Haneke: Keine Biografie [1. Aufl.] 9783839428382

Fragments of a success story: This volume reconstructs Michael Haneke's career from television all the way to »Amou

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Polecaj historie

Haneke: Keine Biografie [1. Aufl.]
 9783839428382

Table of contents :
Inhalt
Intro
ERSTER TEIL – MASTURBATION
0. Mit Michael Haneke zur Lage der Nation am globalen Filmmarkt: Ein Fallbeispiel
1. Artgerecht beschrieben: „Nationales“ (Autoren-)Kino
2. Unheimlich heimisch: Das Haneke-Phantom und seine geopolitischen Transgressionen
3. Framing Imaginations: Bilder in wechselseitiger Relationierung mit dem Netzwerk
ZWEITER TEIL – KOMPOSITION
4. Das Weiße Band: Von einer „deutschen Kindergeschichte“ über eine internationale Festivalgeschichte hin zu einer „österreichischen Erfolgsgeschichte“
5. Funny Games, Funny Games U.S.: Funny Games Ghost und materielle Meta-Stärkungen
6. Caché: Das Verborgene, das Krisenhafte und eine Urheberschaftsfrage
7. Wolfzeit: Ein Apokalypsenszenarium
8. Die Klavierspielerin: Vom Präzedenzfall zum Transzendenzfall
9. Code inconnu: Vom Widerstand als Kunst der Stunde zum Multikulturalismus als europäische Alltagspraxis
10. Am Beginn von Arthouse steht: Haneke. Und: Die Geburt einer Tragödie als Trilogie
11. Der Siebente Kontinent: Ein kollektiver Selbstmord und ein großer Schritt in die künstlerische Freiheit
12. Benny’s Video: „Radikalität“ und ein drohendes Aufführungsverbot
13. 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls: Leitmotivische Motivlosigkeit und faktische Fiktionalität
14. Die Meriten einer Filmkritik wider den Mythos des romantischen Autorgenies
15. Kino im Fernsehen
16. Amour: Ein transatlantischer Reisebericht
An der Sackgasse des Essentialismus vorbei: Auszug aus einem Gespräch mit Michael Haneke
Bibliografie
Filmografie
Komplizen und Kooperationspartner

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Katharina Müller Haneke

Film

2014-07-24 10-45-58 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372608040774|(S.

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4) TIT2838.p 372608040782

Katharina Müller (Mag. Dr. phil.), Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (DOC) am Institut für Romanistik, lehrt Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind französischer Film, Arthouse-Kino und Science and Technology Studies.

2014-07-24 10-45-58 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372608040774|(S.

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Katharina Müller

Haneke Keine Biografie

2014-07-24 10-45-58 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372608040774|(S.

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Gedruckt mit Unterstützung des Österreichischen Filminstituts

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Michael Haneke, Wien, 2013, © Michael Haneke Korrektorat: Doris Bauer, Christina Ernst, Britta Kollmann, Pamela Kultscher Satz: Pamela Kultscher Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck Print-ISBN 978-3-8376-2838-8 PDF-ISBN 978-3-8394-2838-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-07-24 10-45-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372608040774|(S.

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Inhalt

Intro | 9

ERSTER TEIL – MASTURBATION 0. Mit Michael Haneke zur Lage der Nation am globalen Filmmarkt: Ein Fallbeispiel | 13

71. Von nationalen Mythen im Dienste kulturpolitischer Abgrenzung hin zur nation-ness | 17 70. Recycling the National: Das Nationale als diskursives Konstrukt und erfolgreiches Label | 19 69. Wert und Gehalt des Nationalen in der gegenwärtigen Kulturproduktion: Michael Hanekes (inter-)nationaler Erfolg oder die Stunde des „euronational-auteur“? | 21 68. Transnationale Vernetzungsprozesse und ein Sonderfall von Interkulturalität: Akteur-Netzwerk-Szenarien und ein Korpus der Unmenge | 22 1. Artgerecht beschrieben: „Nationales“ (Autoren-)Kino | 31

67. Vom konkreten Fall im Netzwerk zum „Quasi-Objekt“. Zur empirischen Beobachtung von Konstitutionsprozessen | 31 66.1 (Autoren-)Kino quasi-objektiv: Die Welt als Universum des Übersetzens | 39 66.2 Fetisch, Ware, Waffe: „Nationale“ Autorschaft als doppelt moderne Konstruktion | 41 66.3 Das instituierte Objekt „Autorenkino“: der Autor und seine Bedingung | 46 66.4 National und asozial: eine Neuverteilung | 50 66.5 Nationales Kino im Zeitalter der Globalisierung: Der reale Raum und seine Überwindung | 52 66.6 International, transnational, global: die Qual der Wahl und Kunst in jedem Fall. Blackboxing the Nation | 55 65. Vom komponierten Sachverhalt zum „nationalen (Autoren-)Kino“: Zur Szenarisierung von Konstitutionsprozessen | 60 2. Unheimlich heimisch: Das Haneke-Phantom und seine geopolitischen Transgressionen | 65

64. Eine fundamentaltheologische Entdeckung: Der „Österreicher Haneke“, die verdammte Konsumgesellschaft und „nationales (Autoren-)Kino“ als Evidenz | 68 63. „Prosumentenkulturen“: Eine Liebesgeschichte aus dem Filmexil | 75

3. Framing Imaginations: Bilder in wechselseitiger Relationierung mit dem Netzwerk | 85

62. „Krisenkino“: Hanekes „Diagnostik der Kultur“ – Übermoderne Ikonographien eines Kulturtechnikers im Spannungsfeld (trans-)nationaler Mythen | 88 61. Kino und Filmmarkt in der Krise: Vom Nachruf für ein Kino zu seiner (materialisierten) Neuverteilung | 94

ZWEITER TEIL – KOMPOSITION 4. Das Weiße Band: Von einer „deutschen Kindergeschichte“ über eine internationale Festivalgeschichte hin zu einer „österreichischen Erfolgsgeschichte“ | 103

60. „Eichwald“ in Jerusalem: Ein Band gegen den Fluch der Gleichgültigkeit | 103 59. Zur Materialität von Geschichte(n) | 106 58. Eine Metalokalisierung: Von der Fabrik in die Vitrine – Cannes, die obligatorische Passage | 111 57. Jedem Strand seine Wellen: Der alte und der neue Filmmarkt und das Phantasma der Selbstregulation | 115 56. Vorschau: Demnächst im Kino! Zum Trailer | 120 55. Mit deterritorialisierten Geschichten des Scheiterns zur nationalen Erfolgsgeschichte: The Master of „Feel-Bad Cinema“ und Spielarten der „globalised arts“ | 123 54. Farbbekenntnisse: Von der Nationalwerdung über eine Schwarz-Weiß-Kopie aus Roms Cinecittà ins Fernsehen | 132 53. Les faits sont faits: Es gibt keine Information nur Transformation | 135 52. Kleine Berichterstattung von der Berichterstattung vor der Erfolgsberichterstattung: Die Pressekonferenz | 136 51. Die Erziehung zur Mündigkeit und ihre Vermarktung. Oder: Was Mysterien mit Pragmatismus zu tun haben | 139 5. Funny Games, Funny Games U.S.: Funny Games Ghost und materielle Meta-Stärkungen | 151

50. Die Mitte als Kluft: „There is hope that Austria can survive the quality of its films …“ | 161 6. Caché: Das Verborgene, das Krisenhafte und eine Urheberschaftsfrage | 169

49. Bildpotenzen, die albtraumhafte Revanche des Verdrängten und ein Chipfehler | 173 48. „Spectator sport“, Wissensdisziplin und der Effekt der breiten Rezeption | 181 47. Refugium Kino und mehr als das | 185

7. Wolfzeit: Ein Apokalypsenszenarium | 187

46. Dismissed: 9/11, die Labilität des Westens, eine neue Produzentin und ein Gesetzeshüter als Jury-Präsident | 189 45. Kulturpessimismus und die Kette: Verbreiten und den Zuschauer achten | 193 8. Die Klavierspielerin: Vom Präzedenzfall zum Transzendenzfall | 199

44. Die Reaktivierung der Psychoanalyse als Signum eines insolventen Intellektualismus | 209 43. Eine „spezifisch österreichische Pathologie“, gedreht im Halb-Exil: Die autodestruktive innere Dynamik des „Filmlands Österreich“ | 214 42. „Comme un matériau“: Von der Großaufnahme zurück zum Set – Isabelle Huppert und die Kompromisslosigkeit des Tageslichts | 218 41. Abstrakt und dennoch Akteur, die Musik | 223 9. Code inconnu: Vom Widerstand als Kunst der Stunde zum Multikulturalismus als europäische Alltagspraxis | 229

40. Das Scheitern von Bedeutung: Kunst als Übersetzung | 232 39. Paris: Die Matrizenhaftigkeit des Ortlosen, bespielt in einer Weltstadt | 242 38. Vom „Exilösterreicher“ zum „Euro-auteur“: Zur markentauglichen „Europeanness“ | 244 10. Am Beginn von Arthouse steht: Haneke. Und: Die Geburt einer Tragödie als Trilogie | 249

37. Subventioniert wider die Gemütlichkeit: Zeigen statt erklären | 252 11. Der Siebente Kontinent: Ein kollektiver Selbstmord und ein großer Schritt in die künstlerische Freiheit | 257

36. Fehlerlos und aufregend: Die internationale Presse wird aufmerksam | 263 35. Mit einem „kompletten“ Regisseur und Mozartkugeln hinaus aus dem „kinematographischen Entwicklungsland“ | 264 12. Benny’s Video: „Radikalität“ und ein drohendes Aufführungsverbot | 269

34. „Ist alles nur Ketchup und Plastik, schaut aber echt aus …“: Eine Parabel und der Beginn langwährender Zusammenarbeit | 271 33. „Plus live que life“: Aus dem Nichts zum zeitgeschichtlichen Dokument | 274 32. „Morbid“ und sehenswert. Jedenfalls: „Je nationaler, desto universeller …“ | 277 13. 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls: Leitmotivische Motivlosigkeit und faktische Fiktionalität | 279

31. Eine Tischtennispartie wider die „Dummheit der sozialdemokratischen Gesellschaftskritik“ | 283

14. Die Meriten einer Filmkritik wider den Mythos des romantischen Autorgenies | 287

30. A man under the influence: Kumulative Selbstinszenierung und die versammelnde Kraft des Interviews | 290 15. Kino im Fernsehen | 297

29. Die Anfänge einer kriegsversehrten Öffentlichkeitspraxis: ... und was kommt danach? (After Liverpool), Lemminge I und II, Variation, Wer war Edgar Allan? | 297 28. Kritisches Kino vs. der alberne Albers und sein farbiger Baron von Münchhausen: Fraulein | 300 27. Nachkriegsgeneration via Kulturnation über „Protofaschismus“ – die Wiederkehr eines ikonischen Esels und das Unerreichbare: Die Rebellion und Das Schloss | 302 26. Fernsehkritik im Fernsehen: Nachruf für einen Mörder und ein Intermezzo mit dem Lumière-Kinematographen | 308 25. Drehbuch und Dialoge: Michael Haneke, ein Dramaturg und die Verheissung von Transzendenz. Der Kopf des Mohren und Schmutz | 309 16. Amour: Ein transatlantischer Reisebericht | 315

24. Zwischenakkord: Kinoliebe und Kinosterben | 320 23. Liebesszenarien zwischen Straßenstrich und Leinwand | 321 22. Zeitgemäß jenseits von Zeitlichkeit: Un Amour de Cannes | 327 21. Mediale Flut trifft auf kritischen Pfahl: Die kaufmännisch relative Bedeutung nationaler „Kritik“ | 332 20. Die Ware Liebe: Oscarnominierung als Box-Office-Sprungbrett | 342 19. Der Schengenheld, der Türöffner, das Reisebüro und eine fragwürdige Sportnation | 346 18. G’schichten aus der Bourgeoisie und Interessenslagen des Mainstreams: Von der Tentpole-Ausschlachtung zurück zum Cinéma de papa | 351 17. Zum blinden Volkssport des Oscar-Werdens: „Kinogroßmacht“, kleinkariert | 360 An der Sackgasse des Essentialismus vorbei: Auszug aus einem Gespräch mit Michael Haneke | 373 Bibliografie | 393 Filmografie | 419 Komplizen und Kooperationspartner | 423

Intro

Man erwartete die Ankunft des Regisseurs gegen 19:30 Uhr, bis dahin wurde in der Lobby Champagner getrunken. Österreich war noch nicht Oscar und der Autor inzwischen tot, schon seit den 60er Jahren, wo ihn einer totgesagt hatte. Es war ein Franzose. Aber das machte nichts. Es war nämlich nur eine Feststellung gewesen. Jeder hatte die Möglichkeit zu denken und in den Abendstunden hatte es stark abgekühlt in Los Angeles. Die Zuhilfenahme einer Strumpfhose etwa wäre in der Tat eine gute Idee gewesen. Los Angeles war ein wahrhaftig zusammengewachsener Albtraum ohne Zentrum. Dafür gab es die anstehenden Oscars sowie eine ganze Menge sehr zentral platzierter Reporter aus aller Welt, die mehrheitlich draußen warten mussten. Der Abend gab einen beschaulichen Anlass, Autorenkino zu feiern. Arthouse, sagt man heute auf Deutsch. Es war dunkel und weidlich lustig. Als der Regisseur mit dem Autor in Personalunion schließlich die Lobby betrat, war er auf einem roten Spannteppich aus echtem Stoff bereits vielfach abgelichtet worden. Man hatte sich ein Bild von ihm gemacht, zur Sicherheit gleich unzählige: Bilder von Michael Haneke. Es war der 22. Februar 2013, Haneke hatte in der Folge seine Nominierungsurkunde für Liebe entgegengenommen. Und fragte mich beizeiten, wie er es schon anlässlich der Filmfestspiele in Cannes getan hatte, was ich hier mache. – „Meine Arbeit. Eine Forschungsarbeit zu ‚Haneke‘.“ – „Oje ...“ Es war vermutlich Anteilnahme. Mit einem Schlag ging es also um Inhalte. Das letzte Buch, das er über sich gelesen hatte, sei sehr masturbatorisch* gewesen; eine Wichserei. Das verwunderte nicht, schließlich hatte sich Wissenschaftlichkeit über die Jahre nachweislich als ein kongeniales Gegenteil von Lesbarkeit bewährt. – Ein Vorwurf an niemanden – so etwas konnte ganz einfach passieren, in einer Zeit, da der Autor tot war. Zwei Tage später war Österreich Oscar, weil die Presse Recht hat, seit sie frei ist. Dieses Buch geht unter anderem der müßigen Frage nach, wie eine ganze Nation Oscar werden kann und gliedert sich formal in zwei Teile. – Einen säuberlich gewichsten Wissenschaftlichkeitsteil und einen divergent geilen zweiten Teil, *

Siehe Interview im Anhang.

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der eine Versammlung von Stimmen und Material von und zu ‚Haneke‘ ist, inszeniert als eine Chronik des Zufalls, von der anzunehmen ist, dass sie viel beschreibt und nichts erklärt. Jenseits der Fragen von Konsumierbarkeit versteht sich der in 71 Fragmenten realisierte Text willentlich als Masturbation und Komposition zugleich. Er verwirft nicht die Hermeneutik an sich, sondern arbeitet – in Anerkennung ihrer Meriten – mit ihr, um über die Stabilität dessen, was Kino ist, in Zweifel zu geraten.

ERSTER TEIL – MASTURBATION

0. Mit Michael Haneke zur Lage der Nation am globalen Filmmarkt: Ein Fallbeispiel

„Hanekes Amour geht für Österreich ins Oscar-Rennen“, wird am Vormittag des 4. September 2012 bekannt gegeben. „Wir sind Oscar.“ – Im hanebüchenen Slogan kulminiert knapp ein halbes Jahr später, was angesichts des Films doch einigermaßen erstaunt: ein veritabler Nationalhype nämlich. Am 1. Dezember 2012 erhält Michael Haneke den Europäischen Filmpreis – Vierfachauszeichnung für Amour, nachdem er im Mai mit der Goldenen Palme den Hauptpreis der Internationalen Filmfestspiele von Cannes gewonnen hatte. Für einen Film, der „eine Zeit überstrahlt“1 und jenseits des Lokalen Raum schafft, für Reflexionen der Bedingungen menschlichen Daseins. Mit Michael Haneke steht ein Künstler „an der Spitze der Geschichte des Europäischen Films“2, ist zugleich auch Fahnenträger einer Kunst und damit eines Kulturguts, das – mit Ausnahme von Frankreich, wo man in alter Tradition am Begriff des Autorenkinos festhält3 – als Arthouse geläufig ist. Als Haneke die Auszeichnung entgegennimmt, besteht er darauf, in seiner Landessprache zu sprechen: Eine Veranstaltung, die die europäische Identität feiere, deren Reichtum aus Unterschieden bestehe, lege die Geste auch nahe. Der Europäische Film, so der Regisseur, ist „die Summe der Filme der Länder, die in Europa Filme machen“. Die Situation der komplexen Summe ist – angesichts der Rechnung, die eine globale ist – einigermaßen vertrackt: Globalisierung hat den bekannten Effekt, dass Zeit, Raum und letztlich das, was sich in ihnen realisieren lässt stets neuen Dimensionen der Geschwindigkeit unterliegen: Kommunikation wird, mitunter zulasten von Inhalten, zu einer immer schneller konkretisierbaren Größe; Institutionen werden zu immer marginaleren Knotenpunkten in zunehmend unüberschaubaren Kontaktnetzen von Konkretion4: „Cooperations [sic!] are bigger than

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Schulz-Ojala, Jan. „Alle Zeit der Welt“. In: Der Tagesspiegel, 19.09.2012. Vgl. Unbekannt. „Haneke nun alleiniger Rekordhalter“. In: news.orf.at, 02.12.2012. http://news.orf.at/stories/2153862/2153864/ [03.12.2012] Auch wenn sich selbst hier die Bezeichnung eines „cinéma art et essai“ allmählich etabliert. Nicht zu verwechseln mit dem in der rezeptionstheoretisch orientierten Literaturtheorie geprägten Begriff der Konkretisation bzw. Konkretisierung, der eine Determinierung und Disambiguierung von Unbestimmtheiten beim Füllen von Leerstellen beschreibt. Konkre-

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countries“, konstatiert man so stolz wie besorgt im Rahmen der Verleihungszeremonie: Schließlich werden in Europa so viele Filme wie noch nie produziert, immer weniger davon jedoch gesehen. Zudem hat sich, bedingt vor allem durch die neueren Technologien, die gesamte Verwertungskette von Film in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. „Verlierer“ dieser Entwicklungen ist das Kino selbst, d.h. in der Frequentierung seiner traditionellen räumlichen Aufmachung. Die „Mission“ Arthouse ist den Veranstaltern eine existentielle, und das gilt für art gleichermaßen wie für ihr house, zumal der Kunst, die hier gegen einen (immer dominanteren, am Straßenbild jeder größeren europäischen Stadt sich abzeichnenden) Mainstream verteidigt wird, der Ort selbst abhandenkommt: „Protect the movie houses“, lautet bezeichnenderweise eine der Botschaften, die die Zeremonie um den Europäischen Filmpreis in die Welt hinausschickt. Was anhand der allerorts sich abzeichnenden Kinoschließungen zugunsten einer flächendeckenden „Multiplexisierung“ ablesbar und in sentimentaleren Kreisen mitunter als „Kinosterben“ bezeichnet wird, ist die Situation, dass Kino aus dem industriellen Verwertungszusammenhang heraustritt und sich mit einer Neuverteilung konfrontiert sieht, die entsprechende Strategien erfordert. Eine der jüngsten Einrichtungen der Europäischen Filmakademie (EFA), deren Aktivitäten eben jährlich in der Vergabe des Europäischen Filmpreises kulminieren, ist das 2006 ins Leben gerufene Film Academies Network of Europe (FAN of Europe), eine Austauschplattform für Vertreter der jeweiligen nationalen Kinematographien zur Förderung gemeinschaftlicher, d.h. international realisierter Projekte. Es ist dies nur eines der repräsentativen Spiegelbilder eines Koproduktionssystems, das als System kaum fasslich ist (entsprechend unzählige Unternehmen und Institutionen sind daran beteiligt) und ohne das Arthouse nicht denkbar wäre. Angesprochen auf die massive Zahl an Firmenlogos und Nennungen von Akteuren im Abspann seines jüngsten Films Amour beteuert Haneke: „Das ist unvermeidlich. Kein Land kann es sich noch leisten, einen Film auszufinanzieren. Das ist ja der Vorteil des europäischen Systems: Mit Koproduktionen kann man von überall ein bisschen Geld zusammenkratzen. Ich bin ein exemplarischer Nutznießer dieses Systems, für das ich sehr dankbar bin.“5

Mit dem Europäischen Filmpreis und der Goldenen Palme 2012 wiederholt sich ein Szenario, das bereits drei Jahre zuvor vergleichbares Aufsehen erregt: Im Mai 2009 nimmt Michael Haneke bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes eine der von Chopard gefertigten goldenen Palmen für den Besten Film entgegen. Glücklich entgegen, wie er in seiner Dankesrede präzisiert. Das Glück schlägt große Wellen, denn glücklich mit ihm schätzt sich auch eine ganze Reihe von Institutionen und (ideologischen) Apparaten. Einmal Österreich, schließlich ist die Prämierung von Hanekes Film Das Weiße Band (2009) eine Sternstunde des österreichischen Films. Dann auch Deutschland, denn „der Österreicher Michael Haneke“, wie ihn die Austro-Presse gerne nennt, ist gebürtiger Münchner und der Film „nach den Regeln

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tion meint hier schlicht ein dinghaft-, dinglich-, faktisch-, existent-, tatsächlich-, kurz: materiell-Werden. Haneke im Interview. Nüchtern, Klaus; Omasta, Michael. „Michael Haneke: ‚Regisseure sind überbewertet.‘“ In: Falter, Nr. 37, 12.09.2012.

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DER

NATION

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der Filmbürokratie“ ein „deutscher Film“, wie die Deutsche Presse Agentur verkündet. Während so zwei Länder den Erfolg des Regisseurs für sich reklamieren und man dem Autorenkino medial Länderspielqualitäten angedeihen lässt, lobt die europäisch-internationale Kritik den euronationalen auteur und auch die USamerikanische Rezeption öffentlicher Ausrichtung lässt zu, dass Haneke gewissermaßen die Etablierung einer Art globalen Kunstkinos als sein Verdienst betrachten kann. Es dauert nicht lange und der Befund findet schließlich auch Anklang und Absegnung von Seiten der akademischen Reihen, wo Haneke manchen Stimmen zufolge der so jungen wie fragwürdigen Historie der „global art cinematic auteurs“ zuzurechnen sei: „He [Haneke; K.M.] carries on one of the most important modes of intellectual and artistic production in modern and contemporary culture: that of art cinema. At its best, art cinema (a mode initially identified with Europe but now perhaps most forcefully embodied in films produced in Asia, Africa, Latin America) figures a serious mode of aesthetic, philosophical, and political inquiry in which the filmmaker assumes that there might be an audience – perhaps even a mass audience – for whom such inquiry matters.“ (Price; Rhodes 2010: 2)

Das Weiße Band, dessen inhaltlicher Handlungsspielraum den Vorabend des Ersten Weltkriegs in einem protestantischen Dorf Norddeutschlands umfasst, triumphiert in der Kategorie Bester Film und steht sowohl ästhetisch als auch hinsichtlich seines Produktionshintergrundes für eine durchwegs transnationale Angelegenheit: Das Weiße Band ist eine deutsch-österreichisch-französisch-italienische Koproduktion, wenngleich der Film 2010 als dezidiert „deutscher“ Beitrag in die OscarVerleihungzeremonie Eingang finden wird. Die gerundeten 13 Millionen Euro, die der Film in Summe gekostet hat, wären ohne die Vierfachbeteiligung nicht aufstellbar gewesen. Der Regisseur, dem im Sinne der vorausgesetzten klassischen auteurPolitik als Einzelperson Ruhm gebühren sollte, wird mitsamt seiner Goldenen Palme für (kultur-)politische und ökonomische Interessen instrumentalisiert, sein Schaffen für Zwecke der Repräsentativität nutzbar gemacht. Das Weiße Band wird von Diskursen zu einem nationalen Kino umrankt und letztlich als identitätsstiftend für dasjenige vereinnahmt, was am globalen Filmmarkt als Nation bzw. nationale Identität (wieder) infrage steht. Die mediale Erregung rund um Haneke, der mit seinem thematisch als Rückführung auf die „Wurzeln des Terrors“6 konzipierten, äußerst universal angelegten Film einmal mehr die Motivation eines Staatsgrenzen übergreifenden und relativierenden Kinos vertritt, ist drastisch bezeichnend für ein Phänomen, das die filmtheoretische Reflexion nicht ohne weiteres ungeachtet hinnehmen kann: Das Weiße Band kann nämlich – wie anschließend auch Amour – als prominenter Einzelfall des sogenannten Autorenfilms im „Kontext“ einer zunehmend sich globalisierenden und von transnationalen Beziehungen geleiteten (Film-)Wirtschaft gelesen werden und ist als solcher repräsentativ für die Begebenheit, dass der Begriff nationaler Kulturprodukte – und somit auch jener eines „nationalen“7 (Autoren-)Kinos – einer 6 7

Haneke im Interview. Von Reden, Sven. „Interview mit Haneke: ‚Ich kann so arbeiten, wie ich will.‘“ In: Der Standard, 26.05.2009. Der vorliegende Text stellt eine Reihe von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten unter Anführungszeichen – ein Zug, der schlicht ermöglicht, die hohe Geläufigkeit der jeweili-

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kritischen Revision bedarf, die nicht an der Gegebenheit seines Konstruktionscharakters ansetzen und mit dessen Entlarvung enden sollte, sondern sich explizit mit den Konstitutionsprozessen des „nationalen“ Attributs und seinen Funktionen und Gebrauchsweisen auseinandersetzt. „Michael Haneke ist Österreichs Exportschlager in Sachen Kultur“8 und wehrt sich selbstverständlich gegen Nationalisierungen der kontraproduktiven Art: „Ich bin kein österreichischer Regisseur und auch kein französischer Regisseur. Ich bin Regisseur für mich, und wer mir Geld gibt und mich ernsthaft arbeiten lässt, der darf sich mich an den Hut stecken – mir ist das völlig wurscht. Natürlich bin ich Österreicher, aber diese Nationalisierung von Einzelleistungen – ob das jetzt ein Sportler ist oder ein Künstler – finde ich reichlich albern.“9

Die Paarung der beiden Konzepte – auteur und national – ist an sich schon eine antithetische. Und sie mag es aus der Perspektive des Künstlers erst recht sein. Dennoch sind die „nationalen“ Attribute – gemessen an Geschichte und Aktualtität des europäischen Kinos – keine unüblichen im Autorendiskurs. Schon die Etablierung des Autoren-gebundenen art cinema bzw. Kunstkinos kann entstehungsgeschichtlich als die Folge des europäischen Bemühens gelten, die nationalen Filmindustrien des Kontinents nach dem zweiten Weltkrieg gegen die hollywoodsche Marktüberlegenheit aufständisch werden zu lassen. Heute, da sich dieser Kinosektor kaum mehr in einem Europa-Amerika Binarismus der Feindschaft verhandeln lässt – zu sehr sind und waren die beiden Kontinente in der Filmproduktion immer schon miteinander verwoben, zu sehr auch waren sie einer gemeinsamen Eigenständigkeit außerhalb der großen Studioproduktion überlassen –, sucht die neuere Rhetorik dieses Sektors weniger das Problem eines Hollywood-Bastions-Gegenspielers, sondern schreibt sich viel eher in ein „kontextuelles“ Problem ein: „der“ Mainstream, gegen den man aus der europäischen Ecke mit einem homogenen Vielfaltsargument angeht. – Im EUVerein, der sich aus Ländern bzw. Nationen konstituiert präsentiert, der jedoch in sich, was seine Beteiligungen angeht, äußerst hybrid angelegt ist. Im Gegensatz zu den Paramentern des klassischen auteur-Konzepts, ist die Existenzgrundlage des Nationalen weniger eine qualitativ-individuelle denn eine quantitativ-kollektive Angelegenheit und sein Schicksal daher – wie das Schicksal jedes diskursiven Konstrukts – mit der Quantität seiner Verbreitung bemessen. Es geht in diesem Sektor, neben einem allfälligen Bildungsanspruch, vor allem um Verbreitung und letztlich darum, gesehen (um nicht zu sagen „konsumiert“) zu werden.

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gen Begriffe und Aussagen in der Prekarität ihrer Bedeutungsfunktion wirksam werden zu lassen. Nüchtern, Klaus; Omasta, Michael. „Michael Haneke: ‚Regisseure sind überbewertet.‘“ In: Falter, Nr. 37, 12.09.2012. Haneke im Interview. Nüchtern, Klaus; Omasta, Michael. „Michael Haneke: ‚Regisseure sind überbewertet.‘“ In: Falter, Nr. 37, 12.09.2012.

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DER

NATION

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NATIONALEN M YTHEN IM D IENSTE KULTURPOLITISCHER A BGRENZUNG HIN ZUR NATION - NESS

„Was ist noch nationales Kino?“, fragt Die Presse im Jahr 2010 angesichts der Tatsache, dass die „deutschen Wettbewerbsbeiträge der 60. Berlinale […] mehrheitlich in Österreich produziert [sind], während der Österreicher Michael Haneke für Deutschland ins Oscar-Rennen geht“10. Was in diesem printmedialen Diskurs zutage tritt, ist für die film- und kulturtheoretische Reflexion insofern von zentraler Relevanz, als er für die Begebenheit steht, dass „Kino“ und „Nation“ neuerdings wieder vermehrt in Beziehung zueinander gesetzt werden. – Ein Phänomen, von dem die Filmforschung der letzten beiden Jahrzehnte freilich nicht unberührt blieb und durch das sie in ihren rezenten Belangen Bestätigung erhält. Herrschte nämlich bis in die 1980er Jahre ein einigermaßen stabiler Konsens darüber, was unter einem nationalen Kino zu verstehen sei – eine qualitätsgebundene Klassifikationskategorie zur kulturpolitischen Abgrenzung eines art- bzw. Autorenkinos gegenüber der USamerikanischen Filmhegemonie nämlich –, so lässt sich aktuell ein neues Interesse am sogenannten „nationalen“ Kino verzeichnen, das nationale Kinogeschichtsschreibung per se einer kritischen Reflexion unterzieht: Im angelsächsischen Raum etwa ist man in Anlehnung an Arbeiten zu den Entstehungsprozessen des „Nationalen“ um eine verstärkte Historisierung des Begriffes bemüht (Anderson 1991; Gellner 1989; Hobsbawm 1992). Der Begriff Nationalität wird hierbei mit Nationalismus in Verbindung gebracht, die ihn umkreisenden Mythen dekonstruiert und seine historische Beschaffenheit neu ausgeleuchtet (Hayward 2005; Crofts 1998; Rosen, 1984). Nicht zuletzt führt Susan Hayward in diesem „Kontext“ den Begriff der „nation-ness“ ein und generiert damit ein für die neuere Filmhistoriographie wegweisendes Konzept (Hayward 2005: 9). Exemplarisch dafür steht der Band French National Cinema, in dem Hayward eine Einführung in die Geschichte des „französischen“ Kinos gibt, wobei sie sich sowohl dem „populären“ als auch dem „alternativen“ Kino zuwendet. Mit ihrer Durchleuchtung der „französischen“ Filmgeschichte übt sie gleichsam Kritik an den etablierten Produkten „französischer“ Kinogeschichtsschreibung, deren Verfasser zumeist der Tendenz verfallen, sich entweder auf „große Filmemacher“ oder bestimmte mouvements zu reduzieren. Dem leistet Hayward Widerstand in Form einer Kontextualisierung des Filmgeschehens, das sie in einen weiteren historisch-politischen und kulturellen Rahmen eingliedert: Hayward konzipiert eine französische Filmgeschichte als Nationalgeschichte. Die Tatsache, dass das Etikett „national“ im Kontext der zunehmend globalen und hybriden Formen von „Gesellschaft“ ein problematisches ist, bleibt dabei – respektive notwendiger Redundanzen – stets performativ reflektiert: Hayward (re-)produziert dieses Nationale, ihre national-orientierte Betrachtung erfolgt dabei „von außen“, beruht folglich nicht auf dem Ziel, eine äußerliche Kohärenz „von innen“ herzustellen – wie es in jenen als explizit „französisch“ sich artikulierenden Kinogeschichtsschreibungen geschieht, die der zentralistischen Politik des 10 Huber, Christoph. „Berlinale: deutsch-österreichische Freundschaft?“. In: Die Presse, 14.02.2010.

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Landes – mehr oder weniger offenkundig – anheimfallen11 –, viel eher konzentrieren sich ihre Bemühungen auf die Konzeptualisierung einer nationalkritischen Nationalgeschichte des französischen Kinos. Filmprodukte bzw. -produktionen sowie einerseits der cinephil-kritische und andererseits der wissenschaftlich-theoretische Zugang zu diesen Produkten werden dabei unter Berücksichtigung auf Frankreichs Selbstverständnis als Filmnation untersucht – so bleibt das Nationale als „nation-ness“12 stets kritischen Reflexionen unterzogen: „Writing about the ‚national‘ of a cinema is undoubtedly either a brave or a foolish undertaking because of the dangerous pitfalls into which an author can tumble. It is often difficult to distinguish, for example, when one is addressing society or political culture but not necessarily (or even to the exclusion of) ‚nation-ness‘. In this study, the two former elements are implicitly inscribed into the discussions of the ‚national‘ of France’s cinema, but the issues are kept in check […].“ (Hayward 2005: 9)

Haywards „Nationalfilmgeschichtsschreibung“ entspricht damit einer transnationalen Übersetzungs- und Transformationsleistung: sie thematisiert das „Nationale“ im Zusammenhang mit dem Begriff des Nationalismus, wobei sie gleichzeitig eine Dekonstruktion der jeweiligen Begriffe und der damit einhergehenden Mythen vornimmt.13 Auch innerhalb des französischen Editionsraums lassen sich vereinzelt vergleichbare Gegenimpulse zu einer traditionellen, nationalgebundenen Filmgeschichtsschreibung verzeichnen. Die „nationale“ Dimension der traditionellen Geschichtsschreibung wird (selbst-)kritisch verhandelt (Lagny 1992), eine verstärkt soziologische bzw. sozialgeschichtliche Perspektive auf die kinematographische Landschaft eröffnet (Darré 2000). Zurück zu Haneke. Es liegt auf der Hand, dass aufgrund des europäischen und US-amerikanischen Charakters der Filme Hanekes – Funny Games U.S. (2007) als in den USA verortetes Shot-by-shot-Remake seines gleichnamigen, 1997 in Österreich gedrehten Originals – weder auf Basis „filminterner“, noch im Kontext der „filmexternen“14 Faktoren (transnationaler Produktionshintergrund) von einem genuin österreichischen oder deutschen bzw. allgemein von einem nationalen Kino die Rede sein kann. Gleichzeitig lassen sich in diesem Zusammenhang kultur- und wirtschaftspolitische Faktoren aufzeigen, die die nationalen Diskurse nachvollziehbar stützen bzw. verstärken: Zum einen etwa die traditionelle österreichische Filmgeschichte selbst, die als solche „heimische“ Qualitäten vertritt – Heimatfilme der Nachkriegszeit und später, ab den 1970er Jahren, solche, die die nämlichen kritisch reflektieren (Büttner; Dewald, 1997). Zum anderen aber vor allem auch der kulturpolitische Kontext, in den sich der Gegenwartsfilm einschreibt. So kommt dem „Neuen Österreichischen Film“ in den Jahren von 1999 bis 2009 eine besonders starke internationale Auf-

11 12 13 14

Vgl. etwa: Jeancolas 2007. Hayward, Susan. French National Cinema. London: Routledge, 2005, S. 9. Vgl. dazu Müller 2009. Die Unterscheidung zwischen „filmextern“/„filmintern“ entspricht einer Konvention, die, wenn auch nicht stets explizit verhandelt, so dennoch durchgängig infrage stehen wird.

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merksamkeit zu, u.a. in Form von Festivaleinladungen und -auszeichnungen.15 – Anerkennungen, die im Nachhinein immer wieder der nationalen Förderungspolitik als Rechtfertigung für ihre spärliche Mittelvergabe gedient haben. Die Verleihung der Goldenen Palme an den „Österreicher“ Michael Haneke sowie die Nominierung seines Filmes Das Weiße Band für den Oscar in der Kategorie Best Foreign Language Film of the Year – für den „deutschen Film“ mit französischen und italienischen Produktionsanteilen – machen so im Positiven deutlich, was auch im Negativen gilt: Filmgeschichte kann nur als eine Folge von Ereignissen begriffen werden, bei denen verschiedene Akteure – zum Teil künstlerisch, politisch oder durch wirtschaftliche Interessen motiviert – handeln und interagieren. Dass diese Folge jedoch nicht ausschließlich als linear zu begreifen ist und Ereignisse nicht durchgängig der Logik von Interessenssteuerung und Intentionalität gehorchen, ist eine der Grundannahmen dieser Studie.

70. R ECYCLING

THE N ATIONAL : D AS N ATIONALE ALS DISKURSIVES K ONSTRUKT UND ERFOLGREICHES L ABEL

„[…] the term ‚national cinema‘ is often used to describe simply the films produced within a particular nation-state“, kritisiert Andrew Higson, der in seinem Aufsatz „The concept of national cinema“ einmahnt, dass Kategorien wie Distribution, Rezeption und Vorführorte wie auch kritische und kulturelle Diskurse in die Betrachtung mit einbezogen werden müssen (Higson 1989: 52). Die Ausgangshypothese dieses Buches liegt – unter Berücksichtigung dieser Implikation – im Vorschlag, den Begriff des Nationalen nicht ausschließlich in seiner historiographischen Dimension zu verstehen, sondern ihn zunächst als diskursives Konstrukt anzusehen, das in der Praxis politischen und ökonomischen Zwecken wie Marketing dient (bzw. im Falle Österreichs Defizite der Filmförderung kaschiert) und im theoretischen Feld – nicht zuletzt aufgrund seiner pragmatisch-operationellen Relevanz als Distinktions- bzw. Klassifizierungskategorie – „nutzbar gemacht“, also verwendet wird. Was hinsichtlich des internationalen bzw. globalen Filmmarktes auffällt, ist, dass die dort sich behauptenden „Kinonationen“ dies als solche mit großem Erfolg tun: So wird das „Nationale“, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, insbesondere im Rahmen der Filmproduktion und -vermarktung verstärkt aufgegriffen – eine Form des Recyclings, in der historisch fragwürdige nationale Überreste in transnationale Netzwerke integriert und so regelrecht und breitenwirksam wiederverwertet

15 Hinsichtlich der Auszeichnungen können neben Michael Haneke etwa Barbara Albert, Nikolaus Geyrhalter, Jessica Hausner, Stefan Ruzowitzky, Hubert Sauper, Ulrich Seidl und Götz Spielmann Erfolge verzeichnen. Besonders erwähnenswerte Höhepunkte innerhalb des genannten Zeitraums waren u.a. 1999 222 Festivaleinladungen an „österreichische“ Filme, 2005/06 der Filmschwerpunkt Österreich beim Festival de Cannes (Tous les cinémas du monde), die Verleihung der Goldenen Palmen für Caché (2005) und Das weiße Band (2009) an Michael Haneke sowie des „Auslands-Oscars“ 2008 für Die Fälscher (2007) an Stefan Ruzowitzky und die Oscar-Nominierung 2009 von Götz Spielmanns Revanche (2008).

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werden. Angesichts der zunehmenden Globalisierung der Märkte, der Finanzstrukturen und der damit einhergehenden Hybridisierung von Kultur erscheint die Operationalisierung der Kategorie des Nationalen in Bezug auf kulturelle Produktion16 jedoch problematisch und wirft eine Reihe von bisher unbeantworteten Fragen auf, die im Folgenden erläutert werden. Der Blick auf die Instabilität des Nationalen ist gleichzeitig Anreiz zur Beschäftigung mit einem Kino, das in der Theorie nicht länger als Entität konzipierbar ist. So besteht der zentrale Vorschlag dieses Buches darin, Kino als hybrides Objekt zu betrachten, das im Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure mit theoretischem Erkenntnisinteresse oder pragmatischen Gewinnabsichten aus den Bereichen von Kunst und Kultur, Wissenschaft, Industrie und Wirtschaft geformt wird. Allerdings nur zum Teil: das elastische Netz eines Filmmarkts ist stets auch durchzogen von Techniken, Technologien und Materialitäten, die diese Interaktion bestimmen, modifizieren und bedingen. Während die Film- und Medienwissenschaften sich vorwiegend historischen oder ästhetischen Fragestellungen widmen, konzentrieren sich filmsoziologische oder kommunikations-wissenschaftliche Ansätze häufig auf verschiedene institutionelle, ökonomische oder politischen Akteure in der Gesellschaft. Der Fall „Haneke“ steht – gerade durch seine Heterogenität und durch seine Einbettung in eine Multidiskursivität – „Multi-Discursivity“ (Altman 1992: 9) – exemplarisch für die Notwendigkeit einer Verbindung beider Richtungen. Dies ist jedoch nicht im Sinne einer Untersuchung gegenseitiger Einflussnahme zu verstehen, sondern vielmehr im Hinblick auf eine Analyse der verschiedenen Akteure, die am Netzwerk eines „nationalen Kinos“, das Teil eines „europäischen Autorenkinos“ und letztlich global verfügbaren Arthouse ist, beteiligt sind, in der Konzentration auf die als Zirkulationen zu begreifenden Aushandlungen und Vermittlungen, die dieses Netzwerk ausmachen.

16 Der Bereich der „kulturellen Produktion“ impliziert zunächst die Unterscheidung zweier Ebenen, einer materiellen und einer (oftmals durch nationalkulturkonservative Argumente gestützten) symbolischen. Hier sei insbesondere auf das Beispiel Frankreich verwiesen, anhand dessen sich der mit der Globalisierung einhergehende Wandel der Filmindustrie wohl am markantesten exemplifizieren lässt: Es kollidieren protektionistische Maßnahmen zur Wahrung eines nationalkulturellen Erbes (patrimoine culturel) mit der durch Implikationen eines globalen Finanzmarktes gestützten Forderung nach einer vollständigen Liberalisierung des Film- bzw. Kinomarktes paradebeispielhaft. Im Rahmen einer „Rettungsaktion“ werden auf Betreiben Frankreichs hin 1993 mit Ende der GATT-Runde kulturelle Artefakte bis auf Weiteres von den Regulierungen des globalen Marktes durch die WTO ausgenommen sein (Sennewald 2004). Die von Frankreich in den 1980er Jahren so vehement ergriffenen national-protektionistischen Maßnahmen erhalten ab diesem Zeitpunkt ihre Rechtfertigung durch das Etikett „exception culturelle“, wodurch auch ein spezifisch französischer Kulturbegriff sich stärkt, der am monumental Zivilisatorischen festhält und sich (zumindest nach außen hin) von marktökonomischer Abhängigkeit entfesselt präsentiert. Dass sich allerdings selbst die Grande Nation des Kinos der hegemonialen Handelspolitik der USA nicht entziehen kann, ist dabei augenfällig. (Müller 2009)

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69. W ERT

UND G EHALT DES N ATIONALEN IN DER GEGENWÄRTIGEN K ULTURPRODUKTION : M ICHAEL H ANEKES ( INTER -) NATIONALER E RFOLG ODER DIE S TUNDE DES „ EURONATIONAL - AUTEUR “?

Wie ist das rezente Interesse an der Kategorie des Nationalen in Bezug auf kulturelle (hier: kinematographische) Produktion zu bewerten? Unter den Prämissen einer nationalkritischen Nationalkinogeschichtsschreibung (etwa in Form des von Hayward vorgeschlagenen nation-ness-Konzepts) erscheint ein „nationales (Autoren-)Kino“ als problematisches diskursives Konstrukt. Demgegenüber steht die operationelle – und als solche auch produktive – Funktion dieser Kategorie als ein Label, dem ein gewisser marktökonomischer Wert freilich nicht abzusprechen ist. Inwiefern lässt sich behaupten, dass mit der Dekonstruktion und der daraus resultierenden Aufgabe des programmatisch-ideologischen Begriffes eines „nationalen“ Kinos ein empirischfunktionaler Begriff gegebenenfalls hinfällig ist? Anders gewendet stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob und inwiefern „nationale Identität“ im 21. Jahrhundert in der Kulturproduktion noch eine zentrale Relevanz hat bzw. inwieweit Institutionen wie etwa die Filmförderung noch ihrer Stabilisierung und Konstruktion dienen. Eine Revision des Begriffs der „nationalen Identität“ ist hierbei vorzunehmen bzw. gilt es zu konkretisieren, an welchen Kriterien sie im kinematographischen Kontext festzumachen bzw. zu identifizieren ist. Schließlich lässt sich fragen, ob und inwiefern das „Nationale“ mit der Herausbildung eines globalen art cinema, das – wie im Fall „Haneke“ – nationale Grenzen überschreitet, als Klassifikationskategorie überhaupt noch funktioniert. Und: was soll – im Falle eines diesbezüglich negativen Befundes – an die Stelle dieser Differenzierung treten? Am Beispiel Hanekes und seiner zahllosen Festivalerfolge eröffnet sich so ein dichtes Spannungsfeld, das in der filmgeschichtlichen Forschung bisher unzureichend betrachtet wurde: Jenes von Nationalität und Internationalität, als ein Feld zweier einander bedingender und ineinander verschränkter Konzepte, denen im akademischen Kontext der Bemühungen um eine „filmische Interkulturalitätsforschung“ (Engelbert; Pohl; Schöning 2001: 15) bereits zentrale Bedeutung beigemessen wurde. Hanekes Filme spiegeln dabei eine innerhalb der kinematographischen Aktualität allgemein sich abzeichnende Tendenz wieder: so fällt u.a. auf, dass ein Gutteil der gegenwärtigen als „österreichisch“ bzw. „französisch“ sich definierenden Filmproduktionen Koproduktionen sind und die nationale Filmproduktion daher als weitgehend abhängig von transnationalen Produktionsbedingungen bewertet werden kann. Auch verdeutlicht sich am Beispiel Hanekes und der zahlreichen (Festival)Auszeichnungen, die ihn umgeben, wie sehr Nationalität und Internationalität einander beeinflussen – so macht etwa die Logik des Internationalen Filmfestivals die Konstruktion des überbetont Nationalen erst möglich. Dieser Zusammenhang mag freilich nahe legen, eine gezielte Differenzierung der Begrifflichkeiten „national“, „international“, „transnational“ und „global“ im Hinblick auf kinematographische Produktion vorzunehmen, was der hier vertretenen Form und Förmlichkeit allerdings zuwiderliefe. Ich möchte hier, anstatt mich auf vorgefertigten Definitionsbahnen zu bewegen, die zwangsläufig auf die Sackgasse des Essenzialismus zusteu-

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ern würden, vordergründig jenen Prozessen Aufmerksamkeit zukommen lassen, die der Faktizität dieser Begriffe und Konzepte vorangehen. Vorläufig möchte ich daher mit dem Terminus „transnational“ nur voraussetzen, dass er den Austausch zwischen Produktionsbeteiligten mit verschiedenen kulturellen Hintergründen fokussiert, während „international“ noch einzelne Nationen bedingt (Cook 2010: 25). Mit den Veränderungen des Filmmarktes im Zuge der Globalisierung bedarf es schließlich einer neuen Konzeptualisierung des Art- bzw. Autorenfilms, der traditionell in (vor allem diskursiver) Abgrenzung zum populärkommerziellen Kino stand, inzwischen jedoch zunehmend als „Festivalfilm“ institutionalisiert wird: In die aus dieser Begebenheit resultierende Nische eines „populären Kunstfilms“ – „popular art film“ (Cook 2010: 25) – schreibt sich der Fall „Haneke“ als Indikator ein: Hanekes Filme gelten als „Autorenkino“ und liegen wegen ihres Schauwerts durch die subtile (Nicht-)Darstellung von Gewalt, der Mitarbeit von Produktionsfirmen mehrerer Länder und wegen ihrer engen Beziehung zum Theater quer zu gängigen Klassifikationskriterien wie national und international, Kunst und Kommerz, filmspezifisch oder gar „intermedial“. Es wird im Folgenden nun darum gehen, von der offensichtlichen und inzwischen weitestgehend diskutierten Konstruiertheit der thematisierten Begriffe und Konzepte Abstand zu nehmen und stattdessen ihr Werden, ihre – oftmals sehr elastischen und a-linearen – Konstitutionsverläufe und Potentialitäten ins Licht zu rücken.

68. T RANSNATIONALE V ERNETZUNGSPROZESSE UND EIN S ONDERFALL VON I NTERKULTURALITÄT : A KTEUR -N ETZWERK -S ZENARIEN UND EIN K ORPUS DER U NMENGE Eine nationalphilologische Ausrichtung medienwissenschaftlicher Forschung ist nicht nur mit dem Problem behaftet, dass für die Begriffe des Nationalen bzw. der Nation eine verbindliche Übereinkunft zu ihrer Bedeutung weder gegeben ist, noch – trägt man der Vielfalt ihrer historischen Erscheinungen Rechnung – gegeben sein kann; sie ist auch insofern problematisch, als sich Kino und Film – wie Literatur – in ihrer Entwicklung kaum je von Staatsgrenzen einengen haben lassen. – Ein Faktum, das in den Kulturwissenschaften bereits ausführlich veranschaulicht wurde, weshalb das vorliegende Experiment eine historische Gewichtung zwar voraussetzt und implizit verhandelt, nicht aber in den Vordergrund stellt. Viel eher geht es darum, ein situatives Verständnis von Kino nahezulegen und es in Anlehnung an Rick Altman zunächst als Ereignis zu konzipieren (Altman 1992). Als Ereignis, das sich in einem komplexen Vernetzungsprozess konstituiert und in einen interkulturellen Kontext integriert ist. Kinematographische (Inter-)Nationalität bildet einen Komplex, der im Zusammenhang mit dem zunehmend sich globalisierenden System bis dato unzureichend problematisiert wurde. Die durch den Fall „Haneke“ offensichtliche Aktualität des Sujets impliziert die Notwendigkeit einer Revision sowie einer Rekonstruktion der in diesem Zusammenhang sich manifestierenden konstitutiven Merkmale bzw. Differenzkriterien. Es gilt dabei zunächst, kinematographische Internationalität als einen

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„Sonderfall von Interkulturalität“ (Engelbert; Pohl; Schöning 2001: 14) zu betrachten, der sich aus einer Reihe von Transferprozessen ergibt. Die Beschäftigung mit Motivationen, Bedingungen und Folgen des kulturellen Transfers ist daher zentrales Anliegen des Projekts, wobei selbstverständlich nicht nur Mittel des Transfers, Akteure und institutionelle Apparate herauszustreichen sind, sondern auch seine Inhalte, Selektionen und Formen. Schließlich handelt es sich bei kinematographischen Transferprozessen immer auch um einen materiellen Transfer mit nichtmateriellem Inhalt und damit um die Konfrontation mit Problemen einer Kunst, die semantische Dimensionen hat. In diesem Kontext von Deutung und Bedeutung – einem Universum von Übersetzungsprozessen, wie ich im Folgenden erläutern werde – ist selbstverständlich zu unterstreichen, dass Haneke mit seinem Film Das Weiße Band gewiss einen Höhepunkt seines Filmschaffens erreicht hat, dieser Film gleichzeitig aber auch „nur“ das vorläufig letzte – durch Amour (2012) breitenwirkungsmäßig noch weit übertroffene – Glied einer längeren Kette von Filmen ist, die nicht nur gesellschaftliche Ängste, Fremd und Eigen, Mechanismen von Gewalt, Fragen von Macht, Besitzverhältnissen und Schuld thematisieren, sondern – von Beginn Hanekes Kino-Karriere an (Der Siebente Kontinent [1989], Benny’s Video [1992], 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls [1994]) – stets auch den Medienapparat in Relation zum Menschen kritisch reflektieren bzw. Medialität selbst implizit und explizit zum Thema haben. – Eine Kinokarriere, die zudem weit früher schon über den Rundfunk des öffentlichen Fernsehens startet. Selbiges lässt sich für seinen Zugang zu national-gebundenen Phänomenen konstatieren: Haneke offeriert durch seine Filme ein breites Spektrum an Situationen, die den Status von Nation bzw. die Konstruktion eines „Nationalen“ tangieren: von der in Paris situierten Studie über den Alltag in einer globalisierten Welt im Hinblick auf Migration (Code inconnu [2000]), über das exterritorialisierte Szenario einer Apokalypse nach dem Zusammenbruch der Zivilisation (Wolfzeit [2003]), bis hin zur Allegorie des postkolonialen Frankreichs (Caché [2005]). Gleichzeitig steht er für eine Umsetzung (Finanzierung, Zusammenstellung der Akteure), die sich an diesen Konstruktionen reibt (prominent etwa: Die Klavierspielerin [2001]). Insofern bietet Hanekes Kino einen inhaltsästhetischen Mehrwert, ein doppeltes Reflexionsmoment, das sich in Form einer mise-en-abyme in die Frage nach den Potentialen eines „nationalen“ Kinos integriert. Denn, wie Georg Seeßlen in seinem Aufsatz „Strukturen der Vereisung“ zu Hanekes Filmen und Figuren treffend festhält: „Der Mensch und sein sozialer Ort sind nicht mehr identisch, oder anders ausgedrückt, der Gebrauch der sozialen Zeichen Geld, Ware, Habitus, Verkehrsform etc. lassen [sic!] sich nicht mehr durch eine wie auch immer mythische Konstruktion von Heimat erklären.“ (Seeßlen 2008: 27) So sind etwa Hanekes Figuren vom Verlust dessen gezeichnet, was gemeinhin als Identität gilt; stets jedoch im Versuch, diese so willkürlich wie gewaltsam zurückzugewinnen, zuweilen durch die „Rekonstruktion nationaler oder gar rassischer Identität als barbarischem Ersatz für den sozialen Ort“ (Seeßlen 2008: 27). Vor diesem Hintergrund hat das vorliegende Buch experimentellen Charakters den Anspruch einer empirischen Fallbeispielbeschreibung, deren Ziel in der Problematisierung der Konstitutionsverläufe eines „nationalen (Autoren-)Kinos“, gleichzeitig in der Hinterfragung diesbezüglich bereits etablierter theoretischer Ordnungen und letztlich im Erproben eines alternativen Verfahrens zur Erforschung (inter-)kultureller Produktion besteht.

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Ziel ist es nun, nach den Potentialen eines nationalen Kinos zu fragen und dabei neue Impulse zu einer „filmischen Interkulturalitätsforschung“ (Engelbert; Pohl; Schöning 2001: 15) zu geben, die das „Filmische“ jedoch weiter fasst. Der – vor allem in der französischen Medienwissenschaft sich manifestierenden – Tendenz zur semiotisch-werkzentrierten Filmanalyse soll eine medien-, kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung gegenübergestellt werden, die ihre Reflexionen aus der Empirie entfaltet. Wenn, wie bereits angedeutet, eines der Grunddesiderata die Zusammenführung der historischen und ästhetischen Belange der Film- und Medienwissenschaften mit den Fragestellungen filmsoziologischer und kommunikationswissenschaftlicher Ansätze ist, so liegt diesem Bestreben eine zentrale methodologische Überlegung zugrunde: Zur angemessenen Realisierung des Vorhabens bedarf es – so meine These – eines Analysemodells, das zunächst die komplexe Durchdringung von Technik und Gesellschaft adäquat zu beschreiben vermag. Menschliches Handeln und Erleben ist schließlich von Technik geprägt und durchdrungen.17 Es wird nun darum gehen, Strategien und Diskurse zwischen Wirtschaft, Politik und Kultur auszuleuchten und dabei ein prozessuales, dynamisches und situatives Verständnis von Kino vorauszusetzen. Das unter dieser Prämisse mit der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) wahrgenommene Konzeptionalisierungsangebot ist dabei eines, das den durch die neuen Technologien bedingten theoretischen Verschiebungen und Neupositionierungen Rechnung trägt. Nicht zuletzt ist es auch die Eingliederung der Philologien in einen kultur- und technowissenschaftlichen Kontext, die nahelegt, Anschlüsse an einen theoretischen Rahmen zu finden, in dem traditionelle Leitdifferenzen wie etwa Natur/Kultur, Objekt/Subjekt, Ding/Handeln längst ihrer vermeintlich starken Legitimations- und Erklärungskraft enthoben wurden. Der Fachbereich, in dessen Rahmen dieses Buch steht – jener der französischen Medienwissenschaft – legt zunächst nahe, in Bezugnahme auf den Fall „Haneke“ mit einer an Michel Foucault orientierten Diskursanalyse zu arbeiten (Foucault 1969, 1975). Letztere hat sich nicht nur als Methode zum Verständnis von Kulturen und ihren Austauschbeziehungen als unverzichtbares Instrumentarium der medienwissenschaftlichen Reflexion etabliert, sie fungiert gleichzeitig auch als Basis einer – für den kinowissenschaftlichen Forschungsbereich durchaus relevant einzuschätzenden, von diesem bis dato aber weitgehend unbeachteten – Weiterentwicklung: So ist in den letzten beiden Jahrzehnten aus dem französischen Editionsraum die hier zum Tragen kommende Actor Network Theory (ANT) hervorgegangen, ein theoretisches Dispositiv, das innerhalb der soziologisch motivierten Wissenschaftsforschung (Science Studies) bereits als Schlüsseltheorie gilt (Belliger; Krieger 2006: 15), jedoch noch nicht allzu ausführlich mit Film- und Kinoforschung in Verbindung gebracht wurde. In Traditionen der Wissenssoziologie, der Ideologiekritik und des Konstruktivismus sich eingliedernd, stellt die u.a. von Bruno Latour, Michel Callon, Madeleine Akrich und John Law initiierte Akteur-Netzwerk-Theorie ein richtungsweisendes Angebot für die Medienwissenschaft dar. Die Interaktion von Mensch und Maschine 17 Eine traditionelle Trennung von Gesellschaft und Technik ist auf Basis empirischer Daten nicht mehr haltbar. Die Zusammenführung der beiden Bereiche wurde in rezenteren Arbeiten zwar vermehrt eingefordert (vgl. etwa Hartmann 2003), aus pragmatischen Gründen jedoch zumeist unterlassen.

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bzw. Technik erfährt dabei insofern eine zeitgemäße Beachtung, als die ANT Handeln und Erleben in der Ordnung eines „Kollektivs“ von Akteuren versteht (Latour 2000). Eines Kollektivs menschlicher und nicht-menschlicher Akteure, wohlgemerkt. Die Maschine erfährt damit eine Sozialisierung, wird – wie der Mensch – zum sozialen Akteur und damit zum Teil von „Netzwerken von Artefakten, Dingen, Menschen, Zeichen, Normen, Organisationen, Texten und vielem mehr, die in Handlungsprogramme ‚eingebunden‘“ sind (Belliger; Krieger 2006: 15). Der ANT liegt demnach ein generativer Prozess zugrunde – der „neue“ Empirismus18 als ihre methodologische Antriebskraft geht in der Betrachtung von Konstitutionsprozessen auf. Was Bruno Latour in Studien zu Louis Pasteurs Entdeckungen der Milchsäurehefe oder Michel Callon in Arbeiten zur Domestikation der Kammmuschelpopulationen entlang der Küste Nordfrankreichs darlegen (Latour 1983; Callon 1986), ist damit weit mehr als ein sinnvolles Angebot für die hier vertretene Kino- und Medienforschung, die Dinge nicht mehr in Zeichen verwandeln bzw. in semiotische Codes drängen will, sondern den maßgeblichen Anspruch stellt, „aus etwas, das vorher kein Ding war, das nicht einmal einen Namen hatte, einen der bedeutendsten Akteure der Wissenschaftsgeschichte zu machen“ (Belliger; Krieger 2006: 30). Das archäologische Aufspüren der foucaultschen Wissensformationen und die performativ-detektivische Akribie in der Annäherung an die zerstreutesten Textbestände zum Nachweis kollektiver Denkpraxis19 werden so um einen entscheidenden Anteil ergänzt: jenen der Dinge nämlich oder, anders gewendet, des konkreten Materials. Im Zentrum des Interesses steht damit die Materialität von Geschichte(n), weshalb eine erste Bewegung folglich darin bestehen muss, von traditionellen soziologischen Begriffen, allen voran jenem des „symbolischen Kapitals“20 (Bourdieu 1992) Abstand zu nehmen und zu sehr lokalen, praktischen Ebenen zurückzukehren, deren Kräfte in der Materie liegen:

18 Zu diesem „neuen“ Empirismus vgl. Latour, Bruno. Elend der Kritik: Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Zürich/Berlin: diaphanes, 2007. In methodenkritischer Manier und sehr streitbarem Ton rekonstruiert Latour in diesem Aufsatz Diskursanalyse, Dekonstruktion und einen radikalen Konstruktivismus um diese drei Ansätze zu verwerfen und stattdessen einen neuen Empirismus zu fordern, der sich an der Betrachtung von Konstitutionsprozessen orientiert. 19 Paradebeispielhaft dafür steht etwa Latours Studie zum Pariser Verkehrsprojekt „Aramis“ (Agencement en Rames Automatisées de Modules Indépendants dans les Stations), dessen Realisierung 1987 nach beinahe 20 Jahren Projektphase gescheitert war. Für die schriftliche Umsetzung seiner anhand der diversesten (und nicht nur humanoiden) Projektbeteiligten durchgeführten „Autopsie eines Versagens“ wählt Latour das hybride Genre der „scientifiction“. Aramis or the love of technology ist in seinem Grundmuster als Detektivroman angelegt, in seiner Form jedoch so offen, dass auch „die Privilegien der Prosopopöie“ zum Tragen kommen und Aramis so auch selbst als sprechende Instanz auftreten kann. (Latour 1996 [AR]) 20 Dieser Gestus der Vertreter der ANT – und damit ist allen voran Bruno Latour gemeint –, zur Soziologie Pierre Bourdieus auf Distanz zu gehen, ist integraler Bestandteil des im Rahmen der vorliegenden Arbeit noch ausführlich thematisierten „neuen Empirismus“ (Latour 2007 [EK]).

26 ǀ H ANEKE : K EINE B IOGRAFIE „What is so promising about extricating material materialism from its idealist counterpart – of which the concept of ‚enframing‘ is a typical example – is that it accounts for the surprise and opacity that are so typical of techniques-as-things and that techniques-as-objects, drawn in the res extensa mode, completely hide. The exploded-view principle of description makes it possible to overcome one of the main aspects of bringing an artifact into existence: opacity. In other words, it draws the object as if it were open to inspection and mastery while it hides the elementary mode of existence of technical artifacts – to take up Gilbert Simondon’s title. Parts hide one another; and when the artifact is completed the activity that fit them together disappears entirely. Mastery, prediction, clarity, and functionality are very local and tentative achievements that are not themselves obtained inside the idealized digital or paper world of res extensa – even though it would be impossible to carry them forward without working upon and with technical drawings and models.“ (Latour 2007 [M]: 141)

Der Fall „Haneke“ verleiht dem Vorhaben der Annäherung an den Komplex „(Autoren-)Kino“ mit ANT eine mögliche Eingrenzung, bietet er schließlich ein breites, gleichzeitig jedoch überschaubares Spektrum an zu entfaltenden Netzwerken: Einmal die Verlaufsformen zu Haneke als nationales Aushängeschild, der als Label im Sinne eines strategischen Filmmarketings erheblich zur „Etablierung eines Medienstandortes Österreich“ beiträgt (Schweighofer 1999: 11). Dann, abseits der Beschwörungen der „Kulturnation Österreich“, Haneke als internationaler Regisseur, der sich als solcher in einen Festival- und Kritikkontext einschreibt, der gezielte Milieu- und Materialstudien erlaubt. Schließlich als ein theoretisch als euronational konzipierbares Phänomen, das im Zusammenhang einer symbolischen und ökonomischen Abgrenzungspolitik erarbeitet werden kann. Und nicht zuletzt – spätestens seit der U.S.-Neuverfilmung 2007 seines Werks Funny Games (1997) – als transnationales (globales?) Marktphänomen – wobei hier insbesondere das Produktionsnetz sowie die heterogene Zusammenstellung der Finanzgeber (vom Land Oberösterreich bis hin zum Centre National de la Cinématographie) hervorzuheben sind. Im Zeichen einer „Soziologie der Übersetzung“, wie sie Callon in seiner Studie zur Domestikation der Kammmuscheln formuliert (Callon 1986), können die für das Vorhaben relevanten Netzwerke Schritt für Schritt auf die Interaktionen, Aushandlungen und Vermittlungen ihrer Akteure hin entfaltet werden. Die unterschiedlichen Akteure werden dabei stets in situativen Funktionszusammenhängen gedacht: Sind bestimmte Bedingungen oder Situationen gegeben, agieren Akteure ihrer Rolle entsprechend, ohne dabei zwangsläufig einer Kausalitätslogik zu folgen. Die Zuweisung von Rollen wird von der ANT im Terminus der „Übersetzung“ begriffen. Übersetzung steht dabei für einen Prozess, der aus technisch-kommunikativen Handlungen besteht, aus denen Eigenschaften, Kompetenzen, Qualifikationen und nicht zuletzt Identitäten hervorgehen. Die Wege der ANT als Zugangsweise zum Fall „Haneke“ erlauben demnach, den Begriff des Nationalen sowohl in seiner Funktion als Differenzierungskategorie als auch in seinen soziologischen bzw. soziohistorischen Dimensionen (etwa als identitätsstiftende Kategorie) medientheoretisch neu wahrzunehmen und ihn – wenn auch entgegen der primär angeführten Interessen der ANT – in einen reflexiven und kritischen Rahmen zu integrieren. Kino lässt sich parallel dazu im Sinne Latours als „Quasi-Objekt“ qualifizieren (O’Reagan 1996: 38), das sich im Zusammenwirken unterschiedlicher Akteure und Diskurse konstituiert.

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Kommt man dem von Vertretern der ANT gestellten Postulat, den Akteuren zu folgen, nach, so lässt sich eine neuartige, prozessuale (Re-)Konstruktion des Konzeptes eines „nationalen Kinos“ vollziehen. Die vorliegende Studie ist eine an der ANT orientierte soziologische Befragung der Milieus unter Berücksichtigung einerseits der strukturellen Herausforderungen der menschlichen und materiellen Akteure sowie andererseits der Debatten, in denen ein Autoren-gebundenes Nationalkonzept von Kino explizit oder implizit aufgegriffen, verhandelt, verworfen etc. wird, kurz: funktioniert. Die Qualitäten der Begriffe von „Nationalität“ über „nationale Identität“, schließlich bis hin zu jenem eines „nationalen (Autoren-)Kinos“, werden mit den Akteuren und dem Handlungsprogramm, in das sie sich integrieren, in Verbindung gebracht, d.h. in ihren Konstitutionsverläufen und Positionierungen im Netzwerk erfasst. Hierbei spielen ihre institutionelle Verankerung, ihre verteidigten Interessen und Ziele eine ebenso wesentliche Rolle wie ihre strategischen Zusammenschlüsse im Rahmen jener Gefüge, die sich mit Bourdieu als „Machtverhältnisse“ beschreiben ließen (Bourdieu 1992), mir aufgrund der Interferenz nicht-menschlicher Handlungsträger treffender jedoch mit „Kräfteverhältnissen“ benannt erscheinen. Das Verständnis dieser Zusammenhänge erlaubt so eine aufschlussreiche Bestandsaufnahme der verschiedenen konkurrierenden Ideen eines „nationalen“ (Autoren-)Kinos im Rahmen einer unaufhaltbar voranschreitenden Globalisierung und Hybridisierung von Kultur. Es gilt in diesem Sinne, die Reflexionen zum Fall „Haneke“ im Zeichen einer „kompositionistischen“ (Latour 2010 [CM]) Fallbeispielstudie als HybridNetzwerk auszulegen, um letztlich ein klares Licht auf jene Verhältnisse zu werfen, die die rezenten Ideen eines „nationalen (Autoren-)Kinos“ bestimmen bzw. um Aufschluss darüber zu geben, wie sich Nationen (entsprechend ihrer etymologischen Grundlage) medial konstruieren, rekonstruieren und im Spiel halten. Das Akteur-Netzwerk ist – ich werde im Folgenden noch ausführlich darauf eingehen – nicht, wie es die so naheliegende wie fälschliche „Doppelklickassoziation“ mit dem World-Wide-Web vermuten lässt, ein Konzept, das Demiurgie auf der einen und die Auflösung des menschlichen Subjekts in einem anonymen Feld von Kräften auf der anderen Seite voraussetzt, sondern ein Verfahren, das abseits essentialistischer Bemühungen und der Unterscheidung von Handeln und Struktur konkret den lokalen Schauplatz zum Brennpunkt des Interesses erhebt. Damit ist die ANT, wie Latour in seinem „Rückruf“ der nämlichen betont, weniger eine Theorie als vielmehr eine praktisch-pragmatische Methode der Beschreibung von Interaktionen, die „das Soziale von dem, was eine Oberfläche, ein Territorium, eine Provinz der Realität war, in eine Zirkulation transformiert“ hat (Latour 1999: 565). An die Stelle des Definierens von Entitäten, Essenzen oder Domänen rückt das Bestreben, den Zirkulationen zu folgen, sie zu „rahmen“ (framing) und dabei die gängige Auffassung der Gesellschaft, der zufolge Makroprozesse Mikroprozesse beherrschen, zu überwinden. Diese Herangehensweise bedeutet somit keinen „Zoom“ vom Globalen zum Lokalen und zurück, sondern setzt voraus, dass die beiden Ebenen ineinander verschränkt sind. Im Zeichen einer dahingehenden „Rahmung“ (Latour 1999: 562) von Interaktionen steht nun das Buch „Haneke“: „Rahmung ist eine Operation, die dazu verwendet wird, individuelle, voneinander deutlich verschiedene und abgetrennte Agenten zu definieren. Sie gestattet auch die Definition von Objekten, Gütern und Handelswaren, die vollkommen identifizierbar sind und nicht nur von anderen

28 ǀ H ANEKE : K EINE B IOGRAFIE Gütern getrennt werden können, sondern auch von den involvierten Akteuren, z.B. in ihrer Entwicklung, Produktion, Zirkulation oder in ihrem Gebrauch.“ (Callon 1999: 552)

Das Projekt zielt unter dieser Voraussetzung auf die Rahmung jener Interaktionen ab, die der Fall „Haneke“ und die damit verbundenen Kräfte eines „nationalen“ (Autoren-)Kinos bestimmen. Der „re-kontextualisierte“ (vgl. Latour 2007 [SG]: 330) Studienfall realisiert sich in einer ausführlichen Fallstudie, die die besagte Rahmung entlang der Filme des Regisseurs in Form von Szenarien entwirft. In einem solchen szenarisierten Rahmen kann potentiell jedem noch so kleinen, kritischen oder vermeintlich unbedeutenden Akteur entscheidende Bedeutung zukommen: Die Konsultation der Filme von und über Haneke (etwa: Nina Kusturicas und Eva Testors Haneke Porträt 24 Wirklichkeiten in der Sekunde [2004]) kann und wird dabei nur einer von vielen Ausgangspunkten sein. Von den Autorenstatements, den Merchandising-Produkten, über die Filmfiguren, Plakate und Trailer, die Preisverleihungsmitschnitte, hin zu den Preisen selbst – erhalten oder nicht erhalten (etwa für den in Cannes außer Konkurrenz gelaufenen Film Wolfzeit (2003), in dessen Rahmen einer der darstellenden Mitwirkenden, Patrice Chéreau, Jury-Präsident ist) – jedes dieser Elemente avanciert zum potentiellen Bedeutungsträger. Der Begebenheit, dass Haneke seine Palme 2010 von Jury-Präsidentin Isabelle Huppert, seiner Hauptdarstellerin aus Die Klavierspielerin (2001) überreicht bekommt, ist dabei ebenso viel Bedeutung beizumessen, wie der Kameratechnologie, dem Kopierwerk oder der Distribution, die Haneke zu seinem „Erfolg“ verholfen haben. Der am i-Pad weltweit abrufbare YouTube-Clip, der Filmtrailer, die DVD-Sonderedition und selbst die Waffen, mit denen Hanekes Figuren ihren Kampf um die verlorene Identität bestreiten – vom Golfschläger als Instrument der Demütigung in Funny Games über die Schere, die am Werbeflyer für Das Weiße Band im leblosen Körper eines Vögelchens steckt, bis hin zu den theologisch geleiteten Debatten21, die das erstochene Tier und andere der zahlreichen Bildnisse von Gewalt auslösen – jedes dieser Elemente transformiert die Konstruktion eines „Nationalen“, das, einst eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, nunmehr – in Zeiten globalen Filmmarketings – nicht als letzte Instanz und unter selbst gewählten Bedingungen Geschichte macht. Mittels Rahmung in Form eines zu erstellenden qualitativ ausgerichteten Datenpools, der den Menschen all die NichtMenschen an die Seite stellt, die ihre Handlungen erweitern, mittels einer „Dezentralisierung der Entscheidungsfindung“ (Callon 1999: 547) also, wird ein detaillierter Bericht über die Mechanismen und Strategien des aktuellen Kinomarktes als Netzwerk komponiert, der auch Kontroversen über umstrittene Tatsachen aufzeichnet. Letztlich ist in Zeiten der Technowissenschaft mit Callon davon auszugehen, dass „menschliche Handlung nicht nur menschlich ist, sondern sich auch entfaltet, delegiert und in Netzwerken mit multiplen Konfigurationen formatiert wird“ (Callon 1999: 558). Ein solcher Bericht kann die beteiligten, zur Berechnung fähigen Akteure dazu veranlassen, ihre Sicht- und Verhaltensweisen zu ändern. Hierin liegt nicht nur 21 So etwa im Rahmen der von der internationalen Forschungsgruppe Film und Theologie unter der Leitung des Fundamentaltheologen Christian Wessely organisierten Tagung Von Ödipus zu Eichmann: Kulturanthropologische Voraussetzungen von Gewalt im Juni 2010 an der Universität Graz, mit der das Preisrepertoire des anwesenden Haneke um jenen des internationalen kirchlichen Filmpreis Signis für Das weiße Band erweitert wird.

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die Praxisrelevanz einer solchen Studie sondern allem voran auch ihr demokratisches Potential. Gesetzt – und dieser Gedanke trägt dieses Buch –, dass sich Demokratie nur innerhalb einer dem Messbaren sich entziehenden Inkommensurabilität konstituieren kann, erscheint es sinnvoll, einer Methodologie zu folgen, in der die quantitative Logik einer qualitativen weicht; einer Methodologie, die die zu beschreibenden Akteure unter einen Begriff der Unmenge fasst, wie ihn Ilka Becker, Michael Cuntz und Astrid Kusser in ihrem gleichnamigen Band in Anlehnung u.a. an Latour zur Verteilung von „Handlungsmacht“ nahelegen: „Die Unmenge geht […] nicht in der ‚großen Zahl‘ oder ‚Anzahl‘ von Akteuren auf. Zwar ist die Ausweitung eine erste notwendige Geste, soll aber nicht als Phantasma der All-Inklusion verstanden werden […]. Das ‚Un-‘ der Unmenge steht für ihre Unzählbarkeit, sie gehorcht nicht der Logik der Quantifizierung. Die Unmenge ist keine Menge, die zählbare Elemente enthält und aus der sich andere Elemente als unzugehörige aussondern ließen. […] In der Unmenge ist die konventionelle Aufteilung zwischen Akteuren und einem bloßen Schauplatz zugunsten eines Milieus aufgehoben, das sich im Geschehen herausbildet.“ (Becker; Cuntz; Kusser 2008: 9-10)

Für den am Fall „Haneke“ exemplifizierten Interessensbereich eines „nationalen“ (Autoren-)Kinos ein Korpus der Unmenge vorauszusetzen entspricht so letztlich keineswegs einem Akt der Willkür, sondern versteht sich als Desideratum, dem Gewaltakt des blockartigen Vordefinierens von vermeintlich freien Gemeinschaften wie etwa „Nation“ oder „Volk“ eine irreduktionistische22 Praxis der A-Linearität und der (Neu-)Verteilung23 entgegenzusetzen. Es versteht sich unter dieser Voraussetzung von selbst, dass ein vordefiniertes Ergebnis genau so sehr abzulehnen ist wie der Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Schließlich bleibt festzuhalten, dass das Bestreben nach Entgrenzung und Erweiterung innerhalb einer solchen Arbeit (so offen sie auch angelegt sein mag) selbstverständlich nicht frei von Ambivalenz ist, impliziert die Praxis des Rahmens zwangsläufig immer auch Exklusion. Die Programmvorschau – sloganhaft und in aller Kürze – lautet daher: Vorgehensweise detektivisch, Absicht diebisch – geht es letztlich auch darum, das Nationale (hier: eine aus einem Gewaltakt der abendländischen Moderne resultierende Essenz) entgegen diversen vorgefertigten Übereinkünften wenigstens eines Attributs zu berauben; seiner Evidenz nämlich. Oder, allgemeiner, einer Evidenz als etwas, das seinen Konstitutionsprozessen – um die es hier vorrangig geht – vorgängig wäre. 22 Die Grunddevise des von Latour geprägten „Irreduktionismus“ besteht im Wunsch, „keine Sache auf eine andere [zu] reduzieren“: „Nichts reduziert sich auf etwas anderes, nichts leitet sich von etwas anderem ab, alles kann sich mit allem verbinden.“ (Latour/Schmidgen 2011: 110) 23 Der Begriff der Verteilung versteht sich hier in der von Becker, Cuntz und Kusser vorausgesetzten Konzeption und betrifft, wie von diesen festgehalten, „nicht das Bild eines bereits bestehenden und aufzuteilenden Ganzen […], sondern das Spannungsverhältnis einer geteilten Situation […], die sich aus der Gleichzeitigkeit und dem Aufeinandertreffen heterogener Elemente ergibt. Veränderung wäre dann weniger als lineare Entwicklung, die von Kontinuitäten und Brüchen begleitet wird, zu erzählen, sondern als Ausbreitung, Wucherung und Übertragung zu beschreiben.“ (Becker; Cuntz; Kusser 2008: 8)

1. Artgerecht beschrieben: „Nationales“ (Autoren-)Kino

67. V OM KONKRETEN F ALL IM N ETZWERK ZUM „Q UASI -O BJEKT “. Z UR EMPIRISCHEN B EOBACHTUNG VON K ONSTITUTIONSPROZESSEN Wie bereits angedeutet, wurde das skizzierte Experiment in Form einer induktiven Fallstudie durchgeführt – zu den Potentialen eines nationalen Kinos mit „Haneke“. Doch worin besteht letztlich der konkrete Fall? „Der konkrete Fall ist bloß, um wie ein Philosoph zu sprechen, ‚die Realisierung eines Potentials‘, das bereits da war“ (Latour 2007 [SG]: 263), schreibt Latour in einem „dialogischen Zwischenspiel“1, in dem ein autofiktiver Professor auf einen fiktiven Studenten trifft. „Was tun mit der ANT?“, lautet das Thema des Frage-Antwort-Spiels und der Professor, der wohl Latour heißt und hier „wie ein Philosoph“ spricht, gibt sich entschlossen: Die AkteurNetzwerk-Theorie sei nicht „anwendbar“, es gehe schlicht darum, so der selbsternannte Relativist, zu beschreiben, nicht zu erklären, dem Empirismus sich zu ergeben, „die Hermeneutik beiseite“ zu lassen und „zum Objekt – oder vielmehr zum Ding“ zurückzukehren. Der Philosoph, den der fiktive Professor hier enunziatorisch inkarniert, hat – wenngleich er hier erstaunlicherweise nicht explizit erwähnt wird – freilich einen Namen: er heißt Gilles Deleuze. Es ist bemerkenswert und irreführend zugleich, dass Latour in seiner terminologischen Präzisierung des Netzwerks den Rhizomatiker Deleuze entweder gar nicht namentlich erwähnt oder ihn – an anderer Stelle – nur als Mediatoren einer ganz anderen, für die ANT als richtungsweisend herausgestellten Tradition anführt. Um Verwechslungen mit technischen Netzwerken („Elektrizität, Eisenbahn, Kanalisation, Internet“) einerseits und der Bedeutung des Begriffs in der Organisationssoziologie andererseits vorzubeugen, muss mit Denis Diderot zunächst ein Denker des 18. Jahrhunderts als Argumentationsstütze herhalten: „Doch eine andere Tradition, auf die wir uns stets bezogen haben, ist die von Diderot, insbesondere in D’Alemberts Traum ([1769], Le rêve de d’Alembert), in dem das Wort Netze 1

Latour, Bruno. „Was tun mit der Akteur-Netzwerk-Theorie? Zwischenspiel in Form eines Dialogs“. In: Ders.: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007, S. 244-271.

32 ǀ H ANEKE : K EINE B IOGRAFIE (réseaux) siebenundzwanzigmal vorkommt. Darin kann man die sehr spezielle Variante eines aktiven und verteilten Materialismus finden, dessen jüngster Vertreter Deleuze, via Bergson, ist.“ (Latour 2007 [SG]: 225)

Latours Rekurs ist in der Tat triftig, schließlich setzt Diderot in seiner materialistischen Philosophie in dialektischem Glanz ein Netz voraus, das sich nicht ausschließlich auf menschliche Bindungen beschränkt. Das Bild des Spinnennetzes ist bei Diderot Emblem für das Ganze (le tout) einer sensiblen Materie, steht gleichzeitig aber auch für ein Ensemble in seiner Verteilung von Agenten (agents), d.h. agierenden Entitäten, die aufeinander einwirken.2 Diderot lässt seinen Protagonisten D’Alembert in einen Traum versinken, in dem er sich vom Individuum in seiner vermeintlichen Allmacht verabschiedet, um eine Welt von Interaktionen und Formveränderungen vorzugeben, die ein philosophisches Denken in Essenzen für hinfällig erklärt. Latour seinerseits stößt sich nicht an den Essenzen an sich, sie bedürfen ihm zufolge lediglich einer differenzierten Beschreibungsform, was er bereits in einer früheren Notiz – 1996 – zur ontologischen Disposition seines Akteur-Netzwerkes festhält: „Why then use the word network since it is opened to such misunderstandings? The use of the word comes from Diderot. The word ‚réseau‘ was used from the beginning by Diderot to describe matter and bodies in order to avoid the Cartesian divide between matter and spirit. […] Finally, the origin of the word (‚réseau‘ in French) comes from Diderot’s work and has from the beginnign [sic!] a strong ontological component. […] Put too simply AT [actor-network theory; K.M.] is a change of metaphors to describe essences: instead of surfaces one gets filaments (or rhyzomes in Deleuze’s parlance […]).“3

Nicht minder irreführend als sein zum Teil hochgradig verschleierter Rekurs auf Deleuze, ist das von Latour und anderen Vertretern der ANT praktizierte, im Umfang durchaus beachtliche Namedropping, das immer dann zum Tragen kommt, wenn es darum geht, den geforderten „neuen“ Empirismus argumentativ aus den diversesten Disziplinen und Traditionen herauszulösen: Von Anleihen an Vertretern der Sozialwissenschaften (Gabriel Tarde, Émile Durkheim), der Technik(-Soziologie) (Marcel Mauss, Gilbert Simondon), der Naturwissenschaften (Louis Pasteurs Mikrobiologie), der Anthropologie u.v.m. ist hier auszugehen; hinter der ANT steht ein sehr breit gefächertes Gelehrtensortiment vorzugsweise französischer Tradition4, das in seiner ak2

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In ihrer regen Diskussion mit dem aufgrund des Deliriums des fiktiven D’Alembert konsultierten Arzt, äußert die Figur der Mademoiselle de l’Espinasse folgende – vom Arzt bestätigte – Spekulation: „Docteur, approchez-vous. Imaginez une araignée au centre de sa toile. Ébranlez un fil, et vous verrez l’animal alerte accourir. Eh bien ! si les fils que l’insecte tire de ses intestins, et y rappelle quand il lui plaît, faisaient partie sensible de lui-même ? ... “ (Diderot 1967: 314) Latour, Bruno. „On actor-network theory: A few clarifications plus more than a few complications“ (1996). In: http://www.cours.fse.ulaval.ca/edc-65804/latour-clarifications.pdf. [25.08.2011] Zur besagten französischen Theorietradition, insbesondere jener der Technikanthropologie und ihren Vertretern vgl. Nitsch 2008: 219-233.

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tuell sich abzeichnenden Rezeption – je nach Erkenntnisinteresse und Lesart der Verwender selbstverständlich – so sehr zum Florilegium wie zum Blendwerk mutiert. So werden die ANT-Forscher mit Latour als ihrem populärsten Sprachrohr zwar vorrangig mit dem Feld der Science Studies in Verbindung gebracht, es ließe sich jedoch ebenso legitim mit Henning Schmidgen daran anknüpfen, dass Latour aufgrund seiner deutlich kritischen Beurteilung der traditionellen Wissenschaftsgeschichte „kein Wissenschaftshistoriker“ sondern in erster Linie und „‚von Haus aus‘, by training“ Philosoph ist, dessen „frohe Botschaft“ in der „beständigen Offenheit des Ereignisses“ (Schmidgen 2008: 18) liegt. Und diese hier vordergründig zum Tragen kommende Botschaft Latours ist in der Tat deleuzianisch, insbesondere dann, wenn von Deleuze gar nicht die Rede ist. Stichprobenhaft und zur Konzeption des Akteur-Netzwerks zunächst ein Beispiel, aus dem heraus sich letztlich auch die oftmals nur indirekte „Bezugnahme“ auf Deleuze erklärt: „Ein Netzwerk ist ein Konzept, kein Ding da draußen. Es ist ein Werkzeug, mit dessen Hilfe etwas beschrieben werden kann, nicht das Beschriebene. Es hat dieselbe Beziehung zum jeweiligen Gegenstand wie ein Perspektivraster zu einem traditionellen perspektivischen Gemälde: Ist es einmal gezeichnet, erlauben die Linien einem vielleicht, ein dreidimensionales Objekt auf ein flaches Stück Leinwand zu projizieren; doch sie sind nicht das, was gemalt werden soll, nur das, was dem Maler ermöglicht, den Eindruck von Tiefe zu vermitteln, bevor sie wieder ausradiert werden. Genauso ist ein Netzwerk nicht das, was im Text dargestellt ist, sondern das, was den Text in die Lage versetzt, die als Mittler verstandenen Akteure abzulösen.“ (Latour 2007 [SG]: 228)

Was dem Akteur-Netzwerk, will man es bestimmen, vor diesem Hintergrund besonders nahe kommt, ist das deleuzsche Rhizom (Deleuze; Guattari 1980). Man kann – mit Deleuze – überall ansetzen. Man kann folglich auch bei Deleuze ansetzen und von der Ontologie des Seins und des Bestehenden in eine Ontologie des Werdens übergehen. Und dieser Schachzug zählt eindeutig und ganz fundamental zum latourschen Programm. Dem latourschen Spezifikum vorgängig ist dabei stets die Mannigfaltigkeit, eine Mannigfaltigkeit von zum Teil präsubjektiven Kräften, eine, die als Potential stets angelegt, nicht aber durchgängig aktualisiert ist. Das Bestreben Latours liegt, sehr verkürzt gefasst, im Vernehmbarmachen des Werdens und der Stabilisierung von Konstellationen und Fakten im Ereignis. In dieser Hinsicht wäre es – und diese Einsicht ist eine der Grundvoraussetzungen zum Verständnis der vorliegenden Studie – müßig, sich mit Begriffsbestimmungen oder konzeptuellen Bestimmungen im Allgemeinen aufzuhalten, da eine solche Vorgehensweise letztlich stets die allein im Modus der Kreation und Produktion nur aufgehende Aufgabe der Wissenschaften, wie sie sich mit Latour via Deleuze konzipieren lässt, weit verfehlt. Doch worin besteht nun die Aufgabe? Ihre konkretesten Artikulationen findet sie Latour zufolge in der ANT selbst. Im latourschen Universum kreist – und dies durchaus in foucaultscher Tradition – letztlich (oder zunächst) nahezu alles um die Produktion von Wissen und um ein Verständnis von Wissenschaft

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als etwas Prozessuales, als ein stetiges und niemals wertneutrales Hinzufügen5 von Geschichten – wobei das Moment der Narrativität so ernst zu nehmen ist, wie die zum Teil sehr kühne Bildung von Begriffen, wenn es darum geht, diese Prozesshaftigkeit performativ nachzuvollziehen. Foucaultsche Tradition – deleuzsche Manier. So wie Deleuze mit den philosophischen Denktraditionen des Abendlandes bricht, so bricht auch Latour (in beiden Fällen sind diese „Brüche“ freilich nicht singulär sondern in einer Mannigfaltigkeit und Heterogenität zu verstehen) mit hermeneutischen Traditionen der Wissenschaft und insbesondere mit Traditionen einer „seiner“ Disziplinen, allen voran jener der Wissenschaftsgeschichte. Die erhellendsten Einsichten zu Funktionen und Gefügen der Wissenschaft seien so insbesondere jenen Autoren zuzurechnen, die – auch rhetorisch und stilistisch – am weitesten auf Distanz zu ihr gegangen sind. Mit u.a. Michel Serres, Paul Feyerabend, aber auch Robert Musil geht es Latour um wissenschaftliche Objekte als Hybridwesen, als „Schwellenwesen zwischen dem Fabrizierten und dem Faktischen, zwischen dem Historischen und dem Logischen, zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen“ (Schmidgen 2008: 42). Ein provokanter, streitbarer Duktus ist den latourschen Texten gemein, die standardisierte akademische Rede wird zuweilen unterboten (ein Eindruck, der aus dem deutschsprachigen Editionsraum heraus betrachtet wohl etwas krasser ausfallen dürfte als aus dem französischen heraus gedacht), neue Termini erfunden (gewissermaßen eine treue Fortführung des deleuzschen Verfahrens der création des concepts); nicht selten sind die Ausführungen eher am Genre des Detektivromans inspiriert, denn an den – unter den Prämissen der latourschen Disziplin der Science Studies – ständig infrage gestellten akademischen Gepflogenheiten, was sich nicht zuletzt eben in einer zum Teil sehr indirekten und oftmals nur partiell informativen Zitationspraxis manifestiert. Der ANT-Forscher arbeitet zwar detektivisch, jedoch geht es ihm nicht darum, aufzudecken oder nach dunklen Mächten zu fragen, die sich „hinter den Dingen“ verbergen könnten – das detektivische an der Akteur-Netzwerk-geleiteten Vorgehensweise geht ausschließlich im Verfolgen von Spuren auf und diese Spuren haben eine Bezeichnung gefunden: sie heißen Akteure, oder – an Algirdas Julien Greimas angelehnt – Aktanten6, worunter jeder und alles fällt, der oder das etwas macht, d.h. Handlungen aktiv oder passiv – stets in Relationen jedenfalls – vollzieht. Es geht folglich nun nicht mehr ausschließlich um das Agieren eines souveränen Subjekts, sondern auch um die (freilich nicht intentional agierenden) Dinge selbst, unter der Voraussetzung jener Agenturen und Verbindungen, die sie mit dem Subjekt eingehen.

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Es ist anzunehmen, dass dieses additive Verfahren Latours im Zeichen des Objektivierens geschieht. Auch hier böte sich Deleuze zum näheren Verständnis an, der in seinem Kinobuch (Deleuze 1983) die subjektive Wahrnehmung als ein Subtrahieren qualifiziert. Latour verweist auf das Feld der literarischen Semiotik, in dem der Begriff des Aktanten – wie der des Akteurs – jenen der dramatis personae ersetzt hatte, da er nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, Objekte oder Konzepte umfasst. (Latour 2008 [NM]: 115)

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Mensch und Ding (der Dingbegriff ist ein äußerst extensiver bis allumfassender7) werden dabei in Form von Interaktion begriffen, die Akteur-Netzwerk-Theorie versteht Handeln und Erleben in der Ordnung eines „Kollektivs“ menschlicher und nicht-menschlicher Akteure, die auf allen Ebenen in Verbindung treten und sich gegenseitig beeinflussen. Im Zentrum steht damit die Erweiterung des Handlungsbegriffs, der auch ein Handlungspotential von Gegenständen behauptet: „Lassen Sie die Hermeneutik beiseite, und gehen Sie zurück zum Objekt – oder vielmehr zum Ding“ (Latour 2007 [SG]: 251), fordert Latour, schließlich sei davon auszugehen, dass auch „nichtmenschliche Entitäten […] soziales Aushandeln [stabilisieren; K.M.]“ (Latour 2002 [HP]: 257). Damit erteilt Latour dem intentionalistischen Handlungsbegriff der traditionellen Soziologie, wonach nur Menschen Handlungen vollziehen können, eine klare Absage8. Für ihn bedeutet „handeln“ nichts anderes, als dass etwas „[…] durch eine Folge von elementaren Transformationen […] andere Akteure modifiziert“ (Latour 2010 [PD]: 108). Dinge haben im Gegensatz zu menschlichen Akteuren zwar keine Intentionalität, sehr wohl jedoch größere Wirkung als man ihnen zuweilen zuschreibt. Kritikern, die dahingehend argumentieren, dass Dinge keine Intentionalität hätten, wäre mit Latour wohl entgegenzusetzen, dass angesichts der Expansion der Objektwelt und unserer Verortung in einer vernetzten, technisierten und globalisierten Welt zu hinterfragen wäre, welche Rolle so etwas wie Intentionalität überhaupt noch spielt – oft scheitern unsere Intentionen an der Widerspenstigkeit der Dinge. Die Dinge (etwa Maschinen und in unserem Fall auch „die Medien“) erfahren durch die ANT eine Sozialisierung, und werden – wie der Mensch – zu sozialen Akteuren und damit Teil von „Netzwerken, […] die in sog. Handlungsprogramme ‚eingebunden‘“ sind (Belliger; Krieger 2006: 15). „Handlungsprogramm“ bezieht sich dabei zum einen auf die heterogene Binnenstruktur des Netzwerks, zum anderen auf das Bestreben, die unterschiedlichen Akteure in situativen Funktionszusammenhängen zu denken: Sind bestimmte relationale Bedingungen oder Situationen gegeben, agieren Akteure ihrer Rolle entsprechend. Diese Arbeitshypothese modifiziert in gewissem Grade den gemeinen kulturwissenschaftlichen Handlungs- und Machtbegriff, insofern dahingehend argumentiert wird, dass „Macht und Herrschaft lediglich andere Werte von Variablen darstellen, die in ihrer ganzen Bandbreite erforscht werden sollten“ (Latour 1991: 369) – was nur dann gelingen kann, wenn wir davon ausgehen, dass wir niemals „mit bloßen Objekten oder sozialen Beziehungen konfrontiert [sind; K.M.], sondern immer mit Ketten, die aus Menschen (M) und Nicht-Menschen (N) bestehen“ (Latour 1991 [TSG]: 376). Diese Ketten sind nicht im Sinne einer Linearität zu verstehen, sondern beziehen sich auf Assoziationen: „Wenn ein Akteur einfach nur Macht hat, geschieht nichts und er/sie ist machtlos; wenn andererseits ein Akteur Macht ausübt, führen andere die Handlungen aus. Es scheint, als sei Macht 7

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Zum latourschen Dingbegriff vgl. Roßler, Gustav. „Kleine Galerie neuer Dingbegriffe: Hybriden, Quasi-Objekte, Grenzobjekte, epistemische Dinge“. In: Kneer; Schroer; Schüttpelz 2008: 76-107. Einmal mehr ist hier auf die denkerische Nähe seines Vorbildes Deleuze zu verweisen, der Widerfahrnissen und Kräften eine Vorzugsbehandlung gegenüber dem intentionalsubjektiven Handeln einräumt.

36 ǀ H ANEKE : K EINE B IOGRAFIE nicht etwas, das man besitzen kann – tatsächlich muss man sie eher als eine Konsequenz einer Handlung denn als deren Ursache betrachten.“ (Latour 1986 [MdA]: 195)

John Law verweist in dieser Linie auf die Ausgangslage des Akteur-NetzwerkForschers: „Wenn wir Mechanismen von Macht und Organisation verstehen wollen, ist es wichtig, nicht mit einer Annahme dessen zu beginnen, was wir erklären wollen. Es ist z.B. eine gute Idee, nicht als selbstverständlich anzunehmen, dass es einerseits ein makro-soziales System gibt, andererseits davon abgeleitete mikro-soziale Details existieren. Wenn wir diese nämlich annehmen, schließen wir die meisten interessanten Fragen nach dem Ursprung von Macht und Organisation schon von Anfang an aus. Stattdessen sollte man ganz von vorn – z.B. mit der Interaktion – beginnen und annehmen, Interaktion sei alles, was zur Verfügung stehe. Dann könnte man fragen, weshalb einige Arten der Interaktion sich mehr oder weniger erfolgreich stabilisieren und reproduzieren, wie sie Widerstände überwinden und einen ‚makro-sozialen‘ Charakter anzunehmen scheinen, wie sich solche bekannten Effekte wie Macht, Ruhm, Größe, Breitenwirkung und Organisation erzeugen. Darin besteht nun eine der Hauptannahmen der AkteurNetzwerk-Theorie: dass weder Napoleons sich von Kleinkriminellen, noch die IBMs von Marktständen unterscheiden. Falls sie größer sind, sollten wir erforschen, woher das kommt – wie Größe, Macht und Organisation erzeugt werden.“ (Law 1992: 430)

Wenn wir folglich die Funktionen von Macht und Herrschaft verstehen wollen, müssen wir uns – so jedenfalls den Vertretern der ANT zufolge – vom exklusiven Interesse an sozialen Beziehungen lösen und uns im gleichen Maße mit menschlichen wie mit nicht-menschlichen Akteuren auseinandersetzen, denn auch nicht-menschliche Akteure haben die Möglichkeit, Gesellschaft zu formen, sie als beständiges Ganzes zusammenzuhalten. (Latour 1991 [TSG]: 369) Was demnach wirklich entscheidend ist, wenn wir von Macht sprechen, ist nicht ihre Ursache, sondern ihre relationenbedingte, nicht zwangsläufig im Modus der Intentionalität sich abzeichnende Wirkung. Solche Wirkungen lassen sich schließlich narrativ in Handlungsprogrammen bzw. durch eine Szenarisierung von Konstitutionsprozessen entfalten und damit lokalisieren. Das Verhalten von Akteuren ist dabei zunächst bindungsabhängig – Interaktion bedingt stets ein attachement, im Sinne einer Verbundenheit, deren Performanzen sich sowohl aktiv als auch passiv realisieren. Antoine Hennion verweist in diesem Zusammenhang auf die „deskriptive Schwäche einer Analyse“, die „Verhaltensweisen dem Zeichen der [aktiven] Handlung und der Intention unterstellt“. Es könne demgemäß nur darum gehen, von „den Bindungen auszugehen und deren Stärke auf die Probe zu stellen“, schließlich bestünden zwischen Menschen und Dingen bzw. Objekten „Anhänglichkeiten in beide Richtungen“: Aktivitäten, Situationen und Zustände ereignen sich stets in Interaktion einer bestimmten materiellen Ausstattung mit dem menschlichen Körper, wie Hennion eindrucksvoll und wertneutral am Beispiel „offener Subjekte“, wie etwa dem Typus des Drogenabhängigen oder des Amateurs, darlegt. (Hennion 2011) Nun stiftet der Terminus der ANT zunächst Konfusion, benennt er – seiner begrifflichen Proposition durchaus widerstrebend – schließlich viel eher als eine Theorie zunächst eine Methode, die nichts über die Gestalt dessen aussagt, was mit ihr be-

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schrieben wird (Latour 2007 [SG]: 246). Die ANT hat nicht zum Ziel, über bestehende Tatsachen (matters of fact) zu informieren, sondern will sich jenen im Entstehen begriffenen bzw. an Entstehungsprozessen beteiligten Tatsachen zuwenden, die „einen Unterschied machen“ (Latour 2007 [SG]: 266). „Beschreiben statt erklären“ wird zum Leitsatz der zentralen Forderung, Kausalitätsgefüge zugunsten eines relationalen Materialismus (Law 1992: 441) aufzugeben, in dem das Was? stets hinter das Wie? zurücktritt. Es geht nicht mehr darum, Tatsachen als Konstruktionen zu entlarven, sondern um die Beobachtung von Konstitutionsprozessen – denn, und darin liegt eine der Grundannahmen des Konzepts, nur weil etwas konstruiert ist, ist es noch lange nicht weniger real. Tonangebender Motor des Unterfangens ist, wie erwähnt, die rhetorische Strategie; als diesbezüglich programmatisch aufschlussreicher Text erweist sich Latours Manifest „Elend der Kritik: Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang“ (Latour 2007 [EK]), in dem er Methodenkritik übt und dabei, nicht ohne Ironie, entschieden militärisch vorgeht. Er rekonstruiert Diskursanalyse, Dekonstruktion und einen radikalen Konstruktivismus (die sich ihm zufolge zu Unrecht als kritische Interventionen verstünden9), um ihnen einen neuen Empirismus, d.h. einen Empirismus nach dem Poststrukturalismus10 entgegenzusetzen. Auch an dieser Stelle ist – nicht zuletzt hinsichtlich der vermeintlichen „Neuheit“ des Konzepts – auf die frappante Nähe zu Deleuze zu verweisen, in dessen Werk der Empirismus bezeichnenderweise (und nicht nur chronologisch) an erster Stelle steht: Als erstes Wort seines Werkes (Empirisme et subjectivité11 [1953]) sowie als programmatische Konstante einer Philosophie, in der es fortan um Relationen und Konjunktionen 9

„Kriege, so viele Kriege. Äußere Kriege und Kriege im Inneren. Kriege der Kulturen, Kriege der Wissenschaft und Kriege gegen den Terrorismus. Kriege gegen Armut und Kriege gegen die Armen. Kriege gegen die Unwissenheit und Kriege aus Unwissenheit. Meine Frage ist einfach: Sollen wir, die Gelehrten ebenfalls in den Krieg ziehen? Ist es wirklich unsere Sache, Ruinenfeldern neue Ruinen, Sache der Humanwissenschaften, der Destruktion die Dekonstruktion hinzuzufügen? […] Was ist aus dem kritischen Geist geworden? Hat er keinen Biß mehr? Ich fürchte ganz einfach, daß sich der kritische Geist nicht das richtige Ziel ausgesucht hat.“ (Latour 2007 [EK]: 7) Latour spricht in weiterer Folge dezidiert von „kritischer Barbarei“ (Latour 2007 [EK]: 42). „Der Zeus der Kritik herrscht absolut, aber er herrscht über eine Wüste.“ (Latour 2007 [EK]: 40) 10 Latours Distanzierung ist dabei deutlich emotional gefärbt: „Was ist aus der Kritik geworden, wenn Jean Baudrillard, ein französischer General, nein, ein Marschall der Kritik, in einem Buch [Der Geist des Terrorismus; K.M.] behauptet, die Twin Towers seien unter ihrem eigenen Gewicht zusammengebrochen, gewissermaßen unterminiert vom blanken Nihilismus, der dem Kapitalismus selbst innewohnt – als ob die Anziehungskraft dieses schwarzen Lochs des Nichts die Terroristenflugzeuge in den Selbstmord gerissen hätte? Was ist aus der Kritik geworden, wenn ein Buch, das behauptet, kein Flugzeug sei je auf das Pentagon gestürzt, zum Bestseller wird? Ich schäme mich zu sagen, dass auch dieser Autor Franzose ist.“ (Latour 2007 [EK]: 12-13) Es scheint, als hätte Latour Deleuze beim Wort genommen, der nahelegt: „Laßt keinen General in euch aufkommen!“ – der Ansatz, Wissenschaft nicht mit Beherrschung zu verwechseln, ließe sich u.a. hierauf zurückführen (Deleuze; Guattari 1992: 41). 11 Deleuzes schriftlich festgehaltenes Denken nimmt vom humeschen Empirismus seinen Ausgang.

