche Perspektive so klar voneinander trennen lassen. 4 Aus der zeitgebundenen menschlichen Perspektive gilt nach wie vor, dass zukünftige Handlungen von Gott erkannt werden. Man kann von Gott zwar nicht mehr sagen, dass er heute erkennt, wie sich P morgen entscheiden wird, weil es für die göttliche Perspektive keinen Unterschied zwischen heute und morgen gibt. Aber man kann weiterhin sagen, es sei heute bereits wahr, dass Gott erkennt, wie sich P morgen entscheiden wird. »Erkennbar kann das auch für Gott nur sein, wenn es schon irgendwie festgelegt ist. Damit taucht das Problem der Erkennbarkeit erneut auf, auch wenn Gottes Erkenntnis nun keinen Zeitindex mehr besitzt. Wenn Gott Vergangenes und Zukünftiges erkennen kann, dann gibt es zumindest eine Perspektive, in der alle Entscheidungen und Ereignisse immer schon festgelegt sind, nämlich die göttliche Perspektive. Gerade dies scheint die Möglichkeit freier Entscheidungen nach wie vor auszuschließen.« 5

Das Problem der Vereinbarkeit von uneingeschränkter göttlicher Allwissenheit und menschlicher Freiheit besteht folglich sowohl, wenn die Erkenntnis Gottes als zeitgebunden, als auch, wenn sie als zeitenthoben gedacht wird. Ein göttliches Vorherwissen im eigentlichen

4 5

Siehe zum Folgenden Kreiner 2006, 347 f. Kreiner 2006, 348.

522 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die boethianische Lösung

Sinn würde bedeuten, dass Gottes Erkenntnis einen zeitlichen Index besitzt, also zeitgebunden ist. 6 Formalisiert heißt das: (Z) Gott weiß zum Zeitpunkt t1, dass sich P zum Zeitpunkt t2 für A entscheiden wird. Ein solches Vorherwissen wäre möglich, wenn es eine »rückwirkende Verursachung« (backward causation) gäbe. Könnte ein zeitlich späteres Ereignis, nämlich P’s Entscheidung zum Zeitpunkt t2, ein früheres Ereignis, nämlich Gottes Wissen zum Zeitpunkt t1, kausal beeinflussen, wäre ein göttliches Vorherwissen möglich, ohne die Freiheit von P aufzuheben. Die Vorstellung einer rückwirkenden Verursachung, d. h. die Vorstellung, dass eine Wirkung ihrer Ursache zeitlich vorausgeht, oder allgemeiner gesagt, dass die Zukunft die Vergangenheit beeinflusst, ist jedoch metaphysisch nur schwer nachzuvollziehen. Schließt man die Möglichkeit rückwirkender Verursachung aus, dann folgt aus (Z), dass P keine Möglichkeit hat, sich nicht für A zu entscheiden, ohne Gottes Vorherwissen zu widerlegen, dass also, allgemein gesprochen, göttliches Vorherwissen libertarische Freiheit ausschließt. Besitzt Gottes Wissen keinen zeitlichen Index, weiß Gott folglich in einem ewigen Sinn, dass sich P zum Zeitpunkt t2 für A entscheidet, gilt formalisiert ausgedrückt immer noch: (E) Zum Zeitpunkt t1 ist wahr, dass Gott weiß, dass sich P zum Zeitpunkt t2 für A entscheiden wird. In Satz (E) wird nicht mehr vorausgesetzt, dass Gottes Wissen zeitgebunden ist. Dennoch bleibt das eigentliche Problem bestehen. Wiederum hat P keine Möglichkeit, sich anders zu entscheiden. Denn wenn es gegenwärtig wahr ist, dass Gott weiß, wie ich mich in der Zukunft entscheiden werde, dann scheint dieses Wissen immer noch mit meiner Willensfreiheit unvereinbar zu sein, auch wenn es sich nicht mehr um ein Vorherwissen im eigentlichen Sinn handelt. Schließt die zeitgebundene Allwissenheit Gottes künftige Freiheit aus, dann gilt dies auch für die zeitenthobene Allwissenheit Gottes. Die boethianische Lösung kann das Problem nicht wirklich lösen und kann daher nicht überzeugen.

6

Siehe zum Folgenden Kreiner 2006, 348, Anmerkung 142.

523 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Allwissende

»In gewisser Hinsicht verschärft sich durch die Annahme einer überzeitlichen Ewigkeit Gottes sogar die Problematik, weil jetzt der Eindruck entsteht, dass der gesamte Ereignisverlauf immer schon festgelegt sein muss, um für Gott erkennbar zu sein. Wenn die aktuale Welt in ihrer gesamten zeitlichen Erstreckung für Gott immer schon erkennbar ist, dann muss auch die Ereignisfolge immer schon festgelegt sein. Die Frage, wer denn diesen Ereignisverlauf festgelegt hat, lässt sich kaum mehr vermeiden. Als Antwort kommen die Geschöpfe wohl nicht in Frage. Gott scheint ihn festgelegt zu haben. Somit besitzt diese Lösung eine Tendenz zu einem theologischen Fatalismus und kausalen Determinismus.« 7

17.3 Die molinistische Lösung Im Zusammenhang des spätscholastischen Gnadenstreits (controversia de auxiliis) entwickelte im 16. Jahrhundert der spanische Jesuit Luis de Molina (1535–1600) eine Problemlösung, die unter der Bezeichnung scientia media (mittleres Wissen) Schule machte und eine lang anhaltende Kontroverse innerhalb der katholischen Tradition entfachte. In jüngster Vergangenheit wurde Molinas Idee einer scientia media in der analytischen Philosophie erneut aufgegriffen und heftig diskutiert. Molina bzw. der später nach ihm benannte Molinismus will mit der Idee des mittleren Wissens zeigen, inwiefern uneingeschränkte göttliche Allwissenheit, Vorsehung und Prädestination (Vorherbestimmung) einerseits und uneingeschränkte libertarische Freiheit des Menschen andererseits miteinander vereinbar sind. Molina unterscheidet drei Formen des göttlichen Wissens. Zunächst besitzt Gott die scientia mere naturalis, d. h. ein natürliches Wissen. Darin weiß Gott um alle notwendigen Wahrheiten, aber auch um alle reinen Möglichkeiten (Possibilien). Gott kennt alle möglichen Welten, die er erschaffen könnte, d. h. alle kontingenten und widerspruchsfrei beschreibbaren Zustände, die von ihm aktualisiert werden könnten. 8 Und er weiß, wie sich alle möglichen freien Personen in allen möglichen Situationen verhalten könnten. Molina nennt dieses Wissen scientia mere naturalis, weil es zur Natur eines allwissenden Gottes gehört und weil sein Inhalt nicht von Willensbeschlüssen Gottes abhängt. 7 8

Kreiner 2006, 349. Vgl. Kreiner 2006, 350.

524 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die molinistische Lösung

»Darüber hinaus kennt Gott die Welt, die er in freier Entscheidung tatsächlich erschafft bzw. aktualisiert, und zwar vollständig. Gott entscheidet, welche der zahllosen möglichen Welten die wirkliche Welt wird. Somit weiß er auch, wie sich die tatsächlich erschaffenen Wesen in jeder Situation entscheiden. Dieses Wissen wird als scientia libera bezeichnet, weil es auf dem freien göttlichen Willensakt beruht, eine der möglichen Welten zu aktualisieren.« 9

Gottes scientia libera (freies Wissen) umfasst mithin alles, was vom göttlichen Schöpfungswillen abhängt, d. h. alle Tatsachen der Welt, die jemals bestanden haben, bestehen und bestehen werden, mithin alles, was der Fall ist, alles irgendwann Wirkliche. Das freie Wissen Gottes schließt damit auch sämtliche künftigen freien Entscheidungen und Handlungen von Geschöpfen ein, die einmal wirklich sein werden. Wie oder woher kann aber Gott um die künftigen freien Handlungen in der aktualen Welt wissen? Darauf gibt Molina Antwort, indem er als dritte Form göttlichen Wissens die scientia media (das mittlere Wissen) einführt. Aufgrund der scientia media weiß Gott nicht nur, wie sich jedes freie Geschöpf in allen möglichen Situationen entscheiden könnte (scientia naturalis), sondern auch, wie es sich entscheiden würde, wenn es sich in einer bestimmten Situation befände. Gott weiß von jedem möglichen freien Geschöpf, wie es sich in jeder möglichen Situation verhalten würde. Gott kennt demnach die Wahrheitswerte aller kontrafaktischen Konditionalsätze (kurz: Konditionale), die sich auf freie Entscheidungen beziehen, er kennt alle Wahrheitswerte der kontrafaktischen Konditionale der Freiheit (counterfactuals of freedom; Futuribilia), er kennt alle freien Eventualhandlungen. Formalisiert ausgedrückt: Gott weiß von jeder möglichen freien Person P bezüglich jeder möglichen Situation S: Wenn P in die Situation S kommen würde, würde sie sich für A entscheiden. Die scientia media soll nun aber nicht von Gottes freier Entscheidung abhängen, sondern von den freien Entscheidungen der Geschöpfe. »Gott weiß um derartige Entscheidungen, ohne sie zu verursachen. Somit bleiben die Geschöpfe selbst die Urheber ihrer Entscheidungen. Wenn Gott allerdings die betreffenden Bedingungen aktualisiert, dann werden sich die Geschöpfe entsprechend seinem Wissen entscheiden.« 10 9 10

Kreiner 2006, 350. Kreiner 2006, 351.

525 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Allwissende

Die scientia media hat ihre eigentliche Bedeutung zwischen dem Zustand, in dem Gott alle möglichen Welten kennt (scientia mere naturalis), und dem Zustand, indem er eine dieser möglichen Welten realisiert (scientia libera). Insofern bewegt sich die scientia media logisch zwischen der scientia mere naturalis und der scientia libera, auch wenn sie der scientia mere naturalis näher steht. Aufgrund seines freien Wissens (scientia libera) um die aktuale Welt weiß Gott genau, in welche Situationen jedes freie Geschöpf kommen wird, und aufgrund seines mittleren Wissens (scientia media) weiß er exakt, und nicht nur probabilistisch (d. h. mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit), wie sich jedes freie Geschöpf in diesen Situationen frei verhalten wird. Anders gesagt: Indem Gott die Wahrheitswerte aller kontrafaktischen Konditionale der Freiheit kennt, wird durch seinen Willensbeschluss, eine bestimmte Welt von den vielen möglichen Welten zu aktualisieren und damit bestimmte Situationen (d. h. bestimmte Antezedensbedingungen der Konditionale) zu realisieren, aus dem mittleren Wissen ein sicheres Vorherwissen aller zukünftigen freien Akte der Geschöpfe. Gott kennt mithin den gesamten Ereignisverlauf der aktualen Welt. Er kennt aber nicht nur diesen gesamten Ereignisverlauf, sondern kann ihn auch mit Hilfe seines mittleren Wissens kontrollieren. Weiß Gott nämlich, wie sich ein Wesen in allen möglichen Situationen entscheiden würde, kann er die Situationen aktualisieren, die das von ihm gewünschte Ergebnis zeitigen. Gott kann den aktualen Ereignisverlauf der Welt seinem Willen entsprechend kontrollieren und damit seine Vorsehung und Prädestination ausüben, ohne ihn unmittelbar zu verursachen und ohne die Freiheit der Geschöpfe aufzuheben. Er kann aus den vielen möglichen Welten die Welt auswählen und aktualisieren, die seinem Willen insgesamt am meisten entspricht. Er kann die Welt erwählen, in der diejenigen zur Seligkeit gelangen, die er selig haben will. Folgt man dieser Logik Molinas bzw. des Molinismus, ist zu hoffen, dass Gott die Welt realisiert hat, in der möglichst viele, am besten alle die Seligkeit erlangen. Durch die Annahme eines mittleren Wissens Gottes scheint also das Problem der Kompatibilität von göttlicher Allwissenheit, Vorsehung und Prädestination einerseits und menschlicher libertarischer Freiheit andererseits gelöst zu sein. Kann diese Lösung aber wirklich überzeugen? Im Kern der Lehre von der scientia media steht die folgende Überzeugung: Sämtliche kontrafaktischen Konditionale der Freiheit besitzen bestimmte Wahrheitswerte und Gott kennt diese Wahrheits526 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die kompatibilistische Lösung