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geht12, in der das Subjekt nicht als etwas Originäres, sondern gewissermaßen als Instanz zweiter Ordnung, als nicht allein selbstmächtiger Teil von Gefügen (agencements) zu denken ist. Das Konglomerat nicht-anthropomorpher Kräfte, die Aufgabe originär-genealogischer bzw. vermeintlich kausal- bzw. genealogiebedingter Zusammenhänge zugunsten unpersönlicher Größen – wie etwa jener des bei Deleuze so prominenten concept – bilden somit ein unbestreitbares Fundament der AkteurNetzwerk-Theorie. Die Frage nach den Potentialen der ANT kann vor dem Hintergrund der deleuzeschen Relationen-Kasuistik folglich nicht lauten, was genau an diesem „neuen Empirismus“ wirklich neu ist, sondern – und dies ist Kernanliegen der vorliegenden Versuchsanordnung – was dieser Empirismus als praktiziertes Denken in Operationsgefügen – als würdige Fortsetzung der deleuzschen Unordnungen – leisten kann. Die ANT legt nahe, Wissenschaft nicht mit Beherrschung zu verwechseln, sie fordert eine Praxis des Schreibens von „riskanten Berichten“, riskant insofern, als es darum gehe, „von Unbestimmtheiten zu zehren“ (Latour 2007 [SG]: 212). Eine der Quellen dieser Unbestimmtheit ist die Untersuchung selbst. Diese gilt es zu „entfalten“, um letztlich „auf unordentliche Weise einen unordentlichen Bericht über eine unordentliche Welt zusammenzustellen“ (Latour 2007 [SG]: 236). Im Zentrum dieses autoreflexiven Unterfangens steht dabei die Rolle der Objekte, die, wie wir, immer schon Bestandteile von Handlungsgefügen sind. Das heißt, nicht Objekte (wie etwa im Falle der ANT die Wissenschaft eines wäre) als Fetisch, sondern als „faitiche“, eine Wortkreation die darauf verweisen soll, dass wissenschaftliche Theorien wie auch Gegenstände, Waren oder Techniken stets etwas „Gemachtes“ (fait) und etwas fetischartig Unbeherrschbares zugleich beinhalten. Die Tat-Sache, wie schon ihre Etymologie nahe legt, kann nie solide sein, so sie doch dem Tun entstammt und damit verfertigt ist (Latour 2007 [SG]: 195). Das Agieren der Dinge bzw. die mannigfaltigen Bewegungen der Agenturen interferieren so stets mit der Praxis ihrer Betrachtung – die immer einen Prozess des Entstehens, des Werdens und der Emergenz impliziert. Mit der Unterscheidung zwischen einer auf harte Fakten bestehenden ready made science und einer zu forcierenden science in the making führt Latour bereits in einem seiner Frühwerke – Science in Action – vor, woran ihm und seinen Akteur-Netzwerk-Kommilitonen fortan gelegen sein wird: an einer Wissenschaft als multiple Konfiguration, deren Stärke in der Performanz von Unterschieden liegt (Latour 1987 [SIA]). – Ein Anliegen, das sich bis in die gegenwärtigen Auseinandersetzungen Latours hinein behauptet. So heißt es in seiner 2009 erschienenen Reflexion Sur le culte moderne des dieux faitiches: „Comme le dit Whitehead, les différences ne sont pas là pour être respectées, ignorées ou subsumées, mais pour servir d’hameçon aux sentiments, de nourriture pour la pensée.“ (Latour 2009 [DF]: 134) Der Unterschied in seiner Aktivität bzw. als das, was vom Forscher aktiviert werden muss, ist damit entscheidendes Kriterium für die Notwendigkeit des Verfolgens von Akteuren. Tatsächlich kann jeder Akteur – vom humanoiden Handlungsträger bis hin zum Ding in seiner konkreten Gegenständlichkeit – im Konstitutionsverlauf von Gefügen einen Unterschied „machen“. Für den hier zur Debatte stehenden Forschungsbereich des „nationalen“ (Autoren-)Kinos ist dies insofern relevant, als ein Denken mit ANT – gerade durch die Streuung von Potentialen und die Neube12 „Penser avec ET, au lieu de penser EST, de penser pour EST : l’empirisme n’a jamais eu d’autre secret.“ (Deleuze/Bouaniche 2007: 58)

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stimmung von Handlungsträgern – eine Sensibilität für Nuancen erfordert: Ein durch bestimmte Interessen (des Verfassers oder seiner Agentur) motivierter Zeitungsartikel der Abendpresse zu einem Premierenfilm kann für einen „Kinoerfolg“ so entscheidend sein wie ein Film-Tape, das – von sich aus naturgemäß nicht-intentional – auf dem Postweg zur Festivalagentur verloren geht. Die Transferleistung eines Übersetzers, der den Verlauf einer Pressekonferenz mit Regisseur und Filmteam mitbestimmt und -organisiert, ein Internettrailer zum Film, der bestimmte Erwartungen generiert, die Verbreitungsstrategien desselben etc. – eine Unmenge an Akteuren ist als mitwirkend am vermeintlichen Endprodukt eines sogenannten „nationalen“ (Autoren-)Kinos anzunehmen. Der Komplex des Autorenkinos als Betrachtungsgegenstand der vorliegenden Studie ist damit Teil eines sehr rigorosen Relativismus, einer Strategie, die sich – trotz ihrer „neoliberal“ anmutenden Färbung – insofern als anschlussfähig an kulturwissenschaftliche Auseinandersetzungen erweist, als ihre Potentiale nicht nur in der Gegenarbeit zu Homogenisierung und Alterisierung liegen, sondern allem voran auch in der Sichtbarmachung von handelnden Instanzen in ihren konkreten Tätigkeiten.

66.1 (A UTOREN -)K INO QUASI - OBJEKTIV : D IE W ELT ALS U NIVERSUM DES Ü BERSETZENS Was der ANT in ihrer Rolle als methodisches Dispositiv vorangeht, ist eine Theorie, die sich zunächst einer genealogischen Aufarbeitung der Denkansätze der Vertreter der Moderne von Kant bis Habermas verpflichtet, um sich letztlich – und nicht selten unter Rückgriff auf die Metaphysik des zitierten Alfred North Whitehead – gegen deren Auffassung einer Möglichkeit der strikten Trennung zwischen Subjekt/Objekt, Natur/Gesellschaft, Demokratie/Wissenschaft, Fakten/Werte zu richten. „Wir sind nie modern gewesen“, lautet schließlich der Befund, den Latour zur Deklaration seines gleichnamigen Bandes macht (Latour 2008 [NM]), der den Entwurf einer symmetrischen Anthropologie beinhaltet, die fortan entschieden a-genealogisch arbeitet.13 Kernstück dieser symmetrischen Anthropologie ist eine Übersetzungstheorie, die eine Symmetrie menschlicher und nichtmenschlicher Akteure bzw. Aktanten voraussetzt: Der „neue“ Empirismus zeichnet sich damit methodisch und ideologisch als Rehabilitierungsprogramm des Übersetzens aus. Der Begriff der Übersetzung, der nunmehr jenen der Kausalität ersetzt, steht dabei für ein äußerst umfangreiches, elastisches Übersetzungskonzept: die sogenannte Soziologie der Übersetzung14. Es geht

13 Zum Genealogiebegriff Latours: Latour 1994 [ÜTV]. 14 Die „Soziologie der Übersetzung“ entspricht der „Akteur-Netzwerk-Theorie“. Latour in einem späteren Werk dazu: „Ich wollte schon die Bezeichnung ‚Akteur-Netzwerk-Theorie‘ durch reflektiertere ersetzen, wie etwa ‚Soziologie der Übersetzung‘, ‚Aktant-RhizomOntologie‘, ‚Soziologie der Innovation‘ und so weiter, als jemand mir darlegte, daß das Akronym ANT vollkommen geeignet sei für einen blinden, kurzsichtigen, arbeitssüchtigen, die Spur erschnüffelnden, kollektiven Reisenden. Eine Ameise (ant), die für andere Ameisen schreibt, das paßt sehr gut zu meinem Projekt!“ (Latour 2007 [SG]: 24) – Auch die Ameisen krabbeln schon bei Deleuze, vgl. Deleuze; Guattari 1992: 19.

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Latour darum, für eine Übersetzungsleistung einzutreten, die den umfassenden Anspruch einer Gegenstrategie zur Reinigungsarbeit der Moderne (Purifikation) – der totalen Trennung von Natur und Kultur, von Mensch und Technik nämlich – hat: Die Welt kann nur als Ensemble von Übersetzungspraktiken (im Sinne von Delegationen und Vermittlungen zwischen Akteuren/Aktanten) erfasst werden und diese haben immer schon Mischwesen hergestellt, sogenannte Quasi-Objekte, die weder dem Ressort der Natur, noch jenem der Gesellschaft allein zugehörig sind, sondern in deren Mitte liegen. Die Moderne habe diese Mitte und ihre Mediatoren stets dementiert, die Übersetzungspraktiken und ihr Ergebnis – die Quasi-Objekte – kleingehalten und geleugnet. Der „neue“ Empirismus ist damit sozusagen die praktische Fortführung einer umfangreichen Kritik an der Aufklärung bzw. an den „westlichen“ Aufklärern und ihrem Superioritätsprinzip, d.h. in ihrem Anspruch, die von ihr zwischen Natur und Kultur bzw. Gesellschaft vollzogene Trennung als universell vorauszusetzen, womit sie sich Latour zufolge der Alterisierung und des Ethnozentrismus schuldig gemacht hat (Ruffing 2009: 37). Die Gegenstrategie kann demzufolge nur darin bestehen, „nichtmodern“ zu sein und diese Hybriden alias Quasi-Objekte, die immer schon existiert haben, anzuerkennen, sich ihnen zuzuwenden: „Diese retrospektive Haltung, die entfaltet, statt zu entlarven; die hinzufügt, statt wegzulassen; die verbrüdert, statt zu denunzieren; die sortiert, statt zu demaskieren, charakterisiere ich als ‚nichtmodern‘ (oder ‚a-modern‘). Nichtmodern ist, wer sowohl die Verfassung der Modernen berücksichtigt als auch die Populationen von Hybriden, die sich unter dieser Verfassung ausbreiten, aber von ihr verleugnet werden. Die Verfassung erklärte alles, aber indem sie ausließ, was in der Mitte war. ‚Da ist nichts, überhaupt nichts‘, sagte sie, ‚bloß ein Rest‘. Nun sind aber die Hybriden, die Monstren – oder die ‚cyborgs‘ und ‚tricksters‘, wie Donna Haraway sie nennt […] – nahezu alles. Sie bilden nicht nur unsere Kollektive, sondern auch die der anderen, von uns irreführend als vormodern bezeichnet.“ (Latour 2008 [NM]: 65)

Vor diesem Hintergrund lässt sich nun jene Gleichung aufstellen, die dieses Buch als Arbeitshypothese voraussetzt und die einer Forderung entgegenkommt, die Tom O’Reagan bereits Mitte der 1990er Jahre stellte: „For a national cinema to function it must be a quasi-object: simultaneously natural, social, discursive and governmental – an entity, a domain of practical action, a field of practical knowledge and their action.“ (O’Reagan 1996: 38) Nationales Autorenkino soll hier nun als Quasi-Objekt konzipiert werden. Das Präfix „Quasi-“ markiert dabei die Differenz zum (vermeintlich) reinen Objekt in seiner beherrschbaren, losgelöst bzw. kontemplativ erfassbaren Gegenständlichkeit (Roßler 2008: 87). Quasi-Objekte oder -Subjekte sind insofern das Alltäglichste, als sie sich primär dadurch charakterisieren lassen, dass sie die üblich gezogenen Grenzen zwischen Sozialem, Realen und der Sprache überschreiten, d.h. gleichzeitig real, diskursiv und sozial, grundsätzlich aber instabil sind, so dass ihre Bedeutung im Rahmen von Vermittlungsprozessen immer wieder kollektiv vereinbart werden muss.15 Der Urheber des theoretischen Gebildes „Quasi-Objekt“, Mi-

15 Als Quasi-Objekt führt Latour u.a. exemplarisch das Ozonloch an: „Das Ozonloch ist zu sozial und zu narrativ, um wirklich Natur zu sein, die Strategie von Firmen und Staatschefs zu sehr angewiesen auf chemische Reaktionen, um allein auf Macht und Interessen redu-

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chel Serres, definiert es in einem seiner späteren Entwürfe als gesellschaftskonstituierendes Element, als ein „die Gesellschaft bindendes Objekt im dreifachen Sinne von sakralem Gegenstand (Fetisch), ökonomischem Gegenstand (Ware) und kriegerischem Gegenstand (Trophäe oder Waffe). Das Quasi-Objekt gilt ihm [Serres; K.M.] weniger als Objekt denn als ein Band, ein ‚Quasi-Wir‘.“ (Roßler 2008: 85)

Latour zieht dieses serres’sche Quasi-Objekt als Komplement zum Netzwerk heran, dessen ontologische Dimensionen er über den besagten Umweg zu Diderot mit Verweis auf Deuleuzes und Guattaris Rhizome16 zwar knapp bestimmt, bis auf Weiteres jedoch unangetastet lässt, denn: nicht die Beweglichkeit ist es, die ihm zufolge der Erklärung bedarf, sondern das Beständige. „Stabilität ist eine erklärungsbedürftige Ausnahme“ (Roßler 2008: 84), wie Roßler zu Latours Programmatik treffend notiert. „Nationales“ (Autoren-)Kino nun als Quasi-Objekt zu betrachten heißt, es im Hinblick auf seine Konstitution als Hybrid wahrzunehmen, als Hybrid wie jedes andere, zu dessen Aufbau „Himmel, Erde, Körper, Güter, Recht, Götter, Seelen, Ahnen, Kräfte, Tiere, Glaubensformen und fiktive Wesen mobilisiert“ (Latour 2008 [NM]: 141-142) werden. Kino ist damit eine Formation, deren Charakteristika mit jenen der „neuen Dinge“, wie sie Gustav Roßler – Übersetzer ins Deutsche diverser Texte Latours und Deleuzes – in seiner „Kleine[n] Galerie neuer Dingbegriffe“ (Roßler 2008) komprimiert, korrelieren. Kino – in unserem Fall „nationales (Autoren-)Kino“ – ist demnach „konkret, multipel, unrein, werdend, netzig, problematisch“ (Roßler 2008: 101). Vor diesem Hintergrund kann für den hier erprobten Entwurf eines „Autorenkinos“ eine erste notwendige Geste nur darin bestehen, das despotisch gesetzte Autorensubjekt in seiner vermeintlichen Alleinherrschaft aufzugeben, es zwar als zuweilen pragmatisch notwendigen Entwurf anzuerkennen und zu thematisieren, seinen Status jedoch als nur bedingt selbstmächtigen Teil eines Komplexes „nationales Autorenkino“ anzunehmen, an dessen Konstitution auch eine Vielfalt an „Dingen“ beteiligt ist.

66.2 F ETISCH , W ARE , W AFFE : „N ATIONALE “ A UTORSCHAFT ALS DOPPELT MODERNE K ONSTRUKTION „Qu’est-ce que le cinéma ?“, fragt André Bazin 1958 im Rahmen seiner bis heute maßgebenden Publikationsserie zum Kino (Bazin 1958). Es ist dies eine der wohl prominentesten Artikulationen des so regen wie vielfältigen Bemühens fachkundiger Kreise, Kinospezifik – semiotisch oder anderweitig – zu bestimmen. Nun geht es hier wie mehrfach angedeutet darum, die Perspektive innerhalb der Fragestellung zu ver-

ziert werden zu können, der Diskurs der Ökosphäre zu real und zu sozial, um ganz in Bedeutungseffekten aufzugehen.“ (Latour 2008 [NM]: 14) 16 Auch bei Deleuze und Guattari lässt sich eine Bezugnahme auf Serres verzeichnen (Deleuze; Guattari 1992: 29).

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schieben, sich vom Hermeneutischen abzuwenden: im Zentrum soll nicht die ontologisch orientierte Frage danach stehen, was ein nationales (Autoren-)Kino ist, sondern die Frage danach, wie es sich konstituiert und stabilisiert, in weiterer Folge, wie es sich beschreiben lässt. Um letztlich so viel wie möglich von dem zu erhalten, was es ist – selbsterklärend nämlich, unter den Prämissen der ANT. Bazin fragt nach dem Wesen des Kinos, nicht etwa nach dem eines Autorenkinos. Bazin stirbt 1959. Er war einer derjenigen gewesen, die um die Absurditäten des Autorenkults wussten – und das noch ehe dieser so recht in die Gänge gekommen war. Wie lässt sich Kino nun artgerecht beschreiben? Schon ungeachtet seiner Paarung mit dem Komplex des Nationalen ist das Wesen kinematographischer Autorschaft, historisch gesehen, ein diffuses – eine historiographisch erschöpfende Zusammenfassung gibt es nicht –, die Ansätze divergieren, mit Ausnahme einiger sattsam bekannter Eckdaten – von der Geburt des auteur als Konzept im Kreise der Cahiers du Cinéma, seiner ideologischen „Protagonistenschaft“ im Kampf um die Anerkennung des Films als Kunstform, über dessen Tod in den Wogen des Strukturalismus der 1970er und 1980er Jahre, bis hin zu seiner akademischen Wiederbelebung in den 1990er Jahren und seiner aktuellen Widerstandsfähigkeit. Die Praxis kinematographischer Autorschaft ist maßgeblich an filmwissenschaftlicher Theoriebildung beteiligt, sie ist Kernstück einer Theorie, die zu Beginn der 1960er Jahre unter dem Begriff der Auteur Theory als akademische Disziplin im amerikanischen Editionsraum detoniert: „Notes on the Auteur Theory“ (Sarris 1962), so der Titel des Gründungstextes von Andrew Sarris, der dem Autorenkonzept 1962 zu einer eigenen Forschungssparte verhilft. Von zentraler Bedeutung für das Konzept kinematographischer Autorschaft ist seine Verwurzelung in der französischen Filmkritik, insbesondere in ihrem Rückgriff auf den Terminus der écriture, einer durch ein Regiewerk sich ziehenden, wiedererkennbaren „Handschrift“ – Referenzpunkt ist Alexandre Astrucs maßgebliche Behauptung einer caméra stylo (1948) – als Entwurf einer dem Film eigenen Schreibweise, die der mise-en-scène gleichzusetzen ist. Was Astruc noch in Analogie zur Literatur formuliert (der Autor schreibe mit seiner Kamera wie der Literat mit seinem Federhalter), setzt sich im Umfeld der Cahiers du Cinéma freilich von ihr ab, steht doch die Etablierung von Kino als siebter Kunst am Spiel, gleichzeitig aber auch eine „Praxis der Filmkritik“, die als politique des auteurs namhaft und geläufig ist, in der der „Name eines Autors […] zum Beschreibungsansatz des Kinos [wird; K.M.]“ (Frisch 2007: 161). Autorschaft definiert sich im Umfeld der Cahiers nicht abstrakt, sondern stets am konkreten Beispiel, am Namen – und dies kumulativ – ein auteur ist nicht auteur, weil er bestimmte Kriterien erfüllt, er wird viel eher als solcher bescheinigt, wenn er zu den anderen, bereits etablierten auteurs („Hoheiten“ wie u.a. etwa Roberto Rossellini, Orson Welles oder Jean Renoir) passt. Es handelt sich dabei um Bescheinigungen, die sich über den Umweg argumentativer Diskurse zur ästhetischen Gestaltung, der mise-en-scène, in den Registern der Würdigung, der Huldigung und des Geschmacksurteils konkretisieren – Simon Frisch spricht in diesem Zusammenhang vom „subjektiven Faktor des Filmkritikers“ (Frisch 2007: 162) als Wegbereiter des Autorenprivilegs. Diese für den Komplex des Autorenkinos allerdings konstitutive Komponente hat seit Mitte der 1950er Jahre in den Cahiers schließlich auch ihre Formate gefunden: ob etwa die von der Redaktion erstellte Liste der „besten zehn Filme“ oder der conseil des dix – eine tabellarisch angeführte Punktevergabe der jeweiligen Redakteure mit entspre-

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chender Deutungsmacht –, es sind in jedem Fall rezeptionslenkende Wertungen, die sich hier im Rahmen einer eher apodiktisch denn argumentativ angelegten Kritik vollziehen. Ob tatsächlich so weit zu gehen ist, von „Propagandainstrumenten“ (Frisch 2007: 162) zu sprechen, sei dahingestellt; das Aufgreifen dieses totalitär anmutenden Vokabulars jedenfalls verweist auf den Kern des Phänomens: den einer Politik, der politique des auteurs nämlich, die ihrerseits wiederum der Autorentheorie zugrunde liegt. Die Existenz der letzteren als akademische Disziplin ist zunächst Resultat einer folgenreichen Übersetzung: „Henceforth, I will abbreviate la politique des auteurs as the auteur theory to avoid confusion“ (Sarris/Caughie 1981: 62), kündigt Sarris an und antizipiert damit ironischerweise jene Verwirrung um den Komplex des Autorenkinos, die fortan eine seiner hartnäckigsten Begleiterscheinungen sein wird. Denn: ob nun als Theorie oder als Praxis, das Konzept der Autorschaft in seiner Verbindung mit Kino, so sehr es zum beliebtesten Beschreibungsansatz von Kino als Kunst avanciert sein mag (Felix 2003: 17), so sehr erfüllt es so manchen Theoretiker mit Resignation: „Weder das Autorenkino noch seine Politik oder Theorie läßt sich auf eine Formel bringen. Das Autorenkino ist, wie Jean-Luc Godard einmal gesagt haben soll, wie das Leben: Regeln gibt es nicht.“ (Felix 2003: 49) Mit einem dezidiert „nationalen“ Autorenkino stehen wir nun schließlich vor einer doppelt modernen Konstruktion, die das mit ihm benannte Kunstwerk konstituiert. Als „Misch-Wesen“ (Becker 2008: 94) konstituiert, wie zu ergänzen bleibt, schließlich gilt für beide Komplexe – sowohl für Kino als auch für Nation –, dass sie Produkte einer historischen Moderne sind, von der im Sinne der ANT zunächst einmal anzunehmen ist, dass sie für das „Ergebnis der Amalgamierung von Fakten und Fiktionen“ (Becker 2008: 94) steht: „Es lässt sich feststellen, dass sich mit der Verschiebung moderner Paradigmen maßgeblich die Relation zwischen Werk, Betrachter und Autor verändert hat, hin zur Kunst als sozialem Handlungsfeld innerhalb jener veränderten Formen der Gemeinschaft, die stichwortgebend für das Konzept der Unmenge sind. Dies vor dem Hintergrund, dass sich die für die Moderne charakteristische Trennung von Arbeitszeit und Leben ebenso aufgelöst hat wie die Frage des Lebens und der möglichen Lebensformen des Nicht-Lebendigen (lebendige Technik, Bilder, Systeme etc.) selbst auf der Agenda steht. Aktivitäten, welche die unterschiedlichsten Akteure und Agenturen einschließen können, haben sowohl das Konzept der Autorschaft als auch den am Objekt orientierten Werkbegriff ins Wanken gebracht – auch wenn sich ein entsprechendes Künstler(selbst)verständnis weiterhin hartnäckig hält. Doch neben dieser ästhetischen Ordnung haben sich bekanntermaßen künstlerische Praktiken herausgebildet, die erst in der Nachmoderne, u. a. durch ihre Weiterbearbeitung in Fluxus, Pop Art und Concept Art, ihre heutige Gewichtung und Kanonisierung erlangt haben. Lineare Zeit- und Geschichtsmodelle sind daher weniger geeignet, um sich Dynamiken und Modi anzunähern, in denen sich Handlungsmacht im künstlerischen Feld verteilt.“ (Becker 2008: 94)

Die Geschichte kinematographischer Autorschaft ist eine Geschichte der Berufung auf Evidenz, das hartnäckige Sich-weiter-Halten des entsprechenden „Künstler(selbst)verständnisses“ ein Zeichen von Stabilität. Und damit: erklärungsbedürftige Ausnahme. Wissenschaftshistorisch betrachtet steht die Auteur Theory von Beginn an, d.h. seit der frühen Phase der Institutionalisierung von Film als akademische Disziplin, in enger Beziehung zur Beschäftigung mit einem „nationalen“

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Kino. Letzteres wird zunächst als unproblematisch und selbstverständlich akzeptiert, fungiert es, wie auch die Auteur Theory, nicht zuletzt als kategorisches Gerüst für die ersten universitären Veranstaltungen zum Film: „[…] National cinema at that point was understood both as a descriptive category and as a means of systematizing an emerging university curriculum.“ (Hjort; MacKenzie 2000: 2) Nationale Kinematographien halten sich in ihrem Status als weitgehend unhinterfragte Kategorie bis in die 1970er Jahre, ihre Konstruktion verläuft parallel zur literarischen Konzeption „großer“ Werke – wobei der Name des Autors gleichsam zum Synonym für die jeweilige Nation wird: Ingmar Bergman für Schweden, Jean-Luc Godard und François Truffaut für Frankreich, Alfred Hitchcock für Amerika usw. (Hjort; MacKenzie 2000: 3) Erst in den 1970er und 1980er Jahren, als Semiotik, Psychoanalyse, Strukturalismus und Feminismus Eingang in die Filmtheorie und -kritik finden, wird der Komplex „nationales Kino“ zum Objekt kritischer Betrachtung; es sind jene Paradigmen, die in den maßgeblichen Kinofachzeitschriften (Screen, Cahiers du Cinéma, Cinéthique, Camera Obscura) ihren Niederschlag finden und die David Bordwell und Noël Carroll später unter dem Terminus der „grand theories“ (Bordwell; Carroll 1996: 3) fassen werden. Hierbei ist insbesondere auf Thomas Elsaessers einflussreiche Arbeiten zum deutschen Kino und den „filmischen“ Texten als Versuch der Vergangenheitsbewältigung zu verweisen. Gleichwohl tun diese theoretischen Verschiebungen hin zu einer nationalkritischen Betrachtung dem Nutzen des Konzepts als Klassifikationskategorie keinen Abbruch. Gegen Ende der 1980er Jahre beginnen die kritischen Untersuchungen zum „nationalen Kino“ schließlich regelrecht zu florieren, es ist der Anbruch der National Cinema Studies im engeren Sinne. Andrew Higson, Stephen Crofts und John Hill finden sich dabei u.a. unter den Wegbereitern der je neuen Konzeptionalisierungen von nationalem Kino im Hinblick auf den Beitrag, den kinematographische Arbeiten – respektive des damit einhergehenden extradiegetischen Materials bzw. diverser Ensembles von diskursiven Praktiken – zur Vorstellung und Etablierung von Nationalstaaten leisten. Nationales Kino, so die Schlussfolgerung im Groben, sei weit davon entfernt, ein problemloses Ganzes darstellen zu können. Tonangebend hierzu ist etwa Higsons Beitrag „The Limiting Imagination Of National Cinema“, mit dem entscheidenden Hinweis auf die potentiellen Protagonisten, die am Werk sind, geht es nun um das Werden eines nationalen Kinos: von Politikern, Handelsorganisationen, Vertreibern, Kritikern, Historikern, Journalisten und dem Publikum ist hier die Rede (Higson 2000: 63), aber auch von den (neuen) Medien, die zwar einen substanziellen Bestandteil des modernistischen Arguments, dass Nationen Benedict Anderson zufolge „imagined communities“ seien, bilden, gleichzeitig aber auch – und das insbesondere im Hinblick auf ihre zeitgenössische Aktivität – Grundlage transnational-kultureller Verbindungen sind (Higson 2000: 66). Mit Higson und in kulturwissenschaftlicher Manier gelangt man zwangsläufig schließlich zur Auffassung, dass Geschichten eines „nationalen“ Kinos nur als Geschichten der Krise und des Konflikts, des Widerstands und der Verhandlung verstanden werden können (Hjort; MacKenzie 2000: 4). Die je unterschiedlichen Konzepte eines „nationalen Kinos“ stehen folglich nicht gerade für die Möglichkeit einer kohärenten Poetik im Zugang, als ungleich problematischer erweist sich so auch ihre Paarung mit dem Komplex des Autorenkinos: ein „nationales Autorenkino“ – als Resultat dieser Verschränkung – muss gewissermaßen antithetisch anmuten, steht es doch für einen Komplex, in dem das Kollektiv mit

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dem Individuum, das Populistische mit dem Intellektuellen, der ideologische Apparat mit dem Schöpfersubjekt, schließlich Kulturtechnik mit Technik verschmelzen. Das Prädikat „national“ erschwert die ontologischen Bestimmungsversuche, insbesondere jene romantisch motivierten, die den Autor als „zentralen Bezugspunkt der Interpretation“ bzw. als „‚Autorität‘ der filmischen Lektüre“ (Felix 2003: 17) positioniert wissen wollen. Ganz anders hingegen – so meine These – verhält sich die Paarung gemessen an ihrer Funktionalität: Nicht nur ist der Autor anwendungsbezogen eine bisweilen nützliche „Bezeichnungsfunktion für ein filmisches Merkmalsbündel“ (Nitsche 2002: 27) – à la „ein Haneke“, „ein echter Haneke“ –, er erweist sich auch vermarktungstechnisch als Qualitätsmerkmal, als kommerziell rentables Kriterium, das den geläufigen Credit-Satz „Ein Film von …“ komplettiert, potentiell sämtliche DVD-Hüllen ziert, sich in ein Starsystem integriert und als öffentliche Person mit einem bestimmten Image statussymbolisch mit dem Filmstar konkurriert. Der auteur steht, historisch gesehen, in einer Tradition, die ihn zwar als „freies“ Subjekt postuliert, ihn gleichzeitig aber auch in Relation zur Institution („Autorenkino“) sowie letztlich auch zum „nationalen“ Kollektiv setzt. Hält man sich Autorenfilmbewegungen wie etwa die französische Nouvelle Vague der 1960er Jahre vor Augen, erfüllt das Autorenkino mit seinen geläufigen theoretischen Statuten die serres’sche Quasi-Objekt-Trias: In seiner zum Teil an Religiosität grenzenden Mythenhaftigkeit, seiner Stilisierung und Verbreitung sowie in seiner späteren Funktionalisierung als Abgrenzungswaffe – etwa um den mutmaßlichen amerikanischen „Feind“ Hollywood abzuwehren –, besteht der Komplex des Autorenkinos die Probe aufs Exempel, erweist er sich in der Tat als ein Kompositum aus sakralem, ökonomischen und kriegerischen Gegenstand, ist zugleich Fetisch, Ware und Waffe. Kerngegebenheit des am Beispiel „Haneke“ dargestellten Gefüges ist unter dieser Voraussetzung eine Figur des Autors, um die sich nationale Kinematographien organisieren – ein in Zeiten sich globalisierender Systeme heikles Terrain problematischen Beigeschmacks. „Haneke“ wird hier dementsprechend nicht stellvertretend für die potentielle Gesamtheit diverser Autorenfiguren positioniert, sondern für jene Figur des auteur, die gemessen an ihrem Werk bzw. ihren Äußerungen zu diesem Werk wohl kaum für Motivationen der Etablierung oder Begründung eines „nationalen Kinos“ einsteht. Warum jedoch mit dem latourschen Quasi-Objekt arbeiten, wenn mit dem serres’schen schon alles gegeben scheint? Der Grund für die Wahl liegt im Wandel der Kulturtechnik der Autorschaft selbst, die hier in Verschränkung mit den Technologien ihrer Zeit betrachtet wird. Die neueren Technologien stehen allem voran für ein sich komplexifizierendes Moment der Urheberschaft. Vermengt sich dieses Moment mit jenem der Konstruktion kollektiver Gefüge („Nation“), resultiert daraus ein Ineinander von Einheit und Mannigfaltigkeit, in dem Mikro- und Makroebenen verschwimmen und sich entsprechende Perspektivierungen als untauglich erweisen. Von daher rührt schließlich die zentrale Forderung der ANT, das Abstrakte zugunsten des Lokalen aufzugeben. Wo aber das Lokale finden, oder, anders gewendet: wo lässt sich ein „nationales“ (Autoren-)Kino mit ANT verorten, wenn dieselbe untersagt, ihr Kernstück – das Netzwerk – geographisch zu fassen? – Latour ergänzt das Quasi-Objekt im Rahmen seiner umfassenden Ausdifferenzierung der serres’schen Trias um ein in diesem Zusammenhang aufschlussreiches Attribut: Latour spricht vom instituierten Objekt, das Roßler wie folgt erklärt: „Instituiert im Sinne von ge-

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stiftet, ins Leben gerufen; aber auch institutionalisiert: stabilisiert und gewohnt.“ (Roßler 2008: 85) Stabilisierung im latourschen Sinne geht immer mit Techniken und Technologien einher, ist stets gesellschaftsbezogen, impliziert, mit anderen Worten, ein soziales System. Und dieses – im Folgenden genauer unter die Lupe zu nehmende – System ist Rahmenbedingung par excellence unseres Quasi-Objekts. Das Soziale selbst ist der Ort, der Schauplatz, der zur Debatte steht und in dem sich Szenarien ereignen und bilden lassen.

66.3 D AS

INSTITUIERTE O BJEKT „A UTORENKINO “: DER A UTOR UND SEINE B EDINGUNG

Kino ist ein integraler Bestandteil von Gesellschaft, es agiert, wie Lothar Mikos in seinen inzwischen sehr prominenten Ausführungen zur Filmanalyse zusammenfassend und in kulturwissenschaftlicher Tradition voranstellt, „immer im Feld sozialer Auseinandersetzungen“ (Mikos 2008: 24). Der Versuch, Medienwissenschaft mit Denkansätzen der latourschen Soziologie zusammenzuführen konfrontiert zunächst mit intellektuellen Besonderheiten, die zwar zum Teil parallel zu den institutionellen Praxen der französischen Soziologie verlaufen, sie gleichzeitig aber auch unterlaufen und konterkarieren: So reiht sich Latour zwar in die dort bestehende Tradition einer kooperativen Beziehung zur ethnologischen und historischen Forschung sowie in die Tradition der institutionell verankerten Verknüpfung von Empirie und Theorie, fügt sich gleichzeitig jedoch ganz und gar nicht in das seit Pierre Bourdieu proklamierte Konkurrenzverhältnis zur Philosophie, und auch dem Strukturalismus kann Latour nur wenig abgewinnen.17 Vor dem Hintergrund einer klassischen französischen Soziologie mag man eventuell geneigt sein, mit „nationalem“ Kino eine symbolischkapitalistisch elitäre Form innerhalb von globalisierten bzw. den Regeln des Marktes durchsetzten kulturellen Produktionsverhältnissen vorauszusetzen – Bourdieu hat mit seinen Ausführungen zum symbolischen Kapital bekanntlich den soziologisch fundamentalen Baustein gesetzt und zementiert. Nicht aber mit Latour, denn hier erfolgt, mit ihm und den Vertretern der ANT gedacht, der entscheidende Bruch. Und dieser ist ein gewaltiger, liefert Latour gewissermaßen gleich die Abrissbescheinigung eines ganzen Gesellschaftsgerüsts: „Was ist eine Gesellschaft – der Anfang aller sozialen Erklärungen, das Vorgegebene der Sozialwissenschaft? Wenn meine Pragmatogonie nur annähernd überzeugend ist, kann ‚Gesellschaft‘ nicht Teil unserer Terminologie sein, da der Begriff selbst gemacht, ‚sozial konstruiert‘ werden musste, wie die irreführende Bezeichnung lautet. In der Durkheim’schen Interpretation ist Gesellschaft jedoch tatsächlich etwas Letztgültiges: Sie geht individueller Handlung voraus, dauert viel länger als jede Interaktion, dominiert unser Leben – sie ist, wohin wir hineingeboren sind, wo wir leben und sterben. Sie ist externalisiert, verdinglicht, realer als wir selbst und daher auch der Ursprung aller Religion und jedes religiösen Rituals, die – für Durkheim – nichts anderes sind als die Wiederkehr dessen, was durch Figuration und Mythos an individuellen Interaktionen transzendent ist.“ (Latour 1994 [ÜTV]: 521)

17 Zu den institutionellen Besonderheiten französischer Soziologie vgl. Schwingel 1995: 13.

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Latour verwirft Bourdieus Gesellschaftsmodelle zugunsten jener Émile Durkheims, insbesondere unter Berücksichtigung seines Vorschlags, „soziale Tatsachen als Dinge zu behandeln“ (Latour 2007 [SG]: 195). Hierin liegt eine der Grundvoraussetzungen. Wie aber wirkt sich Durkheims – und in weiterer Folge Latours – Proposition auf den Gegenstandsbereich des Kinematographischen und seine Kategorien aus? Es bedarf keiner intensiven Umsicht im Feld der akademischen Beschäftigung mit Film und Kino, um auf die eine oder andere der unzähligen Feststellungen zu stoßen, die gemeinplatzträchtig behaupten, dass „das Kino gewissermaßen immer auch soziales Phänomen“ ist. „Das“ Kino ist also stets „soziales Phänomen“, soll heißen per se, zumindest hat es da und dort eine „soziale Dimension“. Bisweilen mag auch die Rede von „sozialen Faktoren“ in Verbindung mit „dem Kino“ sein, und in den meisten Fällen „schreibt es sich“ – mit oder ohne Federhalter – in einen gesellschaftlichen Kontext „ein“ oder „spiegelt ‚die‘ Gesellschaft wieder“. Die Beobachtung dieses Phänomens von Diskurs, das sich häufig mit „politischer Relevanz“ oder „historischer Tiefe“ attribuiert, mag verallgemeinernd und unscharf anmuten, ist jedoch nicht unschärfer als das Phänomen selbst, dem diese Beobachtung entsprechen soll: die Rede ist vom Topos der Gesellschaft und ihrer „sozialen“ Durchsetztheit, die die akademische, kritische und journalistische Auseinandersetzung mit Kino durchzieht, gleich ob letzteres nun „die“ Realität „abbildet“, „widerspiegelt“ oder Fiktion „darstellt“. Nun kann und wird es freilich nicht darum gehen, „dem“ Kino seine „sozialen Dimensionen“ abzusprechen. Viel eher geht es hier nun darum, dieses Kino(-Segment) und seinen Rahmen neu zu bestimmen, es zu „re-kontextualisieren“ (Latour 2007 [SG]: 330), es um das zu erweitern, was in den Auseinandersetzungen zuweilen – und nicht selten – fehlt: die entscheidende, jedoch dem Ressort der Evidenz verfallene Frage nach dem spezifisch „Sozialen“ und seinen Unbestimmtheiten nämlich. Wie soll man nun Kino im Hinblick auf diese Parameter beschreiben – unter der Voraussetzung selbstverständlich, dass es „das nationale (Autoren-)Kino“ als stabile Entität nicht gibt, sehr wohl hingegen ein „nationales“ (Autoren-)Kino in einer gewissen sozial-politischen Aktivität? Ersetzen wir „das (Autoren-)Kino“ nun exemplarisch – ganz im Zeichen unseres Falls – durch „Hanekes Kino“ und wir erhalten Auskünfte und Einschätzungen zu diesem Kino in seinen „sozialen“ Praktiken, die hinsichtlich der angewandten Erklärungsmodelle äußerst heterogen ausfallen. So heterogen schließlich, als fehle es an einem konsensfähigen Modell im Umgang mit einem „Autorenkino“ und seinem Autorensubjekt Michael Haneke, das zum Stilprinzip erhoben hat, Erklärungen zu verweigern bzw. sein Publikum nur spärlich mit Erklärungsmodellen zu versorgen. So ist „Hanekes Kino“ als vorläufiges Endprodukt wissenschaftlicher und journalistischer Auseinandersetzungen etwa als „Pathologie der Konsumgesellschaft“ (Wessely; Grabner; Larcher 2008) qualifiziert worden, im Rekurs auf Kommentare des Regisseurs selbst, indikatorisch für ein Gesellschaftsporträt, in dem sich „Strukturen der Vereisung“ (Seeßlen 2008), der „emotionalen Vergletscherung“18 abbilden. Im Groben lässt sich mithin die Tendenz beobachten, dass Erkenntnisprozesse und vermeintliche Erkenntnisgewinne weitreichend einer – gerade hier sehr zweifelhaften – intentio auctoris verhaftet bleiben. Oder mit Latours Worten: Die Auslotung von Be18 Frühe, inflationär aufgegriffene Stellungnahme Hanekes zur Thematik seiner Filme, die er inzwischen bereut. Im Folgenden ausführlich belegt.

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deutungs- und Wirkungspotenz bleibt über weite Strecken auf den „engen Fokus menschlicher Intentionalität“ (Latour 2002 [HP]: 17) beschränkt. Die (zum Großteil sehr rezent erschienenen) qualitativen Studien zu „Hanekes Kino“ sind zwar ob ihrer Diversität (inhaltlich wie auch im Hinblick auf ihre geographisch breit gestreute Provenienz19) beeindruckend, eines ist ihnen jedoch im Groben gemein: Sie reproduzieren auf Basis gegebener Bilder und erkannter Ikonographien jenes Modell von Technik und Gesellschaft, das Haneke – unter stetiger und auch selbst kommentierter Bezugnahme auf Theodor W. Adorno – materiell und immateriell vorgibt. Hanekes Schaffen konnte so im Dunstkreis akademischer Betrachtung zur Dialektik der Aufklärung (Adorno; Horkheimer 1969) in kinematographischer Form mutieren und letztlich in einer „filmischen“ Version der adornitischen Kulturindustrieargumentation resultieren. Dieser respektablen, auf hermeneutischem Wege erschlossenen Einschätzung ist inhaltlich und unter ebendiesen hermeneutischen Gesichtspunkten nichts entgegenzusetzen. Außer – und hier möchte ich ansetzen –, dass sie, mit Latour gesagt, modern ist; dass sie mit anderen Worten ein wissenschaftlich erarbeitetes Modell zweier einander gegenübergestellten Komplexe – Technik und Gesellschaft – unter der fragwürdigen apriorischen Annahme eines unidirektionalen Einflusses der ersteren auf die letztere voraussetzt. Nun kann man diesem den Geboten der Moderne verschriebenen Haneke-Diskurs und seinen landläufig vorgegebenen Parametern einer Gegenüberstellung von Mensch und Technik bzw. Medien freilich zustimmen, d.h. dem Glauben an die tatsächlichen und vermeintlichen Intentionen Hanekes als dezidiert „modernes“ Autorgenie anhängen und durch ihn in eine Welt der Herrschenden und Beherrschten, der Mächtigen und Ohnmächtigen eintreten, um diese dann wiederum „dominant“, „subaltern“, oder „dialektisch“ zu verhandeln, oder auch hermeneutische Wege der Erkenntnis bestreiten, wie es „Hanekes Kino“ laut Auffassung so manchen Theoretikers – aufgrund des Regisseurs deklarierten Unwillens hinsichtlich jeglicher Erklärung sowie seiner angeblichen Mündigkeitsmachung und „Erziehung“ des Zuschauers zur Selbständigkeit – nahe lege. So heißt es etwa in einer der inzwischen zahlreichen Einführungen ins hanekesche Universum: „[…] Haneke strengthens the emotional impact of information by linking our recognition to a process of deduction that is more a looking for traces, a hermeneutic labor. Haneke refuses any explanations or clues […]. Instead, the film is constructed such that it forces us to actively search for clues until it dawns on us what probably happened. (Speck 2010: 1)“

„Hanekes Kino“ ist, wie es diese inhaltsästhetisch orientierte Einschätzung exemplifiziert, inzwischen zum beliebten Gegenstand hermeneutischer (Text-)Analysen avanciert. Eine der Besonderheiten an „Hanekes Kino“ – und hierin sind sich die Forschenden grundsätzlich einig – liegt in der inhaltlich-diegetischen Konfrontation mit Möglichkeiten und Potentialitäten von Interpretation der Handlungsstruktur, deren Richtung und Entwicklung vom Regisseur nie eindeutig vorgegeben sind. Diese Konfrontation hat – insbesondere aufgrund der inszenierten Reflexivität des Medialen und seiner Techniken selbst, wohl aber auch aufgrund der vielfältigen kontextuel19 Auffällig in dieser Hinsicht die Tatsache, dass das Gros der Studien zu Michael Hanekes Kino in den US-amerikanischen Editionsraum führt. Siehe Bibliografie.

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len Problematiken – zu einer außerordentlich bezeichnenden Deutungskrise geführt. Nicht nur, dass sämtliche Interpretations- und Analysemodelle – insbesondere die „klassischen“ hermeneutischen – in ihrer Anwendung auf „Hanekes Kino“ auf eine harte Probe gestellt werden. Etwas provokanter dargestellt ließe sich am Beispiel Hanekes letztlich nach der Sinnhaftigkeit einer Filmwissenschaft (mit Schwerpunktsetzung auf Filmanalyse) in ihrer forcierten Persistenz als prinzipiell „hermeneutisches Unterfangen“ (Mikos 2008: 84) fragen: Gerade die Hybridisierung von Kino durch Einbindung nicht-traditioneller Kino-Techniken (wie etwa der Videotechnik bzw. das Aufgreifen von Televisualität als Thematik und formaler Struktur) sowie die Verhandlungen, die diese Formen im Bereich ihrer Rezeption erfahren, verweisen darauf, wie müßig es ist, von einem Kino als ästhetisch zu stabilisierender Entität auszugehen, oder, spezifischer, von „Hanekes Kino“ im „modernen“ Sinne zu reden – stößt man in diesem Unterfangen letztlich stets an die Grenzen des Unterfangens selbst, wie Oliver C. Speck in seinem Band Funny Frames – The filmic concepts of Michael Haneke eingangs autoreflexiv festhält: „‚The cinema of‘, the genre to which this book belongs, provides a proven frame, even a formula, through which a body of films by a given director can be seen. However, Michael Haneke’s oeuvre seems to resist such a classic approach, as if the impossibility were built into his cinematic machine.“ (Speck 2010: 5)

Bemerkenswert ist dieser Befund insofern, als Speck die Grenze des analytisch Möglichen hier bezeichnenderweise an der Technik bzw. am Technischen festmacht. Der Kommentar bekräftigt zudem in der Annahme, dass diverse inzwischen veralltäglichte Techniken (eine Kamera etwa, die technische Grundvoraussetzung des Films, ist nicht mehr unerschwingliche Rarität zur massenbedienenden Produktion, sondern zählt längst zum Inventar der Massen selbst) ihren Protagonisten und Verwendern zumeist dann erst Aufmerksamkeit abnötigen, wenn sie nicht funktionieren: So steht diese Bemerkung nicht nur beispielhaft für die Maschine(rie) als Grenzen setzender Akteur, sondern relativiert gleichzeitig auch das menschliche Subjekt in seiner vermeintlichen Allmacht und zeigt für den Komplex des Kinos an, dass der Regisseur bzw. sein Werk immer nur Teil eines Gefüges, einer Maschinerie oder eines Netzwerks von Relationen ist – nicht im ausschließlichen Sinne einer kollektiven, subjektgesteuerten Produktion – sondern unter einer Interaktionsprämisse, die Techniken und Technologien als agierende, transformierende (Unterschied machende!) Akteure umfasst. Das hanekesche Film-Universum erweist sich auch unter diesem Aspekt als lukratives Studienobjekt, steht es – wie hinlänglich bekannt – emblematisch für situative Gefüge des Scheiterns, des Nichtfunktionierens von Systemen (filmanalytisch sich aufdrängend: jenes der Kommunikation20), der Krisenhaftigkeit von Interaktionen. Dies bezieht sich freilich nicht nur auf die „filmimmanenten“ Dispositionen, denn ganz offensichtlich hat sich die identifizierte Krisenhaftigkeit des „filmisch“ Dargestellten auf die Techniken seiner Analysten übertragen. Es sind die Techniken der Hermeneutik selbst, die sich hier zwangsläufig in Krisenmomente, in Stadien des Nichtfunktionierens hineinmanövrieren und sich letztlich mit dem konfrontiert sehen, 20 Michael Haneke spricht bisweilen von der „Schwierigkeit zwischenmenschlicher Kommunikation“ als Hauptthema all seiner Arbeiten (Haneke/Metelmann 2003: 263).

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was sich jeglichem Eingrenzungsimpetus widersetzt: mit der Fülle an Möglichkeiten der Auslegung, die einen Fokus nur ohne Rückversicherung zulässt. Nicht nur „verweigert“ sich Haneke, der auteur, „dem zentralen Punkt des konventionellen Erzählens im Genre: der Lösung als Auflösung“ (André 2010: 33): Der gesamte Komplex „Hanekes Kino“ verwehrt sich in seiner akademischen und kritischen Perpetuierung einer Lösung als Auflösung und legt damit nahe, was den vorliegenden Versuch in seiner Dynamik bestimmt: den Übergang von lösungsorientierten zu auswegsorientierten Formen einer Auseinandersetzung, die ihre Kräfte aus dem Ungewissen bezieht. Dem Unausweichlichen ist als Alternative eine Technik der Spekulation, wie sie für die ANT maßgebend ist, entgegenzusetzen. Die Besonderheit dieses spekulativ anmutenden Verfahrens liegt an der Gegenständlichkeit des jeweiligen Gegenstands selbst: Sachlichkeit, so ließe sich für die einer Zusammenfassung sich widersetzende ANT vorläufig zusammenfassen, wird durch Dinglichkeit ersetzt. Gerade mit „Hanekes Kino“, das jenseits verdachtshermeneutischer Prozeduren und auf allen Ebenen sehr offensichtlich für eine Verschränkung sämtlicher vermeintlich trennbarer Komplexe (Mensch-Technik/Natur-Kultur etc.) steht, erscheint es sinnhaft, den Diskurs auf weitere Niveaus auszudehnen und davon auszugehen, dass Ordnungen des Wissens sowie politisches und letztlich jede Form von Handeln stets materielle Form annimmt. Michael Haneke ist, ANT-perspektivisch gesehen, ein Akteur. Als solcher ist er ein Teil von Gesellschaft. Von Gesellschaft im Sinne der ANT zu sprechen, so die Prämisse, bedeutet, von einem verteilten und relationalen Materialismus auszugehen und ein „Soziales“ vorauszusetzen, das sich einer epistemologischen Trennung von lebendigen Subjekten und nicht-lebendigen Objekten verwehrt. Dieses Soziale nennt Latour das „Soziale Nr. 2“. In diesem Sozialen Nr. 2, das die Rahmenbedingung der vorliegenden Konzeption von „nationalem“ (Autoren-)Kino darstellt, ist Michael Haneke zwar ein Akteur, jedoch einer, der nicht zwangsläufig einen Unterschied macht. Selbstgewählt, zum Teil.

66.4 N ATIONAL

UND ASOZIAL : EINE

N EUVERTEILUNG

„‚Das Asoziale der Kunst ist die bestimmte Negation der bestimmten Gesellschaft‘ – Adorno hat das schon vor einem halben Jahrhundert notiert. Und niemand, der sich in diesem nur schwammig zu definierenden Bereich der ‚Kunst‘-Produktion aufhält […], wird das heute nicht als selbstverständliche Prämisse seiner Arbeit ansehen. Ich sage ‚Kunst‘- und nicht ‚Kultur‘Produktion, denn der Kulturbegriff ist im Zeitalter der medialen Massendemokratie ein anderer, der ist sehr wohl einer der Affirmation des Bestehenden. […] Der Film, das Industrieprodukt Film, das ästhetisch immer noch so tut, als lebten wir im 19. Jahrhundert, ist ja wohl Teil des Kulturbetriebs. Mit der Radikalität dessen, was unter dem Begriff der ‚Kunst‘ noch zu subsumieren ist, hat er gemeinhin wenig zu tun. Und zwar nicht, weil seine Urheber dazu nicht in der Lage wären, sondern weil seine Produktion – die finanzabhängigste, weil teuerste Produktion eines Artefakts überhaupt – die oppositionelle Position zum common sense geradezu per definitionem nicht zulässt. Film muss sich verkaufen.“ (Haneke/Wessely; Grabner; Larcher 2008: 14)

Vom Kino in seinen „sozialen Dimensionen“ auszugehen heißt, es zu verorten, es in einen Kontext zu stellen, es in einem bestimmten Modell von Gesellschaft zu verankern. Die angeführten akademischen Reflexionen zum Film in seinen „sozialen Di-

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mensionen“ zeigen an, was Latour für „sein“ Umfeld der Sozialwissenschaften formuliert: nämlich, dass sich die Kategorie des Sozialen – trotz oder vielleicht gerade wegen ihres so vielfältigen wie undifferenzierten Gebrauchs – landläufig zum oberflächlichen Gemeingut entwickelt hat. Verantwortlich dafür, so Latour, seien die Sozialwissenschaften selbst, allen voran die Soziologie, insofern das Werk ihrer großen Vertreter (Latours Kritik betrifft hier in erster Linie Bourdieu21) eine Liquidierung des Sozialen zur Folge hatte. Latour kritisiert, dass „die Bedeutung von ‚sozial‘ zunehmend geschrumpft“ (Latour 2007 [SG]: 18), die „sogenannte soziale Erklärung kontraproduktiv geworden“ (Latour 2007 [SG]: 21) ist. Latour fasst diese „bevorzugte Stätte der Sozialwissenschaften“ als das „Soziale Nr. 1“. Dieses Soziale Nr. 1, das „die Begegnung von Angesicht zu Angesicht zwischen individuellen, intentionalen und zweckgerichteten menschlichen Wesen“ (Latour 2007 [SG]: 331) umfasst, gilt es schließlich zugunsten des „Sozialen Nr. 2“ zu verabschieden. In seinem in Erstfassung mit dem Titel Reassembling the Social versehenen Manifest richtet sich Latour gegen eine Konzeptualisierung von Gesellschaft als unveränderliche abstrakte Entität, die ihren Schatten auf Bereiche wie Wirtschaft, Recht, Wissenschaft etc. wirft; gegen jenes Konzept also, das in den eben beschriebenen Diskursen mit „dem“ Kino in Verbindung gebracht wird bzw. per se schon korreliert. Latour kontert mit dem Entwurf eines Konzepts von Gesellschaft, das – um seinen Implikationen gerecht zu werden – notwendig instabil ist: Gesellschaft sei demnach nur als eine indeterminierte Verbindung unterschiedlicher Akteure zu begreifen, die die Gewissheit, einer gemeinsamen Welt anzugehören, infrage stellen. So jedenfalls ließe sich etwa der Leitgedanke eines seiner Hauptwerke zusammenfassen: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, in dem er gleichzeitig die Aufgabe der Soziologie bestimmt, die für ihn in der Analyse genau dieser Verbindungen – dem Sozialen Nr. 2 – besteht. Im Zuge der Rehabilitation dessen, was er als unsere Realität begreift, dieses Sozialen Nr. 2 eben, geht es ihm in erster Linie darum, hinsichtlich des Begriffs des Sozialen „auf seine ursprüngliche Bedeutung“ zurückzugreifen und ihn zu befähigen, Verbindungen nachzuzeichnen (tracer) (Latour 2007 [SG]: 10) und damit – ganz im Sinne Durkheims – „das Soziale nicht als einen speziellen Bereich, eine bestimmte Sphäre oder eine besondere Art von Ding“ zu definieren, sondern nur als eine „sehr eigentümliche Bewegung des Wiederversammelns und erneuten Assoziierens“ (Latour 2007 [SG]: 19). Die Assoziationen laufen dabei stets auf die Beschreibung des bereits thematisierten „Kollektivs“ hinaus: „Wenn nichtmenschliche Wesen nicht länger mit Objekten verwechselt werden, lässt sich vielleicht das Kollektiv vorstellen, in dem die Menschen mit ihnen verwoben leben.“ (Latour 2002 [HP]: 212) Latours Kollektiv bezieht sich auf die Assoziationen von Menschen und nichtmenschlichen Wesen und dient als Ersatzwort für den Terminus der Gesellschaft, schließlich bezeichne das Wort Gesellschaft „keine Entität, die für sich existiert, von 21 Bourdieu ist für Latour der Inbegriff des „Soziologen des Sozialen“, der ihm zufolge Gesellschaft nur „verwendet, um etwas anderes zu erklären oder um eine der politischen Fragen der Zeit zu lösen“ (Latour 2007 [SG]: 31). Er steht damit für Latour im Gegensatz zu den ihm ehrenwerten Vertretern der „Soziologie der Assoziationen“ (Latour 2007 [SG]: 30) – Gabriel Tarde, Harold Garfinkel und John Dewey –, „die glaubten, Soziologie könne eine Wissenschaft sein, die erklärt, wie Gesellschaft zusammengehalten wird […]“ (Latour 2007 [SG]: 31).

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ihren eigenen Gesetzen beherrscht wird und im Gegensatz zu anderen Entitäten wie Natur steht“. Es bezeichne vielmehr ein von der Moderne „aufgezwungenes Artefakt“, das Ergebnis einer „Übereinkunft“ also, „die aus politischen Gründen eine künstliche Aufteilung der Dinge zwischen dem Bereich der Natur und dem der Gesellschaft vornimmt“ (Latour 2002 [HP]: 375-376). Übertragen auf die folgenden Überlegungen zum „nationalen“ Autorenkino im Zeitalter der Globalisierung ergibt sich daraus eine – so entscheidende wie unausweichliche – Konsequenz: Es kann nur darum gehen, Technik und Konsumwelt weder zu glorifizieren noch zu verdammen, sondern sie in den Bereich der Reflexion und der Beschreibung zu integrieren. Dies ist – entgegen diverser erdenklicher politischer Einwände – die hier vorausgesetzte theoretische Grundbedingung einer den (Un-)Ordnungen der ANT angemessenen Analyse der Mechanismen von „Gesellschaft“ und ihrer Verschränkung mit dem Technischen (im Sinne sowohl von Artefakten als auch des Medialen). Einer Analyse, die den Dingen nahe kommt. Einer Analyse der Nähe und der Distanz, respektive jener Ambivalenz, die den beiden Termini innewohnt. Denn, mit Deleuze gesprochen, gehören „Nähe und Distanz […] zur selben Dimension, zur senkrechten Achse einer kreisenden Bewegung, in der ein Punkt bald näher, bald ferner ist“ (Deleuze; Guattari 1976: 107). – Eine Annahme, die gewissermaßen die latoursche Aufhebung des Mikro-Makro-Binarismus antizipiert. Letztlich führt die Aufhebung dieses, aber auch der sämtlichen anderen Binarismen stets zum Kollektiv, das der Mensch mit den Dingen teilt. Eine der weiteren Konsequenzen, die sich daraus ziehen lässt, besteht hier nun im Versuch, nicht alles Dinghafte ins Semiotisch-Semantische zu überführen. Schließlich bleibt dort, wo dies nicht geschieht, ein materieller Rest, der Unterschiede produzieren kann.

66.5 N ATIONALES K INO IM Z EITALTER DER G LOBALISIERUNG : D ER REALE R AUM UND SEINE Ü BERWINDUNG Im Jahr 2007 geben Mette Hjort und Duncan Petrie einen Band mit dem bezeichnenden Titel The Cinema Of Small Nations heraus. Österreich, wenngleich es den von den Herausgebern angeführten Kriterien einer small nation22 entspricht, ist kein Beitrag beschieden. Das den einzelnen Länderbeiträgen (zwölf Fallstudien) vorangestellte Mission Statement ist eine Reaktion auf Dudley Andrews Artikel „An Atlas Of World Cinema“ (2006), dessen Konklusion Hjort und Petrie zum Ausgangspunkt wählen. Andrew darin zur Sachlage: „Let me not be coy. We still parse the world by nations. Film festivals identify entries by country, college courses are labelled ‚Japanese Cinema‘, ‚French Film‘, and textbooks are coming off the presses with titles such as Screening Ireland, Screening China, Italian National Cinema,

22 Die Herausgeber beziehen sich dabei – Ernest Gellner und zahlreichen anderen Schulen folgend – auf die gegebenen geographischen Bedingungen als Indikator für die (relational betrachtete) Größe des jeweiligen filmproduzierenden Landes. (Hjort; Petrie 2007: 5)

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and so on. But a wider conception of national image culture is around the corner, prophesied by phrases like ‚rooted cosmopolitanism‘ and ‚critical regionalism‘.“ (Andrew 2006: 26)

Als für die Herausgeber relevant erweist sich hier die Referenz auf die Herausbildung des neuen kritischen Vokabulars in den Filmwissenschaften („world cinema“, „transnational cinema“, „regional cinema“) unter gleichzeitiger Anerkennung von Nationen in ihrer unumgänglichen Beständigkeit im Bereich der Filmkultur. Andrews Kommentar, so die Herausgeber, sei ein impliziter Verweis darauf, „that innovative ways of understanding national elements must be part of the critical shift that is currently occurring in film studies“ (Hjort; Petrie 2007: 1). Transnationale Beziehungen und Relationen bedingen die Existenz eines Nationalen et vice versa. Kernanliegen ist den Autoren, Verständnis für die globalisierungsbedingte Transformation des Wesens nationaler Filmindustrie und -politk, insbesondere im Hinblick auf ihre Internationalisierung, zu schaffen. Globalisierung wird dabei als ein Prozess begriffen, der Raum überwindet und Zeit komprimiert, während Internationalisierung sich durch territorial-basierende, jedoch grenzüberwindende Austauschprozesse charakterisiere: „Globalisation […] serves to erode the cohesion of nations, whereas internationalisation reaffirms the nation-state as the primary actor in the world system. While the concepts of globalization and internationalisation lie at the heart of divergent interpretations of the contemporary world system, what is important is the interaction between the two […]. The call for careful attention to both globalisation and internationalisation, and especially their reciprocal dynamics, is relevant to the study of film where it points to some possible solutions to the recurrent conundra associated with discussions of national, transnational and global issues.“ (Hjort; Petrie 2007: 14)

Was sich für Konzepte wie das „Globale“, das „Internationale“ und nicht zuletzt für das derzeit theoretisch so prominente „Transnationale“ behaupten lässt, ist die Tatsache, dass ihre Relationalisierung mit raumtheoretischen Überlegungen konfrontiert. Hierin – im Streitpunkt der Verortung nämlich – scheint das Kernproblem der Cinema Studies zu liegen. Denn während das „Inter-“ konzeptuell noch einen – im buchstäblichen Sinne als milieu sich behauptenden – Zwischenraum gewährleistet, steht das Präfix „Trans-“ für die Voraussetzung eines bereits überwundenen Raums bzw. für das Überwinden selbst, dessen Lokalisierung naturgemäß Schwierigkeiten bereitet: „Transnational cinema arises in the interstices between the local and the global. Because of the intimacy and communal dynamic in which films are usually experienced, cinema has a singular capacity to foster bonds of recognition between different groups, or […] ‚trans-local understandings‘ […]. These bonds of recognition, however, must not be confused with the false unity imposed by discourses that lump all sites of local identity together in opposition to some nebulously deindividualizing global force. Transnational cinema as a category moves beyond the exceptionalizing discourses of ‚Third Worldism‘ and the related notion of Third Cinema, terms that have become increasingly problematic in a world no longer marked by the sharp divisions between Communism, Capitalism, and the rest. Third Cinema, initially a site of discursive resistance to cultural imperialism, soon came to be equated with all cinema made in the ‚Third

54 ǀ H ANEKE : K EINE B IOGRAFIE World‘, though this conflation was quickly complicated by the presence of neocolonial forces within the postcolonial world, and by the fact that many ‚Third World‘ filmmakers were trained in the West. Because of the hybridized and cosmopolitan identities of so many contemporary filmmakers, it could be argued that binary oppositions and tertiary relations have lost even their heuristic value in the complexly interconnected world-system with which even the most marginalized of them must now contend.“ (Ezra; Rowden 2006: 4)

Der Raum des Transnationalen, in den sich Kino eingliedert bzw. in den es konzeptuell eingegliedert wird – hier sehr vage irgendwo zwischen dem Lokalen und dem Globalen –, definiert sich jedoch sehr konkret durch „Kräfte“, wie die Herausgeber des Bandes Transnational Cinema, The Film Reader nahelegen: „What is Transnational Cinema?“, titelt die General Introduction. Elisabeth Ezra und Terry Rowden geben die Antwort, von der ich ausgehen möchte: „In its simplest guise, the transnational can be understood as the global forces that link people or institutions across nations.“ (Ezra; Rowden 2006: 1) Hier lässt sich schließlich mit der ANT und ihrem Konzept der Kräfteverteilung anknüpfen; nicht zuletzt ist die ANT ihrem Anspruch nach auch als Raumtheorie zu verstehen, insofern das Akteur-Netzwerk in seiner Funktion ermöglichen soll, Phänomene des Globalen bzw. der Globalisierung überhaupt zu denken, sie zu erfassen und zu lokalisieren (Latour 2009 [SR]: 5). Latours Gegenentwurf zur historischen Moderne, darin liegt wohl einer der brisantesten Aspekte, ist letztlich ein Angriff auf eine raumlose Moderne, die immer die Existenz eines Außen und damit einer außermedialen Realität beansprucht hat. Das Reale als der Ort, in dem ich Kino hier verhandeln möchte, steht für eine medienphilosophische Annahme, die voraussetzt, dass von einer wie auch immer gearteten außermedialen Realität bzw. einem medientechnischen Apriori nicht ausgegangen werden kann. Welchen Raum aber beansprucht unter dieser Voraussetzung das Nationale, das nun weder in Mikro- noch in Makrostrukturen begreifbar ist? Die Feststellung, das Nationale fände seine Performanz in transnationalen Gefügen, beansprucht in ihrer Faktizität einen hohen Abstraktionsgrad, konkretisiert sich jedoch – so meine These – unter Berücksichtigung jener Techniken, Technologien und Dinge, die diese Gefüge – von der transnationalen Produktion (Koproduktion) über die Distribution bis hin zu den Modi einer global-reichenden, simultanen Verbreitung (Internet) – ausmachen. Das Nationale zu lokalisieren bedeutet, es auf jene Dinge zurückzuführen, die seiner Existenz zugrunde liegen. Es kann unter dieser Voraussetzung folglich nur darum gehen, Globalisierung multilokal zu denken, d.h. in Räumen, die sich einer statischen Kartographie verwehren: eine Internetplattform kann, wie im Folgenden thematisiert, ebenso ein solcher Raum sein, wie ein Filmfestival. Gemein ist diesen Räumen – ob „virtuell“ oder „real“ –, dass sie Orte einer Interaktion sind, die materielle Ausprägungen hat.

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66.6 I NTERNATIONAL , TRANSNATIONAL , GLOBAL : DIE Q UAL DER W AHL UND K UNST IN JEDEM F ALL . B LACKBOXING THE N ATION „It should be clear […] that basing an analysis of film in the director’s biography is, in my opinion, completely useless. I will also not touch the question of whether Michael Haneke deserves the doubtful honor to be appropriated by the Austrian or by the German nation. To my surprise and dismay, such a debate has developed on the heels of the success of Das weiße Band at Cannes in May 2009, in both these countries – certainly a sad reminder of the ghosts of nationalism that still seem to haunt some sectors of the public.“ (Speck 2010: 20)

Warum im 21. Jahrhundert noch über ein „nationales“ Kunstkino/Autorenkino nachdenken? Lässt sich das Phänomen tatsächlich auf ein „trauriges“ Resultat der Kräfte diverser Geister des Nationalismus verkürzen? Oder auf eine Eigendynamik des „öffentlichen Sektors“? Steht nicht gerade die geopolitisch orientierte, in sich bisweilen widersprüchliche Aufmerksamkeit, die dem Komplex des Autoren- bzw. Kunstkinos von akademischer Seite aktuell zukommt – und nach Maßgabe ihrer Konzeptionalisierungsangebote von transnationalen bis hin zu globalen Formen23 reicht –, steht nicht gerade dieser Verortungsimpetus dafür, die als überholt und reaktionär vorverurteilte „Ursprungseinheit“ des Nationalen einer kritischen – und in der Logik des Netzwerks deutlich a-geographischen – Revision zu unterziehen? Eine der rezentesten jener Studien, die sich der analytischen Kategorie des „nationalen Kinos“ in ihrer Koexistenz mit der sie herausfordernden Kategorie des „Transnationalen“ verschrieben haben, erscheint 2010 unter dem bezeichnenden Titel World Cinemas, Transnational Perspectives. Anders als der Titel zunächst nahezulegen scheint und offenbar nach dem Motto „ohne geht’s nicht“, ist den Herausgebern sehr wohl daran gelegen, Forschungsperspektiven auf den Spielplan zu setzen, die einen Umgang mit dem „Nationalen“ forcieren: „The impulse of this volume came from the pairing of a pedagogic dissatisfaction with a historiographic question. Given the rapid and pervasive changes in moving image economies and technologies, the backdrop against which any represented geopolitical entity now appears is the scale of the whole – ‚the world‘. Yet the dominant strategy that teaching world cinema most commonly takes is the format of an aggregate of discrete units of national cinemas arranged in a sequence of peak moments, even while presenting them ‚under erasure‘ so as to acknowledge the limits of the nation-state paradigm as the basic film-historical unit. How then should the geopolitical imaginary of the discipline of film studies be upgraded to a transnational perspective, broadly conceived as above the level of the national but below the level of the global?“ (Ďurovičová; Newman 2010: 9)

Eine dezidiert „transnational“ ausgerichtete Perspektive – als differenziert angelegtes und die Vielfalt betonendes Forschungsparadigma, das sich mit den grenzüberschrei23 Vgl. etwa Ezra, Elisabeth; Terry Rowden (Hg.). Transnational Cinema, the Film Reader. London: Routledge, 2006. Bzw.: Galt, Rosalind; Schoonover, Karl (Hg.). Global Art Cinema. New Theories and Histories. New York: Oxford University Press, 2010.

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tenden Praxen kinematographischer Institutionen und den uneinheitlichen Flows von (Bild-)Material auseinandersetzt – ist den Autorinnen weder Supplement noch Korrektur des Aggregats nationaler Filmgeschichten, sondern ein dezidiert netzförmiges Untersuchungsangebot, das die vielfältigen Formen des „Nationalen“ integriert: „As a product of later-industrial modernity, all cinema is marked by, and itself reworks elements (labor, capital, body, raw materials, ideology) it shares with other commodity production, as well as elements which vary from period to period and place to place (mise-en-scene, performance, representational forms of image making). The transnational is thus not a ‚supplement‘ or a correction to the aggregate of national film histories but rather the historical condition present throughout within a grid of comparison allowing the analyst, and much more properly, a team of analysts specializing in film from an assortment of periods and provenances, to parse and compare.“ (Ďurovičová; Newman 2010: 14)

Das transnationale Kino, ob nun als Tatsache oder als kritisches Konzept, hat zum Leidwesen derjenigen, die es grenzenlos denken wollen seine unumgängliche Bedingung: was hier nämlich – durch globale Geldströme und Materialzirkulationen, durch Information und neue Medientechnologien, ästhetische und narrative Dynamiken sowie durch die emotionalen Identifikationen, die sie hervorrufen – transgrediert wird, ist und bleibt letztlich das Nationale. Wie ich eingangs bereits ausgeführt habe, kann hinsichtlich des Falls „Haneke“ wohl kaum die Rede von einem genuin „nationalen Kino“ im Sinne einer diskreten Einheit sein. Gleichwohl behauptet sich dieses „Nationale“ als strategische (u.a. werbetechnische) Begleiterscheinung des „transnationalen“ Phänomens. Die Frage, die sich hier letztlich stellt, verhandelt nun nicht, ob und wie sehr „Hanekes Kino“ distinktiv national ist oder nicht, sondern viel eher, wie und zu welchen Zwecken, durch welche Relationen und Konjunktionen, kurz: Interaktionen es – im Rahmen seiner Transgressionen – diskret national wird. Das Nationale als Kategorie ist – in verschiedenen Bewegungen, etwa antinationalistischer oder von politischer Korrektheit durchsetzter Prägung – insbesondere im Rahmen kulturwissenschaftlicher Bemühungen als gemeinschaftsstifendes Konstrukt identifiziert bzw. etabliert worden und scheint als solches hochgradige Stabilität für sich zu beanspruchen. Der äußerst rege Rekurs auf Benedict Andersons Imagined communities (Anderson 1983) und auf die von ihm erdachte Nation als kollektive Mentalität ist einer der wohl nennenswertesten Indikatoren dafür, dass Konzepte wie auch Techniken zu gewissen Zeitpunkten eine Art historische Abgeschlossenheit erfahren – auch wenn ihr Status entsprechend dem kulturwissenschaftlichen Tenor letztlich als in stetig beweglicher, sich mutierender, d.h. immer neu zu verhandelnder Eigenschaft festgeschrieben wird. Wie Philip Schlesinger in seinem Aufsatz „The Sociological Scope Of ‚National Cinema‘“ demonstriert, erfolgt die gegenwärtige Analyse von „nationalem Kino“ in einer Linie mit den soziologisch-kulturwissenschaftlichen Befragungen von Nation und Nationenbildung, die vordergründig auf die Konzeption von „Nation“ als kommunikatives Feld abzielen. (Schlesinger 2000: 19) Andersons und Gellners Ausführungen bilden damit den Grundbaustein zeitgenössischer Forschung zum „nationalen Kino“. Was die beiden Autoren hervorheben, ist die Bedeutung von Kommunikationsmedien als materielle Grundlage für Nationenbildung, d.h. für den Konstrukti-

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onsprozess der „imagined community“. Schlesingers Einwand zum medienwissenschaftlichen Rekurs auf Anderson liegt nahe: Die bei Anderson thematisierten Kommunikationsmedien sind Massenmedien im klassischen Sinne (was ob des Entstehungszeitraums der jeweiligen Texte [1980er Jahre!] einleuchtet), jedoch (was hinsichtlich des Zeitraums schon weniger plausibel erscheint) nicht einmal im adornitischen Sinne: die für ein „nationales Bewusstsein“ formgebenden Technologien beschränken sich bei Anderson auf Exponate gutenbergschen Entwicklungsstands, Anderson bezieht sich auf Printmedien, das bewegte Bild findet keine Berücksichtigung. Müßig zu betonen, das selbiges freilich auch für die technologischen Bedingungen des jüngeren Informationszeitalters gilt. Verbundenheit im zeitgenössischen Sinne hingegen, so Schlesinger, verweise auf ganz andere Voraussetzungen: „Social communication theory’s functionalism produces an image of a strongly bounded communicative community. Under present conditions clearly this needs to be revised given the increased attention afforded the ‚globalisation‘ of communication – especially the bordercircumventing flows resulting from the rapid transformation of electronic media and of information and communication technologies. That said, the new wave of concern with global interconnectedness should not make us now envisage the world as definitively ‚postnational‘. The continuing strong links between modes of social communication and national political spaces remain fundamental for conceptions of collective identity. And it is precisely that connectedness that informs, constructs and reproduces the problematic of a national cinema. But as this issue begins to be rethought in conditions of greater complexity, the underlying social communication theory will need substantial revision. It now must offer an explanatory grasp of the increasingly evident contradictions between the various levels of culture and identity that are tending to decouple state and nation.“ (Schlesinger 2000: 30)

Die Analysen zum „nationalen Kino“ in ihrer Kongruenz mit den etablierten modernistischen soziologischen Ansätzen sind für eine gegenwärtige Bestandsaufnahme der Prozesse des Filmmarkts nicht mehr haltbar, insofern sie auf der internalistischen Annahme fußen, dass sich die Konstitution von Nationen bzw. des Nationalen auf kommunikative Kompetenzen zurückführen ließe. Das Nationale als Zugehörigkeitsprinzip im Sinne eines Resultats sozial-kommunikativer Strukturen der Interaktion hat ausgedient, zu sehr ist es einer externen Formgebung ausgesetzt, die unter den Terminus der Technologie fällt und die in die Konzeptionalisierung des Komplexes mit einzubeziehen ist. Das Nationale entspricht – gerade durch seine diskursive Zählebigkeit als bereits entlarvtes, kommunikations- und ausschließlich humanoid-interaktionsgebundenes, imaginatives und damit weitgehend als nicht-materiell betrachtetes Konstrukt – einer Blackbox. Aus dem Bereich der Technik und des Ingenieurwesens entlehnt und von Latour in ein Feld der Wissenschaftssoziologie implantiert, steht die Blackbox für ein ab einem bestimmten Zeitpunkt unhinterfragtes Abkommen im Rahmen eines historiographisch bedingten Effekts von Wissensgenerierung. Die Beständigkeit des Nationalen in seiner vermeintlichen Integrität, als Konstrukt in seinem „Erfolg“ als „imagined community“, steht damit für einen spezifischen Effekt des Blackboxing, worunter ein dissimulierender Prozess zu verstehen ist, in dem eine Verbindung von Elementen als derart kohärent und uniform auftritt, dass sich das infrage stehende Konzept hinsichtlich seiner Funktionen und seines Funktionierens vor den Augen

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seiner Betrachter oder Verwender verbirgt. Blackboxing ist, wofür das einleitende Zitat dieses Kapitels exemplarisch steht, ein „Prozess, der die vereinte Produktion von Akteuren und Artefakten völlig undurchsichtig macht“ (Latour 1994 [ÜTV]: 491). Einen Ausweg aus dieser vermeintlich unantastbaren Integrität stellt die Anbindung an die konkreten Materialitäten – in unserem Fall des Nationalen – dar. Eine Blackbox unter den Prämissen der ANT zu öffnen heißt, den Blick auf ihre Verfertigung richten, sie zum Gegenstand von Übersetzung zu erheben, ihre Inhalte ihrer Werdensvergessenheit zu entledigen und das zu untersuchen, was sie scheinbar verbirgt: Interaktion. Es geht hier unter dieser Prämisse folglich nicht um das Nationale als solches, noch weniger darum, es als ein Konstrukt (das es freilich auch ist) zu entlarven, sondern um die vielfältigen Gebrauchsweisen und Funktionen dieses Nationalen in seinen mannigfaltigen Verbindungen mit Kino. Denn so sehr die aktuelle Theorie Konzepte eines „transnationalen Kinos“ oder eines „globalen (Kunst-) Kinos“ (Galt; Schoonover 2010) postuliert, so wenig ist das „nationale Kino“ ein vom Werden abgetrennter Block oder die Entität einer isolierbaren Vergangenheit. Das „nationale Kino“ ist instituiertes Objekt, beansprucht als solches Stabilität und ist damit erklärungsbedürftige Ausnahme. (Autoren-)Kino, wie es das Beispiel „Haneke“ und seine Diskursformationen nahelegen, kann – trotz oder gerade durch Gegebenheiten globaler Gegentendenzen – den stabilisierenden Komponenten nationaler Kulturen zugeordnet werden. Das Nationale ist dabei – wie sich aus einer ANT-geleiteten Perspektivierung sehr wertneutral folgern lässt – Erscheinung der Gegenwart, Teil einer kollektiven Materialität, deren erstaunliche Lebendigkeit dazu anregt, aus den diskursiven Modi modernistischer Konsensualität herauszutreten und jene Verbindungen, die ihm zugrunde liegen, nachzuzeichnen. „Hanekes Kino“ lässt sich unter dieser Voraussetzung nicht in „die“ eine Nische eines nationalen Kinos drängen; die Angelegenheit präsentiert sich – aus räumlicher und ereignisbezogener bzw. nicht-linearer Perspektive, die das Potential der Gleichzeitigkeit gegenwärtiger technologischer Bedingungen anerkennt – multifokal: gegeben ist eine Vielzahl von nationalen Nischen, der Komplex „Hanekes Kino“ ist nach Maßgabe seiner verteilten Handlungskräfte so „österreichisch“ wie „deutsch“, so „französisch“ wie „international“, so „anti-amerikanisch“ wie „global“ und insofern letztlich mehr als eine als Vereinnahmung argumentierbare reaktionäre Summe diverser Geister des Nationalismus. Der Fall ist „multinational“, insofern die ihm attribuierten „nationalen“ Anteile nicht ausschließlich auf historisch-instabile Begebenheiten zurückzuführen sind, sondern gleichzeitig als (materiell-)funktional betrachtet werden können: Das „Nationale“ in Verbindung mit Kino reicht so von seiner (hier exemplarisch zitierten) politisch-korrekt-geleiteten Ablehnung über diverse – im Folgenden ausführlicher beschriebene – Formen der unreflektierten Selbstverständlichkeit bis hin zu ihrer Historizität (vermeintlich) entleerten Marketingstrategien. In gleichem Maße wird in ihm auch ein Gestus der Kategorisierung und Distinktion erkennbar, der – weit entfernt von einer Nationalkonzeption und ihren mit Ursprünglichkeit aufgeladenen Einheitsmythen – einer Motivationslogik interkultureller Vielfaltserhaltung zu folgen trachtet. So reaktionär das „Nationale“ aus der ablehnenden Haltung einer political correctness anmutet, so produktiv erweist es sich in der Konfrontation mit der Heterogenität der auf „die eine“ nationale Zugehörigkeit bestehenden Akteure, zeigt sich schließlich und nicht zuletzt, dass Haneke als individueller

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Akteur (hier als Synonym für den Akteur bzw. das Netzwerk des sogenannten „Autorenfilms“ zu verstehen) erheblich von diversen Zuordnungen profitiert. Dies betrifft nicht nur seine prestigeförderliche Integration in einen „französischen“ Kinokontext, sondern auch die – ob seiner „deutschen“ Provenienz umstrittene – Inszenierung als „österreichischer“ Regisseur. Das Prädikat „österreichisch“ erweist sich dabei nicht zuletzt als insofern wertvoll, als es – durch gezielte Mediatisierung – ein dem „VomTellerwäscher-zum-Millionär“-Narrativ ähnliches und konkurrenzfähiges Narrativ nährt: die Erfolgs- und Aufstiegsgeschichte vom „kleinen Österreicher“ zum Oscarpreisträger dürfte den autochthonen Medienkonsumenten hinlänglich bekannt sein. Zudem ist der Akteur „Österreich“ in seiner Eigenschaft als „small cinema nation“ (Joeckel 2003) – eine Sparte, der in der rezenteren Kinoforschungsgeschichte beachtliche Aufmerksamkeit zukommt (Hjort; Petrie 2007) – wenn schon kein finanziell bzw. produktionstechnisch rentabler Rückhalt, so dennoch ein ideologischer (und in jüngster Zeit mit akademischem Material genährter) Stützapparat, der seinerseits wiederum bemerkenswerte Verschiebungen und Mutationen des Filmmarkts indiziert: „the emergence of regional networks and alliances that are providing transnational alternatives to the neo-liberal model of globalisation driving contemporary Hollywood“ (Hjort; Petrie 2007: 17). Globalisierung im Kontext der zeitgenössischen Filmindustrien und -kulturen ist schließlich nicht zwangsläufig mit amerikanischem oder „westlichem“ Imperialismus gleichzusetzen, sondern gestaltet sich gleichzeitig, wie Hjort und Petrie mit ihrem Band The Cinema Of Small Nations darlegen, stets auch als Globalisierung „von unten“. Der transnational-geleitete Blick auf das Nationale in seinen heterogenen Konstitutionsprozessen schließt eine kritische Reflexion der thematisierten Nationalismen und Zugehörigkeits- bzw. Abgrenzungsdebatten selbstverständlich nicht aus. Schon deshalb nicht, weil diese Nationalismen eine ebenso wesentliche Rolle im Entwicklungs- und Legitimationsprozess der Filmwissenschaften gespielt haben wie diverse selbsternannte nationale „Eliten“ Film und Kino seit jeher dazu verwendet haben, ihre offiziellen kulturellen Narrative zu nähren und zu verfestigen (Ezra; Rowden 2006: 3). „As a marker of cosmopolitanism, the transnational at once transcends the national and presupposes it. For transnationalism, its nationalist other is neither an armored enemy with whom it must engage in a grim battle to the death nor a verbose relic whose outdated postures can only be scorned. From a transnational perspective, nationalism is instead a canny dialogical partner whose voice often seems to be growing stronger at the very moment that its substance is fading away. […] The space of the transnational is not an anarchic free-for-all in which blissfully deracinated postnational subjects revel in ludically mystified states of ahistoricity. The continued force of nationalism, especially nationalism grounded in religious cultures, must be recognized as an emotionally charged component of the construction of the narratives of cultural identity that people at all levels of society use to maintain a stable sense of self.“ (Ezra; Rowden 2006: 4)

Das „nationale Kino“ als „Quasi-Objekt“ lässt sich – um die Parameter seiner Stabilisierung auszuloten – narrativ in Handlungsprogrammen entfalten. Das Handlungsprogramm als „die Abfolge von Zielen, Schritten und Intentionen, die einen Agenten in einer Erzählung […] beschreiben kann“ (Latour 1994 [ÜTV]: 486) ist jedoch –

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wie es die relativistische Auslegung der ANT voraussetzt – nur Teil eines umfassenderen Programms, das dem ANT-Forscher vorschwebt: die ANT in ihrer praktischen Umsetzung. Die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit formalen Fragen derselben führt zum nächsten Schritt: Wie lassen sich die angesprochenen Konstitutionsprozesse und Interaktionen, die die Stabilisierung eines „nationalen“ Kinos in Zeiten globalen Filmmarketings gewährleisten, nun tatsächlich „beschreiben“ und „rahmen“? Wie könnte eine nichthermeneutische Film- und Kinogeschichtsschreibung aussehen?

65. V OM KOMPONIERTEN S ACHVERHALT ZUM „ NATIONALEN (A UTOREN -)K INO “: Z UR S ZENARISIERUNG VON K ONSTITUTIONSPROZESSEN Die letzte Hinführung zur im Folgenden am Fall „Haneke“ erprobten Versuchsanordnung zu einer alternativen Filmgeschichte betrifft nun ihre Gestaltung. Die Fallstudie erweist dem Modus des Versuchs zwangsläufig alle Ehre, denn so sehr die ANT in ihrer Rezeption von Seiten der jüngeren Medienwissenschaften für weitgehend relevant befunden wird, so offensichtlich provoziert sie gleichzeitig auch Unschlüssigkeit über ihre praktische Um- bzw. Übersetzung. Was die Wege ihrer formalen Realisierung angeht, so lässt die ANT – schon ihrer Strategie nach – mehr Fragen offen als sie beantwortet: Wer nach der einen Anleitung oder Bedienungsanweisung sucht, wird dies vergeblich tun, steht die ANT in ihrem stetigen Bestreben nach Entgrenzung und Erweiterung letztlich immer auch für die Suche selbst – nach Konzepten, nach Terminologien, nach Umwegen, nach dem Instabilen und der Unsicherheit; für eine Suche nach Mustern und Formen, die insofern eine Funktion hat, als sie dem Erhalt der vielfach angepriesenen Ziellosigkeit zu dienen scheint. Dies ist der Preis der Objektivierung, den die „Soziologie der Übersetzung“ zu bezahlen hat: „Ich nenne diese Unsicherheit über Ziele Übersetzung. Ich habe diesen Begriff schon etliche Male verwendet und jedes Mal begegne ich denselben Missverständnissen. ‚Übersetzung‘ bedeutet nicht eine Verschiebung von einem Vokabular in ein anderes, z.B. von einem französischen in ein englisches Wort, als ob die beiden Sprachen unabhängig existierten. Wie Michel Serres verwende ich ‚Übersetzung‘, um Verschiebung, Driften, Erfindung, Vermittlung, die Erschaffung eines Bindeglieds, das zuvor nicht existiert hatte und das zu einem gewissen Grad zwei Elemente oder Agenten modifiziert, auszudrücken.“ (Latour 1994 [ÜTV]: 487)

Nichtsdestotrotz verlangt der „riskante Bericht“ als solcher nach sprachlicher Artikulation und führt so zu einer Schwierigkeit der Terminologie, die zunächst einmal darin liegt, „Begriffe zu vermeiden, die von einer Unterscheidung zwischen dem Technischen und dem Sozialen ausgehen“ (Akrich 1992: 409). Zur Vermeidung dieser Schwierigkeit legt Akrich ein Vokabular nahe, das sie der Semiotik entwendet (Akrich 1992: 409) und mit Latour in einem gemeinsamen Artikel darlegt. Die „Zusammenfassung einer zweckmäßigen Terminologie für die Semiotik menschlicher und nicht-menschlicher Konstellationen“ (Akrich; Latour 1992), einer Semiotik, die sich „nicht auf Zeichen beschränkt“, sondern die Kompetenz hat, „sich von Zeichen zu

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Dingen und zurück zu bewegen“ (Akrich; Latour 1992: 399), ist ein verhältnismäßig frühes Versuchsmodell der ANT, dessen taxonomischer Charakter zunächst verwundert, zumal sich der ANT-Imperativ dem Taxonomischen in letztgültiger Bestimmung eindeutig verwehrt. Die angeführten Grundbegriffe reichen hier vom „Setting“24 über den Aktanten und das Handlungsprogramm bis hin schließlich zur Konjunktion „UND“, die – man erinnere sich an Deleuzes Ausführungen zum Empirismus25 – noch am ehesten eine Verfahrensweise evoziert. Allein weder das Setting als Objekt der Analyse noch die anderen terminologischen Präzisierungen geben Aufschluss über den prozeduralen Entwurf eines Settings. Wie soll man nun einen riskanten Bericht schreiben, in dem Endgültigkeit und Beliebigkeit tatsächlich vermieden werden? Für einen der tragfähigsten Beiträge Latours zur qualitativen Forschung befindet Stephan Lorenz jenen des „parlamentarischen Verfahrens“ (Lorenz 2009). Lorenz, der sich mit der „Verfahrensförmigkeit von Methoden“ befasst, verweist dabei insbesondere auf die methodologischen Konsequenzen einer Prozeduralität, die er anhand von Latours Forschungsprogramm als „Antwort auf vollständige Relationalität“ identifiziert. – Eine Antwort, die als Rekonstruktionsmethodologie in ihrem generierenden Prinzip Vorteile birgt: „Dort, wo keine Letztbezüge und Fixpunkte angenommen werden können, bieten Verfahren Möglichkeiten der nicht-deterministischen Konstituierung, Legitimierung und Erkenntnis. Sie sollen vor Beliebigkeit und Willkür bewahren, ohne deshalb ein letztes Sein, ein letztes Gut oder eine letzte Wahrheit als unhintergehbar gegeben annehmen zu müssen.“ (Lorenz 2009)

Latour versteht den im Procedere des Versammelns von Kollektiven aufgehenden experimentellen Erkenntnisprozess – das notorische „Assoziieren“ – als demokratisch. Im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens definiert Latour insgesamt sieben Aufgaben; eine davon betrifft die „Szenarisierung des Kollektivs in einem vereinheitlichten Ganzen“ (Latour 2010 [PD]: 179). Der Beitrag, den die Wissenschaft in transdisziplinärer Manier26 zu dieser Aufgabe leisten soll, liegt im besagten Hinzufügen von Geschichten, schließlich sei nichts „unentbehrlicher als die Vervielfachung der großen Erzählungen“ (Latour 2010 [PD]: 185), in denen das demokratische Angebot einer potenziellen „Einigung“ liegt: „Es ist dabei nicht so wichtig, ob zu erwiesenen Tatsachen die entfesselte Phantasie hinzutritt, ob man von unmöglich zu beweisenden Anwendungen träumt, ob man alle Grenzen des gesunden Menschenverstands überschreitet. Ja, es macht sogar nicht viel aus, wenn hier der asketi24 „Setting (setting): Eine Maschine kann genauso wenig wie ein Mensch betrachtet werden, weil es sich bei dem, womit der Analytiker konfrontiert wird, um Konstellationen von Mensch und nicht-menschlichen Aktanten handelt, bei denen Kompetenzen und Performanzen verteilt sind; das Objekt der Analyse wird ,Setting‘ oder ,Setup‘ (in Französisch ,dispositif‘) genannt.“ (Akrich; Latour 1992: 399) 25 „[…] das Rhizom findet seinen Zusammenhalt in der Konjunktion ,und … und … und …‘. In dieser Konjunktion liegt genug Kraft, um das Verb ,sein‘ zu erschüttern und zu entwurzeln.“ (Deleuze; Guattari 1992: 41) 26 Zur Transdisziplinarität bei Latour in ihrer Einteilung in „Berufsstände“ vgl. Latour 2010 [PD]: 179.