werte allesamt. Das bedeutet: Bezüglich jeder möglichen Person steht fest, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten würde. Wenn aber feststeht, woher oder wodurch auch immer, wie sich Personen in bestimmten Situationen verhalten würden, scheinen sie nicht mehr in einem echten Sinn frei sein zu können. Die Personen bzw. freien Geschöpfe scheinen sich dann in bestimmten Situationen nicht mehr anders entscheiden zu können. Sie scheinen in den Situationen, in die sie kommen, jeweils nur eine Entscheidungsmöglichkeit zu haben. Es scheint, dass sie durch ihren Charakter, durch ihre Präferenzen, durch ihre Vergangenheit oder ähnliches darauf festgelegt sind, wie sie sich entscheiden. Dann sind sie aber in ihrer Entscheidung kausal determiniert. Sie sind nicht mehr im libertarischen Sinn frei. Denn das Sich-anders-entscheiden-Können unter genau denselben Umständen macht gerade das Wesen libertarischer Freiheit aus. Libertarische Freiheit besagt: Kommt die Person P in die Situation S, kann sie sich für A, aber auch gegen A (z. B. für B oder C) entscheiden. Die scientia media hingegen besagt: Kommt die Person P in die Situation S, entscheidet sie sich ganz sicher für A. Die scientia media, d. h. die Annahme wahrer kontrafaktischer Konditionale der Freiheit macht einen kausalen Determinismus unausweichlich. Die Annahme einer scientia media Gottes schließt in letzter Konsequenz echte Willensfreiheit aus. Damit hebt der Molinismus gerade das auf, wofür er sich im Gnadenstreit stark machen wollte und was er retten wollte: libertarische Freiheit. Der Molinismus erklärt die uneingeschränkte Allwissenheit Gottes mit Hilfe der scientia media, des mittleren Wissens Gottes. Dieses Wissen kann er nicht wirklich begründen, ohne einen kausalen Determinismus vorauszusetzen. Damit hebt er aber die libertarische Freiheit des Menschen auf. Dem Molinismus gelingt es daher mit seiner Theorie von der scientia media nicht, uneingeschränkte Allwissenheit Gottes und libertarische Freiheit des Menschen gleichzeitig aufrechtzuerhalten und die Vereinbarkeit von beiden aufzuzeigen.

17.4 Die kompatibilistische Lösung Vor allem im Zusammenhang des Molinismus hat sich bereits eine weitere Lösung des Problems der Vereinbarkeit von göttlicher Allwissenheit und menschlicher Freiheit angedeutet, gegen Ende sogar 527 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Allwissende

geradezu abgezeichnet oder aufgedrängt: die kompatibilistische. Dem Kompatibilismus zufolge sind Freiheit bzw. freier Wille und Determinismus grundsätzlich miteinander vereinbar. Nach dem Determinismus ist jedes Geschehen in der Welt durch die ihm vorausgehenden Bedingungen oder Ursachen eindeutig und unveränderlich bestimmt. Demnach gibt es für alles, was geschieht – menschliche Entscheidungen, Wahlen und Handlungen eingeschlossen – Bedingungen, die bewirken, dass alles genau so und nicht anders geschieht. 11 Dem kausalen Determinismus zufolge ist der gesamte Ereignisablauf der Welt durch jeweils vorausgehende Bedingungen oder Ursachen eindeutig und vollständig bestimmt. Ist alles Geschehen in der Welt kausal determiniert, ist es Gott ein leichtes, den gesamten Ereignisverlauf der Welt, einschließlich künftiger Entscheidungen und Handlungen der Menschen, vorauszuwissen, kennt er doch die Ausgangsbedingungen der Welt sowie die Naturgesetze, die in ihr walten. Für den Kompatibilismus, der eine deterministische Ontologie sowie die Vereinbarkeit von Determinismus und menschlicher Freiheit voraussetzt, sind daher auch uneingeschränkte Allwissenheit Gottes und menschliche Freiheit miteinander kompatibel. Aufgrund der kausalen Determiniertheit alles Geschehens in der Welt kennt Gott auch alles künftige Geschehen. Nach kompatibilistischer Auffassung ist ein kausaler Determinismus auch mit menschlicher Willensfreiheit vereinbar, insofern der Mensch auch jeweils eine andere Entscheidung hätte treffen können, wenn er psychologisch durch andere Wünsche oder Überzeugungen anders disponiert gewesen wäre. Lässt sich aber ein kausaler Determinismus wirklich mit menschlicher Willensfreiheit vereinbaren? Ist ein kompatibilistisches Verständnis der menschlichen Willensfreiheit rational haltbar? Ein kausaler Determinismus besagt, dass alle Ereignisse einschließlich unserer Entscheidungen die notwendigen Konsequenzen aus Naturgesetzen und längst vergangenen Ereignissen sind. 12 Weder auf Naturgesetze noch auf längst vergangene Ereignisse haben wir einen kausalen Einfluss. Wir können sie nicht ändern. Dann können wir aber auch nichts an all jenen Ereignissen ändern, die aus den Naturgesetzen und der fernen Vergangenheit notwendigerweise reVgl. Kreiner 2006, 355. Vgl. Kreiner 2006, 355 f. Kreiner gibt hier Argumente von Peter van Inwagen wieder.

11 12

528 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die kompatibilistische Lösung

sultieren. Dies gilt auch für unsere Entscheidungen und Handlungen. »Der Determinismus schließt aus, dass der zukünftige Ereignisverlauf in einem signifikanten Sinn von uns abhängt oder unserer Kontrolle unterliegt. Er schließt ebenfalls aus, dass zu irgendeinem Zeitpunkt tatsächlich mehrere Optionen offen stehen.« 13 Dies scheint aber der Bedeutung dessen, was unter Willensfreiheit verstanden wird, ganz offenkundig zu widersprechen. Eine kompatibilistische Freiheit, d. h. eine Freiheit, die mit einem kausalen Determinismus vereinbar ist, verdient nicht den Namen Willensfreiheit. Kompatibilistische Freiheit beläuft sich höchstens auf Handlungsfreiheit, d. h. eine Freiheit, die nicht durch Abwesenheit von »Notwendigkeit«, sondern nur durch Abwesenheit von »Zwang« gekennzeichnet ist. Frei im Sinne der Handlungsfreiheit sind wir dann, wenn wir das tun können, was wir tun wollen, ohne von jemandem oder etwas daran gehindert zu werden. In dem, was wir wollen, sind wir aber determiniert. Wir hätten uns anders entscheiden können und anderes wollen können, wenn wir andere Wünsche, Überzeugungen und Charaktereigenschaften gehabt hätten. Aber dass wir gerade diese Wünsche, Überzeugungen und Charaktereigenschaften hatten, war kausal festgelegt. Ein kausaler Determinismus schließt mithin echte Willensfreiheit aus, die gerade darin besteht, unter denselben Bedingungen sich auch anders entscheiden zu können, seinem Willen eine andere Richtung geben zu können. Der Kompatiblismus kann zwar das Problem der Vereinbarkeit von uneingeschränkter göttlicher Allwissenheit und menschlicher Freiheit lösen, aber er kann dies nur um den Preis, menschliche Freiheit auf bloße Handlungsfreiheit zu reduzieren. Wer davon überzeugt ist, dass der Mensch echte Willensfreiheit besitzt, für den ist die kompatibilistische Lösung daher keine akzeptable Lösung. Für ein inkompatibilistisches oder libertarisches Verständnis der Freiheit sprechen vor allem drei Gründe, die hier nur angedeutet, nicht ausführlich dargestellt werden sollen: 1. das Argument aus moralischer Erfahrung, 2. das Argument der direkten Erfahrung und 3. das Argument des performativen Widerspruchs. 1. Wir machen die Erfahrung, sittlich richtig handeln zu sollen und für unsere Handlungen sittlich verantwortlich zu sein. Diese Erfahrung kann sinnvollerweise nur gemacht werden, wenn der Mensch eine echte Willens- und Entscheidungsfreiheit besitzt, d. h. 13

Kreiner 2006, 356.

529 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Allwissende

sich in bestimmten Situationen so oder auch anders entscheiden kann. Die moralische Erfahrung setzt als transzendentale Bedingung ihrer Möglichkeit echte Willens- und Entscheidungsfreiheit voraus. 14 2. Zumindest in einigen Fällen scheinen wir unsere Willens- und Entscheidungsfreiheit direkt erfahren zu können. Es legt sich der Eindruck nahe, dass wir uns zumindest in einigen Fällen in einem echten Entscheidungsprozess befinden, bei dem wir mehrere Optionen gegeneinander abwägen und schließlich aus mehreren Optionen eine wählen und aktualisieren, obwohl es in unserer Macht stünde, auch eine der anderen Optionen zu verwirklichen. Unsere Selbstwahrnehmung oder Selbsterfahrung spricht für echte Willensfreiheit. 15 3. Wer echte Willensfreiheit bestreitet, gerät in einen performativen Widerspruch. Wer behauptet, es gebe keine echte Willensfreiheit, widerspricht im Vollzug seiner Behauptung dem Inhalt der Behauptung, denn die Behauptung soll als Ausdruck seiner nichtdeterminierten, echt freien Überzeugung verstanden werden. Auch soll die Behauptung eine nicht-determinierte, echt freie Stellungnahme bei den Gesprächspartnern hervorrufen. Mit anderen Worten: Niemand ist ernsthaft bereit, zu behaupten »Es gibt keine echte Willensfreiheit« und hinzuzufügen »Aber ich bin determiniert, dies zu behaupten«, »Ich bin in meiner Überzeugung determiniert«, »Ich kann gar nicht anders, als dies zu behaupten«. Auch wäre die Diskussion über Freiheit ganz reiz- und sinnlos, wenn die Gesprächspartner in ihren Reaktionen und Stellungnahmen vollkommen determiniert wären. In der Behauptung »Es gibt keine echte Freiheit« liegt ähnlich wie bei der Behauptung »Es gibt keine Wahrheit« ein performativer Widerspruch vor, ein Widerspruch zwischen dem, was inhaltlich behauptet wird, und dem, was im Vollzug der Behauptung beansprucht wird. Ein echter Diskurs über Freiheit setzt transzendental-pragmatisch echt freie Gesprächspartner voraus, die in ihren Überzeugungen und Stellungnahmen nicht determiniert sind, sonst ist der Diskurs sinnlos. Wer von einer echten Willens-, Entscheidungs- oder Wahlfreiheit des Menschen überzeugt ist, für den scheidet die kompatibilistische Lösung des Problems der Vereinbarkeit von göttlicher Allwissenheit und menschlicher Freiheit aus. Vgl. Kants Lehre vom Postulat der Freiheit in der »Kritik der praktischen Vernunft«; vgl. auch Löffler 2006, 102–106. 15 Vgl. Kreiner 2006, 345. 14

530 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die Lösung der offenen Zukunft.

17.5 Die Lösung der offenen Zukunft. Ein inkompatibilistisches oder libertarisches Verständnis von Freiheit setzt eine indeterministische Ontologie voraus. Ihr zufolge ist zumindest nicht alles, was in der Welt geschieht, durch vorausgehende Bedingungen oder Ursachen eindeutig bestimmt. Dabei bedeutet der hier gemeinte Indeterminismus nicht nur nicht, dass schlechthin alles indeterminiert sei, sondern auch nicht, dass freie Entscheidungen oder Handlungen überhaupt keine Ursachen haben. Er bedeutet nur, dass diese Ursachen die Entscheidungen und Handlungen nicht notwendig hervorbringen. 16 Kausale Faktoren wie z. B. Bedürfnisse, Wünsche, Überzeugungen, Präferenzen, Charaktereigenschaften usw. können in die Entscheidung einfließen, sie beeinflussen. Aber sie determinieren die Entscheidung nicht. Bei einer echt freien Entscheidung ist der Prozess des Überlegens und Entscheidens weder determiniert (d. h. von vornherein festgelegt) noch zufällig. Er ist stattdessen offen. Dies kann er aber nur sein, wenn tatsächlich mehrere Optionen möglich sind, wie das der Indeterminismus annimmt. Der Indeterminismus setzt ein Doppeltes voraus: zum einen eine gewisse Autonomie gegenüber der Vergangenheit und zum anderen gewisse Alternativen in der Zukunft. Sollen wir wirklich frei sein, so müssen wir von der Vergangenheit in gewissem Sinne unabhängig sein, sodass wir von ihr zumindest nicht in allen Fällen genötigt werden, genau das zu tun, was wir tun. Sollen wir wirklich frei sein, so müssen wir auf unserem Lebensweg zumindest an einigen Stellen an echte »Gabelungen«, d. h. echte Alternativen stoßen, die mehrere reale Möglichkeiten repräsentieren. »Kurz: Willensfreiheit setzt eine Welt mit einer jeweils ›offenen‹ Zukunft voraus. Eine offene Zukunft wird sowohl durch den theologischen als auch physikalischen Determinismus ausgeschlossen.« 17 Wüsste Gott die Zukunft in allen Einzelheiten genau voraus, wäre die Zukunft festgelegt und unveränderbar. Sie würde sich in dieser Hinsicht nicht von der Vergangenheit unterscheiden. »Signifikante Freiheit ist aber nur in einer Welt möglich, in der sich Vergangenheit und Zukunft insofern unterscheiden, als das Vergangene unveränderlich, das Zukünftige aber offen ist.« 18 Ist die Zukunft aber 16 17 18

Vgl. Kreiner 2006, 357. Kreiner 2006, 357. Kreiner 2006, 358.