62 ǀ H ANEKE : K EINE B IOGRAFIE sche Reduktionismus zu herrschen versucht, der die meisten Entitäten der Welt eliminieren will. Im Gegenteil, je weniger Entitäten zu berücksichtigen sind, desto überzeugender die Totalisierung. Auf dieser großen, hastig errichteten Bühne ist allein die Erzeugung einer gemeinsamen Welt wichtig, die nun zulässig geworden ist und für die das übrige Kollektiv eine neue Gelegenheit bereitstellt, sich zu vereinen. […] Ist erst einmal die Parenthese ‚der‘ Wissenschaft und ihr Traum von Reinheit und Exteriorität entfallen, so werden die Wissenschaften, wenn sie wieder zum staatsbürgerlichen Leben zählen, das sie niemals hätten verlassen dürfen, endlich den Sinn des Wortes ‚unparteiisch‘ begreifen.“ (Latour 2010 [PD]: 185-186)

Das Szenarisieren steht für den performativen Entwurf, für das Verfahren, dem die folgende Fallstudie unterzogen ist. Performativ insofern, als die Ausführung den Implikationen der ANT folgend zur Aufführung wird – der Raum des leeren Blatts zur ethnomethodologischen Bühne, auf der Akteure und ihre Stimmen versammelt werden, um in einem Bericht aufzugehen. Mensch-Material-Interaktionen in ihren mannigfaltigen Ausprägungen – Interviews, Trailer, Blogs, kritische Zeitschriften, wissenschaftliche Bestandsaufnahmen in Buchform, Datenträger, Musik, Einzelbilder, Materialbestände in ihrer interessensgeleiteten Verwertung – bilden dabei den Ausgangspunkt. Eine rhizomatische Angelegenheit im deleuzianischsten Sinne, versammelt in einer minutiös präparierten Chronik. Wie aber soll man nun diese rhizomatischen Verknüpfungen bzw. Verknüpfungsprozesse, die Interaktionen beschreiben? Deleuze und Guattari haben sich einst zirkulärer Formen (nomadische Zirkulation, Maschinenmodell) bedient: „Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie. Es ist ein Kurzzeitgedächtnis oder ein Anti-Gedächtnis. Das Verfahren des Rhizoms besteht in der Expansion und Eroberung, im Einfangen und im Zustechen. Im Gegensatz zur Graphik, Zeichnung oder Photographie, und im Gegensatz zur Kopie bezieht sich das Rhizom auf eine Karte, die produziert und konstruiert werden muß, die man immer zerlegen, verbinden, umkehren und modifizieren kann, die viele Fluchtlinien, Einund Ausgänge hat. Man muß die Kopien auf die Karten übertragen, und nicht umgekehrt. Anders als zentrierte (oder polyzentrische) Systeme mit hierarchischer Kommunikation und feststehenden Beziehungen, ist das Rhizom ein azentrisches, nicht hierarchisches und asignifikantes System ohne General. Es hat kein organisierendes Gedächtnis und keinen zentralen Automaten und wird einzig und allein durch eine Zirkulation von Zuständen definiert. Im Rhizom geht es […] um alle möglichen Arten des ‚Werdens‘. Ein Plateau ist immer Mitte, hat weder Anfang noch Ende. Ein Rhizom besteht aus Plateaus. […] Ein Buch zum Beispiel, das aus Kapiteln besteht, hat seine Höhe- und Schlußpunkte. […] Wir schreiben dieses Buch wie ein Rhizom. Es ist aus Plateaus zusammengesetzt oder komponiert. […] Jedes Plateau kann von jeder beliebigen Stelle aus gelesen und mit jedem anderen in Beziehung gesetzt werden.“ (Deleuze; Guattari 1992: 36-37)

Nicht eine Engführung, Klassifikation oder Taxonomie stehen also vordergründig zur Debatte, sondern ein perspektivisches Klein-Werden, das Latour an verschiedenen Stellen immer wieder mit dem englischen Begriff der „ANT“ als Akronym, mit Betonung auf den Fleiß und die Demut einer Ameise, hervorhebt. Hiervon lässt sich schließlich das Postulat nach einem Modus der Beschreibung – dieser mit „framing“ und „summing up“ gekennzeichneten Praxis des Assoziierens – ableiten, die dem Rhizom, das „unaufhörlich semiotische Kettenglieder, Machtorganisationen, Ereig-

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nisse aus Kunst, Wissenschaften und gesellschaftlichen Kämpfen [verbindet; K.M.]“ (Deleuze; Guattari 1992: 17) weitgehend entspricht. Die zirkuläre Form, die die ANT postuliert, das Begreifen von Sachverhalten in Zirkulationen also, ist dabei nicht nur vom Gedanken des Wiederversammelns der sonst als getrennt betrachteten Bereiche und Entitäten getragen, sondern auch vom Verlangen nach einem Alternativprogramm zur Geschichtsschreibung, das uns Deleuze und Guattari erschließen. Geschichte, so die Verfasser, sei schließlich „immer nur aus der Sicht der Seßhaften und im Namen eines einheitlichen, zumindest eines möglichen Staatsapparates geschrieben worden, selbst wenn von Nomaden die Rede ist. Es fehlt eine Nomadologie, das Gegenteil von Geschichtsschreibung“ (Deleuze; Guattari 1992: 39). Doch während Deleuze und Guattari „keinesfalls den Rang einer Wissenschaft [beanspruchen; K.M.]“ und „keine Wissenschaftlichkeit und keine Ideologie mehr [kennen; K.M.], sondern nur noch Gefüge“ (Deleuze, Guattari 1992: 38), geht es Latour in seinen zirkulären Prozeduren gerade um diesen prekären Rang der Wissenschaft und seine Artikulationen im Netzwerk, d.h. im Verfahren selbst. Die zirkuläre Form, die ihrem Wesen nach als Verfahren letztlich immer einen „reflexiven Rückbezug von der festgelegten Bestimmung auf die Unbestimmtheit“ (Lorenz 2009) zulässt, ist mit Latour als Potential schlechthin für die Wissenschaft in ihrer „Wissenschaftlichkeit“ zu sehen. „Ein Gefüge“, so Deleuze und Guattari, „wirkt in seiner Mannigfaltigkeit notwendigerweise zugleich auf semiotische, materielle und gesellschaftliche Strömungen ein (unabhängig von ihrer möglichen Wiedereinbindung in einen theoretischen oder wissenschaftlichen Korpus). Es gibt keine Dreiteilung zwischen einem Bereich der Realität (der Welt), einem Bereich der Darstellung und Vorstellung (dem Buch) und einem Bereich der Subjektivität (dem Autor).“ (Deleuze; Guattari 1992: 38)

Latour – hierin liegt der für das vorliegende Experiment entscheidende Unterschied – geht der Möglichkeit der Wiedereinbindung in den wissenschaftlichen Korpus nach. Zwar gibt es auch bei Latour die Dreiteilung nicht, die Subjektivität bleibt jedoch erhalten. Und: sie reflektiert sich als Forscherinstanz in ihrer Subjektivität selbst. Sie nimmt Definitionen von Akteuren in ihrer Bestimmung vor, die diese Akteure relational (durch andere Akteure bzw. Interaktion) erhalten. Akteure können in dieser Bestimmung festgehalten bzw. festgelegt und definiert werden und führen – nach gewissenhafter Erwägung ihrer an der Unterschied-Performanz gemessenen Relevanz – schließlich zum Ergebnis eines riskanten Berichts, der von Unbestimmtheiten zehrt. Als komplementären Begriff zur Forschungstechnik des „summing up“, verwendet Latour in einer der rezenteren Erscheinungen – wie auch Deleuze – jenen der Komposition: „Obwohl das Wort ‚Komposition‘ ein bisschen lang und aufgeblasen ist, ist schön daran, dass es betont, dass Dinge zusammengesetzt wurden (lat. componere), während sie ihre Heterogenität beibehalten. Außerdem ist es mit dem Komponieren verbunden; es hat seine Wurzeln in Kunst, Malerei, Musik, Theater, Tanz, und ist daher assoziiert mit Choreographie und Szenographie; es ist nicht allzu weit von ‚Kompromiss‘ entfernt, und so hat es einen gewissen diplomatischen, vernünftigen Beigeschmack. Vor allem kann eine Komposition scheitern und so beibehalten, was im Gedanken des Konstruktivismus am wichtigsten ist (eine Bezeichnung, die ich auch hätte verwenden können, wenn sie nicht bereits von der Kunstgeschichte eingenom-

64 ǀ H ANEKE : K EINE B IOGRAFIE men wäre). Sie lenkt so die Aufmerksamkeit weg vom irrelevanten Unterschied zwischen dem Konstruierten und dem nicht Konstruierten, zwischen dem Komponierten und nicht Komponierten, und stattdessen hin zum wichtigen Unterschied zwischen dem gut oder schlecht Konstruierten, gut oder schlecht Komponierten. Was komponiert wurde, kann jederzeit auch kompostiert werden. Kompositionismus stellt sich der Aufgabe, Universalität zu suchen, ohne zu glauben, dass Universalität schon da sei und darauf warte, enthüllt und entdeckt zu werden. Es ist somit so weit vom Relativismus (im banalen Sinn) entfernt wie vom Universalismus (in der modernistischen Bedeutung des Wortes […]). Vom Universalismus nimmt sie die Aufgabe an, eine gemeinsame Welt aufzubauen; vom Relativismus die Gewissheit, dass diese gemeinsame Welt aus absolut heterogenen Teilen aufgebaut werden muss, die nie ein Ganzes ergeben werden, sondern bestenfalls eine zerbrechliche, korrigierbare und vielfältige Komposition.“27 (Latour 2010 [CM])

Die minutiös und mit einigem Maß an Pedanterie zu entwerfende „korrigierbare“ Komposition in ihrer Zerbrechlichkeit als Formversuch, den Fall „Haneke“ darzustellen, bringt – insbesondere in Dialogizität mit dem Bildmaterial – ihre verlockenden Vorteile mit sich: Die Universalität, die dem Fall als für die Arbeit des Regisseurs bereits identifizierte Keimzelle innewohnt – da und dort ist die Rede von Geschichten, die sich potentiell überall abzeichnen könnten – wird gerade angesichts der Unterminierung, der sie ausgesetzt ist (die national-geleiteten Zuschreibungen sprechen für sich), zu entfalten sein. Es ist die Aufgabe des Forschenden, die Konjunktionen für die Assoziationen zu finden und zu platzieren. Es ist die Aufgabe der Konjunktionen wiederum, Fakten zusammenzuführen, um sie in ihrer Faktizität beben zu lassen. So sehr mitunter, dass sie zerschellen und ihre Inhalte wieder des Unterschieds fähig werden. Bleibt noch auf die Rolle zu verweisen, die dabei dem Text zukommt: „Der Text, in unserer Disziplin, ist keine Geschichte, keine schöne Geschichte. Eher ist er das funktionale Äquivalent eines Laboratoriums. Er ist eine Stätte für Versuche, Experimente und Simulationen.“ (Latour 2007 [SG]: 258) Dieses am methodologischen Impetus des Kompositionismus orientierte Buch ist schließlich das Resultat einer Zusammenführung und Montage von Stimmen und Material, gesammelt an den Orten, an denen sich Kinopraxis und Filmtheorie ereignet.

27 Vortrag Latours vom 9. Februar 2010 anlässlich der Annahme des Kulturpreises der Münchener Universitätsgesellschaft. (Latour 2010 [CM])

2. Unheimlich heimisch: Das Haneke-Phantom und seine geopolitischen Transgressionen

„Sofern wir nicht fähig sind, unsere Teilnehmer/Beobachter-Studien soweit zu treiben, dass wir in der Lage sind, Fragen, die außerhalb des Laboratoriums entstehen, nachzugehen, riskieren wir, in eine sogenannte ‚internalistische‘ Sicht der Wissenschaft zurückzufallen.“ (Latour 2006 [LAB]: 103)

Der von Latour im Bereich seiner Wissenschaftsforschungen etablierte Begriff des Laboratoriums, den er aus einem „streng“ naturwissenschaftlichen Kontext entwendet, um ihn sehr allgemein für den Großbereich der Wissenschaft in ihrer Funktionalität und Prozesshaftigkeit zu verwenden, steht sinnbildlich für eine Produktionsstätte von Fakten, die es stets auch zu verlassen gilt, um den jeweils betrachteten Gegenstand als Quasi-Objekt konzipierbar und fassbar werden zu lassen. Eine Selbstverständlichkeit, möchte man meinen und doch lohnt es, angesichts der traditionell selbstreferenziell sich organisierenden Körperschaft wissenschaftlicher Gemeinschaften bisweilen darauf zu verweisen. Um die Interaktion von Innen („Wissenschaftler innerhalb der Mauern“) und Außen zu gewährleisten bzw. um überhaupt aus dem Labor heraustreten und den Fall „Haneke“ beschreiben zu können, bedarf es zunächst eines Blicks hinein. Der Preisregen auf Das Weiße Band (2009) hat die Beschäftigung mit dem Regisseur Michael Haneke und seinen Filmen beachtlich florieren lassen – insbesondere für den Editionsraum der USA lässt sich ab diesem Zeitpunkt eine explosionsartige Zunahme an Publikationen verzeichnen. Für diese Publikationen in Kombination mit den im Laufe der gesamten Filmkarriere Hanekes eher punktuell erfolgten bzw. auf einzelne Filme bezogenen wissenschaftlichen Stellungnahmen lässt sich festhalten, dass sie – was die jeweiligen Zugänge anbelangt – einen Großbereich der Beschäftigung mit Kino und Film in ihren unterschiedlichsten Paradigmen, Schulen und Ansätzen abdecken. Die öffentliche Sichtbarkeit hat Haneke zur Projektionsfläche der unterschiedlichsten „scientific communities“ werden lassen; „Hanekes Kino“ hat disziplinübergreifend als Herausforderung gedient. Kaleidoskopisch angeführt reichen die „auf Haneke angewendeten“ Matrizen – beginnend bei der Theologie – von der Psychoanalyse, über feministische Theorien, Narrativitätstheorien und Konzepte von „Intermedialität“ bis hin zu einer weitgehend erschöpfenden Aufarbeitung „mit Adorno“ und seinen Thesen zur Kulturindustrie (Adorno 1963, 1969). Geht man von diesem demiurgischen Wert aus, der „Hanekes Kino“ im Rahmen der Legitimations-

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prozesse von (Kultur-)Wissenschaft zukommt, von „Hanekes Kino“ als Werkzeug also, das dazu dient, wieder andere Instrumentarien, Strukturkonzeptionen und Theorien auf ihre Anwendbarkeit und Produktivität hin zu prüfen, so ergeben sich hinsichtlich der jeweiligen Resultate unterschiedliche Probleme: Der auf Universalität ausgerichtete Inhalt der Filme ist nur einer der Aspekte, die die Konfrontation mit den Grenzen der jeweiligen Disziplin exponieren. Deutlich wird dieses Phänomen etwa im anklingenden Verdacht, der Regisseur hätte einen Großteil der theoretischen Arbeit schon vorweggenommen. Was für die Psychoanalyse gilt, die Michael Hanekes Figuren angeblich „gekonnt auf sich selbst an[wenden], ohne damit dem Grund ihrer Gewalttätigkeit wirklich näher zu kommen“, nämlich, dass sie „als Erklärungsschema ausgedient“ (Naqvi 2010: 17) hat, kann für ein sehr breit gefächertes Annäherungs- und Anwendungsrepertoire Gültigkeit beanspruchen. „Haneke“ führt dabei insbesondere jene Untersuchungsfälle ad absurdum, denen eine ideologische Programmatik zugrunde liegt: Einmal dadurch, dass Michael Haneke zumeist im Rahmen der bzw. mit den Medien und Entwicklungen gearbeitet hat, gegen die er als instrumentalisiertes Phänomen ausgespielt wird oder werden sollte (etwa: „das Fernsehen“). Zu sehr liegt dann ein erhebliches Maß des zu deutenden Potentials auch in den Bildern, der Kamera etc. selbst – in diesen technologischen Dispositiven in ihrer vitalisierten Akteureigenschaft, die, wie die „Oberflächenkonstruktionen“ der Filme1, „unsere Sehnsucht nach Hintergrund und Hintergründen leer ausgehen lässt“ (Naqvi 2010: 7). Die den Verweigerern einer sinnsuchenden Annäherung zuzuschreibende Qualifizierung Michael Hanekes als „kühler, pedantischer Formalist“2 liegt angesichts der Ent-Täuschungen, die der „Anti-Illusionist“ (André 2011: 28) Haneke zumute, nicht allzu fern. Einer der in unserem Zusammenhang bemerkenswerten filmbezogenen Beiträge ist schließlich Davide Zordan zuzuschreiben, der „Hanekes Konstruktion des filmischen Raums“ alternierend mit Latours Laborreflexionen montiert und dezidiert von „Hanekes Kino-Labor“ spricht: „Man hat tatsächlich manchmal den Eindruck, dass Haneke extreme, schwer aushaltbare Situationen konstruiert, ohne ihren Ausgang im Voraus festzulegen, als wolle er ‚einfach sehen, was wohl passieren wird‘. Dabei handelt es sich offensichtlich um einen falschen Eindruck, der mit der Präzision seiner filmischen Handschrift inkompatibel ist, aber trotzdem, wie wir gesehen habben [sic!], von verschiedenen Elementen des [sic!] mise-en-scène genährt wird, so dass es gerechtfertigt ist, die Konstruktion des ‚filmischen Raums‘ bei Haneke analog zu dem geschlossenen und kontrollierten Raum eines Labors zu betrachten – nicht so sehr als einen für die Handlung vorbereiteten Raum (ein solcher ist das Theater), denn als einen Raum, der aus der Konstruktion durch die filmische Sprache und Expressivität entsteht.“ (Zordan 2008: 149150)

Dieses „Kino-Labor“ Hanekes wird (wie auch das Haneke-Labor und seine Konstruktionen im wissenschaftlichen Rahmen) zu verlassen sein, um nicht der besagten „internalistischen Sicht der Wissenschaft“ zu verfallen, die es zu umgehen gilt. Vor diesem Hintergrund möchte ich der kompositionistischen Beschreibung des Falls 1 2

Zu den Oberflächen in Hanekes Filmwerk vgl. Naqvi 2010: 7. Holden, Stephen. „Film Review: Kinky and Cruel Goings-On in the Conservatory“. In: New York Times, 29.03.2002.

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„Haneke“ im Rahmen der Auslotung der Konstitutionsprozesse eines „nationalen“ (Autoren-)Kinos zunächst zwei Initialszenarien voranstellen. Das erste Szenario bildet den Versuch, das Phänomen „Haneke“ zunächst in seiner „internalistischen“ Perspektive zu fassen, d.h. ausgehend von seinen vermeintlich „streng wissenschaftlichen“ Einschätzungen. Der Bericht betrifft dabei das Phänomen in seinen Anfängen als Objekt akademischer Betrachtung, aus der das Konstrukt „nationales“ (Autoren-)Kino weitgehend als Evidenz hervorgeht. Der zum gegebenen Zeitpunkt thematisch noch relativ homogene Bestand an Forschungsberichten und -material zu Haneke hat zunächst einen bemerkenswerten disziplinären Schwerpunkt, der zum Großteil im Interessensbereich der Theologie liegt. Ganz im Zeichen der ANT, die ihre Kräfte aus den Gepflogenheiten der Science Studies bezieht, wird die einsetzende Beschäftigung mit dem Regisseur Haneke zunächst vor dem laboratorischen Hintergrund der Verschränkung von Film und Theologie betrachtet. Die als Publikation vorliegende Initialproduktion von Fakten zu Haneke verweist bereits auf ein diskursprägendes Anti-Programm bzw. einen anti-programmatischen Handlungsstrang: einer der forschenden Akteure, Jörg Metelmann, stellt die bis dahin üblicherweise mit „Hanekes Kino“ in Relation stehenden rezeptionstheoretischen Ansätze infrage. Ihm folgend gelangt man schließlich zu Konzepten der Interaktivität und innovativeren Formen der Auseinandersetzung mit Medien, die im Anschluss erprobt werden. Das zweite Szenario beschäftigt sich konkret mit einer Kinoproduktion Michael Hanekes, wobei – ganz im Zeichen des ANT-geleiteten Relativismus – die Herausforderung nun darin besteht, dass der zur Debatte stehende Film zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht produziert ist. In Relation zum konnotativ äußerst ausladenden Arbeitstitel Amour formieren sich bereits vor Produktionsbeginn diskursive Formationen und Materialien, die nicht nur eine national-legitimierte Evidenz fraglich erscheinen lassen, sondern gleichzeitig auch Sensibilität für die konzeptuelle Annahme von Kino als Quasi-Objekt schaffen: Die Stabilisierung und diskursive Aktualisierung des instituierten Objekts „nationales (Autoren-)Kino“ erfolgt hier in einem Stadium, in dem auf das noch ausstehende Filmprodukt als ästhetisches Angebot noch keine Bezugnahme erfolgen kann. Die dem Filmprodukt vorgängigen Interaktionen rund um den Film, die Versammlung von Akteuren in ihrer Bestimmung unter den Prämissen ihrer gleichzeitigen Unbestimmtheit (keiner der Darsteller etwa ist bislang unter dem Arbeitstitel Amour über die Leinwand spaziert) wird dabei in das theoretische Mosaik der kulturtechnischen und wirtschaftlichen Bedingungen einführen, in dessen Rahmen Kino als Quasi-Objekt im Anschluss verhandelt werden soll. Das zweite Szenario nimmt seinen Ausgang also von dort, wo sich ein vermeintlich „österreichisches“ Autorenkino formiert; es gibt in Form eines „Exilberichts“ Einblick in die Produktionsbedingungen des „österreichischen Films“ und führt zu Schauplätzen und Orten, die durch neue Technologien und Kommunikationsstrukturen unterschiedlichen Spielarten der Transgression ausgesetzt sind. „Hype“ und „Event“ können dabei als zentrale Modi identifiziert werden, unter denen sich Formen des „nationalen“ (Autoren-)Kinos versammeln lassen.

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64. E INE FUNDAMENTALTHEOLOGISCHE E NTDECKUNG : D ER „Ö STERREICHER H ANEKE “, DIE VERDAMMTE K ONSUMGESELLSCHAFT UND „ NATIONALES (A UTOREN -)K INO “ ALS E VIDENZ Von Göttern und Ahnen ist bisweilen die Rede, wenn sich der ANT-Forscher auf Expedition bzw. auf Mission der Suche nach den Verfertigungsprozessen wissenschaftlicher Faktizität begibt. Es ist bemerkenswert und gewissermaßen ein einstiegserleichternder Glücksfall, dass der Forschungskomplex „Hanekes Kino“ dem Akteur-Netzwerk-Theoretiker in dieser Hinsicht durchaus entgegenkommt, verweist doch die frühe Phase dieses Komplexes als Objekt akademischer Betrachtung auf eine Verankerung in theologischen Gefilden. Eine der ersten groß angelegten Auseinandersetzungen mit „Haneke“ entstammt nämlich dem disziplinären Fachbereich der Theologie. An dieser Stelle ließe sich Gott danken, das heißt: Gott und anderen Kräften, materieller Verfasstheit freilich. Gott insofern, als das laut eigenen Angaben mit der Aufgabe, „den Dialog zwischen Universität und Gesellschaft mitzutragen“ bedachte Institut für Fundamentaltheologie der Universität Graz im Jahr 2008 eine besorgte Haltung einnimmt: Im Rahmen des zu diesem Zeitpunkt seit 15 Jahren bestehenden Projekts „Film und Theologie“ sei man vor Ort institutionsgemäß durch die „Erfahrung motiviert, dass die Luft in der geistigen Auseinandersetzung um Grundwerte und Zielperspektiven unseres Miteinanderlebens dünn geworden ist“. Schließlich sei eine „Megakonstellation von High Tech, Big Business und Medien […] dabei, die Weltzivilisation mit einer Ästhetik des Marktes zu überziehen“. Die Sorge der Theologen besteht nun umfassender ausformuliert darin, „dass die Konsumgesellschaft möglicherweise von einer gigantischen Unterhaltungs- und Vernebelungsindustrie mit entsprechenden Interessen bewegt“ würde und „dass kaum jemand dagegen Widerstand zu leisten“ wage. Eine Begebenheit, die, so die Vertreter des Instituts für Fundamentaltheologie, letztlich auch „Konsequenzen für ethisches und politisches Verhalten sowie für die Überzeugungskraft des christlichen Glaubens“ habe (Wessely; Grabner; Larcher 2008: 7). Der aus diesem Grund für notwendig befundene Widerstand erfährt so im selben Jahr seine materielle Realisierung, es erscheint ein Sammelband, in dem sich die vom Kreis der Theologen mobilisierten AutorInnen unterschiedlichster fachlicher Ausrichtung mit dem Regisseur Michael Haneke und seinem Werk auseinandersetzen. „Gewalt“ und „Gefühlskälte“ lauten die diskursbestimmenden Schlagwörter, die stets relational – und durch aus Interviews abgeleitete Motivationen des Regisseurs argumentativ gestützt – zur „(post-)modernen Gesellschaft“ positioniert werden. Die Fahrtrichtung des Konvoluts ist damit definiert, in einem Vorwort, das sich bezeichnenderweise auf eine Internetquelle (!) bezieht. Zitiert wird Feuilletonist Thomas Assheuer, der in der Online-Ausgabe der deutschen Wochenzeitung Die Zeit zu Michael Haneke festhält, dass dieser beweisen wolle, „[…] dass die Kälte nicht mit dem repressiven Bürgertum untergegangen ist, sondern sich im postmodernen Subjekt fortsetzt, in den aufgeklärten Verhältnissen und kulturell aufgeschlossenen Milieus, die ihre Klavierabende mit Lachsschnittchen und Adorno-Zitaten garnieren, na-

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turgemäß tolerant, dem Geist ergeben und gern auch dem Geld.“ (Assheuer/Wessely; Grabner; Larcher 2008: 7)

Christian Wessely, Gerhard Larcher und Franz Grabner (letzterer bekannt als Sendeverantwortlicher der vom Österreichischen Rundfunk [ORF] produzierten, streitbaren Reihe kreuz+quer) unterschreiben im Jänner 2008 das Vorwort zum Band Michael Haneke und seine Filme: Eine Pathologie der Konsumgesellschaft (Wessely; Grabner; Larcher 2008), der ob der Relevanz der Filme Hanekes – es sei beinahe unmöglich, sich von ihnen nicht herausgefordert oder provoziert zu fühlen –, seine zweite Auflage erlebt. Nun ist dieser von den Herausgebern dezidiert missionarisch, in seinem transdisziplinär angelegten Inhalt jedoch deutlich heterogener ausbuchstabierte Sammelband zu Michael Haneke, in dem die Filme, der Regisseur und seine (tatsächlichen und vermeintlichen) Intentionen aus unterschiedlichen fachdisziplinären Perspektiven verhandelt werden, zum gegebenen Zeitpunkt gemeinsam mit nur einem Vorläufer der einzige im deutschsprachigen Raum erschienene seiner Gattung.3 Der Einband dieser zweiten Auflage ist mit einer qualitativen Einschätzung der Salzburger Woche garniert, die – auch quantitativ durchaus treffend – festhält: „Es gibt derzeit kein kompetenteres Werk zu Hanekes Filmen!“. Ein erster Impuls im Bemühen um die Auslotung der Beziehung von Theologie und Ästhetik, als deren Exempel man sich des Filmwerks des „Österreichers Michael Haneke“ bedient, der Vorläufer nämlich, erscheint weit früher (1996) unter dem Titel Utopie und Fragment: Michael Hanekes Filmwerk (Grabner; Larcher; Wessely 1996). Gerhard Larcher darin zum Programm: „In den Beiträgen dieses Symposiumsbandes geht es um den zeitgenössischen Film als ästhetische Suchbewegung. Wenn Theologen sich auf dieses Feld begeben und zu Annäherungsversuchen einladen, entspringt dies nicht irgendeiner zufälligen Mode ihres Faches, das eben jetzt Ästhetik als aktuelle Spielwiese entdeckt, sondern der grundsätzlichen Vermutung, daß den Künsten in der Gegenwart nicht so sehr eine zerstreuende oder gar analgetische Funktion, sondern so etwas wie ein ‚utopisches Potential‘ bzw. eine ‚prophetische Qualität‘ und damit moralische Autorität für geistige Orientierung zukommen könnte.“ (Larcher 1996: 19)

Die beiden vorzugsweise an moralische Fragen anknüpfenden Bände präsentieren sich als eine mit wissenschaftlicher Patina versehene Bestandsaufnahme einer – durch Hanekes Filme dokumentierten – omnipräsenten Grausamkeit, innerhalb der die diversesten Formen des Angerührt- und Abgestoßenseins narrativ-semantisch dekliniert werden, um schließlich, je nach Ermessen der jeweiligen Verfasser, in Lobrede oder Protest aufzugehen. Mit seinem Artikel „Wie viel Haneke erträgt der Mensch? – Pamphlet gegen das Kino des philosophisch-cineastischen Sadismus“, liefert Charles Martig, der zu „Lesarten gegen die wohlwollende Deutung von Hanekes Filmwerk“ (Martig 2008: 391) anregt, ein delikates Exempel. Für den ersten Theologie-Band in seinen Grundzügen lässt sich festhalten, dass der „Österreicher“ Haneke (dessen vortreffliche Leistung darin bestehe, den „verblö3

Es ist, was die „Haneke“-Publikationen zu diesem – noch vor dem Erfolg von Das Weiße Band gelegenen – Zeitpunkt angeht, vergleichsweise noch ruhig in den akademischen Reihen. Vgl. Bibliografie.

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dende[n] Unterhaltungsimperialismus seiner eigenen Unsinnigkeit und Lügenhaftigkeit“ [Larcher 1996: 31] zu überführen) als Vertreter eines nationalen Kulturguts positioniert wird, um schließlich einer „Megamaschine Weltzivilisation“ (Larcher 1996: 29) gegenübergestellt und (in einer zum Teil für moralapostolisch befundenen Funktion) gegen sie ausgespielt zu werden. Die parteiische Gegenüberstellung betrifft dabei stets auch den Modus der binären Positionierung eines autonomen Autorenwerks gegenüber einem „Mainstream-Kino“, der Artikulation schlechthin des „verblödenden Unterhaltungsimperialismus“. In dieser Rezeption und Diskussion des Mediums Film perpetuiert sich in Fragmenten eine historisch begründete Abwehrhaltung, die die fundamentaltheologischen Abhandlungen des Mediums von der frühen Phase des Films, von seinem Auftreten an bis in die Gegenwart hinein durchzieht. Die Geschichte von Kino und Film als theologische Geschichte, d.h. als Geschichte kirchlich-christlicher Konzeptionen des Medialen, lässt sich im Groben als Geschichte der Statik und des Skeptizismus gegenüber den jeweils neuen technologischen Entwicklungen beschreiben. Stärker als andernorts korrelieren in diesem wissenschaftlichen Rahmen Fragen des Medialen mit Fragen nach Erziehung und Moral, stärker aus diesem Grund auch verlaufen hier die Auseinandersetzungen mit Film als Kunstform zuweilen noch in medienkomparatistischer Betrachtung – es scheint, als hätten sich die von Anton Kaes versammelten Motive der Kinodebatte 1909-1929 (Kaes 1978) in diesem Umfeld am hartnäckigsten und längsten behaupten können. Das Spannungsverhältnis zwischen Kirche bzw. christlichen Glaubensbewegungen und der sog. „Unterhaltungskultur“ hat, historisch betrachtet, seine narrativen Leitmotive, darunter – sehr prominent – die auch im Haneke-Band als Movens angeführte und als Trumpf ausgespielte Sorge um die „Grundwerte und Zielperspektiven unseres Miteinanderlebens“ (Wessely; Grabner; Larcher 2008: 7): Mit ihrer Bekundung setzt sich indirekt fort, was Papst Pius XI. bereits 1936 in seiner Filmenzyklika „Vigilanti Cura“ beklagt: „Nun ist es gewiß und durch allgemeine Erfahrung bestätigt, daß die Fortschritte der Filmkunst und -industrie, je erstaunlicher sie sich entfaltet hatten, um so verderblicher und verhängnisvoller für die Moral und für die Religion wurden, ja für die ganze sittliche Haltung des bürgerlichen Zusammenlebens.“4

Eine querschnittartige Auswahl theologisch-filmtheoretischer Stellungnahmen des vergangenen Jahrhunderts verweist auf die Betrachtung von Film als „wirkmächtigstes Massenunterhaltungs- und -belehrungsmittel“ (Engelhardt 1958: 3) und auf seine Entwicklung zu einer „wirtschaftlichen und geistigen Großmacht […], die sich über die gesamte Welt ausdehnt“ (Glorius; Haller 1960: 5). Kino wird dabei als technisches Dispositiv mit entsprechender „Eindrucksmacht“ (Willeke 1946: 27) positioniert, deren Wirkung als Außerkraftsetzen der natürlichen Wahrnehmung des Menschen erklärt wird. Zur Erläuterung dieses Prozesses macht das theologische Laboratorium nicht davor halt, die institutionellen Instruktionen, in diesem Fall des Papstes, wiederzugeben, der den Sachverhalt 1936 wie folgt interpretiert: „Die Lichtbilder des Filmstreifens werden ja dem Volke vorgeführt, während es in einem 4

http://www.vatican.va/holy_father/pius_xi/encyclicals/documents/hf_p-xi_enc_29061936_ vigilanti-cura_ge.html [11.08.2011]

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dunklen Theater sitzt und während seine geistigen Fähigkeiten herabgesetzt sind.“ (Willeke 1946: 27) Filmgeschichts(re)konstruktion in theologischem Rahmen nimmt notgedrungen wertende Dimensionen an, sie ist durchsetzt von der Verbreitung der Konzeption des Menschen in einer Opferrolle (als Gefangener eines Genussmittels gewissermaßen). Dass weniger der Mensch das von Seiten der Kirche zu befürchtende Opfer ist als vielmehr die eigene Macht selbst – einer Kirche und Glaubensgemeinschaft nämlich, die nicht lange darauf gewartet hat, sich die Vorteile des Mediums und seiner Breitenwirksamkeit zu eigen zu machen –, ist eine Hypothese, die sich historisch stützen lässt. Die Umkehrung der medialen Wirkungskräfte „von oben“ proklamiert sich 1957 in der Enzyklika „Miranda prorsus“, in der sich Papst Pius XII. zum kirchlichen Umgang mit den „neuen“ Medien(technologien) äußert: „Häufig machen Wir selbst von diesen neuzeitlichen und wundervollen Mitteln Gebrauch, um durch sie leichter die ganze Herde mit dem obersten Hirten zu verbinden. So kann Unsere Stimme verläßlich und sicher über Erde und Meer dringen und über die Wogen menschlicher Meinungen hinweg die Menschenherzen erreichen und heilsam beeinflussen, wie es das Uns anvertraute und heute gleichsam ins Unermeßliche erweiterte höchste Apostolische Amt von Uns verlangt.“ (Pius XII./Brüne 1960: 616)

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass es von Seiten des Papstes Richtlinien und Anweisungen für den Umgang mit Medien gibt und dass Handbücher katholischer Filmkritik Auskunft über die Konsumierbarkeit von Filmmaterial geben bzw. zahlreiche Filmbewertungsstellen und Kommissionen den theologischen Film(forschungs)alltag begleiten. Was sich für die theologisch-geleitete Produktion von Fakten daher feststellen lässt, ist ihre mitunter sehr offensichtliche Verschränkung mit einem Gehorsam und seinen Spielarten, der sich etwa im missionarischen Bestreben einer vielfältig definierten Schadensabwehr bekundet. Mit dieser Entwicklung geht schließlich auch die Voraussetzung eines Kunstbegriffs einher, der einem l’art-pour-l’art-Anspruch tendenziell eher abgeneigt ist. Künstlerische Hochwertigkeit misst sich notgedrungen an der Konformität mit den entsprechenden moralischen Grundsätzen, schließlich habe Kunst, zumindest spätestens seit der Verlautbarung Pius XII., eine offizielle Bestimmung: „Es hat eben die Kunst die wesentliche Aufgabe, die aus ihrem eigenen Daseinsgrund schon hervorgeht, daß sie nämlich eine Vervollkommnung des Menschen darstellt, der ein moralisches Wesen ist, daß sie infolgedessen selber moralisch sein muss.“5 Der von Zordan ersonnenen Konstruktion „Hanekes Kino-Labor“ entspricht auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung, die der Pathologie-Sammelband pflegt. Er ist in seiner experimentellen Geschlossenheit zwar aufschlussreich, keineswegs jedoch ausreichend, um ein Quasi-Objekt Kino zu erfassen. Die Beiträge bleiben stets dem Inhalt und der Form der Filme verhaftet, um aus den Filmprodukten heraus Mechanismen und Tendenzen von Gesellschaft zu erklären. Die unter dem eingangs angeführten missionarischen Aspekt versammelten, allenfalls als Rezeptionsforschung kategorisierbaren Verfahren, die von emotionalen Irritationserfahrungen ihren 5

http://www.vatican.va/holy_father/pius_xi/encyclicals/documents/hf_p-xi_enc_29061936_ vigilanti-cura_ge.html [02.06.2011]

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Ausgang nehmen, um zu kognitiven Strategien der Sorte „Lernen aus leidvollen Erfahrungen“ anzuregen, gehorchen quasi-objektiv betrachtet der Funktionslogik eines äußerst mangelhaften Binarismus: Der zur Selbständigkeit vergewaltigte Sehende (Wessely; Grabner; Larcher 2008: 8), der Rezipient also, der dem Prototyp des in diesem Band sich artikulierenden Wissenschaftlers weitgehend entspricht, bleibt wenn auch Gewalt mitproduzierend so doch stets Rezipient, seine Selbständigkeit auf die eines „Voyeurs“ (Metelmann 2008: 122) reduziert und der proklamierte Widerstand somit fragwürdig: letzterer ist viel eher die narrative Reproduktion eines sehr homogen gesetzten, oppositionellen Mensch-Technik-Modells, dessen realisateur par excellence eben Haneke sei, was unter akribischem Rückgriff auf Adorno gerechtfertigt wird. – Ein Rekurs, den Haneke selbst anstellt, wodurch er wiederum durch strategische Selbstpositionierung seinen Status als Autor festigt.6 Mit der Identifizierung der Filme Hanekes als eine „Pathologie der Konsumgesellschaft“ und der simultanen Geste des Verdammens dieser Konsumgesellschaft in ihrer Unausweichlichkeit, artikuliert sich eine Superiorität des Sich-Nicht-als-TeilBegreifens bzw. -Begreifen-Wollens, die Hand in Hand geht mit der logischen Konsequenz einer Konzeption von Kino, die eine Trennung von „Trivialfilm“, „kommerziellem Kino“ und „Kunstfilm“ (Larcher 1996: 29) voraussetzt und propagiert. Ein etwa über „Brüche im Vergleich mit dem herkömmlichen Erzählkino“ (Rebhandl 1996: 134) definierter Kunstgehalt wird traditionell zur Abgrenzung gegenüber sog. „kommerziellen“ Formen nutzbar gemacht, das „österreichische“ Werk Michael Hanekes als antithetisch zur hollywoodschen Traumfabrikation gelesen: „Er [Michael Haneke; K.M.] gaukelt keine trügerische Erfüllung vor und läßt stattdessen seine Figuren in ihrer Erlösungsbedürftigkeit stehen“ (Jokesch 1996: 166), wie Alfred Jokesch, der in seinem Beitrag „… und wer ist schuld“ nach der Provenienz „des Bösen“ fragt, festhält, um in seiner Schlussfolgerung auf das Potential eines (nach christlicher Maßgabe) als Gegenkraft zu positionierenden Guten zu verweisen. Mit anderen – für diesen Rahmen entscheidenden – Worten lässt sich für die Grazer Theologiebände festhalten, dass eine als „autonom künstlerisch“ (Larcher 1996: 29) geltende Kraft des „Humanums“ (Larcher 1996: 29) gegen ihre zwangsläufige Verschränkung mit den technologischen Dispositiven einer sich globalisierenden Welt, die sie (gleichzeitig jedoch) bedingen, ausgespielt wird. Die durch den Titel des ersten Sammelbandes eingeführte Essenz der Utopie ist in diesem Zusammenhang beispielhaft und nicht zuletzt insofern paradox, als sie – mit einigem Aufwand an argumentativ fragwürdiger Gewalt und gemäß der vorgegebenen theologisch-ethischen Motivationen der Herausgeber – aus dem Grundprinzip des hanekeschen Universums geschält wird: jenem der Ambivalenz nämlich, so man sich diesen interpretativen Exkurs erlauben will, die ihrer Logik nach eine Distinktion der Utopie von der Dystopie bzw. Anti-Utopie nicht zulässt. Um dem Titel des Bandes thematisch gerecht zu werden, wird u.a. das „Konzept des Erhabenen“ bemüht, um „der“ Kunst jene prophetischen und utopischen Potentiale zu attribuieren, die die Herausgeber nach eigenen Angaben in „den politischen Ideologien“ vermissen. (Larcher 1996: 28) „Der“ Film als Einzelmedium wird dabei als „wahre Fundgrube für religiöse 6

Adorno ist hier nur eine jener Figuren, die im kumulativen Prozess der Autoren(selbst)stabilisierung eine (sehr zentrale) Rolle einnehmen. Zur Riege an Autoren und Kunstschaffenden, die mit Haneke in Verbindung gebracht werden vgl. Assheuer 2010.

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Suchbewegungen heute“ anerkannt, respektive der Überzeugung, „daß ihm selbst als Kunstwerk unter den Bedingungen technischer Reproduzierbarkeit eine ,Aura‘ zukommen kann, sofern man bereit ist, seine ästhetischen Chiffrierungen und Spiegelungen religiöser Themen wahrzunehmen“ (Larcher 1996: 28). Was – ungeachtet der missionarischen Tendenzen der Herausgeber – hinsichtlich der für uns relevanten Klassifizierung bzw. Operationalisierung „Hanekes“ auffällt, ist, dass sich das nicht näher definierte, zugleich jedoch konsequent dem hanekeschen Filmwerk beigesteuerte „Nationale“ in Utopie und Fragment (1996), das sich aufgrund des damaligen Status von Hanekes Kinoproduktionen (alle weisen vornehmlich Österreich als Produktionsland auf) zumindest unter geopolitischen Gesichtspunkten argumentativ legitimiert, wacker bis in die zweite Auflage der Pathologie der Konsumgesellschaft (2008) hält; wenngleich im Vorwort, das sich nur geringfügig von jenem der Utopie unterscheidet, nicht mehr vom „bedeutenden österreichischen Filmemacher“ Michael Haneke sondern schlicht von „Michael Haneke“ und dessen Werk die Rede ist. Auch das 1996 angeführte „gigantische Unterhaltungs- und Vernebelungsimperium mit entsprechenden Interessen“ mutiert zur bereits zitierten „gigantische[n] Unterhaltungs- und Vernebelungsindustrie“. Auffällig ist jedenfalls, dass das in beiden Fällen immer wieder aufscheinende „Nationale“ mit einem nicht näher definierten „Prophetischen“ oder „Auratischen“ korreliert und entsprechend vage bleibt. Im Kreuzfeuer der Debatten um Ethik, Moral, Schuld und Sühne erscheint der „Österreicher Michael Haneke“ als weitgehend unreflektierte Selbstverständlichkeit. Der Band bleibt, bis hin zum Erfolg, den Haneke mit Das Weiße Band feiert – neben zahlreichen Zeitungsartikeln und Beiträgen in Filmfachzeitschriften freilich – einer der wenigen dieses Formats. In ihm – so der Grundeindruck, den er hinterlässt – verfestigt sich ein so romantisches wie modernistisches Autorenkonzept, in dessen Rahmen ein lokaler Regisseur gegen globale Entwicklungen ausgespielt wird. Diese Beobachtung betrifft selbstverständlich die allgemeine Tendenz des Bandes. Ausnahmen, wie sich auch zeigt, bestätigen die Regel. Antiprogrammatisch dazu steht nämlich Jörg Metelmanns Beitrag „Die Autonomie, das Tragische: Über die Kehre im Kinowerk von Michael Haneke“ (Metelmann 2008). Metelmann differenziert zwischen unterschiedlichen nationalen Schaffensperioden, spricht von einem „französischen“ und einem „österreichischen“ Haneke, die er, nicht ohne Ironie und in Anführungszeichen einander vergleichend gegenüberstellt. Metelmann führt hier eine Tradition fort, die bereits in seiner ersten umfassenden Haneke-Abhandlung Zur Kritik der Kino Gewalt (Metelmann 2003) anklingt: Er versucht sich in einer Untersuchung der hanekeschen Kino-Ästhetik mit Theorien Bertolt Brechts, um sich letztlich argumentativ gegen die „adornitischen“ Lesarten der diegetischen Mensch-Technik-Verhandlungen zu positionieren. Metelmann bringt einen rezeptionstechnisch entscheidenden Aspekt in die Debatte ein, wenn er in seinem Beitrag zur Pathologie sehr kritisch, jedenfalls antiprogrammatisch festhält: „Das Ideal des rauchend-distanzierten Rezipienten hat sich mittlerweile zum zappendsurfenden Medien-User gewandelt, der abgeklärt die Einflüsse auf sein Gemüt zu- oder abschaltet. Wenn man ihn trotz dieser Distanz noch ‚kriegen‘ und ihn in eine Position der Distanz zweiter Ordnung, der Reflexion auf das Gesehene und der kritischen Beurteilung desselben,

74 ǀ H ANEKE : K EINE B IOGRAFIE bringen bzw. zwingen will, dann muss man tiefer treffen, ihn nachhaltig verstören.“ (Metelmann 2008: 119)

Die Verstörung, so Metelmann, gelingt, und zwar deswegen, weil sich in Hanekes Filmwerk eine „Kehre“ vollzogen habe, eine „kategoriale Änderung der Haltung des Autorenfilmers zum gefilmten Gegenstand wie damit auch des Verhältnisses von Film und Rezipient“ (Metelmann 2008: 113). Diese Wende sei unter inhaltlichästhetischen Gesichtspunkten vor allem daran erkennbar, dass Haneke nicht mehr „gegen die Mainstream-Dramaturgie und die Genre-Narrativa“ inszeniere, „sondern mit ihnen“ (Metelmann 2008: 113). Dieser Begebenheit der komplizenhaften Auseinandersetzung mit diversen Genrekonventionen wird im Verlauf der vorliegen Studie selbstverständlich Aufmerksamkeit zukommen; vorläufig soll der Schwerpunkt jedoch auf Metelmanns rezeptionsbezogener Folgerung liegen und mithin darauf, dass Hanekes von „Kommunikationsproblemen“ gezeichneter diegetischer Konsument bzw. Zuschauer keineswegs mehr dem extradiegetischen, nicht mehr ausschließlich mit massenmedialen Konstellationen konfrontierten Rezipienten entspricht. Die Erweiterung des massenmedialen Dispositivs auf die digitalen Medien (insbesondere auf das Web 2.0) und die damit verbundenen Möglichkeiten modifizieren diesen Rezipienten in seiner Aktivität et vice versa. Wenn wir vor diesem faktischen Hintergrund von einem möglichst gegenwärtigen Status medialer Formationen ausgehen und damit der Frage nach agency von Medien und deren Nutzern nachgehen, so bietet sich insbesondere der Begriff des „Prosumenten“ an, der sich aus diesen Formationen herausgebildet hat. Er ist, wie Erhard Schüttpelz in seinem Beitrag „Prosumentenkultur und Gegewartsanalyse“ (Schüttpelz 2009) betont, ein „Buzzword“ und damit Produkt einer aktuellen Medienentwicklung, die der akademischen Betrachtung vorgängig ist.7 Der Begriff sowie auch das Konzept von „Prosumenten-Kulturen“ (Abresch; Beil; Griesbach; Schüttpelz 2009) erscheinen insofern produktiv, als sie für eine Umverteilung der ehemals mit Massenmedien assoziierten Kategorien von Produktion, Konsumtion und Distribution stehen und nahe legen, medienorientierte Studien künftig bei einem Konzept der Interaktivität anzusetzen, das die interagierenden Akteure nicht im Sinne gegenseitiger Einflussnahme sondern unter Berücksichtigung ihrer (ko-) relationalen Verschränkung in den Blick nimmt. Vor diesem Hintergrund der Interaktivität, der ein Handeln in Verbundsystemen bzw. Agenturen voraussetzt, steht schließlich das etablierte Konzept des Autorenkinos, das der Praxis eines populären Autorenkinos nur unzureichend gerecht wird, 7

Schüttpelz fordert eine Analyse jener Phänomene, die mit dem Begriff des „Prosumenten“ aufgerufen werden, insbesondere im Hinblick auf die durch ihn beschworenen Umverteilungen zwischen den drei Kategorien. Als kritische Herangehensweise legt Schüttpelz eine dezidiert empirische nahe, es gelte, „an den vielen kleinen oder großen empirischen Ungleichungen des Begriffs“ zu arbeiten, die sich in „der großen Wolke des Buzzword“ (dessen kritische und affirmative Anwendung er als untrennbar ansieht) verstecken. Auszuhandeln seien dabei – ausgehend vom Begriff der Interaktivität – die Motivationen der Prosumtion im Spannungsfeld der Verteilung von Handlungsmacht innerhalb des Netzwerks einer digitalen Foren- bzw. Community-Kultur, sowie deren Organisation und Einbettung in Marketingstrukturen der Gegenwart.

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schon dadurch, dass es die vom etablierten Autorenkinokonzept postulierten, sehr fragwürdigen Grenzen des Nichtkommerziellen überschreitet. Unter der eminenten Prämisse einer fortschreitend sich globalisierenden und digitalisierenden Marktwelt ist davon auszugehen, dass es so etwas wie einen „independent film“ au propre sens du terme nicht gibt. Am Zug sind inzwischen Elaborate, die sich in die besagte Nische eines populären Kunstfilms – „popular art film“ (Cook 2010: 25) – einschreiben. Durch die je neuen Formen der Institutionalisierung wäre „Autorenkino“ in vielen Fällen mit „Festivalkino“ angemessener beschrieben. Deutlich ginge aus dieser Beschreibung jedenfalls hervor, dass das diskursive Konstrukt „Hanekes Kino“ als Teil der „Megamaschine Weltzivilisation“ zu begreifen ist, nicht nur als eine vermeintlich autonome Metareflexionsinstanz dieser „Maschine“.

63. „P ROSUMENTENKULTUREN “: E INE L IEBESGESCHICHTE AUS

DEM

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Kino als Quasi-Objekt ist in seiner elastischen Potentialität unbestreitbar mehr als die Essenz der Projektion eines Filmstreifens auf der Leinwand, mehr als seine Endsumme eines im Kopf des Betrachters sich freisetzenden Gedankenbildes, wie es eine Bezugnahme auf den Vortragstitel einer Buchpräsentation zu den Filmen von Michael Haneke vom 30. November 2011 im Wiener Literaturhaus anbietet: „It’s mental“, lautet der Titel, unter dem Fatima Naqvi zu ihrem Band Trügerische Vertrautheit – Filme von Michael Haneke (Naqvi 2011) Stellung nimmt. „Zynisch. Spekulativ. Brutal. Banal. Geistlos.“, so die Adjektive zum Regisseur, mit denen Naqvi im Prozess ihrer Arbeit, wie sie gesteht, von Kollegen und Freunden bedacht wurde und mit denen sie in ihrer gewissenhaften Studie überzeugend aufräumt. Es sind dies, wie sich ergänzend bemerken ließe, Adjektive, die auch problemlos der gemeinen öffentlichen Kritik zu Haneke zugeschrieben werden können. Medias in res: Kino führt von Beginn an eine symbiotische Koexistenz mit „Kritik“. Das unter den Terminus der „cinéphilie“ gefasste, philosophisch gestützte Handlungsprogramm zur Etablierung einer critique du cinéma als Institution generierte und inspirierte ein traditionelles Konzept von Autorschaft, das die kritischakademische Beschäftigung mit Kino bekanntlich – weit über die Grenzen der französischen Traditionen hinaus – nachhaltig geprägt hat. Ein Konzept, das sich mit all seinen Mythen der individuellen Kreation (diskursiv zumindest) zunächst vor allem einem verschließt: der Welt des Kommerziellen. Die Haltbarkeitsdaten eines vom Kommerz gelösten Kunstkinos erscheinen inzwischen überschritten, ein solches Kunstkino existiert jedoch zählebig und das nicht nur als Produkt einer Nostalgie, die der hier vorausgesetzten empirischen Grundlage nicht standhält. „Nationales (Autoren-)Kino“ existiert tatsächlich – wie es der Verlauf seiner komplexen Konstitution anzeigt – und das sehr real in Formen, die seiner Kommerzialisierung vorgängig sind. Dieses mit seinem Produktionsstatus einhergehende – nicht zuletzt durch die Entwicklungen des Internets und seiner Blogkulturen forcierte – Stadium lässt sich anhand des Falls „Haneke“ nachdrücklich exemplifizieren: Der Konstitutionsverlauf eines „nationalen (Autoren-)Kinos“ schließt so auch den Fall ein, dass sich Diskurse, Texte, Blogs, Bilder etc. um einen Film organisieren, der noch gar nicht produziert

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ist. „Nationales (Autoren-)Kino“ ist bereits dort im Entstehen begriffen, wo noch gar kein Streifen vorhanden ist, auf dessen Basis ein Filmprodukt sich diskutieren ließe. Aufführen lässt sich dieser Sachverhalt etwa so: Ein Film entsteht. „Michael Haneke dreht einen neuen Film“, wie das auf Arthouse – Film und Kino spezialisierte Online-Portal kino-zeit.de am 22. Dezember 2010 bekannt gibt. Der Titel – der wenig später offiziell bei imdb.com in pre-production-Status aufscheint (Haneke dreht noch gar nicht, die Dreharbeiten sind für Februar 2011 vorgesehen) – fügt sich ironischerweise ganz formidabel in ein christlich inspiriertes Narrativ, das die Anteile sadistischer Abgründe des menschlichen Zusammenlebens in eine utopische Gegenrichtung verkehren möchte: Amour. „Michael Haneke dreht ‚Amour‘“: „Amour ist Hanekes erster Film seit Das weiße Band, mit dem er die Goldene Palme in Cannes gewinnen könnte. Für die Hauptrollen sind Jean-Louis Trintignant, Isabelle Huppert und Emanuelle Riva vorgesehen. Amour handelt von zwei pensionierten Musiklehrern, Georges (JeanLouis Trintignant) und Anne (Emmanuelle Riva). Ihre Tochter (Isabelle Huppert), eine Musikerin, lebt mit ihrer Familie im Ausland. Eines Tages erleidet Anne einen Schlaganfall. Fortan ist eine Seite ihres Körpers gelähmt. Durch die Krankheit der Mutter kommt die Beziehung zwischen Georges und Anne und ihrer Tochter auf den Prüfstand. Amour wird im nächsten Jahr in Paris gedreht und soll 2012 in den [sic!] Kinos kommen.“8

Was sich gleichzeitig über einen Eintrag auf der Internetplattform Twitter in Gang setzt, ist eine Welle von relativ fundamentlosen Stellungnahmen, schließlich ist noch so gut wie nichts zum Film bekannt. Doch obwohl das Filmprodukt noch nicht entstanden ist, wird es vorab von österreichischen Zeitungen national-historiographisch perspektiviert und kontextualisiert. Einen der ersten Beiträge, die auf Hanekes „neuen“ Film verweisen, liefert die Wiener Zeitung, die, im Jänner 2011, mit einer Kinovorschau 2011 zur „Vielfalt im österreichischen Filmgeschehen“ Stellung bezieht: „Hollywood und Sado-Naturalismus“, so der Titel des Beitrags, der mit den folgenden drei Schlagzeilen ansetzt: „1. Die Marke ‚Austrian Film‘ kann international längst reüssieren. 2. Viele unterschiedliche Filme in Produktion. 3. Michael Haneke dreht ‚Amour‘ mit Isabelle Huppert.“9 Zum Verständnis dieses neuesten Stands des „österreichischen Filmgeschehens“ lohnt es, der Assoziation zunächst einen kurzen, abrissartigen Rückblick auf das dominante Narrativ „österreichischer Filmgeschichte“ voranzustellen. Eine Variante könnte etwa folgendermaßen lauten: Setzt man beim „Österreichischen Film“ der Nachkriegszeit an, so lässt sich dieser zunächst in zwei Phasen unterteilen (Büttner; Dewald 1997). Eine erste Phase betrifft den Heimatfilm: Bis in die 1970er Jahre dominiert ein Kino, das in Kontinuität zu den späteren 1930er und 1940er Jahren steht und als scheinbar unpolitisches Filmschaffen gilt. Im Stil dieses Heimatfilms wird die unmittelbare Vergangenheit verdeckt und eine „heile“ Welt inszeniert; dabei wird an klassische österreichische tourismustaugliche Stereotypen wie etwa Wien als Musikstadt oder die Alpenlandschaft angeknüpft. Eine zweite Phase ließe sich als Kritischer Film qualifizieren: Ab den 1960er Jahren treten Filme auf den Spielplan, die diesen Heimatbegriff kritisch reflektieren, sei es über eine avantgardistische Ästhetik 8 9

http://www.kino-zeit.de/news/michael-haneke-dreht-amour [10.01.2011] Zawia, Alexandra. „Hollywood und Sado-Naturalismus“. In: Wiener Zeitung, 11.01.2011.

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oder eine bewusst politische Strategie wie die Thematisierung des Faschismus. Als diesbezüglich einschneidende Filme können exemplarisch Erich Neubergs Fernsehproduktion Der Herr Karl (1961) (Drehbuch Carl Merz, Helmut Qualtinger) und Franz Novotnys Die Ausgesperrten (1982) (nach Elfriede Jelineks gleichnamigem Roman [1975]) genannt werden. In den 1990er Jahren schließt sich eine dritte Phase an, die bis heute andauert und aus inhaltlicher sowie ästhetischer Perspektive als wesentlich heterogener einzuschätzen ist, gleichzeitig jedoch gewisse „nationale“ Züge der ersten beiden Phasen aufweist (Büttner; Dewald 1997, Schweighofer 1999). Auffallend ist, dass viele der für ein breites Publikum konzipierten Filme im Sinne eines regionalen bzw. nationalen Identitätsdiskurses an schon im Heimatfilm lancierte Themen anknüpfen, dies aber mit einer kritisch-ironischen und oft auch misanthropischen Tendenz verbinden. In diesem Zeitraum entwickelt sich der Kabarettfilm (etwa Paul Harathers Indien [1993] oder Harald Sicheritz’ Hinterholz 8 [1998]) zum österreichweit breit rezipierten Massenprodukt. Gleichzeitig erfährt das sogenannte Autorenkino durch eine junge Generation von FilmemacherInnen einen so vielzitierten wie fragwürdigen Aufschwung, allerdings ohne vergleichbaren Erfolg an den nationalen Kinokassen und ohne grundlegende finanzielle Anerkennung auf nationaler Ebene. Gemein ist beiden Filmtypen, dass ihre Sujets stark auf marginale gesellschaftliche Gruppen und ihre Abgründe fokussieren. In den Jahren von 1999 bis 2009 kommt diesem „Österreichischen Film“ schließlich erhebliche „internationale“ Aufmerksamkeit zu, u.a. in Form von Festivaleinladungen und -auszeichnungen, die – neben Michael Haneke – RegisseurInnen wie Barbara Albert, Nikolaus Geyrhalter, Jessica Hausner, Stefan Ruzowitzky, Hubert Sauper, Ulrich Seidl und Götz Spielmann erhalten. Besonders erwähnenswerte Höhepunkte sind 1999 222 Festivaleinladungen an „österreichische“ Filme, 2005/06 der Filmschwerpunkt „Österreich“ beim Festival de Cannes (Sektion: Tous les cinémas du monde), die Verleihung der Goldenen Plame für Caché (2005) und Das Weiße Band (2009) an Michael Haneke sowie des Auslands-Oscars 2008 für Die Fälscher (2007) an Stefan Ruzowitzky und die Oscar-Nominierung 2009 von Götz Spielmanns Revanche (2008). Die späten 1990er Jahre und das darauffolgende Jahrzehnt werden so von Seiten der österreichischen Filmdokumentation als besonders erfolgreich dargestellt. Die 1999 von der österreichischen Filmkommission gestellte Zielsetzung der „Etablierung eines Medienstandortes Österreich – mit der Stadt Wien als Aushängeschild“ (Schweighofer 1999: 11) scheint erfüllt zu sein. Dies gilt allerdings nicht für die finanzielle Situation der österreichischen FilmemacherInnen, die nach wie vor, verglichen mit anderen Ländern, problematisch ist. Logische Konsequenz der Problematik und entscheidendes Charakteristikum für den genannten Zeitraum ist die deutliche Zunahme an Koproduktionen. So sind viele AutorenfilmemacherInnen zwar im Ausland erfolgreich, erhalten jedoch in Österreich selbst sowohl von Seiten des Publikums als auch von Seiten der Finanzgeber wenig Unterstützung. Es ist paradigmatisch, dass selbst nationale „Aushängeschilder“ wie Haneke und Ruzowitzky ihre Filme nicht „national“ produzieren können; letztlich lässt sich auch etwas zugespitzter formulieren, dass sich hier eine Tradition fortsetzt, die sich mit den vertriebenen Cineasten des habsburgischen Reichs (Fritz Lang, Alexander Korda u.a.) vergleichen ließe. Was das österreichische Kino – gestern wie heute – jedenfalls konnotiert, sind äußerst hybride Produktionshintergründe.

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Dass die Causa „Haneke“ emblematisch für die Tendenz des sog. „Österreichischen Films“ ist, sich aus außerterritorial bezogenen Mitteln zu speisen, zeigt sich bereits vor Eingliederung des noch nicht produzierten Films Amour in das Narrativ des „Neuen Österreichischen Films“. Die erste über Internet retrospektiv nachvollziehbare Nachricht über Hanekes neues Filmprojekt ist mit dem 22. November 2010 datiert und kommt von Seiten des europäischen Kinoportals cineuropa.org – der im Jahr 2002 gegründeten und durch das MEDIA Plus Programm10 geförderten Website zur promotion des Europäischen Kinos. Bezüglich der Finanzgeber hält Fabien Lemercier für das Online-Portal wie folgt fest: „L’Ile-de-France soutient Amour de Michael Haneke : Le prochain film de l’Autrichien Michael Haneke, Palme d’Or à Cannes en 2009 avec Le ruban blanc, figure parmi les 11 projets de longs métrages destinés au cinéma sélectionnés lors de la 4ème session 2010 du Fonds de soutien aux industries techniques cinématographiques et audiovisuelles de la Région Ile-deFrance. La région Ile-de-France aidera à hauteur de 404 000 euros Amour de Michael Haneke, produit par Les Films du Losange pour un budget de 7,29 M €. Interprété par Jean-Louis Trintignant, Isabelle Huppert et Emmanuelle Riva, le film dont le tournage démarrera début février 2011 pour 40 jours sera centré sur Georges et Anne, deux octogénaires cultivés, professeurs de musique à la retraite. Leur fille, également musicienne, vit à l’étranger avec sa famille. Un jour Anne est victime d’une petite attaque cérébrale. Lorsqu’elle sort de l’hôpital et revient chez elle, elle est paralysée d’un côté. L’amour qui unit ce vieux couple va être mis à rude épreuve. Coproduit par France 3 Cinéma, Amour devrait être produit à 90% par la France et à 10% par l’Allemagne.“11

Im Zuge der Publikation des Katalogs des plus+Camerimage – International Film Festival of the Art of Cinematography kommt Thomas Ballhausen, Leiter des Recherchezentrums des Filmarchiv Austria, die Aufgabe einer Rückschau auf das Konstrukt des „Neuen Österreichischen Kinos“ zu, die er unter den Titel „A description of a certain reality. Notes on modern Austrian film“ (Ballhausen 2010) stellt. Unter dem Gesichtspunkt seiner Autoformation einerseits sowie in zeitgeschichtlicher Bezugnahme auf die von Robert von Dassanowsky geprägte Definition des „Neuen österreichischen Films“ (von Dassanowsky 2005) andererseits, setzt Ballhausen seinen Rückblick in den 1990er Jahren mit dem Auftreten einer neuen Generation von Filmemachern an, die den Kabarettfilm in seiner landesweit populären Dominanz ablösen und deren Schaffen zugleich Bedingung der vielzitierten Reife des österreichischen Films auf „internationalem Level“ ist. So hält Ballhausen fest:

10 Als Initiative für eine gemeinsame europäische Medienpolitik ist das MEDIA Plus Programm (Mesures pour Encourager le Développement de l’Industrie Audivisuelle) laut Beschluss des EU-Rates vom 20. Dezember 2000 als Programm zur Förderung von Entwicklung, Vertrieb und Öffentlichkeitsarbeit hinsichtlich europäischer audiovisueller Werke konzipiert. Im Zeitraum von 2001 bis 2006 gültig, liegt das Ziel im Groben auf der Herausbildung von europäischen Kooperationen „zur Beherrschung des europäischen Markts durch vor allem amerikanische Importprogramme“. In: http://europa.eu/legislation_ summaries/audiovisual_and_media/l24224_de.htm [13.01.2011] 11 http://cineuropa.org/newsdetail.aspx?lang=fr&documentID=154401 [13.01.2011]

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„The new representatives of Austrian cinema bring along a new interpretation of the film medium, as well as contexts of its production and presentation, which, in turn, gives birth to a new self-awareness of Austrian film-makers. References to the more ambitious, post-war Austrian productions, as well as the openly international orientation and the desired influence of films, are now much more significant. The more noticeable participation of Austrian films in international film festivals and the reaching of much broader audiences, go hand in hand with equally positive changes, in terms of understanding and evaluating Austrian cinema.“ (Ballhausen 2010: 224)

Ein „Österreichisches Kino“ wie auch sein landläufig zitierter „Aufschwung“ sind als Realität folglich nur in Verflechtung mit der Bastion des Europäischen Kinos im Kontext der Profilierung und Vermarktung seiner kontinentalen Produktion möglich. Darüber hinaus ist dieses „österreichische Kino“ gleichzeitig Produkt einer relativ jungen Aufmerksamkeit, die dem sogenannten „Small European Cinema“ zuteilwird. Dieses „Neue Österreichische Kino“, für das sich – nicht zuletzt aufgrund seiner produktionsbedingten überterritorialen Zerstreuung (stark forcierte Praxis der Koproduktion mit anderen Ländern) – kein bestimmter Stil in thematisch-ästhetischer Hinsicht ausmachen lässt, wird so – wie am Beispiel der Wiener Zeitung exemplarisch veranschaulicht – als Schmelztiegel der Diversität gepriesen. Dies zeigt etwa die Stellungnahme der Austrian Film Commission (AFC), die diese Einheit der Vielfalt österreichischer „(co)production“ – „Coproductions prove that Austrian producers are welcome partners on the European level“ (Schweighofer 2010/11: 4) – in ihrem Jahreskatalog 2010/11 mit Nachdruck als Strategie deklariert: „This catalogue is written proof that diversity is once again the key: Austrian filmmaking comes in all shapes and sizes, from art house to mainstream to experimental; as features, documentaries or next generation shorts; as dramas and thrillers; as comedies and family entertainment. Rotterdam, Berlin, Cannes, Karlovy Vary, Sarajevo, Locarno, Venice, Toronto, Buenos Aires, Pusan, Amsterdam are just some of the major festivals and markets where we had the honor of presenting Austrian films, and where hopefully in 2011 you will again have the opportunity to see new and exciting achievements of Austrian filmmaking.“ (Schweighofer 2010/11: 5)

Gleichzeitig exemplifiziert die hier angeführte Strategie jene Form von Diskurs, die darauf angelegt ist, die bereits angedeutete Ineffizienz der österreichischen Filmförderung zu kaschieren oder diese zumindest zu euphemisieren. In Österreich sind schließlich laut Auskunft des Rechnungshofs exklusive des Österreichischen Rundfunks (ORF) auf Bundes- und Landesebene aktuell 17 Einrichtungen für die Filmförderung zuständig12 – und formen ihrerseits ein Fördersystem, das – laut Bericht des Rechnungshofs – „gravierende Mängel“ aufweist. Die Heterogenität der Finanzgeber bei gleichzeitigem Fehlen einheitlicher Förderrichtlinien (die Förderungsbedin12 Der Bund fördert zum Zeitpunkt des Gutachtens des Rechnungshofes Filme durch drei Einrichtungen, darunter das Österreichische Filminstitut (ÖFI) mit der höchsten Förderungsbeteiligung (23%), das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (BMUKK) mit einer Beteiligung von 12% und der Österreichische Rundfunk (ORF), der im Rahmen des Film/Fernseh-Abkommens 14% beisteuert.

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gungen und -beträge der verschiedenen Einrichtungen divergieren) sowie der Mangel an Kooperation unter den einzelnen Einrichtungen sind die zentralen Kritikpunkte des rezentesten Prüfungsberichts des Rechnungshofs13. Die politische Praxis des Staatsapparats hinsichtlich des Ausbaus einer österreichischen Filmnation hat ihre nur schwer zu leugnenden Defekte und die kinematographische Landschaft präsentiere sich weitgehend intransparent. Kritisiert der Rechnungshof die dürftige Aussagekraft diverser Filmwirtschaftsberichte, insbesondere die des Österreichischen Filminstituts (ÖFI), so bemängelt letzteres seinerseits die Tatsache, dass – trotz Ziel einer Optimierung der jährlichen Berichtlegung – „die Datenlage in Österreich in vielen Bereichen nach wie vor dürftig ist: So werden etwa keine Strukturdaten zu den Besuchen erhoben und im Bereich der Sekundärverwertung durch Bildträger (DVD, VHS) beruhen die Daten weitestgehend auf Hochrechnungen und Schätzungen.“14 Ungeachtet der Fragwürdigkeit des „Erfolgs“ des diskursiven Konstrukts „Neues Österreichisches Kino“, zeigt sich hier schließlich, dass der wirtschaftliche Erfolg eines „nationalen“ Kinos – intra- wie extradiegetisch konzipiert – weitgehend von den Parametern seiner territorialen Transgression abhängt; sich mit anderen Worten an seinem internationalen Wert misst. Müßig zu betonen, dass sich die Potentiale der territorialen Transgression mit den Dispositiven der „neuen“ Medien vervielfachen – neue Technologien bedingen kulturelle Formationen, die wiederum Auswirkungen auf den Status des sogenannten Autoren- bzw. Kunstkinos haben. Das Paradox des nämlichen besteht nun – entgegen den Parametern seiner traditionellen Bestimmung – darin, dass es in einem Prozess der fortschreitenden Popularisierung begriffen ist, die es in seinen Eigenschaften modifiziert. „The changes that laid the foundations of this vivid diversity may be presented (at least generally) in the following way: improving conditions of production; joining national initiatives with international cooperation; further reinforcing of the position of documentary films; […] permanent participation in festivals and development of institutions that collect and popularize film production.“ (Ballhausen 2010: 224)

Die Verschränkung der nach traditionellen film- und kinowissenschaftlichen Mustern als oppositionell angeordneten, vor diesem Hintergrund jedoch nicht mehr als trennbar zu begreifenden antithetischen Komplexe der Diversität einerseits und der Popularisierung andererseits, ist einer gezielteren Betrachtung zu unterziehen. Gesetzt, dass das Konzept des Autorenkinos unter diesen Voraussetzungen in seinen traditionellen Konzeptionen nur bedingt haltbar ist, lohnt es schließlich, bei Konzepten der Interaktivität anzusetzen. Hat sich der Mythos vom Kino des kreativen Genies zwar längst und landläufig auf ein Kino als kollektive, mit der benötigten technologischen Maschinerie ausgestatteten Produktion verlagert, so soll es hier schließlich in ein Experiment weiterer Ausdehnung integriert werden, um es als Objekt der Interaktion verschiedener Körperschaften in und von Netzwerken begreiflich zu machen.

13 Bericht des Rechnungshofs, Reihe Bund 2011/2, Vorlage vom 10. Februar 2011. http://www.rechnungshof.gv.at/fileadmin/downloads/2011/berichte/berichte_bund/Bund_2 011_02.pdf [09.08.2011] 14 http://filmwirtschaftsbericht.filminstitut.at/07/facts-07/ [01.09.2011]

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Es ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass sich das Konzept der Interaktivität als leitender Gedanke medienwissenschaftlichen Interesses inzwischen erfolgreich im Rahmen der rezenteren Film- und Kinostudien etabliert hat. Im Jahr 1996 – etwa 100 Jahre nach Erfindung des Kinos – initiiert die Amsterdam Univerity Press eine Publikationsreihe mit dem Titel Film Culture in Transition, die darauf abzielt, Film und Kino in den Kontext einer Debatte über neue Technologien und deren Potential von Mitgestaltung an kulturellen Formationen zu stellen. Es zeigt sich hierin ein Modus der Verhandlung, der die neuen, nicht mehr ausschließlich auf massenmediale Konstellationen konzentrierbaren Technologien in Relation zu kinematographischer Produktion setzt und davon ausgeht, dass diese „das“ Kino in seiner Konzeption als Einzelmedium bzw. in seinen Praxen unter veränderte Rahmenbedingungen stellt. Wie tiefgreifend die Wirkungen des technologischen Fortschritts auf die Kulturtechnik Kino letztlich sind, zeigen etwa Marijke de Valcks und Malte Hageners Reflexionen zu einer in den letzten Jahren wieder florierenden Praxis der cinéphilie. Ihr Band Cinephilia: Movies, Love and Memory (De Valck; Hagener 2005) greift den Mythos der Kinoliebe in ihrer „postmodernen“ (a-modernen?) Zerstreuung neu auf und nimmt den Cinephilen in seiner Verstrickung mit den neuen Technologien in den Blick: „the film lover of today embraces and uses new technology while also nostalgically remembering and caring for outdated media formats“, so der Verweis auf dem Einband. Cinephilie wird hier zum einen ontologisch erfasst, im Sinne einer romantischen Existenzgrundlage von Kino; zum anderen als ideologische Konzeptvorgabe, die sich bestimmten und ständig sich verändernden technologischen Bedingungen anzupassen hat, um zu reüssieren. Dass cinéphilie im Zeitalter der sog. neuen Medien einer Rekonzeptualisierung bedarf, liegt folglich in der prozessualen Vorgabe selbst: Die Transformation des im Rahmen einer von dogmatischen Praktiken und Diskursen geleiteten politique des auteurs entstandenen Konzepts einer archetypischen cinéphilie (als elitärer Modus der Filmrezeption) verlangt offenbar nach einer Konzeptualisierung, die seinen Fortbestand im Rahmen einer „Prosumentenkultur“ gewährleisten muss. De Valcks und Hageners Versuch besteht nun darin, dem klassischen Konzept der cinéphilie ein zeitgenössisches gegenüberzustellen, das vor allem insofern mit dem gängigen bricht, als seine Formation immer weniger auf die Rückbindung an das Institutionelle angewiesen ist: „The contemporary cinephile is as much a hunter-gatherer as a merchant-trader, of material goods as well as of personal and collective memories, of reducible data streams and of unique objects; a as much duped consumer as a media-savvy producer, a marketeer’s dream-cometrue, but also the fiercest enemy of the copyright controlling lawyers involved in the many copyright court cases. Today’s film lover embraces and uses new technology while also nostalgically remembering and caring for outdated media formats. It is this simultaneity of different technological formats and platforms, subject positions, and affective encounters that characterizes the current practice referred to as ‚cinephilia‘. The transformative power and rejuvenating energy that the love of cinema has demonstrated in its unexpected comeback over the last couple of years shows beyond doubt the enduring relevance of cinephilia for an understanding of the cinema between the stylistics of the cinema text and the practices of film viewing.“ (De Valck; Hagener 2005: 22)

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Cinephilie, so ließe sich argumentieren, wird hier als Konzept des Zusammenspiels bzw. der Interaktion von Subjekt und Objekt, von Mensch und Technologie begriffen, unter theoretischen Rahmenbedingungen, die von der Existenz handlungsfähiger Agenturen sowie der Zirkulation von materiellen Gütern ausgehen. Sie ist ein exemplarischer Indikator dafür, dass sich durch die technologischen Erweiterungen nicht nur die Praxen des Kinos verändern, sondern auch die marketingdurchsetzte Kinolandschaft und seine Organisationen bzw. Unternehmensformationen. Sie ist, in ihren je neuen Ausprägungen, letztlich auch ein Verweis auf die Notwendigkeit, „(Autoren-)Kino“ nicht nur zu analysieren, sondern es zu lokalisieren bzw. rekontextualisieren. Der von Josef Pine beschriebene, längst vollzogene Übergang von der Dienstleistungs- zur Erlebniswirtschaft (Pine; Gilmore 1999), verlangt schließlich nach der Integration des als transnational proklamierten (Autoren-)Kinos in einen globalisierten Raum zwischen Hype und Event, zwischen Isolation und Mobilisierung, dessen theoretische Herausforderung vor allem in der Konzeptualisierung liegt: „Globalization, digitalization, and transnational networks have led to a multitude of heterogeneous systems that do not operate completely independent of the forces of territorialization. They nonetheless thrive to such an extent, by virtue of their instability and hybridity, so that these forces have to be included in conzeptualizations.“ (De Valck 2007: 31)

Die jüngere Geschichte eines „nationalen“ (Autoren-)Kinos wird in Form von Geschichten von Schauplätzen und Standpunkten, in ihren so realen wie virtuellen Ausprägungen – vom Filmfestival bis hin zum mikrobisch anmutenden Blog-Kommentar in seiner Schneeballeffekt-Potenz – zu fassen sein. Vor diesem Hintergrund steht letztlich auch die Erfolgsgeschichte des „Österreichischen Films“, die mit Verweisen auf innerdiegetische Brisanz schon zu genüge begründet wurde, in ihrer Dynamik als (zum Teil eventgestützter) Hype damit jedoch noch lange nicht beschrieben ist. Der Fall „Haneke“ schreibt sich in diesen Rechtfertigungskontext ein bzw. wird er in diesen eingeschrieben, etwa als Aushängeschild einer dezidiert „österreichischen“ Filmproduktion, für die offiziell gilt, dass sich ihre Endprodukte – die Filme – durch besondere Merkmale auszeichnen: „These elements include: the on-going debate about the role of Austria in Europe; the question of migration; rediscovering the necessary and heavy criticism of political and social relations; collapse of solidarity; rules of social hierarchy, dictated by national or religious considerations; struggling with national identity and history; and the stronger impact on the shaping of genre forms.“ (Ballhausen 2010: 224)

Ein „österreichisches Kino“ ist folglich ein solches, dem durchaus etwas Nationalkritisches sowie ein offenkundiger Geschichtsbezug anhaften können. Und ein „österreichischer Regisseur“ ist einer, der Nationenfragen reflexiv verhandeln kann, ohne dabei historisch präzise zu arbeiten. Seine Verwendung und Instrumentalisierung wiederum ist eine andere Geschichte. Ein „nationales“ (Autoren-)Kino „ist“ viele Geschichten. Was schließlich die zu erwartende Liebesgeschichte betrifft, berichtet am 3. Oktober 2011 die „unabhängige, österreichische“ Tageszeitung Kurier anlässlich der ORF-Premiere des Weißen Bands Folgendes: „,Amour‘ ist bereits fertiggedreht und wird wohl 2012 in Cannes

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seine Premiere haben. Diesmal ist es – um die Nationenfrage gleich zu klären – ein (mit Österreich koproduzierter) französischer Film mit Isabelle Huppert und JeanLouis Trintignant.“15

15 Franz, Veronika; Schopf, Victoria. „ORF-Premiere: ‚Das weiße Band‘ von Haneke“. In: Kurier, 03.11.2011.

3. Framing Imaginations: Bilder in wechselseitiger Relationierung mit dem Netzwerk

Die Beschreibung von Kino – und die eines Quasi-Objekts erst recht – impliziert selbstverständlich eine ästhetische Befragung des Materials und damit letztlich eine ikonographische Leistung. Schließlich stellt das Netzwerk – und darin liegt eine der großen Herausforderungen für die ANT-orientierten Medienwissenschaften, zumal es sich hierbei noch um kombinatorisches Neuland handelt – die zentrale ästhetische Kategorie des Kinos schlechthin unter neue Modalitäten: das „bewegte“ Bild. Wie aber nun die Bilder in einem Netzwerkdenken verhandeln, welchen spezifischen Bedingungen unterliegt das Vorhaben? Als naheliegende Assoziation tut sich hier zunächst der Verweis auf die vitale Akteureigenschaft von Bildern auf – die Annahme also, dass Bilder in ihrer dinglichen Eigenschaft mit einer Aktivität aufgeladen sind, die Handlungskraft für sich beansprucht. Dass Bilder gewissermaßen zu uns „sprechen“, wussten schon die Romantiker; dass Latours Objekttheorien für den Film als quasi-eigenständiges Universum geltend gemacht werden können (im Sinne einer Projektion der ANT in filmanalytische Verfahren) ist spätestens mit Lorenz Engells „Kinematographischen Agenturen“ (Engell 2010) unter Beweis gestellt: „Auch das bewegte Bild ist eine Agentur, die handelnd reflektiert und die in beschreibbaren Praktiken und Gesten Menschen, Dinge, Räume, Erwartungen etc. organisiert.“ (Engell 2010: 139) Im Zentrum der vorliegenden Studie steht nun hingegen der Versuch, Bilder in ihrer wechselseitigen Relationierung mit den diversesten Akteuren des inkommensurablen Kino-Netzwerks zu begreifen, zu beschreiben und zu inszenieren. Kinematographie soll dabei nicht (nur) aus einer Rezeptionslogik im Hinblick auf das verstanden werden, was sich zwischen den Bildern und uns abspielt und ereignet, sondern auch dahingehend, was bis hin zu den Bildern bzw. zu unserem InInteraktion-Treten mit ihnen und ausgehend davon passiert. Die Spannung besteht damit in der Engführung der Ergebnisse subjektiver Wahrnehmung mit dem quasiobjektivierenden Standpunkt, den es unter den Prämissen der ANT einzunehmen gilt. Subjektive Wahrnehmung und das Festschreiben ihrer Resultate (Sinnzuschreibung und Bedeutungszuweisung) impliziert Deleuze zufolge stets ein Subtrahieren des potentiell Seh- und Wahrnehmbaren. Bilder im Sinne des apparativ Visualisierten sowie des Perzeptiven sind – wie es Deleuzes Ausführungen zum Kino nahelegen – stets Teil eines Größeren, eines Ganzen (le tout), eines Netzwerks also, mit Latour gesprochen, d.h. immer Teil der unpersönlichen Größe eines oder mehrerer in Relation zu

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denkender Konzepte (Narrative, Materialitäten etc.), die es dem Bestehenden hinzuzufügen, zu addieren gilt. Die Vereinbarkeit der scheinbar gegensätzlichen Verfahren, jenes der Subtraktion mit jenem der Addition, realisiert sich im performativen Gestus der Substitution, in jenem von der ANT angepriesenen Variabilitätsdenken also, das ermöglicht, die in Film- und Literaturstudien üblicherweise gezogenen und breiträumig auch überwundenen Grenzen von „Text“ und „Kontext“ neuartig zu überwinden. Hierin liegt letztlich auch der Unterschied zur historisch operierenden Rezeptionsforschung: Das Netzwerk als Analysematrix hat schließlich Konsequenzen für die Zeitlichkeitsauffassung, bei der mit der technologiebedingten globalen Extension nicht eine Vorstellung der Überwindung von Raum und Zeit vorausgesetzt ist, sondern die eine Verteilung von raumzeitlicher und personaler Identität vornimmt, wodurch vor allem „[…] die landläufige Vorstellung der ‚Zeitgenossenschaft‘ in Frage gestellt [ist]. Einerseits kann man gleichzeitig leben und sich in völlig anderen Netzwerken aufhalten und damit im gleichen Jahr und sogar im gleichen Land nicht einmal in der gleichen ontologischen Ordnung. Andererseits existiert man durch die technische Mediation in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, was allein schon die Vorstellung eines Bruchs relativiert, der die Moderne von der Vor-Moderne trennen könnte. Durch die Artefakte, die uns umgeben, versammeln wir beständig die Indizes der völlig verschiedenen Zeitpunkte ihrer ‚Erfindung‘ um uns.“ (Cuntz 2009: 36)

Wir können vor dem inzwischen ausführlich dargelegten Hintergrund eines verteilten Materialismus davon ausgehen, dass unsere Rezeption dessen, was wir als artifizielles Endprodukt auf der Leinwand sehen, nicht ausschließlich durch Diskurse mitbestimmt ist. Gleichzeitig ist anzunehmen, dass das Bild bzw. die Ikonographien in ihrer Verankerung im Netzwerk des Quasi-Objekts „Kino“ ihren ontologischen Stellenwert keineswegs verlieren. Dieser bleibt viel eher unangetastet. Unter der Voraussetzung der bisher ausgeführten Annahmen, kann es schließlich nur darum gehen, die Bilder sein zu lassen; gleichzeitig jedoch den Spot auf sie zu richten. Es geht hier folglich um die Doppeldeutigkeit des „Sein-Lassens“, um die Assoziationen von Akteuren in ihrer Potentialität. Präziser: Um jene Assoziationen von Potentialitäten, die mit den von Deleuze für den Mikrobereich des Kinos in seiner Bewegungs-BildÄsthetik beschriebenen vergleichbar sind. „L’essence d’une chose n’apparaît jamais au début, mais au milieu, dans le courant de son développement, quand ses forces sont affermies“ (Deleuze 1983 [2006]: 11), schreibt der auf Henri Bergson sich berufende Deleuze und erklärt damit das Wesen seiner Bewegungsbilder als Potentialität, als Materie und Form, die sich zu etwas entwickeln müssen. Etwas, das als Energie angelegt ist, sich als Essenz jedoch erst entwickelt. Kurz: Deleuze beschreibt Kino, sehr aristotelisch, als etwas, das zu seiner Essenz erst kommen muss. Deleuze bringt dabei den hinlänglich bekannten Vorschlag einer Unterscheidung zwischen den „Ensembles“ und dem „Ganzen“ in ihrer relationalen Verstrickung: „On ne doit pas confondre le tout, les ‚touts‘, avec des ensembles. Les ensembles sont clos, et tout ce qui est clos est artificiellement clos. Les ensembles sont toujours des ensembles de parties. Mais un tout n’est pas clos, il est ouvert ; et il n’a pas de parties, sauf en un sens très spé-

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cial, puisqu’il ne se divise pas sans changer de nature à chaque étape de la division.“ (Deleuze 1983 [2006]: 21)

Bilder zu beschreiben anstatt sie zu erklären – so eine der möglichen Konzeptionen – bedeutet, diese Bilder als Akteure in ihrer Positionierung im Netzwerk, d.h. im Rahmen der vorgegebenen Unmöglichkeit einer räumlichen Trennung von Subjekt und Objekt zu erfassen. Ich möchte mich dabei auf Becker/Cuntz/Kussers Vorschlag beziehen und die mit dem Regiewerk Hanekes gegebenen Bilder in Anlehnung an die Arbeiten von Michel Serres als Wiedergänger verhandeln: „Das Auftreten der Wiedergänger geschieht […] in Bewegungen, in denen die Logik von Innen und Außen, Zentrum und Peripherie zunehmend außer Kraft gesetzt ist. An deren Stelle tritt eine Topographie der Zone, in der das scheinbar Getrennte kollidiert oder vermischt wird.“ (Becker; Cuntz; Kusser 2008: 22) Die entscheidende Operation liegt somit darin, den Bildern im Hinblick auf ihre Repräsentationsfähigkeit nicht eine absolute sondern eine mittlerische Existenzform zuzugestehen und damit für die Sichtbarkeit des Ineinanderwirkens von „Intra“- und „Extradiegese“ Raum zu schaffen, d.h. für das Ineinander der Diegese der Filme einerseits und jener „großen“ des Netzwerks andererseits, deren Bestandteil diese Filme sind: der „großen“ Diegese ihrer ReKontextualisierung in einen Filmmarkt, in einem ökonomischen wie ästhetischkritischen Sinne. Maßgeblich für den Verlauf des Experiments ist es, Film nicht nur als ein vermeintlich statisches und passives Produkt zu betrachten, das einer Rezeption unterzogen wird und dann Deutungen (bzw. „Inskriptionen“) erhält, sondern ihn in seinem Produktionsprozess wahrzunehmen, wo er als „handlungsmächtiger Akteur betrachtet werden [kann], der andere Akteure zum Handeln bringen und diese sogar dazu veranlassen kann, ihre Identitäten zugunsten des Films anzupassen“ (Spöhrer 2012). Im Folgenden werden nun Erscheinungsformen und Konstitutionsprozesse eines nationalen (Autoren-)Kinos in seiner Kollision mit den Bildern bzw. dem audiovisuellen Material nachgezeichnet. Der verfahrenstechnisch notwendigen Reduktion auf Hanekes Kinoproduktionen als Anhaltspunkte, die seine Fernsehproduktionen als Teil der Narration jedoch nicht ausschließen, sei ein kurzer Werküberblick unter Berücksichtigung leitmotivischer Fragmente in ihrer Interaktion mit der dem Fall „Haneke“ so eigenen (trans-)nationalen Mythenbildung vorangestellt.

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62. „K RISENKINO “: H ANEKES „D IAGNOSTIK DER K ULTUR “ – Ü BERMODERNE I KONOGRAPHIEN EINES K ULTURTECHNIKERS IM S PANNUNGSFELD ( TRANS -) NATIONALER M YTHEN „Michael Haneke macht Filme, er zeigt also die Abfolge von Sichtbarem und Unsichtbarem in der Zeit. Dabei will er besonders, daß man die Zusammenhänge erkennt zwischen dem, was man im Film wie Natur genießen möchte (z.B. Gewalt: ‚Benny’s Video‘, ‚Funny Games‘), obwohl es alles andere als Natur ist, und dem Gemachten, das das Gegenteil von Natur ist, nicht einmal die Nachahmung von etwas Natürlichem. Haneke will die Zusammenhänge zwischen Personen und Dingen zeigen, aber immer als etwas Hergestelltes. Er zeigt, daß es im Film vor- und zurückgehen kann, das ist sogar besonders einfach. Selbst am heimischen Fernseher kann man ein Bild vor- und zurücklaufen lassen.“ (Jelinek 2010: 5)

Kino – und insbesondere ein „Autorenkino“, das sich bis ins 21. Jahrhundert einen zumindest diskursiven Status von künstlerischer Unabhängigkeit bewahren konnte – hat unter anderem die Funktion, seismographisches und katalysatorisches Reflexionsmedium gesellschaftlicher Ereignisse und ihrer Auswirkungen auf den Menschen zu sein. Die Aktualität gestattet den Rückblick auf eine jüngere mediale Vergangenheit, in der vor allem ein Zustand namhaft wurde: jener der „Krise“. Als Wirtschaftskrise zunächst, d.h. als mediales Resultat unwägbarer Turbulenzen auf den globalen Finanzmärkten ist „die Krise“ in die Haushalte eingekehrt und mit ihr der Verweis auf ein so universelles wie unumgängliches Gefahrenpotential, dessen endgültige Konkretion kaum einschätzbar ist. Es zählt zu den vermutlich wohl bedrohlichsten Eigenschaften „der Krise“, dass sie zwar zu historischen Vergleichen anregt (mit der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise), jedoch kein aktuelles Äquivalent kennt und dass ihre Auswirkungen auf den Einzelnen und seine Umwelt den Modus der Abstraktion längst überschreiten. „Die Krise“ ist präsent, sie betrifft das Kollektiv und ihre Präsenz ist die einer Latenz. Ihre Präsenz stellt die Bedingung der Verdrängung, des Verborgenen. Das heißt, es gibt eine Krise – und wenn auch nur als Information, die sich in unserem Denken verfestigt hat – das Maß ihrer Auswirkungen jedoch ist nicht vorhersehbar, ihr künftiger Verlauf beschränkt sich auf etwas Abstraktes, Unaufhaltbares, das sich allenfalls durch „gutes Verhalten“ retardieren lässt (Beispiel „global warming“). Kino steht in seiner ökonomischen Betroffenheit (Filmfinanzierung) aber auch in ästhetischer Hinsicht in dieser gesellschaftlich-kollektiven Dynamik. Es gehört zu den bemerkenswerten Leistungen der Filmwissenschaft, Filmanalyse dezidiert als Kulturanalyse heranzuziehen (Mattl; Timm; Wagner 2007) und dabei Fiktion als Indikator für gesellschaftliche Entwicklungen zu benützen. Eine der jüngsten Veröffentlichungen dieser Mission trägt die Dynamik bereits im Titel: Krisenkino. Was den besagten, medial so überinszenierten historischen Vergleich angeht, so lesen die Herausgeber diesen mit Skepsis: „Die Folgen der vor nunmehr achtzig Jahren beginnenden Weltwirtschaftskrise – eine weltweite millionenfache Arbeitslosigkeit, fundamentale gesellschaftliche Destabilisierungsprozesse und die katastrophenschwere Machtergreifung Hitlers – schweben geradezu wie ein Menetekel über dem Weg in die Moderne des 20. Jahrhunderts. Fragt man nach der kommunikativen

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Funktion des historischen Vergleichs, dann wird rasch deutlich, dass der diskursive Verweis auf die historisch vorausgegangene Krise in erster Linie nicht aus einer sachlich-nüchternen Distanz heraus formuliert wird. Stattdessen ist augenfällig, dass die semantische Verknüpfung von aktueller und historischer Krise selbst als ein Element der gegenwärtigen Krisendynamik interpretiert werden muss. Krisen und krisenhafte Phänomene sind keine Geschehnisse an sich, sonder immer die Resultate von Beobachtungsleistungen und von Interpretationen, Wahrgenommenes wird narrativ bzw. medial zu einem Deutungsmuster verdichtet und mit historischer Plausibilität unterfüttert. ‚Krise‘ ist – wie von Reinhard Koselleck schon 1954 in der Studie ‚Kritik und Krise‘ betont – das Produkt einer temporalen Ordnungspraxis, bei der biographische, politische und kulturelle Wandlungsprozesse auf einer Zeitachse verortet und in Überblendung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bewertet werden. Krisenerzählungen etablieren normativ imprägnierte Zusammenhänge in der Zeit und restabilisieren qua Narration zunächst als instabil erlebte Situationen.“ (Koch; Wende 2010: 7-8)

Kino, das hier eine reduktionistische Zuspitzung zum Spielfilm erfährt, wird hier zu einer Übersetzung von Material in eine narrative Form, wobei der technischen Kopplung von Bildern eine zentrale Rolle beizumessen sei (Koch; Wende 2010: 9). Michael Haneke ist – im thematischen Rahmen einer „kulturwissenschaftliche[n] Spielfilm-Lektüre“ (Koch; Wende 2010: 10), die den Krisendiskurs als „kommunikative Reaktion auf fundamentale Störungen der gesellschaftlichen Systemzustände“ (Koch; Wende 2010: 8) versteht – freilich ein Beitrag beschieden. Die Dualität von „Normalität und Normalitätsbruch“ (Koch 2010) sei dem Verfasser zufolge das Grundprinzip des hanekeschen Werks, das – mittels eines an Adorno geschulten Kunstverständnisses der „ästhetischen Emanzipation gegen den Status quo“ – „einem wissenschaftlichen Experiment gleich[e] – in Form von Laborkonstellationen, in denen seine Figurenensembles dazu genötigt werden, auf radikale soziale und interpersonelle Zustandsveränderungen zu reagieren“ (Koch 2010: 311). Einmal mehr führt das Fehlen von direkt nachvollziehbaren Kausalitätsgefügen im Filmwerk Hanekes zum Vergleich mit einer – bedauerlicherweise nicht näher definierten – laboratorischen Praxis. Umso mehr verwundert es, dass, bei allem Hinweis auf einen latenten Versuchsanordnungsfetischismus und auf seine so eminente Ingenieurhaftigkeit, Haneke stets mit dem Titel des „Formalisten“, nicht jedoch mit jenem des „Technikers“ bedacht wird. Wendet man sich den Komplexen von „Krise“ und „Kino“ in ihrer jeweiligen – den Rahmen der kommunikativen Funktion freilich überschreitenden – Funktionalität zu, d.h. betrachtet man sie als Resultat der vereinten Produktion von Akteuren und Artefakten, dann ist „der“ Technik eine vermittelnde Rolle zuzuschreiben. Genau diese Produktionsbedingung ist in den Einschätzungen, die Hanekes Filme zuteilwurden, weitgehend undurchsichtig geblieben. Kollektive (um nicht zu sagen „gesellschaftliche“) Produktionsverhältnisse – d.h. Kulturtechnik in ihrer Funktionalität und „Operationalität“ im weitesten Sinne – bleiben so lange „unauffällig“ und verborgen, bis – und das ist die Bedingung, der eine Operation unterliegen muss, um breitere Aufmerksamkeit zu erreichen – eine Störung, ein Fall von NichtFunktionieren auftritt. Der „Ingenieur“ Latour transferiert diese Überlegung zum Wirkungspotential krisenhafter Momente gönnerhaft in einen fiktiven Hörsaal, um sie dem Wissenschaftler begreiflich zu machen:

90 ǀ H ANEKE : K EINE B IOGRAFIE „Man nehme z.B. einen Tageslichtprojektor. Er ist ein Punkt in einer Handlungsfolge (sagen wir einmal in einer Vorlesung), eine ruhige und stumme Vermittlungsinstanz, die für selbstverständlich gehalten und vollkommen von ihrer Funktion bestimmt wird. Nun nehmen wir an, dass der Projektor nicht mehr funktioniert. Die Krise erinnert uns an die Existenz des Projektors. Wenn die Monteure ihn umringen, diese Linse justieren, jene Birne befestigen, werden wir uns bewusst, dass der Projektor aus mehreren Teilen gemacht ist, jedes mit seiner Rolle, seiner Funktion und seinen relativ unabhängigen Zielen. Während der Projektor vor einem Augenblick kaum existiert hatte, besitzen nun sogar seine Teile individuelle Existenz, jedes seine eigene ‚Black Box‘. In einem Moment wuchs unser ‚Projektor‘ von einer Komposition aus null Teilen zu einer aus einem bis zu vielen Einzelteilen.“ (Latour 1994 [ÜTV]: 491)

Gemessen an den medialen Schreckensmeldungen und -inszenierungen, die „die Krise“ mit sich bringt, legitimiert sich Latours Überlegung, die den Rahmen des Kommunikativen sowie auch jenen des Diskursiven überschreitet. Denkt man etwa an die televisuelle Berichterstattung der aktuellen Wirtschaftskrise in ihrer Inszenierung von Zahlen, Diagrammen, Rechengeräten und sonstigen Apparaturen – an die entscheidenden Materialitäten und Dinge als Akteure –, so verdeutlicht sich schließlich auch das Postulat, Techniken nicht als „zuverlässige Bewohner der Welt des Diskurses“ (Latour 1994 [ÜTV]: 493) anzusehen, sondern davon auszugehen, dass sie die Materie unseres Ausdrucks und nicht nur seine Form modifizieren: „Techniken haben Bedeutung, aber sie erzeugen Bedeutung über einen speziellen Typ von Artikulation, der die Grenzen des allgemeinen Verständnisses zwischen Zeichen und Dingen überschreitet.“ (Latour 1994 [ÜTV]: 493-494) Auch die Kriegsberichterstattung im TV wäre als ein solches Beispiel anzuführen, die – wie der Krieg selbst – ohne ihre materiellen Handlungsträger – Waffen nämlich – nicht auskommt. Diese Begebenheit ist unerlässlich für das Verständnis des Falls „Haneke“ und seine Brisanz, die den auteur Michael Haneke schließlich als „größte[n] Publikumsverstörer des europäischen Kinos“1 hervorgehen lässt. Denn die Verstörung Hanekes liegt – „sachlich-nüchtern“ beschrieben – im Verweis auf Störungen der Systemzustände des Kollektivs. Es ist ein Verweis auf Störung via Störung, der nicht nur die inhaltliche und formale Umsetzung (narrative Inkohärenz, Zufallsanordnungen), sondern auch die technische betrifft. Der Blick auf den „Formalisten“ Haneke in seiner diskursiven Konkretion hat, so scheint es, den „Techniker“ Haneke in den Hintergrund treten lassen. Trennt man zunächst ganz ingenieurhaft die beiden Komplexe von Intra- und Extradiegese (d.h. die Diegese der Filme und jene des zu beschreibenden Kontexts „Filmmarkt“), um sie schließlich einem Quasi-Objekt entsprechend zusammenzuführen, so lässt sich – mit dem dafür notwendigen Maß an vermeintlicher Beliebigkeit – eine inhaltliche Bestandsaufnahme einiger „filmimmanenter“ Fragmente des hanekeschen Œuvres vornehmen: Mord, Suizid, Vergewaltigungen, Fremdenhass und Missbrauch wären dabei, ganz pauschal, einige der Elemente, die mit dem Versagen bzw. dem Verweis auf Versagen der „modernen“ Gesellschaft im Rahmen eines dem auteur Michael Haneke so vehement attribuierten Kulturpessimismus viel1

Mit dieser einer Kritik der deutschen Tageszeitung Die Welt entlehnten Einschätzung protzt der Umschlag der 2010 im Berlin Verlag erschienenen vierten Auflage des Drehbuchs zu „Das weiße Band“ (Haneke 2010).

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fach umschrieben wurden. Als Kulturpessimismus eines „modernen Filmemachers in einer postmodernen Ära“ (Wheatley 2009: 22). Wie aber Hanekes Filmœuvre denken, wenn wir mit Latour davon ausgehen, dass wir „nie modern gewesen“ sind? Und hinsichtlich des Autorenkomplexes ebenso wenig romantisch sein wollen? Welche Orte, Räume und Dynamiken lassen sich unter der Gegebenheit der Anerkennung der Verschränkung der beiden Diegesen – der der Filme und der „großen“ Extradiegese des Filmmarkts, in die sich diese Filme als materielle Produkte einschreiben – erschließen? Und wie wirken sie in die Diskurse (trans-)nationaler Zuordnungen hinein bzw. inwieweit formieren diese Diskurse umgekehrt diese Orte? Welcher Platz ist den Ikonographien im Netzwerk zuzuschreiben? Den Kinoproduktionen Hanekes gemein ist die audiovisuelle Gegebenheit eines oder mehrerer krisenhafter Momente. Der ANT-geleitete Gedanke, dass Techniken und damit letztlich auch Kulturtechniken zumeist dann erst Aufmerksamkeit zukommt, wenn eine Krise besteht, ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert. Er betrifft schließlich auch die hinterhältige Interferenz der „großen“ Extradiegese, die den Fall „Haneke“ ausmacht und die ihn überhaupt erst zur Nationalfrage werden lässt. Diese „große“, unermessliche Haneke-Geschichte, der die Leinwand nur eine von zahlreichen Projektionsflächen ist, auf denen (Autoren-)Kino zur nationalen Projektion wird, verlangt nach entsprechenden Strategien der Beschreibung. In Analogie zu den notwendigen historischen Tiefenanalysen, ohne die gegenwärtige Entwicklungen als solche nicht differenziert denkbar wären, bedarf es dabei zunächst – in aller Dinglichkeit und Gegenständlichkeit gedacht – lokalisierbarer Oberflächen, denen im Folgenden immer wieder besondere Aufmerksamkeit zukommen wird. Es ist bezeichnend, dass Fatima Naqvi in ihrer – den üblichen Moralfragen äußerst abgewandten – Studie zu Hanekes Werk in Bezug auf dessen Rauminszenierungen von „unreinen Orten“ spricht, für die sie in Anlehnung an Marc Augés Raumverhandlungsresultat der „Nicht-Orte“ (Augé 1992) den bemerkenswert treffenden Terminus des „Übermodernen“ anführt. Diese „übermodernen“, im Sinne von „nicht-anthropologischen“ Orte (Naqvi 2011: 5) bilden eine der Artikulationen jener „trügerischen Vertrautheit“, deren Ausprägungen Naqvi zur Darstellung des Regiewerks Hanekes beschreibt. Versteht man Raum als „[…] gesellschaftliche[n] Produktionsprozess der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung eng verknüpft mit der symbolischen Ebene der Raumrepräsentation (etwa durch Codes, Zeichen, Karten)“ (Bachmann-Medick 2006: 292), dann sind es nicht unbedingt Räume intensiver Verhandlung nationaler Identität, die Hanekes Regieangebot ausmachen; zumindest lassen sich diese inszenatorischen Räume nicht kompromisslos in lebensweltlichen oder anthropologischen Kontexten verorten. Überhaupt greifen hier Raumkonzeptionen wie die oben angeführte häufig zu kurz: Der Code, wie es einer der Filme schon vom Titel her nahelegt, ist unbekannt (Code inconnu). Nicht selten sind den inszenierten Räumen transitorische Dimensionen zuzuschreiben, wobei auch hier eine Unterscheidung zwischen Mikro und Makro hinfällig wird: Ob U-Bahnen, U-Bahn-Stationen, Autowaschanlagen, Videotheken, oder, weiter gefasst, ein relativ stereotypenfreies Wien, das als Wien möglicherweise gar nicht offenkundig auffällt, in dem jedenfalls Französisch gesprochen wird und wenn schon Deutsch, dann in synchronisierter Fassung (Die Klavierspielerin) – das Transitorische bei Haneke verwehrt sich in seiner Versammlung naturgemäß der Größenordnung. Voneinander isoliert sind diese Räume durch

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harte Schnitte, gefolgt von der so haneketypischen Schwarzblende, der stilistisch aufs Äußerste ausgereizten Leerstelle zwischen den bruchstückhaften Ausschnitten von Geschichten, die stets offen sind, deren definitive Rahmung ein Ding der Unmöglichkeit ist. Es sind schonungslos zivilisationskritische Parabeln mit dem Anspruch von universeller Gültigkeit, erreicht durch eine Inszenierung von Lokalitäten, die – wie die dargestellten Figuren, die sie frequentieren und die zumeist Georg und Anna bzw. Georges und Anne heißen – beliebig austauschbar sind; erreicht auch durch eine in hochauflösenden Bildern gebrachte historische Unschärfe. Haneke arbeitet nicht genealogisch, sondern in Fragmenten, die er in Chronologien des Zufalls überführt: „Die Choreographie des Zufalls ist perfekt“, lässt er seinen von Paulus Manker verkörperten namenlosen Protagonisten im TV-Film Wer war Edgar Allan? (1984) konstatieren als sein Gegenspieler Edgar Allan (Rolf Hoppe) das Café Florian betritt. Die Einstellung davor zeigt aus Vogelperspektive ein Fragment des Markusplatzes, den sich Mensch und Taube in schwarmartigen Gefügen teilen. Eine Choreographie des Zufalls in an Perfektion grenzender Komposition findet schließlich mit dem späteren Film 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls (1994) ihren explizitesten Eintrag im hanekeschen Œuvre – ein „Formspiel“, das sich in Code inconnu (2000) wiederholen wird. Es sind zudem mehrheitlich gewissermaßen „überhistorische“ (Naqvi 2011: 130) Geschichten, die sich – mit einer streitbaren Ausnahme, dem postapokalyptisch konzipierten Setting von Wolfzeit – durch einen ausgestellten Gegenwartsbezug charakterisieren. Nicht einmal Walter Benjamin muss hier bemüht werden, so eminent die Gegenwart im Geschichtlichen. Und diese Gegenwart, die häufig als eine sich globalisierende zu denken ist, ist stilistisch dunkel angelegt. Dass das Gros der Filme Hanekes trotz der „Nachträglichkeit“ seiner Themenkreise „als zeitkritisch und neuartig erlebt“ wird (Naqvi 2011: 13) und ein Film wie Das Weiße Band einerseits als „Historiendrama“ in die Genreannalen eingeht, gleichzeitig jedoch mit dem Prädikat „zeitlos“ versehen wird, kann nur schwerlich als bloße Widersprüchlichkeit abgetan werden, die allein im „Profilmischen“ zu finden wäre. Auch als „préapocalyptique“2 wird Das Weiße Band eingestuft und verweist damit indirekt auf seine „apokalyptischeren“, jedenfalls gegenwärtiger technisierten Vorläufer. Wer sich mit „Haneke“ beschäftigt, kennt die dominanten Diskurse und auch die im Rahmen der für Haneke so charakteristischen Bildpolitik der Oberflächenkonstruktion inszenierten, formal häufig in den Mittelpunkt gerückten Dinge, Apparaturen und Technologien, von denen – ganz im Adorno-Modus – zu fragen wäre, ob nicht sie die eigentlichen Protagonisten der Diegesen sind, wie es am drastischsten wohl Hanekes Beitrag zum autoreflexiven Kinoprojekt Lumière et Compagnie (1995)3 annehmen lässt. Durch die Ausgestelltheit von Kinoleinwänden, Fernsehbildschirmen, Kameras 2 3

Attali, Danielle. „Violence – Le village des damnés de Michael Haneke“. In: Le Journal du Dimanche, 24.05.2009. Lumière et compagnie ist ein internationales Hommage-Filmprojekt aus dem Jahr 1995. Nach einer Idee von Philippe Poulet drehen 71 Regisseure anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Erfindung des Kinematographen der Brüder Lumière jeweils einen Kurzfilm mit dem Lumière-Kinematographen. Hanekes Beitrag ist ein – ferner im Text thematisierter – Ausschnitt aus den TV-Nachrichten.

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und anderen Aufzeichnungstechnologien, Computerdesktops etc. ließe sich das Regiewerk regelrecht als Seismograph von Medienumbrüchen heranziehen. Im vermeintlich zeitlosen Programm Hanekes, seiner „historische[n] Ungenauigkeit, die ein tieferes Geschichtsbewusstsein forciert“ (Naqvi 2011: Einband), gibt es Referenzen, die in ihrer Anordnung keiner linearen Logik entsprechen, wohl aber gewisse, sehr einschlägige Deutungsrichtungen vorgeben: Ob Juliette Binoche als Schauspielerin Anne, die in Code inconnu auf Anweisungen einer Stimme aus dem Off hin in eine Kamera blickend eine Frau spielt, die in einem Raum festgehalten wird und durch einströmendes Gas ermordet werden soll, ob Fotografien von Kriegsschauplätzen des ehemaligen Jugoslawiens (ebenfalls Code inconnu) oder vermeintlich zierstückhaft eingesetzte Bücherregale, die aber doch den einen oder anderen Titel erkennen lassen und bis zum Vichy-Regime führen (Caché) – die Oberflächen haben ihre als Potential angelegte Tiefe, die sich in ihrer Identifikation nach Aufmerksamkeit, Kenntnis und Bildung des Zuschauers richtet. Unendlich das semantische Spiel der potentiellen Referenzen und Symbole, das von Inskriptionen auf Straßenschildern und Gebäuden (etwa die Rue Pirandello oder das Lycée Malarmé in Caché) über Schubertkompositionen, Theoretiker-Namedropping (Heidegger, Baudrillard, Wittgenstein u.v.m.), bis hin zum Fernsehgerät reicht, das im Wohnzimmerhintergrund zwar, jedoch bildmittig über den Abu-Ghraib-Skandal informiert (Caché). Im Dickicht der scheinbar beiläufigen Verweise bleibt die pauschal angelegte Frage nach den „Wurzeln des Terrors“ in den Filmen immer unbeantwortet, die Genealogie ein Schmäh – sie wird zu einer sich in Anordnungen des Zufalls entfaltenden Chronik. Krise, Zufall, Willkür, Versagen, Austauschbarkeit, Variabilität, kein „Dahinter“, kein „Darunter“, das sich seriös erforschen ließe, und ein auf Ewigkeit zur Verstecktheit verdammtes Verstecktes (etwa: Caché) sind die Elemente, die Hanekes „Diagnostik der Kultur“ charakterisieren. – Ein gefundenes Fressen für den Akteur-Netzwerk-Theoretiker, den Universalität suchenden, von der Hermeneutik abgewandten Nichtaufdecker. Hanekes Werk lässt sich als Autopsie des zwangsläufigen Scheiterns jener Strukturen und Ordnungen kollektiver Übereinkunft darstellen, die sich als die jeweils eine, „wahre“ hervortun wollen. Es handelt sich bei diesem Scheitern von Gesellschaftsmodellen, sozialen Konventionen und Verhaltensweisen um Formen des Scheiterns, die zwar lokalisiert sind, stets aber delokalisierbar bleiben und den Geschichten dadurch den Status von transplantierbaren bzw. „genauso gut woanders“ sich abzeichnen könnenden, kurz: deterritorialisierten Mikrogeschichten ermöglichen. Dass es gerade transnational angelegte, jedenfalls nationenübergreifende Geschichten des Scheiterns sind, die zu nationalen Erfolgsgeschichten werden, soll nun vor dem intermittierenden Hintergrund eines Autorenkinos in Transformation untersucht werden. Aus einer ökonomisch-geleiteten Perspektive betrachtet, hat dieses Autorenkino zumindest vier zentrale Etappen des Kinoproduktwerdens zu durchlaufen – jene der Produktion, der Fabrikation, der Distribution und der Kommerzialisierung nämlich (Farchy 2011: 11). Selbst wenn „das Gros der jedes Jahr entstehenden Spielfilme aufgrund ihrer ökonomischen-institutionellen Produktionsbedingungen tendenziell eine gewisse Affinität zur Reproduktion gesellschaftlich dominierender Diskurse“ (Koch; Wende 2010: 11) aufweist, so besteht dennoch die Möglichkeit eines Kinos, das – gerade durch seine diskursübersteigende Materialität – als ideologiekritisch und

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subversiv auftreten und über die bloße Reproduktion von „Hegemonie“ hinausgehen kann. Michael Hanekes Regiewerk steht in mehrerlei Hinsicht exemplarisch für diese Möglichkeit. Und noch weit mehr als das: die kulturwissenschaftlich so eifrig bemühte Dualität von „hegemonial“ und „subaltern“ könnte sich darin in ihrer so labilen Verfasstheit wiedererkennen. So sehr dem Regisseur Haneke vorgeworfen wird, das Hegemoniale aus einer hegemonialen Perspektive heraus zu reproduzieren und zu perpetuieren – als bürgerlicher Regisseur, der es auf die Bourgeoisie abgesehen habe, deren Manieren er denunziere –, so sehr erweist sich der assoziative Komplex „Haneke“ in seiner gesellschaftspolitischen Wirkung als Generator einer – gemessen an der „mainstreamfernen“ Kunstsparte „Autorenkino“ – beachtlich breiten Öffentlichkeit. Michael Haneke auf Basis „werkimmanenter“ Begebenheiten als Kritiker des Bürgertums zu betrachten – ein Gestus, der dem Regisseur aus tendenziös „linken“ bzw. „intellektuellen“ Lagern nicht selten eine gewisse „Verlogenheit“ als Eigenschaft eingebracht hat – ist eine Verkürzung, die umso bedenklicher erscheint als sie die dezidiert „medien-, film- und kulturwissenschaftliche“ Debatte leitmotivisch durchzieht. Denn was sich schließlich abseits der – aufgrund der hochgradigen Ambivalenz der künstlerischen Artikulationen des Regisseurs stets widerlegbaren – Moralismusdebatte (Michael Haneke als bürgerlicher Moralist) zahlenmäßig unbestreitbar abzeichnet, ist die Tatsache, dass Hanekes jüngere Filme – entgegen der Privatisierungstendenz von Kulturkonsum und entgegen des (längst nicht mehr auf eine „bürgerliche“ Klasse reduzierbaren) „Verfalls“ von Öffentlichkeit – Menschen in erheblicher Zahl ins Kino gebracht haben. Schon mit Filmen wie Die Klavierspielerin (2001) oder Caché (2005), stärker schließlich mit Das Weiße Band (2009) sowie in aller Deutlichkeit mit seinem jüngsten Werk Amour (2012), ist „Haneke“ in seiner Wirkungskonkretion als Emblem einer Versammlungspraxis einzuschätzen, die der als immer schwieriger sich erweisenden Stabilisierung von Arthouse-Kino als kollektive Praxis einen beachtlichen Beitrag leistet.

61. K INO UND F ILMMARKT IN DER K RISE : V OM N ACHRUF FÜR EIN K INO ZU SEINER ( MATERIALISIERTEN ) N EUVERTEILUNG Wir schreiben das Jahr 2012. Der Krisendiskurs und die damit einhergehenden zahllosen Effizienzdebatten haben freilich auch das Kino erreicht: „Das Kino wurde den Verleihern zu teuer. Es wird in naher Zukunft effizienter sein, den Film auf DVD zu verkaufen oder ihn on demand im digitalen Fernsehen oder im Internet anzubieten. DVDs wurden so schnell preiswert, dass es immer attraktiver wird, Filme zu Hause oder unterwegs anzuschauen. Dort darf ich rauchen und trinken nach Belieben. Ich kann die Füße hochlegen, ohne jemanden zu stören. Ich kann den Film unterbrechen, wenn das Telefon klingelt oder Nachschub aus dem Kühlschrank geholt werden muss. Ich benötige keine Parkplätze, keinen Babysitter, ich muss nicht Schlange stehen, den Geruch von Nachos nicht ertragen. Die Altersfreigabe wird auch nicht kontrolliert. Ich kann mir Filme sogar nach Hause schicken lassen, sie mithilfe der mobilen Endgeräte auf Reisen nutzen; vor allem stehen mir die Filme jederzeit zur Verfügung. Ich muss auf niemanden Rücksicht nehmen, kurzum: nur Vorteile. Si-

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cherlich wird man den Kinoraum künftig noch für Marketingzwecke nutzen, das Kino als sozialen und architektonischen Ort reinszenieren, nicht aber, um dort selbst die wesentliche Wertschöpfung mit den Filmen zu betreiben. Das Kino wird zum Atavismus werden, zum Gegenstand ‚nostalgischer Reflexionen‘.“ (Gass 2012: 14-15)

Folgt man der Argumentationslinie, die der Autor, Kurator und ehemalige Geschäftsführer des Europäischen Dokumentarfilm Instituts Lars Henrik Gass in seinem Manifest „Film und Kunst nach dem Kino“ zieht, so lässt sich festhalten, dass das Kulturgut bzw. Kunstprodukt Film einen empfindlichen Verlust zu beklagen hat: zunehmend kommt ihm das Kino abhanden (Gass 2012: 7). Die Zeiten eines globalen Filmmarketings konfrontieren mit bemerkenswerten Entwicklungen; Globalisierung, Digitalisierung und Simultaneisierung haben zur Folge, dass sich die gesamte Verwertungskette von Film grundlegend verändert: die Verfügbarkeit von Film als DVD bzw. on demand, sein zunehmend privatisierter und vermeintlich „individualisierter“ Konsum via eine Vielzahl von (mobilen) Endgeräten ist nur Teilaspekt einer Filmindustrie im Wandel, die sich mit grundlegend veränderten Produktions-, Distributionsund Rezeptionsbedingungen konfrontiert sieht. Was sich – vom Rückgang der Besucherzahlen bis hin zu den vermehrt vollzogenen Kinoschließungen – unter dem Leitbegriff des „Kinosterbens“ versammelt, ist zugleich Grundbedingung einer Revitalisierung von Kino und seiner Diskursivität und Historizität, die sich – aufgrund der technologischen Bedingungen unserer Zeit – zusehends materialisiert. Lässt man die diesbezüglich weit verbreiteten tendenziösen Ansätze der Nekrophilie und der Sentimentalität einmal beiseite, so kann man mit Recht und relativ neutral behaupten, dass sich Kino neu verteilt. So sehr Kino „ein Ort mit technischen, sozialen und kulturellen Sonderbedingungen“ (Gass 2012: 48) ist, ein Ort kollektiver Wahrnehmung insbesondere, der als solcher Notwendigkeit beansprucht, so wenig hat es – kommerziell betrachtet – Zukunft. „Die Geschäfte werden mittlerweile an anderer Stelle gemacht, auf digitalen Kanälen.“ (Gass 2012: 40) Gass’ gesellschaftspolitisch motivierter Zug besteht darin, den identifizierten „Niedergang des Kinos“ (Gass 2012: 8) als Indikator für einen allerorts sich abzeichnenden, als „Politikverdrossenheit verharmlosten“ „Zusammenbruch von Öffentlichkeit“ (Gass 2009) zu positionieren. Auch wenn hier – entgegen dieses rhetorischen Pessimismus – nicht vom „Niedergang des Kinos“, sondern vielmehr von seiner Neuverteilung die Rede ist, wäre es dennoch fahrlässig, Kino heute zu thematisieren, ohne dabei gleichzeitig in Betracht zu ziehen, dass die ohnehin bereits stark modifizierte traditionelle Verwertungskette von Film à la longue dem Zusammenbruch geweiht ist. Als plakativen Bezugspunkt dieser Prognose wählt Gass den von Marco Müller, dem Leiter der Internationalen Filmfestspiele, aufgeworfenen Vorschlag, eine Stiftung zur Verstärkung von Vertriebsmaßnahmen für die Festivals von Cannes, Berlin und Venedig zu gründen. Schließlich könne die Mehrzahl der Filme auch auf diesen Festivals nicht mehr ins Kino vermittelt werden. (Gass 2012: 39) Neben eminent veränderten Rezeptionsbedingungen, die der Logik einer zunehmenden Privatkonsumtion folgen, stehe diese Entwicklung für die unübersehbar heikle Situation eines Filmmarkts, der „selbst […] in die Krise geraten“ (Gass 2009) sei:

96 ǀ H ANEKE : K EINE B IOGRAFIE „Der Film als Ware braucht keine Festivals und vielleicht sogar keine Kinos mehr. Die Filmfestivals durchlaufen einen Prozess hin zur Kulturalisierung. Und das ist die historische Chance, dort endlich bessere Filme zu zeigen. Gerade aber in dem Moment, in dem die Filmfestivals eine neue Öffentlichkeit für den Film behaupten können, verschwindet Öffentlichkeit, wie wir sie einmal verstanden. Die Filmverleiher versuchen ihr Produkt gerade auf Kosten des Kinos zu retten. Sie werden künftig ihre Produkte mehr oder weniger zeitgleich ins Kino und auf digitalen Wegen ans Publikum bringen. Die Kinos sind mit immer kürzeren Auswertungsfenstern konfrontiert. Sehr wahrscheinlich wird sich ein Film mittelfristig nur noch im privaten Raum, als Home Entertainment amortisieren können. Die digitale Kinoprojektion, an die sich derzeit die Hoffnungen der Kinowirtschaft klammern und die enorme Investitionen verlangt, sowie die sagenhaften Subventionen, die damit einhergehen, werden diesen Prozess aller Voraussicht nach nur hinauszögern. Die kollektive Erfahrung von Kino dürfte bald der Vergangenheit angehören oder zumindest eine untergeordnete Rolle spielen.“ (Gass 2009)

In seinem im Filmmagazin Schnitt veröffentlichten Beitrag, der den bezeichnenden Titel „Vom Markt zur Marke“ trägt, hatte Gass bereits 2009 die kommerzielle Zukunftslosigkeit von Kino4 thematisiert. Der Beitrag ist jedoch keineswegs ein Elaborat jener Konkurrenzdebatten, wie sie die Kulturgeschichte in ihrer Spartenteilung der Kunstformen zu genüge vorgelegt hat. Mit Gass äußert sich ein Theoretiker der Praxis, dem an der kulturellen Bedeutung von Filmfestivals und damit an ihrer Revitalisierung gelegen ist. Ohne Festivals, denen er – neben dem Internet und in Nachfolge des Kinos und des Fernsehens – die Funktion der „wichtigsten Plattform für Filme“ einräumt, wäre „so etwas wie gelebte Filmgeschichte“ – eine würdige Filmkultur mit anderen Worten – nicht denkbar (Gass 2009). In der Zukunftslosigkeit des Kinos als Vermittlungsort für Film-Ware, liege schließlich das Potential für Festivals, das Kino als sozialen, kollektivierten Ort nicht nur neuartig zu reanimieren. Filmfestivals, so ließe sich Gass’ Gedankengang zusammenfassen, sind die potentiellen Profiteure dieser Situation: Potentielle allerdings nur, denn es werde außerordentlicher Kreativleistungen bedürfen, um als Festival reüssieren zu können. Die erfolgreiche Stabilisierung setze als Bewegung schließlich den gezielt forcierten Übergang des Kinos „vom Markt zur Marke“ voraus. Festivals sind nicht mehr Marktplätze, die in erster Funktion mit der kommerziellen Verwertung von Film betraut sind; vielmehr übernehmen sie die „traditionelle Funktion von Kino“, die zunächst einmal darin liege, Öffentlichkeit herzustellen: „Die Filmfestivals geraten in die historisch unvorhergesehene Rolle, eine kulturelle Verwertung von Filmen zu werden, für die es keine oder nur noch sehr beschränkte kommerzielle Perspektiven gibt. Zwar dienen sie auch weiterhin der konzentrierten Vermittlung von Inhalten. Insofern stellen sie ein ordnendes Moment in der Unübersichtlichkeit von Inhalten dar. Ihre ursprüngliche Aufgabe aber, Inhalte für andere Verwendungen zu vermitteln und als Markt zu fungieren, stellen sie nur noch sehr eingeschränkt und ausnahmsweise dar. Mit der rapiden Zunahme von Filmfestivals und dem gleichzeitigen Bedeutungsverlust von Zielmärkten wie Fernsehen und Kino verlieren sie diese Funktion. Sie treten das Erbe des Kinos an, ein Erbe aber, das sie zu überfordern droht, ein Erbe, von dem man glaubte, das öffentlich-rechtliche Fernse4

Allein in Deutschland etwa seien die Kinobesuchszahlen von rund 800 Millionen Eintritten pro Jahr in den 1950er Jahren auf etwa 124 Millionen heute zurückgegangen (Gass 2009).

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hen stünde dafür in der Verantwortung. Sie übernehmen heute eine Aufgabe, die in Deutschland einmal Kommunale Kinos und die Filmredaktionen des Fernsehens hatten: ein breites Publikum mit Filmkultur zu versorgen. Ohne die Filmfestivals aber gäbe es so etwas wie gelebte Filmgeschichte schon nicht mehr.“ (Gass 2009)

Aus einer Konkurrenzdebatte – wie sie die Kulturgeschichte anlässlich des Aufkommens neuer Medien- und Kunstformen zu verschiedensten Zeitpunkten verzeichnet – hat sich schließlich eine vorwiegend finanzielle Debatte herausgebildet. Die wirtschaftlich sinnfällige Bewegung „vom Markt zur Marke“, der notgedrungen zu bestreitende Weg der Labelisierung also, bringt jedoch mehr als nur ein existentielles Problem mit sich: Von der Ertragsgrundlage für Filmemacher und Produzenten (selbst wenn Festivals für Aufführungen künftig zahlen würden, bliebe den Filmschaffenden nur ein Bruchteil der Produktionskosten) bis hin zur Kostenübernahme für die Verwertung sind finanzielle Leistungen zu erbringen, von denen fragwürdig bleibt, wer dafür aufkommen soll. Transparenter als die Gewässer der noch auszuhandelnden finanziellen Ströme gestaltet sich der Bereich der zu erbringenden Kreativleistung, die – um Stabilisierung zu erreichen – immer mehr eine verteilte, heterogen materialisierte sein wird müssen: „Filmfestivals könnten zum Ort der Erneuerung für den Film werden. Leider aber haben auch sie weitgehend versäumt, etwas anderes zu sein als eine Abspielfläche für neue Filme, versäumt, der Ort für das Andere zu sein. Wahrscheinlich wird auch weiterhin, zumindest für bestimmte Publikumsschichten, Bedarf an den wesentlichen Angeboten von Filmfestivals bestehen, das heißt an einem gut projizierten Bild, kollektiver Wahrnehmung, Qualität der Auswahl, thematischer Ordnung, Austausch. Sicher kann man nicht sein. Sicher aber ist dieses: Wenn es den Filmfestivals nicht gelingt, ihr Produkt zu entwickeln und den sozialen Mehrwert eines Filmfestivals nachhaltig und überzeugend zu formulieren, werden sie verzichtbar. Filmfestivals müssen lernen, die Beschränkung auf Ort und Zeit zu überwinden; sie müssen Bücher und DVDs machen, Partys und Konferenzen, sie müssen das bessere Fernsehen sein und die bessere Universität. Hier versagt in weiten Teilen das öffentlich-rechtliche Fernsehen, das vom Quotendruck korrumpiert ist, nicht weniger als das Kino in seiner gegenwärtigen trostlosen Verfassung oder eine verschulte Universität. Filmfestivals müssen vom Markt zur Marke werden und auch Verantwortung für die Refinanzierung ihrer Produkte übernehmen. Sicher ist also, daß es nicht genügen wird, nur Filme zu zeigen.“ (Gass 2009)

In einem Moment, da sich Film aus dem industriellen Verwertungszusammenhang von Kino löst, ist dem Kino als Ort sozialer und künstlerisch-intellektueller Interaktion das Schicksal einer „Musealisierung“ beschieden, die – je nach Perspektive – ihre Vor- und Nachteile mit sich bringt: Während Gass darin das Risiko sieht, „dass eine Kunstform ihre gesellschaftliche Notwendigkeit verliert“ (Gass 2012: 49) und möglicherweise nur „unter den Vorzeichen und Bedingungen einer Subventionskultur überleben wird“ (Gass 2012: 130), zeigt sich Filmmuseumsdirektor Alexander Horwath optimistischer: Der Neuverteilung von Kino eher zustimmend als seinem „Niedergang“ wird er – als Haneke-Kritiker erster Stunde – im Verlauf der Chronik mehrfach zu Wort kommen. Die im Zuge des Projekts bediente Akteur-Netzwerk-Theorie, die die besagten Entwicklungen zu fassen sucht, bewährt sich – wie mehrfach beschrieben – in ihrem

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Vermögen, Stabilisierung und Zerfall von Entitäten im Hinblick auf ihre Konstitutionsprozesse zu beleuchten. Mit ihr und dem Erfolgsbeispiel „Haneke“ können Strategien der Filmindustrie erschlossen werden, die das Kunstprodukt Film in seinem – zum Teil offenkundig längst erfolgreich erfolgten – Übergang „vom Markt zur Marke“ begleiten. Arthouse lautet nunmehr der dynamische Begriff zu dieser Form von Kino, unter dem sich u.a. ein Filmwerk versammelt, das mit „Autorenkino“ inzwischen nur unzureichend beschrieben ist. Denn es geht letztlich – aus kulturpessimistischer Sicht dringender denn je – um die Stabilisierung einer Praxis von Öffentlichkeit. Der im Projekt erprobte Ansatz der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) wird hier folglich nicht nur als theoretisches Alternativmodell zu traditionellen (Film-) Geschichtsschreibungsmodellen, sondern auch in seiner ingenieurhaft-pragmatischen Funktion als konstruktives Erschließungsmodell der Praxis herangezogen. Die Akteur-Netzwerk-Theorie in Kombination mit dem Denkmodell eines Kinos in der Konzeption einer irreduziblen Ganzheit – als „Quasi-Objekt“, gleichzeitig real, diskursiv und sozial, in jedem Fall aber materiell – wird im Folgenden als Narrationsmittel eingesetzt, das sich den vielfältigsten Interaktionen verschreibt, von denen anzunehmen ist, dass sie am „Erfolg“ dieses Kinos teilhaben. Die Geschichten nehmen die unterschiedlichsten Akteure zum Ausgangspunkt; es sind schließlich „kleine“ Geschichten, Geschichten des Scheiterns und Nichtfunktionierens auch, die das große Narrativ eines „erfolgreichen“ Autoren- bzw. Arthouse-Kinos nähren. – Eines Kunstkinos bzw. künstlerisch ambitionierten Kinos, das ironischerweise erfolgreich genug ist, um „national“ zu werden und zu sein. Denn „eines ist ganz klar“, wie Haneke-Produzent Veit Heiduschka (Wega Film) bemerkt: „Wenn Film das große Geschäft wäre, würden alle Banken sich bei uns beteiligen und Schlange stehen. Es gäbe keinen europäischen Film, wenn es nicht europäische (nationale, regionale, internationale) Förderungen gäbe. Film ist so etwas wie Museum. Auch das Museum kann von den Einnahmen, die sie haben, nicht leben. Das ist einfach nicht möglich. Auf der anderen Seite ist Film die beste Visitenkarte eines Landes. Mir hat einmal in der Wirtschaftskammer jemand gesagt – er war in Los Angeles in der Mensa an der Universität – und einer hat ihn gefragt: ‚Wo kommen Sie denn her?‘ und er sagt: ‚Aus Österreich.‘ Und der sagt: ‚Ah, Haneke!‘ Das heißt also: über unsere Regisseure (Haneke, Seidl, Albert, Ruzowitzky, es gibt ja da einige) identifiziert man schon Österreich. Ich hab gerade erst wieder über die Schwierigkeit, Österreich international zu etablieren, gelesen – über Musik ist es schon schwierig, Mozart, man kennt Mozart vielleicht noch, weil es Mozartkugeln gibt, aber Österreich hat außer Red Bull (und Red Bull wird nicht mit Österreich verbunden, sondern mit den Amerikanern) nicht viel zu bieten. Im Filmbereich sind wir aber eine gewisse Klasse. Man beschäftigt sich damit. Ich treffe Japaner – neulich war auch eine große chinesische Filmdelegation da: Die wollen mit uns koproduzieren, mit Österreich! Das große China! Das muss einen Grund haben, nicht?“5

Einen Grund und eine Vielzahl von Konstitutivelementen: Was sich im vergangenen Jahrzehnt als dezidiert „nationales (Autoren-)Kino“ stabilisierte, in seinen Existenzgrundlagen jedoch eine offenkundig „transnationale“ und letztgültig eine gar universelle Angelegenheit ist – „Haneke“ dient hierzu und mit seinem rezentesten Erfolg 5

Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller.

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von Amour bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2012 einmal mehr als Paradeexempel – ist Resultat eines im Folgenden minutiös nachvollzogenen Recycling-Prozesses bzw. einer veritablen „Retromanie“: Rückbesinnung lautet das (nunmehr erfolgserprobte) Schlagwort angesichts einer Kinokulturtechnik in der Krise, die nicht nur unermüdlich um finanzielle Unterstützung kämpft, sondern auch ein beträchtliches Maß an Kreativleistungen vorzuweisen hat, deren materielle Artikulationen in den folgenden Szenarien so retro- wie prospektiv komponiert werden. Denn das Netzwerk der Handlungsträger hat sich im vergangenen Jahrzehnt inkommensurabel ausgeweitet und umfasst – durch die neuen Technologien bedingt – schließlich auch eine Vielzahl an nicht-menschlichen Akteuren. Vom Weißen Band (2009) zurück zu den öffentlich weniger bekannten Fernsehproduktionen bis hin zum historisch bislang einzigartigen Welterfolg des Dramas Amour nun, folgend, eine Geschichte zu „Haneke“.

ZWEITER TEIL – KOMPOSITION

4. Das Weiße Band: Von einer „deutschen Kindergeschichte“ über eine internationale Festivalgeschichte hin zu einer „österreichischen Erfolgsgeschichte“

60. „E ICHWALD “ IN J ERUSALEM : E IN B AND GEGEN DEN F LUCH

DER

G LEICHGÜLTIGKEIT

„Es ist, denke ich, eine einfache Tatsache, daß Menschen mindestens ebenso oft versucht sind, Gutes zu tun, wie sie sich anstrengen müssen, Böses zu tun, und umgekehrt“ (Arendt 2012 [1965]: 55), konstatiert Hannah Arendt 1965 in einer ihrer Vorlesungen an der New Yorker New School for Social Research. – Es ist dies eines jener intuitiven Urteile, die Arendt im Verlauf ihrer argumentativ so stringenten Ausführungen zur „Banalität des Bösen“ fällt und die sie zu einer der distinguiertesten DenkerInnen ihrer Zeit haben avancieren lassen. Denn im Urteil, so die polemisch versierte Philosophin, liege die Kraft der Humanität. Einer Humanität, die sich im Laufe der Geschichte dort in ihr absolutes Gegenteil verkehrt hat, wo Indifferenz als Haltung sich auszubreiten vermochte. Arendts Vortragsreihe schließt sinngemäß mit den folgenden Zeilen: „Diese Indifferenz stellt, moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist. Und damit verbunden und nur ein bißchen weniger gefährlich ist eine andere gängige moderne Erscheinung: die häufig anzutreffende Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern. Aus dem Unwillen und der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu wählen, und dem Unwillen und der Unfähigkeit, durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten, entstehen die wirklichen ‚skandala‘, die wirklichen Stolpersteine, welche menschliche Macht nicht beseitigen kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich verständlichen Motiven verursacht wurden. Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität.“ (Arendt 2012 [1965]: 150)

Hierin greift Arendt noch einmal auf, was sie zwei Jahre zuvor in ihrem vielschichtigen Prozessbericht und Abriss über die Deportation der Juden unter dem Titel „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ publiziert hatte:

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die moderne Massengesellschaft, in ihrem „fast automatischen Abwälzen von Verantwortung“ (Arendt 2012: 21). Der Prozess führt vor, wie sämtliche Erklärungsmodelle der Grausamkeit zusammenbrechen, die Arendt als „abstrakte Rechtfertigungen“ zusammenfasst: „alles, angefangen beim ‚Zeitgeist‘ bis hinunter zum Ödipuskomplex, womit zu verstehen gegeben wird, daß Sie kein Mensch sind, sondern eine Funktion von etwas und deshalb ein eher austauschbares Ding denn ein Jemand.“ (Arendt 2012: 21) Der assoziative Sprung zu Hanekes Weißem Band ist kein weiter. Wie Arendt in ihren allgemeinen philosophischen Ausführungen zur Provenienz des Bösen spitzt auch Haneke seine Reflexionen über die besagten „Wurzeln des Terrors“ modellhaft zu, lädt zum Urteil ein. Wider die Gleichgültigkeit. – Er reüssiert in seinem Anliegen. Der Film stellt Öffentlichkeit her, regt die Debatte an. Er gibt zu denken. In Israel etwa war sie ein Kassenschlager, die „deutsche Kindergeschichte“, die unmittelbar nach ihrer Frankreichpremiere in Cannes zur „österreichischen Erfolgsgeschichte“ wurde. Und das obwohl, mit Ausnahme von Hollywoodproduktionen, „ausländische Filme im jüdischen Staat nur wenig Aufmerksamkeit [genießen; K.M.]“, wie die Jüdische Allgemeine im April 2010 berichtet.1 Der in Deutschland – Netzow und Umgebung – gedrehte Film, der am 11. Februar 2010 Eingang in die israelischen Kinos findet, war einen Tag zuvor von Yair Raveh, Filmkritiker der Zeitschrift Pnaj Plus, angekündigt worden: „Es ist eine Geschichte über Kinder aus Deutschland im Jahr 1914. Jene Kinder, die 20 Jahre später erwachsen sind und Hitler ins Amt bringen werden; die das weiße Band an ihrem Arm gegen ein schwarzes austauschen werden. Die Kinder, die nicht mehr hinter dem Rücken der Erwachsenen die Schwachen missbrauchen, sondern es als Teil offizieller Politik deklarieren.“2

Schauplatz der Geschichte ist das fiktionale Dorf „Eichwald“, das Thomas Assheuer in einer der späteren journalistischen Stellungnahmen zum Film treffend als „die semantische Schnittmenge aus Eichmann und Buchenwald“3 auslegen wird: „eine Welt aus Misshandlung und Demütigung, die Brutstätte des autoritären Menschen. Hier pervertiert die christliche Liebesreligion zu einer Gewaltreligion, die den höchsten Preis fordert, das menschliche Glück. So lautet denn auch die erste Botschaft des Films: Die Kinder, denen die Eltern unter der Fuchtel des Staatsprotestantismus die Seele zertreten, sind Täteropfer und damit jener deutsche Typ, der Hitler die Stiefel ablecken wird.“4

Warum gerade diese „Welt“ – auch abseits des Oscar-Nominierungsdiskurses und von Seiten filmgeschäftlich Unbeteiligter – so eifrig für „in Deutschland gedreht“ befunden wird, kann nur in Form von Mutmaßungen beantwortet werden. Eine Begleit1

2 3 4

Belopolski, Alexandra. „Kassenschlager – Warum der deutsche Spielfilm ‚Das weiße Band‘ in Israel so erfolgreich ist“. http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/7291 [23.09.2011] Ebd. Assheuer, Thomas. „Teuflische Unschuld“. In: Die Zeit online: http://www.zeit.de/2010/ 11/DVD-Haneke-Das-Weisse-Band [23.09.2011] Ebd.

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erscheinung des Vergangenheitsbewältigungsprogramms möglicherweise. Was den Hintergrund der beachtlichen Besuchsfrequenz in Israel anbelangt, so beschränkt sich auch die Jüdische Allgemeine letztlich nur auf den Modus der Spekulation: „Vielleicht, weil es der erste Film war, der über den Holocaust sprach, ohne ihn direkt zu benennen. Ohne Uniformen, ohne Züge, ohne KZs, ein anderer Blickwinkel auf die damaligen Schrecken.“5 Der übermoderne Ort, dieses Amalgam aus faktischer Fiktionalität und fiktionaler Faktizität, das sich der eindeutigen Zuordnung verwehrt, hat jedenfalls die nicht nur psychologische sondern auch empirisch nachvollziehbare Breitenwirkung, Schrecken und Empörung auszulösen. Der Schrecken sowie die potentielle Katharsis liegen in der Universalisierung und der Enthistorisierung des Bildmaterials, denn – so der Einschätzung Thomas Assheuers zufolge – „das artifizielle Schwarz-Weiß verleiht dem Weißen Band etwas Modellhaftes und erweckt den Eindruck, als benutze Haneke seine Dorfgemeinschaft für ein Experiment, das in parabelhafter Zuspitzung nicht von spätwilhelminischen Zuständen, sondern von etwas Zeitlosem erzählt – nämlich von einer unheilbaren menschlichen Gewalt, die sich als finstere Macht schicksalhaft durch die Geschichte wälzt.“6

Der Film war – in der Zeitlosigkeit liegt neben der formalen Präzision eine der maßgeblichen Begründungen – weltweit mit derart vielen Preisen bedacht worden – von der Goldenen Palme, dem FIPRESCI-Preis, dem Preis der Ökumenischen Jury, dem Prix de l’Éducation Nationale in Cannes über den Europäischen Filmpreis (Bester Film, Beste Regie, Bestes Drehbuch) bis hin zum Golden Globe in den USA –, dass es müßig erscheint, eine erschöpfende Aufzählung vorzunehmen. Für den Oscar jedenfalls hat es nicht gereicht bzw. – eine Ansichtssache – war der Film „gut genug“, um ihn nicht zu bekommen. Es wäre in der Tat verwunderlich gewesen, hätte Haneke als „Verächter von Konfektion und Mainstream [...] plötzlich den elastischen Geschmack einer Hollywood-Jury getroffen“7. Dennoch, der Komplex „Haneke“ erweist sich als Generator von Öffentlichkeit und wird diesen „Geschmack“ – drei Jahre später – noch gehörig treffen. Auffällig hinsichtlich des Weißen Bands ist in jedem Fall, dass der Film im Rahmen der unterschiedlichsten Institutionen vielfach für pädagogisch wertvoll befunden wird. Seine Vermittlung als verheißungsvolles Studienobjekt ist eines der offenkundigsten diskursiven Begleitphänomene, die Das Weiße Band zu verzeichnen hat. Eine Begebenheit, die sich vor allem der Verleih des Films zunutze macht. Dieser – es ist der von Manuela Stehr geführte deutsche X Verleih – sieht sich zum Zeitpunkt der Erscheinung des Films mit jenen noch zu thematisierenden Problemen konfrontiert, die die gegenwärtige Situation eines Kinos, das gemeinhin als Arthouse-Kino auftritt und dessen Stabilität immer weniger eine Selbstverständlichkeit ist, mit sich bringt. Was für die Öffentlichkeit bestimmt ist, tut schließlich gut daran, an sie herangetra5

6 7

Belopolski, Alexandra. „Kassenschlager – Warum der deutsche Spielfilm ‚Das weiße Band‘ in Israel so erfolgreich ist“. http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/7291 [23.09.2011] Assheuer, Thomas: „Teuflische Unschuld“. In: Die Zeit online: http://www.zeit.de/2010/ 11/DVD-Haneke-Das-Weisse-Band [23.09.2011] Ebd.

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gen zu werden. Dass der Film gesehen wird, ist so auch stets ein Resultat strategischer Bemühungen; eines Stabilisierungsprozesses, der mit dem Terminus des „Marketing“ freilich nur unzulänglich beschrieben ist.

59. Z UR M ATERIALITÄT

VON

G ESCHICHTE ( N )

„Ich weiß nicht, ob die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, in allen Details der Wahrheit entspricht. Vieles darin weiß ich nur vom Hörensagen. Und manches weiß ich auch heute, nach so vielen Jahren, nicht zu enträtseln. Und auf unzählige Fragen gibt es keine Antwort. Aber dennoch glaube ich, dass ich die seltsamen Ereignisse, die sich in unserem Dorf zugetragen haben, erzählen muss, weil sie möglicherweise auf manche Vorgänge in diesem Land ein erhellendes Licht werfen können.“

– Dies ist, was wir hören. Über die Dauer einer halben Minute etwa, während uns eine schwarze Bildfläche vor Augen geführt wird. Während wir schwarz sehen. Oder auch „nichts“ sehen – eine interpretative Angelegenheit, von der wir absehen wollen. Eine Tonspur, eine ältliche Erzählerstimme aus dem Off (Ernst Jacobi), benennt eine Potentialität, kommt den Bildern zuvor und führt sehr literarisch in eine Geschichte ein, die, in einer dem Filmnarrativ vorgängigen Zeit, irgendwie begonnen haben muss. Aber wie? „Begonnen hat alles, wenn ich mich recht entsinne, mit dem Reitunfall des Arztes“, wenn wir uns auf die doppelte Autorität der so fortfahrenden Erzählerstimme – der Erzähler ist, wie wir erfahren werden, Lehrer (visualisiert: Christian Friedel) – verlassen wollen. Wenn wir darauf vertrauen wollen, dass er sich recht entsinnt. Aber auch von Sinn und Sinngebung wollen wir zunächst Abstand nehmen. Ein Film von Michael Haneke. Dieselbe schwarze Bildfläche, auf der in weißer Schrift der Vorspann zum Artefakt eingeblendet war – der Übergang war nahtlos. Statisch schwarz. Eine Geschichte, die vom Zeitpunkt ihrer Premiere bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes an weltweit rezipiert, ergänzt und gedeutet wird. Ein Artefakt – Das Weiße Band – und sein Untertitel: Eine deutsche Kindergeschichte. Eine deutsche Kindergeschichte, die, institutionalisiert über den in mehrerlei Hinsicht gewinnbringenden Umweg des Festivals, zur österreichischen Erfolgsgeschichte wird. Bleiben wir jedoch vorerst beim Filmprodukt: Eine zunächst nur akustisch, fortan jedoch visuell entfaltete, stellenweise vom Erzähler kommentierte Rückblende auf eine Reihe von Unfällen, die sich in einem protestantisch orientierten Dorf Norddeutschlands – „Eichwald“ – am Vorabend des Ersten Weltkriegs ereignet haben sollen. Diese im inszenierten Mikrokosmos des kleinen Dorfes sich ereignenden Unfälle sind folgenreich – sie sind das, was die Kritik flächendeckend auf die verheerenden Potentiale von Erziehung in einem protestantisch-wilhelminischen Umfeld verkürzt. Was – auch visuell – mit dem Reitunfall des Dorfarztes (Rainer Bock), der mit Pferd und erhöhter Geschwindigkeit über ein in seinem Garten gespanntes Seil stürzt und sich dabei schwer verletzt, beginnt, ist eine Anordnung von Verbrechen, von sehr klaren, kognitiv nachvollziehbaren Situationen, die haneketypisch im Unverständlichen und Unaufgelösten enden. Die aus mehr oder weniger selbsternannten Ordnungsbeauftragten formierte Dorfoberschicht – ein Gutsverwalter (Josef Bierbichler), ein Baron (Ulrich Tukur) und ein protestantischer Pastor (Burghart Klaußner) – finden einen Verantwortlichen für den Reitunfall; der vermeintlich Schuldige

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soll zunächst der Sohn einer armen Bauernfamilie sein. Doch die Spuren häufen sich und lassen sich ihrer Ausprägung nach immer weniger der Kompetenz (um nicht zu sagen: dem Verschulden) eines Einzelnen zuweisen: ein Beet wird verwüstet, eine Scheune in Brand gesteckt, Frauen und Töchter misshandelt, der Sohn des Barons entführt und schließlich an einen Baum gefesselt aufgefunden. Man hat dem Kind die Augen ausgestochen. Elternschaft artikuliert sich unablässig als etwas Verantwortungsbewusstes. Hier wird geschlagen, getreten und „geliebt“. Eindrucksvoll das Bild des kleinen Pastorsohnes (Thibault Sérié), der seinen Vater demütig um Erlaubnis bittet, einen kranken Wellensittich gesund zu pflegen. Er darf. Wenige Filmminuten später liegt der Vogel erstochen auf dem väterlichen Schreibtisch, die Schere steckt noch im Leib. Es ist das Bild, das im Merchandisingprozess des Films auf einem Kartonwerbeflyer zirkuliert. In Hochglanz. „Als ihr klein wart, hat eure Mutter euch bisweilen ein Band ins Haar oder um den Arm gebunden und seine weiße Farbe sollte euch an Unschuld und Reinheit erinnern. Ich dachte, dass in eurem Alter Sitte und Anstand genug in euren Herzen herangewachsen ist, dass ihr solcher Erinnerungen nicht mehr bedürft. Ich habe mich getäuscht. Morgen, sobald ihr durch die Züchtigung gereinigt sein werdet, wird eure Mutter euch erneut dieses Band umbinden und ihr werdet es tragen – bis wir durch euer Verhalten erneut Vertrauen gewinnen können in euch.“

– So der Pastor zu seinen Kindern, bevor er ihnen für moralisches Fehlverhalten abermals die weißen Schleifen anlegt, um „die Sünde fernzuhalten“. Sichtbar für das ganze Dorf. „Ich habe Gott die Gelegenheit gegeben, mich zu töten“, lautet das Schuldbekenntnis eines Buben an den Dorflehrer, der ihn von einem Balance-Akt im Wald vor dem Absturz rettet. Der Lehrer hat – wenngleich selbst zu beschäftigt mit seiner zärtlichen, vom potentiellen Schwiegervater jedoch unterbundenen Liebesgeschichte (Leonie Benesch als Eva) – einen Verdacht, den er mit den Zusehern jedoch nicht teilt. Die Rezipientenschaft fällt ihre Urteile selbst, schließlich ist es die Aufgabe, mit der der Regisseur Haneke sie einmal mehr bedacht wissen will. Der Pauschalverdacht (die Presse- und Kritiklandschaft lässt einen solchen nachträglich zu) fällt, was das Narrativ angeht, auf die offenkundig und visualisiert geschundenen und malträtierten Kinder als Endprodukte einer Schwarzen Pädagogik, die sichtlich scheitert, wie es auch die durch die Figur des Dorflehrers inkarnierte liberalere Form der Erziehung tut. Dass der Aufklärer scheitert, wird einmal mehr die im Fall „Haneke“ so oft zur Anwendung kommende „adornitische“ Auslegung des Narrativs begünstigen. „Ich weiß jetzt, wer all die Verbrechen begangen hat …“, sagt die Hebamme (Susanne Lothar) verstört und eilig zum Dorflehrer, wenige Filmminuten bevor das zögerlich angelegte who-dunnit-Narrativ mit einem Bericht über die Ermordung des Thronfolgers Franz-Ferdinand in Sarajevo abbricht und der Film sein offenes Ende findet. Feststellbar ist, auf Basis der zeitlichen und lokalen Verortung des an Düsternis wohl nur schwerlich zu überbietenden Narrativs, dass diese Kinder – einer sich aufdrängenden kontextuellen Logik nach – Repräsentanten der nationalsozialistischen Generation sind. Der Übergang vom Kulturprodukt als Kunstwerk zum Politikum mit Staatsaffärencharakter verläuft im Falle von Das Weiße Band nahtlos. Der Film feiert seine Österreichpremiere im historischen Sitzungssaal des Parlaments, schließlich

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könne man, wie Nationalratspräsidentin Barbara Prammer in ihrer Rolle als Gastgeberin unterstreicht, aus der Geschichte des Films lernen. – Ein Lehrstück, auf das die parlamentarischen Vertreter des rechten Lagers verzichten. Geschlossen war man der Einladung nicht gefolgt. Was aus interessensgeleiteter Perspektive wie eine Vereinnahmungssituation (Staat verwendet Filmbranche) erscheinen mag, verläuft gleichwohl nicht ohne Reziprozität. So sei „der augenzwinkernde politische Hintergrund dieser Aktion“ gewesen, „dem Parlament zu zeigen, wohin die Filmförderungsgelder fließen“, wie Rainer Bock, der für den Film die Rolle des Dorfarztes übernahm, erfreut bemerkt. Teilen dieser Aktion ist ein mediales Fortleben auf der Internetplattform YouTube beschieden.8 Die Geschichte, die nach selbstreferenzieller Angabe auf „Hörensagen“ basiert, mutet „literarisch“ an – ein Aspekt, der gerade hinsichtlich eines (Autoren-)Kinos im Prozess seiner „Nationalwerdung“ von hoher Relevanz erscheint. „Es gibt eine amüsante Anekdote über einen bekannten Kritiker einer wichtigen englischen Filmzeitschrift. Nach der Cannes-Premiere von Hanekes Schwarzweißfilm DAS WEIßE BAND. EINE DEUTSCHE KINDERGESCHICHTE (2009) stürzt er aus dem Saal und fragt einen Kollegen: ‚Wer schrieb die Vorlage? Schnitzler?‘ Dieses ‚G’schichterl‘ sagt weniger über den Sprecher aus (seine Unkenntnis der österreichischen Literatur sei ihm verziehen) als über Hanekes erfolgreiche Umsetzung eines Stoffes, der der Literatur entlehnt scheint.“ (Naqvi 2010: 129)

Tatsächlich bedient sich Haneke, wie Naqvi es minutiös recherchiert darlegt, diverser Vorlagen. In alter Tradition und Selbsttreue, wie dies noch zu entfalten sein wird. Es gibt sie, die Reihe von Quellentexten, auf die von Seiten des Regisseurs eine Bezugnahme erfolgt ist. Die strengeren Konzepte von Literarizität einmal beiseitegelassen, sind sie der 1977 von Katharina Rutschky herausgegebenen Anthologie Schwarze Pädagogik: Quellentexte zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung entnehmbar. Dialoge aus dieser Textsammlung sind in den Film eingeflochten, auch das symbolische Motiv des weißen Bands lässt sich auf einen der Texte zurückführen. Außerdem lässt sich in diesem Zusammenhang Thomas Bernhards Prosawerk Verstörung anführen, das Haneke 1967 rezensiert hat. (Naqvi 2011: 137) Was aber ist – ungeachtet dieser Elemente, deren „Sichtbarkeit“ von Wissen und Kenntnis des Publikums abhängt – in Das Weiße Band zu sehen oder genauer: zu vernehmen? – Nichts jedenfalls von den leidenschaftlichen Debatten etwa, die Haneke am Set mit einem Kostüm- bzw. Maskenbeauftragten angesichts des ganz und gar nicht der inszenierten Zeit entsprechenden Bartes bzw. der Frisur eines Akteurs führt: „Das ist ein moderner Bart, das geht nicht.“ Dafür: „Böswilligkeit, Neid, Stumpfsinn und Brutalität“, wie es sich einer „profilmischen“ Klage der Baronin entnehmen lässt. Dann: „Inzest, sexuelle Repression und Konformismus“, in einer Stilistik, die zeitweise „museal“9 anmute, wie es eine 8 9

Beitrag des Kurier zur Österreich-Premiere von Das weiße Band im Parlament. http://www.youtube.com/watch?v=Md0cuL08S0g [21.05.2011] Kamalzadeh, Dominik. „Wunscherfüllung mit ‚Operation Kino‘: Unterschiedliche Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit: Tarantinos ‚Inglourious Basterds‘ und Hanekes ‚Das weiße Band‘“. In: Der Standard, 22.05.2009.

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„metafilmische“ Stellungnahme aus Cannes für den Standard behauptet. Oder: „Allemagne années zéro?“10, wie ein Beitrag der Cahiers du Cinéma in Anspielung auf Roberto Rosselinis Germania, anno zero (1948) tituliert und den Film damit sehr einschlägig bis tendenziös kanonisiert. Den Cahiers ist – ihres Bekanntheitsgrades und ihrer Deutungsautorität wegen – in dieser Einschätzung für den weiteren Verlauf des Narrativs entsprechende Relevanz beizumessen. Verbreitungstechnisch besonders interessant werden solche Stellungnahmen – deren es in Weltruhmfällen wie diesem eine Unmenge gibt – jedoch in ihrer Funktion als Ding-Inskriptionen. Erhebliche Relevanz nach dem Unterschied-Performanz-Prinzip ist dabei jenen Dingen beizumessen, die ihre Verwender länger umgeben als etwa die Tageszeitung. Unter ebendiesem Aspekt ist in Das Weiße Band filmsichtungsunabhängig nämlich auch Folgendes zu sehen: „Eine Geschichte aus der Vergangenheit, die in die Zukunft weist – ein Film, der noch in Jahrzehnten gesehen und diskutiert werden wird“, wie der dem Guardian entnommene Schriftzug auf der DVD-Deluxe-Edition der Firma X Verleih nahelegt. – Eine Prognose, die nicht nur Prognose ist, sondern auch einen informativen Mehrwert hat: der technisch hochaufwendige, zunächst auf Farbnegativ gedrehte (Krenn 2011: 81), verhältnismäßig eher schnittkarge Schwarzweißfilm, der als solcher auf die interpretierte Epoche verweist – Haneke orientierte sich an aus der inszenierten Zeit stammenden Fotografien – wird hier mit Zeitlosigkeit attribuiert, kann also im Anschluss an Naqvis Befund gelesen werden: „Obwohl er [Haneke; K.M.] sich nicht auf die allerletzten Themen verlegt – seinen Themenkreisen ist eine gewisse Nachträglichkeit eigen –, werden seine Filme mit ihrer traditionsreichen Ästhetik als zeitkritisch und neuartig erlebt.“ Darauf, so die bemerkenswerte Einschätzung der Autorin, „deuten seine ständige Präsenz bei den Filmfestspielen in Cannes hin, seine vielen Festivalpreise und die Einladung, den Film Funny Games ein zweites Mal in den USA zu drehen“ (Naqvi 2010: 13). Zeitlosigkeit bezieht sich im Falle von Das Weiße Band also nicht nur auf seine autoformative Tarnung als Historie (Naqvi 2010: 130), sondern auch auf diskursive Formationen, deren Fortleben sich u.a. in Form von Inskriptionen konkretisiert und die in ihrer Performanz (hier: Verbreitung) weitgehend von ihrer Materialisierung abhängen. Dass diese Filme als „neuartig“ erlebt werden, liegt vordergründig schon daran, dass ihr Entstehen – wie Kameramann Christian Berger memoriert – sich zuweilen an der technischen „Grenze der Machbarkeit“ bewegt. Die handwerkliche Konkretion der Geschichte bezieht ihre Kräfte aus der Paarung der gegenwärtigen technologischen (digitalen) Möglichkeiten mit den neuen alten (analogen) Dispositionen, die sich im Weißen Band vereinen: „Der Film wäre vor einigen Jahren nicht nur wegen der Dunkelheit nicht machbar, sondern auch wegen des Looks undenkbar gewesen. Mit der Dunkelheit ist es bei Michael immer das Gleiche, es ist ihm immer alles viel zu hell. Er selbst steht schon mit einem auf Dunkelheit adaptierten Auge wie ein Uhu im Studio und findet alles immer noch zu hell. Vieles war weit unter den messbaren Möglichkeiten, das wäre analog einfach nicht mehr zu machen gewesen. Mir war oft wirklich nicht mehr wohl in meiner Haut. Immerhin muss ich ja etwas liefern und ich kann ja nicht zum Produzenten sagen ‚Der Haneke hat gesagt, ich soll das Licht abdrehen.‘ 10 Méranger, Thierry: „Le Ruban blanc de Michael Haneke – Allemagne années zéro ?“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 649, Oktober 2009.

110 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE Abgesehen davon, dass es mit dem Abdrehen nicht getan ist, das Bild muss ja auch gestaltet sein. Bei einigen Schlüsselszenen waren wir an der physikalischen Grenze, das war beim Drehen ein wirklicher Blindflug. Ich glaube, das weiß er nicht immer zu schätzen, denn er sagt immer ‚Ihr sagt jedes Mal, es ist zu dunkel und dann geht’s eh immer.‘ Da täuscht er sich ein bisschen. Dass es geht, ist bewiesen, aber es ist so sauknapp, dass man es vorher nicht wissen kann. Wenn es gelingt, ist es aber dann auch schöner, da bin ich dann auch wieder froh darüber. Vor einigen Jahren wäre dieses Ergebnis sicherlich nicht erreichbar gewesen, denn diesen neueren und moderneren Look von Schwarzweiß finden Sie auch bei den besten Schwarzweißfilmen von früher nicht. Wenn man sich die schönsten Nykvist-Arbeiten mit Bergman ansieht, dann schauen die technisch alt aus. Die Verbindung der modernen analogen Materialien, d.h. die letzte Generation der Negative in Farbe haben einen Stand, der vor wenigen Jahren noch nicht existierte und auch das haben wir überschritten, da es ja analog nicht mehr kopierbar wäre. Man konnte nur durch die Verbindung mit der digitalen Technik Dinge rausholen, die vor kurzem noch nicht denkbar gewesen wären. Es waren die besten Eigenschaften von beiden Welten – analog wie digital – die da zusammengekommen sind.“11

Beim Abendessen anlässlich der Premiere von Amour 2012 in Cannes, sitze ich Burghart Klaußner und Veit Heiduschka gegenüber, wir sprechen über die etablierten Verfahrensweisen der Hermeneutik, über den „Mehrwert“ der den Regisseuren und Autoren zuweilen so eifrig angedichteten „ästhetischen Intentionen“, über das „Hineingeheimnissen“, um Klaußners ironische Wortkreation zu bemühen. Wir sprechen über Elaborate der Praxisnähe und -ferne. Heiduschka verweist kollegial auf seine Studienkollegin Elfriede Jelinek in ihren literarischen Reflexionen auf Hanekes Filmwerk (Jelinek 2010), die er admirativ für sprachlich höchst versiert befindet, allein mit Praxis habe das überhaupt nichts zu tun. Im November desselben Jahres treffe ich Heiduschka wieder, der lebendig anekdotisch immer wieder auf jene zahlreichen Momente von Film verweist, die sich so ergeben, wie sie sich eben ergeben, schlicht und relativ ungeheimnisvoll aus Gründen der Machbarkeit oder Unmachbarkeit in der Umsetzung: „Wir können natürlich heutzutage viel mehr Dinge über Technik machen als das früher der Fall war. Zum Beispiel beim Weißen Band: der Schnee, den Sie am Schluss in den Bildern sehen, ist kein deutscher Schnee, sondern das ist österreichischer Bergschnee, weil der deutsche Schnee ist nass und glänzt nicht kristallin und im Trick wurde er mit österreichischem Bergschnee ausgetauscht, weil der ist kristallin und glänzt. Das konnten Sie früher nicht machen. Oder: die Dächer in dem Dorf wurden alle ausgetauscht im Trick, weil die haben nicht gepasst. Aus. Da gibt uns die neue Technologie natürlich schon auch Dinge in die Hand.“12

Wie immer man es auch drehen und wenden mag: das Erleben von Filmen wie auch die Fähigkeit, Geschichte(n) sehen oder hören zu können, impliziert – neben der Gegebenheit von Öffentlichkeit freilich – die Voraussetzung von Materialität bzw. die 11 Berger, Christian. Im Gespräch mit Karin Schiefer (AFC), Februar 2010. http://www.afc.at/jart/prj3/afc/main.jart?rel=de&reserve-mode=active&content-id= 1164272180506&tid=1268662841811&artikel_id=1268662829178 [10.11.2012] 12 Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller.

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der Materialisierung dieser Geschichte(n). Auf die Frage nach dem „Geheimnis des Systems“ der technischen Umsetzung seiner aktuellen Reflexionen zur Anfertigung von Film, erwidert Berger zu seinem eigens entwickelten Cine Reflect Lighting System (entstanden aus der Idee einer Reduktion der Bedingungen des technikbestimmten Diktats zugunsten „natürlicherer“ Bedingungen am Set, die eine Minimierung von Beleuchtungskörpern, Stativen und Kabeln vor Ort mit sich bringt): „Es ist kein Geheimnis. Es ist ganz simpel. Es ist eine abgeleitete Naturbeobachtung. Wenn ich vom Tageslicht spreche, dann haben wir, ob nun von Landschaften oder Räumen die Rede ist, eine Lichtquelle, und das ist die Sonne. Und alles, was mit dem Licht passiert, bis es bei uns ist, das ist Reflexion, Diffusion und Absorption. Diese Prozesse kann ich bis zu einem gewissen Grad nachmachen und es wird dadurch leichter, schlanker und flexibler.“13

Was mit dem Licht, einer naturgegebenen, sichtbaren elektromagnetischen Strahlung beginnt, auch das schlägt sich unter anderem im kulturell bedingten „neuartigen Erleben“ eines Haneke-Films nieder und landet schließlich auf den diesbezüglich indikatorisch angeführten Filmfestivals. Festivals sind folglich – ebenso sehr wie das Filmset – nährbodenhafte Orte einer Materialisierung, die die Erfahrbarkeit von Geschichte(n) bedingend voraussetzt.

58. E INE M ETALOKALISIERUNG : V ON DER F ABRIK IN DIE V ITRINE – C ANNES , DIE OBLIGATORISCHE P ASSAGE „Si Hollywood est le lieu de fabrication de rêve, ‚l’usine‘ de l’industrie cinématographique, Cannes en est la vitrine magique, la scène mythique.“ (Vidal 2007: 251)

Dass die Logik eines Internationalen Filmfestivals zwangsläufig des Konstrukts eines nationalen Kinos bedarf, dass dieses „Nationale“ quasi die Existenzgrundlage für ein solches Festival bildet und die territorial orientierte Homogenisierung von kinematographischen Länderblöcken Bedingung und Voraussetzung für seinen kompetitiven Charakter ist, mag nahe liegend erscheinen. Wir wollen hier dennoch nicht davon ausgehen, dass diese Blöcke als stabile Entitäten zu begreifen sind, sondern dass sie sich am und durch Festivals transformieren und sich – im Zuge stetiger Remediatisierungsprozesse14 – immer wieder neu konstituieren. Der Typus des Internationalen Filmfestivals wird damit zu einem Über-Ort, der einen entscheidenden Knotenpunkt im Netz der Konstitutionsprozesse eines „nationalen (Autoren-)Kinos“ darstellt. Will man die globale „Kinolandschaft“ im Sinne der Übersetzungslogik der ANT nachzeichnen, so lässt sich dies in Form einer Geographie von obligatorischen Passagepunkten (Callon 1986: 183) durchführen – das Internationale Filmfestival ist zwei-

13 Berger, Christian. Im Gespräch mit Karin Schiefer (AFC), Februar 2010. http://www.afc.at/jart/prj3/afc/main.jart?rel=de&reserve-mode=active&content-id= 1164272180506&tid=1268662841811&artikel_id=1268662829178 [10.11.2012] 14 Zur „Remediatisierung“ vgl. Seier 2007.

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felsohne ein solcher Punkt, an dem Akteure zusammenkommen, an dem Methoden und Strategien erkennbar werden, „die vom einfachen Handel über Verführung bis zur reinen Gewalt reichen“ (Callon 1986: 183). Am 21. Mai 2009 hat Michael Hanekes Film Das Weiße Band Premiere bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes. Es ist der Zeitpunkt der Präsentation des Films mit anschließender Pressekonferenz, dem die konventionelle montée des Marches, der geplant zögerliche Treppenaufstieg in den Festivalpalast vorangeht, bei dem der Regisseur und sein Team minutenlang dem Blitzlichtgewitter der Fotografen ausgesetzt sind bzw. werden. Ein Ritual, das unter anderem zeigt, wie sehr die Artikulationen eines „nationalen“ (Autoren-)Kinos von materiellen Vorrichtungen bestimmt sein können. Dass der simple, an und für sich sehr alltägliche, hier jedoch in seinem Ablauf strikt vorgegebene Akt des Treppensteigens zum „einzigartigen“ Spektakel wird, hängt in gleichem Maße von den administrativen Strukturen und ihrer teleologisch geleiteten Organisation wie von der lokalen Verortung in seiner materiellen Geformtheit und Erscheinung ab. Doppelt „einzigartig“ präsentiert sich das Spektakel von Cannes, wiederholt es sich in seiner Ablauflogistik schließlich an jedem der zehn aufeinanderfolgenden Festivaltage gleich zweimal. Täglich werden auf diese Weise zwei Film-Teams exponiert. Der festliche Aufstieg zum Palais des Festivals um in die Salle Louis Lumière, den sakral inszenierten Präsentationsort15 des rezentesten Filmschaffens, zu gelangen, wird so zur zeremoniellen Autoinszenierung von Kino und damit zum Emblem par excellence einer in ihren Marketingstrategien weitgehend theatral angelegten Ereigniswirtschaft, wie sie Joseph Pine und James Gilmore konzipieren (Pine; Gilmore 1999). Einer Ereigniswirtschaft, deren Effekte und Wirkungen jedoch nur zum Teil programmierbar sind, wie nach Logik der ANT zu ergänzen bleibt. So soll der Treppenritus im Dienste des Ruhmgewinns einer strikten Kompositionslogik gehorchen – der Aufstieg ins Palais des Festivals, den nach geltender Regel Regisseur, Produzent und zwei Hauptdarsteller kollektiv bestreiten (im Falle von Das Weiße Band ist das Kollektiv um die obligatorische Schar von Kindern erweitert), wird von einer eigens dafür bestimmten, zwischen acht und 80 Personen umfassenden „équipe des Marches“ koordiniert; die Festivalleitung gibt ihr Handlungsprogramm vor: „Rien n’est laissé au hasard dans l’organisation du Festival de Cannes, et plus particulièrement dans son apogée quotidienne : la montée des Marches. En fonction de l’événement, de huit à quatre-vingt personnes sont en charge de la préparation de cette cérémonie. Cette ‚équipe des Marches‘ a pour obligation que tout se passe avec le maximum de solennité, et le moins d’imprévu possible ; ceci serait préjudiciable au prestige de la cérémonie et du Festival. Et Cannes devient véritablement, durant le Festival, la ville-protocole et la ville apparence. Le Festival de Cannes starifie autant qu’il stratifie, puisqu’il met en place un système protocolaire extrêmement rigide, des costumes aux uniformes, des autorisations et accréditations aux mille sésames, officiels et officieux, hiérarchisant compétences et reconnaissances.“ (Vidal 2007: 254)

15 Als sakral kann die architektonische Aufmachung wie auch die gesamte Zeremonie des Festivals gelesen werden, die Formen eines religiösen Akts aufweisen. (Cheyronnaud 2001)

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Hinter der schillernden Fassade des minutiös geplanten Bühnenbilds verbirgt sich folglich ein Produktionsapparat, der im Dienste der Fabrikation eines Ausnahmezustands mit dem Effekt einer größtmöglichen Erreichbarkeit von Publikum seine von prozessualen Sequenzen durchsetzte Operationslogik vorgibt: „[…] on y réglerait les mouvements, le déploiement des présences, leur composition avec un environnement appareillé, mobilier, équipements fixes ou démontables, couleurs, textures, etc. ; bref, un souci de bien faire les choses, d’investir dans le paraître des effectuations vives.“ (Cheyronnaud 2001: 39) In dieser Hinsicht mag eine restriktive Festivalpolitik, in der nichts dem Zufall überlassen bleiben soll, in ihrer Inszeniertheit16 zwar beeindrucken, jedoch bleibt das Festival in seiner Wirkungspotenz – die selbstverständlich weit über seine lokale Verortung hinausgeht – Paradebeispiel dafür, wie verkürzt es ist, Ereignisse von solch unermesslichem Format allein auf Prestige-Diskurse, soziale und institutionelle Prioritäten oder gar auf nach Privilegien ausgerichtete Hierarchien zu reduzieren. Mit Latour ist jeder Gemachtheit stets auch etwas Unbeherrschbares inhärent, folglich ist die beschworene „entité événementielle“ (Cheyronnaud 2001: 38) in ihren stetigen Remediatisierungsprozessen in der Tat zu diskursiv und sozial, um allein auf Macht und Interessen reduziert werden zu können. Diverse im Rahmen der jüngeren Geschichte des Festivals zu beobachtende Konflikte der Festivalleitung mit dem kinospezialisierten Privatsender Canal+ und seiner (Repräsentations-)Hegemonie17 (die Canal+-Gruppe ist jährlich Kooperationspartner einer ganzen Reihe von in Cannes gezeigten Filmen, so auch von Das Weiße Band), stehen dabei für sich: Cannes ist Schauplatz. Und als solcher wird das Festival auch landläufig in seiner Dynamik beschrieben – Cannes als ein Dispositiv der Visualisierung, an dessen Reputation insbesondere das Spannungsverhältnis des Zeigens und Verbergens teilhat: „Le Festival de Cannes tient en effet pour partie sa réputation du fait qu’il offre la particularité de montrer ou de laisser apercevoir à tout un chacun des acteurs, des stars, et donc, de susciter certaines façons d’être spectateurs, plusieurs façons de chercher à voir.“ (Claverie 2001: 53) Cannes ist ein Werbefenster auf die Filmwelt und dabei – auch jenseits von Geplantheit – durch materielle Vorrichtungen, die das Ereignis durchsetzen, bestimmt. Cannes ist Ort der Multiplikation und Potenzierung des Präsentierten und Repräsentierten – ein Reigen der Interdependenzen von Akteuren, in dem die Linse eines einzelnen von hunderten Fotografen zur Projektionsfläche von wiederum tausenden Voyeuren werden kann. Ein Knotenpunkt der Interaktivität und der Zirkulationen, mit einer lokalen Ausgangsfläche von 300 Metern Asphalt und 72 mit rotem Teppich bespannten Stufen – „[…] cette configuration physique accueillant les différents types d’activités et de manifestations impliquées dans la programmation officielle et leurs pratiques d’espace public laisse apparaître un fort dégré de focalité“ (Cheyronnaud 2001: 41). Diese Fokalität ließe sich konzeptuell auch auf einen weiter gefassten lokalen Rahmen ausdehnen – komprimieren sich die Diffusionskräfte schließlich auch im Umfeld des Palais. Luxusresidenzen, Salons, Hotelterrassen können insofern als ebenso konsiderable Außenstellen in Betracht gezogen werden. Die Plastizität des 16 Jacques Cheyronnaud spricht von einer „mise-en-site“ als „art de la disposition spéculaire“ (Cheyronnaud 2001: 44). 17 Vgl. dazu Cheyronnaud 2001.

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Ereignisses – die Anordnung der Akteure, vom Zeremonienmeister über die Zirkulationsvorgaben durch Bodenmarkierungen und Demarkationslinien im Festivalareal – bleibt keineswegs auf ihre „Einzigartigkeit“ beschränkt, sondern ist in den Prozess einer stetigen Remediatisierung eingebunden. Einer der Hauptakteure der Verbreitung und Multiplikation des Geschehens ist – neben den vielfältigen SpezialFernsehausstrahlungen, Radio- und Presseausgaben – selbstverständlich das Internet. Auf der offiziellen Website des Festivals stehen dort – während des Festivalbetriebs und mittels virtuellem Archiv über diesen hinaus – Trailer, Presseheft, Filmausschnitte, Einzelbilder der Filme sowie Interviews und Pressekonferenzen zeitlich relativ unbegrenzt zur Konsultation bereit. Damit ist Cannes (stellvertretend für den Typus des Internationalen Filmfestivals allgemein) weder nur Vitrine, noch Fabrik; lässt sich nicht auf eine abstrakte, aus homogenen Interessensgemeinschaften bestehende Maschinerie begrenzen. Cannes steht für eine Verschränkung der Kräfte von Produktion, Distribution, Konsumtion und Rezeption; es ist ein Ereignis prozessualer Dynamik, das sich von zeiträumlichen Gegebenheiten absetzt, sich in stetiger Remediatisierung entfaltet, um schließlich in einer Vielfalt bzw. einer Unmenge von (nationalen) Kinokonzeptionen aufzugehen. Die selektiven Grenzziehungs- bzw. Ab- und Ausgrenzungsbemühungen der Veranstalter – von Zugangsbeschränkungen, über die Privilegienvergabe in Form von Einladungen und Akkreditierungsbadges („[…] il faut montrer ‚patte blanche‘ comme l’on dit, et ‚montrer patte blanche‘ à Cannes consiste à présenter aux gardiens du Palais l’accréditation que vous a délivrée l’organisation du Festival.“ [Ethis 2001: 21]) bis hin zu den sehr gegenständlichen Metallbarrieren (per se oder unter Beaufsichtigung von menschlichen Wachen – bisweilen auch mit tierischer Unterstützung [Hunde]), die den Typus des Zaungasts als Festivalteilnehmer erst ermöglichen; all diese Praktiken stehen für die Auffassung eines solchen Festivals als ein Knotenpunkt der Aktivität und Aktivierung von Film und Kino. Cannes ist, unter dieser Voraussetzung, obligatorischer Passagepunkt: „[…] film festivals can be seen as obligatory points of passage, because they are events – actors – that have become so important to the production, distribution, and consumption of many films that, without them, an entire network of practices, places, people, etc. would fall apart. These actors are of vital importance and constitute obligatory stops for the flows in the network. Film festivals are particularly important for the survival of world cinema, art cinema, and independent cinema, but Hollywood premières also rely on the media-sensitive glamour and glitter of the festival atmosphere to launch their blockbusters. The leading film festivals – such as Cannes, Berlin, Venice, Toronto, and Sundance – are particular [sic!] bustling nodes of activity where people, prestige, and power tend to concentrate.“ (De Valck 2007: 36)

Ergänzen ließe sich zu diesem Konzentrationsmodell, dass es aufgrund der medial erreichten Breitenwirksamkeit des Ereignisses gleichzeitig auch als Agentur der Streuung funktioniert. So beansprucht das Festival u.a. einen eigenen televisuellen (Live-)Sender, der das aktuelle Geschehen aufzeichnet und kommentiert. Die Aufzeichnungen finden sich – zumindest partiell archiviert – auf der offiziellen Website des Veranstalters. „On est dans un univers très particulier, extrêmement troublant“, gesteht der Kommentator in der Aufzeichnung der montée des marches Michael Hanekes und

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seines Teams anlässlich des 62. Festivals.18 Bezeichnenderweise ist hier zunächst nicht immer ganz klar, welche Bilder er nun kommentiert, ob aus dem Narrativ von Das Weiße Band oder vom roten Teppich aus berichtet wird. Als die DarstellerInnen der Kinder seine Aufmerksamkeit erwirken, gelingt ihm schließlich die Verknüpfung: „Ils sont là, mignon comme ça, mais vous le verrez dans le film…“. Nicht nur, dass hier Misstrauen folglich bereits vor der Projektion geschürt wird, es bleibt als solches auch additional zum ohnehin schon breiten Kommentarbestand online abrufbar. Auch ein stichprobenhaft in die Online-Ausgabe des in den entlegensten Provinzen konsultierbaren Boulevardmagazins Gala geworfener Blick stützt die Streuungslogik. Die Gala stellt nach dem Motto „Mehr Glamour ‚Cannes‘ es nicht geben“ anlässlich der 62. Filmfestspiele an der Croisette ein „Cannes-2009-Special“ zur Verfügung. Auf einer mit dem 25. Mai 2009 datierten digitalisierten Fotografie posiert Michael Haneke – nach Vorschrift im schwarzen Smoking mit Fliege19 – mit Urkundenrolle und Palme, hinter ihm türmt sich eine Horde von Fotografen: „Die ‚Goldene Palme‘ geht an den Österreicher Michael Haneke für sein Werk ‚Das weiße Band‘“, so der Titel des Bildes. Zusatz: „Der Film läuft in den deutschen Kinos am 10. September 2009 an.“ Am linken oberen Rand des Siegerbildes positioniert finden sich, verlinkt, die vier von der Gala angebotenen Kategorien zum „Cannes-Special“: „Die Gewinner“, „Roter Teppich“, „Die Jury“, „Atmosphäre“. Fazit der Gala: „Strand, Sonne, Palmen: Kein Wunder, dass Cannes das beliebteste Filmfestival der Welt ist.“20

57. J EDEM S TRAND SEINE W ELLEN : D ER ALTE UND DER NEUE F ILMMARKT UND P HANTASMA DER S ELBSTREGULATION

DAS

Geopolitisch betrachtet gilt das Phänomen des Filmfestivals in den Ursprüngen seiner Erscheinung als „europäisches“ Phänomen. Entstehungsgeschichtlich verläuft seine Profilierung parallel zur Etablierung und Selbstbehauptung des Nationalstaats. Zugespitzter: Im Kontext der Entwicklung einer Europäischen Moderne lässt sich das Filmfestival gewissermaßen als Teil des Handlungsprogramms „Etablierung von Nation“ ausmachen. Seine Historie lässt sich auf ein erstes Festivalereignis 1898 in Monaco zurückführen21; fortan korreliert das Phänomen Filmfestival mit einer zu diesem Zeitpunkt vehement betriebenen Praxis einer über Verfassungswege aber auch über 18 http://www.festival-cannes.fr/fr/mediaPlayer/10054.html [26.08.2011] 19 Obligatorischer Dresscode (Vidal 2007: 254). 20 Verfasser unbekannt. „Mehr Glamour ‚Cannes‘ es nicht geben“. In: http://www.gala.de/ lifestyle/kultur/59519/Cannes-2009-Mehr-Glamour-Cannes-es-nicht-geben.html [26.08.2011] 21 Mit Monaco, Turin, Mailand, Palermo, Hamburg und Prag gehen der in diesem Zusammenhang häufiger angeführten, regulär (d.h. fortan zweijährlich) organisierten Mostra Internazionale d’Arte Cinematographico in Venedig einige „einmaligere“ Festivals voran (De Valck: 2007).

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Kulturgüter zu erreichenden Souveränität: So fügt sich der Typus des Filmfestivals als breitenwirksames Kernereignis in eine ganze Reihe von auf Wettbewerbsbasis angelegten internationalen Ereignissen – große Ausstellungen, Olympische Spiele, Nobelpreis –, die als exemplarisch für die Verwendung von Kultur zur Profilierung von Nationen als souveräne, vereinte Körperschaften in mehr oder weniger freundschaftlicher Abgrenzung zu anderen Nationen begriffen werden können. Zu diesem Wettbewerb zwischen kulturellen Artefakten sei folglich angemerkt, dass er eine optimale Voraussetzung für nationalistische Angelegenheiten darstellt: „Culture proved an excellent area to be appropriated by nationalist agendas. The competitions between national cultural artifacts and its representatives (the artists) created a reservoir filled with examples of its national distinction and heritage. Cinema too, became an object to be used for international competition and, thus, film festivals can be seen as part of the modern project in which European nations used the concept of nation to guard their sovereignty.“ (De Valck 2007: 56)

Der Prototyp des Filmfestivals hat sich allerdings nicht nur als Instrument einer grenzüberschreitenden Rechtfertigungstaktik der nationalen Identität des Faschismus „bewährt“ (Stichwort: Venedig), auch die Nachkriegsjahre stehen für eine fortlaufende – nicht allein auf die vielzitierte ambivalente Beziehung zu Hollywood reduzierbare – Entwicklung aus nationalistischer Logik heraus: „The most important incentive shared among the European nations, and which generated the first boom in film festivals in the immediate post-Second World War period, concerns the war’s devastating effects: The traumatized European nations were eager to develop initiatives that would help them regain their proud national identities. Nation-states would continue to play a dominant role until the reorganization of the film festival format at the end of the 1960s and beginning of the 1970s.“ (De Valck 2007: 56)

Filmfestivals sind damit, historisch gesehen, zugleich integraler Bestandteil und Generator nationaler Filmkulturen. Aus einer linear-historischen Perspektive betrachtet, erfährt das Nationale in seiner Festivalkarriere – nach erfolgreicher Laufzeit in den 1950er und 1960er Jahren – eine Unterbrechung: Die mit den politischen Ereignissen des Jahres 1968 öffentlich umfassend geäußerten Unzufriedenheiten und ihre Konsequenzen betreffen selbstverständlich auch den Festivalbetrieb, in Frankreich geschieht dies am lautesten. Kulturminister André Malraux feuert Henri Langlois, Direktor der Cinémathèque Française – ein repressiver Staatsakt, der nicht folgenlos bleibt: Jean-Luc Godard, François Truffaut und Konsorten rufen zum Protestmarsch auf, die cinephile Kritik an der Filmindustrie spitzt sich zu – Kino soll in erster Linie Kunst sein –, ihr Repräsentationsapparat Cannes bleibt dabei freilich nicht unverschont. Man stößt sich an der Festivalführung und ihrer nationalen Note. Auf Betreiben der Vertreter der Nouvelle Vague in Frankreich verändert sich so auch die politische Stärkung des Kunstbegriffs in Verbindung mit Kinematographie. De Valck fasst diese Phase der kinematographischen Entwicklung wie folgt zusammen: „The fact that cinema was increasingly considered a high art and the director was now the auteur led to the use of festivals as a platform for these voices (by some criticized as appropria-

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tion). The second effect concerned the shift in the selection procedures. With the contemporary emphasis on the individual achievements of auteurs and the task of the film festival to show great works of art, the format of festivals as showcases of national cinemas had become antiquated. Consequently, steps were taken to change the selection procedures. […] Formerly, the various national governments selected the film entries. Now, the festivals themselves drew up their own selection procedures.“ (De Valck 2007: 63)

Nicht mehr Nationen, sondern Filme und ihre Autoren will man fortan in den Vordergrund gestellt wissen – eine revolutionäre kulturpolitische Entwicklung, die in nicht unerheblichem Maße auf den weltweiten Entkolonialisierungsprozess zurückzuführen ist. Die Umwälzung der Festivalformate in Kombination mit der virtuell allerorts sich abzeichnenden Infragestellung der dominanten Filmformen und des hegemonialen Status Hollywoods führt schließlich zur verstärkten Etablierung spezialisierter, nach thematischen Programmen ausgerichteter Festivals mit dem Anspruch politischer Intervention. (De Valck 2007: 70) Exemplarisch für diese tiefgreifende Veränderung steht die 1969 in Cannes eingeführte Selektionsreihe der Quinzaine des Réalisateurs, zu deren namhaftesten Entdeckungen auch Michael Haneke gehört, der mit seiner ersten Kinoproduktion Der Siebente Kontinent 1989 an der Croisette debütiert. In ihrem Anspruch „geistiger Unabhängigkeit“ und Wettbewerbslosigkeit ist die als Parallelsektion zum Hauptbewerb auftretende Quinzaine, die durch AbonnementSystem und Ticketverkauf auch nicht-professionelle Zuschauer für festivalzulässig befindet, eine bewährte Autorenbrut- und Geburtsstätte. Die Liste der geladenen Gäste zur Präsentation von Erstlingswerken erstreckt sich dabei von Werner Herzog, Rainer Werner Fassbinder, Nagisa Ōshima, Martin Scorsese, Ken Loach, Jim Jarmusch über Chantal Akerman, Spike Lee, die Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne, Robert Bresson bis hin zu Sophia Coppola, Stephen Frears u.v.m. Mit Beginn der 1970er Jahre besteht das Kerngeschäft der Filmfestivals weltweit in der Programmgestaltung. Das kompetitive Format nationaler Kinematographien hat ausgedient. Kultureller Wert bezieht sich in seiner Performanz nun verstärkt auf Filme und ihre Macher, auf Kunst und Künstler. Von Seiten der Programmgestalter ist eine verteilte Aufmerksamkeit gegenüber bereits etablierten Autoren, neuen Entdeckungen (wie die „neuen Wellen“ im Rahmen „nationaler“ Kinematographien) und/oder dem filmhistorischen Kanon zu verzeichnen. Mit der ehemaligen, nun wegfallenden Limitierung auf die Anzahl der jeweils eingeladenen Nationen, kann in der Selektion neuerdings auf ein weltweites Angebot (neuer) Filmprodukte zurückgegriffen werden. (De Valck 2007: 167) Die Ära der Programmgestaltung kann zunächst als Abwehrreaktion gegen den vormals dominanten Einfluss geopolitischer Aktivitäten, aber auch gegen die Überbetontheit des Glamourösen gelesen werden. Behält man die zwei antagonistischen Hauptkräfte im Auge, durch die sich das Phänomen des Filmfestivals überhaupt hervortun konnte – Hollywood einerseits und eine (europäische) Filmavantgarde andererseits –, so ist festzustellen, dass sich die Balance zwischen den beiden über die Jahre verschiebt: In Europa weicht der Abgrenzungselitarismus einem zunehmenden Favorisieren von Hollywood – eine Entwicklung, die insbesondere Cannes durch seinen ausgestellt schillernden Starkult vorführt. Hier formiert sich der populäre Mythos des Festivalwahns und äußert sich auch in entsprechend expliziter Form. Gleichzeitig taucht die „Anführerschaft“ der Filmavantgarde, die nun eher in New

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York als in Paris ihren Hauptwohnsitz hat, ab, wird zu einer „untergründigeren“, kollektiveren Bewegung und tritt damit in die Fußstapfen ihrer europäischen Vorgänger. In Europa hingegen ist, was seine avantgardistischen Ambitionen betrifft, ein Prozess der Individualisierung im Gange. (De Valck 2007: 173-174) Bemerkenswert für das Festival in seiner Versammlung von Akteuren ist, dass das Konzept kinematographischer Autorschaft bzw. die Autoren selbst einen interventionstechnisch bedeutsamen Aspekt für die Entwicklung der Filmfestivalformate – weg vom Nationalen – darstellt: „The concept of the auteur […] provided the ideal point of intervention in the outdated festival format in the context of recent social developments. The idea of the auteur harked back to the autonomous avant-garde artists, but remained vague enough to be appropriated by popular (Hollywood) productions as well, thereby continuing the reliance of film festivals on the merits of both of these antagonistic presences. Programming became an issue of cinephile passion (recognizing new great auteurs and movements) and political sensibility (representing both large social movements or liberation struggles and personal issues that remained underrepresented among the mainstream, such as those relating to gender, race, and ethnicity).“ (De Valck 2007: 174)

In den 1980er Jahren mit der damals neuen und sehr rasch boomenden VideoTechnologie spinnt sich eine Phase an, die sich bezüglich des „Nationalen“ von Kinokultur als Wiedereinbettungsphase bezeichnen ließe und die mit den ehemaligen Agenden nationaler Legitimationsprozesse wenig zu tun hat. Diese Phase, die bis heute andauert und in der dem „Nationalen“ als diskursive Formation in seinen Konstitutionsprozessen ein neuer Spielraum zukommt, zeichnet sich zunächst durch eine Verlagerung von der Nation auf die Stadt als Gastgeber der Festivals aus: „Within the new power relations, the nationalist geopolitics that dominated the early European festivals has been replaced with the influence of historicity, cities, and sites […]. In this new configuration, ‚the national‘ returns as one of the two major discourse strategies with which festivals profiled their programming. The second strategy revolved around ‚art cinema‘.“ (De Valck 2007: 70)

Dass das „Nationale“ trotz seiner geopolitischen Schwächung Konjunktur hat, dürfte zunächst auf die virulent werdenden Formen einer displaced-meaning-Strategie zurückzuführen sein: „As Julian Stringer writes: ‚The international film festival circuit now plays a significant role in the re-circulation and re-commodification of ‚old‘ and ‚classic‘ movies. Taking the form of revivals, retrospectives, special gala screenings, and archive-driven events, the contemporary exhibition of such historical artifacts provides a powerful means of extending cinephilia into the second century of cinema through a process of what Grant MacCracken has identified as the ‚displaced meaning strategy‘. With ‚displaced meaning strategy‘ Stringer means the process of labeling, classification, and identification that takes place at festivals worldwide. The reframing and re-circling of ‚old‘ cultural products as festival films secures, as Stringer argues, ‚the importance of some titles rather than others within the memory narratives of institutionalized culture.‘“ (De Valck 2007: 185-186)

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Dass die Nationale Logik, die der Programmgestaltung gewichen war, in ebendieser ihr Fortleben findet22 – ein Fortleben zweiter Ordnung gewissermaßen –, kann, wie sich am Beispiel „Haneke“ zeigt, allerdings auch den zahlreichen durch Technologien eröffneten virtuellen Spielräumen zuzurechnen sein, denen Zuständigkeit für die Streuung der besagten Events zukommt. Das Nationale hat wieder Konjunktur und es kommt abermals in Wellen, wie es sich aus den neuen Bezeichnungen folgern lässt: Die Profilierung einer „Nouvelle Nouvelle Vague“ oder etwa einer „Nouvelle Vague Allemande“, wie sie das Gegenwartskino aus Deutschland rund um die Vereinigung der Berliner Schule als Bezeichnung für sich beansprucht, sind die Schlagworte. Dass dem vermeintlich unbeherrschbaren Naturphänomen der Welle in seiner Konzeption als Teil des Quasi-Objekts „nationales (Autoren-)Kino“ dabei ein dem latourschen Ozonloch gleichender Status zukommen kann, ist augenfällig. Diskursiv, real und sozial zugleich, sind diese Wellen auf Technologien wie das Internet angewiesen et vice versa. Festivals sind in dieser Logik nur Strände, die ohne ihre Ebben und Fluten keine wären. Vor dem Hintergrund der Vitalität dieser Technologien, die eine Unterscheidung von Mikro- und Makrostrukturen in ihrer Relevanz für die Konstitutionsprozesse eines „nationalen (Autoren-)Kinos“ unmöglich machen, ist schließlich auch Cannes zu sehen. Cannes ist Großereignis, ein Event von globalem Format. Cannes ist jedoch auch, in seiner kleinsten graphischen Form, durch das berühmte Piktogramm der Palme ein Qualitätssiegel, das selbst in seiner minimal-bildlichen Artikulation „einen Unterschied macht“. Eine der Entfaltungssphären für diesen kleinen großen Akteur findet sich u.a. im kinowissenschaftlich hochinteressanten Typus des (Film-)Trailers.

22 Als radikales Beispiel hierfür ließe sich etwa die Sektion Tous les Cinémas du Monde anführen: „Inauguré par le Festival de Cannes en 2005, Tous les Cinémas du Monde a pour ambition d’illustrer la vitalité et la diversité du cinéma mondial, le dynamisme de la jeune création et l’implication des institutions qui participent à l’épanouissement du cinéma d'auteur. Chaque jour, un pays programmera des longs et courts métrages et des documentaires, représentatifs de la part la plus créative de sa production récente. Des rencontres entre cinéastes et professionnels et des fêtes célébrant les différentes cultures seront également organisées pour que, de pays en pays et de film en film, nos regards s’ouvrent sur toutes ces richesses, sur ces sources vives de cinéma qui sont nécessaires au développement et surtout au renouvellement d’un art universel.“ In: http://www.festival-cannes.fr/fr/archives/evenementPresentation/id/4350761/title/ evenementOthers/year/2005.html [10.10.2011]

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56. V ORSCHAU : D EMNÄCHST

IM

K INO ! Z UM T RAILER

„Leise flehen meine Lieder / Durch die Nacht zu dir / In den stillen Hain hernieder / Liebchen komm zu mir.“ – Diese Zeilen, die Ludwig Rellstab einer Komposition Franz Schuberts zugrundegelegt hat und die als „Ständchen“23 jenen Elaboraten klassischer Musik zuzurechnen sind, die ein erhöhtes Maß an Popularität zu erlangen vermochten24, können gewissermaßen als Köder gelesen werden. Als ein solcher fungiert am Filmmarkt – neben Plakaten, Kritiken, Flyern und anderem Merchandising-Material – jedenfalls der Filmtrailer. Der Trailer als ein Kurzfilm, dessen Bedeutungskonstruktion darauf angelegt ist, Attraktion zu bewirken, zählt zu den effektivsten Strategien des Anwerbens von Filmproduktionen. Seine Betrachtung hat sich via Internet vom Kino als exklusiver Ausstrahlungsort weitgehend gelöst, er ist eine als Verlockung konzipierte semantische Verdichtung. Als Mikrofilm, der ein Themenbild entfaltet, mit dem Potential, nachwirkend ein Erinnerungsbild zu evozieren, hat er die strategische Funktion, Überzeugungsarbeit zu leisten, d.h. ein potentielles Publikum dazu zu bewegen, den angepriesenen Film sehen zu wollen. So lässt sich sein mehr oder weniger manipulatives Handlungsprogramm zusammenfassen, dem das Ziel eigen ist, eine größtmögliche Zahl an Anti-Programmen von Seiten seiner Rezipienten von vorne herein auszuschließen. Es ist darüber hinaus anzunehmen, dass der Trailer am qualitativen wie auch am quantitativen Rezeptionsresultat des zu sehenden Films teilhat und damit als Ding diskursmitbestimmend und -formatierend ist. Das Weiße Band wurde in den Kinos – an jeweils unterschiedlichen Lokalitäten – mit drei verschiedenen Trailern angekündigt. Zwei davon waren für den europäischen Raum (X Verleih) vorgesehen, ein weiterer, von Sony Pictures Classics in Auftrag gegebener für den US-amerikanischen. Im Falle des Weißen Bands ist es dreimal dieselbe vom Untertitel des Films suggerierte deutsche Kindergeschichte, die in ihrer werbetechnischen Aufmachung jedoch frappant variiert – und das nicht nur in ihrer „Deutschheit“: So fällt insbesondere auf, dass hier – nach Maßgabe einer möglichen Trennung von „Autoren-“ bzw. „Kunstkino“ und „Unterhaltungskino“ – ganz offensichtlich zwei disparate, der jeweils einen oder anderen Kinoform anhängende Körperschaften von Publikum adressiert und somit unterschiedliche kollektive Erwartungshaltungen generiert werden. So ist zwischen einem in seiner Bildkomposition äußerst dunkel angelegten ersten Trailer, der einer gewissen „Arthouse-Ästhetik“ wohl am nächsten kommt, und einem in starkem Kontrast dazu stehenden, atmosphärisch wesentlich heller ausgefallenen zweiten Trailer zu unterscheiden, der einem klassischen Erzählkino vorschauhaft alle Ehre erweist. Der dritte, für den US-amerikanischen Markt konzipierte Trailer ist mit dem ersten in seiner Bildkomposition relativ identisch, unterscheidet sich jedoch durch die – selbstverständlich auch sprachlich adaptierten – metakommunika-

23 D 957 Nr. 4 – Teil des wenige Monate nach Schuberts Tod veröffentlichten Liedzyklus „Schwanengesang“. 24 Die Interpretationen reichen von jener famosen Richard Taubers bis hin zur triefenden Schlagerversion Nana Mouskouris.

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tiven Einblenden. Für alle drei gilt, dass sie einen wesentlich kohärenteren Narrationsverlauf aufweisen als der Film, den sie ankündigen. Will man die Argumentation nicht beim Angebot der Narrationsentfaltung belassen – was sich schon angesichts der Kürze eines solchen Trailers plausibilisiert –, so würde sich noch eine zweite, aus der klassischen Literaturgattungstrias hergeleitete Unterscheidung anbieten. Trailer 1 wäre dann eventuell als lyrisch, Trailer 2 als deutlich epischer charakterisierbar; ein erster, kognitiv lückenreicherer einem zweiten, „runderen“ Trailer gegenüberstellbar. „J’aime trop la musique pour l’utiliser afin de cacher mes défauts“25, gesteht Haneke in einem Interview mit der französischen Tageszeitung Le Figaro. Tatsächlich ist Das Weiße Band, was seine musikalischen Untermalungen betrifft, äußerst melodienkarg ausgefallen. Es gibt keine Untermalung, nur die kausal in Kirchenchorund Dorffestszenen integrierte diegetische O-Ton-Musik. Auf einen Filmscore hat Haneke, wie schon in seinen Vorgängerwerken, verzichtet. Umso erstaunlicher erscheint daher rückblickend betrachtet der mit einer weißen Bildfläche einsetzende Trailer 2: Auf die Exposition des Qualitätssiegels (der auffällig gelb gehaltenen goldenen Palme als konventionell vertrauliches Versprechen) folgt das Einsetzen der orchestrierten Version des schubertschen Ständchens, sehr taktgetreu und vorspannhaft begleitet durch die sukzessive Einblende einer Auflistung von kritischen Befunden renommierter Presseautoritäten. Im Stakkato enumerativ aufgeblendet: „‚Großartiges Kino‘ – The Hollywood Reporter ‚Fantastische Darsteller‘ – Süddeutsche Zeitung ‚Wunderschön fotografiert und sehr beeindruckend‘ – Le Monde ‚Ein exzellenter Film und würdiger Preisträger‘ – Die Welt“

Mit dem Trailer ist der Film schließlich nicht nur als von Diskursen ergänzt oder erweitert zu denken, seine Erweiterung betrifft gleichzeitig auch die „metafilmische“ Ergänzung durch Bilder. Zu den Gedankenbildern, die uns unser kulturelles Wissen bzw. unsere Bildung als Supplement beschert, reihen sich also – einmal ganz abgesehen von der emotionalisierenden Komponente der musikalischen Unterlegung – Bildergänzungen kollektivformierender Dimension. Dieser Trailer, den eine unbestimmte Menge an Kinogängern und Internetusern gesehen haben muss, hat eine bestimmte Textur, ein bestimmtes Design und ein bestimmtes Format. UND: er hat – der Ästhetik des angepriesenen Films völlig widerstrebend – Farbe. Dem Trailer, konzipierbar als diskursapriorisches bzw. -determinierendes Ding und damit als Akteur, kommt in dieser Differenz entscheidende Bedeutung zu. Nicht nur gemessen am Filmprodukt Das Weiße Band macht er einen Unterschied: Die Farbgebung, die die Credits (Aufblende und Abspann) betrifft, dürfte für das evozierte Erinnerungsbild sowie auch im Rahmen der weiteren diskursiven Verhandlungen des Films ein entscheidendes Moment darstellen: zu den auf weißem Hintergrund aufgeblendeten schwarzen Schriftzügen gesellt sich am Ende ein roter. Es ist der Untertitel – Eine deutsche Kindergeschichte – in Sütterlinschrift, der auch in den Film einführt. Dort allerdings so klein, dass er kaum zu entziffern ist. Aus der Kombination mit dem goldgelben Palmensiegel ergibt sich schließlich die vielleicht streitbare, angesichts der Debatten jedoch 25 Frois, Emmanuèle: „Michael Haneke: ‚Je voulais montrer comment on devient inhumain‘“. In: Le Figaro, 22.05.2009.