531 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Allwissende

offen, so scheint Gott nicht mehr allwissend sein zu können. Denn dann scheint es wahrheitsfähige Aussagen über zukünftige freie Entscheidungen der Menschen zu geben, deren Wahrheitswert Gott nicht kennt. In einer Welt mit einer offenen Zukunft scheint für einige wahrheitsfähige Sätze zu gelten, dass Gott nicht weiß, ob sie wahr oder falsch sind. Dann scheint Gott aber nicht mehr im umfassenden Sinn allwissend sein zu können und nicht mehr maximal vollkommen zu sein. Aus der Annahme, die Welt habe eine offene Zukunft, scheint sich also ein Widerspruch zwischen göttlicher Allwissenheit und menschlicher Willensfreiheit zu ergeben. Diese Konsequenz ist aber keineswegs zwingend. Aus der Offenheit der Zukunft folgt nicht, dass Gottes Allwissenheit ungebührlich eingeschränkt ist, sondern dass – metaphysisch recht besehen – Aussagen über zukünftige freie Entscheidungen des Menschen gegenwärtig keinen Wahrheitswert besitzen und somit weder wahr noch falsch sind. Sie sind noch nicht wahr oder falsch, weil der Mensch sich noch nicht entschieden hat. Sie werden einen Wahrheitswert besitzen, sobald sich der Mensch entschieden haben wird. Aber jetzt besitzen sie noch keinen Wahrheitswert, weil die betreffenden Sachverhalte, die sie behaupten, noch überhaupt nicht bestehen, es folglich nichts gibt, was sie wahr oder falsch machen könnte. Diese Überlegung setzt eine bestimmte, aber sehr plausible Wahrheitstheorie voraus. Demnach ist eine Aussage genau dann wahr, wenn der in ihr behauptete Sachverhalt besteht. Wenn nun der behauptete Sachverhalt noch gar nicht besteht, bzw. noch gar nicht bestehen kann und sich auch sein Bestehen noch gar nicht vorauswissen lässt, weil er durch die künftige freie Entscheidung eines Menschen erst »geschaffen« wird, kann die entsprechende Aussage auch nicht wahr bzw. wahrheitsfähig sein, kann die Aussage auch noch gar keinen Wahrheitswert besitzen. Noch einmal anders formuliert: Eine Aussage ist genau dann wahr, wenn sie mit dem in ihr behaupteten Sachverhalt übereinstimmt. Besteht der künftige Sachverhalt noch nicht und lässt er sich auch nicht vorhersehen, wie im Falle einer künftigen freien Entscheidung, gibt es nichts, womit die betreffende Aussage übereinstimmen könnte. Die betreffende Aussage hat daher keinen Wahrheitswert. Sind gegenwärtige Aussagen über zukünftige freie Entscheidungen aber weder wahr noch falsch, so kann Gott auch in seiner Allwissenheit ihren Wahrheitswert nicht erkennen, weil es hier schlicht nichts Definitives zu erkennen gibt. Es ist dann logisch unmöglich, 532 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die Lösung der offenen Zukunft.

ihren Wahrheitswert zu kennen. »Die Allwissenheit Gottes ist – ähnlich wie die Allmacht – durch das eingeschränkt, was zu erkennen logisch möglich ist.« 19 Wie die Allmacht die Fähigkeit Gottes darstellt, das zu tun, was für ein vollkommenes Wesen zu tun logisch möglich ist, so stellt die Allwissenheit die Fähigkeit Gottes dar, das zu erkennen, was zu erkennen für ein vollkommenes Wesen logisch möglich ist. 20 Es ist Gott aber logisch unmöglich, die freie kontingente Zukunft mit Gewissheit vorauszuwissen. Er kann sie höchstens mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erkennen. Erschafft Gott eine Welt mit offener Zukunft, so kann er ihren Ereignisverlauf nicht in allen Einzelheiten mit Gewissheit vorherwissen. Das macht seine Allwissenheit jedoch nicht unvollständig und gefährdet nicht seinen Status als maximal vollkommenes Wesen. Gott bleibt auch bei einer offenen Zukunft vollkommen allwissend, insofern er jeweils alles weiß, was überhaupt wissbar ist. Allerdings ist bei einer offenen Zukunft seine Allwissenheit zeitlich gebunden. Sie hat einen zeitlichen Index. Gott weiß zu jedem Zeitpunkt t von jeder Aussage, die zum Zeitpunkt t wahr oder falsch ist, ob sie wahr oder falsch ist. Er weiß zu jedem Zeitpunkt, das zu diesem Zeitpunkt Wissbare. Seine Allwissenheit ist zwar logisch eingeschränkt, nicht aber metaphysisch. Gott ist auch bei einer offenen Zukunft der Welt uneingeschränkt allwissend, insofern er immer alles weiß, was man überhaupt wissen kann. Die Lösung des Problems der Vereinbarkeit von göttlicher Allwissenheit und menschlicher Willensfreiheit mittels einer offenen Zukunft der Welt steht im Gegensatz zur boethianischen, augustinischen oder auch thomistischen Vorstellung von Gottes Ewigkeit als vollkommener Zeitlosigkeit. Diesem Modell zufolge besteht Gottes maximale Vollkommenheit darin, sich niemals zu ändern, ja überhaupt ändern zu können, und vollkommen außerhalb der Zeit zu existieren. Gott erkennt von seiner ewigen Gegenwart her alles Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige. Er kennt den Ereignisverlauf der Welt vollständig und exakt. Es besteht nur eine einseitige Kausalrelation zwischen Gott und Welt. Gott kann zwar kausal auf die Welt einwirken. Aber die Welt kann ihn in keiner Weise kausal beeinflussen.

19 20

Kreiner 2006, 358. Vgl. Kreiner 2006, 359.

533 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Allwissende

Dem Modell von der offenen Zukunft zufolge ist hingegen auch für Gott die Zukunft der Welt in gewissem Sinn offen. Gott erkennt die freien künftigen Entscheidungen der Menschen, insofern sie wirklich frei sind, nicht, weil er sie nicht erkennen kann. Gott kennt nicht den gesamten Ereignisverlauf der Welt. Das bedeutet umgekehrt: Das Wissen Gottes ändert sich mit den freien Entscheidungen in der Welt. Die freien Entscheidungen der Menschen beeinflussen das Wissen Gottes kausal, sie verändern es. Es besteht keine völlig einseitige Kausalrelation zwischen Gott und Welt, sondern eine wechselseitige. Gottes Wissen ist damit veränderlich. Gott selbst ist veränderlich. 21

17.6 Die Vorsehung Gottes angesichts einer offenen Zukunft Lässt sich mit der Vorstellung einer offenen Zukunft der Welt überhaupt noch die Vorstellung von Gottes Vorsehung und positiver Prädestination, d. h. Prädestination zum Heil, in der Welt vereinbaren? Was kann angesichts einer offenen Zukunft die Vorsehung Gottes noch bedeuten? Die Vorsehung Gottes beruht ganz allgemein gesprochen auf dem Zusammenspiel von göttlicher Allmacht und göttlicher Allwissenheit. Gott erschafft nicht nur eine Welt, er will sie zu einem Ziel führen. Dank seiner Vorsehung gelingt es ihm, dieses Ziel zu verwirklichen. Durch seine Allmacht und Allwissenheit ist er imstande, die Schöpfung so zu lenken, wie er es vorgesehen hat, kann er seine Schöpfungsabsichten realisieren. Nach eher traditioneller Auffassung übt Gott seine Vorsehung aus, indem er alles in der Welt bestimmt und vorherweiß. Gottes Allmacht und Allwissenheit sind völlig uneingeschränkt, sodass er den gesamten Ereignisverlauf der Welt kontrollieren und erkennen kann. Gemäß calvinistischer Vorstellung kennt Gott nicht nur alle Ereignisse der Welt, sondern scheint sie auch alle vorherbestimmt zu haben. Er hat vorherbestimmt, welche Menschen das Heil erlangen Zur Vereinbarkeit von Gottes Allwissenheit und Freiheit des Menschen siehe Johannes Grössl: Die Freiheit des Menschen als Risiko Gottes. Der Offene Theismus als Konzeption der Vereinbarkeit von göttlicher Allwissenheit und menschlicher Freiheit, Münster 2015.

21

534 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die Vorsehung Gottes angesichts einer offenen Zukunft

(positive Prädestination) und welche Menschen der Verdammnis anheimfallen (negative Prädestination). Bei solch einem starken göttlichen oder theologischen Determinismus fragt sich, ob Gott nicht letztlich auch für die Übel in der Welt verantwortlich ist. Bestimmt und kontrolliert Gott alles in der Welt, scheint er auch das Übel in der Welt nicht nur zuzulassen, sondern irgendwie zu planen und zu wollen und damit letztlich selbst zu verursachen. Eine solche Konsequenz wäre mit seiner sittlichen Vollkommenheit (d. h. Güte) nicht zu vereinbaren. Eine göttliche Vorherbestimmung aller Ereignisse in der Welt würde zwar garantieren, dass alles, was in der Welt geschieht, dem Willen Gottes entspricht, aber sie schlösse auch menschliche Freiheit völlig aus. Mit einem vollständigen theologischen Determinismus ist echte menschliche Freiheit unvereinbar. Gemäß thomistischer Vorstellung sind einige Entscheidungen und Handlungen der Menschen von Gott positiv gewollt, einige jedoch nicht von ihm gewollt, sondern nur zugelassen. Sittlich schlechte bzw. sündhafte Taten sind, wie im Zusammenhang der Allmacht Gottes festgestellt wurde, von Gott nur zugelassen, in keiner Weise gewollt oder gar mitverursacht. Nach thomistischer Gnadenlehre bewegt Gott bei heilsrelevanten Akten durch seine Gnade den menschlichen Willen so vorher, dass dieser im Grunde keine andere Wahl hat. Der Mensch muss das Gute, das Gott will, ebenfalls wollen. Seine Willensentscheidung ist von Gott vorherbestimmt (prädeterminiert). Insofern ließe sich hier von einem partiellen theologischen Determinismus sprechen. Durch diesen Determinismus ist es Gott grundsätzlich möglich, seinen Heilsplan in der Welt durchzusetzen. Aber auch beim thomistischen Modell ist die Freiheit des Menschen aufgehoben, nicht nur weil Gott bestimmte heilsrelevante Akte des Menschen prädeterminiert, sondern auch weil er in seiner ewigen Gegenwart alles Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige zugleich schaut, wodurch künftige Entscheidungen der Menschen festgelegt sind. Eine völlig uneingeschränkte Allwissenheit macht menschliche Willensfreiheit unmöglich. Im Gegensatz zu diesen traditionellen Modellen geht das Modell von der offenen Zukunft von wirklich freien Entscheidungen des Menschen in der Welt aus. Weil der Mensch zumindest an einigen Stellen seines Lebensweges echt freie Entscheidungen treffen kann, ist auch für Gott die Zukunft in gewissem Sinn offen. Er weiß nicht alle Ereignisse der Welt voraus, und er kann auch nicht alle Ereignisse 535 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Der Allwissende