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nicht allzu weit hergeholte Folgerung, dass es sich um eine relativ plakative Inszenierung deutscher Ikonen handelt. „Spannend muss es sein und neugierig machen ...“, soll Haneke seiner Cutterin Monika Willi auf die Frage nach seinen Trailer-Wünschen geantwortet haben. Haneke hatte Willi, die seit Die Klavierspielerin (mit Ausnahme von Caché) Schnitt und Montage der Haneke-Produktionen verantwortet, beim Trailer freie Hand gelassen: „Die freie Hand insofern, als er es nicht kann und auch keine Idee hat, wie ein Trailer ausschauen würde, also braucht er jemanden, der das für ihn macht. Und das war ein Weg auch, dass ich die Trailer gemacht habe. Ich mache sehr viele Trailer grundsätzlich, auch für andere Firmen und gehöre zu den wenigen, die auch gerne Trailer zu den Filmen machen, die sie selbst geschnitten haben. Üblicherweise sagt man, das soll man nicht machen, weil man so selten Dinge anders komponieren und aus dem Zusammenhang reißen kann. [...] Die Form ist eine andere, aber wenn man schneidet, muss man verschiedene Formen bedienen können.“26

Dass sich Formen und Inhalte wechselseitig bedingen, ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite betrifft die Tatsache, dass diese Komponenten nach Ländern variieren – und damit von den Verleihern schon gezielt im Vorhinein auf den „Bedarf“ der jeweiligen nationalen Publikumsgruppen eingegangen wird. So hält Willi zusammenfassend fest: „Beim Weißen Band gibt’s drei Trailer: den österreichischen, der der sogenannte internationale ist (wobei auf YouTube letztlich jeder international ist ...) – Sony Classics hat den als Basis genommen und umgearbeitet und die Zitate, die es dann zum Film gab, mit all den MasterpieceZitaten aus der Presse verarbeitet. Und – ganz klar: jegliche physische Gewalt (dargestellt oder hörbar), die in dem Trailer war, wurde reduziert. Und der deutsche Trailer, den X Filme gemacht hat, der anders ist, versöhnlicher, weicher. Bei Trailern ist es aber auch immer so, dass gerade ein so großer Verleih wie X Filme es sich ungern nehmen lässt, einen eigenen Vorschlag zu machen. Es ist ein anderer, den haben die gemacht, damit hab ich nichts zu tun. Jedem Land sein Trailer.“27

26 Gespräch mit Monika Willi, geführt in Wien am 29.11.2012. Interview: Katharina Müller. 27 Ebd.

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55. M IT DETERRITORIALISIERTEN G ESCHICHTEN DES S CHEITERNS ZUR NATIONALEN E RFOLGSGESCHICHTE : T HE M ASTER OF „F EEL -B AD C INEMA “ UND S PIELARTEN DER „ GLOBALISED ARTS “ Das Weiße Band ist der erste deutschsprachig gedrehte Film Hanekes seit Funny Games (1997), der Haneke, wie die österreichische Tageszeitung Der Standard festhält, „erstmals seit langer Zeit in die Geschichte [führt; K.M.]“28. Auch Die Presse stellt die historische Dimension des Films heraus, spricht dezidiert von einem „Historiendrama“29. Den Film mit dem Label des Historienfilms zu versehen, heißt es wiederum an anderer Stelle, sei „ein falscher Reflex und vielleicht auch ein Schutzmechanismus“, der „den Blick auf die Zeitlosigkeit der Mechanismen von Gefühlskälte, Demütigung, Unterdrückung und Gewalt“30 verstelle. – So die Einschätzung einer filmspezialisierten Bloggerin, die auf ihrer Plattform gegenschnitt exemplarische Stellungnahmen jener großen generationenübergreifenden Kritikerdebatte zum Ausgang nimmt, die eher von gefühlsmäßiger Erregung zeugt als von überzeugender Sachlichkeit. Es ist auffällig, dass Hanekes Filme kaum wo auf solchen Unmut stoßen wie in der deutschen Filmkritik, die, geteilt in zwei proportional unausgeglichene Lager, am Weißen Band balancierend ihrer inneren Zerfleischung entgegentritt. Ablehnung und Weigerung bestimmen das weit größere Lager, das sich entrüstet an einer als „totalitär“ empfundenen Vorgehensweise des Regisseurs stößt und sich zulasten jeglichen argumentativen Feinsinns in äußerst fragwürdigen Schimpftiraden ergeht: „Unglaublich autoritär“ sei Haneke als Regisseur, wie sich der eine Konsens mit Ekkehard Knörer zusammenfassen lässt: „Noch dass und wo etwas offen bleibt in seinen Geschichten und Bildern, will er haargenau selbst bestimmen. […] Haneke liebt es, von gottgleichen Positionen aus seine Geschichten zu dirigieren, aber er bevorzugt meist das Schweigen, er indoktriniert die Betrachter, indem er Evidenzen produziert, die nach Möglichkeit keinen Ausweg mehr bieten, keinen Widerspruch zulassen und in möglichst totalitärer Eindeutigkeit sagen, was Haneke sagen will. […] Es kommt eben hinzu, dass Michael Haneke von einer sich analytisch gebenden, in Wahrheit schrecklich gravitätischen Humorlosigkeit ist. Und dass er, viel schlimmer noch, keine Gnade kennt. Darin aber, in seinem Willen, komme was wolle, zu exekutieren, was er erkannt hat, ist Haneke als Regisseur – immer schon – der protestantischste aller Protestanten. Gnade ist, was seinen Filmen fehlt und Gnade wäre das, was sie bräuchten, um etwas anderes als Schauprozesse zu sein. Gnade in einem durchaus etwas abstrakteren Sinn. Als das Wissen darum, dass der Mensch aus krummem Holz gemacht ist und nicht aus geradem, oder auch vom Autor und Regisseur künstlich und exemplarisch gekrümmtem. Gnade hieße: den Figuren ihre Leben als Eigenleben zu lassen, ihnen die Freiheit zu gewähren, widersprüchlich zu sein, einen Unschär-

28 Meldung der APA. „Michael Haneke – ‚Kompromissloses Kino-Urgestein‘“. In: Der Standard, 02.02.2010. 29 Huber, Christoph. „‚Das weiße Band‘: Kindergeschichten“. In: Die Presse, 18.09.2009. 30 Kieninger, Kirsten. „Das weiße Band der Gängelung“. In: gegenschnitt, 27.10.2009. http://www.gegenschnitt.de/filme-2009/das-weisse-band/das-weisse-band-der-gangelung/ [10.07.2012]

124 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE febereich um die ihnen zugemessenen Konturen herum zu entwickeln. Auch: ihnen zugestehen, sich gegen das Diktat einer Moral, gegen die Lehre des Lehrstücks potenziell selbst zu erlösen. […] Und Gnade walten zu lassen, hieße für den Autor und Regisseur auch: Den protestantischen Strafkomplex nicht auch noch in der Logik des Films mimetisch zu verdoppeln. […] Ich jedenfalls kann auf diese Zumutungen und Zurichtungen nur reagieren, indem ich mir die Freiheit, die Hanekes Filme keinem zutrauen, einfach nehme und sage: Nö, nicht mit mir.“31

Diese Stellungnahme ist insofern erheblich, als sie eine offene Grundfrage der Zeigbarkeit anreißt, in der sich Haneke – gemessen an der formal-ästhetischen Konsequenz, die seine Filme durchzieht – ganz offensichtlich entschieden zu haben scheint: es liegt im Wesen des hanekeschen Agierens, das zu Denunzierende formal zu adaptieren. Die Verweigerung eines existenzialistischen Narrativs von Gesellschaft, einer gegenwärtigen wie einer vergangenen, die der Erlösung aus sich heraus nicht fähig ist, ebenso wenig wie sie es durch eine göttliche Instanz ist, bestimmt so die eine große, blasiert sich gebende Seite der deutschen Filmkritik. Die Aversion scheint sich in manch einer Mentalität ganz besonders dort zuzuspitzen, wo ein Kino der Erlösung nicht im Angebot ist. Hanekes Kino – so ließe es eine gegensätzliche Perspektive zu – erlöst den Zuschauer von der Erlösung. Entsprechend bleibt Knörers Stellungnahme nicht unkommentiert, sondern liefert den Einsatz zum dialogischen Wortgefecht: Als „blinde Wut“ bezeichnet Wolfram Schütte Knörers Reaktion auf den Film. Mit dem Verweis auf sein fortgeschrittenes Alter erlaubt er sich gleichzeitig einen historischen Rückblick auf die etablierte Tradition der deutschen Filmkritik, und stellt abschließend die provokative Frage nach einer spezifisch „deutschen Psychose“ in den Raum: „Ich erspare mir, lieber Herr Knörer, Sie nun weiter auf dem vorsätzlich eingeschlagenen Holzweg Ihrer Interpretation zu begleiten – obwohl es mich reizen würde, etwas zu Ihren gönnerhaften, recte: abfälligen Bemerkungen im Blick auf Hanekes ‚sagenhaft akkurat komponierte‘ Einstellungen zu sagen; und ich verkneife mir auch, etwas zu Hanekes ‚Gnadenlosigkeit‘, resp. ‚Trostlosigkeit‘ (wie andere schreiben) zu bemerken. Trostlos borniert ist die ideologische Vorurteilsstruktur, in der Sie und andere Haneke-Verächter sich verstricken, um ihn & seine Filme – denn immer ist alles ad personam gerichtet – zu vernichten. Ich kenne – außer manchen frühen und jahrelangen Ausfällen gegen die Straubs – keinen Autor und seine Filme, die deutsche Filmkritiker mit mehr Hass, Hohn und übler Nachrede kontinuierlich verfolgt haben als Michael Haneke. Eine deutsche Psychose?“32

Knörer repliziert in einer ausschweifenden Rechtfertigung33. – In einer einigermaßen hanebüchen anmutenden essayistischen Debatte, für die sich zumindest festhalten lässt, dass sie die angeprangerte „mimetische Verdoppelung“ – wenn auch „nur“ verbal auf einer Metaebene, so in ihrer Grobheit dennoch ebenbürtig – fortsetzt. 31 Knörer, Ekkehard. „Nö, nicht mit mir“. In: perlentaucher.de Das Kulturmagazin. http://www.perlentaucher.de/im-kino/noe-nicht-mit-mir.html [20.07.2012] 32 Schütte, Wolfram. „Eine deutsche Psychose?“. In: perlentaucher.de Das Kulturmagazin. http://www.perlentaucher.de/essay/eine-deutsche-psychose.html [20.7.2012] 33 Knörer, Ekkehard. „Die Freiheit, die ich meine“. In: perlentaucher.de Das Kulturmagazin. http://www.perlentaucher.de/essay/eine-deutsche-psychose.html [20.07.2012]

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„Wer ist schon frei von Eitelkeit?“, fragt Haneke den mit einem Interview-Band betrauten Zeit-Redakteur Thomas Assheuer (Assheuer/Haneke 2010: 126). Darauf wird zurückzukommen sein. Dass diese Eitelkeit zutiefst verletzbar ist, liegt bereits im Ton des exemplarisch angeführten Diskurses, von dessen Sorte es zahllose gibt. Auch legt der besagte Diskurs die Mutmaßung nahe, dass das von Haneke mehrfach thematisierte Konzept der „Moral der Form“ ebenso sehr aufgeht – in der erschrokkenen Begegnung des Betrachters mit dem Film nämlich – wie die in vielen Fällen verkannte Humanität als Resultat sich lebhaft regt, so es selbst den – deklariert gelangweilten und ermüdeten – Kritiker letztlich zum scharfen Urteil verleitet. Das Nein wie auch das Ja zum Film sind von gleichwertiger Kraft – Haneke polarisiert mittels einer Ambivalenz, die in ihrer Präzision ohne Vergleich ist. – Umso erstaunlicher erscheint diese Tendenz angesichts der Tatsache, dass Haneke drei Jahre später mittels derselben Ambivalenz (Amour [2012]) eher Gegenteiliges verzeichnen wird können. Im Mai 2009 erhält Michael Haneke zunächst die Goldene Palme für Das Weiße Band. Und abrupt entfacht sich eine – auf verschiedensten institutionellen Ebenen geführte – Diskussion, die in einer Schlagzeile der österreichischen Tageszeitung Der Standard ihre prägnanteste Zusammenfassung findet: „Ein österreichischer oder ein deutscher Film?“, betitelt den Beitrag zu Das Weiße Band: während Österreich „seine Talente“ feiere, rühme sich Deutschland für „seine Erfolge als Produktionsland“ – so der hier aufgegriffene Kommentar der Deutschen Presse Agentur in ihrer Stellungnahme zur Auszeichnung für „einen deutschen Film mit einem sehr deutschen Thema“.34 Den Hintergrund der Diskussion bildet die anstehende OscarNominierung, schließlich ist zum gegebenen Zeitpunkt noch offen, für welche der beiden Nationen – Österreich oder Deutschland – der Film bei den Academy Awards ins Rennen gehen soll. Im August desselben Jahres entscheidet sich schließlich, dass Das Weiße Band mit der Nominierung für den besten nicht-englischsprachigen Film als deutscher Beitrag nach Los Angeles geht. Grund dafür seien die Auslegungen der Statuten der Academy, die, laut Der Standard, für Verwirrung gesorgt hätten. Eine von der Auslandsvertretung der deutschen Filmbranche (German Films) einberufene Jury habe die Koproduktion favorisiert und sei damit der österreichischen Einreichung zuvorgekommen. Um die Nominierung haben indes beide Länder angefragt, laut Auskunft Veit Heiduschkas, Produzent der am Film beteiligten Wega Film. Wo aber, wenn überhaupt, lässt sich Haneke – ungeachtet diverser pragmatischer Gewinnabsichten – als auteur einordnen? Und vor allem: wie gestaltet sich seine Verortung von Seiten jener Akteure, die aufgrund ihrer institutionellen Gebundenheit nicht im engeren Sinne der Vermarktungswirtschaft unterstehen – Filmtheoretiker, -kritiker und Wissenschaftler? Folgt man den Tönen aus den Rängen der Kritik, so wird Hanekes „unverkennbare Handschrift“ stets als selbstverständliches Kriterium angeführt; seine Rolle als auteur erscheint weitgehend unbestritten. Doch, wie Roy Grundmann in seiner rezenten Studie zu Haneke diesbezüglich skeptisch vorführt, generiert sich sein auteur-Status aus einer äußerst komplexen Dialogizität: „[…] Haneke’s auteur persona is not simply the work of a self-fashioned self-promoter, but the result of a complex dialog between the auteur in question and film festival organizers and audi34 APA. „Ein österreichischer oder ein deutscher Film?“. In: Der Standard, 25.05.2009.

126 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE ences, film and television producers, feuilleton critics, and ‚the public‘, to the extent that the latter pays attention to these discourses by following the arts pages in newspapers and their counterparts on late night television.“ (Grundmann 2010: 7)

Nun erweist sich eine nationale Zuordnung (die traditionell eines der entscheidenden Konstitutive des Konzepts von Autorenkino bildet) – auch abstrahiert von den sich stetig verändernden Regeln der Academy – im Fall „Haneke“ für diese „Öffentlichkeit“ als schwierig. Insbesondere von Seiten jener österreichischen, die Haneke als nationalen Filmemacher für sich reklamieren will. Zu sehr ist er Ausnahme, zu sehr ist sein Werk von „französischen“ Traditionen beeinflusst, zu wenig existiert ein „österreichisches Autorenkino“, das sich als Schule mit spezifischen Formen und Traditionen erkennen ließe35. Zu heterogen sind letztlich auch die Komponenten, aus denen sich das Konstrukt des „Neuen Österreichischen Films“ zusammensetzt; ein formal- bzw. inhaltsästhetischer Nenner lässt sich nicht ausmachen – und selbst diese Distinktionsebene bedarf noch einer Differenzierung, denn während das „Neue Österreichische Kino“ als formales Hybrid präsentiert wird, das – von fiktional bis dokumentarisch – die diversesten Richtungen einschlägt und damit keineswegs mit den repräsentativ homogeneren „neuen Wellen“ der Nachbarländer konkurrieren kann, tut sich zumindest auf inhaltlicher Ebene eine Art gemeinsamer Nenner hervor: Aufschlussreich dazu ist die öffentliche US-amerikanische Rezeption dieses neuen österreichischen Kinos. So stößt man etwa in der New York Times vom 26. November 2006 auf folgende Zeilen: „True to form, the salient quality of Austrian film’s new wave is its willingness to confront the abject and emphasize the negative. In recent years this tiny country with a population the size of New York City’s has become something like the world capital of feel-bad cinema. State of the Nation, the Film Society of Lincoln Center’s survey of new Austrian film – which runs Wednesday through Dec. 7 – sheds some light on the complex realities underlying the stereotype [‚that artists represent the conscience of a nation‘; K.M.]. The director who has done the most for the international visibility of Austrian cinema is Michael Haneke.“36

„L’historicité du regard malicieux sur les abîmes de l’humain“ – Unter diesem programmatisch ähnlich ausgerichteten Titel erscheint die öffentliche Zusammenfassung einer 2007 in Wien organisierten table ronde zum österreichischen Kino. (Blümlinger 2007: 179) Eine der wenigen Übereinstimmungen unter den Teilnehmenden besteht darin, dass Haneke eine Ausnahme darstellt. Haneke lässt sich nicht einräumen und klassifizieren, nicht in den Kanon des jüngeren „österreichischen Films“ eingliedern – darin bestünde seine Besonderheit, die umso paradoxer anmutet, wenn man sich diesen aufgrund seiner Nicht-Homogenisierbarkeit ohnehin nicht bestimmbaren Kanon vor Augen hält. Was nun den strittigen „Kontext“ des nationalen Kinos angeht, so wird Hanekes künstlerische Identität in der Tat nicht von Dynamiken deter35 Blümlinger, Christa et al. „L’historicité du regard malicieux sur les abîmes de l’humain“. Table ronde organisée autour du cinéma autrichien. 4 juin 2007, Vienne. In: Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur l’Autriche, 64/32, 2007, S. 179-192. 36 Lim, Dennis. „Greetings From the Land of Feel-Bad Cinema“. In: New York Times, 26.11.2006.

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miniert, die mit jenen der französischen Nouvelle Vague oder des Neuen deutschen Films vergleichbar wären – Haneke als auteur fügt sich nicht in ein Kollektiv, ist nicht Teil eines revolutionären Auflehnungsprozesses gegen eine kinematographische Elterngeneration, mit der die Vertreter der jeweils „neuen Wellen“ (im Rahmen nationaler Angelegenheiten) nichts mehr zu tun haben wollen. „[…] because of the close association between auteurs and national cinemas, filmmakers’ oedipalized attempts to grapple with issues of generational succession and artistic legacy are intertwined with imaginary and actual negotiations of nationhood, national history, and national identity. But precisely to the extent that these dynamics are contingent on specific national histories and were played out among a particular generation of filmmakers, Haneke represents an uneasy fit. With Haneke being too young even to be a new wave filmmaker, and being neither fully German nor fully Austrian, let alone French, artistic identification with(in) specific national contexts was hampered by a lack of membership in any of the groups that constitute national cinema as a historical and socio-cultural formation.“ (Grundmann 2010: 8-9)

Zudem stehe Haneke chronologisch erfasst zwischen zwei Generationen von Filmemachern – zwischen den Vertreterbastionen eines „modernen“ und eines „postmodernen“ (Autoren-)Kinos. Zwar ist der offizielle Beginn seiner öffentlichen Kinoautorenkarriere mit der besagten Präsentation von Der Siebente Kontinent 1989 im Rahmen der Quinzaine des Réalisateurs anzusetzen, tatsächlich betritt er die Bühne des Kunstkinos jedoch schon früher und das mit einer TV-Produktion: Mit Wer war Edgar Allan? (1984), einer Koproduktion des Österreichischen Rundfunks (ORF) und des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF), die sich in einem von Ennio Morricone musikalisch durchsetzten, gräulich gehaltenen Venedig zuträgt, erhält Haneke seine erste Festivaleinladung – 1985 zur Berlinale. Der Zeitpunkt ist dabei insofern markant, als er, wie Roy Grundmann im Anschluss an Alexander Horwath hervorhebt, bezeichnend für jenen Anachronismus steht, der Haneke seine Filmkarriere lang begleiten wird: Gerade zum Zeitpunkt als Haneke in die Kreise des „klassischen“ bzw. „modernen“ Autorenkinos Eingang findet, ist dieses im Begriff, sich regelrecht aufzulösen: Ingmar Bergman zieht sich 1984 aus dem Filmgeschäft zurück; Michelangelo Antonioni beginnt, für das Fernsehen zu arbeiten – jenes Medium, das Haneke mit Mühe erst überwunden hatte; 1982 stirbt Rainer Werner Fassbinder, 1984 François Truffaut, 1986 Andrei Tarkowski. Es seien dies freilich nur Indikatoren dafür, dass dieses moderne Kino sukzessive abgelöst würde, von einem neuen, postmodernen Kino, dessen Vertreter (Pedro Almodóvar, Stephen Frears, JeanJacques Beineix) wenig Interesse daran zeigen, eine Grenze zwischen Kunst- und populärem Kino aufrecht zu erhalten. (Grundmann 2010: 6) Der Verweis auf das Fernsehen und damit auf Haneke in einer Mensch-TechnikInteraktion unterstützt einmal mehr die These, dass Haneke – unter Voraussetzung der Präliminarien der ANT – nicht nur in den konzeptionellen Rahmen „des“ Autorenkinos nicht passt, sondern auch, dass es „das“ Autorenkino, das hier zum Referenzpunkt wird, nicht gibt. Weder ein modernes noch ein postmodernes. „Hanekes Kino“ wäre demnach viel eher ein nicht-modernes, das in dieser Charakteristik der angeführten Konzeptualisierung eines „popular art cinema“ weitgehend entspricht. Sieht man einmal von der im Zuge der Nominierung für die Academy Awards mehrfach herausgestellten lokal-anthropologischen Argumentation „In Deutschland

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gedreht!“ sowie von den längst nicht als obsolet zu bewertenden Staatsbürgerschaftszugehörigkeitsfragen ab, so trifft man im Rahmen dieser Diskurse auf eine subtilere Argumentationslinie, die zur nationalen Kanonisierung des Regiewerks verwendet wird: Sie betrifft die Berufung auf das „filmische“ Gesamtwerk des Regisseurs, insbesondere auf sein Frühwerk, das zunächst aus Fernsehproduktionen besteht. Die Umschreibung der Provenienz Michael Hanekes als vom staatlichen Fernsehen kommend scheint die „austro-preußische“ Kampfdebatte jedoch eher zu verschärfen. Eine die Nationenfrage betreffende nahezu paritätische Version der Anfänge Hanekes für das Fernsehen lautet zunächst folgendermaßen: „Most of Haneke’s TV films have been coproductions between Austrian and German television stations. In briefly outlining their characteristics in terms of nationally related themes and contexts, it should be noted that their status as coproductions in and of itself ensured a binational cultural legibility and an overlap of themes related to both national contexts. If Haneke, despite this dual legibility, can ultimately be read more or less clearly as an Austrian filmmaker, this argument, too, requires the kind of detail I want to provide below. By way of initial overview, we note that Haneke’s career as a TV director veered from predominantly Austrian concerns in the 1970s to more German or international concerns in the 1980s and back to a more Austrian frame of reference in the 1990s.“ (Grundmann 2010: 4)

Weniger parteiisch und auch weniger direkt auf Hanekes Regietätigkeit bezogen, dafür umso erstaunlicher, liest sich dann etwa folgende Bemerkung: „Tatsächlich mögen sowohl Hanekes Inszenierungsstil als auch seine Sujets deutscher sein als man angesichts des eher kosmopolitischen Eindrucks, den der Regisseur und seine Arbeitsweise erwecken, denken könnte“ (Sannwald 2011: 3), so die Einschätzung Daniela Sannwalds, die 2011 in der Reihe Film-Konzepte einen an den Erfolg von Das Weiße Band anschließenden Sonderband zu Michael Haneke herausgibt. Sannwald verweist – zur „motivischen Einordnung“ – auf Hanekes professionelle Einbindung in die Bundesrepublik der späteren 1960er Jahre, wo er als Fernsehdramaturg und redakteur beim Südwestrundfunk (SWR) in Baden-Baden tätig war. Die „motivische Einordnung“ betrifft hier bereits die Zeit vor seiner aktiven Regietätigkeit. Mit Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin umgeben Haneke dort zwei der späteren Gründungsmitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF), die seine Beobachtungen zum Umschlagen eines moralischen Rigorismus in Radikalismus beeinflussen, wie Haneke auch selbst vermehrt vorgibt. Wie in Assheuers Gesprächen mit Haneke nachzulesen ist, soll diese Zeit beim Südwestfernsehen auch jene Zeit gewesen sein, die den Regisseur politisiert habe. Hier kommen ihm die Bücher Adornos „in die Quere“, er sei schnell „süchtig“ gewesen (Haneke/Assheuer 2010: 17). 1974 dreht Haneke seinen ersten vom Südwestfunk (SWF) produzierten Fernsehfilm ... und was kommt danach? (After Liverpool). Eine kammerspielartig inszenierte Beziehungskrise zwischen einem Mann und einer Frau, die vor Selbst- und Metareflexion nur so strotzt: der essayistisch umgesetzte szenische Kommunikationsproblem-Dialog nach einem Theaterstück und Hörspiel von James Saunders bietet in süffisanter Weise Raum für Pop- und Autorenkult. Visualisierung der Beatles, „I can’t get no satisfaction“ stöhnen die Rolling Stones von der Tonspur und eine ganze Reihe von Autoren – von Adorno über Rimbaud bis McLuhan – kommt mittels Textzitaten zu Wort. – Den Anfang macht Godard: „Der Philosoph und der Cineast

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haben eine bestimmte Lebensweise gemeinsam, die einer Generation eigentümliche Sicht auf die Welt“. Gefolgt ist dieses erste Regiewerk von Sperrmüll (1976), einer als verschollen geltenden Produktion des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF). Bereits mit seinem dritten, dem gleichzeitig ersten deutsch-österreichisch produzierten Film, einer Koproduktion des SWF und des ORF, die dem von Das Weiße Band ausgelösten motivisch orientierten Zuschreibungsimpetus noch weit vorangeht, steht ein für den Rahmen „nationaler“ Autorschaft äußerst streitbares Exemplar zur Verfügung. Abgesehen davon, dass das damals in den Fängen des Autorenkults als medium non gratum noch geltende Fernsehen, in dessen Rahmen Haneke hier produziert und dessen er sich in seinen späteren Kinoarbeiten noch ausreichend bedienen wird, zu den Hauptakteuren im Rahmen der Konstitutionsprozesse eines „nationalen (Autoren-)Kinos“, eines national popular art cinema zu zählen ist, zeigt Haneke 1976 einen Film, der die vielfältigsten Formen der Zugehörigkeit und der Korrespondenz infrage stellt. Drei Wege zum See (1976) ist an die gleichnamige Erzählung Ingeborg Bachmanns (1972) angelehnt. Die zur internationalen Starfotografin avancierte Elisabeth Matrei (Ursula Schult) begibt sich anlässlich eines Besuchs bei ihrem Vater in ihrer „Heimatstadt“ Klagenfurt auf eine Wanderung durch die Ortschaften ihrer Kindheit. „[…] sie merkte, daß sie alles wirklich mitangesehen hatte, aber ihr Leben daneben anders verlaufen war, ihr darüber oft vergangen war wie einem Zuschauer, der Tag für Tag ins Kino geht und sich narkotisieren läßt von einer Gegenwelt“ (Bachmann 1972 [2010]: 447), beschreibt Bachmann ihre Figur, die dem aus einer Adelsfamilie des habsburgischen Reichs stammenden, sich nirgends mehr zugehörig fühlenden FranzJoseph Trotta verfallen war, ehe dieser sich – nachdem er sie verlassen hatte – in Wien erschossen hat, wie sie später erfahren wird. Der (ausschließlich hörbare) Schuss deckt sich mit dem Schnitt, der die Erinnerung an den Mann („Ich lebe überhaupt nicht.“) von der am Bett mit Zigarette in sich zusammenfallenden Frau trennt. Axel Corti übernimmt im Film die Stimme der Erzählinstanz, die die montierten Erinnerungsfragmente kommentiert: „Die ersten Tage, in denen sie Trotta gesucht und geflohen hatte und er sie gesucht und geflohen hatte, waren das Ende ihrer Mädchenzeit gewesen. Der Anfang ihrer großen Liebe. Und wenn sie später auch, wie sie es aus dem jeweiligen Blickwinkel eben sah, meinte, eine andere große Liebe sei ihre große Liebe gewesen, dann war doch Trotta nach mehr als zwei Jahrzehnten auf dem Höhenweg Nummer 1 noch einmal die große Liebe, die unfaßlichste, schwierigste zugleich, von Mißverständnissen, Streiten, Aneinandervorbeisprechen, Mißtrauen belastet. Aber er hatte sie gezeichnet, weil er sie zum Bewußtsein vieler Dinge brachte, seiner Herkunft wegen, und er, ein wirklich Exilierter und Verlorener, sie, eine Abenteurerin, die sich weiß Gott was für ihr Leben von der Welt erhoffte, in eine Exilierte verwandelte, weil er sie, erst nach seinem Tod, langsam mit sich zog in den Untergang, sie den Wunden entfremdete und ihr die Fremde als Bestimmung erkennen ließ.“37

Die Geschichte, die ihrer literarischen Vorlage nach vom „Topographischen“ (Bachmann 1976 [2010]: 394) ihren Ausgang nimmt und vom Gefühl der Heimatlosigkeit in einem Nachkriegseuropa handelt, führt eine Protagonistin vor, die als Kon37 Filmzitat – der Ausgangstext (Bachmann 1972 [2010]: 415-416) wurde verkürzt.

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sequenz u.a. dieser tragischen Liebesgeschichte eine Sehnsucht nach dem verlorenen Vielvölkerstaat entwickelt. „Franz-Joseph war in Paris nicht zuhause und dann zuletzt in Wien auch nicht, bestimmt nicht, denn er hat immer gerne paradoxe Dinge gesagt, am häufigsten, er sei exterritorial. Sie müssen nicht traurig sein, es war ihm nicht zu helfen“ (Bachmann 1972 [2010]: 475), tröstet der Vetter des Geliebten Elisabeth anlässlich einer zufälligen Begegnung am Flughafen. Es ist dabei gerade dieser topographische Impuls, der in Hanekes „Verfilmung“ gleich zu Beginn wortwörtlich ins Wasser fällt. Während das voice-over Cortis den einführenden Absatz Bachmanns liest, der sich auf die Wanderkarte mit ihren drei Wegen zum See bezieht, sehen wir nicht Land sondern Wasser und damit „[…] eine unendliche Projektionsfläche für die Fantasie des Publikums, das sich nicht an reale Orte gebunden weiß“ (Naqvi 2010: 45). Die Bindung der potentiellen Zuseherschaft zum Film ist eine quantitativ geringe, zumal Drei Wege zum See – wie die Gesamtheit von Hanekes Fernsehfilmen – ein Dasein bislang vorwiegend nur in Archiven fristet – Werkschauen, wie die des Filmarchiv Austria im Oktober 2010 ausgenommen. Die Interaktion zwischen „Haneke“ und „Bachmann“ stärkt das kanonisch motivierte Vereinnahmungspotential in Richtung „österreichisch“, im selben Maß verweist diese Interaktion, die später mit „Haneke“-„Jelinek“ eine vergleichbare Verwobenheit zur Folge hat, auf die Absurdität dieser einschlägigen Kanon-Praxis: gerade die Heimat, die hier zur Geltung kommt, ist auch die, zu der die Autoren-Trias entschieden auf Distanz geht. Als von kritisch über schonungslos bis vernichtend ist wohl einzuschätzen, wie Bachmanns und Jelineks Texte den Heimat-Topos verhandeln. Dennoch ist Sannwald in ihrer Beobachtung einer gewissen „Deutschheit“ insofern zuzustimmen, als dem Weißen Band ein „Nachkriegsvorgänger“ vorausgeht: Mit Fraulein – Ein deutsches Melodram (1985), einer vom Saarländischen Rundfunk produzierten „Mentalitätsstudie der deutschen Nachkriegszeit“, in dem im Rahmen der exponierten Qualitäten von „Entfremdung, Isolation und Psycho-Terror“ das Kino – wie später noch einmal in Caché, hier aber etwas metaphorischer – zum Fluchtraum gerät und in dem „das Porträt einer deutschen Kleinstadt im Taumel des Wirtschaftswunders“ erkennbar ist.38 Der Zeitpunkt der Debatten um die nationale Zugehörigkeit des Regisseurs und seines Weißen Bands anlässlich der anstehenden Oscar-Nominierung lässt ein – hinlänglich bedientes – rezenteres Vergleichsmoment zu, nämlich Stefan Ruzowitzky, der ein Jahr zuvor für Die Fälscher (2007) und damit „für Österreich“ den „Auslands-Oscar“ erhalten hat. Ruzowitzky hatte im Vorjahr für ein erhebliches Maß an Euphorie und medialer Erregung in Österreich gesorgt. Allein: „Ruzowitzkys Film war exakt paritätisch produziert, der heurige Auslands-Oscar-Kandidat Das weiße Band trägt die federführende Nation hingegen schon im Untertitel: Eine deutsche Kindergeschichte. Und tatsächlich: deutsches Thema, deutsches Terrain, größtenteils deutsche Besetzung. Aber eben eindeutig der Film eines Österreichers [gebürtiger Deutscher; K.M.]: Unverkennbar ist die über Jahre – allerdings zuletzt auch in vielen hauptsächlich französischen Produktionen gewachsene – Handschrift von Michael Haneke. Dazu kommt die Oscar38 Maurer, Lukas. „Fraulein“. In: 69. Katalog des Filmarchiv Austria zur Werkschau Michael Haneke, Oktober 2010, S. 38.

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Nominierung seines Innsbrucker Kameramanns Christian Berger für die virtuose Digitalfotografie mit selbst entwickeltem System. Trotzdem belegt der Fall die zunehmend wackelige Bedeutung der Idee vom ‚nationalen‘ Kino im (Euro-)Koproduktionssystem.“39

Von den „profilmischen“ Qualitätsmerkmalen „Böswilligkeit, Neid, Stumpfsinn und Brutalität“ scheint so zumindest eine im „lebensweltlichen“ Diskurs ihren Niederschlag zu finden: „Nicht ohne Ironie also, dass die künstlich angeheizte Oscar-Aufregung in Österreich heuer an das Tamtam erinnert, das im von filmischen Minderwertigkeitskomplexen geplagten großen Nachbarland auch bei (Trost-)Preisen gern gemacht wird, während man etwas neidisch auf die künstlerische Überlegenheit der bedrängten Austro-Szene schielt.“40

Nicht ohne Ironie auch, dass der „Österreichische Regisseur schon lange prominenter Vertreter des Weltkinos [ist]“41, wie einer Meldung der Austria Presse Agentur (APA) zu entnehmen ist. Als solcher hat sich Haneke auch im akademischen Feld etabliert, insbesondere im US-amerikanischen Editionsraum, wo ihm ein Platz in den Annalen der „global art cinematic auteurs“ gesichert ist – eine Einordnung, deren politische Implikationen und Motivationen jene des klassischen (post-)modernen Autorenkinos übersteigen und die dabei mit dem Verweis auf Hanekes Bildpraxis einhergeht. So konstatieren etwa Brian Price und John David Rhodes als Herausgeber im Vorwort zu ihrem Band On Michael Haneke: „He [Haneke; K.M.] carries on one of the most important modes of intellectual and artistic production in modern and contemporary culture: that of art cinema. At its best, art cinema (a mode initially identified with Europe but now perhaps most forcefully embodied in films produced in Asia, Africa, Latin America) figures a serious mode of aesthetic, philosophical, and political inquiry in which the filmmaker assumes that there might be an audience – perhaps even a mass audience – for whom such inquiry matters. Art cinema devotes itself in equal measure to a profound skepticism toward and an extravagant indulgence in the image. It regards the cinematic image as much as a mode of thought as a mode of picturing, and it is, moreover, dedicated to picturing thought and to picturing as a mode of thought.“ (Price; Rhodes 2010: 2)

Wenn auch seit längerem schon viele Zeichen darauf hindeuten, dass künstlerisches Schaffen in seiner Kulturgutwerdung den Prämissen der „globalised arts“ (Singh 2011) unterliegt – „In Europe, the initial boundaries of the nation-state were primarily linguistic, demarcating people as English, French, German, or Italian. For this very reason, when this Europe adopted Ode to Joy as its anthem, it asked the conductor Herbert Von Karajan to come up with an instrumental version devoid of Schiller’s poem by this name, sung in German in Beethoven’s 39 Huber, Christoph. „Berlinale: deutsch-österreichische Freundschaft?“. In: Die Presse, 14.02.2010. 40 Ebd. 41 APA. „Michael Haneke – ‚Kompromissloses Kino-Urgestein‘“. In: Der Standard, 02.02.2010.

132 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE symphony. While the nation-state fights for dominance and legitimacy in a plurality of actors in the twenty-first century, the representational metaphors are in flux again. A dozen yellow stars now encircle the middle of the European Union’s blue flag. Likewise, identities are afloat: sometimes affixed to the nation-state, otherwise paddling toward other identity markers – civilizational, linguistic, religious, diasporic, indigenous, ethnic, sexual, global. Representational practices with local flavors find, or are created for, global audiences. The plight of poverty and its effect on children are shown in films such as City of God from a favela in Brazil, Tsotsi from a South African township, or Salaam Bombay and Slum Dog Millionaire from a chawl in Mumbai. They now compete in representational politics with La Boheme of La Scala or a Pearl Fisher from the Palais Garnier. The capital C of high culture and the small c of popular culture can be seen in contest or collaboration or both.“ (Singh 2011: 3)

–, so finden diese Zeichen mit dem Etikett „Haneke“, das selbstverständlich mehr als ein Mikromodell ist, Artikulationen von außerordentlicher Konkretion.

54. F ARBBEKENNTNISSE : V ON DER N ATIONALWERDUNG ÜBER EINE S CHWARZ -W EISS -K OPIE AUS R OMS C INECITTÀ INS F ERNSEHEN 2010. Das „nationale“ Kino hat, wie eingangs erwähnt, in den letzten zehn Jahren wieder Konjunktur, es kommt – für den Bereich des Kinos traditionell – mitunter sogar wieder in Wellen: neben dem „Neuen Österreichischen Kino“ sowie einem Revival des „Jungen Schweizer Films“, hat sich im Zuge des globalen, durch digitale Kulturen gestützten Recyclingprozesses – neben einer in den 1990er Jahren in Frankreich aufwallenden „Nouvelle Nouvelle Vague“ – schließlich auch eine (etwa 2005 einsetzende) „Nouvelle Vague Allemande“42 formiert. Die Zählebigkeit des Nationalen als diskursive Zuschreibung, die sich vor allem zwischen Deutschheit und „Österreichischheit“ aufteilt und in deren Rahmen Das Weiße Band in seiner brüderlichsten Form zu einem „deutsch-österreichischen Film“43 wird, steht also ganz im Zeichen dieser Entwicklung. – Eine Entwicklung, die sich aus der Kombination von „Memory and the Market“ (De Valck 2007: 185), aus der (Re-)Zirkulation bzw. aus der Revitalisierung „klassischer“ oder „alter“ Formen und Traditionen von Kino ergibt und die sich – als displaced meaning strategy bereits umschrieben – insbesondere im Kreise internationaler Festivals durch Werkschauen, Retrospektiven und SpezialScreenings stärkt. Es kann angesichts der beschriebenen Situation daher kaum ohne Ironie gelesen werden, was die 62. Berlinale vom Februar 2011 mit sich bringt: Ein trilaterales D-A-CH-Filmabkommen zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz nämlich, das die Zusammenarbeit zwischen Produzenten der drei Länder stärken soll.

42 Äquivalent der rund um Regisseur Christian Petzold sich versammelnden Berliner Schule. 43 So etwa der Einschätzung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zufolge.

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„Laut einer Pressemitteilung des Deutschen Auswärtigen Amts bietet das Abkommen einen rechtlichen Rahmen für die Zusammenarbeit von Produzenten der drei Länder. So sollen ‚Filme, die gemeinsam von deutschen, österreichischen und schweizerischen Co-Produzenten hergestellt werden‘ fortan ‚wie nationale Filme behandelt‘ werden.44

Unterzeichnet und ratifiziert von den deutschen StaatsministerInnen Bernd Neumann und Cornelia Pieper, der österreichischen Kulturministerin Claudia Schmied und dem Schweizer Bundesrat Didier Burkhalter, touchiert der Recycling-Prozess damit nicht „nur“ eine werbestrategische Ebene, sondern greift auch auf realpolitische Belange über. Das seiner offiziellen Bezeichnung im Bundesgesetzblatt (BGBL) nach „Trilaterale Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung der Republik Österreich und der Regierung der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Zusammenarbeit im Bereich Film“ sieht in der offiziellen Ausführung45 jedoch keine „nationale Behandlung“ der koproduzierten Filme vor. Die „Behandlung“ ist in Artikel 2 des BGBL viel eher eine „Anerkennung“ und betrifft im Wortlaut folgenden Sachverhalt: „Filme, die im Rahmen dieses Abkommens hergestellt worden sind, werden als inländische Filme angesehen“. Das laut Artikel 14 „auf unbestimmte Zeit geschlossen[e]“ Abkommen sieht für Vorführungen auf Filmfestspielen Folgendes vor (Artikel 9): „In der Regel wird ein in Gemeinschaftsproduktion hergestellter Film auf Filmfestspielen als Beitrag des Mehrheitsproduzenten oder desjenigen Produzenten vorgeführt, der den Regisseur stellt. Einvernehmlich kann der Film auch als Beitrag mehrerer Gemeinschaftsproduzenten zur Vorführung gelangen.“46

Hier wird, besonders deutlich, das „rein“ künstlerische bzw. „rein“ Marketingmotivierte Handlungsprogramm transgrediert, es erweitert sich um eine realpolitische Implikation, die das Zugehörigkeitsproblem mitnichten löst. Als Resümee bleibt daher nur die Feststellung, dass Staatsgrenzen so diskursiv, sozial und real, kurz: so instabil sind, wie die Parameter, über die sie sich konstituieren. Es ist jedoch die Instabilität selbst, die, den pragmatischen Präliminarien der vorliegenden Studie entsprechend, vorgibt, dass diese (Staats-)Grenzen nicht die Kriterien „erklärungsbedürftiger Ausnahmen“ erfüllen. Anders gewendet: Im Durcheinander der Debatten machen sie im Rahmen der Konstitutionsprozesse „nationaler“ kinematographischer Autorschaft schlicht keinen Unterschied. Wie gezeigt, kommt einer Vielzahl von Akteuren – dem Fernsehen so sehr wie etwa den technischen Dispositiven beim Dreh – eine in diesem Fall relational entscheidendere Funktionalität zu. Angesprochen auf die an den Stabilisierungsprozessen von Autorenkino beteiligten nicht-menschlichen Akteure weiß etwa Haneke-Produzent Heiduschka Bände zu erzählen:

44 APA. „Filmabkommen zwischen Österreich, der Schweiz und Deutschland“. In: Der Standard, 10.02.2011. 45 BGBl. III – ausgegeben am 17. Juni 2011 – Nr. 100. http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/ Bundesnormen/NOR40129509/NOR40129509.html [12.11.2011] 46 Ebd.

134 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE „Wir sind ja ungeheuer von der Technik abhängig beim Film. Beim Weißen Band haben wir das Problem gehabt, dass Haneke sagte: ‚Ich will im Kino Schwarz-Weiß.‘ Die Fernsehanstalten haben gesagt: ‚Kommt überhaupt nicht in Frage.‘ – Deutschland, Frankreich, Österreich: ‚Wir wollen Farbe.‘ Also mussten wir in Farbe drehen. Erst als wir dann in Cannes den Preis bekommen haben, haben die gesagt: ‚Naja, jetzt können wir auch nicht mehr in Farbe.‘ Und der Kameramann hat ohnehin vorweg gesagt: ‚Was soll ich machen? Ich kann Licht setzen für einen Schwarzweißfilm oder eben für einen Farbfilm – auch wenn da Farbe drin ist, muss ich das Licht für einen Schwarzweißfilm setzen.‘ Da habe ich gesagt: ‚Du, Fernsehen interessiert mich momentan überhaupt nicht, wir wollen zunächst einmal ins Kino und dann, wenn alle Stricke reißen, machen wir den Film blau oder rosa oder gelb oder ich weiß nicht was, eine Einheitsfarbe, dann kriegen sie Farbe geliefert …‘ So schön so gut, also wir haben dann die Farbe elektronisch weggenommen, aber: dann kam der Ton. Kodak hat das Schwarzweißmaterial seit den 70er Jahren nicht weiterentwickelt und der Lichtton hat nicht die Qualität, die wir gewohnt sind auf dem hervorragenden Farbmaterial. Das heißt, der Ton war in unseren Augen – vor allem Haneke hat ein fast absolutes ‚Gehör‘ – beschissen. Dann haben wir extra von Cinecittà eine Kopie aus Rom bringen lassen, von den beiden amerikanischen Brüdern [die Coen-Brüder, deren Film The Man Who Wasn’t There 2001 in Cannes den Regiepreis gewonnen hatte; K.M.], um zu sehen, was die gemacht haben. Weil die konnten das in Amerika auch nicht machen, die haben das in Rom machen lassen. Dann sind wir mit der Kopie ins Kino gegangen und haben gesehen: der Ton war genauso bescheiden … [lacht] – es war nicht möglich, den perfekten Ton hinzukriegen. Im Fernsehen oder auf der Blu-ray, da haben Sie einen perfekten Ton, aber nicht im Kino. Das ärgert einen natürlich, wenn ich Ihnen sage, was alles unternommen wird, damit man einen perfekten Ton, ein perfektes Bild, eine perfekte Belichtung hat und dann passiert im Kopierwerk vielleicht irgendwas: da ist auch ein Regisseur aufgeschmissen. Es ist ähnlich wie im Theater, also Sie proben wochenlang ein Stück und dann kommt die Premiere am Abend und es passiert irgendwas und es sitzen alle Regisseure draußen und können nicht mehr eingreifen und es kommt was ganz anderes heraus und dann haben Sie die Kritik. – Das kann natürlich bei uns auch passieren.“47

Am 3. Oktober 2011 hat Das Weiße Band seine Fernsehpremiere im ORF. Es ist das erste Mal, dass „ein Haneke“ im Hauptabendprogramm des Österreichischen Rundfunks (20:15 Uhr) gezeigt wird. Den Vorgängerfilmen hatte man bislang nur LateNight-Sendezeiten zugestanden. Mit gemessenen 730.000 Zuschauern kommen ihm 30 Prozent des Marktanteils zu. Der Film läuft gleichzeitig im Ersten der ARD (Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland) und verzeichnet eine Zuschauerzahl von 4,25 Millionen, was einem Marktanteil von 13,2 Prozent entspricht48. – Ein sensationeller Erfolg, schließlich hatte man den Film (aufgrund der Länge, seiner Beschaffenheit in Schwarz-Weiß, aber auch des Themas wegen) zuvor für wenig Prime-Time-tauglich befunden und damit insbesondere das junge – anteilsmäßig überwiegende – Fernsehpublikum unterschätzt: 9,0 Prozent der 13,2 Prozent hatte schließlich die Gruppe der Vierzehn47 Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller. 48 Pressemappe der ARD (04.10.2011): http://www.presseportal.de/pm/6694/2123329/grosses-kino-zur-besten-sendezeit-4-25mio-zuschauer-sahen-gestern-das-weisse-band-im-ersten [12.11.2011]

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bis Neunundvierzigjährigen dem öffentlich-rechtlichen Sender beschert49. Nach Maßgabe eines akteur-netzwerk-theoretischen Relativismus können wir diesen Befunden zur Parallelprogrammierung Glauben schenken. Letztlich gilt aber, was nach derselben Maßgabe gelten muss, nämlich …

53. L ES FAITS SONT FAITS : E S GIBT KEINE I NFORMATION

NUR

T RANSFORMATION

„Je voulais montrer comment on devient inhumain“50 – er wollte zeigen, „wie man unmenschlich wird“, kommentiert der auteur Haneke zu seinem Film – zumindest wird er im Figaro am Folgetag der offiziellen Pressekonferenz in Cannes so zitiert. Das Weiße Band feiert – wie seit 1997 alle Spielfilme Hanekes – in Cannes als öffentliches Kulturgut seine Weltpremiere. Es ist der neunte Beitrag, den der Regisseur 2009 in Cannes vorstellt, der sechste im Hauptbewerb. Fortan ist der Film Teil der Öffentlichkeitsarbeit unzähliger Medienvertreter. Geschätzte 4000 Journalisten (Greuling 2004: 34) aus aller Welt versammeln sich jedes Jahr in Cannes und fügen sich der hektischen Betriebsamkeit eines alljährlichen Kommen und Gehens zahlloser Akkreditierter. Bemerkenswert ist dabei die elitäre Struktur des Festivals: was die Selektion der zirkulierenden Journalisten angeht, so herrscht ein einigermaßen strenges Klassensystem, das sich in der Verteilung von Presseausweisen widerspiegelt. Dieser Begebenheit ist im Kontext von Deutung und Bedeutungsgenerierung Aufmerksamkeit beizumessen – sie ist für das diskursive und materielle Fortleben der präsentierten Filme von nicht zu unterschätzender Dimension. Der journalistische Zugang, im konkreten Sinne des Zutritts zu den Veranstaltungen, insbesondere zu Premieren, ist nach Prioritäten organisiert. Zu den nicht-menschlichen Akteuren, die den hierarchischen Unterschied ausmachen, sind dabei insbesondere die in unterschiedlichen Farben ausgestellten Ausweise zu zählen: Im Umlauf und zu unterscheiden sind hier ein weißer Ausweis für die presse soirée, die Abendpresse, ein rosafarbener für Vertreter der Tagespresse, ein blauer für jene der Wochen- und Monatspresse. Ein gelber kommt schließlich noch Vertretern der weniger renommierten Blätter zu. Gemäß dieser Prioritätenvergabe werden die Journalisten in die Kinosäle und Pressekonferenzen eingelassen (Greuling 2004: 43-44). Es liegt auf der Hand, dass sich dadurch Deutungshoheiten generieren und formieren, die einen entscheidenden Anteil an der Rezeption und Vermarktung der gezeigten Filme haben. Das Weiße Band wird, nach seiner Projektion selbstverständlich auch im Rahmen einer Pressekonferenz (re-)präsentiert und diskutiert. Dass es in einem solchen Rahmen „nichts dergleichen wie ‚bloße Repräsentation‘“ (Latour/Ruffing 2009: 117) gibt, zeigt die Berichterstattung zum Film in eklatanter Weise.

49 Weis, Manuel. „‚Das weiße Band‘ punktet auch bei den Jungen“. http://www.quotenmeter.de/cms/?p1=n&p2=52405&p3= [12.11.2011] 50 Frois, Emmanuèle: „Michael Haneke: ‚Je voulais montrer comment on devient inhumain‘“. In: Le Figaro, 22.05.2009.

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52. K LEINE B ERICHTERSTATTUNG VON DER B ERICHT ERSTATTUNG VOR DER E RFOLGSBERICHTERSTATTUNG : D IE P RESSEKONFERENZ Eine Pressekonferenz, so die gängige Konzeption, gilt gemeinhin als Informationsveranstaltung. Was die Produktion von Informationsgütern anbelangt, so kann gelten, dass neue Informationsgüter entstehen, indem alte bzw. bestehende interpretiert und neu zusammengesetzt werden. Dies entspricht einer simplen Variante von „Intertextualität“. – Einer Konzeptualisierung, die mit jener fragwürdigen der „Intermedialität“ ihre Fortsetzung im Wissenschaftsraum gefunden hat und nicht zuletzt als Konzept der „Remediatisierung“ ausdifferenziert wurde (Müller 2009). Die Möglichkeiten, Medialität zu denken sind zahllos, weshalb ich mich im Folgenden nach zwei Grundsätzen richten möchte, die die ANT zur Verfügung stellt. Erstens: „Es gibt […] kein Medium, sondern nur Mediatoren, Mittler.“51 (Latour 2007 [SG]: 256) Zweitens: „Es gibt keine In-formation nur Trans-formation.“ (Latour 2007 [SG]: 257) So kann die Pressekonferenz, in deren Rahmen das Das Weiße Band nach seiner Projektion erneut und diesmal „leinwandfrei“ präsentiert wird, schließlich als Transformationsveranstaltung begriffen werden, von der zunächst einmal wiederversammelt werden muss, woraus sie sich zusammensetzt. „Ich habs nicht ganz verstanden. […] Acoustiquement j’ai pas bien compris, excusez-moi ...“, fällt unter die ersten Antworten, die Michael Haneke bei der Pressekonferenz gibt. Um einer exklusiven Konzentration auf die Inhalte zu entsagen, kann davon ausgehend zunächst einmal auf die Apparaturen Bezug genommen werden, die an der Konferenz teilhaben und – wie das Mikrofon, in das der Fragende spricht – zu ihrem Verlauf beitragen. Mehr oder weniger aufgefordert, seine Frage aus akustischen, also technischen Gründen zu wiederholen, (re-)formuliert Haneke sein Interesse. Deutlich knapper als beim ersten Versuch. Ob es nun am Mikrofon oder dem Akzent des Fragenden gelegen haben mag – in der online-gestellten Aufzeichnung der offiziellen Festivalseite ist sie jedenfalls relativ deutlich vernehmbar – muss offen bleiben. Hier beginnt jedenfalls eine Übersetzungsperformanz, die umso beachtlicher wird, je weiter die Konferenz voranschreitet. Sie resultiert schließlich in der altbekannten Situation, dass der Regisseur Haneke diversen Medienberichten zufolge Dinge gesagt haben soll, die er nie gesagt hat. Im Fall von „Haneke“, der bis zum Moment der Premiere seiner Filme in Cannes eine Verschwiegenheit voraussetzt, die – mit Ausnahme der verknappten obligatorischen Informationen eines Pressetextes wie ihn das Programmheft des Festivals bedingt – nicht im entferntesten erahnen lässt, worüber nach der Projektion zu reden sein wird, nimmt die Pressekonferenz gewissermaßen den Status einer diskursiven Initialzündung ein. In einem Medi-

51 In dieser Annahme kommt Latour seinem Landsmann Régis Debray und seiner den Kommunikationszentrismus überwindenden Médiologie sehr nahe. Debray räumt in seinem Versuch, technische Medien und die „sozialen“ Tätigkeiten, die sie bedingen und unterstützen, zusammenzudenken, den Prozessen des Übermittelns, Übertragens und Übersetzens, den Prozessen der Mediation(en) also, einen hohen Stellenwert ein. Während Debray allerdings das Mediale am Menschen als Medium konzipiert (Debray 2000: 2), ersetzt sich dieses Mediale bei Latour durch den Akteur.

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enzeitalter, in dem Geschwindigkeit zu einem beträchtlichen Maßstab von Konkretion avanciert ist, verlangt die erste offizielle Stellungnahme des Regisseurs eine möglichst sofortige Verbreitung. In der Unmittelbarkeit der Reaktion, der Zusammenfassungen des Erfahrenen, so scheint es, liegt die Herausforderung vieler Journalisten, wenn es darum geht, das Gesagte schriftlich kohärent aufzubereiten. Im hektischen Getriebe der internationalen Versammlung, die eine solche Pressekonferenz zweifelsohne ist, werden etwa der Ausklang einer müde gewordenen wilhelminischen Gesellschaft sowie auch die sehr spezielle Form der K.-u.-K.-Monarchie mittels Simultanübersetzung schnell einmal auf eine wie auch immer geartete „société allemande“ oder auf ein „Reich“ verkürzt bzw. ausgedehnt. An Hanekes Seite sitzt Robert Gray, auf dessen Moderations- und Konsekutivübersetzungsleistungen der Regisseur seit seiner ersten Pressekonferenz in Cannes zurückgreift – ein Meister seines Fachs, bekannt auch als Dolmetscher von Catherine Breillat und den Brüdern Jean-Pierre und Luc Dardenne, betraut in seiner Karriere mit delikaten Aufgaben wie u.a. einer Simultanübersetzung von Fassbinders Lola anlässlich der Filmfestspiele von Montreal 1981 ins Französische und Englische; (mit-)verantwortlich für mehrere hundert Untertitelungen, darunter – neben allen kanadischen Oscar-nominierten Fremdsprachenbeiträgen angefangen bei jenen von Denys Arcand – diverse Arbeiten von Alain Resnais, Jean-Luc Godard oder Luc Besson. Der Verlauf der Diskussion zum Weißen Band anlässlich der Pressekonferenz gestaltet sich offen, Haneke wehrt sich, Interpretationsbahnen festzulegen und verfolgt damit – in gewohnter Konsequenz – sein Prinzip, dass es hinsichtlich des Gezeigten von seiner Seite nichts zu erklären gibt. Der Zuschauer möge sich bemüßigt fühlen, selber nachzudenken. Haneke vertritt damit eine von ihm viel öfter verteidigte als von seinem journalistischen Publikum respektierte Auffassung von Kunst, die darin liege, Fragen zu stellen und nicht darin, Antworten zu geben. „Antworten bringen uns selten weiter, Fragen bringen uns manchmal weiter“, so Haneke im Wortlaut vor Ort. Nichtsdestotrotz zwingt die Konvention einer solchen Konferenz den Regisseur zum Kommentar; schon eine der ersten zögerlichen Repliken des Gesprächs entwikkelt sich zum offen gehaltenen Dialog zwischen Haneke und einem – im erforderlichen Switch zwischen Moderation und Übersetzung sowie zwischen Deutsch, Französisch und Englisch so versierten wie merklich herausgeforderten – Robert Gray: „[– Haneke:] ‚Na die Geschichte … je parle en allemand parce que … […] Die Idee ist relativ alt, ich hab das vor 10 Jahren begonnen, dieses Projekt […]. Es ging mir darum, eine Geschichte zu erzählen, wo junge Menschen, also eine Gruppe von Kindern, die Ideale, die ihnen von ihrer Elterngeneration gepredigt werden, verabsolutieren. Und immer in dem Moment, wo man ein Ideal verabsolutiert, macht man es unmenschlich. Das ist sozusagen die Wurzel jeder Form von Terrorismus … äh ja … vielleicht kannst du des amal übersetzen.‘ [sic!] [– Gray:] ‚Tout d’abord c’est un projet … je travaille depuis presque dix ans. D’abord j’étais intéressé à tourner ou de présenter un groupe de jeunes enfants auxquels on inculque des valeurs … absolus … et justement je voulais montrer comment ce groupe d’enfants cherche à intérioriser cet absolutisme, ces valeurs absolues et je voulais aussi montrer que lorsqu… que justement tout absolutisme mène nécessairement ou peut mener à un terrorisme, … de toutes les sortes …‘ [sic!]

138 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE [– Haneke (unterbricht):] ‚Je suis pas sûr si c’est exactement ce que je disais, excuse-moi. […] Si on érige en absolu un principe, le principe devient inhumain ou un idéal.‘“ [sic!]52

Der Film sei Haneke zufolge nicht ausschließlich als Film über den Faschismus zu verstehen, nicht nur als „deutsches“ Problem. Die Frage der Verabsolutierung von Prinzipien bzw. Idealen, so der Regisseur, sei übertragbar: „N’importe quel idéal est perverti dès qu’on l’érige à l’absolu [sic!].“ Auf die Frage, ob sich der Film in Anlehnung an Ingmar Bergmans Ästhetik als „bergmanien“ klassifizieren ließe, repliziert Haneke lakonisch, er sei schlicht „hanekien“. Es sei die Profession der Kritik, derartige Parallelen zu sehen, ihn interessiere das weniger, wenn er Filme macht. Es wird dauern und einer Vielzahl an Analysen und Interviews mit dem Regisseur bedürfen, bis sich der Film von seiner anfänglich sehr groben Deutung als ein Historiendrama „über die deutsche Vergangenheit“ lösen wird und sich im Verständnis der Journalisten als jene Parabel universellen Charakters zu den Entstehungsbedingungen des Fundamentalismus verfestigt, die Haneke unentwegt betont – wie etwa Daniela Sannwald gegenüber für den Tagesspiegel: „Fundamentalismus gibt es überall. Und darum geht es eigentlich. Wenn ein arabischer Regisseur einen Film über den Fundamentalismus im Islam machen würde, würde der völlig anders ausschauen. Aber der Grund ist der gleiche. Im ‚Weißen Band‘ geht es um Deutschland nur als Paradebeispiel für diese Grundhaltung. Sonst wäre es ein Film nur für Deutsche, nicht einmal das. Es ist ja kein Film über den deutschen Faschismus.“53

Seine Faszination für die „Frage, wie man bereit wird, einer Ideologie zu folgen“ – neben seiner als nicht autobiografisch bedingt erklärten Faszination für den Rigorismus des Protestantismus (er sei überhaupt nicht streng erzogen worden) – habe sich im Schock revitalisiert, den eine Dokumentation über den Eichmann-Prozess in ihm ausgelöst hatte: „Schockiert hat mich die Szene in dem Dokumentarfilm über den Eichmann-Prozess, wo er gefragt wird, wie er zu seinen Verbrechen steht, und er sagt ohne jedes schlechte Gewissen: ‚Ich habe meine Pflicht getan‘. Er hat gar nicht verstehen wollen, warum man ihn anklagte. Das hat mich ziemlich irritiert. Diese Obrigkeitshörigkeit, die Arbeitsmoral – alles, was man in Deutschland mit Tüchtigkeit verbindet. Oder nehmen Sie Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, die ich übrigens persönlich ganz gut gekannt habe. Die kamen aus sehr protestantischen Häusern und sahen die Dinge mit großem moralischen Rigorismus. Sie waren geprägt durch eine Situation von Unbehagen, Unterdrückung, Angst und Demütigung und folgten dann einer Ideologie, die sie für die Lösung hielten. In einem Klima, das den Rigorismus fördert, gedeiht so was ganz leicht.“54

52 Siehe Aufzeichnung der Konferenz. In: http://www.festival-cannes.fr/fr/mediaPlayer/ 10038.html [20.11.2012] 53 Sannwald, Daniela. „Ideologie macht krank: Der Regisseur Michael Haneke spricht mit dem Tagesspiegel über seine protestantische Kindheit, Faschismus und Fundamentalismus“. In: Der Tagesspiegel, 12.10.2009. 54 Ebd.

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Während des Zeitraums zwischen der ersten offiziellen Pressekonferenz in Cannes bis hin zu späteren Stellungnahmen wie der obigen (und freilich auch darüber hinausgehend) zeigt und verbirgt sich die schier unermessliche Vielfalt an Deutungspotentialen – all jene nämlich, mit denen der Regisseur bei der Pressekonferenz zugunsten eines deklariert universellen Problems und insofern strategisch einwandfrei zurückhält. Wodurch er wiederum einen semantischen Reichtum aufrechterhält, der an den qualitativ relativ heterogenen Deutungsresultaten sowie auch an der quantitativen Ausprägung der Stellungnahmen gewiss einen erheblichen Anteil hat.

51. D IE E RZIEHUNG ZUR M ÜNDIGKEIT UND IHRE V ERMARKTUNG . O DER : W AS M YSTERIEN MIT P RAGMATISMUS ZU TUN HABEN Die Schlagzeilen der französischen Presse vom Oktober 2009 anlässlich des Kinostarts in Frankreich sprechen für sich: „Nazisme année zéro“55 (Le Nouvel Observateur, 15.10.2009), „Une histoire d’enfants qui remonte aux racines du mal“56 (Le Monde, 21.10.2009), „Une Palme d’or contre les totalitarismes“57 (Le Monde, 24.10.2009), „Michael Haneke : ‚La joie s’oublie vite, l’humiliation, jamais‘“58 (Libération, 21.10.2009), „L’Enfance du mal“59 (Libération, 21.10.2009), „L’Obsession du mal“60 (Les Inrockuptibles, 20.10.2009), „Inculquer la haine exige une si grande discipline….“61 (L’Humanité Dimanche, 22.10.2009), „L’humiliation, terreau de l’idéologie“62 (Le Figaro, 21.10.2009), „Le Ruban blanc, redoutable palme d’or“63 (Le Figaroscope, 21.10.2009), „Les enfants du crépuscule“64 (Le Figaro, 21.10.2009), „Noirs désirs“65 (L’Express, 15.10. 2009), „Un si joli village …“66 (L’Express, 22.10.2009), „Les enfants terribles“67 (Les Echos, 21.10.2009),

55 Mérigeau, Pascal. „Nazisme année zéro“. In: Le Nouvel Observateur, 15.10.2009. 56 Sotinel, Thomas. „Une histoire d’enfants qui remonte aux racines du mal“. In: Le Monde, 21.10.2009. 57 Blumenfeld, Samuel. „Une palme d’or contre les totalitarismes“. In: Le Monde, 24.10.2009. 58 Péron, Didier. „Michael Haneke: ‚La joie s’oublie vite, l’humiliation, jamais‘“. In: Libération, 21.10.2009. 59 Péron, Didier. „L’enfance du mal“. In: Libération, 21.10.2009. 60 Kaganski, Serge. „L’obsession du mal“. In: Les Inrockuptibles, 20.10.2009. 61 Vergnol, Maud. „Le Ruban blanc. Inculquer la haine exige une si grande discipline …“. In: L’Humanité Dimanche, 22.10.2009. 62 Delcroix, Olivier. „Michael Haneke: L’humiliation, terreau de l’idéologie“. In: Le Figaro, 21.10.2009. 63 Tranchant, Marie-Noëlle. „Le ruban blanc, redoutable palme d’or“. In: Le Figaroscope, 21.10.2009. 64 Neuhoff, Éric. „Les enfants du crépuscule“. In: Le Figaro, 21.10.2009. 65 Carrière, Christophe. „Haneke Noirs désirs“. In: L’Express, 15.10.2009. 66 Unbekannt (Kürzel: E.L.). „Un si joli village …“. In: L’Express, 22.10.2009. 67 Gandillot, Thierry. „Les enfants terribles“. In: Les Echos, 21.10.2009.

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„Le ruban blanc (Noirs délires)“68 (Le Canard enchaîné, 21.10.2009), „Un Ruban blanc parfaitement ficelé“69 (La Tribune, 21.10.2009), „Carton rouge“70 (Témoignage Chrétien, 15.10.2009), „Blanc comme l’enfer“71 (Télérama, 21.10.2009), „Le Ruban blanc, la révolte des petits“72 (Le Point, 15.10.2009), „Ciels d’orage“73 (Le Nouvel Observateur, 22.10.2009), „Au miroir des forces obscures“74 (L’Humanité, 21.10.2009), „Faux-semblants et réalité crue“75 (France-Soir, 21.10.2009). Unter diesen Schlagzeilen versammelt sich ein relativ buntes Tableau von Komponenten des Erfolgsfilms – thematisiert werden unter anderem Kausalitätsprobleme, arische Blondheit, Dämonen, das Verderben, die Grenzen zwischen Barbarei und Zivilisation und ihre potentiellen Lesarten (etwa als Kausalkette in Richtung des Schlimmsten oder als Tableau moralischen Versagens)76; die unter Nichtbeteiligung internationaler Stars realisierte Schwärze der menschlichen Seele77; die in allen Haneke-Filmen zu findende paradoxe Mischung aus absoluter Beherrschung und Bedeutungsoffenheit78; eine unsichere, nicht zugewiesene Schuld79; erniedrigungsbedingte psychologische Gewalt80; kindlicher Machiavellismus81; eine von Klassenlogik vereinnahmte Welt82; eine bleierne Familie, tödliche Bilder und ein dominierendes Böses83; ein an August Sanders Fotografien erinnerndes Ambiente84; eine Mikrogesellschaft als nationale Metapher85; eine strapaziöse, unnötige und derbe Darlegung des Sadismus eines Deutschlands vor 191486; eine Grausamkeit zwischen „Liebenden“ (die Hebamme und der Doktor), die die ehelichen Auseinandersetzungen in Bergmans Szenen einer Ehe (1973) beinahe freundlich erscheinen lässt87; und nicht

68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87

Fontaine, David. „Le ruban blanc (Noirs délires)“. In: Le Canard enchaîné, 21.10.2009. Chanut, Jean-Cristophe. „Un Ruban blanc parfaitement ficelé“. In: La Tribune, 21.10.2009. Chatel, Luc. „Carton rouge“. In: Témoignage Chrétien, 15.10.2009. Murat, Pierre. „Blanc comme l’enfer“. In: Télérama, 21.10.2009. Lorrain, François-Guillaume. „Le ruban blanc, la révolte des petits“. In: Le Point, 15.10.2009. Mérigeau, Pascal. „Ciels d’orage“. In: Le Nouvel Observateur, 22.10.2009. Unbekannt (Kürzel: D.W.). „Au miroir des forces obscures“. In: L’Humanité, 21.10.2009. Unbekannt (Kürzel: S. Bo). „Faux-semblants et réalité crue“. In: France-Soir, 21.10.2009. Péron, Didier. „L’enfance du mal“. In: Libération, 21.10.2009. Vgl. Kaganski, Serge. „L’obsession du mal“. In: Les Inrockuptibles, 20.10.2009. Vgl. Ebd. Vgl. ebd. Vergnol, Maud. „Le Ruban blanc. Inculquer la haine exige une si grande discipline …“. In: L’Humanité Dimanche, 22.10.2009. Vgl. Neuhoff, Éric. „Les enfants du crépuscule“. In: Le Figaro, 21.10.2009. Vgl. Unbekannt (Kürzel: E.L.): „Un si joli village …“. In: L’Express, 22.10.2009. Vgl. Carrière, Christophe. „Haneke Noirs désirs“. In: L’Express, 15.10.2009. Gandillot, Thierry. „Les enfants terribles“. In: Les Echos, 21.10.2009. Chanut, Jean-Cristophe. „Un Ruban blanc parfaitement ficelé“. In: La Tribune, 21.10.2009. Chatel, Luc. „Carton rouge“. In: Témoignage Chrétien, 15.10.2009. Murat, Pierre. „Blanc comme l’enfer“. In: Télérama, 21.10.2009.

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zuletzt und alles in allem: ein Film, der schrecklich und elegant zugleich88 und (vermittels seiner Form) schon zum Zeitpunkt der Premiere ein Klassiker ist89. Eines der Blätter entwirft – entgegen jener dramaturgisch so vehement erwirkten Aufmerksamkeit, die von Beginn des Narrativs an auf die Kinder fällt – eine Typologie der erwachsenen, männlichen bzw. väterlichen Figuren des Dorfes in ihrem Handeln, um letztlich die Frage der Involviertheit des Zuschauers aufzuwerfen: „[…] l’homme de Dieu (le pasteur) opprime violemment ses enfants pour faire leur bien ; l’homme libre-penseur (le médecin) sadise ceux qui l’aiment […] ; l’homme de l’ordre (le régisseur des terres du châtelain) bat ses fils pour les punir d’avoir offensé les maîtres. Et même l’intellectuel, l’homme de raison (l’instituteur) – sur lequel Haneke porte néanmoins un regard d’une bienveillance étonnante, lui octroyant des scènes sentimentales quasi fordiennes – déserte à la fin les lieux du crime quand il aurait pu être utile … Tous agissent en étant persuadés de faire le bien. Ces hommes sont fous. Leurs enfants le seront aussi. Mais, comme le disait l’humoriste américain Sam Levenson: ‚La folie est héréditaire. Les enfants la transmettent aux parents.‘ C’est ce va-et-vient terrifiant et annoncé à l’origine du mal qui fascine Haneke. Et où sommes-nous, nous, là-dedans ? Car Haneke, cinéaste qui se revendique comme moraliste, ne nous oublie pas. Nous, qui venons après les acquis de Freud, après la Shoah, sommes-nous meilleurs ? Chaque génération pense l’être. Mais est-ce bien certain, semble susurrer le cinéaste autrichien avec un brin de malice ?“90

Wenn man daraus schließen möchte, dass dem Regisseur letztlich auch das Lehrpotential von Geschichte(n) ein fragwürdiges ist, relativiert sich jedenfalls die Etikettierung des „Oberlehrers“, die sich Seitens der spöttischen Kritik zuweilen formiert. „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler“, lässt Haneke mit Ingeborg Bachmann seine von Isabelle Huppert 2001 verkörperte Klavierspielerin explizieren. Und während das eine Blatt die Kinder bzw. das fiktionale Figurenangebot beleuchtet und ein anderes vorzugsweise das Publikum zum Protagonisten erhebt, beschreibt wieder ein anderes musternd den Regisseur selbst: in seinem Auftreten, seiner physiognomischen Statur, seiner Provenienz und in seinem Erfolg: „Dès qu’il vous regarde, Michael Haneke plonge ses yeux noirs dans les vôtres. Barbe en noir et blanc, tignasse poivre et sel, sourcils charbonneux et dents blanches : on le croirait sorti de son nouveau film. On s’attendait à un entretien grave. Il n’en sera rien. L’homme est avenant, décontracté, et même facétieux à l’occasion. Né à Munich, élevé à Vienne par un père protestant et une mère catholique, le cinéaste autrichien a étudié la philosophie, la psychologie et l’art dramatique à l’Université de Vienne. À 67 ans, il vient d’obtenir la palme d’or pour Le Ruban

88 Sotinel, Thomas. „Une histoire d’enfants qui remonte aux racines du mal“. In: Le Monde, 21.10.2009. 89 Lorrain, François-Guillaume. „Le ruban blanc, la révolte des petits“. In: Le Point, 15.10.2009. 90 Morain, Jean-Baptiste. „Le Ruban blanc de Michael Haneke“. In: Les Inrockuptibles, 20.10.2009.

142 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE blanc, diamant noir, entre pureté et grâce qui dissèque les méfaits de l’éducation ultrarépressive dans un bourg paysan de l’Allemagne du Nord des années 1920.“91

Es sind exemplarische Stellungnahmen einer unermesslichen Gesamtheit, die ihrerseits den engen Fokus auf einen Regisseur, der sein Publikum mit Offenheit und Unentscheidbarkeit sekkiere, schon per se sehr weiten. Ihre Versammlung führt von der punktuell häufig zu verzeichnenden vorschnellen Etikettierung des Regisseurs als „Gewaltspezialisten“ hin zu einem „pedantisch“ bis „kompromisslos“ genauen, theoretisch versierten und philosophisch akkuraten Künstler, der – seiner Profession gemäß – die Zeigbarkeit der Sagbarkeit vorzieht und der das, was er zeigt, semantisch so reichhaltig anlegt, dass auf alle potentiellen Anknüpfungspunkte einzeln hinzuweisen sich als ein schier nicht zu bewältigendes Unterfangen erweist. Dennoch ergeben sich – gemessen an der Häufigkeit ihres Auftretens – Parallelen, die sich in dieser Hinsicht stärker gewichten lassen als andere. Eine darunter führt zweifelsohne zu Hanekes Vorbild Adorno, der an vielen Stellen aus ihm zu sprechen scheint. – „C’est l’essentiel de nos vies : comment trouver en la compagnie du mal la force de vivre?“92 Dem bereits angeführten Befund einer „totalitären“ Vorgehensweise des Regisseurs ließe sich schließlich entgegensetzen, dass Haneke opulent bzw. bildgewaltig einlöst, was Adorno in seinem Traktat über die Erziehung zur Mündigkeit (1969) zum Prinzip erhebt, nämlich die unabdingbare Notwendigkeit, Entscheidungen beim Einzelnen zu lassen und ihn in seiner (durch Erziehung erst – und nicht über die Kanäle des Mainstreams – zu erwirkenden) Mündigkeit (die Bedingung für Demokratie schlechthin) zu fördern: „Ich würde auf die Gefahr hin, daß Sie mich einen Philosophen schelten, der ich nun einmal bin, sagen, daß die Gestalt in der Mündigkeit sich heute konkretisiert, die ja gar nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann, weil sie an allen, aber wirklich allen Stellen unseres Lebens überhaupt erst herzustellen wäre, daß also die einzige wirkliche Konkretisierung der Mündigkeit darin besteht, daß die paar Menschen, die dazu gesonnen sind, mit aller Energie darauf hinwirken, daß die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist. Ich könnte mir etwa denken, daß man auf den Oberstufen von höheren Schulen, aber wahrscheinlich auch von Volksschulen gemeinsam kommerzielle Filme besucht und den Schülern ganz einfach zeigt, welcher Schwindel da vorliegt, wie verlogen das ist; […] als ob wir in einer ‚heilen Welt‘ leben würden, eine wahre Angstvorstellung im übrigen […].“ (Adorno [1969] 1971: 145)

Vergegenwärtigt man sich diese Zeilen zur Erziehung zu Widerspruch und Widerstand, so lässt sich nicht zuletzt auch die vermeintliche Negativität des vom Figaroscope hinsichtlich der Preisvergabe gefällten Urteils einer „fürchterlichen Pal-

91 Delcroix, Olivier. „Michael Haneke: L’humiliation, terreau de l’idéologie“. In: Le Figaro, 21.10.2009. 92 Michael Haneke im Interview. Murat, Pierre. „Le cinéaste Michael Haneke – entretien“. In: Télérama, 14.10.2009.

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me“93 in ihr „positivstes“ Gegenteil verkehren. Man erinnere abermals Adorno: „Wenn Angst nicht verdrängt wird, wenn man sich gestattet, real so viel Angst zu haben, wie diese Realität Angst verdient, dann wird gerade dadurch wahrscheinlich doch manches von dem zerstörerischen Effekt der unbewußten und verschobenen Angst verschwinden.“ (Adorno [1969] 1971: 97) – Hierin, so scheint es, liegt schließlich die gänzlich erlösungsferne „kathartische“ Wirkung, mit der Hanekes Filme bisweilen bedacht werden. Was sich folglich mit Arendt einleiten und mit Adorno abrunden lässt – und sich im Ganzen unschwer als Widerstandsprogramm gegen den common sense zusammenfassen ließe –, ist ein Regieangebot, das unzählige Stationen menschlichen Denkens und menschlicher Erkenntnis durchlaufen hat. Das oftmals als Vorwurf auftretende Argument, der Regisseur gewähre keine Auskünfte zu seinen Filmen ist nur von partieller Gültigkeit: Zwar wehrt sich Haneke bekanntermaßen dagegen, Lösungsvorschläge zu seinen Filmen zu geben, jedoch zelebriert er – mitunter sehr offenkundig, wie zu zeigen sein wird – ein (zuweilen entschieden heteronomes) Denken, das sich zu einem beachtlichen Konglomerat aus Namen und Konzepten zusammenfügen lässt. Eine – insbesondere in diesem Erziehungskontext – entscheidende Frage betrifft schließlich die (kommerzielle) Verwertung des besagten Widerstands: „Filme im Unterricht effizient vorbereiten und sinnvoll in Zusammenhänge einbinden – dafür lassen wir Pädagogen und Film-Experten Materialien zu unseren Filmen herstellen.“94 Mit dieser Zeile richtet sich die X Verleih AG – der für Deutschland zuständige Verleih des finanziell mehrheitlich in Deutschland produzierten Films (X Filme) – an Lehrer, mit dem Vorschlag, gewisse Werke des Verleihprogramms im Filmunterricht zu forcieren. So verzeichnet der X Verleih eine Kooperation mit Vision Kino – Netzwerk für Film- und Medienkompetenz, eine Initiative des Beauftragten der deutschen Bundesregierung für Kultur und Medien, der Filmförderungsanstalt, der Stiftung Deutsche Kinemathek und der „Kino macht Schule“ GbR. Im Schulmaterial, das Vision Kino zum Weißen Band zur Verfügung stellt, heißt es hinsichtlich der Anknüpfungspunkte für pädagogische Arbeit wie folgt: „Der Untertitel des Films heißt zwar ‚Eine deutsche Kindergeschichte‘, der Film ist jedoch keinesfalls ein Kinderfilm, auch wenn die Welt von Kindern und Jugendlichen eine bedeutende Rolle spielt. Der Film über die Mechanismen einer autoritären Gesellschaft verdeutlicht, wohin das Wesen einer rigiden Erziehungs- und Gemeinschaftsordnung führen kann, wenn es nur um Regeln und nicht um zwischenmenschliches Verständnis und Herzensbildung geht. Die Zelebration von Sekundärtugenden lässt sich als Nährboden für den Faschismus deuten. Schüler benötigen eine gewisse Lebenserfahrung, um die Andeutungen und Symboliken des Films durchdringen zu können. Sicherlich werden Grausamkeiten (sexuelle Nötigung, schwere körperliche Misshandlung von Menschen und Tieren) nicht explizit vorgeführt; die Komplexität der Handlung und die Reflexion in Zusammenhang mit Nationalismus und dem späteren Nationalsozialismus setzt jedoch entsprechende Reife voraus, sodass im Regelfall Schüler/innen unter 16 Jahren rezeptionell überfordert sind. Neben der Analyse der Filmerzählung und der 93 Tranchant, Marie-Noëlle. „Le ruban blanc, redoutable palme d’or“. In: Le Figaroscope, 21.10.2009. 94 Website X Verleih: http://www.x-verleih.de/de/schule [11.08.2012]

144 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE Darstellung der feudalistisch geprägten Gesellschaft ist der Film auch ein hervorragendes Zeugnis zum Verständnis der deutschen Vorkriegszeit wie sie bisher kaum in einem Spielfilm zu sehen war. Neben historischen und soziokulturellen Betrachtungen, bei denen ein Grundwissen dieser Geschichtsepoche erforderlich ist, können sich dabei in mehreren Unterrichtsfächern auch fruchtbare Diskussionen über Form und Inhalt von Erziehung sowie über die Grundlagen moralischer Entwicklung ergeben.“95

Ein Gespräch mit Manuela Stehr96, Vorstand des X Verleih, gibt Aufschluss über die aktuelle Distributionssituation von Arthouse-Filmen in Deutschland: Eines der Grundprobleme bestehe im Verhältnis zwischen Film und Kino. Zwar beschwere man sich aus den Reihen der Kinos, es gäbe zu viele Filme, die Statistik de facto zeige jedoch anderes. Was sich hingegen tatsächlich grundlegend geändert habe (und damit auch partiell verstärkte Marketingstrategien wie die obige erklärt), sei die Situation, dass die Filme in mehr Kopien herauskommen als dies früher der Fall war. So verlangt der Deutsche Filmförderfonds (DFFF), dass bereits im Moment der Finanzierung, d.h. auf Drehbuchbasis ein Verleihvertrag vorliegt, in dem der Verleiher sich verpflichtet, den Film mit mindestens 35 Kopien ins Kino zu bringen. Dies birgt freilich Risiken für den Verleih – Stehr zufolge kommt es des Öfteren vor, dass der betreffende Film letztlich qualitativ nicht den Erwartungen entspricht. Früher habe man einen Verleihvertrag erst abgeschlossen, wenn der Film fertiggestellt war. Inzwischen hingegen ist es jedoch so, dass sich der Verleih verpflichtet, in der besagten Mindestzeit zu agieren, da der Produzent ansonsten gezwungen sei, die Fördermittel zurückzuzahlen. Folglich ist die Anzahl an Kopien mittlerweile insgesamt angestiegen, auf 35 eben, während man einen qualitativ weniger überzeugenden Film ehemals mit nur zehn Kopien gestartet hat. Hinzu kommt, so Stehr, dass sich auch bei amerikanischen Produktionen die Anzahl an Kopien erhöht hat; und zwar bei einer rückläufigen Zahl von Leinwänden, was zu einem veritablen Kampf um Leinwände führe. Ein weiterer Faktor betrifft Stehr zufolge die Tatsache, dass die Kinos in der Wahl der gezeigten Filme erheblichen Einschränkungen unterliegen. Dies liege nicht nur daran, dass es zu viele Filme gibt, sondern vor allem auch daran, dass die Kinobesitzer um die Problematik wissen, dass ein Film, der entsprechend gefördert wurde, nach den genannten Kriterien herauskommt. Entsprechend könne man dem Verleiher schwer abschlagen, den Film zu spielen. Im Ergebnis bedeutet das die vielerorts zu beobachtende Situation, dass in einem sogenannten „Arthouse“-Kino mit etwa drei Leinwänden um die zwanzig Filme laufen, wobei jeder nur noch eine Vorstellung bekommt. Dieses als „Schiene“ bezeichnete Phänomen führe schließlich dazu, dass am berühmten ersten Wochenende kaum nennenswerte Zuschauerzahlen mehr erreicht werden können, weil man zu wenige Vorführungen hat. Dass ein Film Aufsehen erregt, sich eventuell herumspricht und sich dadurch länger im Kino halten kann, ist dementsprechend immer weniger eine Möglichkeit. Stehr resümiert die Drastik im Wortlaut schließlich folgendermaßen:

95 Martin Ganguly, 17.06.2009. www.visionkino.de [18.06.2011] 96 Gespräch mit Manuela Stehr (X Verleih) geführt in Cannes am 23.05.2012. Interview: Katharina Müller.

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„Die Zuschauerzahlen für Filme haben sich [stark verringert; K.M.] … halbiert auf jeden Fall. Filme, egal ob deutsche oder französische (oder europäische Filme), mit denen wir vor drei Jahren noch 200.000 Zuschauer gemacht hätten und gut damit gefahren wären, da können wir heute froh sein, wenn wir 50.000 machen, und das reicht halt nicht mehr. Hinzu kommt das Problem, dass die Marketingbudgets auch nicht weniger geworden sind, da muss man ja nun eher mehr ausgeben, weil man ja mit allen anderen um Aufmerksamkeit buhlt. Und das führt dazu, dass es sich einfach nicht mehr rechnet und man immer weniger Risiken eingehen kann. – Was natürlich für eine Vielfalt im kulturellen Sinne auch nicht schön ist.“97

Letztlich sei im thematisierten Bereich des Arthouse im weitesten Sinn jeder Film ein Risiko. Man könne dennoch bei Filmen wie Dany Boons Bienvenue chez les Ch’tis (2008) oder Olivier Nakaches und Eric Toledanos Intouchables (2011), die in Frankreich bereits erfolgreich gelaufen sind, erhoffen, dass sich auch in Deutschland eine entsprechende Aufmerksamkeit einstellt. Auf die angesichts der genannten Produktion sich aufdrängende Frage nach der Definition von Arthouse, dem als Kategorie bei aller Beliebtheit gleichwohl eine gewisse Vagheit anhaftet, verweist Stehr auf die Vermischung von Kunst und Kommerz in ihrer lokalsten Form, dem Kinosaal selbst. In vielen deutschen Mittelstädten gibt es schlicht keine Arthouse-Kinos mehr, nur mehr ein Multiplex, wobei diese Multiplexe dazu übergegangen sind, in ein oder zwei Sälen – je nach Stadt und Klientel – Arthouse-Filme zu spielen. Aber die Klientel betreffend verzeichnet Deutschland – Stehr führt die jüngste Studie der Filmförderungsanstalt an – aktuell sogar bei der stärksten Besuchergruppe, den jungen Multiplexbesuchern, Verluste. Zurückzuführen sei diese Entwicklung auf das Bildungssystem, insbesondere in der Umstellung des Studiums auf Bachelor und Master: „Kinobetreiber bestätigen mir das auch. Ich bin auch lehrend tätig, an der Hamburg Media School; meine Studenten, die ich in Produktion unterrichte, gehen nicht mehr ins Kino und ich erfahre und erlebe das bei anderen auch. Was ist passiert? Man hat diese Studien inzwischen so komprimiert, dass die im Grunde völlig verschult jeden Tag von morgens bis abends Uni haben, d.h. sie haben schlicht überhaupt gar keine Zeit mehr und sie haben vor allem auch gar keine Zeit mehr, nebenher zu jobben, was jeder anständige Student meiner Generation z.B. immer gemacht hat nebenher. D.h. sie haben auch gar nicht mehr so viel Geld zur Verfügung. Und das führt dazu, dass die nicht mehr ins Kino gehen; und das ist natürlich fürs Arthouse, wo Studenten eine große Kraft waren, ein Verhängnis. Dafür verzeichnen wir immer weiter Zuwächse – was ja auch schön ist – bei über 60-Jährigen.“98

Bei letzteren jedoch bedarf es wiederum anderer Strategien der Verführung, denn diese Generation – es wird auf sie zurückzukommen sein – findet tendenziell über andere Wege ins Kino als das jüngere Publikum. Häufig geht es dabei darum, erst einmal von Bekannten und Verwandten gehört haben zu müssen, dass ein Film gut ist. Filme sprechen sich effektiv herum und genau darin liege das Problem, denn häufig laufen sie dann schon nicht mehr. Dass bei vielen Filmen, wie Stehr anmerkt, inzwischen bereits auf Anzeigen in Tageszeitungen zugunsten von Internetwerbung 97 Gespräch mit Manuela Stehr (X Verleih) geführt in Cannes am 23.05.2012. Interview: Katharina Müller. 98 Ebd.

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verzichtet wird, wirkt sich letztlich auch nicht eindeutig positiv auf die Erreichbarkeit ebendieser Öffentlichkeit aus, obschon – mancher Einschätzung zufolge – zunehmend auch Ältere das Internet konsultieren, zumindest die Seite des Kinos vor Ort. Ein weiteres, vor allem für den Verleih massives Problem stellt sodann das illegale bzw. rechtlich äußerst umstrittene Herunterladen von Filmen aus dem Internet dar. Es bezieht sich Stehr zufolge bemerkenswert stark auf den Bereich Arthouse. Die Regelung des Urheberrechts hinsichtlich der Piraterie gestalte sich jedoch schwierig: Es gehe primär darum, Politiker – die naturgemäß Angst haben, die Netzgemeinde gegen sich aufzubringen – wieder auf die Seite des Urheberrechts zu bringen und dabei gleichzeitig verstärkt auf die legalen Bereiche des Downloads im Netz zu verweisen. Man müsse die Provider dazu bringen, dass sie nicht weiter illegales Material zur Verfügung stellen: „Das können die technisch, aber das wollen sie natürlich nicht, weil sie leben ja davon, dass da große Datenpakete hin- und hertransportiert werden, was bei Filmen ja auch der Fall ist. – Was ja auch das Perverse ist, muss man sagen: Wir haben, mit unseren Filmen, die die größten Datenmengen sind, im Vergleich zu einem Song, wir haben dafür gesorgt, dass die schön ihre Netze ausbauen konnten und Geld verdienen und jetzt, anstatt dass sie uns hofieren und gut zu uns sind, kriegen wir das um die Ohren gehauen, indem sie sagen, das ist uns doch egal, ob das legal ist oder nicht legal, was da durchgeht. Das muss natürlich auch abgestellt werden. Ich bekomme immer die Krise: wenn man bei Google ‚Kino‘ eingibt, sind die ersten sechs Links illegale Portale. Sowas geht nicht und wir müssen die Werbetreibenden dazu kriegen, dass sie keine Werbungen mehr schalten, auf den illegalen Portalen, weil damit entzieht man denen nämlich die Existenzgrundlage. Denn bei denen geht’s ja nun nicht um Freiheit und Zugang und jeder soll Filme gucken können, sondern es geht ganz schnöde um Geld. Und zwar um richtig viel Geld.“99

Mit diesen Überlegungen zu den technologiebedingten Entwicklungen steckt die Vorständin des X Verleih jedoch nur einen Bereich der ihres Erachtens zu treffenden Strategiemaßnahmen ab. In Analogie dazu bedürfe es zudem eines komplementären Zugs, um dem Kinobesucherrückgang effektiv entgegenzutreten: „Auf der anderen Seite muss man Kino als magischen Ort wiederbeleben. Das muss man Seite an Seite mit den Kinobetreibern machen, weil Kino müsste meiner Ansicht nach wunderbar in unsere Zeit passen: In einer Zeit, wo alle Leute fünf Sachen gleichzeitig machen – auch hier [an der Croisette; K.M.], man muss sich da nur mal umsehen: Handy, Kaffee, Zigarette und noch irgendwie unterhalten –, ist ins Kino zu gehen, im Dunkeln zu sitzen, mit anderen Leuten zusammen, und sich auf etwas zu konzentrieren, das einen verzaubert und in eine andere Welt einführt, eigentlich ein idealer Ausgleich zu dieser Hektik und zu diesem Multitasking im Alltag. Und das muss man, glaube ich, ganz klar wieder kampagnenmäßig nach vorne bringen. Und, man muss natürlich [dafür sorgen; K.M.], dass die Kinobesucher, die uns erhalten geblieben sind bzw. sogar mehr werden, sprich: die ‚Best-Agers‘, dass die es vielleicht auch komfortabler und netter haben. Der Ort Kino muss natürlich auch was zu bieten haben. Wir haben ja in Deutschland Herrn Flebbe, der Kinos wieder gekauft hat, die er zu Luxuskinos quasi wieder ausbaut. Mit unglaublich bequemen breiten Ledersesseln, mit Getränken, die man serviert be99 Ebd.

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kommt. Das kostet dann ein bisschen mehr, funktioniert aber wunderbar. Die Leute mögen das. Die kriegen vorher noch ein Glas Sekt, das ist da mit drin, und dann sitzen sie da, und haben’s super bequem, können da was zum Essen kommen lassen, an den Tisch und das wird sehr gern wahrgenommen. Und da muss man natürlich auch dran arbeiten, weil kinoseits haben wir auch ein bisschen das Problem, dass hier zum Beispiel im Sommer …: Die meisten Arthouse-Kinos haben noch nicht mal eine Klimaanlage. Und da kriegt man dann auch keine Luft mehr. Also da muss was passieren. Also auf der einen Seite die Magie Kino wieder heraufbeschwören als gerade zeitgemäße Sache – deshalb funktioniert das glaube ich mit den über 60-Jährigen auch so gut: ins Kino zu gehen bringt einem ein großes Erlebnis, ohne dass man viel Aufwand betreiben muss, man muss nicht wie bei Theater oder Oper sich vorher lang um die Karte kümmern, man muss sich nicht umziehen, man hat in der Regel nicht solche Anfahrtswege, weil in vielen Orten ein Kino natürlich noch in der Nähe ist. Das sind schon alles Punkte, die das durchaus attraktiv machen und die muss man halt rausarbeiten und offensiv bewerben. Und dann würd ich eben Bachelor und Master wieder abschaffen.“100

Die „Magie Kino“ in Zeiten globaler Filmzirkulation leidet. – Eine Entwicklung, die jedoch nicht als auf das Konto der mobilen Endgeräte gehend reduziert werden könne, zu sehr seien diese als flächendeckend verfügbare Zugangsgeräte zum Internet freilich lebensnotwendige Hilfsmittel der Branche. Entsprechend nahe liegt daher die Kritik am Bildungssystem – nicht zuletzt auch deshalb, weil Studierende in der Stabilisierung jenes mit „Arthouse“ umschriebenen Kinos über Jahrzehnte eine bedeutende Kraft waren: die zunehmende Verschulung der Universitäten, die verpflichtenden Reglementierungen des angebotenen Lehrprogramms zulasten einer ehemals größeren Flexibilität in der Zeiteinteilung und damit der Möglichkeit, sich außeruniversitär zu bereichern oder zu betätigen ohne dabei im Verlauf des Studiums Benachteiligung zu erfahren, seien Stehr zufolge Faktoren, die sich an den Kinokassen in Form von Verlusten bemerkbar machen. Es sei nicht unbedingt eine Frage des Interesses: „Viele Studierende haben schlicht keine Zeit mehr, ins Kino zu gehen.“101 Das Weiße Band ist eine maßgebliche Produktion der Firma X Filme; der X Verleih ist für die Vermittlung aller ihrer Produktionen zuständig. Der Film war folglich kein Einkauf sondern ohnehin im Programm, was auf eine frühe Beteiligung des Verleihs an der Produktion hinweist. Entsprechend viel Überlegungszeit hatte schließlich der Verleih im Hinblick auf den Auf- und Ausbau des Marketings, das man auch in der dritten Woche der Kinolaufzeit des Films noch nicht abgebrochen hat. Der Film wurde weiterhin intensiv mit Werbung gestützt – forciert in allen Medien: via Radiospots, Anzeigen, Berichterstattungen, TV-Spots, Plakatierungen aber auch durch Kooperationen mit Partnern und Firmen in Form gemeinsamer Kampagnen wie die oben geschilderte. Auffällig ist, dass im Anwerben von Filmen insbesondere die Presse immer wesentlicher wird, aus finanziellen Gründen wohlgemerkt: sie steht für die kostengünstigste Verbreitungsmöglichkeit, bietet jedoch gleichzeitig immer weniger Platz für Filmberichterstattung – ein Platz, der erkämpft werden muss. Als wichtigstes Marketinginstrument erscheint Stehr jedoch der Trailer, weil über ihn gezielt Leute erreicht werden können, die ins Kino gehen – während bei allen anderen Werbemaßnahmen nie ganz klar auszumachen ist, beim wem sie letztlich ankommen. 100 101

Ebd. Ebd.

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Seinen Erfolg in Deutschland verdanke Das Weiße Band in erster Linie der thematischen Ausrichtung des Films. Die Herausforderung für den Verleih bestand vor allem darin, das Publikum in der Anfangsphase seiner Kinolaufzeit zu mobilisieren. Der Erfolg in Cannes habe dabei zwar freilich geholfen – auch wenn Filmpreise nicht zwangsläufig mit Publikumserfolgen zu assoziieren sind –, an erster Stelle sieht Stehr jedoch Hanekes Bearbeitung einer im Film bislang nicht nennenswert bearbeiteten Zeit. Auch wenn Haneke bestreitet, eine diesbezüglich explizite Kausallogik herzustellen, so habe die Menschen dennoch interessiert, „durch welche strengen und verlogenen Strukturen Menschen zu bösen Taten fähig werden“. Ebenso habe dem Verleih geholfen, „dass der Film ja eigentlich fast ein Krimi ist (also wahnsinnig spannend ist, auf jeden Fall)“102. Roland Teichmann, Direktor des Österreichischen Filminstituts (ÖFI) seit 2004, schildert den Etablierungsverlauf des Films etwas direkter: „Beim Weißen Band ist eines relativ klar: der Film wurde – ein gefährliches Wort, ich sag’s trotzdem, auch wenn es härter klingt als es gemeint ist – eine gewisse Mogelpackung im Sinne von: da wurde versucht, einen Film zu verkaufen als Film, der erklärt, warum aus den Deutschen die Nazis wurden. Eine super Headline. Bei diesem Film, der ein gewisses Niveau erreicht hat (was meistens mit dem Geld zusammenhängt, das in die Herstellung involviert ist, weil jeder, der in einen sehr künstlerisch expliziten, handschriftlich kraftvollen, authentischoriginären Autorenfilm investiert, will irgendwie ein bisschen ein Geld zurück haben, mit Ausnahme der Förderer – uns ist es relativ egal), da stecken ja relativ viele Investitionen drinnen, in so einem Ding, es kostet viel Geld. Es ist ja nicht so, dass das mit ein paar hunderttausend Euro funktioniert, sondern eher mit ein paar Millionen, im zweistelligen Bereich sogar schon beim Michael Haneke, die der Weltvertrieb, die Koproduzenten irgendwie wieder reinspielen wollen. Das heißt, die müssen es auch verkaufen. Die wollen und müssen auch an einen Markt denken. Und da beginnt dann das Positionieren. Zum Weißen Band also: Wie kann ein Film, auch wenn er noch so komplex und lang und vielschichtig ist, diesen Prozess [‚warum aus den Deutschen die Nazis wurden‘; K.M.] erklären? – Unmöglich. Aber: Er war über diesen Slogan irgendwie ganz gut verkaufbar.“103

Bemerkenswert hinsichtlich der dem Film so eigenen Spannung ist, dass Haneke das dem Film zugrunde liegende, zunächst für einen Fernsehdreiteiler konzipierte Drehbuch auf Wunsch der Produktion zunächst einigen Modifikationen unterziehen musste. Koproduzentin Margaret Ménégoz, Leiterin der seit Wolfzeit (2003) mit Haneke kooperierenden Les Films du Losange, verweist auf die pragmatischen Hintergründe der Transformation des ursprünglich für eine Kinoverwertung zu lange geratenen Drehbuchs: „Avec Le Ruban blanc on est tombés sur un problème de longueur de scénario. Parce que Le Ruban blanc, il l’avait écrit comme une minisérie en trois parties pour la télévision, c’était une commande de la télévision autrichienne. Je l’avais lu et je trouvais ça absolument extraordinaire, mais n’ayant jamais produit de télévision de ma vie, je n’étais pas prête à commencer. Donc je lui ai dit : ‚Si tu trouves un moyen de le ramener à une longueur acceptable pour les 102 103

Ebd. Gespräch mit Roland Teichmann vom 02.05.2013 im Österreichischen Filminstitut. Interview: Katharina Müller.

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salles de cinéma …‘ – pour les salles de cinéma c’était 2h20 maximum. Pourquoi 2h20 maximum ? Parce que ça permet de montrer le film quatre fois par jour. Et si on dépasse ça, on ne le montre que trois fois par jour, donc ça baisse le nombre de spectateurs automatiquement et donc c’est un mauvais résultat pour les exploitants.“104

Haneke leistet dem Kürzungsgebot der Produzentin Folge und bestellt – im Versuch an seine Grenzen stoßend – mit Jean-Claude Carrière einen weiteren Player: Carrière, einer der namhaftesten französischen Drehbuchautoren, hat die entscheidende Idee zur Reduktion der Spieldauer; sein Kürzungsvorschlag hatte, so Ménégoz, eine beträchtliche Spannungssteigerung zur Folge: „Haneke a réussi à enlever à peu près une demi-heure. Et il m’a dit : ‚Écoute, là je ne peux plus … je ne vois rien de ce que je peux faire, sinon détruire mon propre travail. Il faudrait que quelqu’un m’aide.‘ Donc il m’a demandé d’appeler Jean-Claude Carrière qui est un scénariste français avec lequel j’ai travaillé pour Andrzej Wajda [Les Possédés (1988), Danton (1983)], pour Volker Schlöndorff [Un amour de Swann (1984)] etc. Jean-Claude a regardé ça et il a eu une idée géniale : il a proposé d’enlever toutes les scènes qui se passaient du côté des enfants. Parce que dans la minisérie on voyait les enfants qui se réunissaient, qui faisaient comme un tribunal qui jugeait l’autre enfant accusé, qui déterminait les peines et qui exécutait les peines. Et en fait c’était vraiment une idée géniale, parce que ça a raccourci le film à 2h20, parce qu’on a enlevé beaucoup de scènes et en plus ça a renforcé le récit. Parce que qu’est-ce qui s’est passé ? Qui était le coupable de ces maltraitances, de ces enfants et tout ça ? – On ne le savait pas. Donc il y avait un mystère dans le film et c’est génial quand il y a un mystère dans le film : la rumeur, das Gerücht, grondait dans tout le village, mais personne n’en savait rien. Et donc, ça c’était un grand plus pour le film. Et donc on a pu faire le film comme film de cinéma et j’étais persuadée que si un jour Michael Haneke avait la Palme d’Or, ce serait avec un film en langue allemande et exotique comme Le Ruban blanc.“105

Nicht nur dem Kino wäre der ursprünglich dreistündige Film nicht zuträglich gewesen, auch das (französische) Fernsehen hätte dem nicht-dreigeteilten Werk wohl kaum etwas abgewinnen können: „Cela peut être bien en trois heures mais ce n’est pas adapté à la salle de cinéma, ni à la télévision, qui ne va pas acheter le film parce que cela perturbe toutes leurs cases de programme de la soirée. Même à la télévision c’est un problème, parce qu’en France la diffusion commence à 20h40 : si vous avez trois heures de film, tous les programmes de deuxième partie de soirée ne sont plus possibles. Et comme c’est souvent des rendez-vous réguliers, on ne peut pas détruire une grille de programme comme ça, donc ils ne vous prennent pas le film.“106

Was schließlich die Potentiale der Relation von Kino und Autorschaft anbetrifft, so verhält sich Ménégoz ihrer Tradition gemäß – Les Films du Losange verzeichnet Produktionen der Filme entsprechend maßgeblicher Vertreter, allen voran Éric Roh104 Gespräch mit Margaret Ménégoz, geführt in Paris am 12.12.2012 (Les Films du Losange). Interview: Katharina Müller. 105 Ebd. 106 Ebd.