in der Welt kontrollieren. Insofern scheint beim Modell der offenen Zukunft seine Allmacht und Allwissenheit im Vergleich zu der Allmacht und Allwissenheit, die ihm in traditionellen Modellen zugesprochen wird, eingeschränkt zu sein. Das Modell von der offenen Zukunft wird hauptsächlich von Anhängern des open view (auch open theism) vertreten. Es schließt sich aber auch sehr gut an das Modell vom Zusammenwirken Gottes mit der Welt an, das im Zusammenhang der Allmacht Gottes vorgestellt wurde. 22 Dieses Modell denkt die Selbständigkeit und Selbstbestimmung der Schöpfung noch radikaler als der open theism. Zu ihm passt ausgezeichnet das Modell von der offenen Zukunft. Demnach hat Gott aus Liebe die Welt mit der größtmöglichen relativen Selbständigkeit und Autonomie erschaffen. Die Autonomie der Welt gipfelt in der Freiheit des Menschen. Indem Gott eine Welt mit echter Freiheit erschafft, nimmt er in Kauf, die Zukunft dieser Welt nicht in allen Einzelheiten zu kennen und kontrollieren zu können. Auch für ihn ist dadurch die Zukunft der Welt in einigen Hinsichten offen. Zugunsten der Selbständigkeit und Freiheit der Welt schränkt er in gewissem Sinn seine Allmacht und Allwissenheit ein. Aus Liebe teilt er etwas von der Macht seiner Selbststimmung der Schöpfung mit und macht die freien Geschöpfe zum Partner seiner Liebe. Indem Gott eine Welt mit echter Freiheit und offener Zukunft erschafft, geht er ein gewisses Risiko ein. »Gott geht das Wagnis ein, dass seine Geschöpfe Entscheidungen treffen, die er weder als solche noch in ihren Auswirkungen gutheißt und will.« 23 Er riskiert, dass vieles in seiner Schöpfung geschieht, was von ihm nicht beabsichtigt, nicht geplant und nicht gewollt ist, was er nur um der Autonomie der Schöpfung willen zulässt. Damit verzichtet er auch auf die Möglichkeit, einen Schöpfungsplan im Detail durchzusetzen. Was kann aber im Modell der offenen Zukunft, so sei nochmals gefragt, die Vorsehung Gottes dann noch bedeuten? Wie kann ein Gott, dessen Allmacht und Allwissenheit angesichts einer offenen Zukunft der Schöpfung eingeschränkt zu sein scheint, seine Schöpfungsabsichten überhaupt noch verwirklichen? Im Modell vom Zusammenwirken Gottes mit den Zweitursachen kombiniert mit dem Modell von der offenen Zukunft bedeutet Vorsehung Gottes, dass Gott permanent die Schöpfung dazu 22 23

Siehe Kap. 16.5. Kreiner 2006, 363.

536 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Die Vorsehung Gottes angesichts einer offenen Zukunft

bewegt, sich auf das Schöpfungsziel zuzubewegen. Schöpfungsziel ist die volle Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung sowie die vollständige Einheit mit Gott, theologisch ausgedrückt: das vollkommene Heil. Gott hat es Geschöpfen ermöglicht, sich über mehrere Stufen zu freien selbstbewussten Geschöpfen, sprich: zu Menschen, zu entwickeln. Den Menschen bewegt Gott unablässig dazu, eine neue Schöpfung zu werden und an einer neuen Schöpfung mitzuarbeiten. Gott motiviert uns Menschen, als einzelne auch und gerade durch die freie Annahme der von Gott angebotenen Gnade unsere wahre Identität zu entfalten und uns in Gemeinschaft für die Verwirklichung einer Welt des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Wahrheit und der Liebe einzusetzen. Dabei handeln wir Menschen immer wieder der Schöpfungsabsicht Gottes zuwider. Gott bezieht unsere freien Entscheidungen, auch unsere schlechten, schöpfungswidrigen, in seinen Schöpfungsplan ein, indem er – menschlich gesprochen – responsiv, flexibel und kreativ auf sie reagiert. Gott motiviert uns unermüdlich und auf – für uns – immer neue Weise zum Guten, d. h. dazu, Gutes zu tun und Gutes anzunehmen, wobei hier das Gute der Intention der Prozesstheologie entsprechend nicht nur in einem engen moralischen Sinn zu verstehen ist, sondern in einem weiteren ontologischen, wozu alles gehört, was unsere Lebensqualität existentiell steigert. Gott bewegt uns Menschen unentwegt und kreativ zum Guten. Genau darin besteht seine Vorsehung. »Die wahrhafte Macht über das Weltganze und über die Geschichte behält Gott dadurch, dass er alles, was geschieht, schöpferisch in seinen Gesamtplan einbezieht, sodass ihm nie etwas ›aus der Hand‹ gleitet. Vorsehung meint eben dies.« 24 Gott hat die Macht, die freien Entscheidungen der Geschöpfe schöpferisch in seinen Gesamtplan einzubeziehen. Er hat die Macht, den Gesamtplan zu verwirklichen. Obwohl er auf die Macht verzichtet hat, Welt und Geschichte in allen Einzelheiten zu bestimmen, besitzt er immer noch die Macht, Welt und Geschichte als ganze zu vollenden. Gott kann Welt und Geschichte als ganze zu ihrem Ziel führen. Ein Gott, der die Welt aus nichts erschaffen hat, kann sie auch vollenden. Insofern wird seine Vorsehung in jedem Fall den Sieg davontragen. Josef Schmidt: Gottes Eigenschaften, in: Walter Brugger/Harald Schöndorf (Hg.): Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/München 2010, 182.

24

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Der Allwissende

Es stehen sich also grob vereinfacht zwei Modelle von der Allmacht und Allwissenheit und somit von der Vorsehung Gottes gegenüber. Nach dem eher traditionellen Modell sind Allmacht und Allwissenheit Gottes in Bezug auf die Schöpfung uneingeschränkt. Gott verwirklicht seine Schöpfungsabsichten und übt seine Vorsehung aus, indem er alles, was in der Schöpfung geschieht, weiß und mehr oder weniger selber bestimmt. Nach dem Modell von der offenen Zukunft schränkt Gott seine Allmacht und seine Allwissenheit in gewissem Sinn zugunsten einer selbständigen und freien Schöpfung als Partner seiner Liebe ein. Er verzichtet darauf, alles in der Schöpfung im Einzelnen zu bestimmen und vorauszuwissen. Trotzdem garantiert seine Vorsehung die Vollendung der Schöpfung. »Eher traditionelle Deutungen tendieren dahin, Allmacht und Allwissenheit in den Kategorien von umfassender Kontrolle und Macht zu interpretieren. Die alternativen Vorschläge konzentrieren sich dagegen eher auf Kategorien wie Freiheit und Liebe.« 25 Gott erschafft in seiner Souveränität aus Liebe eine Welt, die echte Selbständigkeit und Freiheit besitzt. Dadurch sind freilich seine Allmacht und Allwissenheit metaphysisch in gewissem Sinn eingeschränkt sind, sodass er seinen Schöpfungsplan nur in einer echt dialogischen Beziehung mit der Schöpfung verwirklichen kann. Gott ist metaphysisch so souverän, dass er es sich leisten kann, eine Welt mit wirklicher Freiheit und offener Zukunft zu erschaffen. Er ist sich seiner selbst so sicher, dass er den Menschen als echten und damit freien und unberechenbaren Partner seiner Liebe wollen kann. »Aus Liebe ermächtigt Gott andere, personale Wesen zu sein. Aus Liebe respektiert er deren von ihm selbst verliehene Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, auch wenn diese ihm Schmerz bereiten. Aus Liebe für seine gesamte Schöpfung flicht er ihre freien Entscheidungen weise in seinen allgemeinen Vorsehungsplan ein. Aus Liebe wird er schließlich auch einer von ihnen und stirbt für sie, damit sie ewig an seiner Liebe teilhaben können. Das ist göttliche Souveränität!« 26

Kreiner 2006, 368 f. Gregory A. Boyd: God of the Possible. A Biblical Introduction to the Open View of God, Grand Rapids 2000, 149 f., zitiert in der Übersetzung von Armin Kreiner nach Kreiner 2006, 369.

25 26

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18. Der Ewige Die Überzeitlichkeit Gottes

18.1 Ein erster Begriff von der Ewigkeit Gottes Neben der Allmacht und Allwissenheit sprach die christliche oder allgemeiner die theistische Tradition Gott auch immer die Allgegenwart zu. Sie folgt spekulativ aus dem unendlichen Wesen Gottes und der absoluten Abhängigkeit der Welt von ihm. Bei der Allgegenwart Gottes steht Gottes Verhältnis zum Raum im Vordergrund. Gott selbst existiert auf rein geistige, unkörperliche Weise. Weil er selbst nicht körperlich ist, ist er auch nicht räumlich. In diesem Sinn hält er sich an keinem Ort auf. Als nichträumliches Wesen ist er nirgendwo. Insofern er aber in seiner Unendlichkeit alle Orte mit seiner Gegenwart geistig erfüllt und insofern er in allem wirkt, kann und muss man sagen: er ist überall. Während es bei der Allgegenwart um Gottes Verhältnis zum Raum geht, geht es bei seiner Ewigkeit um sein Verhältnis zur Zeit. Auch diese Eigenschaft erkannte die Tradition Gott immer schon zu. Ein maximal vollkommenes Wesen ist ewig. Es kann nicht entstanden sein, und es kann nicht vergehen. In diesem allgemeinen und grundlegenden Sinn bedeutet die Ewigkeit Gottes, dass Gott keinen zeitlichen Anfang und kein zeitliches Ende hat, dass er nie angefangen hat und nie aufhören wird zu existieren. Sowohl beim Raum als auch bei der Zeit lassen sich ein absolutistisches (oder absolutes) und ein relationales Verständnis unterscheiden. Nach dem absolutistischen Verständnis von Raum ist der Raum als eine Entität zu begreifen, die unabhängig von physikalischen Gegenständen, die sich in ihr befinden, existiert. 1 Von daher ist es sinnvoll, von einem leeren Raum zu sprechen. Nach der relationalen AufVgl. Armin Kreiner: Das wahre Antlitz Gottes – oder was wir meinen, wenn wir Gott sagen, Freiburg i. Br. 2006 [= Kreiner 2006], 381 f.; 395 f.

1

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Der Ewige

fassung von Raum macht es hingegen keinen Sinn, Raum unabhängig von der Anwesenheit materieller Gegenstände zu verstehen. Demzufolge ist es sinnlos, von einem leeren Raum zu sprechen. Nach einem absolutistischen Verständnis von der Zeit ist die Zeit als eine Entität aufzufassen, die unabhängig von Veränderungen bzw. Ereignissen, die sich in ihr abspielen, existiert. Demnach wäre es sinnvoll, analog zum Raum von einer leeren Zeit zu sprechen, in der sich nichts ereignet. Nach einer relationalen Auffassung von der Zeit ist es hingegen sinnlos, Zeit unabhängig von Veränderungen bzw. Ereignissen zu verstehen. Dementsprechend wäre die Rede von leerer Zeit, in der sich nichts ereignet, sinnlos. »Für Absolutisten ist die Zeit eine Art eindimensionaler Behälter, der grundsätzlich auch vorhanden wäre und andauern bzw. vergehen würde, wenn sich keine Veränderungen ereigneten. Für Relationisten hängt der Zeitbegriff ausschließlich mit der Dauer und Relation von Veränderungen bzw. Ereignissen zusammen. Unabhängig davon würde es keinen Sinn machen, von Zeit zu sprechen.« 2

Eine Veränderung bzw. ein Ereignis liegt dabei dann vor, wenn ein Gegenstand eine Eigenschaft zu einem Zeitpunkt besitzt und zu einem anderen Zeitpunkt nicht mehr besitzt. 3 Im Folgenden wird ein relationales Verständnis von Zeit vorausgesetzt. D. h., Zeit gibt es nur, wo sich etwas verändert. Veränderung setzt nicht nur Zeit voraus, sondern macht geradezu das Wesen von Zeit aus. Zeitlichkeit ist nichts anderes als Veränderlichkeit. »Die Frage nach Gottes Verhältnis zur Zeit stellt sich dann zunächst als Frage nach seiner Veränderlichkeit. Es zeichnen sich zwei grundsätzliche Optionen ab, diese Frage zu beantworten und die Ewigkeit Gottes zu konzeptualisieren. Nach dem temporalistischen Verständnis von Ewigkeit existiert Gott zeitlich bzw. innerhalb der Zeit, d. h. Gott existiert zu jedem vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zeitpunkt, also anfang- und endlos bzw. immer während. Nach dem eternalistischen Verständnis existiert Gott dagegen zeitlos bzw. außerhalb der Zeit, d. h. er besitzt keine zeitlichen Relationen, weder nach innen noch nach außen.« 4

Gott besitzt keine zeitlichen Relationen nach innen. Deshalb kennt er in seinem Inneren kein früher oder später, keine Vergangenheit und

2 3 4

Kreiner 2006, 395 f. Vgl. Kreiner 2006, 395 Anmerkung 89. Kreiner 2006, 396 f.

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Das eternalistische Verständnis von der Ewigkeit

keine Zukunft. 5 Und er besitzt nach außen keine zeitlichen Relationen, weshalb er nicht vor, nach oder gleichzeitig mit irgendeiner Entität existiert. »Das eternalistische Verständnis impliziert die absolute Unveränderlichkeit Gottes, denn Über- oder Außerzeitlichkeit besagt, dass zeitliche Kategorien wie ›früher‹ und ›später‹ oder ›vergangen‹ und ›zukünftig‹ weder im Hinblick auf Gottes Sein noch im Hinblick auf seine Relation zur Welt anwendbar sind, d. h. ein im eternalistischen Sinn ewiger Gott verändert sich weder in sich selbst noch in seiner Relation zur nichtgöttlichen Wirklichkeit.« 6

18.2 Das eternalistische Verständnis von der Ewigkeit Gemäß dem eternalistischen Verständnis von der Ewigkeit Gottes steht Gott vollkommen über der Zeit oder außerhalb der Zeit. Er ist nicht in der Zeit, und Zeit ist nicht in ihm. In Gott und für Gott gibt es kein »früher« oder »später«. Gott ist absolut, d. h. in jeder Hinsicht unveränderlich. Er verändert sich nicht und kann sich nicht verändern. In der abendländisch-christlichen Tradition herrschte lange Zeit das eternalistische Verständnis von Gottes Ewigkeit vor. Es geht unter anderen auf Parmenides, Platon und Plotin zurück und wurde von Theologen wie Augustinus, Boethius, Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin, Calvin und Schleiermacher geteilt. 7 Boethius definiert, wie im Zusammenhang der Allwissenheit erwähnt wurde 8, die Ewigkeit Gottes als den »vollständigen und vollendeten Besitz unbegrenzbaren Lebens« 9. Für Thomas von Aquin, der hier als Repräsentant des eternalistischen Ewigkeitsverständnisses herangezogen werden soll, bedeutet diese Definition ein Doppeltes. Erstens ist die Ewigkeit unbegrenzt; sie hat keinen Anfang und kein Ende. Zweitens kennt die Ewigkeit kein Nacheinander; sie ist in ihrer ganzen Fülle zugleich gegenwärtig. 10 Das heißt im Hinblick auf Vgl. Kreiner 2006, 397 Anmerkung 100. Kreiner 2006, 397. 7 Vgl. Kreiner 2006, 398. 8 Siehe Kap. 17.2. 9 Aeternitas […] est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio (Boethius: Consolatio philosophiae. Trost der Philosophie. Lateinisch – deutsch, Düsseldorf/Zürich 2004, V 6p. 9–11, 262). 10 Siehe Thomas von Aquin: Summa theologica [= ST] I q.10 a.1. 5 6

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Der Ewige

die Ewigkeit Gottes: Gottes Leben ist nicht wie unser irdisches Leben zeitlich und qualitativ begrenzt, sondern völlig unbegrenzt. Gott besitzt das Leben, oder besser, ist selbst das Leben in unbegrenzbarer Fülle. Und Gott lebt sein Leben nicht nacheinander, so wie wir unser Leben nur im Nacheinander leben können, sondern besitzt die Fülle seines Lebens als ganze »auf einmal« oder »schon immer«. Thomas von Aquin vertritt ein relationales Verständnis von Zeit. Für ihn hängen Zeitlichkeit und Veränderlichkeit einerseits und Ewigkeit und Unveränderlichkeit andererseits engstens miteinander zusammen. Im Anschluss an Aristoteles begreift er die Zeit als das durch die Zahl bestimmte Maß der Bewegung in Bezug auf das Vorher und Nachher. 11 Zeit ist das Nacheinander in der Bewegung d. h. in der Veränderung. Zeitlichkeit ist weitgehend gleichbedeutend mit Veränderlichkeit. Umgekehrt ist für Thomas die Ewigkeit als volle, unbedingte Unveränderlichkeit jenseits aller Bewegung zu verstehen. 12 Für ihn folgt die Ewigkeit Gottes logisch-begrifflich aus der Unveränderlichkeit Gottes. 13 Ist Gott vollkommen unveränderlich, dann ist er auch ewig im eternalistischen Sinn, dann kommt ihm Ewigkeit im Sinne völliger Zeitlosigkeit zu. Der Begriff der Ewigkeit ergibt sich aus dem der Unveränderlichkeit, wie sich der Begriff der Zeit aus dem der Bewegung bzw. Veränderung ergibt. Für einen im eternalistischen Sinn ewigen, d. h. zeitlosen Gott gibt es kein Vorher und Nachher und keinen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Für ihn gibt es genau genommen auch keine Gegenwart, sofern mit »Gegenwart« ein von der Vergangenheit und der Zukunft unterscheidbarer Zeitpunkt gemeint ist. 14 Ein zeitloser Gott hat keine Gegenwart, von der aus er auf die Vergangenheit zurückblicken und auf die Zukunft vorausschauen könnte. Für ihn gibt es keine Gegenwart, die permanent vergeht und zur Vergangenheit wird. »Positiv besagt dies: Gottes Leben ist zeitlose und immer währende bzw. niemals vergehende Gegenwart, die entweder als einziger Augenblick oder als zeitlose Ausdehnung vorgestellt wird. Dem entspricht die Vorstellung, dass Gott die Zeit – ebenso wie den Raum und alles andere – in einem zeitlosen oder überzeitlichen Akt erschafft.« 15 11 12 13 14 15

Vgl. ST I q.10 a.1. Vgl. ST I q.10 a.1. Vgl. ST I q.10 a.2. Vgl. Kreiner 2006, 399. Kreiner 2006, 399 f.

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Das eternalistische Verständnis von der Ewigkeit

Hinter dem eternalistischen Ewigkeitsverständnis steht eine bestimmte grundlegende Wertintuition, die untrennbar zu einer im weitesten Sinne platonisch geprägten Tradition gehört. 16 Dieser Intuition zufolge impliziert maximale Vollkommenheit Unveränderlichkeit und bedeutet umgekehrt Veränderlichkeit Unvollkommenheit. Ein maximal vollkommenes Wesen muss unveränderlich sein. 17 Ein Wesen, das sich verändert oder auch nur verändern kann, kann nur unvollkommen sein. Von dieser Wertintuition her muss Gott absolut unveränderlich und damit überzeitlich bzw. zeitlos sein. Bei Thomas von Aquin stützt sich die Wertintuition von der Unveränderlichkeit eines maximal vollkommenen Wesens auf drei Überlegungen, die zum Teil ineinander verschränkt sind. Für Thomas ist Gott als maximal vollkommenes Wesen metaphysisch schlechthin einfach. D. h., Gott ist in keinerlei Hinsicht aus irgendwelchen Teilen zusammengesetzt. Er setzt sich nicht aus Form (als Prinzip der Bestimmung und Gestaltung) und Materie (als Prinzip der Bestimmbarkeit und Gestaltbarkeit), nicht aus Wesen und Wesensträger, nicht aus Wesen und Dasein, nicht aus Eigenschaftsträger und Eigenschaften zusammen. 18 Insofern er sich nicht aus Form (als Prinzip der Wirklichkeit) und Materie (als Prinzip der Möglichkeit) zusammensetzt, setzt er sich auch nicht aus Akt und Potenz, d. h. nicht aus Wirklichkeit und Möglichkeit zusammen. Nun bedeutet aber für Thomas im Anschluss an Aristoteles Veränderung metaphysisch der Übergang von der Potentialität (Möglichkeit) zur Aktualität (Wirklichkeit). Verändert sich etwas, so heißt dies, dass eine Möglichkeit in die Wirklichkeit überführt worden ist, dass eine Möglichkeit aktualisiert d. h. verwirklicht worden ist. Ist Gott aufgrund der absoluten Einfachheit seines Wesens nicht aus Aktualität und Potentialität zusammengesetzt, sondern besteht nur aus Aktualität, dann kann er sich nicht verändern, weil es in ihm keine Möglichkeit gibt, die aktualisiert werden könnte. Die Unveränderlichkeit Gottes ergibt sich folglich für Thomas auch aus der Einfachheit Gottes. 19 Des Weiteren ist für Thomas Gott als maximal vollkommenes Wesen das durch sich subsistierende, d. h. ganz aus sich existierende

Vgl. Kreiner 2006, 401. Man denke an Platons Ideen oder an Plotins Hen (das Eine). Siehe Kap. 1.1.2.1; Kap. 4.2.1; Kap. 14.1. 18 Vgl. ST I q.3. 19 Vgl. ST I q.9 a.1 (Zweitens). 16 17

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Sein selbst. Als Sein selbst ist er vollkommene Seinsfülle und damit vollkommene Wirklichkeitsfülle. Er ist actus purus, d. h. reiner Akt, reine Aktualität, reine Wirklichkeit. Keinerlei Potentialität befindet sich in ihm. Jede Potentialität würde direkt einen Mangel an Wirklichkeit und Sein und damit eine Unvollkommenheit besagen. Die reine Aktualität Gottes und damit seine Unveränderlichkeit folgt für Thomas auch daraus, dass Gott das Sein selbst ist. 20 Schließlich gibt es bei Thomas für die Wertintuition von der Unveränderlichkeit eines maximal vollkommenen Wesens noch einen dritten Grund 21, dessen Kerngedanke keineswegs nur von Thomas vertreten wird, sondern weit verbreitet ist. Demzufolge bedeutet jede Veränderung zwangsläufig entweder eine Zunahme oder eine Abnahme der Vollkommenheit. Metaphysische Veränderung wird als Bewegung auf einer vertikalen Vollkommenheitsskala verstanden. 22 Verändert sich ein Wesen metaphysisch, nimmt notwendigerweise seine Vollkommenheit entweder ab oder zu. Dies gilt auch für Gott. Verändert sich Gott metaphysisch, zieht das gewissermaßen »automatisch« entweder einen Zuwachs oder einen Verlust an Vollkommenheit nach sich. Auch aus diesem Grund muss Gott als maximal vollkommenes Wesen unveränderlich sein. Denn durch jede Veränderung würde er entweder unvollkommener werden, wodurch er kein maximal vollkommenes Wesen mehr wäre, oder er würde vollkommener werden, woraus folgte, dass er vorher nicht maximal vollkommen gewesen wäre. Beides ist mit maximaler Vollkommenheit unvereinbar. Jede metaphysische Veränderung schließt demnach maximale Vollkommenheit aus. Aus maximaler Vollkommenheit folgt grundsätzliche Unveränderlichkeit. Es scheint demzufolge vieles für den Eternalismus zu sprechen.

18.3 Argumente gegen das eternalistische Verständnis Die entscheidende Frage an den Eternalismus lautet aus christlicher Sicht: Lässt sich ein eternalistisches Verständnis von der Ewigkeit Gottes mit dem biblischen Gottesverständnis vereinbaren? Passt das Bild eines völlig unveränderlichen und damit vollkommen zeitlosen 20 21 22

Vgl. ST I q.9 a.1 (Erstens). Vgl. ST I q.9 a.1 (Drittens). Vgl. Kreiner 2006, 402.

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Argumente gegen das eternalistische Verständnis

Gottes zu dem Bild, das die Bibel von Gott zeichnet? Sind ein eternalistisch gedachter Gott und der biblisch vorgestellte Gott miteinander kompatibel? Der biblische Gott erscheint als eine Person, die nicht nur Bewusstsein und Erkenntnis besitzt, sondern auch über Intentionalität (Absichten), Handlungsfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit verfügt. Der biblische Gott ist, kurz gesagt, eine Person, die an und in der Welt handelt. Dies impliziert ein Doppeltes. Einerseits ergreift Gott in seinem Handeln an und in der Welt die Initiative. Er agiert von sich aus. Er erschafft von sich aus allererst eine Welt, er ist in der Welt schöpferisch und gnadenhaft tätig, er erwählt ein Volk und schließt einen Bund mit ihm, er beruft Propheten und teilt ihnen sein Wort mit, er offenbart sich der Welt und erlöst sie, indem er seinen Sohn in die Welt sendet. Andererseits reagiert Gott auch auf die Welt. »Der biblische Gott erkennt nicht nur zeitliche Ereignisse, er reagiert auch auf diese Ereignisse, indem er selbst Wirkungen in Raum und Zeit hervorbringt.« 23 Der biblische Gott reagiert auf Menschen, indem er ihnen beispielsweise verzeiht, sie tröstet, ihnen bessere Zeiten verheißt, ihre Gebete erhört. Der personale Gott der Bibel handelt an der Welt und in der Welt. Er agiert in ihr und reagiert auf sie. Es besteht demnach eine wechselseitige Interaktion zwischen Gott und den Geschöpfen. Gott interagiert und kommuniziert mit seinen Geschöpfen. Er beeinflusst die Geschöpfe und lässt sich von ihnen beeinflussen. Es gibt eine wechselseitige kausale Relation zwischen Gott und der in permanentem Wandel begriffenen Welt. Der biblische Gott macht sich selbst zum dialogischen Partner für die Menschen und behandelt die Menschen wie dialogische Partner. All dies spricht dafür, dass sich der biblische Gott verändert und somit zeitlich existiert. Denn ein Gott, der eine veränderliche Welt erkennt und will, der in und an dieser Welt handelt, der mit dem Menschen als echtem dialogischen Partner interagiert und kommuniziert, der nicht nur kausal auf die Schöpfung einwirkt, sondern auf den auch umgekehrt die Geschöpfe kausal einwirken, verändert sich zwangsläufig. Veränderung aber bedeutet entweder direkt Zeitlichkeit oder setzt Zeitlichkeit voraus. Die Bibel stellt sich Gott also zweifelsohne als veränderliches, zeitliches Wesen vor. Der biblische Gott

23

Kreiner 2006, 400.