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mer – eindeutig: Autorenkino sei die einzige Form von Kino die sie interessiere; im Hinblick auf ihre Zusammenarbeit mit Haneke legitimiere sich dies zudem an der relativen (Ab-)Geschlossenheit dessen, was umgesetzt wird – ein Buch nämlich: „Haneke a un grand avantage sur beaucoup de ses confrères, c’est qu’il écrit lui-même ses scénarios, qu’il est incapable d’écrire un synopsis, un traitement, que quand son scénario est fini, mais vraiment fini à ses yeux et réussi, abouti à ses yeux, à ce moment-là il le donne à un producteur. Cela lui a beaucoup nui au début de sa carrière parce que les gens lui disaient : ‚Ah, votre idée est intéressante, mais enfin écrivez-nous trois pages, dix pages, quinze pages.‘ Et il a été obligé de dire : ‚Non, je ne sais pas le faire.‘ Encore aujourd’hui la chose la plus compliquée pour lui, c’est d’écrire un synopsis. Donc il a perdu beaucoup d’engagements, beaucoup de travail par ce refus d’aller par étapes. C’est un grand avantage qu’il a et ce qui fait que quand il donne un scénario à la production, il est abouti. Ça fait maintenant presque douze ans qu’on travaille ensemble et je n’ai jamais, jamais eu un scénario de lui qui n’était pas abouti, où il y avait un ventre mou, une fin pas assez forte, un début trop banal ou de telles choses qui existent dans beaucoup de scénarios que nous recevons. C’est vraiment le film écrit. Quand je me mets au financement avec les chaînes de télévision, les coproducteurs et tout ça, jamais personne ne m’a fait une remarque sur la structure ou les dialogues ou des choses comme ça.“107

107

Ebd.

5. Funny Games, Funny Games U.S.: Funny Games Ghost und materielle Meta-Stärkungen

Die Diagonale, das alljährlich in Graz stattfindende Festival des österreichischen Films, verzeichnet 2012 im Experimentalfilmprogramm eine sonderbare Uraufführung: Funny Games Ghost. Funny Games Ghost (2011) ist ein Film von Stefan Hafner und Karin Hammer, der sich zweier Filme Michael Hanekes – Funny Games (1997) und dessen „self-remake“ Funny Games U.S. (2007) – bedient, um Schlüsselszenen der beiden strukturell übereinstimmenden Produktionen übereinanderzulegen. „Haneke revisited“, so die Ankündigung zum Regieduo, das „den Vergleich zwischen Hanekes Zwillingsfilmen im Stil einer Skiwettkampf-Videoanalyse [arrangiert; K.M.]: als Überblendung von zwei exakt auf den Streckenverlauf – in diesem Fall einem äußerst präzisen Drehbuch – zugeschnittenen Bewegungsabläufen. Sie [Stefan Hafner und Karin Hammer; K.M.] versetzen einen ins Staunen darüber, wie wenig Spielraum den Spieler/innen in einem derart penibel vorgezeichneten Rahmen bleibt. Und überraschen mit dem ‚Rest‘, der aus diesem Rahmen herausbricht und in der Abweichung sein geisterhaftes, zugleich aber auch unbeschneidbar menschliches Eigenleben entfaltet.“1

Funny Games Ghost ist ästhetisch eine Verdoppelung, eine Reminiszenz, und vor allem nicht der einzige österreichische Nachwuchsfilm, in dessen Abspann ein Dankeswort an Michael Haneke gerichtet ist. An Beiträgen von Absolventen der Filmakademie, an der der Regisseur lehrt und sich „eine ganze Generation […] an Hanekes kaltem Blick auf die Welt ab[arbeitet]“2, fehlt es in Graz nicht. Es sind dies Begleiterscheinungen, ein materiell konkretisierter Meta-Diskurs quasi, der im Fall „Haneke“ weit über den kritisch-wissenschaftlichen hinausreicht: seit Jahren stützt sich der Name Haneke auch durch einen künstlerisch-handwerklichen Kommentar aus der Kreativbranche, in dessen Artikulation sich etwa auch Nina Kusturicas und Eva Testors einstündiger Dokumentarfilm 24 Wirklichkeiten in der Sekunde (2004) reiht. – Als Porträt desjenigen Künstlers, „dessen Spielfilme mit ihrem zunehmend fa1 2

In: Katalog zur Diagonale 2012 – Festival des österreichischen Films, Redaktion: Daniela Ingruber, Christine Tragler, 2012, S. 149. Rebhandl, Bert. „Der kalte Blick auf die Welt: Zum 70. Geburtstag des Regisseurs Michael Haneke“. In: Der Standard, 23.03.2012.

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talistischen Tonfall für viele stellvertretend für den österreichischen Film stehen“3. Die Regisseurinnen zeigen Haneke bei der Arbeit; zweieinhalb Jahre hatten sie den Akteur in seinem professionellen Alltag begleitet – bei der Motivsuche, auf Premieren, bei Publikumsgesprächen, am Set, im Schneideraum. Mit dem Resultat eines „Arbeitsporträt[s] als road movie“4, das sich „nicht primär auf seine [Hanekes; K.M.] sprachlich eloquente Seite, sondern vielmehr auf seine handwerkliche“ konzentriert. Gesprächsaufzeichnungen, deren es, wie die Produzentinnen finden, schon zu genüge gibt, finden dabei ganz beiläufig und transitorisch statt: im Auto, im Zug, im Flugzeug. Erhältlich ist dieses Elaborat, das seine Premiere 2005 ebenfalls auf der Diagonale hatte, im Handel als Teil einer arte-DVD-Box-Edition „Michael Haneke“ – „Kontrapunkte zur Traumfabrik Hollywood“ 5, by the way. „Haneke“ geistert und Funny Games Ghost ist nur eine der plakativeren Erscheinungen des Schreckens im Dienste der Beförderung des Infragestellens: „Meine Filme sind so angelegt, dass sie den Zuschauer irritieren sollen. Nur eine Irritation bewirkt irgendwas in mir. Das ist überhaupt die Aufgabe von jeder Art von künstlerischer Betätigung, nicht die Vorurteile und die Sicherheiten zu bestätigen, die wir haben, sondern unser Infragestellen zu befördern.“6

Mit Funny Games, seiner „zynische[n] Reaktion auf die Gewaltverliebtheit der Konsumindustrie (also auch jener Hollywoods)“7, steht Michael Haneke 1997 zum ersten Mal im Wettbewerb um die Goldene Palme bei den Filmfestspielen in Cannes; die Uraufführung bildet den ersten österreichischen Wettbewerbsbeitrag nach 35 Jahren8 an der Croisette. Der Film wird zugleich und bis auf Weiteres die letzte „rein österreichische Produktion ohne ausländische Beteiligung“ Hanekes sein, wie ihn die APA (Austria Presse Agentur) zum damaligen Zeitpunkt ankündigt – Produzent Heiduschka habe verlautbaren lassen, der „Stoff“ sei den potentiellen ausländischen Partnern „zu gewagt“ gewesen. Als Partner der „reinen“ Produktion, der „konventionell, fast theaterhaft“ geratenen Inszenierung, gelten schließlich das Österreichische Filminstitut (ÖFI), der ORF, der Wiener Filmfinanzierungsfonds und das Land Oberösterreich. Michael Haneke gilt, was seine damalige Akteurschaft anbetrifft, als der „international bekannteste österreichische Filmschaffende“9. In der Tat ver3 4 5

6 7 8 9

Filmbeschreibung der Internetplattform film.at: http://www.film.at/in_wirklichkeit_ist_ alles_ganz_anders_24_wir/ [01.04.2012] Katalog Filmmuseum, S. 44. DVD-Box [4 DVDs] „Michael Haneke: Wolfzeit/Das Schloss/Code: unbekannt/24 Wirklichkeiten in der Sekunde“ (2007). In Zusammenarbeit mit arte. Vertrieb: absolut MEDIEN. Zitat Michael Haneke in der angeführten DVD-Box. Maurer, Lukas. „24 Wirklichkeiten in der Sekunde: Michael Haneke im Film“. In: 69. Katalog des Filmarchiv Austria zur Werkschau Michael Haneke, Oktober 2010, S. 44. Alfred Weidenmanns Julia, du bist zauberhaft war 1962 als österreichischer Beitrag im Bewerb. Meldung der APA. „‚Funny Games‘ 2 – Endlich Würze im Wettbewerb: Kinostart in Österreich noch nicht fixiert“. Cannes/APA/bg/wea/cm. Undatiert. Archivquelle: Filmarchiv Austria.

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zeichnet er zu diesem Zeitpunkt für Österreich die meisten Festivalteilnahmen.10 Die Eintrittskarten für die „kleine Stilübung in Sachen Sadismus“ 11, wie Die Presse den Film im Anschluss an die Premierenprojektion in Cannes beschreiben wird, sind mit roten Aufklebern versehen: Mit dem Hinweis, der Film enthalte Szenen, die die Gefühle der Zuseher verletzen könnten. Funny Games ist der erste Film seit Quentin Tarantinos Reservoir Dogs (1992), beim dem eine solche Warnmaßnahme zum Zug kommt. Es folgt, was folgt: Die Legenden verweisen auf „ganz tiefe Betroffenheit“ bei der Pressevorführung, Journalisten hätten „psychisch schwer betroffen“ und „mit bleichen Gesichtern“ den Saal verlassen. Martin Schweighofer, damals bereits Geschäftsführer der Austrian Film Commission (AFC), spekuliert im Anschluss an die Pressevorführung, der Film werde das Publikum teilen – in Hassende und solche, die ihn für fantastisch halten würden. Die zu erwartende Betonung der Zuschauer werde jedenfalls, so Schweighofer, dahingehen, „daß es der härteste Film sei, den sie seit langem gesehen haben“.12 Im Oktober 2012 treffe ich Martin Schweighofer in seinem Büro der AFC, mit der Bitte, den Fall Funny Games noch einmal zu memorieren. Und Schweighofer setzt bei der famosen Warnmaßnahme an: „Dieser rote Kleber auf den Tickets war ein unglaubliches Marketing, ein echter Vorteil, wenn man so will. Es ist, wie wenn der Ulrich Seidl [für seinen Film Paradies: Glaube (2012); K.M.] in Venedig wegen Blasphemie geklagt wird: Jedenfalls hat es wohl mehr geholfen als es geschadet hat. Das ist durchaus so zu sehen. Und das hat mit Funny Games geklappt und war eine tolle Erfahrung auch für den Michael, selbstverständlich für mich, für den österreichischen Film. Weil das gab es davor noch nicht. Das war sehr, sehr schwierig und sehr aufregend – all das – und sozusagen auch [die Erwartung; K.M.]: ‚Wie sind die ersten Reaktionen?‘ Und die waren tatsächlich heavy, die waren so, dass ich, wenn ich mich recht erinnere, nach dieser ersten Pressevorführung – es gibt normalerweise immer eine vor der Hauptvorführung –, dass da Leute rauskamen, die ich sehr gut kannte oder kenne und die sind da rausgekommen und die haben einfach aber so an mir vorbeigeschaut, also die wollten so nicht jetzt irgendetwas sagen, d.h. die waren wirklich zutiefst schockiert oder was immer. So ... nicht verwirrt, aber ... verstört. Verstört, ja. Und das war gut und das hat sich dann natürlich schon auch fortgesetzt, dann gab’s alle diese Überlegungen oder Gerüchte, dass dieser Film einen Preis kriegt oder nicht kriegt oder wie immer.13

Einen Preis erhält er letztlich vorerst nicht, dennoch ist der Erfolg für die Beteiligten ein großer – es ist, wie Schweighofer betont, der erste österreichische Film im Hauptbewerb von Cannes und für Haneke derjenige Film, „der ihn tatsächlich auf 10 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls (1994) kommt 1997 auf 40 Festivalprojektionen (u.a. Berlin), Benny’s Video (1992) auf 34. 11 Grissemann, Stefan. „Die Folter ist das Spiel: Der heilige Zorn in Cannes“. In: Die Presse, 15.05.1997. 12 Vgl. Meldung der APA. „Cannes: Haneke-Film verstörte Journalisten: Pressevorführung von ‚Funny Games‘ bei den Filmfestspielen – Film zählt zu den vier bis fünf Anwärtern auf einen Preis“. Cannes/APA/cm/wea. Undatiert. Archivquelle: Filmarchiv Austria. 13 Gespräch mit Martin Schweighofer vom 04.10.2012 im Büro der Austrian Film Commission. Interview: Katharina Müller.

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eine Ebene gebracht hat, die er seither zumindest bestätigt oder wo es noch weiter ging: er war damit in der ersten Liga des europäischen Autorenfilms. Danach hat sich das mit jedem Film verselbständigt.“14 Schweighofer – in diesem Moment des Gesprächs keineswegs noch über den thematischen Ausgangspunkt dieser Studie informiert – ergänzt von sich aus hinsichtlich der nationalistischen Vereinnahmungstendenzen sensibilisiert: „Und wenn ich sage, in der ersten Liga: Dort ist er heute freilich immer noch und gehört noch zu dieser Hand voll im wahrsten Sinne europäischer Filmemacher, womit ich auch sagen will: natürlich ist er Österreicher und was auch immer, aber es ist auch lächerlich, dahier nationalistisch zu sein – er ist tatsächlich im guten Sinne ein europäischer Regisseur.“15

„Den Leuten […] zeigen, was Gewalt eigentlich ist“ 16, soll Haneke als seine Intention der APA gegenüber angeführt haben. Der Ästhetisierung und Konsumierbarkeit von Gewalt – wie sie das Action- und Genrekino amerikanischer Prägung vorgebe – entgegenwirken; den Zuschauer wieder hinführen zur eigentlichen Bedeutung von Gewalt. Ihn „vergewaltigen“ – so lässt sich die etablierte Motivation Michael Hanekes etwa zusammenfassen. In diesem Zeichen schickt der Regisseur eine Kleinfamilie – Georg (Ulrich Mühe), Anna (Susanne Lothar) und Schorschi (Stefan Clapczynski) – auf Urlaub an den See und lässt sie dort von zwei jungen Männern in weißen Handschuhen (Arno Frisch und Frank Giering), die sich als Freunde der Nachbarn ausgeben, systematisch zu Tode quälen. Mit spielerischem Raffinement und unter unmittelbarer Einbeziehung des Publikums: „Was denken Sie, wer soll zuerst sterben?“ – Eine „vierte Wand“ gibt es in dieser kammerspielartigen Inszenierung nicht. Zunächst trifft es den Hund. Mit dem Golfschläger. Die Mutter muss sich vor Augen der Anwesenden ausziehen. Der Vater soll sie darum bitten. Der kleine Sohn wird mit der Schrotflinte erschossen. Der Vater aufgeschlitzt, die Mutter ertränkt. Der selbstreflexiv-medienkritische Anspruch fehlt freilich nicht und dient auch gleich der Bestimmung und Unentrinnbarkeit des Familienschicksals: dass es einen der beiden Männer (die sich im Rahmen der Fernsehkritik wahlweise Tom und Jerry oder Beavis und Butt-Head nennen) selbst tödlich erwischt, weil Anna sich mit der Flinte zur Wehr setzt, bleibt nur eine Frage von ein paar so entscheidenden wie reversiblen Filmminuten. Der Griff des Folterkollegen zur Fernbedienung reicht, um den Partner wieder zum Leben zu erwecken. Einfach zurückspulen – die Kinoleinwand im Videorekorder-Rückspulmodus – und weiter geht es. „Stirb langsam made in Austria.“17 „Warum bringt ihr uns nicht gleich um?“, fragt entmutigt das Opfer und erhält sogleich auch die Antwort des eloquenten Peinigers, als Offenlegung der Mechanismen der Filmdramaturgie: „Wir wollen doch dem Publikum etwas bieten, und zeigen, was wir können, nicht wahr …“. Allein die Brachialität der Gewaltakte 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Meldung der APA. „Haneke 2 – ‚Funny Games‘ kann ‚die Gefühle der Zuschauer verletzen‘: Kein vierter Teil der Trilogie – Ökologischer Film als nächstes Projekt“. Wien/APA/ cm/wea. Undatiert. Das Gespräch führte Christian Müller/APA. Archivquelle: Filmarchiv Austria. 17 Distl, Gottfried. „Cannes ’97: ‚Stirb langsam‘ made in Austria“. In: SKIP, Juni/97, S. 68.

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ist dabei weitgehend ins diegetische Off verlagert, sie entsteht – wie es Haneke so konsequent provoziert – fast ausschließlich im Kopf des Publikums. Die Gewalt bleibt visuell stets auf ihre Auswirkungen reduziert, auf das, was sich in den schmerzversehrten Gesichtern der Opfer bis hin zur völligen Entstellung spiegelt. „Ich gebe der Gewalt zurück, was sie ist: Schmerz, eine Verletzung anderer“18, so Hanekes vielzitierte Stellungnahme zum Film. Funny Games geht in einem äußerst gewaltbestimmten Festival 1997 („Leichen, wohin die Kameras sich wenden“19, wie es das Schweizer Filmbulletin metaphorisch verdichtet) im Wettbewerb um die Palme „leer aus“. Ein Erfolg wäre auch gewissermaßen als Missverständnis zu deuten gewesen, wie es Haneke laut eigenen Angaben seinen Produzenten habe wissen lassen.20 Die „Dekonstruktion des Thriller-Genres“ bleibt aber als derjenige Film in Erinnerung, „über den auf dem Festival am meisten, am emotionalsten und kontroversesten diskutiert und gestritten wurde“ (Volk 2007: 250) und behauptet zugleich ihren sicheren Platz im Kanon der „Skandalfilme“ (Volk 2007). Der Film sei eine „lutte contre la violence par l’ultraviolence“21, wie Libération stellvertretend für weite Teile der französischen Presse begrüßend betitelt. Als „Erbe des Wiener Aktionismus“22 stößt Haneke in seinem missionarisch anmutenden Bestreben jedoch gleichermaßen auf schroffe Ablehnung. „Ignoble“, befindet eine pointierte Stellungnahme des Figaro, der sich vor allem an der kommerziellen Ambition des Films stößt: „Le plus ignoble est sans doute l’ambition de multiplier le profit commercial par cet étalage barbare.“23 Der „exercice radical et controversé sur la représentation de la violence“24 (Le Monde) habe laut Oberösterreichische Nachrichten 25 Millionen Schilling gekostet. Zweier zusätzlicher Millionen, wie Produzent Heiduschka habe verlautbaren lassen, bedurfte es, um Funny Games im Wettbewerb laufen zu lassen – der Kostenaufwand streckt sich zum damaligen Zeitpunkt vom Engagement einer internationalen sowie einer nationalen PromotionFirma, über den Druck von 4500 Presseheften in drei Sprachen, die Beschaffung des Fotomaterials, einer Kopie mit französischen Untertiteln in dreifacher Ausführung und einer zusätzlichen, englisch untertitelten sowie von 15 Videokassetten, ebenfalls englisch unterlegt und in TV-Qualität, bis hin zum Empfang im Carlton-Hotel, das

18 Michael Haneke im Interview mit Serge Toubiana (2005); Bonusmaterial der 2005 in der Concorde Home Edition erschienenen DVD Funny Games. 19 Vian, Walt R. „Cannes ’97: Leichen pflastern ihren Weg“. In: Filmbulletin, Nr. 3/97, S. 10. 20 Michael Haneke im Interview mit Serge Toubiana (2005); Bonusmaterial der 2005 in der Concorde Home Edition erschienenen DVD Funny Games. 21 Lebovici, Elisabeth; Péron, Didier. „Jeux de vilains: Michael Haneke lutte contre la violence par l’ultraviolence“. In: Libération, 14.01.1998. 22 Tran, David. „‚Funny games‘: Héritier de l’Actionnisme viennois, dont l’ultra-violence a révulsé le public de la Biennale de Lyon, le cinéaste Michael Haneke filme le massacre intégral d’une famille“. In: Le Journal du dimanche, 18.01.1998. 23 Unbekannt (Kürzel: C.B.). „En compétition: ‚Funny Games‘ de Michael Haneke. Ignoble“. In: Le Figaro, 16.05.1997. 24 Frodon, Jean-Michel. „Cauchemar d’une famille très ordinaire au bord du lac : Funny Games. Un film autrichien présente un exercice radical et controversé sur la représentation de la violence“. In: Le Monde, 16.05.1997.

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für die 250 geladenen Gäste weitere 1000 Schilling pro Person verrechnet.25 „Das Geschäft wird mit dem Dreck gemacht, den wir im Fernsehen sehen. Ein Festival hingegen ist der Streusel auf dem Kuchen“26, so Haneke laut Oberösterreichische Nachrichten. „Dabei“, wie einer der zahlreichen Kritiker nebenbei bemerkt, „geht es in FUNNY GAMES primär gar nicht um Gewalt: das eigentliche Thema ist der Angriff der Populärkultur auf die Werte des wohlhabenden Bildungsbürgertums.“27 Zehn Jahre später kommt es zur Neuauflage: Funny Games U.S. (2007), das shotby-shot-Remake mit Starbesetzung (Naomi Watts und Tim Roth versus Michael Pitt und Brady Corbet), in action zur Tötung in Komplizenschaft mit jenem Publikum, für das Funny Games laut Haneke auch immer gedacht war: das amerikanische. Das Drehbuch sowie die mise-en-scène bleiben weitgehend unverändert – genaue Beobachter konstatieren eine minimale Abschwächung der Selbstreflexivität in der Transposition von Österreich nach Long Island: Das Internationale Filmmagazin Sight&Sound (vertreten durch die „Haneke-Spezialistin“ Catherine Wheately) etwa verweist auf die Auslassung der in der Urversion noch vorhandenen Replik eines der Bösewichte zum Durchhalten der Opfer, die sich angesichts der Ausweglosigkeit ein schnelles Ende wünschen – ein solches sei nicht möglich, der Film sei schließlich „noch unter Spielfilmlänge“. „Austro-Reflexivität“ ist eben nicht Autoreflexivität. Ansonsten kann man von pedantischer Treue sprechen, legitimiert in vielerlei Hinsicht: vom exakt replizierten (in beiden Fällen sparsam nur eingesetzten) Soundtrack, der von Georg Friedrich Händels Klängen auf John Zorns Trash Punk umschlägt, bis hin zum planmäßig ebenbürtig angelegten Ferienhaus; die Nachbildungstreue lässt sich bis in die Essensanordnung im Kühlschrank verfolgen. Die merkliche Übersetzung trifft allein die nicht-menschlichen Requisiten – die Ikea-Einrichtung weicht dem amerikanischen Pottery Barn-Pendant, aus dem deutschen Schäferhund wird ein Golden Retriever, die Protagonistin trägt Timberland und das nicht funktionieren wollende Mobiltelefon hat inzwischen ein Farbdisplay, ist personengebunden und nicht mehr „festnetzig“. Zudem gibt es zwei Telefone, allein der Hausherr hat seines im Auto vergessen. Auch eine Laptop-Referenz steht für ein zwangsläufig erfolgtes technologisches Update. Die große Veränderung betrifft schließlich das Casting, dem im Hinblick auf die intendierte Kritik am zeitgenössischen Hollywoodkino das effektivste Kommentarpotential zugeschrieben wird: Allen voran steht dabei Naomi Watts, nämlich „with a new sensuality that echoes the fetishisation of the female victim so frequent in present-day Hollywood horror; a scene in which she is made to strip for her captor’s amusement is haunted by the spectre of rape in a much more immediate manner“, und – mit Fokus auf ein jüngeres Publikum – auch Michael Pitt, bekannt als einer der Stars der Jugendserie Dawson’s Creek und also solcher personifizierter subversiver Fingerzeig auf die gemeinen US-Teenie-Dramen.28 Über die Schockwirkung des Nachfolgers wird allerdings eifrig disputiert – der Diskurs konfrontiert mit der Annahme, dass „zynische Gewaltinszenierungen ohne 25 Vgl. Heinrich, Ludwig. „Die kostspielige Ehre, dabeizusein“. In: Oberösterreichische Nachrichten, 16.05.1997. 26 Ebd. 27 Willmann, Thomas. „Besprechung – Funny Games“. In: http://www.artechock.de/film/text/ kritik/f/fugame.htm [01.04.2012] 28 Wheatley, Catherine. „Unkind rewind“. In: Sight&Sound, Nr. 18/4, April 2008, S. 20-22.

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Katharsis […] längst mainstreamtauglich geworden“ seien und „Hanekes Vision von der Zerstörung der gutbürgerlichen Kernfamilie […] aus dem Rahmen“ nicht mehr falle (Volk 2007: 251). Der Erfolg beim begehrten Hollywoodpublikum fällt – quantitativ betrachtet, gemessen an den Eintrittszahlen also – bescheiden aus. Die Unterminierung des vom Regisseur denunzierten amerikanischen Kulturimperialismus bleibt angesichts der Produktionshintergründe – kritischen Stimmen zufolge – ein fragliches Unterfangen: „Haneke’s new film is in fact a US/UK/France/Germany/Italy/Austria co-production managed not by a major Hollywood studio but by the smaller independent companies Halcyon, Tartan and Celluloid Nightmares. Watts and Roth (playing golden couple Ann and George Farber) are Australian and British respectively, while Pitt and Corbet (as torturers Paul and Peter) have forged careers in independent movies by the likes of Gregg Araki, Gus Van Sant and Bernardo Bertolucci. Might the production then serve to undermine the US cultural imperialism Haneke despises by working within its terms while rejecting its models?“29

Man erinnere sich an Hanekes Worte: Film müsse sich verkaufen, schließlich könne man nicht so tun, als lebe man noch im 19. Jahrhundert – Filmkunst als Teil des Kulturbetriebs im Zeitalter medialer Massendemokratie sei immer eine Affirmation des Bestehenden. Nichtsdestoweniger führt Hanekes Bewegung hin zum Hollywoodkino schließlich insbesondere aufgrund des populären Castings und der damit zu erwartenden – letztlich aber nicht erreichten – Breitenwirksamkeit dazu, dass ihn die englischsprachige Kritik in „aufdeckerischer“ Mission mit finanziellen Absichten bedenkt. Eine „Hollywoodisierung“ bleibt jedoch, wie Wheatley in ihrem Band Michael Haneke’s Cinema: The Ethic of the Image abschließend bemerkt, gemessen an den Produktionshintergründen eine allzu vereinfachte Lesart des Unterfangens, sei schließlich die Beteiligung von US-Majors ausgeblieben und nicht zuletzt auch deswegen, weil die Rückenstärkung von Warner Brothers (deren Aufscheinen im Vorspann des Films täuschen mag) nur eine Independent-Tochtergesellschaft betrifft (Wheatley 2009: 191). Von Interesse ist hier nun nicht, ob Funny Games U.S. nun als Gegenarbeit oder als Anschluss an „den“ Mainstream zu deuten ist – von Wertungen dieser Art soll hier abgesehen werden –, sondern die Tat-Sache (im latourschen Sinne), dass sämtliche Genres – das Thriller- und Horrorterrain ganz besonders – vergleichbare Selbstreflexivitäten bedienen, das in Funny Games (U.S.) identifizierte Subversive mit anderen Worten längst im (amerikanischen) „Mainstream“ verankert ist. Die Identifizierung des Subversiven ist dabei freilich positionsabhängig. Zur Untermauerung dieser Tatsache werden unter anderem etwa der von Quentin Tarantino mitproduzierte Splatterfilm Hostel (2005) von Eli Roth sowie James Wans – inzwischen mehrteilig fortgesetztes – Regiewerk Saw (2004) argumentativ herangezogen. Hanekes Remake ließe sich damit kontextuell in die für den zwischen Funny Games und seiner Neuauflage liegenden Zeitraum zu beobachtende Herausbildung eines Subgenres einschreiben, den sogenannten Torture Porn (Folter-Porno) (Wheatley 2009: 193; Geil 2009).

29 Ebd., S. 22.

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Entsprechende Formen der Ästhetik des Exzesses haben damit ihre wissenschaftliche Einordnung erfahren, nichtsdestotrotz meint die amerikanische (so wie im Übrigen auch die britische) Filmkritik – wie es eine zusammenfassende Bestandsaufnahme erlaubt – in direkter Reaktion auf den externen (weil europäischen) Beitrag eine herablassende Haltung des Regisseurs Haneke gegenüber seinem Publikum zu erkennen (Speck 2010: 86). Brian Price, der in seinem Aufsatz „Pain and the Limits of Representation“ (Price 2010) von der amerikanischen Rezeption vor Ort berichtet, verdeutlicht diesen – laut Stimmen der filmwissenschaftlichen Debatte am mangelnden Identifikationspotential des nicht-europäischen Zusehers liegenden (Speck 2010: 87) – Befund exemplarisch: Am 14. März 2008 läuft Funny Games U.S. in den Kinos der Vereinigten Staaten an – mit dem sowohl markttechnisch als auch im Hinblick auf das Entfaltungspotential der subversiven Ansprüche des Films bedenklichen Resultat einer eher ärmlich ausfallenden Box-Office-Performanz. Die in derselben Woche ausgestrahlte Ausgabe des televisuellen Filmkritikformats At the Movies with Ebert and Roeper räumt dem Film in einer bitterlichen Bemerkung einen prätentiösen Charakter ein. Price dazu: „[…] a morally outraged and visibly shaken Richard Roeper asked with great incredulity: ‚Are we supposed to consider this some kind of performance art, some kind of comment on violence in the movies!?‘ Before one could assume that the question – however bitterly posed – was rhetorical, he sternly concluded: ‚It is ugly and pretentious.‘“ (Price/Price; Rhodes 2010: 42-43)

Filmische Artikulationen eines kritischen Verständnisses von Repräsentation in Verbindung mit Schmerz habe man in Amerika selber, wie der Moderator mit Verweisen auf fröhlichere Film- und TV-Exponate zu verstehen gibt. Mit anderen Worten: Kritik am Fernsehen trifft auf Fernsehkritik und wird als Anmaßung des Regisseurs ausgelegt und entschärft. Und das ist noch lange nicht die Wucht in voller Ausprägung: Hanekes Remake greife schließlich gleichsam zwei der demonstrativsten Charakterzüge der amerikanischen Kultur an – (Massen-)Warenfetischismus und moralische Gewissheit: „The film offends two of the most conspicuous features of American culture: commodity fetishism and moral certainty. The remake – while not shot for shot, as was much rumored – is simply not different enough. As we know, one of the primary reasons for the American remake of a ‚foreign‘ film has to do with its economic promise. The rights to an obscure Japanese horror film can be cheaply purchased and remade, as if by mold, and refashioned in an American context. The story might remain the same, but the images are clearly different and thus marketable as new. The images are also whitened, morally recalibrated. The perceived failure of Funny Games on these grounds alone should indicate that moral feeling and capital now move in step.“ (Price/Price; Rhodes 2010: 43)

Der Sachverhalt trifft jene Ambivalenz im Kern, zu deren Diskussion Adornos naheliegende Kulturindustriethese nach wie vor emsig bemüht wird. „Haneke“ entfacht zudem wieder die Debatte um einen argumentativ immer delikater werdenden Europa-Amerika-Binarismus, steht die Zurückweisung des Films von Seiten des amerikanischen Publikums schließlich paradebeispielhaft für dessen konsequentes Fortbestehen. Hanekes umstrittene Relationalität zu diesem Binarismus befördert

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seinen zunächst „rein“ europäisch angelegten, aufgrund eminenten Geldmangels im Verlauf der Produktion jedoch nur mit vermeintlichen Zugeständnissen realisierten gegenhegemonischen Versuch in die unentrinnbaren Fänge dieser Kulturindustrie, die – Adorno wie auch Haneke zufolge – ein Außerhalb ohnehin nicht kennt: „If Funny Games must be regarded as a failed experiment on one level, the remake remains of interest for our discussion of Haneke’s relation to the binary between European and American cinema. While the film’s rejection by American audiences seems to be the clearest proof of this binary, the film’s production history ironically refracts such binary thinking. To begin with, the remake of Funny Games was born at the fortress of European art cinema – Cannes – where Haneke was approached by a British (not American) producer with a request to remake the film. American financing came into the picture only after the European monies had run out. Funny Games received completion funds and a distribution deal from Warner Independent, an art house subsidiary of Warner Brothers, established to diversify the studio’s production line into art house fare and extend its profit reach to American independent, European, and global concepts and talent. If Haneke ever intended Funny Games to become part of a counterhegemonic cinema (Lars von Trier’s films would be a different but related instance), the film’s low-risk American boutique treatment showed that the culture industry has sufficiently diversified to assimilate these types of subversive games. By financing its own subversives, Hollywood, in the case of Funny Games, proved perfectly capable of assimilating a European image of American culture and throw it right back at Europe. That the film was released in France and some other European countries under the title Funny Games U.S. stands in ironic relation to the tale, cherished in the circles of European cinema culture, of the European artist who comes to understand his Europeanness only when going into creative exile to America. One of the challenges of remaking Funny Games, according to its director, was to recreate an already existing work from scratch – a work, we might add, that not only constitutes a European product but a European fantasy of an American setting.“ (Grundmann 2010: 29-30)

So wenig Haneke sein ersehntes Publikum zahlenmäßig erreicht, so wenig gelingt es auch den Täterprotagonisten, mit dem Zuseher in Verbindung zu treten. – So die These Leland Monks, dem mit „Hollywood Endgames“ eine so semantisch versierte wie unterhaltsame Analyse und Auslegung des Films im Hinblick auf seine USRezeption gelungen ist: der konsequent ironische Hinweis darauf, dass Bedeutungsfelder nach kulturellen Standpunkten mitunter beträchtlich variieren können, führt in eleganter Manier vor, was in den Literaturwissenschaften unter dem Terminus des „kulturellen Übersetzens“ geläufig ist und dessen Konkretion hier in der Betrachtung des Films bei den Gegenständen und Objekten beginnt: Der dem Hund zum Verhängnis werdende Golfschläger, das Jagdgewehr, mit dem das Kind niedergestreckt wird, das Yachtklub-Segelboot, von dem aus die Mutter ertränkt wird – all diese Dinge sind mehr oder weniger dieselben in beiden Versionen des Films, machen aber in ihrem Funktionalitätsprinzip als Statussymbole einen Unterschied: „Although the markers of cultural refinement (familiarity with obscure opera passages and performers) and class privilege (the gated estate of a posh second home, expensive golf and boating equipage) are the same in both versions, these distinctions don’t ‚place‘ the couple as a very specific type of the upper-level bourgeoisie so readily in America and for Americans as they do in European class consciousness (which is to say, Europeans tend to be conscious of class). In

160 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE the US, golf and sailing are associated more with the professional and managerial classes than the upper class; and shotguns are used primarily to blow someone away.“ (Monk 2010: 421422)

Gesetzt, dass Zeigbarkeit eine Frage der Form ist und stets der Weg das Ziel bestimmt, so lässt sich im Fall des Umgangs mit dem Film Funny Games und seiner nachgebildeten Fortsetzung beobachten, dass die jeweils unterschiedlichen Kommentare auf ein sehr ähnliches Resultat zusteuern: Ob nun Varianzen des Demokratieanspruchs und Ideologien einer klassenlosen Gesellschaft aus den Requisiten gelöst oder die beiden Filme in erwählte Höhepunkte komprimiert und übereinandergelegt werden – die intellektuelle Vergleichstätigkeit à la Monk wie auch die montierte Analogie à la Funny Games Ghost (2011) zeigen eines in jedem Fall, nämlich dass die Dinge einen Unterschied machen können und dies auch tun. Dies betrifft – in der Causa Funny Games aufgrund des sich anbietenden Vergleichs sowie der beträchtlichen Zeitspanne zwischen den beiden Premieren plakativer denn je – besonders empfindlich die (vermeintlich unsichtbaren) Technologien, mit denen gearbeitet wurde. Einen ihrer Höhepunkte erreicht die von kritischen Stimmen so bemerkenswert schadenfroh identifizierte – und offensichtlich nachhaltig effektive – Ambivalenz30 in jenem Moment, als sich die schwer gemarterte Ann schließlich – und in einer letztlich doch dubiosen Sinnlichkeit – des Gewehrs bedient, um dem Kontrahenten den umstrittenen, weil nur befristet tödlichen Schuss in die Brust zu jagen: Die formale Annäherung an das, wovon der Regisseur sich unablässig zu distanzieren versucht ist digital und special-effect-trächtig „getuned“, mit CGI (Computer Generated Imagery) – dem Futter für „American moviegoer’s sensational appetites“ (Monk 2010: 425). So sehr Haneke sein Publikum mit der vielkommentierten Rückspulszene um die streitbare Aug-um-Aug-Gerechtigkeit bzw. den via Computeranimation erreichten „homicidal delight“ (Monk 2010: 425) letztendlich auch betrogen haben mag, die Aufbereitung des Tötungsakts festigt sich in manch kritischem Auge als Zugeständnis. Das „Den-Feind-mit-seinen-Waffen-schlagen-Prinzip“ wäre eine andere, dem unergründlichen Intentionenpotential des Regisseurs zurechenbare Variante, derer es bekanntlich unzählige gibt. Empirisch nachvollziehbare Tat-Sache jedoch ist, dass es Haneke gelungen ist, sich der genannten Hollywoodstars und damit der öffentlich repräsentativsten Artikulation der Hollywoodmaschinerie zu bedienen, um sie letztlich in Reihenfolge steigender Prominenz zu verabschieden. – Eine Geste, die den diegetischen Raum des Films zudem übersteigt, zumal sie auch am Produktionsnetz nagt: „When the funny gamester kisses Naomi Watts’s cheek and throws her in the drink (‚Ciao, bella!‘), the film says an irrevocable good-bye to the Hollywood movie star. It’s a triumph of auteurism over the means of production as they have operated hitherto in Hollywood: Haneke doesn’t just kill off the movie star; Naomi Watts was also the film’s executive producer. […] It is quite a remarkable thing that the film actually got made, as is. It may not be sporting of him, but Haneke (like Peter and Paul with the golf club, shotgun, and sailboat) expertly wields the expensive equipment of the Hollywood players, those producers of the Hollywood state-of30 „Writing about Michael Haneke has been a learning curve, mostly about how to deal with the ambivalence his films invariably provoke.“ (Elsaesser 2010: 53)

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mind, against them. In its rigorous challenge to the ideological machinery of the Hollywood ending, Haneke’s film suggests another sense of that phrase: Hollywood, ending.“ (Monk 2010: 432-433)

50. D IE M ITTE ALS K LUFT : „T HERE IS HOPE THAT A USTRIA QUALITY OF ITS FILMS …“

CAN SURVIVE THE

Als „obligatorischer Passagepunkt“ ist die Diagonale 2012 so sehr Plattform und Spielplatz für Hanekes Folter- und Opfergeister wie sie auch Treffpunkt im Dienste der Entwicklung von politischen und ökonomischen Strategien der Filmbranche ist. – Einer sich als dezidiert europäisch begreifenden Filmbranche in ideologischer Abspaltung von einem Hollywoodkino, dessen Ende zu ihrem Leidwesen nur allzu selbstbestimmt auf sich warten lässt. Unter dem Leitsatz „Discussing Diversity in Independent Cinema“ widmet sich das Branchentreffen 2012 am 21. und 22. März den gemeinhin als Arthouse geläufigen „mittelgroßen Produktionen“ und in diesem Anliegen einer aktuellen Entwicklung insbesondere: dem zunehmenden Abflauen dieser Produktionen. Schließlich entstehen europaweit immer weniger Filme im mittleren Budgetbereich, Output-bestimmend hingegen sind kleinbudgetierte Produktionen oder „große“ Filme, die oftmals nur als Koproduktionen mit anderen Ländern realisierbar sind. So der Zeitgeist. „Can Austria survive the quality of its films?“, lautet der Eröffnungsimpuls von François Yon, Mitbegründer des Weltvertriebs Film Distribution – einem nicht unerheblichen Element in der rezenten Verwertungskette österreichischer (Ko-)Produktionen31 – und Co-Autor der bemerkenswerten Studie „Le milieu n’est plus un pont mais une faille“32 („Die Mitte ist keine Brücke mehr, sondern eine Kluft“). Als Mitglied des seit März 2007 bestehenden Club des 13, einer unabhängigen Arbeitsgruppe33, die sich zum Zwecke der Förderung eines „anspruchvollen Kinos“ über den Zeitraum von neun Monaten verteilt 18 Mal im Centre National de la Cinématographie (CNC) versammelt hat, ist Yon eingeladen, um Österreich ein französisches Beispiel der Umgangsform mit dem besagten Produktions-Problem zu geben. Yon ist persönlich verhindert, er kommuniziert mit Graz per i-phone via Skype. Im Gespräch mit Filmpublizistin Karin Schiefer (AFC) soll die Transponierbarkeit des französischen Modells in andere Länder diskutiert werden. Die mangelhafte Netzverbindung – die Veranstalter spekulieren mit einer langsamen

31 Film Distribution verzeichnet Entdeckungen wie u.a. Karl Marcovics internationalen Erfolgsfilm Atmen (2011), Tizza Covis und Rainer Frimmels La pivellina (2009), Barbara Alberts Fallen (2006), Benjamin Heisenbergs Der Räuber (2010) oder Günter Schwaigers Ibiza Occident (2011). 32 Le Rapport Ferran – Le milieu n’est plus un pont mais une faille. In: http://www.cahiersducinema.com/Le-Rapport-Ferran-Extraits.html [02.04.2012] 33 Mitglieder: Cécile Vargaftig (Drehbuch), Jacques Audiard, Pascale Ferran, Claude Miller (Regie), Denis Freyd, Arnaud Louvet, Patrick Sobelman, Edouard Weil (Produktion), Fabienne Vonier (Distribution), Stéphane Goudet, Claude-Eric Poiroux, Jean-Jacques Ruttner (Verleih), François Yon (Export).

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Datenübertragungsrate aufgrund des regen Internetzugriffes der Gäste des Hotel Weitzer, in dessen Salon man sich zum Impuls-Talk eingefunden hat – erschwert zwar den interaktiven Austausch, tut der zentralen Message des Gesprächsgasts jedoch keinen Abbruch: „Artistic ambition and commercial success can go together“, so einer der vordergründigen Leitsätze der Veranstaltung, der dem vielzitierten Arthouse-Konzept durchaus entgegenkommt. Haneke, der kurz darauf, am 23. März, seinen 70. Geburtstag hat, ist den Veranstaltern Exempel par excellence und Orientierungsfigur für diese These. „Ich erwarte mir das gleiche, was ich mir von den anderen Aufenthalten in Cannes auch erhofft habe, daß der Film gut verkauft wird und eine große Öffentlichkeit hat. Das ist ja der Sinn der Veranstaltung“, soll Haneke 1997 anlässlich der Premiere von Funny Games bei den Festspielen erklärt haben.34 Er habe „den Film als Kunstform gerettet“, wie es ein Blogger zu Bert Rebhandls Festschrift im online-Standard35 ergänzend festhält. Und letztlich sei es „kein pures Glück“, dass der österreichische Film einen hohen Qualitätslevel beanspruche, so Yon, der auf die internationalen Entwicklungen der letzten zehn Jahre anspielt. Zurückzuführen sei die qualitative Hochwertigkeit insbesondere auf drei Erfolgsnenner. Erstens: die Themen und kulturellen Elemente, derer sich Autoren hierzulande bedienen können. Zweitens: gute Institutionen wie etwa die AFC und drittens – der personifizierte Nenner –: Michael Haneke in seiner Inspirationskraft für Filmemacher, dessen Name emblematisch für eine ganze Schule („une école“ – François Yon im Wortlaut) steht. „All this put together“, so die Konklusion des Eröffnungsimpulses, „there is hope that Austria will survive the quality of its films“. Yon argumentiert freilich stellvertretend für eine Filmnation, die bekanntlich eine weitaus stärkere Perspektive auf den Regisseur als auteur vertritt und dies auch gebührlich pflegt. Der Autorenkult konkretisiert sich wenn auch geschwächt, so dennoch stark im internationalen Vergleich: Frankreich produziert etwa 40 Autoren pro Jahr, beugt sich darin jedoch – so die Kritik des vom Club des 13 vorgelegten Rapport Ferran – zwangsläufig den aktuellen Geschäftsbedingungen: „On assiste, depuis quelque temps, à un glissement d’une logique de film à une logique d’entreprise. Il y a une survalorisation du programme et des entreprises et une dévaluation du film comme objet singulier ou comme prototype. On est passé d’une logique où la société prime, jusqu’à parfois induire la nécessité de produire pour la faire vivre.“36

34 Vgl. Meldung der APA. „Haneke will den Zuschauern ihre Rolle als Voyeur bewußt machen: ‚Funny Games‘ kämpft in Cannes um die ‚Goldene Palme‘ – Nach wie vor Geheimhaltung über Inhalt“. Wien/APA/cm. Undatiert. Archivquelle: Filmarchiv Austria. 35 Rebhandl, Bert. „Der kalte Blick auf die Welt: Zum 70. Geburtstag des Regisseurs Michael Haneke“. In: Der Standard online, 22.03.2012. http://derstandard.at/1332323559741/FilmDer-kalte-Blick-auf-die-Welt [01.04.2012] Vermerk des Bloggers „Longyearbyen“ vom 24.03.2012: „Michael Haneke ist eines der österreichischen Genies, die maßgeblich dazu beitragen, dass das Leben in diesem Land erträglicher wird. Für mich hat Haneke den Film als Kunstform gerettet. Niemand hat jemals bessere Filme gemacht. Danke“. 36 Le Rapport Ferran – Le milieu n’est plus un pont mais une faille. In: http://www.cahiersducinema.com/Le-Rapport-Ferran-Extraits.html [02.04.2012]

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Wie sehr produktionsabhängig die Potentiale eines „nationalen“ Kinos in Zeiten globalen Filmmarketings sein können, zeigt sich folglich nicht nur am Beispiel Österreich – wo die Autorenrechte übrigens beim Produzenten lägen37. Ob ein Film produziert wird oder nicht, ob er, anders gewendet, national repräsentativ wird, hängt in vielen Fällen maßgeblich vom Erfolg des Vorgängerfilms ab. So es denn bereits einen gegeben hat. Demzufolge haben es Neueinsteiger in Österreich besonders schwer; Deutschland sei mit Verweis auf die Förderung von filmakademischen Abschlussfilmen auf diesem Gebiet Vorbild. Der Konsens scheitert oftmals jedoch nicht nur an der Definition dessen, was man letztlich als Erfolg verstehen möchte, sondern auch an der Brüchigkeit der Vorhersagbarkeit dieses Erfolgs. Herausforderung Nummer eins ist, unabhängig von diversen Erfolgskonzeptionen – und dies spiegelt sich sehr komprimiert in der in Graz versammelten Gesprächsrunde – der Markt. Und dieser ist übersättigt: Zu viele Filmanwärter, zu wenig Geld. Soweit die (sehr österreichische) Problemformel. Im Sinne der Mobilisierung von Publikum (und unter der Prämisse freilich, dass Film als Kunst nur durch Vision Sinnhaftigkeit erlangt) verlangt der Entwurf einer globalen (und vor allem „nationalen“) Filmlandschaft als Netzwerk nach Berücksichtigung des Marktes als jenem unausweichlichen Akteur, der zugleich auch legitimationsgebend für die (gerade dem Autorenmythos eher zuwiderlaufende) Verbindung von künstlerischer Ambition mit kommerzieller Rentabilität ist. Cinéphilie (hier gedacht als kultivierte Huldigung dem auteur) steht demgegenüber unmelancholisch betrachtet „nur“ noch als ein (weitestgehend ideologisches, allenfalls kritikabhängiges) Konzept, „a disappearing thing“ (Yon), da, von dem – dem medialen Tenor zufolge – zu erwarten sei, dass es bald keinen Unterschied mehr macht: Eine Korrespondentin der britischen Tageszeitung The Guardian beschreibt diese Tendenz mit Frankreich am wohl delikatesten Beispiel: „France has fallen dramatically out of love with the auteur and the whole idea of art house film which it invented. The nation that created the New Wave and elevated film-makers such as Godard and Truffaut to god-like status, can no longer bear to sit through anything that smacks of seriousness or pretension. So great has the public’s aversion to art house cinema become that one distributor has warned that the very French species of the cinéphile – the discerning moviebuff who ignores marketing hype and seeks out intellectual masterpieces – is becoming extinct. France’s 2006 box-office takings show that after years of decline as the public waited in vain for a new Jean Renoir or Louis Malle to appear, art house audiences are now in freefall. Le Monde has warned of a ‚catastrophe‘, independent producers and distributors are haemorrhaging funds and even highbrow cinema magazines are struggling. The public has seemingly lost trust in the nation’s critics who are seen as cossetted in a celluloid ivory tower, too pally with film-makers and too quick to recommend the same old bleak, over-intellectualised musings

37 Hierin teilen sich die „Meinungen“: Mit Kopfschütteln reagiert Veit Heiduschka, der betont, dass Autoren-/Verfilmungs-/Urheberrechte weder käuflich noch verkäuflich seien, schließlich lägen die Autorenrechte stets beim Autor. (Information Veit Heiduschka, 30.07.2013)

164 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE while snubbing popular hits such as Amélie. Even French cinema’s biggest names are facing meltdown.“38

Abstrahiert von ihren ästhetischen Konsequenzen gedacht, betrifft die grundlegende Veränderung im Bereich der aktuellen Filmproduktion vor allem die Bewegung weg von der (dem Film oft nachträglichen) Autorenzentriertheit hin zu einem marketing in advance mittels „artistic package“ – einem nach der hier geltenden Verbindungsregel von Menschlichkeit- und Nichtmenschlichkeit zu denkenden Kollektiv: „casting, topic, treatment of the subject and eventually the director …“ seien die Parameter, mit denen ein Filmprojekt nunmehr auf seine Realsierung zusteuere. Ein multi-parametrisch angelegtes Anpreisen im Vorhinein der im Entstehungsprozess sich befindlichen Produktion, so scheint es, ist im „Zeitalter der medialen Massendemokratie“ die effektivere Maßnahme im Dienste des Publikumgewinns. Effektiver jedenfalls als der nachträgliche Hype einer Autoren-Autorität. Dieser Tendenz gelte es, so der Appell Yons, mit einem entsprechenden Qualitätsanspruch Folge zu leisten – der „enorme Unterschied zum Studio-System“ bestünde schließlich immer noch darin, dass die Filme in der lokalen Sprache gedreht werden. Ich möchte noch einmal auf die hier vorausgesetzte, im Sinne der QuasiObjektivierung neutralisierte Definition von Erfolg verweisen, in der bereits angeführten Annahme: Erfolg ist, wenn etwas folgenreich ist. Nicht so verhält es sich – und darin sind sich die Vertreter und Teilnehmenden der Branchenversammlung weitgehend einig – im Falle Arthouse: „Arthouse ist nur erfolgreich, wenn es europäisch wird“, wie Produzent Herbert Schwering (CEO Coin Film) aus deutscher Perspektive festhält: „Einen Haneke haben wir nicht“, fährt er ergänzend und sinngemäß fort, „den kaufen wir uns ein“. Kernanliegen aller Beteiligten ist – mehr oder weniger verkürzt gefasst – schließlich die Finanzierung, innerhalb der sich bislang zwei erprobte, in ihrer politischen Wirkungskraft jedoch hochgradig disparate Stränge ausmachen lassen: Marketing und Förderung sind der unterschiedlich gewichteten interessensgeleiteten Logik gemäß jene beiden entschieden dualistisch präsentierten Modelle, die in einer Industrie zusammenlaufen, von der zu fragen bleibt, ob sie eine solche überhaupt noch ist. Die Rede ist – mit Haneke gedacht – von der Maschinerie mit Entscheid über das Entstehen eines „Industrieprodukt[s] Film, das ästhetisch immer noch so tut, als lebten wir im 19. Jahrhundert“ (Haneke/Wessely; Grabner; Larcher 2008: 14). Tatsache ist, dass sich durch den steigenden Finanzbedarf unter gleichzeitigem Sinken bzw. gleichzeitiger Stagnation der Förderung der Druck auf Produzenten und Filmemacher in den letzten Jahren massiv erhöht hat. Die Finanzierung bildet in ihrer Problemstellung und Problematisierung den Kern jener Allianz, die das Branchentreffen ist und damit auch die Grundlage für den als „obligatorischen Passagepunkt“ zu definierenden Knotenpunkt, von dem zu erkennen ist, dass diese Allianz in ihrer Problematisierung jedem der Beteiligten nützen kann.39

38 Chrisafis, Angélique. „It’s oui to rom-com and non to art house as cinéphiles die out: Fabled celluloid genre of Truffaut and Renoir could be facing the final edit“. In: The Guardian, 29.01.2007. 39 Zur Definition eines „obligatorischen Passagepunktes“ (OPP) vgl. Callon 1986.

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„Die ersten Hanekes sind nicht durch Marketing promoted worden. Und hätte es sie nicht gegeben, gäbe es kein Weißes Band.“ Mit diesen Worten kontert ein – angesichts einer dem Marketing-Impetus sich bereitwillig beugenden Mehrheit unter den Teilnehmern – relativ entrüsteter Michael Kitzberger, Produzent der Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion. Selbst an preisgekrönten Filmen könne man als Produzent nicht verdienen (man beachte, dass etwa Festivaleinnahmen beim Weltvertrieb bleiben und damit beträchtlich die Verdienstmöglichkeiten für Filme mindern, die aufgrund dieser Tatsache u.a. nicht rekapitalisierbar sind), man könne nicht so einfach dem Druck eines steigenden Marktanteils nachgeben, es müsse eine Förderung geben – und das sei in erster Linie eine politische Frage. – Eine politische Frage, die, wie zu ergänzen bleibt, gravierende Bedeutung und Folgen für die (film-)künstlerische Vielfalt und damit für den „filmischen“ Nachwuchs hat, für den es aufgrund der sich verändernden Medienwelt gewisser Alternativwege und -modelle bedarf. Die derzeit eingeschlagenen, gängigen Alternativwege der Finanzierung zwecks Realisierung und Fertigstellung von Filmprojekten sind vor allem Umwege und reichen als solche – laut Berichten erlebter Rede – von Bewerbungen der Filmschaffenden bei der Millionenshow, über das Zusammenlegen von Geld unter Freunden zum Casinobesuch bis hin zu – durch Prioritätenverschiebung erzielten – Investitionen von Eigenkapital: man spart nicht, um sich ein Haus zu kaufen, sondern um seinen Film durchzukriegen. Hinzu kommt eine mehr oder weniger erfolgreiche Fanbeschaffung durch Facebook, die in der Form des Crowdfundings inzwischen eine spezifischere, dem Gegenstand angemessenere Konkretion erfahren hat: Crowdfunding beschreibt ein kollektives Finanzierungsmodell, das neuerdings zur Realisierung einzelner Produktionsschritte von Filmproduktionen dienstbar gemacht wird, eine (Ver-)Sammlungsaktion quasi, die durch die Strategie einer frühzeitigen Einbindung von UnterstützerInnen bereits bemerkenswerte Erfolge erzielt habe und der ein nicht zu unterschätzendes Potential für die Projektfinanzierung in digitalen Gesellschaften einzuräumen sei: „Mit Crowdfunding wird ein Finanzierungsmodell beschrieben, bei dem viele Menschen gemeinsam Projektideen finanzieren. Filmemacher/innen stellen ihre Projektideen dafür multimedial auf einer Crowdfunding-Plattform vor, legen das nötige Budget und den Finanzierungszeitraum fest. Die Unterstützer/innen bekommen im Gegenzug ein individuelles Dankeschön – von der Nennung im Filmabspann über Premierenkarten bis hin zu einem Setbesuch oder eine handsignierten [sic!] DVD von dem Regisseur/der Regisseurin. […] Filmemacher/innen experimentieren mit diesem Finanzierungsmodell schon jetzt mit großem Interesse, da es auf effektive Weise Finanzierung, Marketing und Vertrieb miteinander verknüpft. Die veränderten Arbeitsbedingungen von Filmemacher/innen, die Nutzung von neuen Medien und die Verbreitung von digitalen Geschäftsprozessen finden im Netzwerkgedanken von Crowdfunding den logischen nächsten Schritt.“40

40 Theil, Anna. „Focus Crowdfunding: Community-basierte Filmfinanzierung“. In: „Discussing Diversity in Independent Cinema: Strategies for Financing & Sales of Mid-size Fiction & Documentary Films“ – Katalog zum Branchentreffen der Diagonale 2012. Herausgegeben von Diagonale – Forum österreichischer Film, Redaktion: Wilbirg BraininDonnenberg, Christine Tragler.

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Diese in der Praxis sich abzeichnende Ausweitung des Aktionsfeldes zeigt exemplarisch, dass die einzelnen Entstehungsprozesse von Kino (wie etwa hier die Filmproduktion) nicht mehr ausschließlich strukturell – über den in den Kulturwissenschaften herkömmlich eingeschlagenen Weg institutioneller oder ökonomischer Machtgefüge – zu begreifen sind, sondern in (Inter-)Aktionsgefügen, in action also, so wie es Latour den Wissenschaften von Beginn an als Aufgabe anträgt. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass sich die ANT gerade im aufstrebenden Feld der Production Studies als erkenntnistheoretisch wertvolles Instrumentarium behaupten konnte (Mayer; Banks; Caldwell 2009). Der Nutzen der ANT, die dezidiert als Alternative zu kritischen Ansätzen der Filmindustrie zum Einsatz kommt, wird dabei zunächst in ihrer Funktion als „research language for the film industry“ (Mould 2009: 203) virulent: „Essentially, employing ANT frees the researcher/author from the conceptual straightjacket imposed by top-down, grand, determining metanarratives (such as capitalism, economy, culture, globalization and so on), and helps detail the processes which construct and maintain the dynamic behaviors of the production networks in question.“ (Mould 2009: 203)

Gerade die im Zuge der Finanzierung eingeschlagenen Alternativwege – so sehr sie bislang noch Modelle einer ergänzenden Finanzierung repräsentieren mögen – verweisen in ihrer Kräfteverteilung auf Relationen, deren Stärke im Rahmen der prozessualen Selbsterneuerung des Filmmarkts nicht zu unterschätzen ist: Als Interessement, Enrolement und Mobilisierung hat Michel Callon die drei auf die Problematisierung folgenden Schritte im Rahmen seiner Soziologie der Übersetzung bezeichnet und damit einen Prototyp für Netzwerkbildung ersonnen (Callon 1986), wie er sich an strategischen Beispielen wie jenem des Crowdfunding im Hinblick auf Vermittlungen (und stets ohne Erfolgsgarantie!) Schritt für Schritt nachvollziehen lässt: „Warum spricht man von Interessement? Die Etymologie dieses Wortes rechtfertigt seine Wahl. Interessiert sein bedeutet, dazwischen zu sein (inter-esse), d.h. zwischengeschaltet zu sein.“ (Callon 1986: 152) Die Rekrutierung bzw. Zwischenschaltung von produktionsbeteiligten Akteuren – seien es Internetuser im Crowdfundingprozess oder Showmaster von Millionenshows – führt zwar nicht notwendigerweise zu den jeweils erwünschten Allianzen, so sie es aber in erfolgreichen Fällen tut, setzt der Schritt des Enrolement, d.h. der Definition und Koordination von Rollen ein (wie im Fall etwa der spendenden Unterstützer eines crowd-gefundeten Films, die sich damit gleichsam eine Rolle als Akteur im Abspann des Films erkaufen) und führt letztlich zu einer Mobilisierung, die (in aufgestellten Geldern wie letztlich auch im Resultat des Films) materiell nachvollziehbar geworden ist. Die Repräsentation dieses Netzwerks, wie es sich im Crowdfunding exemplarisch für ein „Quasi-Objekt Kino“ verdichtet, beschränkt sich allerdings auf einige wenige Akteure, die mit dieser Funktion bedacht sind (Repräsentanten eben). Die Gruppen und Populationen, in deren Namen sich die Sprecher äußern, hingegen, bleiben – wie Callon in seiner Analyse zeigt – „schwer zu fassen“ (Callon 1986: 164): „Der Garant (oder der Referent) existiert, sobald die lange Kette der Repräsentanten steht. Sie ist das Ergebnis und nicht die Ausgangsposition. Ihre Konsistenz wird strikt an der Solidität der eingesetzten Äquivalenzen und der Treue einiger weniger verstreuter Vermittler gemessen, die

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ihre Repräsentativität und ihre Identität aushandeln. […] Die soziale und natürliche ‚Realität‘ ist das Resultat der allgemeinen Verhandlung über die Repräsentativität der Sprecher. Ist der Konsens erreicht, werden die Handlungsspielräume jeder Entität fest abgesteckt.“ (Callon 1986: 164)

Der Konsens im Fall des Diagonale-Branchentreffens 2012 lautet: Es gibt alternative Modelle der Filmfinanzierung. Die Repräsentation des als Netzwerk dargestellten „Quasi-Objekts“ vermag die Handlungen und aktiven Prozesse keineswegs (eben allenfalls nur repräsentativ) zu ersetzen, das Stichwort „Finanzierung“ ist eines der besten Beispiele für diesen Sachverhalt: Seine pragmatische Reduktion auf die Existenz zweier etablierter Systeme (Förderung vs. Marketing bzw. öffentlich vs. privat) und ihrer Repräsentanten, die strukturell und institutionell noch erfassbar wären, verdeckt – eminent blackboxing-trächtig – die Existenz von genutzten Handlungsspielräumen, in denen Akteure von Strategien beider Systeme profitieren: Crowdfunding steht als Resultat für einen solchen Spielraum und damit auch für das Resultat einer „anfängliche[n] Problematisierung“, die ihrerseits „eine Reihe von verhandlungsfähigen Hypothesen bezüglich Identität, Beziehungen und Zielen verschiedener Akteure [definierte; K.M.]“ (Callon 1986: 164). Die Dauerhaftigkeit bzw. das Durchsetzungsvermögen einer nicht-institutionellen Entität der Sorte Crowdfunding hängt schließlich bis auf Weiteres vom Grad ihrer Stabilisierung ab. Tat-Sache ist, dass „am Schluss der vier beschriebenen Momente […], ein zwingendes Netzwerk von Beziehungen geknüpft worden [ist]“. Dass „dieser Konsens und die dadurch implizierten Allianzen […] jedoch jederzeit angefochten werden [können]“, und die „Übersetzung […] zum Verrat“ wird, der seinerseits zu Kontroversen führen kann, ist selbstverständlich nicht auszuschließen und als Erkenntnis keineswegs neu: Das ANTsche Verständnis von Übersetzung als ein Vorgang der Vermittlung, der – wie beschrieben – immer mit dem Prozess der Veränderung (Trans- bzw. Deformation) einhergeht, ist in der Tat ein Produkt der Erkenntnis dessen, was sich im vielzitierten Ausruf „Traduttore – traditore!“ verbirgt; vermengt und „upgedated“ mit der verhältnismäßig jungen Medium-as-message-These Marshall McLuhans, die unabdingbar ist für ein latoursches Konzept, das Wissen als eine Tradierung von Erfahrungen und Erkenntnissen versteht, die sich auf eine materielle Basis zurückführen lassen (Schmidgen 2011: 13-15). Enrolement impliziert – wie auch die gesamte ANT – eine gleichzeitige Kenntnisnahme der ebenfalls als Übersetzung zu fassenden Verschiebungen im Bereich nicht-menschlicher Handlungsträger, die vom Pixel bis hin zur DVD, als mediators oder intermediaries eine so unverzichtbare wie existentielle Grundlage für Kino und dessen Finanzierung bilden. So ist für die Gegenwart zu bemerken, dass durch die Digitalisierung u.a. Kosten der Kopie wegfallen, dieselbe gleichzeitig aber auch mit veränderten Verwertungsformen konfrontiert: Man könne eine DVD nicht mehr lokal herausgeben; das Risiko, dass der Film am nächsten Tag illegal im Kino laufe, sei – so wie auch die Wahrscheinlichkeit des Szenarios – viel zu hoch. „Digitalrechte haben keinen Wert ohne Kinostart“, resümiert Peter Jäger vom Weltvertrieb, in dem aktuell an einer Global-Release-Strategie gearbeitet wird – an der Spitze der Verwertungskette stehe schließlich, als „effizienteste Werbefläche für Film“ (Michael Stejskal) und trotz dem Druck der ökonomischen Umstände, nach wie vor das Kino (hier: der Projektionsraum).

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Eine der beträchtlichsten Veränderungen im interaktiven bzw. -passiven Gefüge der Menschlichkeit betrifft schließlich den demographischen Wandel und damit eine (Welt-)Bevölkerung, die tendenziell immer älter wird. „Best-agers“ gehen gerne ins Kino, seien aber Stejskal zufolge „nicht so leicht zu mobilisieren“. Sie repräsentieren einen Publikumstypen, der sich Zeit lässt, der einen Film nicht sofort gleich sehen muss, sondern „erst drei, vier Mal gehört haben [muss], dass ein Film gut ist“. Es mag unter Berücksichtigung dieser Begebenheit Zufall oder Strategie, keines davon oder beides sein, dass sich Haneke – dessen Film Amour zum Zeitpunkt der Diagonale noch in Erwartung der Öffentlichkeit steht – erstmals einer in der Gegenwart angesiedelten älteren Generation zuwendet, die „Best-agers“ schon insofern würdigt, als er sie auf die Leinwand bringen wird. In ihrer zum Teil mahnend angelegten Litanei behält sich die kritische Beschäftigung mit dem für schwindend befundenen klassischen Autorenkino vor, den hoffnungsgenerierenden Trumpf des Verweises auf einen seiner letzten Vertreter auszuspielen. So schließt auch die besagte Guardian-Korrespondentin ihren Befund mit den folgenden Worten: „Increasingly the most popular art house directors are foreigners working in France, such as the Austrian Michael Haneke whose film Hidden was a big hit.“41

41 Chrisafis, Angélique: „It’s oui to rom-com and non to art house as cinéphiles die out: Fabled celluloid genre of Truffaut and Renoir could be facing the final edit“. In: The Guardian, 29.01.2007.

6. Caché: Das Verborgene, das Krisenhafte und eine Urheberschaftsfrage

„Il faut travailler contre les attentes du public. Et ‚cacher‘ ce qu’on veut montrer pour être efficace“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 248), ergänzt Haneke zu seinem Film Caché, den er von Beginn an als in Frankreich mit Darstellern von internationalem Renommee gedrehte Koproduktion mehrerer Länder vorgesehen habe (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 240). In Frankreich wird der Film zum Kinostart von der Kritik so wohlwollend wie auch dezidiert als Exportgut aufgenommen: „Tourné à Paris, en proche banlieue à Romainville avenue Lénine, et en province, lieux dont le repérage insistant appartient à l’intrigue, interprété exclusivement par des acteurs estampillés ‚vus à la télé‘ chez nous, placé dans un environnement culturel bien hexagonal, Caché fait de l’exportation de malaise.“1

„C’est la façon avec laquelle l’auteur autrichien se situe, dans la ligne de Benny’s Video ou Funny Games, dans un univers désormais complètement francisé.“2 – Dem „Österreicher Haneke“, wie ihn französische Presse und Kritik vorzugsweise nennen, gelingt mit seinem vielfach als Allegorie auf ein postkoloniales Frankreich zitierten Film Caché ein regelrechter Kulturtransfer: „Caché déroule une allégorie. […] Haneke semble décidé à dire que l’Autriche n’a pas l’apanage de la culpabilité et de la logique suicidaire du refoulement, la France n’a pas mieux soldé ses dettes.“3 Als Mittler dieses Transfers fungiert in der Hauptrolle Daniel Auteuil, der Haneke zufolge der einzige französische Darsteller nach Jean-Louis Trintignant sei, der der Vermittlung eines Mysteriums fähig ist.4 Für ihn hat Haneke, wie er stets betont, das Drehbuch geschrieben; ihm verdankt er schließlich auch den legendären Erfolg an den britischen Kinokassen. Die auf Kinobesucherfrequenzen hin ausgelegte Zahlen1 2 3 4

Rehm, Jean-Pierre. „Juste sous la surface“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 605, Oktober 2005, S. 30-31. Guilloux, Michel. „Une bonne conscience tachée de sang“. In: L’Humanité, 17.05.2005. Rehm, Jean-Pierre. „Juste sous la surface“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 605, Oktober 2005, S. 31. Vgl. Interview mit Daniel Auteuil. Blumenfeld, Samuel. „‚Michael Haneke est le metteur en scène le plus facile avec lequel j’aie travaillé‘“. In: Le Monde, 06.10.2005.

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rubrik (The Numbers) des britischen Kinomagazins Sight&Sound berichtet von einer Erfolgsgeschichte, die komplementär zum romantischen Narrativ über den erfolgreichen auteur steht: „The cachet of Daniel“, lautet hier die Erfolgsformel zum Film, die gleichzeitig die Behauptung betitelt, dass das Casting die ausschlaggebende Kraft für die auf den regen Besuch zurückzuführenden UK-Box-Office-Daten sei: „Perfect casting has helped yield phenomenal success for ‚Hidden‘.“ Im Februar 2006 hatte der Film bereits eine Summe von über einer Million Pfund eingespielt (etwa doppelt so viel wie 2001 mit Die Klavierspielerin), dank Daniel Auteuil, der in seiner Qualität als Gegenkraft zum „intellektuell-strengen“ und „weniger überzeugenden“ Haneke angeführt wird: „[…] in Hidden Daniel Auteuil proved perfect casting: a badge of quality and a comfort zone to audiences hitherto unconvinced by the austere, intellectual Haneke.“5 Haneke will seinen Film nicht ausschließlich als „franko-algerisches“ Drama interpretiert wissen; Caché sei vielmehr eine Matrix, ein Modell, wie er es auf die sehr nahe liegende Frage nach der „Schuld der Franzosen im Hinblick auf den Algerienkrieg“ mehrfach betont: „Mon film parle d’un thème moral et non national, il s’agit de la culpabilité en général, des ‚taches noires‘ qui se logent dans la conscience des individus comme dans celle des collectivités. […] Dans le film, [le protagoniste; K.M.] prend des comprimés pour pouvoir dormir, mais cette culpabilité refait surface dans ses cauchemars. Nous en sommes tous là, nous intellectuels des pays riches confrontés à la culpabilité de vivre sur le dos des pays pauvres.“6

Was Haneke von einer Seite als „Lob dem europäischen Regisseur“ entgegenkommt – aufgrund ebendieser Positionierung nämlich – bringt ihm von einer anderen Seite wiederum den Vorwurf des Eurozentrismus7 ein. Nichtsdestotrotz, der Erfolg gibt ihm Recht: „Die modellhafte Zuspitzung und die Ambivalenz – das sind vielleicht heute die einzigen adäquaten Erzählstrukturen, weil mit ihnen eine offene Dramaturgie möglich ist, welche die Reaktion des Zuschauers als entscheidende Mitarbeit am Werk miteinbezieht.“ (Haneke/Assheuer 2010: 135) Mit dem Film Caché, der Haneke 2005 – neben zahllosen konsekutiven Filmpreisen – in Cannes zunächst den Preis für die Beste Regie einbringt, erreicht der Regisseur ein vorläufiges Höchstmaß an empirisch nachvollziehbarer Kollaboration der gewünschten Art. Es scheint, als habe die Wirkungskraft des Nicht-Gezeigten mit Caché einen ihrer Höhepunkte erreicht. Vor dem medial so präsenten Hintergrund einer Welt im Krieg, den Haneke über ein Fernsehgerät in sein „Kammerspiel“8 integriert (um den daraus flimmernden Nachrichten an einer Stelle sogar das Vollbild der Leinwand zu gewähren), stellt die Präsenz des Krisenhaften in Caché die Bedingung der Verdrängung, des Verborgenen und vor allem des nicht eindeutig Identifizierbaren. Et vice versa. Es ist nicht zuletzt dieser nachträglich als „Kollaps der bürgerlichen Normalität“ (Koch 2010: 5 6 7 8

Gant, Charles. „The Numbers – The cachet of Daniel“. In: Sight&Sound, Nr. 16/4, April 2006, S. 8. Haneke im Interview. Tizzani, Noël. „Les taches noires du passé“. In: La Tribune, 05.10.2005. Vgl. zum Vorwurf des Eurozentrismus: Galt 2010. Péron, Didier. „Haneke a du ‚Caché‘“. In: Libération, 16.05.2005.

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318) gedeutete Film, der Haneke fünf Jahre später aus brandaktuellem Anlass die besagte Aufnahme in den Kreis der Vertreter des besagten „Krisenkinos“ beschert. Doch was sind die Implikationen dieser omnipräsenten Krise? Als Zustand mit negativen Entwicklungsaussichten der Unaufhaltbarkeit, dessen unbestimmbare Finalität – mit Ausnahme von vereinzelten Verschwörungstheoretikern – kaum jemand öffentlich zu denken wagt, legt „die“ Krise in ihrer (massen-)medialen Verarbeitung nahe, dass sie sich durch „gutes“ bzw. „verantwortungsbewusstes“ Verhalten retardieren lässt. Sie bringt mit anderen Worten moralische Implikationen mit sich. Insofern wäre dem Regisseur – dem die nicht immer ganz wohlwollend anmutende Etikettierung des Moralisten so sehr anhaftet wie jene des „Gewaltspezialisten“ – darin zuzustimmen, dass – ungeachtet dessen, wie man sich ihr gegenüber positionieren mag – „die Frage der Moral ganz und gar nicht ‚out‘“ (Haneke/Assheuer 2010: 125) sei. Doch bleiben wir zunächst bei Caché. So sehr sich der Film als exemplarisches Werk zur Einführung in die Filmanalyse etablieren konnte9, so sehr stellt er sämtliche Bemühungen, die die Film- und Fernsehwissenschaften insbesondere im Rahmen einer wiederaufflackernden Genre-Theoriekonjunktur verzeichnen kann, auf den Kopf. Mit einer vom Regisseur als Parodie auf den Genre-Film ausgewiesenen Etikettierung „Autorenfilm“, an dem sich – wie im Rahmen von Kritik und Theorie erfolgt – sämtliche Genre-Deklinationen vornehmen lassen. Zudem ist die Breite des Deutungsspektrums zum Film ohne Vergleich. Es gibt nicht „den“ einen, „richtigen“ Zugang, es gibt unermesslich viele Zugänge – und die werden seit der Weltpremiere des Films 2005 in Cannes unablässig diskutiert. 2011 wird der Film in die BFI-FilmClassics-Reihe aufgenommen, jene vom British Film Institute herausgegebene Serie von Filmkritik-Büchern, „that introduces, interprets and celebrates landmarks of world cinema. Each volume offers an argument for the film’s ‚classic‘ status, together with discussion of its production and reception history, its place within a genre or national cinema, an account of its technical and aesthetic importance, and in many cases, the author’s personal response to the film.“10

Catherine Wheatley, die Autorin des Buches, nimmt von der rezeptiven Tätigkeit des im Fall von Caché quantitativ ausladenden Bedeutungszuweisens ihren Ausgang. Die – ihr zufolge einem urmenschlichen Instinkt entsprechende – Praxis der Bedeutungszuschreibung gestalte sich stets umso heftiger, je obskurer und uneindeutiger das ausgelegte (Film-)Kunstwerk angelegt ist: Filme wie David Lynchs Mulholland Drive (2001) oder Alain Resnais’ L’année dernière à Marienbad (1961) und die unzähligen Texte, die ihnen gewidmet waren und sind, seien der Beweis für ein Phänomen, das sich durch Hanekes Filmangebot noch verstärkt: „since Haneke’s film is a masterpiece of control, each shot tightly engineered, watching it one has the sense that nothing has been left to chance, a feeling that sits at odds with its quality of indeterminacy.“ (Wheatley 2011: 15) Auffällig hinsichtlich der britischen Rezeption 9

Vgl. etwa: Ostermann, Eberhard. Die Filmerzählung: Acht exemplarische Analysen. München, Fink: 2007. Die siebte Analyse im Zuge der didaktischen Aufbereitung des Bandes hat die „Soziale und ästhetische Verunsicherung in Caché“ zum Thema. 10 Siehe Präzisierung der Verleger: http://www.palgrave.com/resources/catalogues/palgrave_ bfi_catalogue.pdf [24.11.2012]

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des Films, auf die Wheatley ihre Argumentationen aufbaut, sei neben dem einstimmig geteilten Respekt der Autoren vor dem Film vor allem die Tendenz, ihn dem Lesepublikum zu erklären, das Rätsel für den Leser zu lösen. Ausgehend von vier Strängen, die die kritische Rezeption in Großbritannien bestimmen – der Film als Thriller, bourgeoise Schuld, politische Verantwortung und das Verhältnis von Realität, Medien und Publikum – entfaltet Wheatley ein Porträt zu einem minutiös komponierten Film in seiner Konsequenz eines Verstehensprozesses sowie einer Verbreitung, die sich allein aus einer perspektivischen Heterogenität ergeben können: „It is perhaps for that reason that so much has been written, so widely, about Haneke’s film: it is so finely calibrated as to allow critics to argue their corner while at the same giving something to kick against.“ (Wheatley 2011: 84) Was seine Materialität anbetrifft, war dem Film wie auch dem Weißen Band und den anderen Kinoproduktionen schließlich die Konsequenz einer – wenn auch sehr potenten – Alltäglichkeit beschieden, nämlich vom Ereignishaften ins Dauerhafte überzugehen. Festivals und Premieren, anschließend die „gewöhnlichen“ Vorstellungen einmal bestritten, materialisiert er sich, geht vom Modus der Einmaligkeit in jenen der Verfügbarkeit über, ist, dem europäischen Standard entsprechend, im DVDFormat – und das ist in Hanekes Fall mehr als eines – mit den üblichen erdenklichen Features (Spracheinstellungen, Untertitelungen, Bonusmaterial etc.) erhältlich, bestell- und besitzbar. Die jeweiligen nachträglichen „Autorisierungen“ und „Nationalisierungen“ des Filmprodukts in ihren diversen diskursiven Ausprägungen unterstehen in ihren Verlaufsformen freilich auch dadurch erheblichen Modifikationen. Mit Caché verhält es sich hinsichtlich der Vereinnahmungstendenzen wie im Fall von Das Weiße Band: Auf den Erfolg folgen die Zuordnungen, steigert sich die Performanz, die das Produkt und letztlich auch den auteur als Kunst- bzw. Kulturgut mit entsprechender „nationaler“, allenfalls „kontinentaler“ Provenienz geltend macht. Allein vom Oscar-Komitee wurde er als österreichischer Wettbewerbsbeitrag abgelehnt – laut Regelwerk der Academy of Motion Picture Arts and Sciences gilt für fremdsprachige Beiträge, „dass der Dialog überwiegend in einer offiziellen Sprache des Landes, das den Film einreicht, aufgenommen“ sein muss, es sei denn, „die Geschichte verlangt, dass eine zusätzliche nicht-englische Sprache dominiert“11. Wie es die zuvor ebenfalls auf Französisch gedrehte Klavierspielerin nach Maßgabe dieser Logik in den Wettbewerb geschafft hat, bleibt vielen ein Rätsel.

11 Unbekannt. „Oscar adieu? – Michael Hanekes neuer Film ‚Caché‘ wurde vom OscarKomitee als österreichischer Wettbewerbsbeitrag abgelehnt“. In: epd Film, November 2005. http://www.epd-film.de/33178_37939.php [10.12.2011]

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49. B ILDPOTENZEN , DIE ALBTRAUMHAFTE R EVANCHE V ERDRÄNGTEN UND EIN C HIPFEHLER

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Frontal anvisiert, ein Wohnhaus in der Rue des Iris, 13. Pariser arrondissement. Totale auf einen Hauseingang. Dennoch haben wir es nicht mit einem gewöhnlichen Establishing-Shot zu tun, wie sich trotz gleichbleibender Einstellung wenig später herausstellt. Zwei Stimmen legen sich unversehens über das Bild, zwei Stimmen, die sich dem visualisierten Raum nicht zuordnen lassen, ihm auch keinesfalls entstammen könnten – die Wohnstraße ist leer. Es folgt ein Schnitt, die Distanz der Aufnahme verringert sich, ein Mann und eine Frau treten suchend auf die Straße hinaus. Ein weiterer Schnitt führt wieder zurück auf die erste Einstellung. In der Totalen der Hauseingang. Und plötzlich, sehr unerwartet, weil dem Selbstverständnis von Kino sehr fremd, spult sich die Einstellung wie ferngesteuert vorwärts. Eine VHS-Technik bemächtigt sich der Bilder. Die Eingangssequenz von Caché ist im Begriff, zu einer der brisantesten und meistgedeuteten und -kommentierten Sequenzen der Filmgeschichte zu avancieren.12 „One of the most striking openings in cinematic history.“ (Brunette 2010: 113) Es ist der Eingang in die Geschichte des mit seiner stetig sich aktualisierenden Vergangenheit konfrontierten Georges Laurent (Daniel Auteuil), eines Fernsehjournalisten französischer Staatsangehörigkeit, der den Unterhalt seines wohlständischen Lebens mit renommierten TV-Buchbesprechungen sichert. Wir sehen und hören ihn mit seiner Frau Anne (Juliette Binoche) im Wohnzimmer des Hauses über das eben vorgespulte Video reden. Es ist dies die erste Konfrontation mit einer – über die gesamte Dauer des Films präsenten – von der Mehrzahl der öffentlich sich geäußert habenden Rezipienten als bedrohlich empfundenen – sprachlosen Instanz, über deren Identität wir bis zuletzt keine Auskunft erhalten. Und diese schickt Videokassetten, oder hinterlegt sie – die besagte zumindest hatte Georges in einem Plastik-Säckchen verpackt vor der Tür vorgefunden, wie es der Dialog der beiden Eheleute verrät. Unsere Perspektive entspricht hier zunächst der Perspektive des Paars, die Blickpositionen sind deckungsgleich: wir sehen mit den Laurents die Außenansicht ihres Hauses, einem Überwachungsvideo gleich. Allein wer ist das diegetische Subjekt, wer beobachtet hier, wer ist der Urheber dieser Videobilder, wer schickt diese Kassetten? Ist es vielleicht ein Kinderstreich des gemeinsamen Sohnes Pierrot (Lester Makedonsky) und dessen Schulkameraden? In der offenen Frage kompensiert sich die Antriebskraft der Erzählung; das Narrativ lebt von Bildern, die sich jeglicher Zuordnung zu einem Ursprung verwehren. Bilder unterschiedlichsten Formats, die sich ihrerseits unterschiedlichen Produktionsweisen und Techniken zuordnen lassen (Video-Technik, FernsehEinsprengsel, das gefilmte Fernsehbild), nicht aber auf eine Urheberinstanz verweisen. Den Kassetten beigelegt findet sich jeweils ein scheinbar von Kinderhand gezeichnetes Stück Papier: mit Blut befleckte Strichmännchen und -tierchen (ein Hahn) als Beigabe. Eine – und bald mehr als eine – Spur führt zu Majid (Maurice Bé-

12 Zu den regen Online-Diskussionen zur Eingangssequenz und ihrer „proleptischen“ bzw. „metaleptischen“ Struktur vgl. Elsaesser 2010: 64.

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nichou), einem Mann algerischer Abstammung, den Georges aus seiner Kindheit kennt. Der Film konfrontiert uns mit der durch die Videos und Zeichnungen angeregten Introspektion Georges, über die wir in Form von visuellen Rückblenden erfahren: die Bilder führen zurück in Georges Kindheit, zu einem Bauernhof, zum Gut seiner Eltern, die er mit Majid zunächst teilt. Die Bruderschaft währt nicht lange, so lange nur, bis er den algerischen Adoptivsohn – aus zunächst unbekannten Motivationen einer Kindergeschichte heraus – verleumdet und damit aus der Familie verbannt. Er wollte nicht teilen, die Aufmerksamkeit seiner Eltern für sich allein haben – ein Anspruch, den er Anne gegenüber normativ rechtfertigt: „c’est normal“. Das diegetische Heute des Buchkritikers Georges wird so zur fremdbestimmten Rückkehr zu einer verdrängten Tat; die Geschichte zu einer des Scheiterns und Schwindens der konventionellen, durch Institutionen aufrecht erhaltenen Sicherheiten: Ehe, Familie, Arbeitsverhältnis stehen – und das sehr wackelig – auf dem Prüfstand, denn es folgen weitere Video-Tapes (insgesamt sind es fünf), die den Protagonisten zur Rechtfertigung verleiten werden. Die traumsequenzhaften Bildeinsprengsel aus seiner Vergangenheit sind blutig: Showdownhaft kommt der algerische Junge mit einer Hacke, Blut am Gesicht, auf den kleinen, verängstigten Georges zu. Die hierbei vom Regisseur gewählte Einstellungsgröße ist wohl das einzig als „amerikanisch“ auslegbare Element des Films. Ein geköpfter Hahn, das Opfer der Hackenattacke, wird in seiner neuronal bedingten Postagonie umher hüpfend zum zählebigen Symbol; zählebig insofern, als sein ikonisches Fortleben in den papierenen Drohbotschaften den metonymischen Nährstoff der Erinnerung Georges an den Anfang vom Ende der Brüderlichkeit garantiert. Auf einer der Postkarten stilisiert, wird dieser Hahn in seiner Agonie gleichzeitig auch zum blutspuckenden Indiz für die Möglichkeit eines verzögerten Racheakts des fortan nicht mehr in Wohlstand lebenden, sondern in einem HLM-Studio eingerichteten Algeriers, der sich schließlich vor Georges und unseren Augen umbringt. Er habe auf ihn gewartet, wolle das Ereignis teilen, sagt Majid, bevor er sich den Hals aufschlitzt und damit einen die längste Zeit schon Wegsehenden letztlich zum Hinsehen nötigt. „Was tut man nicht alles, um nichts zu verlieren?“, hatte er zuvor noch gefragt und damit einen der Schlüsselsätze des Drehbuchs bedient. Und auch diesen Tod, den der wenig sühnebereite Georges als Racheakt für seine kindliche Unschuldstat der Verleumdung auslegen wird, bekommen die Laurents auf Videokassette ins Haus geschickt. Anne, der Georges seine Konfrontation mit Majid bislang verschwiegen hatte, entgegnet ihrem Gatten mit einer hochemotionalen Tirade über Vertrauensgrundsätze. Der offene Hals und die Blutfontäne beim Suizid Majids erschweren tatsächlich, nicht die eine oder andere Assoziationsparallele zu den „Kinderzeichnungen“ zu ziehen. Georges hatte Majid, der vorgibt, von den Kassetten nichts zu wissen, bereits einmal gedroht, er möge sich von seiner Familie fernhalten. Für Georges, der im Zuge des Films notgedrungen ein Unschuldsgeständnis nach dem anderen ablegt („Je n’ai rien à cacher“), wird Majids Existenz posthum zur Tragödie: „Enfant, il ne s’est pas rendu compte des conséquences de son acte. Et quand, adulte, il est à nouveau confronté à celui-ci, il se sent coincé et réagit de manière certes désagréable, mais très humaine. Ne pouvant accepter sa propre culpabilité, il accuse autrui : c’est un comportement très compréhensible. Puis, sa culpabilité ressurgit quand Bénichou se suicide. Dès lors, Béni-

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chou devient une vraie victime et Auteuil est pris dans un piège quasi tragique. Mais il ne pouvait pas le prévoir ; en général, les gens qu’on a blessés dans la vie ne se suicident pas. C’est comme pour celui qui a l’habitude de conduire trop vite. Le jour où il renverse un enfant et le tue, sa vie en est pour toujours affectée. Mais l’accident découle d’un comportement habituel qui, jusque-là, n’avait pas causé de drame. C’est toute la complexité de la vie. Mais ce n’est pas parce qu’on se comporte mal qu’on est inhumain.“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 245)

Was ist geschehen, welchen Kontext hat die Verleumdung? Die einzige diegetische Erklärung der Rückblenden (die traumartigen Sequenzen, aber auch eine der Videokassetten, die Georges im Beisein von Freunden sehen wird und die zum Landgut der Laurents führen) ist die des mittlerweile erwachsenen Georges: Majids Eltern waren bis zu ihrem gewaltsamen Tod 1961 Gastarbeiter auf dem Landgut der Familie Laurent. Georges verweist auf die Historie und diese wiederum auf eine friedliche Kundgebung des FLN gegen den Algerienkrieg mit blutigem Ende. Haneke gibt in späteren Interviews an, über diese Auseinandersetzungen in einer arte-Dokumentation13 erfahren zu haben. Etwa 30.000 Menschen hatten am 17. Oktober 1961 in Paris an der Demonstration einer algerischen Befreiungsbewegung teilgenommen. Auf Befehl des als Beamte des Vichy-Regimes geläufigen Polizeipräfekten Maurice Papon waren Schätzungen nach etwa 200 Algerier von der Polizei getötet worden. Ihre Leichen hatte man zum Teil in der Seine versenkt. Diese von Georges nahezu beiläufig angerissene Geschichte, die auch Michael Haneke – relational zum Film – in ihrer Bedeutung eher klein gehalten wissen will (sie ist ein Teil eines Größeren), ist nicht weniger als eines der umstrittensten Ereignisse der jüngeren Geschichte Frankreichs, das Historikern ein erhebliches Problem der Rekonstruktion bereitet. Es steht außer Frage, dass sich in der französischen Hauptstadt in der Nacht vom 17. Oktober unter dem autoritären Regime de Gaulles, kurz vor Ende des Krieges, gewaltige Formen politischer Repression ereignet haben, deren Verschleierung beachtliche Ausmaße angenommen hatte. Doch über Jahrzehnte herrschte mediale Stille, die Tat war sehr rasch von der öffentlichen Bildfläche verschwunden, um erst in den 1980er Jahren langsam hervorzutreten. Die (unter Rückgriff auf gesetzliche Statuten legitimierte) strikte Weigerung der französischen Regierung, Historikern Einsicht in polizeiliche und gerichtliche Akten zu gewähren, erschwerte eine gezielte Berichterstattung, während Papon in veröffentlichter Form seine heroische Rolle im Eindämmen des FLN bekundete und das Ereignis eines Massakers leugnete. Versteckt und verborgen also bleibt über Jahrzehnte das Material, um erst Ende der 1990er Jahre – neben einer extensiv geführten medialen Debatte – eine fundierte historiographische Aufarbeitung zu erfahren. (House; Macmaster 2009) Die Filmerzählung Hanekes reiht sich unweigerlich in die Praxis der „memorial battles“ (House; Macmaster 2009: 11) und ist Träger nicht nur von Erinnerung und Verdrängung, sondern auch einer Wahrheit bezüglich Frankreichs kolonialer Vergangenheit, deren Leugnung sie eindringlich vorführt. Das Narrativ in seinen Anleihen an das Genre des polar lässt Majid (bis zum Zeitpunkt seines so spektakulär wie dezent angelegten Suizids) zu einem nur begrenzt legitimen Hauptverdächtigen werden – dem Genre-sensiblen Betrachter steht zwar sehr bald schon der Racheakt zur Deutungsdisposition, die jeweiligen Ausle13 Vgl. etwa: Haneke/Assheuer 2010: 34.

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gungsrichtungen bleiben jedoch eine Frage der subjektiven Perspektivierung. So entgeht auch Majids betont kultivierter Sohn (Walid Afkir) nicht der Verdächtigung, die Videobänder verschickt zu haben. Der zunächst entführt geglaubte Sohn Pierrot, der sich bei einem Kameraden einquartiert und seine Eltern in entsprechende Besorgnis gebracht hatte (Pierrot verdächtigt Anne, eine Affäre mit ihrem Arbeitskollegen Pierre [!] zu haben), war Georges ein Beweggrund, die Polizei einzuschalten. Majids Sohn, der zunächst gemeinsam mit seinem Vater in Untersuchungshaft genommen wird und der Georges nach dem Selbstmord seines Vaters mit ebendiesem konfrontiert (er möchte wissen, wie es denn sei, einen Menschen auf dem Gewissen zu haben), steht in der letzten Einstellung des Films mit Pierrot vor dem Schulgebäude. Die beiden (in der Weite der Einstellung, deren Status – Video? Fiktionale Realität? – nicht bestimmbar ist, erst zu suchenden) Jugendlichen unterhalten sich, man weiß nicht worüber. Die Konklusion bleibt beim Betrachter. Hinzu kommt der formale Aspekt einer Bildpraxis der Überwachung, der als beobachtende Instanz – vom Göttlichen über den Staatsapparat bis zum RegisseurSubjekt – interpretativ alles zugeordnet werden kann und auch wird: „[…] it is the narration itself, that is watching“ (Levin 2010: 81). Es, dieses Es in seiner absoluten und absolutistischen Beliebigkeit bleibt, wie schon der Titel des Films nahelegt, versteckt. Eine weitreichende Interpretationstendenz besteht dahingehend, von einer „surveillance-as-materialization-of-personal-psychology“ (Levin 2010: 83) auszugehen – ein Zug, der nicht zuletzt die Rezeption der französischen Presse durchzieht und schließlich in dem Ausdruck findet, was Le Monde mit einer „revanche du refoulé“ zusammenfasst: „Dans ce film en abyme, réflexion sur la manipulation de l’image, le flash-back thérapeutique d’un individu dit aussi la nécessité pour un peuple d’affronter son passé.“ 14 Wenn hier vom unbestreitbaren Erfolg des Films die Rede ist, dann soll damit abermals schlicht bezeichnet werden, dass seine Projektion folgenreich war. Caché hat ganz in diesem Zeichen kaum eines der etablierten Kritikblätter unberührt gelassen und es ist erstaunlich, wie disparat sich die Reaktionen gestalten. Die ungeklärte Urheberschaft der Kassetten, die nicht nachvollziehbare Perspektive der diegetischen Bilder des dramaturgisch äußerst offen angelegten und thematisch daher multidirektional auslegbaren Films sind die Argumente, denen in nahezu allen Stellungnahmen Beachtung zukommt. Ansonsten speist sich die Begründung der regen Reaktion auf den Film aus sehr unterschiedlichen Argumentationen, die, wie Michael André in seinen bemerkenswerten „Anmerkungen zu Caché“ unter Berücksichtigung der deutschen Presse notgedrungen konstatiert, alle zwar legitim seien, nicht aber dem Film hinreichend gerecht würden: Von einer „alles andere als erheiternden Studie über latenten Rassismus“ (Frankfurter Rundschau) über einen „kühlen Schocker“ (Spiegel online), eine „Spiegelung der Antinomie moderner Kunst“ (FAZ) bis hin zu einem „Medien-Drama“ (Die Welt) scheint hier Caché alle Register zu bedienen (André 2011: 29). Caché ist ein Film, anhand dessen die unterschiedlichen Einschläge der Haneke-Kritik exemplarisch differenziert werden können. André verweist in diesem Zusammenhang etwa auf einen – mit „Haneke“ wohl am weitläufigsten in Relation gesetzten – sinnsuchenden Typus von Kritik, der für die „Rätselhaftigkeit 14 Douin, Jean-Luc. „Regard forcé sur les démons de l’enfance pour un homme filmé à son insu“. In: Le Monde, 17.05.2005.

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höhere, göttliche Instanzen oder – in Freud’scher Manier – das Unbewusste bemüht“ (André 2011: 20). André bringt keine Kritikklassifikation, lässt die Möglichkeit einer solchen jedoch erahnen: Tatsächlich ist im Hinblick auf Caché so wie auch für das gesamte Streufeld des hanekeschen Œuvres zu beobachten, dass sämtliche – oftmals sich widersprechende – Theorien, die der filmwissenschaftliche Diskurs zur Verfügung stellt, zur „Anwendung“ kommen. Die Beteuerung des Regisseurs, sein Film sei ein Film über den Umgang mit Schuld, ein conte moral15, gibt Rezeptionsrichtungen vor, die das Gros der Journalisten und Wissenschaftler beherzigt zu haben scheint, wenngleich die Rezeption in ihren Ansätzen zur Moraldebatte hinsichtlich der zur Anwendung kommenden Theorien sehr heterogen ausfällt. Im Zentrum steht allerdings – und das unisono – die Behauptung eines auteurs und damit die Affirmation einer Auteur Theory, für die gilt, was für alle anderen Theorien im Fall „Haneke“ auch gilt: dass keine von ihnen den Film in seiner Wirkungspotenz hinlänglich zu erklären vermag. Erklärungen oder Lösungsangebote sind auch hier nicht vorgesehen. Evident – und in unserem Zusammenhang damit von Interesse – ist allerdings, dass dem auteur Haneke, „finanzielle Mittel und inszenatorische Freiheiten zugestanden [werden; K.M.], wie sie – außer Lars von Trier – kaum ein kontinentaleuropäischer Regisseur für sich in Anspruch nehmen kann“ (André 2011: 29). – Freiheiten, die nicht nur die Kritik in Bedrängnis bringen, sondern auch die mit Filmund Fernsehtechnik an sich vertrauten Akteure einer deutschen Fernsehanstalt, die Caché auf Sendung hätten bringen sollen. André, der damals für die Koproduktion zuständige Redakteur, schildert: „Es war vor nunmehr fünf Jahren, am Tag der technischen Abnahme des Films, als mich […] ein verstörter Anruf aus dem Technikraum erreichte. ‚Wir haben die gelieferte Digi-BetaSendekopie testhalber eingelegt und sollten den Termin absagen. Das Band ist so nicht sendefähig.‘ Das Bild weise in der ersten Szene nach nicht mal einer Minute auffällige Störungen auf, und auch danach häuften sich Streifen und Ruckler wie bei einem Amateurvideo. Dem Kopierwerk seien wohl unbegreifliche Fehler unterlaufen. Die Erklärung, dass es sich um eine Film-im-Film-Szene handele, und dass das Filmbild in den letzten Sekunden der ersten Sequenz zudem in einer Rewind-Einstellung laufe, wurde voller Widerwillen geglaubt. Dieses Missverständnis eines versierten Bildingenieurs wirft ein bezeichnendes Licht auf einen Film, der durch seine meisterliche Verrätselung profunde Irritation evoziert.“ (André 2011: 28)

Wie es diese Anekdote nahe legt, gerät hier etwas ganz offensichtlich in einen krisenhaften Moment, der exemplarisch auf die Folgenschwere von Technik und die Tragweite unserer Interaktion mit ihr verweist. Deutlich wird hierin einmal mehr auch, dass „Hanekes“ Verstörungstätigkeit in ihrem beachtlichen Erfolg und Ruhm nicht auf den Regisseur, das romantische Autorgenie allein zurückzuführen ist, sondern als Teil des großen Mensch-Technik-Kollektivs zutage tritt. Dies ist als Feststellung banal und andererseits ganz und gar nicht; unter der Bedingung freilich, dass Evidenz nicht mit Banalität gleichzusetzen und damit erklärungs- bzw. beschreibungsbedürftige Ausnahme ist. Unter der Prämisse der Gegebenheit eines „nationalen“ (Autoren-)Kinos geht es nun darum, die Verlaufsformen dieser Evidenz nachzu15 Haneke im Interview mit Serge Toubiana, Supplement der französischen DVD-Edition (France Inter).