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ist nicht nur Herr der Geschichte, sondern ist selbst als geschichtlich zu denken. 24 Ein unveränderlicher Gott scheint all die Tätigkeiten, welche die Bibel von ihm aussagt, nicht vollziehen zu können, weil sie Veränderlichkeit und somit Zeit voraussetzen. »Ein überzeitliches Wesen kann offenbar auch nicht handeln, denn Handeln vollzieht sich üblicherweise in der Zeit, weil es auf Seiten des Handelnden Veränderung impliziert und nach außen Veränderungen hervorbringt. […] Ein unveränderliches Wesen kann auch nicht erkennen, was sich in der Zeit ereignet. Es kann deshalb nicht auf zeitliche Ereignisse reagieren und damit auch nicht in eine dialogische Beziehung zu zeitlich existierenden Wesen treten.« 25

Ein eternalistischer Gott scheint demnach mit dem biblischen Gott nicht vereinbar zu sein. Eternalisten suchen die Vereinbarkeit von eternalistischem und biblischem Gottesverständnis gern dadurch zu retten, dass sie für ein zeitloses Handeln Gottes plädieren. Demnach verschmelzen sämtliche Handlungen, die von Gott ausgesagt werden, zu einer einzigen zeitlosen Handlung. 26 Ähnliches gilt für die göttliche Erkenntnis: Ein zeitloser Gott erkennt die Wirklichkeit nicht in ihrer zeitlichen Erstreckung, »sondern wiederum nur in einem einzigen zeitlosen Akt« 27. Es fragt sich aber, ob die Rede von einem zeitlosen Handeln Gottes überhaupt sinnvoll ist. Denn Handeln scheint sich in der Zeit vollziehen zu müssen, da es nicht nur nach außen Veränderungen hervorruft, sondern auch auf Seiten des Handelnden Veränderung impliziert. Bei einem zeitlosen Gott sind aus zeitlicher Perspektive sämtliche Handlungen immer schon ausgeführt. Die Interaktion zwischen Gott und Geschöpf spielt sich dann im Grunde nur in Gott selbst ab. Alles scheint dann bereits in Gott vorprogrammiert zu sein. Die Vorstellung von einem zeitlosen Handeln Gottes scheint einem echten Dialog und einer echten Kommunikation Gottes mit dem Menschen kaum gerecht werden zu können. Eine wechselseitige Interaktion zwischen Gott und Mensch, wie die Bibel sie nahelegt, macht auf der Basis der Theorie eines zeitlosen ewigen Gottes keinen Sinn, »denn all seine Zustände und Handlungen ereignen sich inner24 25 26 27

Vgl. Kreiner 2006, 401. Kreiner 2006, 404. Vgl. Kreiner 2006, 406. Kreiner 2006, 406.

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Argumente gegen das eternalistische Verständnis

halb einer einzigen zeitlosen Gegenwart und können nicht die Wirkung von irgendetwas sein, das sich in der Zeit abspielt. […] Unsere Worte und Taten sind nicht die Ursachen des göttlichen Willens, sondern passen nur in ein Muster, das Gott zeitlos will und kennt.« 28 Eternalistisches und biblisches Gottesverständnis erweisen sich von daher als unvereinbar. Will man am Kern des biblischen Gottesverständnisses festhalten, lässt sich das eternalistische Gottesverständnis nicht aufrechterhalten. Für eine Veränderlichkeit und Zeitlichkeit Gottes und damit gegen ein eternalistisches Verständnis von Gottes Ewigkeit sprechen philosophisch betrachtet vor allem drei Argumente: 1. das Argument aus der Allwissenheit, 2. das Argument aus der Inkarnation und 3. das Argument aus der Liebe. 1. Das erste philosophische Argument ergibt sich aus der Allwissenheit, wie sie im vorigen Abschnitt interpretiert wurde. Demnach kann Gott freie Handlungen des Menschen nicht vorauswissen. Wenn der Mensch frei handelt, beeinflusst und verändert dies das Wissen Gottes. Zumindest das Wissen Gottes verändert sich mit einer sich verändernden Welt und somit verändert sich Gott selbst. Allgemein gesprochen: Dadurch dass es eine reale kausale Relation der sich permanent verändernden Welt zu Gott gibt, verändert sich auch Gott selbst. 2. Das zweite philosophische Argument baut auf einer theologischen Voraussetzung auf. Es folgt aus der Inkarnation Gottes. Die Menschwerdung Gottes stellt einen, wenn nicht den zentralen Inhalt des christlichen Glaubens dar. Ist Gott wirklich Mensch geworden, d. h. hat er eine menschliche Natur als seine eigene Wirklichkeit angenommen, dann hat er sich auch verändert. Die Menschwerdung konnte ihn selbst nicht unberührt lassen, ihm nicht äußerlich bleiben. Kurzum: Indem Gott Mensch wird, verändert er sich. Er verändert sich am und mit dem Geschöpf Jesus von Nazaret. Er wird selber ein Teil der veränderlichen Welt und verändert sich somit selber. 3. Das dritte philosophische Argument beruht ebenfalls auf einer im Grunde theologischen Voraussetzung. Es geht aus dem Wesen der Liebe als realer, besser als realster Beziehung hervor. Gott hat aus Liebe die Welt erschaffen. Er liebt jedes Geschöpf auf die ihm angemessene Weise. Liebe ist aber eine reale, im Idealfall wechselseitige Richard M. Gale: On the Nature and Existence of God, Cambridge 1991, 54, zitiert in der Übersetzung von Armin Kreiner aus Kreiner 2006, 407.

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Beziehung. Ändert sich das Geliebte, ändert sich notgedrungen auch die reale Beziehung des Liebenden zum Geliebten. Soll die reale Beziehung der Liebe dem Liebenden nicht äußerlich und unwesentlich bleiben, bedeutet das: mit der sich ändernden realen Beziehung der Liebe ändert sich der Liebende selbst. Infolge seiner realen Beziehung der Liebe zu den sich ständig verändernden Geschöpfen, verändert sich Gott selbst. Ändert sich etwa ein Mensch sehr stark im Laufe seines Lebens, ändert sich auch die Liebe Gottes zu ihm sehr stark, soll die Liebe Gottes ihm immer und jeweils ganz angemessen sein. In ihrer vollkommenen Angemessenheit dem jeweiligen Geschöpf in seinem jeweiligen Zustand gegenüber ändert sich die Liebe Gottes mit dem sich verändernden Geschöpf. Nur insofern bleibt Gottes Liebe ein und dieselbe und ändert sich nicht, als sie – formal gesehen – immer ganz vollkommen, immer völlig bedingungslos ist. Mit dem sich verändernden Geschöpf verändert sich die Liebe Gottes und damit Gott selbst. Dies ist selbstverständlich nicht anthropomorph, sondern analog zu verstehen. Verändert sich Gott, dann ist er auch zeitlich, und der Eternalismus, der jegliche Veränderung und Zeit von Gott ausschließt, kann nicht die angemessene Sicht von Gottes Ewigkeit sein.

18.4 Das temporalistische Verständnis von der Ewigkeit Gemäß dem temporalistischen Verständnis von der Ewigkeit Gottes existiert Gott zeitlich, also in der Zeit und innerhalb der Zeit, und dies anfang- und endlos, d. h. immerwährend. Das temporalistische Verständnis besagt nicht unbedingt, dass Gott schlechthin veränderlich sei. 29 Vielmehr kann es sein, dass Gott sich in bestimmter Hinsicht verändern kann und tatsächlich verändert, sodass ihm zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Eigenschaften zugeschrieben werden können, in anderer Hinsicht jedoch unveränderlich ist. So kann Gott durchaus unveränderliche bzw. unverlierbare Eigenschaften wie etwa die Allmacht oder die Allwissenheit als solche besitzen. 30 Nach

Vgl. dazu Kreiner 2006, 413. Dem temporalistischen Verständnis zufolge ist Gott immer allwissend, insofern er immer alles weiß, was jeweils wissbar ist, auch wenn sich der Inhalt seines Wissens ändert. Siehe dazu Kap. 17.5 und 17.6.

29 30

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Das temporalistische Verständnis von der Ewigkeit

temporalistischem Verständnis ist Gott demnach veränderlich, aber nur in bestimmten Hinsichten. Ein im temporalistischen Sinn ewiger, d. h. zeitlicher Gott erkennt unterschiedliche Ereignisse zu unterschiedlichen Zeiten und vollzieht unterschiedliche Handlungen zu unterschiedlichen Zeiten. 31 Als zeitliches Wesen existiert Gott in einer Gegenwart, von der aus er jeweils auf die Vergangenheit zurückblickt und auf die Zukunft vorausschaut. Existiert Gott in der Zeit, dann muss er in gewissem Sinn ein zeitliches Jetzt erfahren, so wie wir das tun. Ein zeitlicher Gott kann nicht alle zeitlichen Dinge und Ereignisse direkt wahrnehmen, sondern nur die gegenwärtig existierenden Dinge. »Die vergangenen und zukünftigen Dinge können für einen zeitlichen Gott nicht unmittelbar wahrnehmbar sein, weil sie gegenwärtig nicht mehr oder noch nicht existieren.« 32 Ein zeitlicher Gott nimmt nur gegenwärtige Ereignisse unmittelbar wahr, an vergangene Ereignisse muss er sich erinnern und zukünftige Ereignisse muss er voraussehen. Der entscheidende Vorteil des Temporalismus gegenüber dem Eternalismus liegt darin, problemlos die Relation Gottes zur Welt denken zu können. Als selbst zeitliches Wesen hat Gott eine zeitliche Relation zur zeitlichen Welt. Die Gegenwart der Welt ist Gottes eigene Gegenwart. Das erlaubt Gott, in wechselseitiger kausaler Bezogenheit zur Welt die Welt zu erkennen und in ihr zu handeln. Gott kann die jeweilige Gegenwart der Welt unmittelbar erkennen, er kann in der jeweiligen Gegenwart der Welt agieren und auf die jeweilige Gegenwart der Welt reagieren. Indem Gott selbst in der Zeit ist, kann er mit den zeitlichen Geschöpfen in echter Weise interagieren und kommunizieren. »Selbstverständlich widerspricht der Temporalismus der grundlegenden eternalistischen Wertintuition, wonach Vollkommenheit notwendigerweise Unveränderlichkeit impliziert.« 33 Denn ein temporalistischer Gott verändert sich, ist veränderlich.

31 32 33

Vgl. Kreiner 2006, 413. Kreiner 2006, 413. Kreiner 2006, 414.

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18.5 Einwände gegen das temporalistische Verständnis Ein erster Einwand gegen den Temporalismus lautet: Ist Gott selbst zeitlich, so ist er auch sämtlichen Restriktionen, welche die Zeit mit sich bringt, ausgeliefert. Ein zeitlicher Gott wäre zwar kein vergängliches Wesen, weil er anfang- und endlos existieren würde, aber er wäre irgendwie der Zeit unterworfen und von der Zeit abhängig. 34 Er wäre nicht mehr das zeitenthobene und zeittranszendente und damit nicht mehr das souveräne und transzendente Wesen, als das er als maximal vollkommenes Wesen zu denken ist. »Für einen zeitlichen Gott gäbe es eine Vergangenheit, die nicht mehr gegenwärtig wäre und die er nicht mehr verändern könnte, sowie eine Zukunft, die noch nicht gegenwärtig wäre und deren Ankunft er ständig zu erwarten hätte. Schließlich wäre es für einen zeitlichen Gott unmöglich, das zu tun worauf Boethius allergrößten Wert legte, nämlich sein Leben in seiner ganzen Fülle zu besitzen.« 35

Temporalisten können diesen Einwand zu entkräften suchen, indem sie auf ein relationales Zeitverständnis im Gegensatz zu einem absolutistischen verweisen. 36 Nach absolutistischem Zeitverständnis ist die Zeit eine Entität, die unabhängig von Veränderungen bzw. Ereignissen existiert und Veränderungen überhaupt erst ermöglichen soll. Zeit ist demnach eine Art raumähnlicher Behälter, in dem Ereignisse bzw. Veränderungen stattfinden. Ist Zeit eine solche Entität im absoluten Sinn, wäre ein zeitlicher Gott, der die Zeit nicht geschaffen hat, tatsächlich in gewissem Sinn der Zeit ausgeliefert und unterworfen. Er wäre von ihr abhängig. Gott wäre nicht mehr Herr der Zeit, sondern die Zeit würde irgendwie über ihn hinweggehen. Fasst man Zeit hingegen relational auf, so ist sie nichts anderes als das Maß der Veränderung und somit im wesentlichen identisch mit der Veränderlichkeit als solcher. Zeit ist dann für einen zeitlichen Gott nichts anderes als der Modus, in dem er als veränderlicher Gott eben existiert. Gott ist dann nicht mehr der Zeit wie einer ihm im Grunde fremden Macht unterworfen, sondern die Zeit stammt von Gott selbst. Sie existiert aufgrund der göttlichen Natur bzw. gehört zur göttlichen Natur, so wie sich etwa notwendige Wahrheiten wie der, dass 2 plus 3 gleich 5 ist, als göttliche Ideen oder Gedanken als 34 35 36

Vgl. Kreiner 2006, 414. Kreiner 2006, 414 f. Vgl. dazu Kreiner 2006, 415 f.

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Einwände gegen das temporalistische Verständnis

zur göttlichen Natur gehörig denken lassen. 37 Ist Gott ein sich veränderndes Wesen, dann ist Zeit – relational verstanden – eine notwendige Begleiterscheinung seines Wesens. Zeit ist die notwendige Begleiterscheinung des göttlichen Wesens, sofern Gott ein veränderlicher Gott ist. Ein relationales Verständnis von Zeit gestattet es also, Zeitlichkeit gewissermaßen als Eigenschaft Gottes selbst aufzufassen, der Gott dann natürlich nicht mehr wie einer fremden Macht unterworfen ist. Von einem zeitlichen Gott sind darüber hinaus selbstverständlich auch bestimmte Restriktionen fernzuhalten, die der Mensch mit seiner Zeitlichkeit zu verbinden geneigt ist. Der Mensch empfindet seine Zeitlichkeit nicht nur deshalb als bedrückend, weil die Zeit immer davonzulaufen und zu vergehen scheint, ohne dass sich Erlebnisse und Ereignisse festhalten lassen, sondern auch und vor allem weil er selbst fortlaufend altert und dadurch – abgesehen von den Beschwerden des Alters – dem Tod unaufhörlich und unausweichlich näher rückt. 38 Zu Recht weist Armin Kreiner darauf hin, dass die zuletzt genannten Restriktionen aber keineswegs mit der Zeitlichkeit als solcher, sondern mit der körperlichen Beschaffenheit des Menschen und der Vergänglichkeit seines irdischen Daseins zusammenhängen. 39 Obwohl Gott in seiner Zeitlichkeit ein Nacheinander, ein früher und später, den Unterschied zwischen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit kennt, sind ihm als unvergänglich-ewigem, geistigem Wesen Erscheinungen des Alterns und der Vergänglichkeit sowie die damit für den Menschen verbundenen Beschwerden und Ängste vollkommen fremd. Derlei Restriktionen ist Gott in keiner Weise ausgeliefert. Das versteht sich von selbst. Als einzige Restriktion der Zeit bleibt für einen temporalistischen Gott das Nacheinander der Zeit als solches, also der Unterschied zwischen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Das muss aber aus temporalistischer Sicht nicht unbedingt als Einschränkung oder Nachteil verstanden werden. Es stimmt zwar, dass ein zeitlicher Gott das Leben nicht in seiner ganzen Fülle auf einmal besitzt, sondern das Leben im Nacheinander erlebt und lebt, aber diese Zeitlichkeit schmälert aus temporalistischer Sicht das Leben nicht, sondern ermöglicht es überhaupt erst. Ein Leben, das in seiner ganzen Fülle 37 38 39

Vgl. Kreiner 2006, 417 f. Vgl. Kreiner 2006, 402 f. Vgl. Kreiner 2006, 419.

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Der Ewige

schon präsent wäre, würde für Temporalisten eher Tod als Leben bedeuten. 40 Zum Leben als solchem gehört für Temporalisten die Veränderung, die zeitliche Erstreckung, der Unterschied zwischen der Erwartung einer Zukunft, dem Erleben einer Gegenwart und dem Erinnern an eine Vergangenheit. In diesem Sinn kann auch nur ein veränderlicher, zeitlicher Gott echtes Leben erleben. Ein zweiter Einwand gegen den Temporalismus lässt sich in Gestalt der Frage erheben: Was tat Gott vor der Schöpfung? Hinter dieser zunächst harmlos-neugierig klingenden Frage steckt ein ernsthaftes Problem. Nach dem hier durchgängig vorausgesetzten relationalen Verständnis von Zeit ist es nur dann sinnvoll von Zeit zu sprechen, wenn es etwas gibt, das sich verändert. Nimmt man wie der Temporalismus an, Gott habe schon vor der Erschaffung der Welt zeitlich existiert, dann muss sich Gott nach relationalem Zeitverständnis immer wieder verändert haben, bevor er die Welt erschaffen hat. Was spricht aber dafür, dass Gott schon vor der Erschaffung der Welt im eigentlichen Sinn gehandelt hat und sich somit verändert hat? Wie lässt sich die Annahme eines Veränderung nach sich ziehenden Handelns Gottes begründen, wenn man von der Erschaffung und der Existenz der Welt ganz absieht? Nach traditioneller Auffassung tut Gott vor der Erschaffung der Welt nichts anderes als sich selbst erkennen und sich selbst wollen bzw. lieben. Die beiden Akte des Sich-Erkennens und Sich-Liebens werden dabei als zwei rein geistige Tätigkeiten begriffen, die keinerlei Veränderung implizieren. Gott erkennt sich ganz und liebt sich ganz und ist deshalb immer schon ganz bei sich. Darin liegt keinerlei metaphysische Veränderung. Es scheint folglich keinen stichhaltigen Grund für die Annahme zu geben, dass sich die Erkenntnis und die Liebe innerhalb der Gottheit ändern, sodass sich Gott selbst änderte. Was außer sich erkennen und sich lieben sollte Gott aber sonst noch tun, das ihn verändern könnte? Der Temporalismus bleibt die Antwort darauf schuldig. Von daher scheint es keinen Grund zu geben, dass sich Gott ganz ohne Welt innerhalb seiner selbst verändert. Verändert er sich aber nicht in sich, dann existiert er – immer ein relationales Zeitverständnis vorausgesetzt – auch nicht zeitlich vor der Erschaffung der Welt. Vor der Erschaffung der Welt scheint Gott völlig unveränderlich und damit zeitlos zu existieren. Der Temporalismus hat das große Pro40

Vgl. Kreiner 2006, 419.

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Ein überzeitliches Verständnis von der Ewigkeit

blem, für die Annahme einer Veränderung und damit einer Zeitlichkeit in Gott ohne Welt keinen rechten Grund angeben zu können. Es gibt aber nicht nur keinen stichhaltigen Grund für die Annahme, Gott an und für sich ändere sich. Es gibt vielmehr durchaus einen Grund für die gegenteilige Annahme, dass nämlich das Göttliche in sich selbst unveränderlich ist. Bestimmte menschliche Erfahrungen scheinen dafür zu sprechen, dass sich das Göttliche in sich und an sich selbst nicht verändert. Menschen verschiedenster religiöser Traditionen haben die Erfahrung gemacht, dem Göttlichen besonders in der Stille und der Ruhe nahezukommen, also dann, wenn sich äußerlich und innerlich wenig oder so gut wie nichts ändert, wenn die Zeit – metaphorisch gesprochen – still steht. Im Taoismus etwa gilt die Stille – das Verharren in der Stille, das Ruhen im Nichts – als der Königsweg zum tao, dem allumfassenden Ersten Prinzip, das allen Erscheinungen zugrunde liegt. 41 In buddhistischen Traditionen wird das menschliche Bewusstsein gern mit dem Ozean verglichen. An der Oberfläche ist es unruhig – vergleichbar den Wellen –, in der Tiefe aber, wo der Mensch zur göttlichen Buddha-Natur oder zu seinem wahren Selbst vordringt, ist es vollkommen ruhig. 42 Dort ändert sich nichts. In Erfahrungen großer Ruhe und relativer Unveränderlichkeit scheinen Menschen am ehesten etwas von der göttlichen Ewigkeit, vom wahrhaft geistigen Leben zu erahnen. Wenn diese Erfahrungen nicht trügen, scheint das göttliche Leben selbst – entgegen der Annahme der Temporalisten – der Veränderung nicht zu bedürfen, um wahrhaftes Leben zu sein. Diese Erfahrungen lassen sich als ein Hinweis auf den unveränderlichen Charakter der göttlichen Ewigkeit selbst verstehen.

18.6 Ein überzeitliches Verständnis von der Ewigkeit Im Anschluss an William Lane Craig 43 soll hier ein Verständnis von Gottes Ewigkeit vorgeschlagen werden, das die Nachteile und Probleme des rein eternalistischen und des rein temporalistischen Ewigkeitsverständnisses zu vermeiden und gleichzeitig ihre Vorteile und 41 42 43

Siehe dazu Kap. 9.8.2. Vgl. Kap. 10.4.2. Vgl. Kreiner 2006, 426.

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Der Ewige

Stärken aufzugreifen und zu vereinen sucht. Dieses Verständnis soll hier das überzeitliche Ewigkeitsverständnis genannt werden. 44 Nach einem solchen überzeitlichen Verständnis von der Ewigkeit Gottes existiert Gott ohne Welt vollkommen unveränderlich und damit zeitlos. In einem Zustand ohne Welt gibt es für Gott keinen Grund sich zu verändern. Er ist deshalb nicht in der Zeit und es ist keine Zeit in ihm – höchstens eine unendliche »Zeit«, die von unserer endlichen Zeit wesentlich verschieden wäre. 45 In diesem Zustand besitzt Gott – ganz gemäß der boethianischen Intuition – die ganze Fülle unbegrenzbaren göttlichen Lebens. Gott erkennt sich ganz selbst und liebt sich ganz selbst. Er ist daher ganz bei sich. Das Sich-Erkennen und Sich-Lieben machen das geistige Leben Gottes aus. Völlig uneingeschränkt besitzt und genießt Gott die unendliche Fülle seines geistigen Lebens. Aus Liebe beschließt Gott aber, eine Welt als nichtgöttliche Wirklichkeit aus nichts zu erschaffen, um ihr letztlich an seinem eigenen göttlichen Leben Anteil zu geben. Indem Gott dies beschließt, erschafft er die veränderliche Welt und mit ihr die Zeit. Um nun in eine reale Wechselbeziehung zur veränderlichen, zeitlichen Welt treten zu können, wird der an sich zeitlose Gott selbst veränderlich und zeitlich. Gott macht sich sozusagen den zeitlichen Existenzmodus und die zeitliche Perspektive der Geschöpfe zu eigen, um in echt partnerschaftlicher Beziehung und in echter Interaktion und Kommunikation mit seinen Geschöpfen leben zu können. Er eignet sich die Gegenwart der Welt als seine Gegenwart an. Dabei besitzt er sein eigenes göttliches Leben nach wie vor in seiner ganzen unbegrenzbaren Fülle. Aber das Sein und das Leben der Welt sind ihm nur im Modus der veränderlichen zeitlichen Welt selbst gegeben. D. h., auch für ihn ist die Vergangenheit der Welt vergangen und existiert in diesem Sinn nicht mehr. Auch für ihn existiert die Zukunft der Welt Zur Ewigkeit Gottes siehe auch Wolf Krötke: Gottes Klarheiten. Eine Neuinterpretation der Lehre von Gottes »Eigenschaften«, Tübingen 2001, 246–285; Edmund Runggaldier: Ewigkeit Gottes als zeitlose Vollkommenheit, in: Thomas Marschler/ Thomas Schärtl (Hg.): Eigenschaften Gottes. Ein Gespräch zwischen systematischer Theologie und analytischer Philosophie, Münster 2016 [= Marschler/Schärtl 2016], 287–299; Oliver Wiertz: Divine Temporality – Zeitlichkeit Gottes, in: Marschler/ Schärtl 2016, 301–328. 45 Zum Unterschied zwischen endlicher und unendlicher bzw. ewiger Zeit siehe Hans Urs von Balthasar: Endliche Zeit innerhalb ewiger Zeit. Zur christlichen Sicht des Menschen, in: Hans Urs von Balthasar: Skizzen zur Theologie. 5, Homo creatus est, 1986, 38–51. 44