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vollziehen: Nicht die Stabilität des Autors oder die seiner erfolgten Nationalisierung(en) stehen dabei infrage, sondern die Prozesse dieser Stabilisierung. Es ist schließlich bemerkenswert, dass der als auteur bezeichnete und gefeierte Haneke mit Caché einen Film präsentiert, der im Kern und über die Dauer von beinahe zwei Stunden ganz grundlegend eine Beschäftigung mit Problemen der Urheberschaft aufweist. Es ist ebenso bemerkenswert, dass das bereits mit dem Titel nahegelegte Versteckte sowie die Spuren, die der Pseudo-polar legt und die sehr eminent zur Interpretation einer postkolonialen Begegnung verführen, „auf der Ebene der Nation“ (Schönhart 2008: 224) thematisiert und verhandelt werden. Selbst wenn der Regisseur Michael Haneke in einem Interview mit Serge Toubiana bekundet, dass sich die Geschichte in mehreren Ländern erzählen ließe – das Lokalisieren des Verschweigens und Kaschierens von Staatsgewalt, die ihre Opfer fordert, eröffnet in der Tat ein Verortungspotential von globalem Format –, so gesteht er dennoch, direkt auf die Kundgebung des FLN angesprochen, ein „problème personnel“ dezidiert auf ein „problème national“16 ausgeweitet zu haben. Die (nicht nur) vermarktungsstrategische Europäisierung des Filmprodukts17 geht hier Hand in Hand mit der eminenten – und emsig wahrgenommenen – Möglichkeit einer nationalgeschichtlichen Rezeption, die nicht ausschließt, dass „auch die Beziehung zwischen dem Tod des französischen Wappentiers und der Selbstaufopferung des Arabers […] tiefenanalytisch begriffen werden [kann]“ (André 2011: 32). Dass die gescheiterte Brüderlichkeit als solche auch ohne Symbol auskommt, dafür steht die Handlung des Films sowie sein Protagonist Georges (Daniel Auteuil), den die Kritik einstimmig als glaubwürdigen Träger einer kollektiven Schuld feiert, deren Streufeld inhaltlich bedingt letztlich doch sehr hexagonale Grenzlinien aufweist: „La barbarie dont il est question a ici des racines historiques. Les fantômes de la guerre d’Algérie sont visiblement encore là. Ils imprègnent le passé des protagonistes et constituent une des clés de l’énigme.“18 „The empire looks back.“19 – Die stark gesellschaftspolitisch aufgeladenen Debatten um einen Film postkolonialer Artikulation sowie die zu erwartenden binären Muster, die der Film vor seinem historischen Hintergrund zwangsläufig impliziert (vom inhaltlich inspirierten Täter-Opfer-Diskurs bis hin zur kontextbasierten EuropaAmerika-Dualität) und nicht zuletzt auch die durch den Film angeregten Fragen zu den Ursachen für die inszenierte Problematik des Krisenhaften in seinen unterschiedlichen Spielarten überschatten regelrecht die bemerkenswerte Entwicklung, dass Caché auf einer anderen Ebene, einer kinotechnischen nämlich, Effekte hat. Besonders deutlich wird dies, wenn man wieder vom Gedanken des Kulturtransfers ausgeht, in diesem Fall in seiner Rückwirkung, denn der so „französische“ Film wird letztlich – wenn auch mit Verspätung – wieder zu einem „österreichischen“: Als der zunehmend gereizte Georges das Polizeirevier verlässt (die Polizei hatte sich als handlungsunfä16 Haneke im Interview mit Serge Toubiana, Supplement der französischen DVD-Edition (France Inter). 17 Auch Haneke selbst inszeniere sich vorzugsweise als „europäischer Filmemacher“ (Galt 2010: 221). 18 „Caché, chronique d’un passé enfoui“: Blumenfeld, Samuel. „‚Michael Haneke est le metteur en scène le plus facile avec lequel j’aie travaillé‘“. In: Le Monde, 06.10.2005. 19 So der Titel eines in Screen publizierten Aufsatzes zu Caché: Silverman, Max. „The empire looks back“. In: Screen, Nr. 48/2, 2007, S. 245-249.

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hig erwiesen), kollidiert er beim Überqueren der Straße beinahe mit einem jungen Schwarzafrikaner, der am Fahrrad um die Ecke schießt. In den Straßen von Paris, ein erregter Daniel Auteuil, ein ebenso aufgebrachter Schwarzer und eine Juliette Binoche, die versucht, die Wogen der Konfrontation zu glätten. Mit einem Bildstill dieser Szene als Cover erscheint Caché im Oktober 2010 in der DVD-Reihe der Edition Der Standard und tritt damit in den notgedrungen (weil u.a. filmrechtlich bedingt) etwas willkürlich zusammengestellten Kanon jener Filme ein, die mit dem Titel Der österreichische Film seit Oktober 2006 unter dem Nenner der „50 besten österreichischen Filme“ in den Verkaufsregalen des Landes stehen. Die Edition (eine Kooperation der Tageszeitung Der Standard, des Filmarchiv Austria und des Unternehmens hoanzl) kommt – proportional zu den Bevölkerungszahlen – erfolgsmäßig jener der (offiziell transnational angelegten) Cinemathek-Reihe der Süddeutschen Zeitung nahe. Es ist mit diesem Projekt, so hoanzl zum Jahr 2006, „gelungen, den Österreichischen Film erfolgreich zu bewerben und im Handel zu platzieren. An über 500 Verkaufsstellen ist dieses ‚Programmkino‘ österreichischer Identität erhältlich. Der österreichische Film mit über 500.000 verkauften Einheiten dient als mustergültiges europäisches Beispiel für differenzierten breitenwirksamen Nischenhandel.“20 Es ist weiters erklärtes Ziel des Unternehmens, „hoffnungsvolle regionale Strategien als Alternative zum ‚Angebotsmonopol‘ der internationalen Unterhaltungsindustrie zu entwickeln und ein umfangreiches österreichisches Medienangebot aufzubauen“21. In der DVD-Rubrik der Filmfachzeitschrift kolik.film wird 2007 neben zahlreichen Punkten (wie etwa dem, dass aus den von der Tageszeitung im Zuge der Werbekampagne angekündigten „50 der besten österreichischen Filme“ die „50 besten österreichischen Filme“ wurden) bemängelt, dass Michael Haneke mit nur einem Werk (Die Klavierspielerin) vertreten ist. In einer Kollektion, in der sich zwar die „Lust am Peripheren“ manifestiere, sich aber gleichzeitig „eine tiefe Verbeugung vor der Quote“ abzeichne: die Liste der Kuratoren beinhalte fünf der neun bestbesuchten Filme seit 1981. Der Autor des Beitrags, Stefan Grissemann, kommentiert weiter: „Das ist der Fluch der ‚Breite‘ um jeden Preis: Avant-Garde und Populismus drohen einander im Einerlei eines solchen Programms schnell außer Kraft zu setzen.“22 – Dass Haneke zunächst nur in bescheidenem Ausmaß vertreten ist (inzwischen haben bereits mehrere seiner Filme im Rahmen dieser Edition ihren Platz in den Regalen gefunden), liegt daran, dass die meisten seiner Kinofilme zum Zeitpunkt der Bemängelung noch aus rechtlichen Gründen gesperrt sind. Dennoch: „Aus Sachzwängen und Kompromissbereitschaft wachsen Missverhältnisse, ergeben sich Überbetonungen bestimmter Bereiche und Unterbelichtungen anderer: Auch davon zeugt die Edition ‚Der österreichische Film‘. Stolzen vier Werken des Filmemachers Wolfgang Murnberger steht gerade eine Arbeit aus dem deutlich massiveren Schaffen Michael Hanekes gegenüber. Hätte man in diesem Fall nicht eine oder zwei der bislang kaum zugänglichen Fernseh-

20 Vgl. die offizielle Website von hoanzl. http://www.hoanzl.at/ueber-hoanzl [21.11.2012] 21 Ebd. 22 Grissemann, Stefan. „Im Kanonkanal: Die Standard-DVD-Edition zum österreichischen Film“. In: kolik.film, Sonderheft 7/2007, S. 126.

180 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE filme Michael Hanekes berücksichtigen müssen, in denen sich die Eigenarten seines späteren Kinos bereits so deutlich abzeichnen?“23

Hanekes Fernsehfilme sind mangels Musikrechten bis heute nicht kommerziell verfügbar: Das Fernsehen kann durch seine vertragliche Bindung mit der AKM24 und der daraus entrichteten Pauschale praktisch jede Musik verwenden, nicht aber das Kino: So müsste Veit Heiduschka zufolge „die gesamte Musik ausgetauscht werden“25, um Hanekes Fernsehfilme kinotauglich zu gestalten. Was sich – jenseits der kritisierten Amalgamierung von Kunst und Kommerz – jedenfalls exemplarisch abzeichnet, ist der (mitunter beschwerliche und langsam sich bahnende) Weg des Autorenkinos zu einem verhältnismäßig breiten Publikum, dem wiederum (um den Preis einer Kinokarte) Zugang zu einem kritischen Kino ermöglicht wird. – Ein Weg, dessen Verzweigungen sich mit zunehmendem Fortschritt im Bereich der (Aufzeichnungs-)Technik potenzieren und der mitunter entsprechende Umkehrungen erfordert. Ein Chipfehler in der Kamera, wie Produzent Heiduschka im Verweis auf schlaflose Nächte anmerkt, habe die Produktion beinahe zum Zusammenbruch geführt: „Bei Caché haben wir im Vorfeld alle Kameras, die es gab, ausgetestet. Von digital über Verschiedenstes, kleinst-große Kamera, Film 16 Millimeter, 35, Fuji, Kodak, Tag, Nacht, mit Licht, Wald, mit großen Scheinwerfern, auf der Bühne oben, der Redakteur vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) hat gesagt: ‚Was Sie sich für einen Regisseur erlauben, das kostet ja ein Vermögen!‘ Sag ich: ‚Wir machen ja kein Fernsehspiel für euch.‘ Das musste einfach sein, da kann man nicht zufrieden sein, weil diese Kamera ein Konstruktionsfehler von Sony war. In der Mitte des Filmes sind wir draufgekommen, das Kopierwerk hier in Wien – gedreht wurde am Anfang in Paris – hat das Chromat verdreht und siehe da, es waren Doppelbilder! Gesicht war zweimal, der Kopf war zweimal … und uns ist alles runtergefallen und wir haben gesagt, ok, kopiert das einmal auf 35 Millimeter. Über Umkopieren also … und dann haben wir das Material nach Paris geschickt, sind dort ins Kino gegangen und haben gesagt: ‚So, Michael, schau dir das an.‘ Dann hat er gesagt: ‚Nocheinmal, ich hab’s nicht gesehen.‘ Dann nocheinmal, ein drittes Mal, ein viertes Mal und schließlich hat er gesagt: ‚Naja, wenn ich’s nicht seh, sehen’s die anderen nicht.‘ – Gott sei Dank gibt’s eine gewisse Egomanie, nicht? [lacht] Aber ernstlich: Sony hatte einen Chipfehler. Ich kenne einen Ingenieur von Sony, den hab ich dann angerufen und gesagt: ‚Sagt’s einmal …‘ Und die haben gesagt: ‚Ja, da sind wir vor zwei Jahren draufgekommen, wir finden den Fehler nicht. Da ist irgendein Chipfehler; im Fernsehen sieht man das nicht.‘ Sag ich: ‚Ja, aber auf der großen Leinwand …!‘ Sagt er: ‚Ja, aber dafür ist die Kamera ja nicht gedacht gewesen.‘ Also da sind wir vorbeigeschrammt, weil wir hätten den Film nicht fertig machen können, weil die Schauspieler nicht noch einmal vier Wochen Zeit

23 Ebd. 24 Die staatlich genehmigte Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger (AKM) bezeichnet jene Verwertungsgesellschaft, die in Österreich lizenzverwaltend die Sende- und Aufführungsrechte der Autoren, Komponisten und Verleger von musikalischen Werken vertritt, die bei ihr bzw. ausländischen Verwertungsgesellschaften Mitglied sind. 25 Information Veit Heiduschka, 30.07.2013.

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anschließend gehabt hätten und die Finanzierung wäre auch zusammengebrochen. Das ist das Risiko des Produzenten.“26

48. „S PECTATOR SPORT “, W ISSENSDISZIPLIN E FFEKT DER BREITEN R EZEPTION

UND DER

Die Sichtung von Caché impliziert – schon vom Titel des Films her – eine Bewusstheit über etwas Verborgenes. Mit der vielfach thematisierten Wirkung, den Zuseher zur Suche anzuregen, einer Suche nach Indizien selbst „dort, wo es keine gibt“ (Reisinger 2007: 23). Als „spectator sport“27 bezeichnet ein Beitrag in Sight&Sound das Resultat der Anregung. Wenngleich zu bemerken bleibt, dass Haneke der Dressurmaßnahme „Sport“ schon insofern abgeneigt ist, als ihm diese als „eine schöne Metapher für ein Leben in der kapitalistischen Gesellschaft“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 248) erscheint. – So zumindest kommentiert er das Schwimmtraining Pierrots in Caché stellvertretend für alle sportbezogenen Ereignisse in seinen Filmen. Ob nun sportlich oder unsportlich assoziiert, die Denk-, Bedeutungs- und Deutungsräume, die der Film eröffnet, sind – sehr alltäglich – unerschöpflich: „On peut y voir ce qu’on veut. C’est comme dans la réalité. On analyse des choses parce qu’on pense qu’elles vont donner ceci ou cela, mais, en fait, on ne sait jamais.“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 246-247) Nicht weniger beeindruckend sind die potentiellen Auslöser der Polysemie: Von Straßenschildern über Gebäudefassaden bis hinein in die Tiefen diverser Bücherregale – der Film strotzt nur so von beinahe unscheinbaren Inskriptionen, die – um erkannt zu werden – im zumeist weitwinkeligen Feld des Bildkaders überhaupt erst gesucht werden müssen. Und die, je nach Wissen (und Gewissen) des Betrachters, zu entsprechend verästelten Denkverzweigungen animieren. Oft liegen die Dinge unbewertet im Bild selbst. Das Kameraauge ist zwar selektiv, entbindet das Auge des Zusehers jedoch nicht seiner eigenen Selektionsarbeit: Dass der überwachte Protagonist etwa in der Rue des Iris wohnt, wie es uns das Straßenschild an der Fassade verrät, oder dass sein Sohn das Lycée Mallarmé in der Rue Pirandello besucht, sind Bruchteile der Entdeckung von Indizien, die dem Zuschauer auf seiner Suche bis in die Bücherregale hinein begegnen können: Der Krieg in einem wesentlich weiteren Sinne als dem kolonialen ist in dem so „franko-algerischen“ Narrativ – so vermeintlich verborgen er auch angelegt sein mag – thematisch referenziell inhärent. Eine Szene in Georges’ Büro etwa eröffnet Dimensionen des Zweiten Weltkriegs, weit über die Person Maurice Papon hinausgehend. Verlagert der genaue Beobachter den Blick auf die Figur von Georges hin zu den Dingen, die ihn umgeben, wird er Zeuge von in einem Regal aufgereihten Büchern, die allesamt in Relation zum Nationalsozialismus stehen.28 Wie Haneke mehrfach bekräftigt, ist Algerien

26 Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller. 27 Huber, Christoph. „Spectator sport“. In: Sight&Sound, Nr. 19/9, 2009, S. 92. 28 Unter den Requisiten: La grande histoire des Français sous l’occupation von Henri Amouroux, Le crime parfait von Laura Conti, Alexandre Vialattes Badonce et les Créatures und ein Werk von Georges Perec, dessen Titel nicht identifizierbar ist.

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nicht das erste Thema des Films; es sei ihm vielmehr um die Frage des Übergangs von privater in kollektive Schuld gegangen: „Solche schwarzen Flecken gibt es in jedem Land, in Österreich könnte man sagen, es gibt genug braune.“29 Der im Hintergrund der Wohnung des Ehepaars positionierte Fernsehapparat ist zudem ein Fenster auf den Inhalt dieser These: Euronews berichtet aus dem Irak, gefolgt von Stellungnahmen zum Abu-Ghraib-Skandal, ein weiterer Ausschnitt zeigt gewaltsame Auseinandersetzungen im Zuge des Israel-Palästina-Konflikts. Mit anderen Worten: „‚Caché is and is not about the events that occurred in Paris in October 17, 1961 […].‘ Haneke’s film […] puts in play the complex relationship of memory, forgetting, and guilt that revives the after-effects of those events and lifts them into a modernist aesthetic that offers new readings of the political present, itself already half-forgotten, its relationship to its past only obliquely remembered.“ (Crowley 2010: 267, 277)

Darüber hinaus wird beim Zuseher das Vertrauen in die Bilder infragegestellt, um nicht zu sagen erschüttert: In den Videobildern materialisiere sich „die Wiederkehr des Historischen als akusmatischer Blick auf ein Subjekt, dass [sic!] sich seiner politischen Geschichte zu entledigen versucht.“ (Lie 2005: 65) Caché ist Hanekes erste digitale Produktion; gedreht wurde mit einer High-Definition-Kamera, die „Kinobilder“ und die „Videobilder im Film“ haben dieselbe Textur, sind folglich – auch technisch – nicht unterscheidbar. Die Unsicherheit und das Unwissen, das die Erzählung – schon vom Titel her sowie letztlich über Inhalt und Form, Dramaturgie und Technik zugleich – generiert, hat beim Zuseher den Effekt einer Kompensation durch Wissen: „Our interpretation of what we see depends on what we know.“ (Wheatley 2011: 85) Deutlich wird dies etwa hinsichtlich der literarischen Fernsehsendung, die Georges moderiert. Unter den geladenen und diskutierenden Gästen sitzt mit Mazarine Pingeot eine Frau, die nur Zusehern mit entsprechendem politisch-kulturellen Wissen als diejenige auffallen wird, die sie ist: die nichteheliche Tochter des ehemaligen Staatspräsidenten François Mitterand und seiner Geliebten Anne Pingeot nämlich, deren Existenz als eines der größeren Staatsgeheimnisse der Geschichte der Republik gilt. Mitterand hatte seine Tochter unter Mitwirkung des französischen Geheimdienstes zunächst regelrecht „versteckt“, eine offizielle Anerkennung der damals Zehnjährigen erfolgte erst 1984. Haneke hatte sie auf den Vorschlag seiner Produzentin, Margaret Ménégoz, hin in seinen Film integriert und damit den Referenzfundus zur versteckten Vergangenheit, aber auch zur Thematik der verschwommenen Grenzen von Öffentlichkeit und Privatheit erweitert: „Pingeot’s blink-and-you’ll-miss-it appearance may be a very culturally specific reference to the hidden past, one which viewers outside France are unlikely to pick up on. But it is nonetheless a poignant evocation of the painful intersection between the political and the personal.“ (Wheatley 2011: 68) „From Rue Morgue to Rue des Iris“ lautet etwa der elaborierte Titel eines im Filmmagazin Screen erschienenen Artikels, der über den Umweg des Kriminalgenres – die Autorin bedient sich Edgar Allan Poes Erzählung The Murders in the Rue Morgue und greift damit gleichsam die kanonisch als Gründungstext geltende 29 Haneke im Interview. Kamalzadeh, Dominik. „Die Angst und das schlechte Gewissen“. In: Der Standard, 16.11.2005.

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Erzählung des Genres auf30 – zu einer ähnlichen Konklusion gelangt: „The technology of filmmaking itself – the inhuman technology of spectacle making – asks us to investigate through surfaces something which ultimately has no depth, but is rather propelled on the level of the signifier to guard against the knowledge of the source of the secret.“31 Über Caché sehen wir uns schließlich mit einem polar konfrontiert, der – gemessen an den Konventionen, die weitgehend unerfüllt bleiben – keiner ist: das „Verbrechen“ kennt keinen „Täter“, die Rätsel des whodunnit und whydunnit bleiben mangels einer beweiskräftigen Identifizierbarkeit ungelöst. Zudem weigert sich die mit der französischen Polizei besetzte Ermittlerinstanz (und das aus einer postkolonialen Perspektive heraus betrachtet bezeichnenderweise), dem Fall und seiner Ursache nachzugehen. Dennoch spielt der Film, wie es die Presse verbreitet, mit der Logik des Genres: „Caché déroule une logique de polar infernal, pour cueillir le spectateur au moment où il ne s’y attend plus, un plan bref, qui glace le sang dans les veines, filmé par une caméra de cinéma, truqué donc, et heureusement, mais aussi enregistré par un de ces appareils devenus aujourd’hui courants, et là cela semble vrai, même si l’on sait que ça ne l’est pas.“32

Haneke bezeichnet seinen Film zum Kinostart als Genre-Parodie: „Moi, j’utilise le polar pour évoquer une réalité bien plus irritante et dérangeante, pour parler de choses sérieuses, comme la culpabilité.“33 Das Genre des Kriminalfilms erfährt seine reflexive Verhandlung im Film selbst: Auf den Vorschlag Annes hin, in der Sache mit den Video-Bändern einen Detektiv zu konsultieren, kontert Georges, sie hätte zu viele polars im Fernsehen gesehen. Der film policier wie auch der roman policier – eine Erfindung des 19. Jahrhunderts – haben die anerkannte Funktion, populär zu sein. Sie fallen also in die Rubrik „Unterhaltung“. – Respektive der Sonderstellung freilich, die das Medium Film als Kunstform (als film d’art) in Frankreich beansprucht und von der der film policier nicht unberührt ist, denn die Mehrzahl der innerhalb der nationalen Filmproduktion namhaften Regisseure hat, von der Nouvelle Vague bis heute, einen film policier gedreht. Autorenvertreterschaft hat immer schon mit dem Mainstream kokettiert. Übertragen auf den Fall „Haneke“ lässt sich folglich anführen, dass sich – um seriöse Inhalte zu verbreiten – der Regisseur hier eines kommerziellen und damit eines breitenwirksamen Genres bedient. Nicht umsonst kommentiert Daniel Auteuil den Film folgendermaßen: „Caché est un Haneke plutôt grand public, très très fort, formé d’éléments que tout le monde connaît. D’une certaine manière, c’est un polar.“34

30 Zu Vor- und Frühgeschichte von roman und film policier als „Produkte einer historischen Moderne“ vgl. Borek 2009. 31 Khanna, Ranjana. „From Rue Morgue to Rue des Iris“. In: Screen, Nr. 48/2, 2007, S. 237244. 32 Mérigeau, Pascal. „De toutes les couleurs“. In: Le Nouvel Observateur, 06.10.2005. 33 Campion, Alexis. „Comme un coup de couteau“. In: Le Journal du Dimanche, 02.10.2005. 34 Daniel Auteuil im Interview. Riou, Alain. „Le festival d’Auteuil“. In: Le Nouvel Observateur, 12.05.2005.

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Die Genre-Parodie in ihrer eigenwilligen Logik von suspense umfasst freilich auch Thriller-Anleihen – „Surveiller et punir“ laute das Dispositiv, das Le Figaro in Anlehnung an Foucaults gleichnamige Repressionshypothese (Foucault 1975) als dem „thriller-pycho-politique“35 grundlegend erkennt. Die Argumentation, die sich wohl auch erheblich aus dem Trailer zum Film speist, der sich, dem Film sehr gegensätzlich, durch eine äußerst hohe Schnittfrequenz und eine entsprechende SoundÄsthetik auszeichnet, ist nicht zuletzt auch einer der Ausdrücke des erstaunlich weitläufigen Pop-Diskurses, dem Caché schließlich anheimfällt: Ausgehend von den sich aufdrängenden inhaltlichen Parallelen zu David Lynchs Lost Highway (1997) wird der Film vom Spezialbeitrag auf dem österreichischen Jugendkulturradiosender FM4 bis hinein in die Tiefen diverser einschlägiger Blogs und Diskussionsforen (etwa des Rolling Stone Magazine) verhandelt. Ein Diskurs, aus dem sich die auteur-Persona jedoch nicht lösen lässt. So lässt sich stellvertretend etwa das nicht gänzlich vorbehaltsfreie Empfehlungsnarrativ von Les Inrockuptibles anführen, das Haneke auch mit David Cronenberg relationiert: „D’un film lynchéen, on passe alors à un mélange étrange entre le dernier Cronenberg, A History of Violence (retour du refoulé), et une allégorie simpliste sur la fracture (voire la facture) postcoloniale. Le côté pédago-rigide d’Haneke réapparaît ainsi en dernière instance et c’est dommage, non pas que ce qu’il dit sur le passé qui ne passe pas ne soit pas juste, mais il s’inscrit trop dans un ordre de la faute et de la punition. Il est d’ailleurs instructif de comparer ce film au Cronenberg pour s’apercevoir que, sur un sujet voisin, le Canadien se montre plus modeste, moins culpabilisant, plus cinéaste, moins Auteur, et livre un meilleur film. Mais malgré ses scories historico-didactiques, Caché mérite amplement d’être vu.“36

In der Tat ist der Film „autorenfilmhafter“ als es der Trailer vermuten lassen mag, u.a. deutlich weniger rasant geschnitten als sein Köder und kommt – Hanekes deklariertem Verständnis von Realismus im Film entsprechend – ohne tendenziösen Sound-Effekt und vor allem gänzlich ohne Musik aus. So ohrenfällig letztlich, dass einer der namhaftesten Filmmusikexperten, Michel Chion, nicht umhin kommt, dem Film einen reflexiven Beitrag beizumessen: „Without Music: On Caché“, so der Titel des Beitrags, in dem Chion sinngemäß konstatiert: „In this sense, the world of Caché is not our world; or rather, it is our world except that one crucial aspect has been voluntarily removed from it. […] films that do not offer such sounds ‚sound‘ different to us.“ (Chion 2010: 161) Der mainstreamnahen Gewohnheit einer poetischen Logik von Rhythmus und Musikeinsatz stelle Haneke mit seinem Film eine prosaische entgegen und erreiche damit den Eindruck einer unausweichlichen Realität: „Caché’s world is entirely in ‚prose‘, and we can glimpse nothing that would allow us to flee from its inescapable reality, where all actions have consequences.“ (Chion 2010: 165) Es ist, wie zu ergänzen bleibt, die Realität eines Kinos, das in seiner Realität stets Gegenstand der Reflexion ist.

35 Tranchant, Marie-Noëlle. „Brillamment manipulateur“. In: Le Figaro, 05.10.2005. 36 Kaganski, Serge. „parano mais presque“. In: Les Inrockuptibles, 05.10.2005.

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47. R EFUGIUM K INO

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UND MEHR ALS DAS

„On sort nécessairement un peu frustré de ce film à apparence de whodunnit où l’on ne glane pas d’indices définitifs sur l’auteur de la machination dont est victime le personnage principal (il y en a quand même un, mais il faut être très attentif pour l’apercevoir !) Frustré mais content, car Haneke nous offre un beau moment de pur cinéma avec ce film sobre et dépouillé qui nous parle de l’incommunicabilité et de la culpabilité. Rien de ‚prémâché‘ dans ce film en pointillé qui laisse au spectateur la liberté de remplir les blancs du récit à sa guise, ce qui est finalement une élégante manière de le traiter en adulte intelligent.“ (Lamy 2010: 203)

Mit diesem notgedrungen ambivalenten Verweis resümiert der laroussesche Dictionnaire des Films ein – empirisch nachvollziehbares – Wirkungspotential von Caché. So „pur“ das Kinoerlebnis hier beschrieben wird, so heterogen ist Kino als Komplex im hanekeschen Werk angelegt: als selbstreflexive, künstlerische Ausdrucksform, als denunzierte Distraktionsmaschine (in beiden Fällen Raum der Manipulation) und nicht zuletzt auch als Zufluchtsort. Denn was tut Georges, vor dessen Augen sich ein Mensch (möglicherweise seinetwegen) umgebracht hat? – Er nimmt die vielzitierten zwei Schlaftabletten und geht ins Bett. Doch im – weit weniger häufig erwähnten – Intervall dazwischen geht er ins Kino. Haneke schickt seinen naturgemäß und merklich unter Schock stehenden Protagonisten ins Kino. Und bevor ihn unser Auge in der halbminütigen, statischen Totaleinstellung noch erblicken kann, sind wir mit dem Eingangsbereich des Pariser Filmtheaters konfrontiert. Der Name des Kinos ist nicht ersichtlich, es könnte jedes sein. Die sechs Filmreklametafeln, die es als solches überhaupt erkennen lassen, sind das erste, was wir nach dem blutigen Selbstmord des Arabers zu sehen bekommen. Bis man den (von Beginn der Einstellung an im Bild vorhandenen, jedoch zunächst hinter der Glastür verborgenen) Georges erspäht, kann kaum eine direkte Verbindung zum bis dahin erfolgten Handlungsverlauf ausgemacht werden. Bis der Protagonist schließlich zögerlich und unentschlossen den Ort verlässt, sehen wir uns mit sechs Filmplakaten konfrontiert – darunter, neben einer dem Haneke-versierten Seher hervorstechenden Isabelle Huppert in Christophe Honorés Ma mère (2004), ironischerweise die Reklamen für Deux Frères (Jean-Jacques Annaud, 2004), La Mala Educación (Pedro Almodóvar, 2004), La Grande Séduction (Jean-François Pouliot, 2003), Mariages! (Valérie Guignabodet, 2003) und Les Choristes (Christophe Barratier, 2003). Ob man diese nun als indizienhaft, als metonymisch oder schlicht als vorhanden erachten mag; sie ontologisch, metaphorisch oder psychologisch motiviert denkt, eines sind sie in jedem Fall: Sie sind vorhanden und unbestreitbar Repräsentanten einer Filmkultur, die im Gesamtwerk Hanekes – vom ersten bis zum vorläufig letzten Film – stets vorrätig ist. Sie ist intrinsischer Bestandteil einer Zivilisation in der Krise, die mit Wolfzeit (2000) eine ihrer umfassendsten inszenatorischen Ausprägungen erfährt.

7. Wolfzeit: Ein Apokalypsenszenarium

„Nous, Occidentaux vivant dans des pays riches, nous voyons toujours les situations humaines les plus catastrophiques à travers un écran de télévision. L’Irak, la Yougoslavie … C’est loin. En regardant les informations, on croit comprendre ce que vivent les gens dans ces conditions extrêmes, mais en réalité ça ne nous touche pas. C’est hors de notre expérience. Avec Le Temps du Loup, je voulais essayer de comprendre émotionnellement ce que cela signifie d’être dans une telle situation. Il ne faut pas oublier que plus de la moitié de l’humanité vit dans des conditions pires que celles que je décris dans le film.“1

Mit diesen Worten richtet sich Haneke anlässlich des französischen Kinostarts von Wolfzeit gegen die ihm zufolge missverständnisbehaftete Rezeption seiner Filme, um einmal mehr zu betonen, dass ihm schlicht an der Visualisierung der Auswirkungen von Krise, nicht aber an der Erklärung ihres Zustandekommens gelegen ist. In der Tat verhält sich kein Film des Regisseurs in dieser Angelegenheit deutlicher als Wolfzeit/Le temps du loup (F, A, GER; 2003) – ein veritables Postapokalypsenszenario. Mit Einsetzen des Films ist die Krise unversehens Zustand: Als Anne und Georges Laurent (Isabelle Huppert und Daniel Duval) mit ihren beiden Kindern Eva (Anaïs Demoustier) und Ben (Lucas Biscombe) bei ihrem Landhaus ankommen, ist es bereits von einer fremden Familie besetzt. Sie verlangen nach der Herausgabe ihrer Vorräte. Georges schlägt noch vor, man könne das Haus doch gemeinsam bewohnen, beide Familien, ehe ihn der fremde Familienvater erschießt. Anne und ihre beiden Kinder irren fortan durch eine nicht näher definierte Gegend, auf der Suche nach Zivilisation und dem Weg zurück in die Stadt. Ihr Parcours durch Wald, Felder und Brachland ist ein Überlebenskampf, ausgetragen in einer Gegend, deren Grade der Verwüstung von Filmminute zu Filmminute offenkundiger werden: Es gibt kaum mehr Wasser, geschweige denn künstliches Licht. Die Scheune, die der Familie zunächst als Zufluchtsort dient, verbrennt – das Feuer, das zur Orientierung in der (auch für den Zuseher frappanten) Dunkelheit mit Mühe durch Heu genährt werden musste, war außer Kontrolle geraten. Die wenigen Menschen, denen die Familie begegnet, sind zu helfen nicht gewillt. Gemeinsam mit einem misstrauischen jungen Ausreißer, der sich ihnen anschließt (Hakim Taleb), gelangen Anne, Eva und der über Nacht

1

Haneke im Interview. Marvier, Marie. „L’Apocalypse selon Michael“. In: Synopsis, Nr. 27, September-Oktober 2003, S. 68-69.

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verschwundene, schließlich aber wieder zurückgekehrte Ben schließlich zu einem verlassenen Bahnhofsgelände, an dem sich eine Horde von Überlebenden unterschiedlichster Herkunft in immer größer werdender Zahl unter Lebensmittelknappheit so gut es geht organisiert: Der Empfang ist wenig herzlich, der Überlebenskampf aller Anwesenden hinterlässt seine Spuren im aggressiven Verhalten, das man einander notgedrungen entgegenbringt. Ein Wasserverkäufer, der die Horde nicht zu versorgen imstande ist, sorgt für verschärften Unmut. Eva schreibt einen Brief an den toten Vater, um ihm die Situation zu beschreiben. Die Gruppe wird sich – getrieben von der Hoffnung, den nächsten Zug an der Durchfahrt zu hindern – schließlich nahe der Bahngeleise niederlassen. Anne erkennt in einem der Männer den Mörder ihres Mannes wieder, kann den Mord jedoch nicht beweisen. Der Mann, der sich zwischen die beiden Familien stellt, ist unfähig, zwischen Opfer (Anne und ihre Kinder) und Täter (der Mörder von Georges, seine Frau und Kinder) klar Stellung zu beziehen: Man könne angesichts der Situation nur versuchen, die Panik halbwegs unter Kontrolle zu halten. Mehr sei nicht drinnen. Die Situation spitzt sich zu. Ein junges Mädchen nimmt sich das Leben. Ben, der von einem Unbekannten über menschliche Opfer unterrichtet wird – ein Mythos von 36 Gerechten, die sich nackt verbrennen, um die Menschheit zu retten –, möchte sich in einem nächtlichen Versuch selbst richten. Als er sich auf den Geleisen nackt auf ein Feuer zubewegt, hält ihn ein Mann davon ab, nimmt ihn in den Arm und tröstet ihn. Aus einem Zugfenster betrachtet, zieht schließlich, in einer letzten Einstellung, die entvölkerte Landschaft vorüber. Entlang der Vektoren von Ordnung, Verteidigung, Angstbekämpfung und Beziehung stellt sich die Frage nach dem (moralischen) Verhalten von Menschen im Ausnahmezustand an ihren personifizierten, ambivalenten Antworten. Selbsternannter Ordnungshüter der Flüchtlinge etwa ist ein gewisser Koslowski (Olivier Gourmet), der zwar von manchen als Auserwählter Gottes betrachtet wird, in seinem Bemühen um Ordnung jedoch fragwürdig bleibt – schließlich nützt er seine durch den Besitz eines Revolvers legitimierte Macht aus, um Schrecken zu verbreiten. Ein anderer wiederum (Patrice Chéreau) sorgt sich unablässig um die Frage nach Gesetz und danach, was davon noch übrig bleibt; gleichzeitig untersagt er seiner malträtierten Frau (Béatrice Dalle) cholerisch die Rede. Eine Frau (Brigitte Roüan) erfindet eine Transzendenzgeschichte, um die Angst zu bewältigen, allein sie hilft damit – außer sich selbst – niemandem. Ein Geschäftsmann tauscht die letzten Wasservorräte gegen das verbliebene Hab und Gut – Uhren, Feuerzeuge, Schmuck – seiner Kumpanen, er steckt jedoch mit den Tyrannen unter einer Decke. Die Verteidigung des Eigenen geschieht stets auf Kosten anderer, wie es schon die Eingangssequenz in aller Deutlichkeit vor Augen führt. Mit Wolfzeit liefert Haneke eine Studie menschlichen Verhaltens in einer unbekannten Zeit, infolge einer unbestimmten Katastrophe, deren Gründe bis zuletzt unbekannt bleiben: „Je voulais éviter qu’il y ait une raison trop identifiée. Dans les ‚films catastrophe‘, le public se penche sur la catastrophe et cherche à résoudre les sources. Moi je voulais juste en regarder les effets. Montrer ce qui s’est passé ne m’intéressait pas. Une guerre, une catastrophe nucléaire … Cela m’est égal. C’est en restant imprécis que je peux provoquer l’identification du public aux personnages. Si je donne trop d’éléments, le spectateur ne se sentira plus concerné. Il aura le

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sentiment que ‚cela n’arrive qu’aux autres‘. Dès qu’on est trop précis au cinéma, on permet au spectateur de s’enfuir.“2

Mit der exklusiven Verschiebung des Narrativs weg von der Ursache hin zur Wirkung berührt der Film umso insistenter die Frage nach dem Demokratischen in dieser Welt. Mancher Ansicht nach geht er dabei soweit, dass er „die inakzeptable, lächerliche oder nutzlose Dimension aller Lösungsversuche [unterstreicht]“. Die „Kartographie der Ethik angesichts der Frage des Überlebens“ ist in zeitlosen, häufig unterbelichteten Bildern organisiert und ermögliche dadurch, „die Katastrophen von Auschwitz bis heute zu rekapitulieren, d.h. bis herauf in eine vergiftete Zeit, in der man weniger Getreide als Landminen sät, wie es uns einer der Statisten ins Gedächtnis ruft, wenn er in seine Beinprothese schlüpft“3.

46. D ISMISSED : 9/11, DIE L ABILITÄT DES W ESTENS , EINE P RODUZENTIN UND EIN G ESETZESHÜTER ALS J URY -P RÄSIDENT

NEUE

Wolfzeit ist nicht nur die offenkundigste Manifestation eines „Krisenkinos“ im Werk Hanekes, der Film ist gleichzeitig auch ein schonungsloser Spiegel des besagten Kinos in der Krise: Das Drehbuch hatte Haneke schon ein Jahrzehnt zuvor verfasst, allein die Produktionskosten waren nicht zu decken, der potentielle Film zu teuer. Wären die Anschläge von 9/11 nicht gewesen, hätte es den Film eventuell nicht gegeben bzw. wäre ohne die „seltsame Aktualität“ (Haneke), die diesem Drehbuch ein Jahrzehnt später zugekommen war, eine Finanzierung nicht möglich gewesen. Zur selben Zeit der Genese von Wolfzeit hatte Haneke an einer futuristischen Fernsehserie in zehn Episoden, Kelwin’s Book, gearbeitet, die letztlich nicht produziert worden war. Das Genre der Science-Fiction habe ihn stets interessiert, aufgrund der Möglichkeit, alltägliche Probleme über Extremsituationen anklingen zu lassen: „C’est ce que j’ai fait avec Le Temps du Loup, où j’essaie de montrer la situation dans laquelle nous nous trouvons aujourd’hui. Nous sommes au bord de l’abîme, abîme dont nous ignorons souvent l’existence.“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 230) Es ist der erste Film, den Haneke in Zusammenarbeit mit der 1962 inmitten der Nouvelle Vague von Barbet Schroeder und Éric Rohmer gegründeten und seit 1975 von Margaret Ménégoz geführten französischen Produktionsfirma Les Films du Losange realisiert. Nachdem es zwischen Haneke und Marin Karmitz, dem für Code inconnu und Die Klavierspielerin zuständigen französischen Koproduzenten der Firma MK2, zu Unstimmigkeiten gekommen war, hatte Haneke seinem Agenten ein Produzentencasting aufgetragen, im Zuge dessen er auf Margaret Ménégoz getroffen

2 3

Haneke im Interview. Marvier, Marie. „L’Apocalypse selon Michael“. In: Synopsis, Nr. 27, September-Oktober 2003, S. 69. Brenez, Nicole; Baudry, Antonin. „Die Rehabilitierung des Wolfes“. In: kolik.film, Sonderheft 1/2004, S. 20.

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war. Die Produzentin erinnert sich an die Anfänge einer inzwischen dauerhaft erfolgreichen Kooperation: „Il a fait un casting de producteurs, on s’est vus, on s’est assis, on a commencé à parler travail et il m’a dit à la fin de la discussion : ‚Peut-être que nous pourrons travailler ensemble.‘ – Parce qu’on s’est aperçus qu’on attachait la même importance à une longue, minutieuse préparation, on n’avait pas peur, moi de dépenser de l’argent et lui de fournir le travail pour sérieusement préparer le film et pas vite fait comme ça. Parce que je sais par expérience que quand on ne fait pas une telle préparation, le film coûte trois fois plus cher après.“4

Ménégoz kannte das Drehbuch von Wolfzeit schon Jahre zuvor; es gab zwei Produktionsversuche in Österreich, die beide gescheitert waren: es war ihr zufolge zu lang, der Film mit etwa drei Stunden bemessen, was der Finanzierung nicht unbedingt förderlich gewesen war. Ursprünglich fiel die Entscheidung zwischen Haneke und seiner neuen Produzentin zunächst dahingehend, Caché zu realisieren, dessen Finanzierung Alain Sarde nicht zustande gebracht hatte. Doch die Anschläge vom 11. September 2001 zwingen Haneke zur Umkehr: Er möchte zunächst Wolfzeit drehen. Ménégoz folgt ihm entgegen ihrer Skepsis hinsichtlich der Rentabilität des Films in dieser Entscheidung – eine wesentliche Vertrauensgeste, waren ihr dabei schließlich sämtliche Produktionspartner abhanden gekommen: „Et puis est arrivé le 11 septembre 2001 – et il m’a appelée – en fait on avait décidé de faire Caché – en me disant: ‚Écoute, je vais abandonner Caché et je vais faire Le Temps du Loup. Est-ce que je peux te l’envoyer pour que tu le lises ?‘ En ouvrant le scénario, je me suis aperçue qu’un avocat autrichien me l’avait envoyé 5 ans auparavant et je lui ai dit oui parce que je trouve – j’ai perdu tous mes partenaires, le Studio Canal et tous ces gens ! – parce que je trouve qu’en tant que producteur, le lien de longue durée est très, très important parce que c’est un système de confiance mutuelle. Il faut que l’auteur me fasse confiance et il faut que moi j’aie confiance en l’auteur. Et la confiance ça se commande pas, ça se gagne, tous les jours. Et il m’a dit : ‚Je suis en train d’écrire une histoire nombrilique qui s’appelle Caché et je … voilà, tu as vu les tours à New York, je ne peux pas continuer comme ça, je voudrais que tu regardes ce scénario.‘ Donc j’ai regardé Le Temps du Loup. Trop long. Il a coupé et donc je suis partie sans partenaires à part la coproduction de Wega, parce que ça ne les intéressait pas. Ce qui les intéressait, c’était deux stars françaises dans un film de Haneke, mais cette histoire de … enfin après la bombe atomique ou après une quelconque catastrophe chimique, n’importe quoi, ça ne les intéressait pas. Donc je suis repartie, sachant que je pouvais coproduire le film avec Wega, que j’avais un partenaire au moins et donc on a fait ce film et on a décidé de faire Caché tout de suite après. Donc la fidélité c’est vraiment très important et on ne peut pas picorer chez un auteur en disant ‚ça, je veux bien le faire, ça me plaît ; ça, ton autre scénario là, tu peux te le garder, va voir ailleurs‘ – ce n’est pas possible. Quand on s’engage avec quelqu’un, il faut s’engager sur un long parcours. Aussi long que possible.“5

4 5

Gespräch mit Margaret Ménégoz, geführt in Paris am 12.12.2012 (Les Films du Losange). Interview: Katharina Müller. Ebd.

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Ménégoz erinnert sich an einen von Kürzungen bestimmten Produktionsverlauf: Haneke hatte den gesamten ersten Teil des Drehbuchs weggelassen, um schließlich bei der Ankunft der Familie am Landhaus anzusetzen. Mit dieser Szene führt Haneke den Zuschauer, wie er nachträglich hinsichtlich der Titelmetaphorik seines Films betont, ins Herz jenes animalischen Verhaltens, das der Ausnahmezustand seines Erachtens im Menschen hervorrufe: „Cette ouverture me permet de montrer comment nous retrouvons la dimension animale qui sommeille en nous, quand nous devons nous défendre pour survivre. Dès que nos repères habituels ont disparu, nous n’avons pas besoin de grand-chose pour basculer. C’est ce que raconte, dans le film d’animation Valse avec Bachir, le jeune homme qui, parti à la guerre à dix-sept ans, s’est rapidement rendu compte que, s’il ne tirait pas le premier, il serait abattu. C’est ce qui explique le comportement du squatter au début de mon film. Et c’est ainsi qu’on arrive … au temps du loup ! Le titre est une citation de l’Edda, cet ensemble de poèmes épiques sur la mythologie scandinave réunis dans un manuscrit islandais, le Codex Regius, où l’on peut lire la prophétie d’une voyante qui décrit le temps qui précède la fin du monde, le ‚Ragnarök‘: Temps du vent, temps du loup, personne ne veut plus ménager personne …“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012 : 231)

Zudem musste eine nicht unerhebliche Zahl an im Drehbuch vorgesehenen Szenen herausgeschnitten werden, da das Spiel mehrerer Darsteller nicht zufriedenstellend gewesen war. Von der Figur des Rasierklingenschluckers – ein Laiendarsteller, den Haneke an der Croisette entdeckt hatte und der mit seiner Rolle nicht zurechtgekommen war – über die Figur eines Darstellers, der schlecht gespielt hatte bis hin zu einem weiteren, der seinen Text verfehlte: die Genese des Films geht mit einer Reihe von Fehlcastings einher, deren Ausmerzung mittels Schnitt zu einem beträchtlichen Intensitätsverlust geführt hatte, wie Ménégoz erinnert: „Le Temps du Loup est le seul film à mes yeux (c’est assez subjectif!) pas complètement réussi de Michael Haneke. En fait parce qu’il y avait des mis-castings, il y avait quelques rôles qui n’étaient pas occupés par les acteurs idéals, disons. Et donc, comme c’est un perfectionniste, il a coupé dans le film ces scènes-là. Et donc le récit était devenu beaucoup moins touchant. Par exemple le viol de la jeune fille, quand la femme la porte, quand elle se suicide et que Rona [Rona Harnter; K.M.] rentre dans cette pièce avec la fille dans les bras : on a dû couper la réaction de Rona parce qu’elle ne jouait pas bien. Ca a enlevé beaucoup d’émotion. On le sait tous les deux que c’est le film le moins réussi à mon sens de tous les films qu’il a faits. Mais ça nous a pas empêchés de continuer, d’enchaîner sur Caché.“6

Auch die im Drehbuch ursprünglich vorgesehene und gedrehte Schlussszene hatte Haneke nicht zufrieden gestellt: Die Gemeinschaft der rund 200 am Bahnhofsgelände angesiedelten Personen sollte sich zunächst kollektiv auf den Weg machen. Unzufrieden mit dieser inszenatorischen Lösung wendet sich Haneke schließlich an Alexander Horwath, um ihm von dem Problem zu erzählen. Horwath meint, der Film verlange nach Bewegung, woraufhin Haneke in Erinnerung an Jean-Marie Straubs und Danièle Huillets Kafka-Adaption Klassenverhältnisse (1984) beschließt, die Perspek6

Ebd.

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tive auf die Landschaft aus dem Fenster eines fahrenden Zugs zu richten – jene installationshafte Einstellung, mit der der Film schließlich endet. (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 232) Im Mai 2003 läuft der Film in Cannes außer Konkurrenz, in der Reihe Hors Compétition, da mit Patrice Chéreau einer der Darsteller den Vorsitz der FestivalJury hat. Die Mehrzahl der anwesenden Regisseure zeigt sich in ihrem Schaffen von den Terror- und Barbarei-Akten der jüngeren Vergangenheit beeinflusst, entsprechend zivilisationskritisch sind die entlang der Entstehungsachse von Nordamerika bis Europa präsentierten Filme: Was Denys Arcand mit seiner Tragikomödie Les Invasions Barbares metaphorisch vorführt, Lars von Trier über die Ausbeutung des hilfsbedürftigen Indiviuums durch eine gnadenlose Gesellschaft in Dogville minimalistisch organisiert und André Téchiné mit seinem Nazi-Invasionsdrama Les Égarés historisch angeht, bringt Gus Van Sant mit seinem frei auf den Amoklauf an der Columbine High School 1999 bezogenen Drama Elephant schließlich siegreich (Goldene Palme) auf den Punkt: die Labilität der Werte einer „westlichen“, (christlich-)demokratischen Welt, in ihren krisenhaftesten Zuständen. Einer simplen Erklärung für diese Zustände verweigern sich die meisten der präsentierten Filme, am radikalsten – neben Elephant – wohl Hanekes Wolfzeit. Unter der Schlagzeile eines „Malaise dans la civilisation“ versammeln die Cahiers du Cinéma den euroamerikanischen „Dialog einer brutalen Welt“ 7 und akkordieren Haneke neben von Trier die pessimistischste Perspektive. Der kritische Beifall, der mit Hanekes Filmen seit Beginn ihrer Verflochtenheit mit dem französisch-europäischen Produktionskontext in Verbindung zu bringen ist, erfährt mit Wolfzeit eine signifikante Unterbrechung. Die Grundhaltung, die die Weiten der internationalen Presselandschaft durchläuft, reicht von reserviert bis abgeneigt: Von den beiden führenden französischen Blättern – von den Cahiers8 wie von Positif9 – schroff abgelehnt, stößt der Film auch im angloamerikanischen Kontext auf Missbilligung: „must be judged a failure“10, erklärt Sight&Sound, während Film Comment etwas relativierter festhält, Wolfzeit sei „a movie of uncommon, hardworking intelligence, and its central failure – if indeed it is a failure – is an honorable one“11. Einer der zentralen Kritikpunkte betrifft die Beobachtung, dass Motive von Funny Games in diesem Film Widerhall fänden, nicht aber weiter elaboriert worden wären.12 Nichtsdestotrotz sei der Film humanistischer denn je und lege eine Relationierung mit den Geschehnissen nach 9/11 und dem Zweiten Golfkrieg nahe: „In the film’s extraordinary final moments, Haneke appears

7

Tesson, Charles. „Malaise dans la civilisation: Entre l’Europe et l’Amérique, le dialogue d’un monde brutal“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 580, Juni 2003, S. 48. 8 Chauvin, Jean-Sébastien. „Le temps du loup“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 583, Oktober 2003, S. 43-44. 9 Audé, Françoise. „Le temps du loup“. In: Positif, Nr. 512, Oktober 2003, S. 50-51. 10 Matthews, Peter. „Time of the Wolf“. In: Sight&Sound, Nr. 13/11, November 2003, S. 65. 11 Jones, Kent. „The End of the World as We Know It“. In: Film Comment, Nr. 39/4, JuliAugust 2003, S. 57. 12 Porton, Richard. „Festival de Cannes 2003“. In: Cineaste, Nr. 28/4, 2003, S. 52.

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to indicate that humans should believe in something, and that something is their untapped potential to divine grace“13, so Variety.

45. K ULTURPESSIMISMUS UND DIE K ETTE : V ERBREITEN UND DEN Z USCHAUER ACHTEN Bei der Betrachtung von Kino das Kulturelle vom Ökonomischen zu trennen, gleicht beinahe schon einer Fahrlässigkeit, die sich ein filmbezogener Empirismus wohl kaum leisten kann. Ebenso fehlerhaft erscheint es, von einer autonomen Distribution im Zusammenhang mit einer sich wandelnden Verwertungskette zu sprechen, als ließe sich diese vom Aufgabenbereich der Produktion trennen. In kaum einer Hinsicht scheiden sich die Ansätze von Kinotheorie und -praxis derart eklatant wie in der ökonomischen. Einleitend zu seinem maßgeblichen, seit 1994 mehrfach aufgelegten Band Économie du cinéma notiert etwa Laurent Creton einigermaßen pathetisch: „Les habituelles références à la ‚crise du cinéma‘ ont de faibles vertus explicatives tant les symptômes […] sont multiples et peu explicités. Pour le cinéma, la crise fait partie du jeu. Les déclarations passionnées participent de la constitution de ce monde, à la fois technicien et artistique, industriel et imaginaire. La réalité dépend largement de la croyance, et la crise se réalise pleinement dans la conscience de son existence. Au cœur de la conjonction des multiples dimensions qui le composent, le cinéma est un lieu d’extrême tension, un espace de projection. Projection de l’image sur l’écran, et projection de tous ceux qui, appartenant aux espaces de production et de réception, participent à la création cinématographique. Il doit supporter le poids de tous les regards, ou souvent leur absence, plus pesante encore.“ (Creton 2009 : 5)

Am Anfang von Kino steht, wie am Beginn eines jeden kulturellen Produktionsprozesses, eine in ökonomischer Praxis zu lokalisierende Mobilisierung: das Künstlerische verschmilzt, im Kino mehr als im Bereich beinahe jeder anderen Kulturproduktion, mit dem Ökonomischen und stellt die beteiligten Akteure im selben Maße, wie es mit den inhaltlichen Parametern des Was konfrontiert, vor praktische Fragen des Wie: Wie soll ein Film produziert, finanziert und schließlich distributiv verwertet werden, um schließlich zu seinem entscheidenden Existenzträger, dem Publikum, zu finden? Dass der Raum Kino nur mehr eine Teilrolle im Prozess der Verbreitung von Film spielt, ist hinlänglich bekannt. Was sich jedoch nicht geändert hat, ist die Tatsache, dass Kino – im Industriezeitalter gleich wie heute – an Reproduktionstechnologien und an die Aufteilung auf ein möglichst breites Publikum gebunden ist. Die zunehmend sich generalisierenden Gesetze von Produktivität seien weniger im Rahmen einer postindustriellen Gesellschaft als vielmehr in einem Handelsnetzwerk zu verorten, das seinerseits eine „hyperindustrielle Gesellschaft“ (Creton 2008: 16) hervorbringe, so Creton. Die „Hyperindustrialisierung“ ist dabei offensichtlich in einem solchen Maße fortgeschritten, dass selbst die ökonomischst sich wähnende Studie zum Kino den Kulturpessimismus schon als Leitmotiv in sich trägt:

13 Foundas, Scott. „Time of the Wolf“. In: Variety, 20.05.2003. In: http://www.variety.com/ review/VE1117920815/?refcatid=31 [20.12.2012]

194 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE „Le cinéma tend à perdre une part de son caractère sacré à mesure qu’il se banalise. L’inflation des images a submergé le merveilleux cinématographique et tend à le dissoudre. […] Le médiatique occupe une place impériale dans le monde contemporain, et les arts du spectacle, y compris le cinéma, leur forme la plus industrialisée, sont écrasés par cette domination. […] Le cinéma en tant qu’art peut difficilement trouver sa place, ou même survivre, face à une telle circulation surabondante.“ (Creton 2009: 20)

In der Betrachtung der technologischen Bedingungen der Gegenwart gänzlich konträr und keineswegs pessimistisch verhält sich – im Fall Haneke zumindest – die andere Seite. Produzent Heiduschka, Philosoph von akademischer Formation, verweist im Zusammenhang der Austauschbeziehung von Filmtheorie und -praxis auf ertragreiche Kooperationen, unterstreicht aber nicht ohne existentialistische Ironie: „Ich saß anfangs auch in der Jury beim Österreichischen Filminstitut, wir hatten den Herrn Schlemmer vom Institut für Filmtheorie [heute: Synema, Gesellschaft für Film und Medien; K.M.] und dessen Einsatz hat uns immer einen großen Impuls gegeben, weil man die Dinge dort von einer ganz anderen Seite angesehen hat. Manchmal, was Praxis anbelangt, konnte er nicht mitreden, aber von der Theorie her war das eine wunderbare Zusammenarbeit. Nur eines ist ganz klar: wenn wir nicht produzieren, könnt ihr alle einpacken, weil ohne neue Filme hört das auf. Deswegen: Produktion, Produktion, Produktion [lacht]. Man kann nicht philosophieren über etwas, das es nicht gibt.“14

Wenn hier ein Produzent zitiert wird, dann deshalb, weil dort, wo produziert wird, ein Verständnis von Filmproduktion vorausgesetzt ist, das prospektiv freilich schon mit der Verwertung der Filme verwoben ist. Entsprechend erfreut und vom Vorhaben dieser Chronik angetan empfängt mich auch Margaret Ménégoz in ihrem Büro der Films du Losange: „Ce que je trouve vraiment très bien, c’est de faire toute la chaîne qui peut faire qu’un film est visible, existe et rencontre son public – pas seulement l’auteur, pas seulement le producteur. Parce que le film le plus réussi, quand il n’a pas de distributeur, ou un mauvais distributeur, il peut … cela peut être un échec. Si les exploitants ne jouent pas le jeu – et on va entrer plus dans les détails en quoi ça consiste, le jeu – enfin le travail avec les exploitants et la vente internationale et la presse … enfin tout ça doit fonctionner pour qu’un film trouve ses spectateurs.“15

Die Films du Losange zählen zu jener Gruppe von Produktionsfirmen, deren Aufgabenbereich gleichzeitig auch die Distribution auf nationaler wie internationaler Ebene umfasst und alles andere als eine im weiteren Sinne lokalisierbare Größe ist. Entsprechend hält Ménégoz fest: „La production … c’est … quand on a fini un film, on a fait à peu près la moitié du travail. Alors que le film est parfaitement fini, l’autre moitié du travail c’est de l’approcher du public – et là rentrent le distribu14 Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller. 15 Gespräch mit Margaret Ménégoz, geführt in Paris am 12.12.2012 (Les Films du Losange). Interview: Katharina Müller.

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teur, le vendeur international, les exploitants et la presse. Et ça dans le monde entier.“16 Im Dickicht der inzwischen zahllosen und ortsunabhängigen Möglichkeiten, Filme zu sehen, nimmt der Projektionsraum Kino, so Ménégoz, immer noch eine zentrale Rolle ein. Der Erfolg oder Misserfolg, den ein Film in den Kinosälen verzeichnet, setzt gewissermaßen den Wert des Films im Rahmen seiner weiteren Auswertungsformen fest, die – wie die Säle selbst – aus der Sicht der Produzentin freilich eher eine existenzerleichternde Funktion für den Film erfüllen, schließlich sind sie – vom PC bis hin zum Tablet oder Smartphone – wertvolle Mediatoren im Dienste der Erreichbarkeit: „La consommation du film en salle de cinéma, évidemment, c’est la chose la plus importante parce que la visibilité qu’un film acquiert dans une salle de cinéma va déterminer sa valeur en DVD, en Blu-ray, va déterminer sa valeur en VOD, sur la Pay-TV, sur la Free-TV, sur tout ça. Mais un film qui n’est pas visible n’est pas un film, parce qu’un film existe quand il est projeté. Mais je ne fais pas de différence entre un spectateur en salle, un spectateur VOD, un spectateur Pay-TV ou Free-TV. Je ne fais pas de différence parce qu’un spectateur est un spectateur. Par contre ce à quoi il faut veiller, c’est qu’il y ait une rémunération de la production qui remonte de tous ces spectateurs de façon à ce qu’on ait les moyens de financer le prochain film.“17

Die Multiplikation der Verwertungsformen und -dispositive hat aus Produzentensicht bis dato weit weniger Schaden angerichtet als sie geholfen hat, schließlich hat sich mit ihr die Zahl der potentiellen Kooperationspartner erhöht, was wiederum die Finanzierung der Filme erheblich erleichtert habe: „Quand j’ai commencé à faire la production, il n’y avait pas de VHS ni de VOD ni de DVD, ni de Blu-ray, ni de Pay-TV, ni de télévision publique. On faisait les films pour la salle exclusivement. Et puis, petit à petit, ce système s’est démultiplié et c’est devenu beaucoup plus facile parce que si la salle était frileuse, on pouvait aller voir la télévision. Si la télévision était frileuse, on avait les DVD, enfin on avait un clavier beaucoup plus étendu pour le financement des films. Et en fait, le financement des films à partir des années quatre-vingt est devenu beaucoup plus facile parce qu’il y avait plus de possibilités. On ne dépendait pas que d’un seul mode d’exploitation. Et depuis ça n’a pas vraiment changé, si vous voulez. En tout cas en ce qui concerne le fait de réunir l’argent pour le film. Mais si vous voulez, en production, c’est à peu près dix pour cent de mon travail, de réunir l’argent, de le saisir : combien d’argent il faut, c’est écrit dans le scénario et nulle part ailleurs. Et donc il faut qu’on travaille beaucoup avec l’auteur pour comprendre en combien de temps il peut faire ce qu’il a écrit, quels sont les ingrédients desquels il a besoin, quels sont les acteurs, quels sont les techniciens, tout ça …“18

Die Digitalisierung von Kino hat den ökonomisch relevanten Effekt, dass erfolgreiche Filmtitel Teil einer – je nach Nation unterschiedlich ausdifferenzierten – Verwertungskette sind, die sich mit dem Aufkommen neuer Verwertungsformen stets neu modifiziert. In Frankreich als chronologie des médias geläufig, definiert sie – gesetzlich festgelegt – Reihenfolge und Zeitfenster der unterschiedlichen Verwertungen des 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd.

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Filmprodukts. Die Verwertungskette ist eine in den 1970er Jahren insbesondere zum Schutz der Auswertung von Film in den Kinosälen eingerichtete Maßnahme, deren Konkretion sich mit Aufkommen des Fernsehens, dem ersten Konkurrenzmedium schlechthin, anspinnt, da die drastische Multiplikation von Empfängergeräten in den Haushalten der 1960er Jahren eine erhebliche Senkung der Kinobesuchszahlen zur Folge hatte. In Frankreich beansprucht sie eine Exklusivität in der Abfolge und steht damit vor allem im Interesse der Produzenten, schließlich bestimmt sie die Investitionsbereitschaft der potentiellen Partner der Branche zur Kofinanzierung: „Ce n’est pas vraiment le gros souci de financer les films, particulièrement en France, parce qu’on s’est donné un mal de chien, nos pères et nous-mêmes, enfin les pères producteurs et les producteurs d’aujourd’hui : c’était d’organiser notre système en une succession d’exclusivités : les pays dans lesquels cela n’existe pas vraiment, c’est beaucoup plus difficile, parce qu’on a conscience que si vous mettez un film en même temps sur toute cette multiplication de supports possibles pour que le spectateur le voie, vous détruisez de l’intérieur le nombre de spectateurs potentiels. Donc nous avons une exclusivité très stricte pour la salle, ensuite nous avons au bout du quatrième mois : date de sortie en salles, quatre mois après : DVD et Blu-ray. VOD en même temps. Ensuite à partir du premier jour du dixième ou douzième mois la Pay-TV en exclusivité ; on ferme les fenêtres VOD à ce moment-là. Pendant que l’émetteur Pay-TV a le droit de diffuser le film, on arrête la diffusion du film en VOD. Ensuite la télévision publique à partir du premier jour du vingt-quatrième mois et on referme la fenêtre dès que la Pay-TV a fini de diffuser, on rouvre la fenêtre VOD et on la referme quand la télévision publique a le droit de diffuser, jusqu’à deux mois après la diffusion sur la télévision publique. De façon à se protéger, à avoir une claire exclusivité pour chaque mode d’exploitation, parce que pour le diffuseur, la seule chose qui vaut de l’argent, c’est l’exclusivité. Quand ils n’ont pas d’exclusivité, ils ne vont pas investir.“19

Die Rückwirkung der Kette auf die französische Filmproduktion ist – insbesondere aufgrund der Einrichtung einer zwingend exklusiven Ausstrahlungs- und Konsumtionsabfolge – eine beachtliche, sie spiegelt sich nicht nur in den vielfach zitierten einzigartigen Marktanteilsstatistiken, sondern auch in der Möglichkeit einer Qualitätsproduktion, für die Ménégoz nachdrücklich einsteht: „La hiérarchie des diffusions est très, très stricte, on ne peut pas l’outrepasser. C’est pour ça que l’on dit qu’il y a plus d’argent en France que dans n’importe quel autre pays européen. Ce n’est plus tout à fait vrai parce que les dumpings avec les taxes shelter, les crédits d’impôt, ça a un peu perverti le système ces deux dernières années, mais sinon c’est ça qui fait qu’on a les moyens – plus que dans n’importe quel autre pays européen – de produire et donc on peut faire de la production de qualité et donc on a réussi à garder une part de marché pour le film français autour de 40% ce qui est unique en Europe. C'est-à-dire qu’on est entre 40, 41, 42% et les Américains autour de 47, 48, 49% et puis ne restent qu’environ 9% pour tous les autres films au monde exploités en France.“20

19 Ebd. 20 Ebd.

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Nicht nur etabliert sich Haneke nach der Jahrtausendwende im Rahmen der französisch-nationalen Produktion, in Ménégoz und den Films du Losange findet er – nach den besagten Anlaufschwierigkeiten mit MK2 und Alain Sarde (beide beteiligt an Code inconnu und Die Klavierspielerin) – schließlich einen kongenialen Produktionspartner. Mit Wolfzeit (eigentlich: Caché) nimmt eine langfristige Zusammenarbeit ihren Lauf, mittels der er später die bekannten, zum damaligen Zeitpunkt jedoch noch ungeahnten, Erfolgshöhen erreichen wird.

8. Die Klavierspielerin: Vom Präzedenzfall zum Transzendenzfall

„[…] le cinéma n’est pas là pour nous faire comprendre quelque chose, mais pour nous le faire sentir. Il nous fait réfléchir, mais à un niveau sensuel.“1 Eine Frau rammt sich – aus dem Wiener Konzerthaus schreitend – ein Messer in die Schulter und verlässt geschwinden Schrittes den Bildkader. Zunächst sieht es aus, als nähme sie sich – wir wissen es nicht –, und das so selbst- wie fremdbestimmt, was ihr noch fehlt: das Leben. Blut sickert durch die dezente weiße Bluse aus ihrem Körper. Der gleichnamigen – von Haneke jedoch dezidiert modifizierten – Romanvorlage Elfriede Jelineks zufolge geht sie nach Hause. Dorthin, wo „Inquisitor und Erschießungskommando in einer Person, in Staat und Familie einstimmig als Mutter anerkannt“ (Jelinek 1983 [2008]: 7) ausnahmsweise einmal nicht wartet. Denn diese despotische Mutter (Annie Girardot) hat in Erwartung des Abschlusskonzertes der Musikhochschule im Konzerthaus Platz genommen. Zuviel Platz. Erika Kohut (Isabelle Huppert), die Professorin der Meisterklasse, die „eine überregionale Pianistin“ (Jelinek 1983 [2008]: 10) hätte werden können – allein „ein dilettantisches, unmusikalisches Schicksal hat sich den Gulda herausgegriffen und den Brendel, die Argerich und den Pollini u.a.“ (Jelinek 1983 [2008]: 30) – verlässt das Konzerthaus, sie geht, wir sehen nicht wohin, der Film endet. „[…] offering a rather enigmatic conclusion“ (Tweraser 2011: 196). Ihre Musterschülerin hätte sie vertreten und Schubert, ihre Spezialität, spielen sollen. Geprobt und einstudiert wurde – unter rigidbitterer Anweisung der Kohut – die Winterreise. „C’est le destin de chaque artiste: être sur un plateau, exposé au regard et au jugement des autres. Mais ce n’est pas mauvais. Tous ceux qui participent à une compétition espèrent être reconnus, sinon ce n’est pas la peine de venir“, beteuert Haneke 2001 in einem Interview für Télérama: „En tout cas, les festivals sont aujourd’hui la seule possibilité de maintenir vivant le cinéma comme forme d’art. Si les festivals de cinéma disparaissaient, l’invasion du goût télévisuel serait totale.“2

1 2

Michael Haneke im Interview. Unbekannt (Kürzel: Ph.P.). „Michael Haneke: ‚Je ne veux pas choquer‘“. In: Le Monde, 05.09.2001. Strauss, Frédéric. „Michael Haneke a encore secoué la Croisette avec ‚La Pianiste‘“. In: Télérama, 23.05.2001.

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Die Klavierspielerin (La Pianiste) verzeichnet beim Wettbewerb in Cannes 2001 drei Hauptpreise. Einmal für Isabelle Huppert, die Haneke maßgeblich in der Entscheidung, den Film zu drehen beeinflusst habe – er wolle sie oder keine, hatte er vor den Dreharbeiten betont. Dann auch für Benoît Magimel, der als Walter Klemmer den der Kohut verfallenen Schüler verkörpert und sich in dieser Rolle zur Verwunderung manchen Kritikers gegen eine darstellerisch äußerst ambitionierte Konkurrenz, darunter Michel Piccoli, Jack Nicholson und Billy Bob Thornton, durchsetzt. Und nicht zuletzt erhält der Film den Grand Prix, den Großen Preis der Jury. Vom „Präzedenzfall Klavierspielerin“ spricht Martin Schweighofer, der den Film in seiner Relation zum Wettbewerbsgeschehen von Cannes memoriert. Schließlich ändert Cannes im Anschluss an den Erfolg des Films seine Regeln für die Preisvergabe: fortan darf ein Film nur noch zwei Preise maximal erhalten. Dennoch, Die Klavierspielerin geht noch mit drei Preisen aus dem Bewerb, und mit ihr ein Film, dessen Aufnahme in den Bewerb alles andere als reibungslos verlaufen ist: Eine „Zitterpartie“3 war es, wie Martin Schweighofer in einer Sonderausgabe zu den Aktivitäten der Austrian Film Commission (AFC) betont, denn das Komitee von Cannes hatte den Film – wider Erwarten – nach einer ersten Sichtung im Februar abgelehnt. Eine Entscheidung über die Einladung erfolgte im letzten Moment, nachdem der Film – inzwischen in einer überarbeiteten Version – zwei Tage vor der Programmpressekonferenz in Cannes gesichtet wurde. In der Zwischenzeit – und das buchstäblich rechtzeitig – waren bereits Vorverhandlungen mit den Festspielen von Venedig geführt worden, wie Schweighofer schließlich ergänzt: „Die wahre Geschichte dabei ist: Es gab zu diesem Zeitpunkt einen anderen Sales Agent, das war MK2, ein Mann namens Marin Karmitz, der auch Kinos dort hat usw., und der hat den einzigen nicht-österreichischen Film mit dem Haneke produziert [Code inconnu; K.M.]; er war in der Nachfolge von Funny Games jemand, mit dem man sehr ernsthaft geredet hat, um zu sagen: Kann er auch auf dieser Ebene einen nächsten Schritt tun? Da war dieser französische Sales Agent plötzlich da, auch als Koproduzent, der sich sehr involviert hat; und Die Klavierspielerin war ein Film, wo er als Sales Agent attached war. […] Dieser Film wurde in Cannes gezeigt und ich kann mich erinnern, ich war damals am Weg nach Los Angeles, das muss Ende Februar, Anfang März gewesen sein, zum American Film Market; am Flughafen, wo ich umsteigen musste, ruf ich in Cannes an, weil ich wusste, dass sie am Vortag den Film gesehen haben, um zu hören, wie die Reaktionen sind. Und die Reaktionen – das war alles sehr vertraulich – waren welche, die hießen: ‚Naja, wir haben das gesehen, aber wir haben echte Probleme damit.‘ – Und ich meine, das wirft einen so ein bisschen aus allen Wolken, weil eigentlich waren wir nun ganz sicher, dass die diesen Film sehen werden und sagen: ‚Großartig, den wollen wir.‘ – Weil ich mein, wie denn sonst? Ich bin mit diesem Quasi-‚Nein‘ in den Flieger nach L.A. eingestiegen und hab mir gedacht, was tu ich da jetzt und bin in L.A. angekommen. Im Hotel habe ich einen Freund getroffen, der der Direktor des Venedig-Festivals ist (Alberto Barbera; K.M.). Ich hab damals zum Alberto gesagt: ‚Alberto, es gibt eine seriöse Chance, dass du den nächsten Haneke-Film haben kannst.‘ Und da war es Anfang März, d.h. diese Spiele sind dann wieder relativ wichtig, weil wenn man jemandem sagt; würd ich Venedig sagen, da gibt’s einen Film, 3

Martin Schweighofer im Interview. Scheiber, Roman. „Path of Glory“. In: ray – Filmmagazin, Sonderheft 25 Jahre Austrian Film Commission. Hg.: Andreas Ungerböck, Mitko Javritchev in Kooperation mit der AFC, August 2012, S. 40.

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den musst du unbedingt sehen und das aber Mitte Mai, dann weiß jeder: ‚Aha, der Film ist aber dann in Cannes abgelehnt worden.‘ Also da spielen Zeiten auch eine große Rolle. Jedenfalls habe ich in dem Gespräch einmal vorgefühlt und gesagt: ‚Das könnte es sein.‘ Ich habe nicht gesagt, ‚das ist es‘, aber ‚die Chance besteht‘. Jedenfalls waren die hochbeglückt, dass diese Möglichkeit besteht.“4

Was für den einen eine Möglichkeit ist, ist für den anderen keine – und über den so materiellen wie argumentativen Umweg über eine neue Version des Films wird schließlich erfolgreich verhandelt: „Ich kann mich auch an viele Gespräche mit dem Michael Haneke erinnern, der aber gesagt hat: ‚Nein, es muss Cannes sein und das gibt es nicht.‘ Und es gab auch gewisse Kürzungen in dem Film, auf jeden Fall habe ich vielfach mit Cannes telefoniert und das war damals schon der Thierry Frémaux5, mit der Ansage, dass die Version des Films, die sie gesehen haben, noch eine sehr unfertige war, und dass der jetzt auch gekürzt und noch einmal überarbeitet ist usw. Um sozusagen darauf zu bestehen, dass dieser Film einfach noch einmal gesehen werden muss, weil der hat sich auch verändert. Letztlich haben sie dem stattgegeben und haben sich den Film noch einmal angeschaut, und das wirklich zwei Tage vor der Pressekonferenz. Und am Tag vor der Pressekonferenz kam dann endlich am Abend dieses erlösende ‚Ja‘, sie wollen diesen Film und er ist eingeladen. Ich kann mich erinnern, Le Monde hat quasi immer so eine Vorgeschichte geschrieben, wo sie die bestätigten Titel schon genannt haben, am Tag der Pressekonferenz. Und ich hab mit Panik drauf geschaut und der Film war dort nicht gelistet. Und zwar deshalb, weil er so spät erst bestätigt wurde. Was übrigens etwas ist, das es seither x-Mal gibt. Dass so späte Entscheidungen kommen, ist mittlerweile durchaus auch üblich. Damit war dieser Film im Wettbewerb von Cannes eingeladen, und es gab dann auch nach der Einladung noch gewisse Erregungen, wenn man so will, insbesondere Seitens des französischen Koproduzenten und Sales Agent, der noch am Tag vor der Pressekonferenz bitter beklagt hat, was das für ein Fehler ist, dass wir mit diesem Film nach Cannes gehen und dass Venedig wirtschaftlich viel besser gewesen wäre, in der Verwertung. Es war ein sehr eigenartiges Gespräch und letztlich haben wir es damit beendet, dass ich gesagt habe, die Sache dann ist nur die: er kann nicht beweisen, dass es besser wäre und ich kann es im Moment auch nicht, das heißt, es ist jetzt einmal so und dann sehen wir. Aber das war eine federführend österreichische Produktion, es war die Schwierigkeit nur die, dass der derartig beleidigt war, dass er sich aus allen Dingen zurückgezogen hat. Zugute halten muss ich ihm aber, dass er nach dem Festival, nachdem diese drei Preise da waren, dass er mir dann ein Fax geschickt hat, wo er geschrieben hat, dass ich Recht gehabt hatte. Aber das heißt, das hätte auch schief gehen können und ist es aber nicht. Und das ist das Ding: nachher ist es leicht, klüger zu sein.“6

Das 54. Festival International du Film von Cannes 2001 setzt mit seinem vom Künstler Michel Granger realisierten Plakat ein maßgebliches Zeichen: Ein wenig im Stile René Magrittes zieht eine schwarze Silhouette im Anzug den Hut. Der „Kopf“ 4 5 6

Gespräch mit Martin Schweighofer vom 04.10.2012 im Büro der Austrian Film Commission. Interview: Katharina Müller. Frémaux ist seit 2001 künstlerischer Leiter des Festivals von Cannes. Gespräch mit Martin Schweighofer vom 04.10.2012 im Büro der Austrian Film Commission. Interview: Katharina Müller.

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darunter ist ein Globus. Die unter dem Vorsitz von Liv Ullmann vergebene Goldene Palme geht in diesem Jahr an Nanni Morettis La stanza del figlio. Moretti, der eine grundsätzlich andere Auffassung von Kino als Haneke vertritt, dem er seit Funny Games explizit skeptisch gegenübersteht, wird 2012 als Jurypräsident von Cannes auftreten. Betrachtet man Die Klavierspielerin nun vom Ende des Films ausgehend, so verlässt Professor Kohut alias Isabelle Huppert, wie eingangs bemerkt, den Bildkader. – Was bis dahin geschieht, ist bereits hinlänglich analysiert und kontextualisiert, es war insbesondere den VerwenderInnen psychoanalytischer und feministischer Rezeptionstheorien ein in jeder Hinsicht schmackhaftes Denkangebot. „Aucun doute en effet, cette pianiste-là est un cas, de ceux que Freud étudia, viennois lui aussi, mais c’était il y a une centaine d’années, et si entre-temps les gens et les pulsions qui les meuvent n’ont sans doute guère changé, on se dit quand même que la dame en question tient plus du sujet d’étude psychanalytique que du personnage de cinéma.“7

Mit den Schlüsselbegriffen „Sadomasochismus, Psychose, Lacan, Psychoanalyse, Konsumkritik, Autorschaft, Cinema of Disturbance, Michael Haneke“ (Basu Thakur 2007) stellt das Journal zeitgenössischen Films New Cinemas 2007 einen Artikel zur Disposition, der die kritisch-theoretisch geleitete Rezeption des Films noch einmal summarisch rekonstruiert: „Psychoanalysing La Pianiste“, heißt es dabei im Vorwort, in dem die maßgebliche Analysetendenz beispielreich vorgeführt ist. Man habe sich in diesem Zusammenhang vorwiegend der psychoanalytischen Aufarbeitung der Hauptfigur verschrieben, und weniger, wie der Autor des Artikels kritisiert, der von Haneke angeregten sozialen Polemik, die auf den repressiven Charakter der (in diesem Fall dezidiert „österreichischen“) Gesellschaft abziele. Problematisch in jeder Hinsicht bleibt für andere wiederum jedoch, dass der Film, wie es auch Fatima Naqvi bemerken wird, das psychoanalytische Theorieangebot per se schon implizit und explizit mitliefere und viele der Analysen damit gewissermaßen als solche schon obsolet erscheinen lässt oder sie zumindest in ihrer Fragwürdigkeit tangiert; zudem transzendiere der Film die psychoanalytischen Paradigmen, die er evoziert: „Der Roman liefert […] gleich die psychoanalytischen Erklärungen mit, derer wir uns gerne bedienen, um die dargestellten Neurosen und Pathologien zu erklären. Haneke tut dies ebenso und nimmt dabei die gängigen psychoanalytischen Modelle der 70er-Jahre ins Visier, die in der Filmwissenschaft lange schon zum theoretischen Kanon gehören. Er wie Jelinek werden zu einem Zeitpunkt im Kulturbetrieb tätig, als psychoanalytische Theorien ihre weiteste Verbreitung finden.“ (Naqvi 2010: 110)

Ganz anders hingegen und der erklärenden Tendenz gewohntermaßen abgewandt, sieht das der Regisseur: „Ich halte die Psychoanalyse für den Tod in der Kunst (lacht), naja, jedenfalls für vermeidbar. Als therapeutisches System hat sie sicher ihre Meriten, im Roman und im Kino führt sie, wie 7

Merigeau, Pascal. „Tout pour plaire“. In: Le Nouvel Observateur, 06.09.2001.

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die Soziologie, wie alle Ideologien, automatisch zu Erklärungen. Psychoanalyse ist leider eine Ideologie, mit der Vorgabe, eine Wissenschaft zu sein. Und dazu passt, was Susan Sontag geschrieben hat: Die Interpretation ist die Rache der Intellektuellen an der Kunst.“ (Haneke/Grissemann 2001: 180)

Nichtsdestotrotz wird diese „Wissenschaft“ die von den Journalisten nach der Premiere prompt und relativ im Konsens für sadomasochistisch befundene Liebesgeschichte, die sie unverkennbar auch ist, als solche zu erklären suchen. Der „Zug“ Hanekes, stets eine Verwobenheit mit jenem theoretisch-kritischen Netzwerk und seinen Gedankengütern zu organisieren, deren Erklärungskräfte er unablässig infrage stellt, trägt unweigerlich zu seiner Profilierung als auteur bei. Schließlich dient diese – wenn auch „negativ“ anmutende, in jedem Fall aber kritische – Bezugnahme auf die Kritik selbst unanfechtbar dem Erhalt und der Beständigkeit dessen, was gemeinhin als „Kunstkino“ gilt und fundiert damit zugleich auch Hanekes Existenzgrundlage als auteur. Er lebt gewissermaßen davon, gedeutet zu werden und überlässt sein Werk damit einer Öffentlichkeit, die es in seiner Funktionalität erst definiert. – Eine kulturwissenschaftlich vielfach bestätigte Erkenntnis im Prinzip, die den Rezipienten als (Co-)Autor und Schöpfer des Werks qualifiziert. Allein es stülpt sich diese gewaltsam selbstmächtige Erkenntnis über den genuin dialektischen Charakter des besagten Kreationsakts, den Haneke an allen Ecken und Enden andeutet: Grundsätzlich sei ihm persönlich die Lektüre lediglich ein Wahrnehmen zweiter Ordnung im Kreationsprozess, der Schöpfungsakt des Drehbuchs habe „[…] wohl zunächst mit Verletztheit zu tun, mit Wut – mit Dingen, die mich aufregen und schmerzen. Die machen mich aufmerksam. Das ist ja kein Willensakt, das passiert mir mehr, als daß ich es steuern könnte. Das sind Dinge, die osmotisch stattfinden, sozusagen im vorsprachlichen Bereich. Daß mir die Geschichten einfallen, die mir einfallen, liegt außerhalb meiner Absicht.“ (Haneke/Assheuer 2010: 32)

Assheuer begegnet hier – in seinem Interviewband mit Haneke, dem das Zitat entnommen ist – dem Kern des Grunddilemmas der Relation von Werk und Interpretation. Auf die thematisierte Einsicht, man könne darüber eigentlich gar nicht reden, erwidert Haneke: „Unser Interview ist eine Art Postskriptum. Wir begründen im nachhinein [sic!] Dinge, die sich beim Schreiben ohne Begründung eingestellt haben. Wenn man, so wie wir in diesem Augenblick, über Filme oder Bücher spricht, bleibt die Emotion außen vor, weil man die Dinge auf den Begriff bringen will. Die Gefahr, daß man die Dinge dabei tötet, ist nicht zu unterschätzen. [In der Tat!; K.M.] ‚Interpretation‘, hat Susan Sontag in einem wunderbaren Satz einmal gesagt, ‚ist die Rache der Intellektuellen an der Kunst‘. Was ich damit sagen will: [Es folgt zwangsläufig seine Interpretation!; K.M.] Das Begründen ist ein Sekundärvorgang und in gewisser Weise sogar gefährlich. Denn wenn man zu reflektiert ist, wird man zum Sklaven seiner Gedanken. Es muß beim Schreiben etwas passieren, das jenseits einer bloßen Konstruktion ist, denn Schreiben ist ein emotionaler Vorgang.“ (Haneke/Assheuer 2010: 32)

Allein: „ohne die Interpretation bliebe die Kunst stumm“, wie Assheuer entgegnet. – „Keine Frage, man ist gezwungen, Begriffe zu benutzen“, teilt Haneke, der zudem

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gesteht, sich „schon viel zu oft interpretiert“ und dadurch aufgehoben zu haben, was er durch seine Dramaturgie herbeiführen wollte: „Wenn mir das passiert, wenn ich selbst eine Deutung gebe, dann ärgere ich mich darüber und werfe mir vor, den ästhetischen Spielraum unnötig eingeschränkt zu haben.“ (Haneke/Assheuer 2010: 33) – „Kein Autor kann über die Interpretation seines Werks verfügen“, kontert Assheuer und erhält darin freilich Bestätigung: „Wohl war. Das Beste ist eben nicht das, was wir Autoren uns ausgedacht haben, sondern was uns dabei unbewußt passiert ist und was in der Deutung passiert. Wenn man im richtigen Boot sitzt, dann hat man noch eine Menge an zusätzlichen Deutungen im Netz, die man vorher gar nicht ausgedacht hat – und es funktioniert trotzdem oder gerade deswegen. Es entstehen plötzlich Dinge und Perspektiven, für die man gar nichts kann, die aber sozusagen das Geschenk der Konstellation sind, die beim Schreiben entsteht. Vielleicht ist es die Gnade des Augenblicks, wie an bestimmten Theaterabenden, an denen plötzlich eine bestimmte Magie da ist. Und am nächsten Tag ist alles wie ein zusammengefallenes Soufflé.“ (Haneke/Assheuer 2010: 33)

Ebenfalls ist in diesem Zusammenhang der, wenn man so will, „Austauschbasis“ festzuhalten, dass der Film und sein Regisseur in gewissem Grade (und wenn auch nicht intentional) zur Entwicklung des Verfilmungsdiskurses beigetragen haben – diesen kennzeichne schließlich inzwischen eine gewisse Reife, was das Kriterium der „Treue“ zum Inhaltlichen anbelangt. (Naqvi 2010: 109) Angesprochen auf die – angesichts der meisterlichen jelinekschen Polysemie naheliegende – Frage nach der Herangehensweise an die kinematographisch adäquate Umsetzung von Sprache, bewertet Haneke in einem Interview mit der Austrian Film Commission seinen Film wie folgt: „Er ist insofern filmisch, als die Struktur sehr linear ist und er sich dadurch auch zur Verfilmung eignet, die sprachliche Form jedoch ist total ungeeignet. Das Wesen der Literatur der Elfriede Jelinek liegt nicht in ihren Geschichten, sondern in der Form, in der sie erzählt. Deswegen finde ich, sollte man den Film gar nicht als Literaturverfilmung betrachten, weil man Literatur, die genuin nur Literatur-Literatur ist, nicht verfilmen kann. Einen Dostojewski kann man sehr gut verfilmen, weil der in einer fast journalistischen Weise geschrieben ist und eine Handlung konzentriert, während für Elfriede Jelinek das Hauptinteresse die Sprache ist. Diese Sprache ist unübertragbar. Man muss mit filmischen Mitteln die gleiche Geschichte erzählen. Ich habe nicht das Buch verfilmt, sondern ich habe die Geschichte erzählt. Insofern ist es keine Literaturverfilmung.“8

Bezüglich der langfristig komplizierten Entstehungsgeschichte des Films gibt Haneke in einem gemeinschaftlichen Interview mit Jelinek gegenüber der Zeitschrift Synopsis9 an, er habe bereits 1983, kurz nach Erscheinen des Romans, daran gedacht, 8

9

Michael Haneke im Interview. AFC. http://www.afc.at/jart/prj3/afc/main.jart?rel=de& reserve-mode=active&content-id=1164272180506&tid=1155914584056&artikel_id=3759 [12.07.2011] Michael Haneke und Elfriede Jelinek im Interview. Mellini, Claire; Seitner, Gerlinde. „Désaccords mineurs pour piano forte“. In: Synopsis, Nr. 15, September/Oktober, 2001, S. 5054.

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ihn zu adaptieren. – Zu einem Zeitpunkt, zu dem er noch als Fernsehregisseur tätig war. Als Fernsehfilm erschien ihm Die Klavierspielerin jedoch nicht denkbar und überhaupt habe Jelinek zunächst ohnehin verweigert, ihren Roman als Grundlage freizugeben. Haneke war daraufhin zu anderem übergegangen. Schließlich habe sein Kollege und Freund Paulus Manker – der auch den Protagonisten aus Wer war Edgar Allan? verkörpert hatte – zwei Jahre später die Rechte für La Pianiste gekauft, um Haneke zu fragen, ob er bereit wäre, für ihn das Drehbuch zu schreiben. Haneke schreibt eine erste Version, Manker will zunächst mit Kathleen Turner in der Hauptrolle drehen, was Haneke – aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Schauspielerin – für eine schlechte Idee befindet. Manker wendet sich daraufhin Helen Mirren zu, die Haneke zufolge zwar auch ein wenig zu alt, jedoch hinsichtlich des zu verkörpernden ambivalenten Charakters der Protagonistin eine gute Idee ist. Mirren ihrerseits jedoch lehnt ab; nach ihrer Rolle in Peter Greenaways Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber (1989) habe sie der Perversion genug gehabt. (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 207) Haneke hatte Manker immer wieder zu Huppert geraten, dieser jedoch sei aufgrund der Sprachbarriere abgeneigt gewesen. Manker, der Veit Heiduschka zufolge Haneke auf die Rechte des Films geklagt hatte10, konnte den Film in zehn Jahren nicht realisieren. Schließlich tritt der Produzent an Haneke heran, mit dem Vorschlag, das Projekt wieder aufzunehmen und kauft die Rechte vom Rohwohlt Verlag. Jelinek ihrerseits führt an, sie habe den Film zunächst aus zweierlei Gründen verweigert: Zum einen äußert sie anfängliche Bedenken zur semantischen – in eine auf Karl Kraus rekurrierende, österreichische literarische Tradition sich einschreibende – Ausarbeitung ihrer Texte, die der musikalischen Komposition näher stünden als dem Roman und damit ein gravierendes Übersetzungsproblem implizieren; zum anderen sei ihr das Buch, gemessen an den anderen, biografisch sehr nahe. Eine Überwindungsfrage. Das Interview setzt sich – wie zahlreiche andere Stellungnahmen zum Film – vorwiegend mit Transformations- und Adaptionsfragen auseinander. Haneke beteuert, wie immer, an den explikativeren Elementen gespart zu haben und wehrt sich heftig gegen die – nicht zuletzt auch von Jelinek im Interview ihm unterstellte – Psychologisierung seiner Charaktere: „Mon film n’est pas psychologique! Je déteste ça! Je me bats toujours contre la psychologie au cinéma, parce que cela empêche le spectateur de se sentir concerné et donc d’être dérangé.“11. Beharrlich fährt er fort, er „mische“ sich „nicht in den Seelenzustand“ seiner Schauspieler ein, sondern nur in ihre „Geographie“: „Aber den Schauspielern etwas erklären – das tue ich nicht.“ (Haneke/Assheuer 2010: 27) Umso explikativer hingegen gestalten sich die Resultate der Rezeption, die schon in den unzähligen Inhaltsangaben eher divergent ausfallen. Der Film hält nicht ein, was seine Protagonistin in angstgenährter Souveränität gegenüber ihrem künftigen Studenten, den sie in der privaten Öffentlichkeit eines Hauskonzertes kennenlernt, sinngemäß zu ihrem Leitsatz erheben wird: Die Gefühle nicht über den Verstand regieren zu lassen („Ich habe keine Gefühle, Walter. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren. Und sollte ich welche haben, werden sie nie über meine Intelligenz siegen.“). 10 Information Veit Heiduschka, 30.07.2013. 11 Michael Haneke und Elfriede Jelinek im Interview. Mellini, Claire; Seitner, Gerlinde. „Désaccords mineurs pour piano forte“. In: Synopsis, Nr. 15, September/Oktober, 2001, S. 5152.

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„Walter studiert an der technischen Universität, aber seine musikalische Begabung steht seiner technischen, wie Sie sich gleich werden überzeugen können, keineswegs nach“, wie der Onkel einleitend der Darbietung des angehenden Musikstudenten voranstellen wird. In der Pause zuvor hatte Walter sie kennengelernt, die Frau Professor, die ihm in seiner Annäherung eine erste „Lektion“ erteilt: „– ‚Schauen Sie sie doch an. [Walter weist hin zu den Gästen; unter ihnen als darstellerisch Mitwirkende auch Susanne Haneke, die Frau des Regisseurs; K.M.] Glauben Sie, dass solche Leute etwas ahnen wollen von den Wonnen der Krankheit?‘ – ‚Haben Sie gelesen was Adorno sagt, über die Fantasie in C-Dur von Schumann?‘ – ‚Nein.‘ – ‚Er spricht über sein Verdämmern. Es ist nicht der Schumann bei jedem Gedanken sondern der Schumann kurz davor. Ganz kurz davor. Er ahnt bereits, dass seine Gedanken davon flüchten, er leidet bis in die letzten Äderchen, hält es aber ein letztes Mal noch fest. Die Phase, in der man noch klar erkennt, was man an sich selbst verliert, ehe man ganz preisgegeben ist.‘ – ‚Ich glaube, Sie sind eine gute Lehrerin.‘ – ‚Danke.‘ – ‚Sie sprechen von den Dingen als wären sie die Ihren. Das ist sehr selten. Ich glaube das wissen Sie auch.‘ – ‚Schubert und Schumann sind eben meine Favoriten. Darüber hinaus ist mein Vater auch völlig verrückt in Steinhof gestorben. Insofern ist es nicht schwer für mich, über Verdämmern zu referieren, nicht wahr?‘“

Walter, ehe er seinen Beitrag zum Hauskonzert leisten wird, verweist auf „ein Gespräch über Krankheit und Wahnsinn bei Schubert und Schumann“, das er eben geführt und das ihn „sehr beeindruckt“ habe. Kurzerhand habe er deshalb entschieden, sein Lieblingsstück von Schubert, das Scherzo aus der Sonate in A-Dur, zu spielen. Als sich Walter vermittels desselben einen Weg in Erikas nicht-rationales Inneres bahnt – die statische Kamera gibt den kleinen, noch so leisen Veränderungen am Gesicht der Protagonistin viel Raum –, bleibt fortan fraglich, ob der Verstand hier über die Gefühle siegt, und, wenn dem so sein sollte, noch fraglicher, was dieser Sieg letztlich bedeutet. Die Bedeutung einmal beiseitegelassen, landet Klemmer schließlich in Kohuts Meisterklasse, wenngleich sie angesichts der einhelligen Begeisterung ihrer Kollegen über Klemmers Vorspiel Bedenken äußert: „Herrn Klemmers künstlerisches Temperament oder Virtuosentum“ wäre bei ihr „nicht gut aufgehoben“. Auf der Leinwand, im Zuschauer, in den Figuren regt sich vermittels Hanekes klug und minutiös durchdachten Formalismus eine formlose Kraft. „Haneke’s surfaces, relatively speaking, are just materiality“ (Warren 2010: 496), und diese Oberflächen sind – nicht zuletzt dank der formal präzisen Vorgabe – filmanalytisch freilich einwandfrei konzipierbar. Hierin liegt nicht das Problem der Analysierenden. Es ist das Formlose. Vielfach als das obligatorische „Unbewusste“ umschrieben, betrifft dieses Formlose hier – wie so oft – die Artikulationen eines unsagbaren Leids, das mangels wertneutraler Worte, mangels einer angemessenen Tonalität für das, was mit „pervers“ in einer ausschließlich negativen Konnotation nur sehr unzureichend beschrieben ist, in entsprechende Beschreibungsnot geraten lässt. Schon insofern, als der so nahe liegende wie häufig aktivierte Täter-Opfer-Diskurs, so er in nur eine Richtung zu argumentieren trachtet, objektiviert in alle erdenklichen Sackgassen führt. Im Zweifelsfall und als bemerkenswerter Annäherungsversuch kommen so zuweilen auch Lyrik-geleitete Strategien zum Zug; an einer Stelle wird etwa – über den rezeptionsmitbestimmenden Umweg der schauspielerischen Karriere der Huppert – Arthur Rimbaud bemüht: „Rimbaud said, ‚I am another.‘ Film has its own way of

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knowing and saying, within the one film and through interaction among films, that human identity is another – which is not to banish the idea of identity, but to reunderstand it, to redefine it.“ (Warren 2010: 503) Erika Kohut ist unter dieser Prämisse etwa die „schöne, elegante, wenn auch kalte“ (Tilmann 2011: 47), unter der Herrschaft ihrer Mutter lebende, „frigide“12 Frau Mitte 40, die ihre Schüler im selben Maße demütigt und quält wie sich selbst; im Höchstmaß destruktiv, körperlich, bis eben Blut fließt. Die Frau, die „nicht Frau [ist], sondern Herrin“13, die ihre Genitalien mit der Rasierklinge aufschneidet, bevor sie mit ihrer Mutter zu Abend isst, um anschließend das Ehebett mit ihr zu teilen: „Das Haßliebeverhältnis, an dem sie beide leiden, ist unkündbar.“ (Grissemann 2001: 28) Produkt und Exekutorin von Misshandlung und Gewalt in gleichem Maße, „deren Auswege und Flüchte immer wieder in ihr Gefängnis zurückführen“14. Verglichen auch mit der Marquise de Merteuil aus Choderlos de Laclos’ Roman Les Liaisons dangereuses (1782), nur dann wieder doch nicht für ihren Kalibers befunden („elle n’a pas la trempe d’une Merteuil“15), ist sie an anderer Stelle wiederum eine dramaturgisch „unvorhergesehene“ Figur des Triumvirats Huppert-Haneke-Jelinek, die die Intentionen der jeweils einzelnen Beteiligten übersteige.16 Mit ihr sei Haneke schließlich weniger daran gelegen zu problematisieren als zu fühlen zu geben. Als Geisel der Disziplin mehr oder weniger wird sie gedeutet, diese Erika, der alle Disziplinen recht seien, solange diese sie vor der größten aller Gewalten schützen: der Freiheit17. – Eine Argumentationslogik, der auch andere der namhaften französischen Blätter folgen: „La douleur de ne plus souffrir“18, betitelt Le Monde seinen Beitrag. Körperlich überfordert, wie schon bei Jelinek: „Sie macht Liebesbewegungen, wie sie sich das vorstellt. Und wie sie es von anderen gesehen hat. Sie gibt Signale von Ungeschick, die sie mit Signalen von Hingabe verwechselt, und sie empfängt dafür Signale der Hilflosigkeit.“ (Jelinek 1983 [2008]: 246) Sie sei ein bisschen Frau, ein bisschen Mann, aber vor allem sei sie, nicht wissend, wer sie ist, eine Figur, die geliebt, aber nicht verführt werden will, kompromisslos, wie aus einem anderen Jahrhundert. – So beschreibt Isabelle Huppert ihren Eindruck, um sich in dieser Reflexion jedoch sehr bald einzubremsen: „There is little to say, because it is so evident.“19 Oder: Erika ist „die Frau, die nicht trauern, und deshalb nicht lieben kann“20. Herausgefordert in dieser ihr so häufig unterstellten „Unfähigkeit“ (resp. „Narzissmus“, „Sadismus“) wird sie von einem Walter Klemmer, der – im Gegensatz zum bezeichnenden und auch dezidiert so bezeichneten faschistischen „Arschloch“ aus dem Ro12 Coppermann, Annie. „Encore plus ‚Loin‘“. In: Les Echos, 07.09.2001. 13 Assheuer, Thomas. „Komm, bleib mir fern: Das Leben als Misshandlung: Michael Haneke verfilmt Elfriede Jelineks ‚Die Klavierspielerin‘“. In: Die Zeit, 11.10.2001. 14 Vgl. Strauss, Frédéric. „La Pianiste de Michael Haneke“. In: Télérama, 16.05.2001. 15 Guichard, Louis. „La Pianiste“. In: Télérama, 05.09.2001. 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. Strauss, Frédéric. „La Pianiste de Michael Haneke“. In: Télérama, 16.05.2001. 18 Sotinel, Thomas. „La douleur de ne plus souffrir“. In: Le Monde, 11.09.2001. 19 Isabelle Huppert im Interview. Shirey, Brian; Wood, Bret. DVD Supplement. The Piano Teacher (Unrated Director’s Cut), Kino Video. 20 Assheuer, Thomas. „Komm, bleib mir fern: Das Leben als Misshandlung: Michael Haneke verfilmt Elfriede Jelineks ‚Die Klavierspielerin‘“. In: Die Zeit, 11.10.2001.