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Ein überzeitliches Verständnis von der Ewigkeit

noch nicht. Nur die Gegenwart der Welt existiert für ihn im eigentlichen Sinn, und er lebt diese Gegenwart der Welt zeitgleich mit. Gott kann nur die Gegenwart der Welt unmittelbar erkennen. Auf ihre Vergangenheit kann auch er nur in einer Art Erinnerung zurückblicken und auf ihre Zukunft in einer Art Erwartung vorausschauen. In seiner Beziehung zur Welt verändert sich Gott selbst. Er verändert sich mit der Welt und an der Welt. Somit existiert er im eigentlichen Sinn selber zeitlich. Er ist in der Zeit, und Zeit ist in ihm. Gott teilt die Gegenwart und das zeitliche Nacheinander der Welt und macht sie in seiner realen Beziehung zur Welt zu seiner eigenen Gegenwart und zu seinem eigenen Nacheinander. Noch einmal etwas abstrakter metaphysisch ausgedrückt: Gott ist die unendliche, umfassende Wirklichkeit. Deshalb umfasst er auch die Zeit und schließt sie in sich ein. Zeitliches und mit ihr die Zeit kann sich nicht außerhalb der Wirklichkeit Gottes befinden. Sonst wäre Gott durch eine Wirklichkeit von außen begrenzt und wäre eben selbst nicht mehr die schlechthin unbegrenzte, schlechthin unbedingte, alles umfassende Wirklichkeit, als die er gedacht werden muss. Mithin sind zwei Zustände oder Modi in Gottes Existenz zu unterscheiden: ein Modus ohne weltliche Zeit und ein Modus mit weltlicher Zeit. Ohne Welt existiert Gott zeitlos. In ihm ist keine endliche Zeit. Sobald es aber und solange es eine veränderliche, zeitliche Welt gibt, existiert Gott mit der Welt auch auf zeitliche Weise. Offen bleiben kann bei diesem Modell, ob es nach Vollendung der Welt durch Gott noch weltliche Zeit geben wird, ob also Gott nach Vollendung der Welt mit einer nach wie vor zeitlichen Welt selber zeitlich existieren wird oder ob Gott nach Vollendung der Welt mit einer dann zeitlos oder überzeitlich existierenden Welt selber wieder ohne endliche Zeit existieren wird. Das hier vorgetragene Modell von der Ewigkeit Gottes wird als »überzeitlich« bezeichnet. 46 Die Ewigkeit Gottes soll als überzeitliche aufgefasst werden. Bei der Darlegung des eternalistischen Ewigkeitsverständnisses wurde nicht deutlich zwischen »zeitlos« und »überzeitlich« unterschieden. Beide Ausdrücke wurden nahezu synonym verwendet. Es ist aber sowohl begrifflich als auch sachlich zwischen Zeitlosigkeit und Überzeitlichkeit deutlich zu unterscheiden. Bei Siehe dazu auch Klaus Vechtel SJ: Eschatologie und Freiheit. Zur Frage der postmortalen Vollendung in der Theologie Karl Rahners und Hans Urs von Balthasars, Innsbruck 2014, 301–317.

46

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Der Ewige

einem im eternalistischen Sinn zeitlos-ewigen Gott ist Zeit grundsätzlich aus der Gottheit ausgeschlossen. Ein im überzeitlichen Sinn ewiger Gott hingegen existiert ohne Welt zwar ebenfalls ohne endliche Zeit, kann aber mit Erschaffung der Welt endliche Zeit in seine Gottheit aufnehmen. Mit dem Begriff der Überzeitlichkeit Gottes soll einerseits genau zum Ausdruck gebracht werden, dass die Ewigkeit Gottes, auch wenn sie an und für sich im Sinne endlicher Zeit zeitlos ist, mit Erschaffung der Welt auch weltliche Zeit in sich einschließen kann. Mit dem Begriff der Überzeitlichkeit Gottes soll aber auch andererseits ausgedrückt sein, dass Gott, auch wenn er mit Erschaffung der zeitlichen Welt selber in gewissem Sinn weltlich-zeitlich wird, immer auch über der weltlichen Zeit steht. Ein Gott, der die Zeit erschafft, ist und bleibt grundsätzlich Herr über die Zeit. Gott als Schöpfer der Zeit ist den Restriktionen der Zeit nicht so unterworfen, wie wir es als Geschöpfe sind. In diesem Sinn übersteigt er immer auch die Zeit der Welt, auch wenn er sich ganz auf sie einlässt. Ein überzeitlicher Gott ist weder ein rein zeitloser Gott wie der eternalistische Gott noch ein rein zeitlicher Gott wie der temporalistische Gott. Er ist mit Blick auf die endliche Zeit als Ganzes betrachtet beides: zeitlos und zeitlich. Das soll mit dem Begriff »überzeitlich« zum Ausdruck gebracht werden. Die Ewigkeit Gottes ist insgesamt weder als rein zeitlos noch als rein zeitlich, sondern als überzeitlich zu charakterisieren. Mit einer solchen »Überzeitlichkeit« Gottes wäre auch die Vorstellung von einer »unendlichen« Zeit Gottes, wie sie etwa Hans Urs von Balthasar angenommen hat, vereinbar. Die unendliche, göttliche Zeit wäre von der endlichen, weltlichen Zeit wesentlich verschieden. Sie würde diese umfangen und zugleich über ihr stehen. Wie steht es bei einem überzeitlichen Gott nun aber mit der grundlegenden eternalistischen Wertintuition, wonach ein maximal vollkommenes Wesen nur vollkommen unveränderlich sein kann, weil jede metaphysische Veränderung auch seine Vollkommenheit verändern würde? Ein überzeitlicher Gott verändert sich in seiner Beziehung zur Welt. Kann er dann noch als maximal vollkommen gelten? Darauf ist grundsätzlich zu erwidern, dass die Veränderung Gottes mit der Welt und an der Welt seine Vollkommenheit nicht tangiert. Gott kann sich in seiner Beziehung zur Welt real verändern, ohne dadurch selbst vollkommener oder unvollkommener zu werden. Dies sei an der radikalsten und intensivsten Interaktion Gottes mit der Welt verdeutlicht: an der Inkarnation. Indem Gott selbst ein 556 https://doi.org/10.5771/9783495817520 .

Ein überzeitliches Verständnis von der Ewigkeit

veränderlicher Mensch wird, verändert er sich selbst. Aber wird er dadurch metaphysisch vollkommener oder unvollkommener? Ein Mensch – auch Jesus von Nazaret – besitzt als solcher keine metaphysische Vollkommenheit, die Gott nicht von vornherein in unendlichem Maße besäße. Die endlichen Vollkommenheiten des Menschen können der einen unendlichen Vollkommenheit Gottes metaphysisch nichts hinzufügen. Deshalb gilt: Gott verändert sich tatsächlich als er selber, wenn er Mensch wird, aber er wird dadurch metaphysisch nicht vollkommener. Er wird durch die Menschwerdung nicht vollkommener, da das Menschsein seine unendliche göttliche Vollkommenheit nicht mehren kann, er wird dadurch aber auch nicht unvollkommener, da er dabei ganz Gott bleibt. Allgemein gesprochen: Die wechselseitige reale Relation Gottes zur Welt ändert Gott zwar, aber sie fügt seiner metaphysischen Vollkommenheit nichts hinzu, noch nimmt sie etwas von ihr weg. Bei Gott und nur bei Gott lässt sich reale Veränderung zugleich mit gleichbleibender metaphysischer Vollkommenheit denken, da er allein schlechthin unendlich ist. Ein überzeitlich ewiger Gott lässt sich demzufolge durchaus als maximal vollkommenes Wesen begreifen. Christliche Hoffnung zielt auf die Vollendung bei Gott. Für diese Vollendung bietet die Bibel verschiedene Bilder: Himmel, Hochzeit, Festmahl, Paradies, neues Jerusalem u. a. In der heiligen Schrift und in der Tradition ist ein zentraler Begriff für die Vollendung das »ewige Leben«. Leben und ewiges Leben bedeuten im Neuen Testament sachlich weitgehend dasselbe wie das Reich Gottes. Da Gott allein der Ewige ist, haben wir Menschen ewiges Leben nur in der Teilhabe an der Lebensfülle Gottes. Nach der klassisch gewordenen Definition des Boethius ist auch für uns die Ewigkeit der vollständige und vollkommene Besitz unbegrenzbaren Lebens. »Ewiges« Leben hebt nicht auf eine unbegrenzte Zeit des Lebens, sondern auf eine unbegrenzte Qualität des Lebens ab. Es beinhaltet die Fülle des Lebens und die Grenzenlosigkeit eines Glücks, das sich bruchstückhaft und begrenzt schon in diesem Leben erfahren lässt. »Ewiges Leben löst nicht das irdische Leben ab, sondern es beginnt schon in ihm. Es ist nicht Ersatz für das gegenwärtige Leben, sondern dessen Vollendung. ›Vollendung‹ ist dementsprechend nicht als Ende, Abschluss, bloßes Zur-Ruhe-Kommen zu verstehen, sondern als Intensivierung, Aufgipfelung, Erfüllung des Lebens.« 47 47

Franz-Josef Nocke: Vollendung des Einzelnen, in HD 2, 421–478, hier 474 f.

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Abkürzungsverzeichnis

I, II, III … AP B DA DD DH DI DT E EB G

GG GW HD 1 HD 2 HTTL HW HWP KTW L M M MP N NA NST 1 P

Karl Rahner: Schriften zur Theologie. Band I, II, III … Nikolaus von Kues: De apice theoriae (G II 361–385) Nikolaus von Kues: De beryllo (G III 1–91) Nikolaus von Kues: De Deo abscondito (G I 299–309) Richard von Sankt-Victor: Die Dreieinigkeit Denzinger, Heinrich/Hünermann, Peter: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen Nikolaus von Kues: De docta ignorantia (Philosophisch-theologische Werke. Band 1) Aurelius Augustinus: De Trinitate Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I–III Ignatius von Loyola: Exerzitienbuch (Geistliche Übungen) Nikolaus von Kues: Philosophisch-theologische Schriften. Herausgegeben und eingeführt von Leo Gabriel. Band I–III (Nachdruck der 1. Auflage) Karl Rahner: Grundkurs des Glaubens Karl Rahner: Geist in Welt Theodor Schneider (Hrsg.): Handbuch der Dogmatik. Band 1 Theodor Schneider (Hrsg.): Handbuch der Dogmatik. Band 2 (darin Jürgen Werbick: Trinitätslehre, 481–576) Karl Rahner: Herders Theologisches Taschenlexikon Karl Rahner: Hörer des Wortes Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie Karl Rahner: Kleines Theologisches Wörterbuch Johannes vom Kreuz: Llama de amor viva (Die lebendige Liebesflamme) René Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie Teresa von Avila: Moradas del Castillo Interior (Wohnungen der Inneren Burg) Hans Urs von Balthasar: Mysterium Paschale Johannes vom Kreuz: Noche Oscura (Die dunkle Nacht) Nikolaus von Kues: De non aliud (G II 443–565) Peter Eicher (Hrsg.): Neue Summe Theologie. Band 1 Nikolaus von Kues: Trialogus de possest (G II 267–359)

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Abkürzungsverzeichnis PG QD SA ST SW TD III TD IV V VD VPR II

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes Nikolaus von Kues: De quaerendo Deum (G II 567–607) Nikolaus von Kues: Idiota de sapientia (G III 419–477) Thomas von Aquin: Summa Theologica oder Theologiae (Theologische Summe) Karl Rahner: Sämtliche Werke Hans Urs von Balthasar: Theodramatik. Dritter Band. Die Handlung Hans Urs von Balthasar: Theodramatik. Vierter Band. Das Endspiel Teresa von Avila: Das Buch meines Lebens Nikolaus von Kues: De visione Dei (G III 93–219) Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II

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