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man – unter Haneke zu einem „offenen Charakter“, zu „einer möglichen Identifikation“ geworden ist, wie es der Regisseur stets betont. Die Bilder, die Erika Kohut zwischen Heim und Arbeitsstätte (ihrem „Käfig“, wie sie sagt) zeigen, regen auf und zur Debatte an: – „[…] à part la musique, rien n’est classique dans l’univers d’Erika.“21 Die Genitalbeschädigung im elterlichen Badezimmer; nachmittägliche Ausflüge in eine Porno-Videokabine; das als Eifersucht motivisch gedeutete Glasscherbenattentat, das sie an ihrer besten Schülerin verübt (Erika füllt während der Proben für das Abschlusskonzert die Manteltasche der Schülerin mit Glasscherben, letztere ruiniert sich die zum Klavierspiel naturgemäß erforderliche Hand); die darauffolgende Szene auf der Toilette des Konzerthauses mit Walter, der Erikas Aufforderung zum Umgang mit der verletzten Schülerin (– „Spielen Sie Beschützer!“) nicht nachkommt und deren Intimität schließlich auch ihre Verfestigung auf dem offiziellen Filmplakat sowie auch auf sämtlichen DVDCovers gefunden hat: „Obszön, skandalös, pervers!“, so der Sticker, den die EuroVideo Bildprogramm GmbH ihrer DVD-Edition aufdrückt und damit eine reißerisch versierte Einladung zum Kauf anstellt. Ein gänzlich anderes Bild von dieser in der Mitte des zweistündigen Films platzierten Szene („scéne magnifique, dite des chiottes“22) hatten zuvor die Cahiers du Cinéma entworfen, um den Film als eine tragikomische Fabel mit Referenzen zu einem namhaften Katz-und-Maus-Genre zu legitimieren: „[…] un jeu du chat et de la souris, une sorte de Tom et Jerry sadomaso, du genre je te pousse, je vomis. Pourtant, on y revient, dans la scène des chiottes, Haneke réussit à instaurer grâce à la durée un malaise profond et intenable, en un mot du trouble, enfin, un équilibre de haute voltige entre grotesque et tension. Puis, comme Magimel dans son film, Haneke joue avec le feu pour mieux s’en éloigner, par peur d’affronter son sujet : l’abandon de soi. La scène des chiottes, donc, laisse entrevoir combien le film aurait pu être beau si Haneke ne s’était réfugié dans un discours étroit, en appellant [sic!] à l’audace pour mieux masquer une crainte de filmer son histoire.“23

Eine „Pathologie der Liebe“ sei der Film, der „sich weder mit Theodizee noch mit Transzendenz noch mit Erlösung“ (Heimerl 2008: 294) befasse, wie eine der Beitragenden des Theologiebands entschieden klarstellt. Man kann es so stehen lassen, man kann sich fragen, ob bei verstärktem Hinhören nicht an derartiger Entschiedenheit zu rütteln und auf das eine oder andere Transzendenzpotential hinzuweisen wäre. Isabelle Huppert, die in einem Interview mit Télérama zu den Wirkungspotentialen des Films Stellung bezieht, lädt jedenfalls dazu ein: „Le film secoue ses spectateurs. Il y a ceux qui résistent et qui, en résistant, le rejettent. Chez ceux-là, il y a une tendance à mettre des mots écrans entre le film et eux : histoire perverse, malsaine, histoire de folle … Je ne me pose pas la question en ces termes : tout état de souffrance peut mener à des débordements qu’on qualifie, faute de mieux, de malsains ou de per21 Strauss, Frédéric. „La Pianiste de Michael Haneke“. In: Télérama, 16.05.2001. 22 Larcher, Jérôme. „Le chat et la souris: La Pianiste de Michael Haneke“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 558, Juni 2001, S. 25. 23 Ebd.

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vers. Voir un film de Michael Haneke, c’est faire une expérience très physique. La puissance de son cinéma, c’est précisément qu’il est à la fois cérébral et sensitif. D’un côté, La Pianiste est un film contemporain par la manière dont il parle de la sexualité – en particulier celle des femmes face à une sexualité dominante encore largement codifiée par les hommes. De l’autre, il y a un côté XIXe siècle, par la virulence des sentiments, le sens du sublime, l’élan vers quelque chose de transcendant.“24

Dieser zum Transzendenten hin tendierende Elan bleibt – zumindest in der wissenschaftlichen Beschäftigung – eher zweitrangig bis verkannt; zu eingespielt ist offenbar die Theorieanwendungspraxis, die sich im Fall der Klavierspielerin, wie angedeutet, sehr einschlägig abzeichnet.

44. D IE R EAKTIVIERUNG

DER P SYCHOANALYSE ALS EINES INSOLVENTEN I NTELLEKTUALISMUS

S IGNUM

„Also wenn Ihnen an mir etwas liegt, dann verschwinden Sie jetzt“, so Erika zu Walter, der ihr auf der Straße auflauert und ihr bis ins Treppenhaus folgt. Der Vorwurf, der Regisseur habe beim Film die diskursiv problematische Form seinem Inhalt vorgezogen (die Dreistigkeit der „narrativen Faulheit“ des Regisseurs, der sich die Mühe mache, alle 20 Minuten eine „harte“ Szene einzufügen, um den Zuschauer in Atem zu halten, stehe seinem eigentlichen Thema der „Selbstaufgabe“ im Wege25), relativiert sich durch das gleichzeitige – nicht zuletzt auch durch die Jury von Cannes begründete – Lob genau dieser Form: „Chez Haneke, tout est au fond question de dosage. Pourtant La Pianiste intéresse jusqu’au bout, tant il a l’art de détruire ce qu’il met en place.“26 Gültig ist der destruktive Gestus, wenn er auch infrage gestellt bleibt, jedenfalls für seine Figuren – denn denunziatorisch sei Haneke hinsichtlich seiner Regie nun wieder nicht: „Haneke geht es offensichtlich nicht darum, die Geschichte seiner Heldin als pathologische Fallstudie zu erzählen: Er nimmt sie ernst, nicht als eine Kranke, nicht als Freak, sondern als Suchende, als eine an der Liebe Verzweifelnde“ (Grissemann 2001: 23). Bewertet wird im Kreise der Figuren hingegen auf das Eifrigste: „Die Indikation Schuberts reicht von Schreien bis Flüstern und nicht von laut bis leise sprechen. Anarchie ist offenbar nicht ihre Stärke, Klemmer. Wieso bleiben Sie nicht bei Clementi? Schubert war ausgesprochen hässlich, das wissen Sie doch. So wie Sie aussehen, erkennen Sie einen Abgrund nicht einmal, wenn Sie hineinfallen“, so die Kohut, wenn sie am Klavier den musikalisch zärtlich bis verbal zögerlich-verzweifelten Annäherungsversuch des Klemmers sowie die Anzeichen einer potentiell spürbaren Rührung ihrerseits unterbindet. – „Warum wollen Sie kaputt machen, was uns verbindet?“, entgegnet er und sie weicht aus. Er wolle sie auf den Hals

24 Guichard, Louis; Loiseau, Jean-Claude. „Entretien avec Isabelle Huppert: ‚Je suis plus curieuse qu’intello‘“. In: Télérama, 05.09.2001. 25 Vgl. Larcher, Jérôme. „Le chat et la souris: La Pianiste de Michael Haneke“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 558, Juni 2001, S. 25. 26 Ebd.

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küssen, woraufhin sie aufsteht, ihm den Rücken zuwendet und hustet. Sie gibt ihm anschließend einen Brief, mit dem eingeleitet wird, was Öl im Feuer der psychoanalytisch motivierten Analysten sein wird: Von der „Unmöglichkeit weiblichen Begehrens“ wird die Rede sein (Champagne 2002), vom Film als Porträt einer nuancierten Psychopathologie, von einem schokkierend schönen Film, der den schmalen Grad zwischen Gesundheit und Wahnsinn erkunde (Basu Thakur 2007), als eine Untersuchung von Sexualität in einer repressiven Gesellschaft bzw. Reflexion über weibliche Sexualität (Bradshaw 2001; Davies 2003; Restuccia 2004), als „Dekonstruktion des Romanzen-Narrativs“ (Ma 2010: 511) als Bestätigung der freudschen Theorie zum Sadomasochismus (Vaida 2011), als Film, der mittels Verhalten seiner Protagonistin weniger als psychologische Erkundung einer transgressiven Sexualität denn als ein Hinweis auf soziale Dysfunktion zu lesen sei (Erika als „Metapher“, als marginales, entschieden „europäisches Subjekt“, Figuration sozialer Fehlfunktion, nicht aber als Agentin einer radikalen Veränderung – und damit letztlich auch als Teil einer politisch ineffizienten Geste des Regisseurs [Galt 2010: 237-239]). Die von Seiten der Kritik beinahe flächendekkend identifizierte „Perversion“ wird schließlich in Anlehnung an Jacques Lacan zur argumentativ feingliedrigeren „père-version“ (Speck 2010: 88), zu einer Blick- bzw. Perspektivenreflexion, die sämtliche Regeln von Schaulust und Voyeurismus durchspielt (Naqvi 2010). An potentiell zu Zergliederndem fehlt es der Geschichte freilich nicht, schließlich beschränkt sich der zur Disposition stehende Rahmen „ungesunder“27 Verbindungen nicht nur auf das triangle amoureux von Mutter, Tochter und dem fragwürdigen Eroberer: die inneren „Spiegelungen“ des Films lassen den Neurosenkern gleichsam auf einen „Vierer“ aufteilen. Mit Susanne Lothar kommt schließlich auch die Mutter der doppelt malträtierten Musterschülerin ins Spiel, um bei der Kohut verzweifelt gnadenlos um Gnade gegenüber ihrer Tochter zu betteln („Übt sie zu wenig?“, „Schauen Sie sie doch an, sie hat ja sonst nichts …“, „Sie ist doch eh keine Schönheit, alles was sie attraktiv macht, ist doch ihr Können. Dafür haben WIR doch alles aufgegeben“): „Au cours d’une grande scène à l’opéra, l’élève et son professeur se croisent une dernière fois en terrain neutre chacune fidèlement accompagnée de son dragon maternel. Ce quatuor familial est le véritable cœur névralgique du film, le noyau enfoui de toutes les névroses et de toutes les insatisfactions indifféremment sexuelles, sentimentales et sociales. Seul le nombre des années sépare alors et distingue ces deux couples de femmes et Huppert, errant dans les couloirs en quête de son amour perdu, s’apprêtant à accomplir son sinistre destin d’Ophélie attardée, ne fait sans doute que préfigurer ce qui attend inéluctablement sa jeune sœur de misère.“28

Die von Haneke für „zu erklärend“ befundenen Roman-Flashbacks auf die Jugend der Protagonistin ersetzt er durch die Interaktion des anderen Mutter-Tochter-Duos, um, wie er sagt, Erikas Kindheit in indirekterer Weise widerzuspiegeln. (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 209) Schließlich ließe sich der Analysten-Liste noch der abwesende Vater hinzufügen, dessen Schicksal aus dem Film heraus zweifach de27 Coppermann, Annie. „Sadomasochisme en musique“. In: Les Echos, 05.09.2001. 28 Blouin, Patrice. „Le quatuor des névroses: La Pianiste de Michael Haneke“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 560, September 2001, S. 81.

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finiert ist: einmal ist er der Kohut zufolge in Steinhof gestorben, einmal hat er der Mutter zufolge Geburtstag (wodurch beim Zuschauer die Möglichkeit eröffnet ist, über das Ausmaß seines Vorhandenseins zu entscheiden). Dementsprechend umfasst die oben genannte Deutungsliste nur einen repräsentativen Bruchteil einer weit umfassenderen Aufsatz-Kollektion zur Klavierspielerin, die Hanekes internationale Prominenz maßgeblich einläutet. Die zunächst geplante Integration des in Jelineks Diegese „präsenten“ Vaters, den Erika in der psychiatrischen Klinik besucht, hatte Haneke in seinem Bestreben nach Realismus letztlich an seine Grenzen gebracht: „J’ai tourné cette scène, le dernier jour du tournage, dans un vrai asile. On a utilisé un type qui était là. Je ne me suis pas rendu compte avant de ce que cela voulait dire. Cela a été un choc. J’ai commencé à pleurer. C’était insupportable. Je n’ai même pas visionné ce qu’on a tourné. Ce n’est pas possible d’utiliser la douleur de quelqu’un pour un artefact.“29

Rar jedenfalls sind die Stellen, an denen sich die Wissenschaft selbst beim Schlafittchen nimmt und ihre eigenen Grade des Intellektualismus infrage stellt. Christopher Sharrett nimmt die Fülle an einschlägigen Aufsätzen zum Anlass für selbstreferenzielle Kritik: das ausladende Analysieren masochistischer und anderer sexueller Akte zulasten einer umfassenderen Perspektive auf die Gesellschaft sei letztlich emblematisch für einen insolventen Intellektualismus bzw. einen intellektuellen Bankrott („an emblem of intellectual bankruptcy“). (Sharrett 2010: 580) Doch sieht sich derselbe Intellektualismus angesichts der Artikulationen seiner Vertreterin im Film freilich herausgefordert: „Im Gegenteil, wenn ich flehe, dann ziehe bitte die Fesseln noch fester …Und den Riemen ziehe bitte zwei bis drei Löcher, je mehr desto lieber ist es mir, fester zusammen. Und außerdem stopfe mir dann noch alte Nylons von mir, die bereit liegen werden, derart fest in den Mund, dass ich nicht den geringsten Laut von mir geben kann. Nimm den Knebel bitte später wieder weg und setze dich auf mein Gesicht und schlage mir die Fäuste in den Magen und zwing mich so, dir meine Zunge in den Hintern zu stecken. […] Denn das wünsch ich mir am sehnlichsten. Meine Hände und Füße auf dem Rücken gefesselt; eingesperrt mit meiner Mutter. Aber doch für diese endgültig unerreichbar hinter meiner Tür bis zum nächsten Tag. Und was meine Mutter betrifft, bitte kümmere dich nicht um sie. Nimm sämtliche Schlüssel zu Zimmer und Wohnung, lass keinen hier … […] Falls du mich bei Ungehorsam gegenüber deinen Anordnungen erwischst, dann schlag mir bitte mit dem Handrücken ganz fest ins Gesicht. Frag mich, warum ich mich nicht bei meiner Mutter beschwere oder wieso ich nicht zurückschlage. Sag mir auf jeden Fall solche Sachen, damit ich so richtig fühle wie wehrlos ich bin.“

– So die Zeilen des Briefs, den Walter auf Erikas Bitte hin vor ihr laut rezitiert und der – auch zu Walters offener Verwunderung/Ratlosigkeit („Soll ich das ernst nehmen? Machst du dich lustig über mich, ja? Willst du eine Ohrfeige?“, „Kannst du mir sagen, was ich davon haben soll? Vielleicht machst du mal deinen ach so kultivierten Mund auf und sagst was zu dieser Scheiße!“) – derselben Person entstammt,

29 Michael Haneke im Interview. Mellini, Claire; Seitner, Gerlinde. „Désaccords mineurs pour piano forte“. In: Synopsis, Nr. 15, September/Oktober, 2001, S. 50-54.

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die so meisterlich Schubert und Schumann spielt. Und die „in den besten Salons auf Knopfdruck Adorno abhandelt“30. „Mehrmals kehrt Isabelle Huppert in diesem Film der Kamera den Rücken zu, wendet sich ab vom Zuschauer, wird von der Gesehenen zur Sehenden – und damit auch zur Stellvertreterin des Publikums.“ (Grissemann 2001: 21) – So sehr der Film seinen Schöpferinstanzen zufolge als Parodie auf das klassische Melodram-Angebot konzipiert ist, so sehr ist er gleichzeitig auch narrativ genug, um etwa Laura Mulveys Theorien zu „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ (Mulvey 2000) „darauf anzuwenden“. Der fragwürdig hohe Preis, der letztlich für den feministischen Empörungs- und Entrüstungsversuch zu zahlen ist, liegt schließlich im Perpetuieren und Bekräftigen einer Ausweglosigkeit, die anzuerkennen freilich günstiger wäre. Denn: „Hanekes Figuren sind Gefangene: in sich selbst und in den Bildern, in denen sie sich aufhalten. Die Inszenierung gewährt ihnen fast keinen Spielraum, keine Bewegungsfreiheit; Haneke nimmt sie in die Haft seiner Kadrage, in die Bildhaft seines Sozialpessimismus.“ (Grissemann 2001: 19) Auch diesem Sozialpessimismus wäre letztlich hinzuzufügen, dass Haneke derlei politische Interpretierbarkeit als Möglichkeit anerkennt, die entscheidende Qualität seiner Arbeit hingegen sieht er nicht darin. Der Versuch einer bewussten Auseinandersetzung mit der Welt bedinge schließlich zwangsläufig, Ideologiekritik einfließen zu lassen. Politische messages in künstlerischen Arbeiten seien kontraproduktiv. Der Maßstab der politischen sowie auch jeder anderen Wirkung von Kunst sei allein die Genauigkeit ihrer Ausübung. Kunst hänge für ihn nicht von der Vermittlung einer Botschaft ab: „Die Art von Kunst, die das versucht – Brecht & Co. – hat mich jedenfalls immer gelangweilt.“ (Haneke/Grissemann 2001: 175-176) Wenn auch die Cahiers du Cinéma betonen, dass Die Klavierspielerin es verdient, gesehen zu werden, da Haneke endlich gefunden habe, „ce qui désespérément lui manquait – une sotte confiance dans les pouvoirs du narratif“31, so bleibt dennoch eine physisch beim Zuschauer sich bemerkbar machen sollende Transgression (über die Schmerzgrenze hinaus), konzipiert als parodistische Umkehrung: „Der klassische psychologische Roman und auch das Genrekino erklären ununterbrochen, warum ihre Figuren so sind, wie sie sind: Das ist das Dümmliche daran. Die Conclusio soll aber dem Zuschauer vorbehalten bleiben und nicht schon im Werk mitgeliefert werden. Ich will den Zuschauer nicht entlasten. Ich halte meinen Film für die Parodie eines Melodrams, so wie der Roman eine Art Parodie des klassischen psychologischen Romans ist. Das war der Grund, warum ich das gemacht habe.“ (Haneke/Grissemann 2001: 179)

Das Ersetzen der psychologisierenden Elemente durch eine Außensicht auf die Konsequenzen und Wirkungen der Handlungen und Entscheidungen seiner Figuren wird Haneke in einer späteren Revision seiner Arbeiten den Titel der „Unsentimental Education“ bescheren; Hanekes Filme, so der Autor des Artikels, ließen sich als „Perversionen des Bildungsromans“ beschreiben (Grundmann 2010: 591). Wie dem 30 Lefort, Gérard. „Maso vocce: ‚La Pianiste‘ distille la violence comme si de rien n’était“. In: Libération, 05.09.2001. 31 Blouin, Patrice. „Le quatuor des névroses: La Pianiste de Michael Haneke“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 560, September 2001, S. 81.

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auch sei: Die selbstreflexive Kraft der Klavierspielerin liegt Haneke zufolge „in der radikalen Eliminierung alles Erklärenden in dieser Geschichte“ (Haneke/Grissemann 2001: 190) und damit letztlich auch im Wahren eines Abstands gegenüber jeglicher Form des Beurteilens der Handlungsträger bzw. dem Einnehmen einer möglichst verteidigenden Haltung gegenüber den Figuren: „Das Bild als solches ist neutral“, wie der Regisseur betont, es gehe letztlich darum, diese Neutralität durch Montage und Dramaturgie so weit als möglich zu wahren (Haneke/Grissemann 2001: 178). Haneke verhält sich gegenüber dem an Figuren begangenen „Verrat“, den er in diversen Produktionen ortet, schon früh sehr deutlich. Angesprochen auf seine Fernsehproduktionen bekundet er: „In manchen österreichischen Filmen zum Beispiel findet man einen Ton, der vorgibt, soviel klüger zu sein als die behandelten Figuren. Die Autoren scheinen jedesmal ganz genau zu wissen, wie es geht, nur ihre Helden sind ‚bedauerlicherweise‘ so dumm. Das ärgert mich maßlos, da fühle ich mich als Zuschauer für blöd verkauft. Wenn ich die Figur nicht ernstnehmen kann, warum schau ich mir den Film überhaupt an? Mit ‚Identifikation‘ hat das alles übrigens nichts zu tun: Ich kann einer Figur ganz kalt zusehen, wenn nur das Geschehen interessant genug ist. Ich mag keine Filme, die mir vorschreiben, wie ich die Charaktere zu sehen habe. Ich mag weder die typisch österreichische Häme gegenüber den Figuren noch die verlogen mitleidheischende Art der Charakterisierung, diesen besserwisserischen sozialdemokratischen Sentimentalismus.“ (Haneke/Grissemann; Omasta 1991: 209)

Die Bemühung um ein möglichst mannigfaltiges Ergebnis der Bedeutungszuweisung seitens des Publikums kristallisiert sich nicht zuletzt auch aus dem Vergleich, dem kalkulatorischen Umgang mit relational gedachtem Filmmaterial und seinen rezeptiven Folgen: Hinsichtlich der dem Film grundlegenden Idee, einen Film über sexuelle Aggression zu drehen, derart, dass der Schock nicht den Blick verstellt, erinnert Haneke an Virginie Despentes’ Baise-moi (2000) und Catherine Breillats Romance (1999), „als Beispiele dafür, wie einseitig die Auseinandersetzung der Journalisten mit Kino sein kann“ (Haneke/Grissemann 2001: 191) – die Schilderungen und Diskussionen der Filme hatten sich in diesen Fällen weitgehend auf die sexuell expliziten Szenen beschränkt, im Fall von Romance gar auf die „Penis-Beschaffenheit des Pornodarstellers. Vom Film erfuhr man nichts.“ Es sei Haneke darum gegangen, dies zu vermeiden; als orientierungswürdig hinsichtlich der Darstellung von Sex und Gewalt führt er Nagisa Ōshimas Im Reich der Sinne (1976) und Pier Paolo Pasolinis Salò (1975) an. (Haneke/Grissemann 2001: 191) „Obszön ist all das, was sozial nicht zugelassen ist. Pornographie dagegen versucht, das Obszöne konsumierbar, verkaufbar zu machen. Der Film beschreibt eine psychische Haltung, die nicht ‚zugelassen‘ ist: Schon darin ist er also obszön. Übrigens hoffe ich, daß in diesem Sinn alle meine Filme obszön sind. In zweiter Linie geht es aber in Die Klavierspielerin auch um eine konkrete Darstellung des Erotischen, die nicht den Konventionen entspricht.“ (Haneke/Grissemann 2001: 191)

Der erigierte Penis in Großaufnahme, der im Film nicht zu sehen ist, weil er letztlich Protagonist der besagten Kürzung war, hatte nicht nur die Aufnahme des Films in den Wettbewerb von Cannes empfindlich verzögert, sondern auch die Dreharbeiten,

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wie Haneke ein Jahrzehnt später zugibt: Im Roman sieht Erika zu, wie Walter kommt – produktionstechnisch bedeutete die Adaption der Szene, aufgrund der Verweigerung Magimels, das Engagement eines Doubles vermittels eines Penis-Castings mit Pornodarstellern. Der erwählte Kandidat, der zunächst Anlaufschwierigkeiten hatte, war schließlich mit seinem Freund ans Set gekommen, und das wiederum mit dem technischen Hilfsmittel einer Pumpe unter Verweis des Regisseurs und des Kameramanns ins Off, wobei einer der Bildausstatter die Beleuchtung vertauscht hatte und die Beleuchtung der Szene letztlich nicht mit der Beleuchtung der übrigen Sequenz übereinstimmte. (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 213) Haneke hatte die aufwendige Szene dennoch bis zuletzt behalten, entgegen aller Einwände seiner Produzenten, bis schließlich Cannes-Präsident Gilles Jacob ihre Zensur als Bedingung für den Eintritt in den Wettbewerb beantragt hatte.32 Die Klavierspielerin ist derjenige Film Hanekes, der seinen früheren Fernsehfilmen stilistisch am Nächsten steht. Entsprechend ist er, wie der Regisseur selbstreferenziell betont, „mon film le plus accessible dans la forme“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 210) – und bis dahin Hanekes größter Erfolg an den internationalen Kinokassen.

43. E INE „ SPEZIFISCH ÖSTERREICHISCHE P ATHOLOGIE “, GEDREHT IM H ALB -E XIL : D IE AUTODESTRUKTIVE INNERE D YNAMIK DES „F ILMLANDS Ö STERREICH “ „Nous sommes ici au pays de Thomas Bernhard, dans la ligne duquel s’inscrivent aussi bien Jelinek que Haneke. Un pays que ses plus acides créateurs dissèquent au scalpel, pour en débusquer les bassesses et les perversités, parce que derrière la façade proprette, la vérité des êtres est autrement plus rance.“33

„kennen Sie dieses SCHÖNE land mit seinen tälern und hügeln? es wird in der ferne von schönen bergen begrenzt. es hat einen horizont, was nicht viele länder haben.“ (Jelinek 1975 [2004]: 5) – Mit diesen Worten leitet Elfriede Jelinek 1975 ihren Roman Die Liebhaberinnen ein. Für Haneke so wie für Jelinek ist Die Klavierspielerin eine substanziell österreichische Geschichte, dergleichen man Haneke zufolge vielleicht gerade noch in Japan fände: „Il me semble que seuls peut-être les Japonais peuvent expérimenter cette tension entre la rigidité d’une tradition et une résolution dans l’excès.“34 Wenngleich die Geschichte auch ein „universelles, die industrialisierte Welt betreffendes Thema“35 habe, so zeige sie dennoch Symptome einer Gesellschaft, die als meisterlich insbesondere darin sich erweise, unter den Teppich zu kehren, was sie für unangenehm befindet. Im Halb-Exil quasi dreht Haneke den Film, als französisch-österreichische Koproduktion, mit bitter-ernstem Blick auf eine Nati32 Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller. 33 Bourthors, Jean-François. „Une Isabelle Huppert torturée“. In: La Croix, 05.09.2001. 34 Haneke im Interview. Héliot, Armelle. „Portrait“. In: Le Figaro, 05.09.2001. 35 Haneke im Interview. Tinazzi, Noël. „Huppert, ‚pianiste‘ sous haute tension“. In: La Tribune, 05.09.2001.

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on, die ihre Künstler verachte – wie es die Reaktionen auf Jelineks Schaffen im Gravitationsfeld des rechten Lagers um Jörg Haider in aller Drastik gezeigt haben. Als Resultat ist schließlich auch eine künstlerische Artikulation anzuführen, die – via Haneke und mehr noch über die Umwege des internationalen Erfolgs in Cannes – schließlich für beispielhaft befunden und vereinnahmt wird. – Von einer Regierung, die im selben Atemzug die Fördermittel kürzt: „Tous les politiques se sont félicités des prix remportés par mon film comme s’ils en étaient eux-mêmes les créateurs, et ils l’ont désigné comme l’exemple de ce qu’il fallait faire dans le cinéma autrichien aujourd’hui. Je ne sais pas quelle est la part d’hypocrisie et d’idiotie dans ces déclarations officielles, car, parallèlement, ce gouvernement n’a fait que réduire dramatiquement les moyens du cinéma. Mais la reconnaissance du film à Cannes m’a fait plaisir pour Elfriede, qui est si mal traitée en Autriche.“36

Die Klavierspielerin zeige plausiblen Einschätzungen zufolge letztlich die Rückkehr dessen, was im Namen der Kulturnation geopfert wurde: „[…] c’est l’humain, le désir et le désordre qui, soudain, réclament leur dû dans la vie d’Erika Kohut. Elle était au service de Schubert et de Schumann, elle se sert du sexe pour reprendre possession d’elle-même.“ 37 Auf die schwarze Kehrseite der österreichischen Hochkultur mittels des Obszönen zu verweisen, liegt für Haneke jedoch keineswegs nur in der Inszenierung einer Frau und ihrer Blickpolitik, die die dominanten Geschlechterverhältnisse umkehrt. Haneke, der eigenen Angaben zufolge dem feministischen Gestus gegenüber nur reserviert auftreten kann (es erschiene ihm heuchlerisch, als Feminist aufzutreten, der er nicht ist), hat die Figur des Walter ausdifferenziert. Weniger hilflos ist sie deshalb freilich nicht: „Du sprichst von Anarchie und willst deine Liebe opfern für ein Wochenende mit Mama …“, beklagt er, als Matrix, indirekt die Präsenz einer Mutter, die wiederum kraft objektivierter Perspektivierung schließlich zum Sinnbild, zu einem veritablen pars pro toto wird: „Autriche, mère blafarde“, heißt es in der französischen Presse, die – in Anlehnung an Hanekes Absichten – eine „Mutter Österreich“ in den Raum stellt, die Sklaven brauche. Eine Kulturnation, die Interpreten will, keine Schöpfer: „La déification des interprètes est un élément fondateur de l’identité nationale autrichienne, et elle est inséparable d’un profond mépris pour les artistes, quel que soit leur champ d’expression. Il y a une longue liste d’artistes qui ont trouvé cette situation insupportable, même en dehors de l’époque nazie, comme Robert Musil ou Thomas Bernhard. En France, les artistes sont des gens honorables. Ici, ce sont des déchets. Pour les pianistes ou les comédiens, ça va : ce sont des interprètes, donc des vaches sacrées. Mais des vaches à traire aussi.“38

36 Haneke im Interview. Strauss, Frédéric. „Autriche, mère blafarde“. In: Télérama, 05.09.2001. 37 Strauss, Frédéric. „Autriche, mère blafarde“. In: Télérama, 05.09.2001. 38 Jelinek im Interview. Strauss, Frédéric. „Autriche, mère blafarde“. In: Télérama, 05.09.2001.

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„Sie wünscht sich innigst, daß er, anstatt sie zu quälen, die Liebe in der österreichischen Norm an ihr tätigt. Wenn er sich leidenschaftsmäßig an ihr ausließe, stieße sie ihn mit den Worten: zu meinen Bedingungen oder gar nicht zurück“ (Jelinek 1983 [2008]: 234), schreibt Jelinek. Über und unter Erika steht ein Walter, für ein Misslingen der Solidarität im Leid („Du bist krank Erika, du solltest dich behandeln lassen.“) und ein Identifikationsangebot, das – so nicht heftigem Widerstand entgegnend – bis hin auf das Selbstkritischste wahrgenommen wird: „de quel fascisme sommes-nous capables, ici et maintenant?“39 – Haneke findet bereits hier international als derjenige Regisseur Beachtung, als der er sich mit dem Weißen Band einschlägiger profilieren wird: als einer, der „vom Ansetzen des Faschismus im Kriegsgebiet der Familienzelle berichtet“ (Grissemann 2001: 20). Die wissenschaftlich so bereitwillig geführte Debatte um allfällige „Machtverhältnisse“ lässt sich an den Achsen der Zweier-, Dreier- oder Viererbeziehung nicht im Konsens auflösen. Übermächtig jedenfalls ist die Zwangsstruktur, die ihre visuell vielleicht plakativste Konkretion in der Vergewaltigung am Vorabend des Abschlusskonzertes findet: „Sei doch ein bisschen kooperativ! Ich will ja spielen lernen, Frau Professor. Aber nicht immer und ausschließlich nach deinen Regeln. Man kann nicht einfach so in Menschen herumwühlen und sie dann zurückstoßen. Also sei jetzt bitte ein bisschen lieb zu mir, ja? Du kannst mich doch so nicht weggehen lassen.“ Er küsst die paralysierte und geschlagen in sich zusammengesunkene, aus der Nase blutende Frau, um sie auf ihre letzten Worte hin – „Hör auf bitte“ – schließlich zu penetrieren: „Du musst schon ein bisschen mithelfen … du kannst mich jetzt nicht allein lassen hier, lieb mich bitte … Soll das heißen, dass ich ebenso gut verschwinden kann?“ „Ich möchte dich bitten, niemand was zu erzählen. Ich denke, das ist ja auch in deinem Interesse“, fügt Walter der Vergewaltigung hinzu, die er obendrein noch zu legitimieren sucht: „Man kann Männer nicht in solchen Dingen demütigen … und … das ist unmöglich.“ Zögerlich erfolgt dann der Übergang zur Tagesordnung: „Kommst du zurecht? Brauchst du irgendwas? Geht’s? Weißt du, bis du heiratest, ist alles wieder gut. Ciao.“ – Mit anderen Worten, mit den Worten Jelineks nämlich: „Er fragt, ob ihr nichts fehle, und beantwortet sich selbst die Frage mit: es wird schon! Bis du heiratest, ist alles wieder gut, blickt Klemmer kraft Volksweisheit in die Zukunft.“ (Jelinek 1983 [2008]: 279) Der Blick in die Zukunft erhält vor dem Hintergrund der den Filmbereich drastisch treffenden Sparpolitik der österreichischen Regierung, die das Budget um ein Drittel kürzen will, eine unwillkürlich tragischere Note. Hanekes Filme schreiben sich in eine Kulturnation ein, in der Kino und Film einen grundlegend anderen Stellenwert haben als im Koproduktionsland. Das „Filmland Österreich“ verzeichnet eine relativ autodestruktive innere Dynamik, die an der Klavierspielerin aufbricht: Für Aufsehen sorgt nämlich das Fehlen der Klavierspielerin 2001 im Programm der Viennale, dem Vienna International Filmfestival. Haneke, der die Viennale seit der Übernahme der Direktion durch Hans Hurch 1997 entschieden boykottiert, empört sich gegen die Vorwürfe eines von den österreichischen Kulturschaffenden angeblich geforderten „Schulterschlusses“, die der Direktor angesichts der Reaktionen auf die 39 Lefort, Gérard. „Maso vocce: ‚La Pianiste‘ distille la violence comme si de rien n’était“. In: Libération, 05.09.2001.

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Lücke im Programm ortet; eine Unterstellung, die er in Andeutungen mit dem von der Regierung geforderten „nationalen Schulterschluss“ gegen die 2001 von der EU über Österreich verhängten Sanktionen in Zusammenhang bringt. Hurch hatte bereits Jahre zuvor mit kritischen Worten zum österreichischen Filmschaffen (Hanekes und einiger seiner Kollegen) für Diskussion gesorgt, nicht zuletzt hatte er im Vorjahr – daran stößt sich die Kritik besonders – schon vorab zwei österreichische Filme als misslungen bezeichnet und sich damit – so Haneke – über seine Aufgabe als Organisator eines Festivals hinaus als „subventionierter Kritiker“40 (dis-)qualifiziert. Auf Betreiben der Presse hin wird Hurch zu seiner konkreten Kritik an Hanekes Filmen Stellung beziehen: „Es gibt in seinen Filmen etwas, was mir zutiefst widerstrebt. Ich glaube das besonders gut zu sehen, weil ich selbst ein katholischer Oberministrant war. Es gibt darin eine gepflegte Koketterie mit dem Unglück, ein kaltes, kleinbürgerliches Spiel mit der Verzweiflung. Ich finde, Haneke ist ein Anti-Bresson, obwohl er von sich sagt, dass er Robert Bresson so verwandt ist. Bresson zeigt die Welt jedoch als untröstlich, und Haneke zeigt sie als trostlos. Wenn man es zuspitzen möchte: Das, was Haneke kritisiert, ist dasselbe, was er tut. Das ist ein Kreis. Es gibt diesen berühmten Ausspruch von Brecht: ‚Ein Peitschenhieb bleibt ein Peitschenhieb, auch wenn er für die richtige Sache geschieht.‘ Ich habe also ein ästhetisches Problem mit seinen Filmen. Das habe ich auch bei der Pressekonferenz gesagt, aber es wird offenbar schwieriger, darüber zu sprechen. Wobei die Entscheidung Hanekes, den Film der Viennale nicht zu geben, völlig legitim ist. Das ist sein gutes Recht zu sagen, er fühle sich dort nicht gut aufgehoben, obwohl es zugleich auch wehleidig ist.“41

Haneke ist Mitglied (ehemals Vorstand) des österreichischen Regieverbands, in dem man Hurch aufgrund seiner Äußerungen zu gewissen österreichischen Produktionen gemeinschaftlich als „erklärten Verächter des heimischen Spielfilms“ ablehnt, derart „gehäßig“ habe er sich argumentativ betätigt, wie Haneke betont: „Schlechte Kritiken ärgern weder mich noch meine Kollegen, es geht um das Niveau, um die Absicht. In der österreichischen Kritik wird häufig und gerne unter der Gürtellinie argumentiert. Das hat wohl mit dem typisch österreichischen Minderwertigkeitskomplex zu tun. Einem Land ohne Filmtradition traut man keine Qualität zu. Und da man als Kritiker selbst ja kein Hinterwäldler sein will, muss man alles, was aus diesem Land kommt, verächtlich machen. Die fatale Situation ist aber die: Aufgrund dieser Haltung ist der Film in Österreich nicht sehr populär bei der Bevölkerung. Wenn nun die Regierung dem Film das Geld wegnimmt, kann sie sogar mit Applaus rechnen. In Frankreich würde bei ähnlichem Vorgehen Kritik und Filmbranche mit Unterstützung der Bevölkerung protestieren.“42

40 Michael Haneke im Interview. Unbekannt. „Wider das Prinzip der Verächtlichkeit“. In: Der Standard, 05.09.2001. 41 Hans Hurch im Interview. Kamalzadeh, Dominik. „Hans Hurch: Heimisches Kino braucht keine Schutzzone“. In: Der Standard, 29.08.2001. 42 Michael Haneke im Interview. Unbekannt. „Wider das Prinzip der Verächtlichkeit“. In: Der Standard, 05.09.2001.

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In Frankreich, jenem Land, „in dem Haneke groß geworden ist“43, hat der so verstörende Film, gedreht in einem Wien, das sich als Tourismusstadt zusehends entfremdet, jedenfalls selbst für skeptischere Kritiker keinen explizit denunziatorischen Charakter: „Le film ne juge ni ne condamne, il observe sans expliquer cette double vie. Double vue devrait-on dire entre la banalité captée et la perversité captivée puis réduite à un acte gratuit pour voyeurs et iconoclastes. Finalement, ce chemin tortueux qui passe de la leçon appliquée au désordre assumé, de la partition au sex-shop, transforme le malaise en dégout et la gêne en ennui. La partition se dédouble mais la symphonie reste mineure.“44

Auffällig hinsichtlich der französischen Rezeption der „spezifisch österreichischen Pathologie“45 ist, dass dem Triumvirat Haneke-Jelinek-Huppert gemessen an den Interviews eine relativ gleichmäßig verteilte Aufmerksamkeit zukommt. Und nicht gerade selten artikuliert sich diese in Superlativen: „Tout est là : dans un film impressionnant, Haneke montre combien les actions les plus nobles peuvent être, aussi, les plus violentes, les plus dérangeantes, et comment les amours les plus anodines cachent les pulsions les plus sadiques. Pour tenir cela dans un film, il faut une rigueur de tous les instants, et une actrice au sommet de son art. Haneke et Huppert sont sur cet Everest de maîtrise et de perversité.“46

42. „C OMME

UN MATÉRIAU “: V ON DER G ROSSAUFNAHME ZURÜCK ZUM S ET – I SABELLE H UPPERT UND DIE K OMPROMISSLOSIGKEIT DES T AGESLICHTS

Wie über weite Strecken der Karriere Hanekes zu beobachten, verhält sich das Publikum seinen Filmen gegenüber sehr scharf geteilt, und diese Kontinuität erfährt auch an der Klavierspielerin keinen Bruch: die einen mögen den Film, die anderen schlicht nicht. Einstimmig gelobt hingegen wurde in Cannes das Talent der Hauptdarstellerin, die buchstäblich beeindruckt hat, wie es schließlich auch die – vom Film ansonsten weitgehend eher mäßig überzeugten – Cahiers du Cinéma in einer Sonderrubrik „Éloge de ... Isabelle Huppert“47 festhalten. Der Dictionnaire des Films versucht sich in einer Beschreibung der Gesamtrezeptionssituation:

43 Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller. 44 Borde, Dominique. „Michael Haneke, un art de l’intransigeance“. In: Le Figaro, 05.09.2001. 45 Rebhandl, Bert. „Nicht anders möglich – Der neue österreichische Spielfilm und sein Mangel an Realitätssinn“. In: kolik.film, Sonderheft 1/2004, S. 6. 46 de Baecque, Antoine. „La Pianiste, la folie sur toute la gamme“. In: Libération (Rubrik „Les tentations de Libération“!), 07.09.2001. 47 Larcher, Jérôme. „Éloge de ... Isabelle Huppert“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 558, Juni 2001, S. 24.

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„Mise à part la qualité de l’interprétation d’Isabelle Huppert qui a fait l’unanimité à Cannes, ce nouveau film de Haneke a suscité des réactions très contrastées. Les uns ont salué l’audace et le talent du réalisateur protestant autrichien qui n’hésitait pas à présenter très crûment l’univers désespéré de la solitude sadomasochiste, cependant que d’autres jugeaient enfantines, risibles ou poisseuses les scènes de perversion regroupées dans ce film aux intentions profondément ambiguës.“ (Lamy 2010: 1036)

Erstaunlicherweise besticht Huppert allerdings genau mit dem Kunstgriff jener Doppeldeutigkeit, mit der Haneke so oft auf Ablehnung stößt. Als beinahe rollenunabhängige Inkarnation der Trennung von Intimität und Vertrautheit steht sie für eine Distanziertheit, die ihr im Mindestmaß das Urteil einer Qualität des Mysteriösen einbringt: „Chez Isabelle Huppert, il existe un étrange et singulier rapport entre le contrôle ou la maîtrise d’une part, et l’inconscient ou la pulsion de l’autre. C’est dans cet entre-deux, cette zone indicible et floue, mystérieuse, qu’elle se cache et se montre. Qu’elle apparaît et disparaît.“ (Toubiana 2005: 10) Ganz oben auf der Liste der Attribute, die die Grundbausteine der Elogen sind, stehen Furchtlosigkeit und Integrität: „je n’ai jamais rencontré de comédienne plus intelligente, ou de personne plus intelligente chez les comédiens qu’Isabelle Huppert“, bemerkt Susan Sontag anlässlich einer Ansprache: „Puis je parlerai de son absence de peur en tant qu’artiste, en tant que comédienne, et je vois dans cette absence de peur quelque chose de très fort, quelque chose qui contiendrait un puissant élément de férocité, d’avidité, d’appétit, de disponibilité, de prise de risque, une part exceptionnelle de prise de risque.“ (Sontag 2005: 43)

„[…] il y a chez Isabelle Huppert quelque chose comme une avidité fatale et assumée […] un moi multiple, carnivore et irréductible“ (Chéreau 2005: 35), schreibt Patrice Chéreau über die Frau, die mit dem Feuer spiele ohne dabei zu verbrennen. Haneke, dem an einer privaten Geschichte, die gleichzeitig auch eine Gesellschaftsgeschichte ist, gelegen war, gibt mehrfach an, dass das für ihn einzig Erfreuliche (im Sinne von nicht stressbehaftet) am Drehen die Arbeit mit den Darstellern sei. Ingmar Bergman und John Cassavetes führt er als Meister auf diesem Gebiet und damit als seine Vorbilder an. Isabelle Huppert sei demgemäß überhaupt die Bedingung für die Realisierung des Films gewesen: „Je n’étais prête à faire ce film que si elle acceptait. Elle a deux qualités qui sont rarement réunies chez une comédienne : une sensibilité extraordinaire, qui lui permet d’exprimer la souffrance de manière très impressionnante, et la force d’une intellectuelle froide. Je ne connais aucune autre actrice capable de faire passer les sentiments et l’intelligence avec la même intensité.“48

48 Michael Haneke im Interviw. Strauss, Frédéric. „Michael Haneke a encore secoué la Croisette avec ‚La Pianiste‘“. In: Télérama, 23.05.2001.

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„Je ne me sens ni fragilisée ni remise en cause. Je me sens comme un matériau que l’on peut pousser à fond de ses possibilités“49, so Huppert, deren schauspielerischer Karriereradius sich nicht nur auf ein französisches oder europäisches Kino beschränkt. Die interkontinental sich betätigende comédienne bekundet in einem der zahlreichen Interviews, die ihr der Erfolg in Cannes beschert, eine Affinität zur Arbeit mit deutschsprachigen Filmemachern. Diese nämlich bedinge stärker als in Frankreich eine Instrumentalisierung der Darsteller.50 – Die Stellungnahme ist eine Anspielung insbesondere auf ihre Rolle in Werner Schroeters Film Malina (1991), angelehnt an Ingeborg Bachmanns gleichnamigen Roman (1971), für den sie 1991 den Deutschen Filmpreis als beste weibliche Darstellerin – an der Seite von Mathieu Carrière als Malina – entgegennimmt. Auch hier kollidiert Leidenschaft in ihrer tödlichsten Variante mit kalter Vernunft und entscheidet das Spiel für sich: „Es war Mord“, wie es am famosen Ende heißt. Das Drehbuch stammt von Jelinek, mit der Huppert einige Eigenschaften zu teilen vorgibt: zwei Frauen, die vermittels Interviews ihre Physiognomie zueinander in Relation setzen. Jelinek tut dies essayistisch, widmet Hupperts Gesicht einen Aufsatz: „Das wehrlose Gesicht“ (Jelinek 2005). Seiner „wehrloseren“ Form wird man des Gesichts gewahr, wenn man sie als Klavierspielerin etwa beim Spannen betrachtet bzw. mit ihr „mitspannt“: Hanekes reflexives, „fast schon ‚wissenschaftliche‘ Ratio“ (Grissemann 2001: 27) bekundendes Autorenkino führt via Erika ins Autokino. Dort läuft, dem Interesse aller engeren Beteiligten sich entziehend, ein Hollywoodstreifen, während wir mit Erika der Kopulation eines Paares beiwohnen. Hollywood im Hintergrund, zwei beim Vögeln, Erika unerwünscht dabei, wir mit ihr, wir bei ihr, und jeder davon ertappt, ehe er noch kommen kann. In keinem Film Hanekes war die Großaufnahme bislang so prominent zum Einsatz gekommen, in keinem finden wir das ganz Große so sehr im Kleinen angedeutet: „Hupperts unerhörter darstellerischer Minimalismus, der den Begriff ‚Filmstar‘ zugleich brüsk zurückweist und in ungeahnter Form revitalisiert, bietet eine ganz neue Kategorie des Schauspiels.“ (Grissemann 2001: 24) – Das Gesicht und seine Präsentationsform der Großaufnahme werden hier nicht nur zur Projektionsfläche sämtlicher emotionaler Möglichkeiten, ihm werden darüber hinaus die Spuren von Autorschaft überantwortet: „Ich würde sagen, die Schrift Hanekes sind die Gesichter seiner Akteure“, sagt Jelinek. (Jelinek/Zintzen; Grissemann 2001: 123) Demgemäß wird die erfolgreiche Autorschaft nachträglich zur verteilten Angelegenheit stilisiert: „Isabelle Huppert nimmt in Die Klavierspielerin über die Figur, die sie darstellt, hinaus, die Rolle einer Autorin an: Sie schreibt den Film mit, durch sie erst nimmt er Form, Gestalt an, ohne sie ist Hanekes Adaption, bei aller Kunstfertigkeit, nicht vorstellbar.“ (Grissemann 2001: 25) Das Gesicht im Hinblick auf seine Leinwandtauglichkeit kostet Geld, wie Produzent Heiduschka verständnisvoll bemerkt: „Bei der Klavierspielerin, das habe ich zunächst gar nicht gewusst, hat die Isabelle Huppert mit dem französischen Koproduzenten ausgemacht, dass ihre Falten retuschiert werden. Ich bin da 49 Isabelle Huppert im Interview. Péron, Didier. „Isabelle Huppert détaille sa première collaboration avec Haneke: ‚Ni fragilisée ni remise en cause‘“. In: Libération, 05.09.2001. 50 Isabelle Huppert im Interview. Vgl. Levieux, Michèle. „La pianiste est une mutante: Conversation avec Isabelle Huppert à l’occasion de la sortie de la Pianiste, de Michael Haneke, adapté du roman d’Elfriede Jelinek“. In: L’Humanité, 05.09.2001.

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irgendwann draufgekommen, als ich eines Tages die Rechnung sehe. Und ich frage, ‚Was ist denn da?‘ und er sagt, ‚naja, die haben wir retuschiert‘. Der Christian Berger – das ist ein absoluter Profi – hat gesagt: ‚Du, wenn sie nicht auf den Termin kommt (der Streifen am Boden, bis zu dem sie kommen muss, damit der Kameramann auf die Schärfe kommt und das richtige Licht gegeben ist), dann muss ich zu ihr gehen und sagen: ‚Isabelle, was ist?‘ – ‚Das Licht stimmt nicht.‘ Sie stellt sich hin, nimmt einen Spiegel und schaut, wie sie aussieht – den Kopf immer ein wenig vorgestreckt, damit ja kein Doppelkinn ist. Da hat man Verständnis dafür, die kommt in ein Alter und Frauen kriegen ab einem bestimmten Alter nicht mehr so viele Rollen. Da geht’s ja nicht nur allein ums Geld, sondern um den Selbstwert, den man hat, das Selbstwertgefühl. Das ist bitter.“51

Dem Verweis auf die Tatsache, dass dieses Problem zumindest für die Leinwand technologisch „lösbar“ ist, stimmt Heiduschka herzlich lachend zu und ergänzt: „Film muss ja nicht wahr sein, sondern er muss wahrhaftig sein. Und wir sind ja die größten Gaukler, die es gibt: die Zauberer müssen ihre Tricks anwenden und wir haben sie natürlich auch. Das beginnt bei der Dramaturgie: Oft saß Haneke da und sagte: ‚Bei der Szene funktioniert etwas noch nicht, da hab ich das Publikum noch nicht, da pack ich es noch nicht, da muss mir noch etwas einfallen, da muss ich das Publikum noch packen.‘ Weil es immer falsch auch behauptet wird: Er ist grundsätzlich am Publikum interessiert, auch wenn er manchmal was anderes sagt (seinen Studenten vielleicht); er ist der erste, der am Montag anruft, nach einem neuen Kinostart und fragt: ‚Ja wie viele Zuschauer haben wir denn?‘ Er macht ja die Filme nicht für die Schreibtischlade sondern für ein Publikum.“52

Als noch weit „verteiltere“ Angelegenheit erweist sich Autorschaft im Prozess des Drehens, aber auch schon davor, wenn es darum geht, die Menschen, Zauberer und Dinge zu versammeln, die der Text des Drehbuchs vorsieht: Als beispielhaft anzuführen wäre so etwa die für die Verkörperung der Mutter zunächst vom Regisseur vorgesehene Jeanne Moreau – die erste Wahl vor Girardot, die den Ablauf der Produktion jedoch verkompliziert hatte: Moreau besteht – entgegen der Vorschläge Hanekes – auf ihren eigenen Friseur und darauf, nur eine einzige Farbe sowie nur bestimmte Kostüme zu tragen. Buchstäblich auf Dinge ausgelagerte Unstimmigkeiten zwischen Moreau und Annette Beaufays, der Kostümbildnerin, bewegen Haneke schließlich dazu, die Zusammenarbeit zu beenden und auf die bereits vom Beginn ihrer Alzheimerkrankheit beeinträchtigte Girardot zurückzugreifen, die hinsichtlich ihrer schauspielerischen Leistung von der Kritik letztlich auf einer Ebene mit den beiden Hauptdarstellern angeführt wird. Ein Coach an ihrer Seite hatte ihr während der Dreharbeiten bei den Textrepetitionen geholfen. (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 215) Autorschaft erfordert naturgemäß Dinge in allen erdenklichen Materialisierungen, deren Zusammenspiel zur realistisch motivierten Fiktion erforderlich ist: Stefan Grissemann dokumentiert punktuell und eingängig Geschehnisse am Drehort, die Entstehung eines Stücks Kino, das die Figuren beim Verlassen der Musikhochschule zeigt: Kabel, Kisten, Statisten, ihre Frisuren, alles gehört an seinen Platz, muss sitzen. Un51 Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller. 52 Ebd.

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erwünschte Reflektionen in den Glasscheiben des Gebäudes (Leute des Teams, Passanten, das Gestänge des Kamerapostens etc.) verzögern die Arbeit, das unverlangt mitgebrachte Cello einer Nebendarstellerin löst eine kleine Realismusdebatte aus: Ist es überhaupt plausibel, dass eine Musiklehrerin ein Instrument dieser Größe täglich geschultert nach Hause trägt? Von den metallisch schnarrenden Funkgeräten, vermittels der die noch abwesende Isabelle Huppert geortet und ihre Ankunft zeitlich eingeschätzt werden kann, bis hin zur Sonne fügen sich Akteure in einen Wettlauf mit der Zeit, und damit letztlich auch mit dem Geld: „Ein rauher [sic!] Wind geht vor dem Tor der Hochschule, trotz der prognostizierten hohen Herbsttemperaturen: An die zehn Verkühlungen zählt man nach einer Reihe von Außenaufnahmen im Team bereits. Die Morgensonne, die ihren Wirkungsbereich langsam in Richtung der Straßenecke, an der man hier dreht, verschiebt, bringt dennoch wenig Freude. Mit ihr kündigt sich ein Kampf an, der so alt ist wie das Kino selbst: der Konflikt des Filmemachers mit dem Licht. Haneke braucht an der Straßenecke Schatten, Eile ist geboten, das Tageslicht ist kompromißlos.“ (Grissemann 2001: 168)

In der österreichisch-französischen Koproduktion, die Die Klavierspielerin ist, bleibt das „Prestige“ der „Originalversion“ zweigeteilt, gedreht jedenfalls wurde zweisprachig. Und während Haneke die französische Version (das Drehbuch hatte er auf Deutsch verfasst) als seine Favoritenversion anführt (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 221) – die Mutter, Erika und Walter wurden anschließend deutsch synchronisiert –, so wird umgekeht die französische Version an mancher Stelle kritisiert: durch die französische Synchronisierung der Nebendarsteller nähme der Film Qualitäten eines schlechten Fernsehmelos an, wie eine der Pressestellungnahmen beanstandet. An anderer Stelle wiederum heißt es, dass die verteilten Sprachmodalitäten die nicht kommunikativen Potenzen des Films in einem positiven Sinn verstärken würden: „Isabelle Huppert, Benoît Magimel et Annie Girardot se détachent nettement de l’arrière-plan sociologique que constituent les seconds rôles viennois (qui sont tous doublés dans la version présentée en France), et le décalage entre la langue et les situations procure un surcroît d’intensité aux relations infernales entre les trois personnages.“53 Die Übersetzungsthematik mit ihren linguistischen déplacements hat mit anderen Worten Irritationen zur Folge – im besten Fall stützt sie die so oft bei Haneke erkannten Prinzipien der Verfremdung, Befremdlichkeit und Distanz. Eine ganze Arbeit, so Catherine Wheatley, ließe sich allein zu den Titeln der Filme Hanekes und ihren problematischen Übersetzungen verfassen (etwa: The Piano Teacher oder La Pianiste, die der Ironie einer „Klavierspielerin“ nur unzureichend gerecht werden; schwierig auch Benny’s Video oder Funny Games als Titel einer österreichischen Produktion, in ihrem Transfer ins Englische). Die Sprachen der Titel und damit auch der Filme, so Wheatley, seien zudem Indikatoren für „Haneke’s trajectory from the national platform to the international“ (Wheatley 2009: 14). Nicht zuletzt bleibt mit einer Isabelle Huppert, die – wie ihr weniger erfolgreich sich schlagender Gegenspieler Benoît Magimel – beim Dreh das Klavierspiel chronometergetreu selbst übernehmen musste (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 219), kontextbedingt die Verkörperung gleich einer ganzen Reihe von international renom53 Sotinel, Thomas: „La douleur de ne plus souffrir“. In: Le Monde, 11.09.2001.

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mierten Künstlern, die – von Thomas Bernhard, über Elfriede Jelinek bis hin zu Haneke selbst – als „musiciens ratés“ gescheitert sind, woran Haneke zufolge auch die meisten (Mainstream-)Filme scheitern: an der Musik selbst (und diversen Dressurmaßnahmen im Dienste eines Ideals davon). Der Film ist folglich auch „un combat entre le cinéma et une certaine idée de la musique“ 54: „Si le violon a une âme, elle est sous verre chez les bourgeois recevant en privé Mademoiselle le professeur pour un récital privé.“55

41. A BSTRAKT

UND DENNOCH

A KTEUR ,

DIE

M USIK

In seinem Beitrag „Alltag und Katastrophe“ konzipiert Georg Seeßlen eine Art Mensch-Ding-Politik der Einstellungen von Hanekes Filmen als emblematisch für ein modernes Kino, das „genauer an die Realität gelangt, als es bequem ist“ (Seeßlen 2001: 193): „Das Ding, der Körper, die Sprache, das Bild. So also setzt sich, in einer Einstellung, der Mensch zusammen. Oder so fällt er auseinander, um genauer zu sein. Zur Wahrhaftigkeit der Filme von Michael Haneke gehört es, daß sie sich nicht als Medium anbieten, eine verlorene Einheit wiederherzustellen. Die furchtbare Einheit dieser Elemente dagegen ist der Alltag: Ding, Körper, Sprache, Bild (und die Sucht des einen, sich in das jeweils andere zu verwandeln, Körper, die wie Dinge funktionieren wollen, Bilder, die Texte werden wollen, Dinge, die Bilder, und Sprechakte, die Körper werden wollen) schaffen eine Struktur der Hoffnungslosigkeit. Aber auch der Film hat eine Struktur. Sie verhält sich zu der des Alltags, zu der der unerträglichen Realität, wenn man so will, parodistisch. Sie treibt die Bilder in den Bereich der negativen Utopie. So geht es weiter, sagt der Alltag. Kann es so weitergehen? fragt der Film. Die Menschen, behaupten die Maschinisten der Traumfabrik, interessieren sich nicht für den Alltag, weil sie ihn kennen, weil sie ihn hinter sich haben, weil er das notwendige Übel unserer Identität ist. Aber nein, sagen die Filme von Michael Haneke, die Menschen können den Alltag nicht sehen, weil er unerträglich ist. Weil er nichts anderes ist als das Grauen des Wirklichen. Weil er von Identität so weit entfernt ist wie eine Vergewaltigung von der Liebe. Weil er so fremd ist, daß man ihn nur bewältigt, indem man von ihm absieht. In […] Die Klavierspielerin beginnt Haneke damit, den Prozeß der Kunst, die vermeintliche Alternative, in die cineastische Kritik des Alltäglichen miteinzubeziehen. Die Linie läßt sich durch Kunst nicht mehr unterbrechen, das Kreisen zieht auch die ästhetische Produktion in ihren Sog. Jetzt wird es ernst.“ (Seeßlen 2001: 212)

Und doch, wie hinzuzufügen bleibt, ist bei allen Einschätzungen der „Unausweichlichkeit“, fernab jeglichen semantischen Konflikts also, dem Assoziationsfeld „Haneke“ stets die Andeutung eines Eskapismus-Potentials inhärent: jenes der Musik. Auf eine – im Konzept von Realismus ohnehin eher verwunderliche – Filmmusik im klassischen Sinn verzichtet Haneke; Musik gibt es nur vor Ort, als von den Figuren motivierte Praxis: gespielt oder interpretiert, gehört, gefühlt, wahrgenommen. 54 Lorrain, François-Guillaume. „La musique n’adoucit pas les mœurs“. In: Le Point, 07.09.2001. 55 Guilloux, Michel. „La Touche est cruelle“. In: L’Humanité, 15.05.2001.

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Zudem tritt mit Haneke auch ein Regisseur auf, der seine Filme – wie er das mitunter betont – vorzugsweise nach Gehör schneidet. „Hören Sie nicht die Kälte?“, maßregelt die Kohut einen Schüler. Die weniger prominenten Dokumente zur Entstehung der Klavierspielerin reichen bis in den Schneideraum. Eine Aufnahme56 zeigt Haneke und Huppert bei der Nachbearbeitung des Films; sie zeigt einen Haneke in action, der – wider alle ihm nachträglich eingebrachten Vorwürfe der inzwischen markentauglichen „sezierenden Teilnahmslosigkeit“ (Jaspers 2011: 53) – schreiend und stöhnend vor Isabelle Huppert zusammensackt, um ihr seine Vorstellung der Qualitäten der Vergewaltigungsszene physisch zu vermitteln: „ça doit être beaucoup plus physique, plus spontané, pas trop commentaire“, „les cris pour moi, c’est pas ça, c’est trop commentaire“. Sie wiederholen unablässig: „peut-être moins fort mais plus physique“. Die Schreie müssten härter sein, Klemmer habe ihr schließlich fast den Hals gebrochen. Die Handlung sei zu ernst, um sentimental zu sein. Viele Minuten vergehen auch mit der Übersetzungsproblematik der Züchtigung um die Hörbarkeit der Kälte: „Dites-moi, la froideur, ça vous dit quelque chose? Ou peut-être simplement vous vous en fichez?“ – mit welchen Worten könne man die Bemerkung, ob der Schüler denn die Kälte nicht höre, französisch synchronisieren? Hupperts Vorschlag ist dem Regisseur zu explikativ. Man einigt sich auf eine sehr offene Variante: „Pour ceux qui connaissent un peu la musique ça suffit, pour les autres je m’en fous“, beschließt Haneke. Die Stimmung entspannt sich, das Team amüsiert sich im Modus des private joke über die vielzitierte „Kälte bei Haneke“. „La froideur chez Haneke …“, setzt der Regisseur zur Erheiterung seines Teams und seiner Darstellerin an, die scherzhaft und unverzüglich komplettiert: „… ça on pourra en parler …“. Mit der Musik und ihren Wirkungspotentialen behauptet sich ein maßgeblicher Akteur, der in den Filmen sowie auch im Prozess ihres Entstehens sein – dem Begrifflichen freilich abseitiges – Eigenleben führt: „Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen: so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; weil wir so noch nicht sind, wie jene Musik es verspricht, und im unbekannten Glück, daß sie nur so zu sein braucht, dessen uns zu versichern, daß wir einmal so sein werden. Wir können sie nicht lesen; aber dem schwindenden, überflutenden Auge hält sie vor die Chiffren der endlichen Versöhnung.“ (Adorno 1928 [2003]: 33)

Nach etwas weniger als acht Minuten Hinführung, in der sich Mutter und Tochter ein für den weiteren Verlauf des Films bezeichnendes Duell liefern und sich dabei buchstäblich in die Haare geraten, beginnt die Credit-Sequenz, die Schuberts Liederzyklus Winterreise einführt. Quasi leitmotivisch im Narrativ des Films wird sich insbesondere das 17. Lied – Im Dorfe – des vierundzwanzigliedrigen Zyklus immer dann wiederholen, wenn Erika in sogenannten „Schlüsselszenen“ auftritt. Der Wandergeselle, der sich – wie es der von Schubert vertonte Text Wilhelm Müllers nahe legt – nach Zerbrechen einer aufkeimenden Beziehung mit dem Verlust seiner Liebe auf den Weg durch einen (nicht zuletzt mitunter als gesellschaftspolitisch gedeuteten) ei56 Unbekannte Aufzeichnung aus dem Schneideraum, aufgetaucht auf YouTube, aus urheberrechtlichen Gründen jedoch wieder von der Plattform entfernt.

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sigen Winter macht, stachelt zum Vergleich mit Erika selbst an: „The state of the wanderer invites comparisons with Erika, given her social alienation and her refusal of the illusions of romance. In the words of the director, ‚In the Village‘ encapsulates ‚the idea of following a path not taken by others‘“. (Ma 2010: 526) Die in fallenden Melodiephrasen sich ergehende Moll-Tonalität einer Lebensund Weltmüdigkeit, in deren Ummantelung jeder Wechsel in Dur weniger schmerzmildernd als empfindlich schmerzhafter ausfällt, korreliert mit einer Klarheit, die Adorno mit einer Reihe von kristallinen Metaphern argumentativ bewältigt. So sehr im Kontext der zweisprachigen Realisierung des Films für die französische Version auffallen mag, dass die Lieder als einziges Element nicht übersetzt wurden, so sehr wäre mit Adorno auf den ohnehin defizitären Charakter des Wortes in Schuberts Universum zu verweisen: „Keine Metapher mehr kann einen Weg bahnen durch die Eisblumenwälder […]. Seine [Schuberts; K.M.] blinde Neigung, in der Textauswahl mythologischen Gedichten zu folgen, ohne da zwischen Goethe und Mayrhofer noch viel Unterschied zu machen, markiert aufs drastischste das Versagen allen Wortes in jenem Tiefenraum, darin das Wort allein noch Stoffe abwirft, nie aber die Macht hat, sie wahrhaft zu erleuchten. Den leer fallenden Worten, nicht ihrer erhellten Intention folgt der Wanderer in die Tiefe, und selbst seine menschliche Leidenschaft wird zu Mittel des schauenden Abstiegs, der nicht in den Grund der Seele, sondern ins Gewölbe seines Schicksals führt.“ (Adorno 1928 [2003]: 29)

„Ich bin zu Ende mit allen Träumen; Was will ich unter den Schläfern säumen?“ – so die letzten Zeilen aus Im Dorfe. Mit der Winterreise erfährt Die Klavierspielerin als ein in Wirkungen sich realisierendes Kaleidoskop des Seelenzustands eines Menschen, der des Träumens zunächst wohl fähig, schließlich – seine Sehnsüchte stets in der Kälte der Realität ersterben sehend – jedoch nicht mehr willig ist, eine allegorische Verdoppelung. Musikalisch deutet sich an, was in Worten nur unzulänglich als Hinweisschild für ein Bedeutungs- und Eindrucksfeld von Entfremdung, Einsamkeit, Zurückweisung, Todessehnsucht, aber auch für die Vorzüge eines freiheitsbestrebten, kreativen Geistes stehen bleiben muss. Nicht zuletzt – und insbesondere denjenigen entgegen, die angesichts des Films reduktionistisch der „Perversion“ spotten – eröffnet die Musik einen Raum der Trauer und letztlich ein unverkennbares Potential der Transzendenz. Mit Haneke, eine Frage der Form: „[…] there is a great sense of mourning in Schubert that is very much part of the milieu of the film, I think. It is difficult to say if there is a correlation between the neurosis of Erika Kohut and what could be called the psychogram of a great composer like Schubert. But of course there is a great sense of mourning in Schubert that is very much part of the milieu of the film. Someone with the tremendous problems borne by Erika may well project them onto an artist of Schubert’s very complex sensibility. I can’t give further interpretation. Great music transcends suffering beyond specific causes. Die Winterreise transcends misery even in the detailed description of misery. All important artworks, especially those concerned with the darker side of experience, despite whatever despair conveyed, transcend the discomfort of the content in the realization of their form.“ (Haneke/Sharrett 2010: 584)

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Der vielfach angedeuteten Trostlosigkeit steht im weiten Möglichkeitsfeld der Interpretation, optional zumindest, eine gänzlich anders geleitete, wenig imperative und weisende Geste gegenüber: „In der klug gewählten Musik, die in diesem Film vor allem auf Kompositionen Schuberts, aber auch auf Stücke von Bach und Brahms zurückgreift, liegt ein heimliches Versprechen und letztlich doch eine Art Erlösungsphantasie: Man kann sie als eine Form der Trauer, der spirituellen Grundierung verstehen, als ein Mittel der Vertiefung, der Transzendenz.“ (Grissemann 2001: 16)

Wenn – so sich die Rede darüber ohnehin nur auf Andeutungen beschränken kann – Musik als ein Akteur konzipiert wird, dann weil sie hier den berühmten Unterschied macht. Schon insofern, als sie etwa – in ihrer augenscheinlichsten Form und den entsprechenden Interpretationen bereits – die Berührungsebene der beiden Figuren darstellt. Walters Eindringen in das Leben der Erika Kohut, oder vice versa, wenn man so will. Bleibt man schließlich beim Film, dann auch insofern, als sie eine Brücke schlägt, zwischen visuell äußerst kontrastiven Szenen. Musik meint hier dezidiert klassische Musik und diese nimmt am Schauplatz Wien, einem ihrer Zentren schlechthin, die Rolle eines „Akteurs“ mit einer gesellschaftlichen Funktion ein: als „höchste Kunstform“, wie Haneke stets auf ihren Status besteht, ist sie – wie es nicht zuletzt auch die Adorno-Zitate im Film in Erinnerung rufen – (unausweichlicher) Bestandteil einer Kulturindustrie. Wenn die Kamera Erika nicht statisch rahmt und sie buchstäblich einfängt, um insistent ihren Eigen- und Fremddisziplinierungsmaßnahmen beizuwohnen, so folgt sie in ausgedehnten Sequenzen ihren Wegen durch ein den Monumenten kulturellen Ruhms abseitiges Wien: Durch ein Einkaufszentrum in die Pornovideokabine etwa. Die Musik begleitet Erika, sie untermalt ihren Weg vom Konservatorium durch die bunt blinkenden Hochburgen des Konsums. Bilder aus scheinbar differenzierten und differenzierbaren Welten folgen mit anderen Worten alternierend aufeinander, verbunden durch sonore Brücken, die die Differenzierung unterwandern und damit – wie einer der Beiträge zur Klavierspielerin festhält, subtil eine Dekonstruktion des hochkulturellen Diskurses vornimmt, und dabei dennoch die Möglichkeit eines kreativen Aktes selbst sowie auch die der Interpretation offen hält. (Tweraser 2011: 201) Was die im Zusammenhang mit Haneke von wissenschaftlicher Seite vielfach betonte „zu kurz gekommene Gesellschaftskritik“ angeht, so ist diese dem Film schon insofern referentiell inhärent, als Haneke seiner Protagonistin Adorno explizit in den Mund legt und damit den Rahmen öffnet für die Frage nach den Potentialen und Funktionen von Kunst im Kontext einer sogenannten Kultur(-industrie) sowie die Frage nach den Möglichkeiten des Ästhetischen in der Gesellschaft. So wenig die Ästhetik Adornos sich von der Tatsache lösen lässt, dass Adorno die Barbareien des Krieges stets vor Augen hatte, so sehr gilt dies auch für Schubert und seinen thematisierten Winter. Haneke führt diese Tradition fort, seine Ästhetik steht in vielfacher Relation zum Krieg; zu einem Krieg der Bedeutungen, wie ihn die Rezeptionsgeschichte nahelegt, so sehr wie zu der von ihm zuweilen als „Bürgerkrieg“ zusammengefassten Thematik eines omnipräsenten Kriegs des Alltags. Musik – auf die Haneke im Sinne einer extradiegetisch eingespielten Filmmusik in seinem Kinowerk mit wenigen Ausnahmen aus Gründen eines realistisch motivierten Anspruchs weit-

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gehend verzichtet – ist, wie Isabelle Huppert in einem Interview betont, eine Metapher für Liebe.57 Und das ist freilich nur eine Möglichkeit. Denn die Interpretation ist ein Schritt, von dem auch Huppert sich letztlich immer wieder distanziert: Von Interesse sei im Prozess des Machens (vielmehr als das Warum) das Wie; in einem Universum, das viel eher das Technische als das Philosophische bediene.

57 Isabelle Huppert im Interview. Shirey, Brian; Wood, Bret. DVD Supplement. The Piano Teacher (Unrated Director’s Cut), Kino Video.

9. Code inconnu: Vom Widerstand als Kunst der Stunde zum Multikulturalismus als europäische Alltagspraxis

Am 21. und 22. März 2000 findet anlässlich des „Globalen Tages gegen Rassismus“ an sechs europäischen Schauplätzen das zur Unterstützung von Menschenrechten konzipierte Festival EUROPA, EUROPA – Kino gegen Rassismus statt. Entstanden aus einer Kooperation zwischen dem europäischen Abgeordneten und Präsidenten der internationalen Föderation SOS Racisme, Fodé Sylla, dem italienischen Regisseur Bernardo Bertolucci und Jean Labadie, dem Leiter des französischen Verleihs Bac Films, war der Ablauf ursprünglich an fünf Schauplätzen – Frankfurt, Brixton, Barcelona, Mailand und Lille – vorgesehen. Die politische Situation in Österreich zum gegebenen Zeitpunkt führt zur kurzfristigen Integration des Standorts Wien. Austragungsort des von SOS Mitmensch getragenen Events ist das Wiener Filmcasino, das im Anschluss an die im Themenfeld von Xenophobie und Rassismus sich bewegenden, bei freiem Eintritt zu sehenden Filmvorführungen via Satellit mit den anderen Teilnehmern verbunden ist. Das Kino wird damit zur interaktiven Plattform europaweit geführter Diskussionen. Präsident des Festivals ist der Schriftsteller Jorge Semprun, die „Schirmherrschaft“ der einzelnen Länder übernehmen Doris Dörrie (Deutschland), Ken Loach (Großbritannien), Bigas Luna (Spanien), Bernardo Bertolucci (Italien), Bertrand Tavernier (Frankreich) und schließlich Michael Haneke für ein Österreich, das erstmals in der Geschichte der Republik mit einer Regierungskonstellation konfrontiert ist, die die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP) mit der unter Jörg Haider stimmenmäßig gestärkten Freiheitlichen Partei Österreich (FPÖ), die mit etlichen minderheitenfeindlichen und rassistischen Aussagen ihrer Proponenten zu assoziieren ist, als Koalition vereint. Die nationalen Folgen umfassen (neben einer besorgniserregenden Politik) eine fortan von 14 EU-Staaten mit Sanktionen belegte österreichische Bundesregierung sowie eine Reihe von entsprechenden, mit erstem Februar einsetzenden wöchentlichen Protestkundgebungen („Donnerstagsdemonstrationen“) in der Bundeshauptstadt. Unter dem Titel „Die Kunst der Stunde ist Widerstand“ veranstaltet die Diagonale 2000 täglich Special-Screenings in Form von künstlerischen Filmen und aktuellen Videos von den Demonstrationen. Basis für die Intervention ist die – bereits bei der Berlinale publik gemachte – Reaktion der Filmbranche auf die Regierungsbildung,

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die im Rahmen der Pressekonferenz ihre Materialisierung findet: Eine Protestresolution wird veröffentlicht, FilmemacherInnen und im Bereich der Branche Tätige unterzeichnen die Rücktrittsforderung: „Egal, was uns die ÖVP-FPÖ-Regierung verspricht, welches Programm sie sich vornimmt, welche Arbeit sie leistet: Wir wollen keine Regierungskoalition mit einer Partei akzeptieren, die sich über den demokratischen Grundkonsens hinwegsetzt. Die FPÖ forciert Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und betreibt die Diffamierung von Andersdenkenden. Diese Koalition mit der FPÖ ist der Versuch, solchen Vorgangsweisen Legitimität zu verschaffen. Deshalb lehnen wir diese Regierung ab. Wir fordern ihren Rücktritt.“1

Unter der „Schirmherrschaft“ von Michael Haneke ist unter Beteiligung eines breiten Aufgebots an „österreichischen“ Filmschaffenden zudem ein Episodenfilmprojekt (Österreich heute: Work in Progress) geplant, das den Widerstand künstlerisch untermauern soll. Eine Reaktion der freiheitlichen Fraktionsobfrau Heidemarie Unterreiner im Kulturausschuss des Gemeinderats bewertet das Projekt daraufhin als parteipolitisch motivierte „Propaganda“. „Filme ‚gegen Schwarz-Blau‘ schon bald auf der Subventionsliste: Rückfall in die Ära des Ideologiefilmes scharf abzulehnen“, so der Programmtitel Unterreiners, den die Pressestelle des Klubs der Freiheitlichen in ihrer Aussendung wie folgt zusammenfasst: „Es möge jedermann vorbehalten sein, sich filmisch – in welche auch immer geartete Richtung – zu betätigen. Wenn jedoch Regisseure wie Haneke, der trotz Erfolglosigkeit ständig öffentliche Subventionen erhalten habe, jetzt derartige Projekte ankündigen, befürchtet Unterreiner, daß vom ‚roten Wien‘ großzügig Gelder fließen könnten, um Propagandafilme gegen die neue Bundesregierung zu finanzieren. Haneke habe, was die Akzeptanz beim Publikum anbelange, bislang ohne Erfolg auskommen müssen. Wenn er jetzt glaube, mit einem Rückfall in die dunkle Ära des Ideologiefilmes zur höheren Ehre der SPÖ (finanzielles) Wohlwollen bei den Genossen erzielen zu müssen, dann seien Steuermittel falsch eingesetzt. Die Zukunft des österreichischen Films liege nicht im öden, verstaubten Ideologiefilm mit beschränktem Interesse beim Publikum sondern im international erfolgreichen Film. Unterreiner bekräftigte daher ihre Position, wonach der österreichische Film endlich auf Erfolgsschiene gebracht werden müsse und nicht vermeintlich künstlerisch wertvolle Randgruppenprojekte schwerpunktmäßig zu fördern seien. Beispielsweise habe es auch Dänemark geschafft, wirtschaftlich und künstlerisch erfolgreiche Filme als Exportprodukte zu etablieren. Hier könnten wir uns durchaus ein Beispiel nehmen, so Unterreiner abschließend.“2

Der – seinen Statuten gemäß überparteiliche – Österreichische Verband Filmregie3 verteidigt das vorgesehene Kurzfilmprojekt zur politischen Lage Österreichs als ein selbstfinanziertes und von Subventionen unabhängiges und hat gerade mit Haneke ein diesbezüglich argumentativ gültiges Beispiel vorzuweisen: 1 2 3

Protestresolution. http://www.badyminck.com/elektro/mails/filmreso.html [10.10.2012] Presseaussendung vom 13.03.2000. http://www.mund.at/archiv/maerz/aussendung 150300.htm [10.10.2012] Zu den Statuten des als Verein registrierten, gemeinnützigen Regieverbands vgl.: www.austrian-directors.com [10.10.2012]

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„Es ist lächerlich, heimische Filmschaffende, die politische Wachsamkeit als Bürgerpflicht ansehen, als erfolglose Lohnschreiber der Sozialdemokratie zu diffamieren (gerade im Werk des von Fr. Unterreiner als Negativbeispiel zitierten Michael Haneke, Österreichs international erfolgreichstem Filmemacher, wird man ideologische Parteibindung vergeblich suchen). Was aber mit solcher Diffamierung bezweckt werden soll, ist nur allzu klar: bei der Bevölkerung soll der Eindruck erweckt werden, daß jene Künstler, die der FPÖ nicht in den Kram passen, ‚linke‘, regierungsfeindliche Demagogen sind, daß die österreichische Filmszene aus einem Haufen erfolgloser Dilettanten besteht, der nur Dank ‚roter‘ Parteiwirtschaft bisher zu überleben in der Lage war und dem nun die neuen Machthaber zu zeigen haben, was erfolgreiche Filmkunst zu sein hat. Die Zensurdrohung steht im Raum. Seien Sie mit uns wachsam.“4

Haneke ist in der Tat eine fragwürdige Angriffsfläche, zumal er nicht nur – gerade in der Logik der „etablierten künstlerisch erfolgreichen Filme als Exportprodukte“ – das federführendste Beispiel Österreichs ist, sondern darüber hinaus kürzlich einen Film ohne Beteiligung österreichischer Förderer produziert hat: Es sind die von Marin Karmitz 1967 gegründete Produktionsfirma MK2 und Les Films Alain Sarde, die im Mai 2000 Hanekes Code inconnu im Rahmen der Sélection Officielle von Cannes präsentieren werden. Haneke verzeichnet somit eine Kooperation mit zwei Produzenten, die die Realisierung von Filmen – eine Auflistung würde hier den Rahmen sprengen – der maßgeblichsten Autorenfilmer europa- und weltweit behaupten kann. Auch wenn das geplante Episodenfilmprojekt scheitert, so wird sich Code inconnu als programmatisch tonangebend in den Diskurs um Rassismus, Menschenrechte und Humanität fügen. Zudem markiert der Film den – insbesondere im angloamerikanischen Editionsraum – vielfach zitierten shift Hanekes vom deutschsprachigen in den französischsprachigen Filmbereich. Es ist der Beginn der (wissenschaftlichen) Geschichte des Regisseurs als „leading example of transnational filmmaking“ (Ince 2011: 86), zuletzt – so thematisch orientiert wie produktionstechnisch – bezeugt durch den von Ben McCann und David Sorfa in den USA herausgegebenen Sammelband The cinema of Michael Haneke (2011), der den signifikanten Untertitel „Europe Utopia“ führt. Als Utopie und verfehltes Projekt gleichermaßen, dessen Wirkungen (stärker als die Ursachen) schon in Hanekes früheren Werken Andeutung finden – von Zugehörigkeitsfragen in Drei Wege zum See über Transgressionsphantasmen im Siebenten Kontinent etwa, bis hin zum rumänischen Flüchtlingskind als Handlungsträger in 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls – zeigt sich schließlich einer der „großen“ thematischen Stränge des Regisseurs in verdichteter Ausgestelltheit: der Multikulturalismus als „europäische“ Alltagspraxis, diesmal bespielt in einer Weltstadt, die – bei aller Matrizenhaftigkeit des Ortlosen bzw. vielleicht gerade aufgrund dieser – Paris heißt. Der Film wird retrospektiv zur argumentativen Beweisführung der Debatte um einen Regisseur der Globalisierung und ihrer Folge einer immer enger werdenden Raumsituation: „Code Unknown is probably the film in which Haneke tackles the theme of the global city the most directly, but running rapidly through his German- then French-language filmography, it is immediately obvious that he has always been a filmmaker of space rather than place, in the 4

Aussendung des Regieverbands. http://www.mund.at/archiv/maerz/aussendung150300.htm [10.10.2012]

232 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE sense that ‚local‘ phenomena defined as events, customs or practices particular to one city, region or even nation, seem of little interest to him.“ (Ince 2011: 85)

Haneke bedient sich dessen, was da ist, und macht spürbar, was fehlt, anders gewendet: „[…] as a filmmaker he is concerned more with the visibility of a city’s social fabric than with the political history that brought it about.“ (Ince 2011: 86) „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler“, wird man die Huppert im Folgejahr Bachmann zitieren hören und sich durch Code inconnu vorerst mit einem Kino konfrontiert sehen, das, wie Alexander Horwath betont, „extrem zeitgenössisch und gar nicht sonderlich pessimistisch [ist], weil es der längst abgestumpften Postmoderne einen – bei aller kunstvollen Konstruktion – klaren und harten Blick auf die Realität entgegensetzt. In der Ära Haider, da der öffentliche Diskurs absolut marktschreierisch, illusionistisch, bilderverrückt, fragenlos und antwortensatt geworden ist, erinnern Hanekes Filme an eine Welt hinter den Kulissen.“ (Horwath 2001 [2008]: 398)

Code inconnu eröffnet ein beachtlich weites Streufeld ineinander verwobener Einzelschicksale und trägt den in seiner Komplexität kaum verbal erschöpfend rekonstruierbaren Inhalt in seinem – aufgrund der Länge häufig nicht angeführten und per se schon auf Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit verweisenden – Untertitel: „Récit incomplet de divers voyages“. – „Ce n’est pas un film qui traite des raisons géopolitiques qui sont à l’origine de la situation actuelle. Il tente juste de cerner les résultats. À Londres et à Paris, c’est déjà là. Il faut qu’un pays comme l’Autriche finisse par admettre que cette société multiculturelle est inévitable en Europe.“5

40. D AS S CHEITERN VON B EDEUTUNG : K UNST ALS Ü BERSETZUNG Mit einem Ratespiel setzt der Film ein, ausgeführt von in Gebärdensprache sich artikulierenden Kindern, über deren Herkunft und soziokulturelles Milieu wir nichts erfahren werden. Ein Mädchen wird von mehreren Kindern – alle frontal in Nahaufnahme – nach einer Antwort gefragt, die nur sie kennt. Wir sehen – via Zeichensprache bzw. vermittels Untertitel – nur die Fragen, die potentiellen Antworten, die das Mädchen allesamt verneint: „Allein?“, „Versteck?“, „Gangster?“, „Schlechtes Gewissen?“, „Traurig?“, „Eingesperrt?“ – einem Prolog gleichend visualisiert sich hier Kommunikation, in einer Gelöstheit von jeglichem denkbaren Kontext. Ein „programmatischer Verweis auf die Unmöglichkeit der Kommunikation“ (Naqvi 2010: 5)? Ein programmatischer Verweis jedenfalls auf das, was der Film entwickeln wird (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 197). Weiß auf schwarz und sehr klein, schwer lesbar, trennt der Titel – Code: unbekannt – von einer ersten der zahlreichen Plansequenzen (der zweistündige Film ist mit etwas mehr als 40 Einstellungen verhältnis-

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Haneke im Interview. Nicklaus, Olivier. „de Michael Haneke“. In: Les Inrockuptibles, 10.05.2000.

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mäßig eher schnittkarg), die den konfliktreichen Reigen eröffnet. Unzulänglich beschrieben: Die Schauspielerin Anne (Juliette Binoche) verlässt ihr Haus und trifft in derselben Straße auf Jean (Alexandre Hamidi), den Bruder ihres Lebensgefährten Georges (Thierry Neuvic), der als Kriegsfotograf im Kosovo, nahe Drenica, unterwegs ist. Anne gibt dem minderjährigen Jean, der den Bauernhof seines Vaters (Josef Bierbichler) übernehmen soll und aus diesem Grund geflüchtet und folglich wohnungslos ist, die Schlüssel zu ihrem Appartement und den Zutrittscode des Gebäudes. Jean isst ein Gebäck, zerknüllt das Papier und wirft die Kugel ungeniert in den Schoß einer vor der Bäckerei sitzenden rumänischen Bettlerin, Maria (Luminita Gheorghiu). Ein junger schwarzer Musiker, Amadou (Ona Lu Yenke), empört sich über Jeans Verhalten, er lässt ihn nicht entkommen. Die handgreifliche Auseinandersetzung der beiden provoziert einen Menschenauflauf, die Polizei ist nicht weit, verhaftet Amadou und Maria, prüft ihre Identitäten. Schnitt. Kriegsfotografien auf der Bildfläche, Georges’ Stimme aus dem Off kommentiert für Anne seinen Aufenthalt im Krisengebiet. Schnitt. Amadous Vater, Taxifahrer, offenbar verständigt über die Verhaftung seines Sohnes, beschleunigt gegen den Willen seines Fahrgasts, den er kurz darauf bei einem anderen Taxi austeigen lässt, ohne Geld von ihm zu verlangen, um sich dafür eine Beschimpfung einzuhandeln. Schnitt. Anne auf einem Screen in einem schäbigen, leeren Zimmer. Eine Stimme aus dem Off gibt Anweisungen: Sie habe ihren Text hoffentlich gelernt und möge dort anfangen, „wo er sie gerade eingesperrt hat“. Die Anleitung der Off-Stimme: „Sie glauben gerade gehört zu haben, dass er die Tür abgeschlossen hat, gehen hin und vergewissern sich. Sie ist zu. Die Tür ist verschlossen, Sie kommen hier nicht mehr raus.“ Die Stimme, immer unfreundlicher, kündigt an, dass sie hier sterben werde und verweist auf die Halterung für den Luster, die Leitung für die Gasbeleuchtung. Ob sie jetzt verstehe, warum er sie vorher um Feuer gebeten habe – hätte sie welches, könnte sie beide (sich und den Träger der Stimme) in die Luft sprengen. Er habe nichts gegen sie; er halte sie sogar für sympathisch, sie sei ihm bloß in die Falle gegangen. Anne, in Großaufnahme auf dem Screen, debattiert mit der Stimme eines Unbekannten, der ihr bloß beim Sterben zusehen möchte. Er möge aufhören, bittet sie, sie habe keine Zeit für Spiele und werde zuhause erwartet. Er habe auch keine Zeit für Spiele und fragt, ob sie das Zischen von der Decke höre – in ein paar Minuten würde sie das Gas riechen. Anne fleht panisch um Freilassung. Was sie denn tun solle, möchte sie wissen. – „Zeigen Sie mir Ihr wahres Gesicht.“ Sie möge spontan sein und auf das reagieren, was ihr zustößt. Schnitt. Der Bauer und sein Sohn, Jean, schweigend beim Abendessen. Aufnahme des Eingangs eines Flugzeuges kurz vor Abflug, wir werden Zeugen der Abschiebung Marias. Schnitt. Amadous Mutter beteuert weinend die Unschuld ihres Sohnes, thematisiert die Gehörlosigkeit ihrer kleinen Tochter. Schnitt. Maria zurück in Rumänien, mit einem ihrer Enkelkinder; sie begrüßt und umarmt Dragos (Bob Nicolescu), ihren Mann. Schnitt. Anne in ihrem Wohnzimmer beim Bügeln. Sie hört ein Kind schreien, dreht den Fernsehapparat stumm und wird Zeugin der Misshandlung eines Kindes aus der Nachbarschaft. Erregt, aber handlungsunfähig dreht sie das Fernsehgerät wieder an. Schnitt. Rumänien: Maria wird durch das (offenbar neu erworbene) ruinenhafte Haus ihrer Familie geführt. Schnitt. Kinder, darunter auch die aus der Eingangssequenz, bei Trommelproben. Schnitt. Georges, der Kriegsfotograf, zurück in Paris, beim Wiedersehen mit Anne. Schnitt. Auf dem Bau-

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ernhof: Der Bauer hat ein Motorrad für Jean besorgt; wahrscheinlich, um ihn am Landgut zu halten. Schnitt. Anne beim Filmdreh als Frau, die von einem dubiosen Makler (Paulus Manker) eine erstklassige Immobilie angepriesen bekommt. Er bittet sie um Feuer, sie hat keines, er geht welches holen, die Tür fällt zu – Großaufnahme auf ihr Gesicht, doch Cut, denn ihr Blick sei zu direkt, ein neuer Take muss her. Klappe, sie wiederholen. Schnitt. Vater und Sohn bei der Arbeit am Bauernhof im Stall. Schnitt. Eine aufwendige Szene in einem Pariser Bistrot: Anne und Georges mit Freunden beim Abendessen. Anne erzählt über den Film, den sie gerade dreht. Der Kommissar habe dieselbe Persönlichkeitsstruktur wie der Mörder. Was mit ihrer Figur passiert, verrät sie nicht. Amadou betritt das Lokal mit einem Mädchen. Georges muss sich gegenüber einer skeptischen Freundin für seine Tätigkeit als Kriegsfotograf rechtfertigen. Was für eine dumme Anmaßung; ob er glaube, er müsse Leichen fotografieren, damit sie sich den Krieg vorstellen kann6. Seine Erfahrung sei über Bilder nicht vermittelbar. Anne, die von der Toilette zurückkehrt, weist Georges darauf hin, dass der junge Schwarze (Amadou), mit dem Jean den Streit auf der Straße hatte, auch hier sei. Schnitt. Unterdessen in Rumänien: Maria, die Bettlerin, gibt gegenüber einem Bekannten, der nach ihrer Zeit in Paris fragt, vor, vier Monate lang eine Stelle an einer Schule innegehabt zu haben, doch dann habe sie ihre Kinder vermisst. Schnitt. Anne in ihrer Wohnung. Sie hat einen Brief erhalten, man weiß nicht von wem, der sie beunruhigt. Sie schenkt sich ein Glas Alkohol ein. Nachdem sie Georges nicht erreicht, fragt sie die alte Nachbarin von Gegenüber, ob der Brief von ihr sei. Die Nachbarin verneint. Schnitt: Amadous Mutter beschreibt ihrem Mann Albträume und klagt über Kopfschmerzen. Schnitt. Ein weiterer Brief, diesmal von Jean an seinen Vater: „Lieber Vater, ich bleibe nicht länger hier, bitte suche mich nicht.“ Zur Mitte des Films: Anne und Georges im Supermarkt. Ein Streit zwischen den beiden, in dem sich klärt, dass der Brief, den Anne erhalten hat, mit dem Kind aus der Nachbarschaft in Relation steht, dessen Schreie sie beim Bügeln vernommen, nicht aber darauf handelnd reagiert hatte. Allein von wem stammt der von erwachsener Hand verfasste Brief, unterzeichnet mit „ein hilfloses Kind“? Georges könne ihr die Entscheidung darüber, zu handeln oder nicht, nicht abnehmen und fühle sich dafür nicht zuständig, wie er beteuert. Sie möge sich wie eine Erwachsene benehmen und ihre Entscheidungen nicht immer auf andere abwälzen. Anne steuert aufgebracht entgegen, was er sagen würde, wenn sie ein Kind erwarte. Er: Was das heißen soll. Sie: „Ich bin schwanger.“ Was er sagen würde, wenn sie schwanger wäre. Auf seine Frage hin, ob das ein Witz sei, gibt sie vor, in seiner Abwesenheit abgetrieben zu haben. Er: „Est-ce que c’est vrai?“ Sie: „À toi de choisir.“ Was das Theater soll und ob sie sich erwarte, dass er sie ernst nehme. Und: ob er je einen Menschen glücklich gemacht habe, was er verneint. Sie überfällt ihn, sie umarmen und küssen einander heftig. Als sie sich voneinander lösen, weint sie. Ob sie nicht noch Reis mitnehmen wollte, fragt er. Schnitt. Maria und Dragos tanzend im heiteren Treiben eines Hochzeitsfests. Schnitt. Amadous Mutter und Geschwister bei sich. Eines der Kinder muss sich vor dem Vater dafür verantworten, beim Haschischdeal erwischt worden zu sein. Der Bursche 6

Haneke bedient sich hier eines Selbstzitats – direkt übernommen aus seiner BachmannAdaption Drei Wege zum See (1976).

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wiederum gibt vor, Opfer einer Hänselei geworden zu sein, auf die er nicht eingestiegen war, weshalb man ihn nun verleumden würde. Schnitt. Georges in Annes Wohnung hantiert vor einem Spiegel mit seiner Kamera. Schnitt. Der Bauer schlachtet in Verzweiflung das letzte Tier im Stall und zündet sich eine Zigarette an. Schnitt. Anne bei Proben oder einem Casting auf der Bühne eines Theaters, als Zofe in Shakespeares Was ihr wollt; in Erwartung anschließend eines Feedbacks, doch die Regie murmelt unter sich. Schnitt. Amadous Familie, gleichzeitig unterhalten sich Mutter und Tochter, der Bruder und seine kleine Schwester – zwei Gespräche, überlagert in einem Bild und seiner Dauer. Der Vater hat sich zurück nach Afrika begeben. Schnitt. Georges in der Metro. Schnitt. Maria erhält ein Angebot, wieder über die Grenze geschmuggelt zu werden. Schnitt. Der Bauer, Georges und Anne bei Tisch, Jean ist seit sechs Wochen fort. Jean habe Recht, so der Vater, es sei ohnehin zukunftslos. Anne erzählt vom Krimi, den sie gerade dreht: er soll „Le collectionneur“ heißen, was sich jedoch noch ändern könne. Was der Bauer nun machen wolle, ob er Jean nicht suchen will, fragt Georges. Der Bauer blockt ab, Jean müsse selber wissen wo er hingehört. Anne bemüht eine tröstende Geste, nimmt die Hand des Bauern, der wiederum aufsteht und weggeht. Er habe vergessen, den Haupthahn abzudrehen. Schnitt. Maria in einem Transporter auf dem Weg. Schnitt. Ein Begräbnis. Gestorben ist das Kind aus der Nachbarschaft; Anne, vom Grab sich entfernend, begegnet ihrer alten Nachbarin, die sie zunächst verdächtigt hatte, den Brief verfasst zu haben. Die beiden Frauen, schweigend, nebeneinander hergehend. Die Alte weint. Schnitt. Die Sequenz zeigt eine Reihe von schwarz-weißen Porträtfotografien: Menschengesichter, aufgenommen in einer U-Bahn. Georges’ Stimme berichtet Anne aus dem Off über den „vierten Tag in Kabul“, über die Begegnung mit einem Taliban und die Dunkelhaft, in die er missverständlicherweise geraten war. Schließlich sei er über einen Kollegen und dessen Kontakte mit den Leuten von CNN befreit worden. Anne könne die Geschichte ihrer gemeinsamen Freundin erzählen, die sich Georges’ Arbeit gegenüber stets so skeptisch verhält. – In der Dunkelhaft habe er oft an sie und ihre Worte gedacht. Es sei „einfach, sich rauszuhalten und von Bilderökologie und dem Wert der nicht gemachten Mitteilung zu reden. Die Frage ist nur: was ist die Konsequenz?“ Er fürchte, „in Wahrheit will sie einfach nicht belästigt werden“ und gibt sich einsichtig: „Möglicherweise hat sie damit recht. Was sollte sie mit diesem Wissen anfangen?“ Er fühle sich „nicht gemacht für ein Leben in Frieden, für das, was ihr Frieden nennt.“ Schnitt: Auf einem Landstrich quert ein Traktor, gesteuert vom Bauern, das Feld. Schnitt. Zurück in Paris. Die rumänischen Flüchtlinge feiern ihre Ankunft. Maria verlässt den Raum, sinkt in der Dunkelheit zusammen und weint. Sie hat die Lizenzkarte nicht bekommen, die ihr eine Freundin versprochen hatte, um Zeitungen verkaufen zu können. Eine der anwesenden Frauen versucht, sie aufzurichten. Maria wehrt ab, sie könne keinen Antrag stellen, da sie erst vor ein paar Monaten ausgewiesen worden war. Dann vertraut sie sich der Frau an, offenbart ihr, in höchster Verzweiflung, ihre Scham: In Certeze habe sie einmal einer Zigeunerin ein Almosen gegeben und dabei ihre Hand berührt. Sie sei so dreckig gewesen, dass ihr gegraut hatte; aus Angst vor Krankheiten habe sie sich sofort gewaschen. Schließlich, im vergangenen Winter auf dem Boulevard Saint Germain, habe sie die Erfahrung einer Umkehr des Schicksals gemacht: Ein Mann, der ihr 20 Franc geben wollte, sei, als sie ihre Hand ausstreckte, vor Ekel zurückgeschreckt, sodass er ihr den Schein einfach in den Schoß geworfen habe. Einen ganzen Tag lang habe sie sich versteckt

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und geweint. Schnitt. Anne vergnügt sich mit einem bis dato fremden Mann (Bruno Todeschini) in einem Schwimmbad am Dach eines Hochhauses, sie machen einander Liebeserklärungen. Sie erspäht den unbeaufsichtigten Sohn (Pierrot), der am Geländer des Daches balanciert, dem Absturz nahe. Die beiden eilen zu ihm, retten ihn. Er habe nach einem Luftballon greifen wollen. Die Eltern tadeln ihn im Schock, der Vater droht dem Sohn präventiv mit einer Tracht Prügel für eine eventuelle Wiederholung dieser Aktion. Eine nächste Einstellung zeigt auf einer Leinwand einen Immobilienmakler, bevor das Bild stoppt und Anne mit einem Kollegen, Pierre (eben Bruno Todeschini), bei der Postsynchronisation des nun nachträglich erkennbaren Films ersichtlich wird. Ein Flugzeug im Take zwingt die beiden, die Szene zu wiederholen. Vergeblich. Die beiden verfallen einem Lachkrampf. Schnitt. Irgendwo in Afrika: Im Auto, Amadous Vater befährt ein Gelände, vor der Windschutzscheibe tummeln sich, zwischen Marktständen, Menschen im Alltag, umgeben von Sicherheitskräften. Schnitt. In der Pariser Metro: ein junger Araber (Walid Afkir) belästigt Anne, demütigt sie, bespuckt sie. Ein älterer Araber (Maurice Bénichou) greift nach längerem Zögern ein, verteidigt sie. Als der junge Mann die Metro verlässt, bedankt sich Anne und bricht in Tränen aus. Schnitt. In einem Park ereignet sich eine vielköpfige Trommelperformance, deren Rhythmus den sonoren Hintergrund der Schlussszenen untermalt: Bettlerin Maria findet sich wieder in der Pariser Straße ein, in der die Handlung ihren Ausgang genommen hat, jemand hat ihren Platz eingenommen. Anne verlässt die Metro-Station und steuert auf ihre Wohnung zu. Sie gibt den Code am Eingangstor ein und betritt das Haus. Schnitt. Strömender Regen. Georges, am selben Ort, steigt aus einem Taxi, sucht noch eine Parfümerie auf, ehe auch er vor dem Eingangstor zu Annes Wohnhaus steht. Er gibt den Code ein, doch dieser funktioniert nicht mehr. Die Tür bleibt verschlossen. Er sucht eine Telefonzelle auf. Straßenlärm. Er verlässt die Zelle, richtet einen Blick hinauf (zu Annes Fenster vermutlich) und versucht, ein Taxi anzuhalten, aber keines bleibt stehen. Mit dem Schnitt endet der Trommelrhythmus. Im Epilog frontal ein Kind. Es erzählt, in Gebärdensprache, eine Geschichte. Schwarzblende – ein Film von Michael Haneke. „[…] der Grund für die Beschreibung dieser multikulturellen Gesellschaft ist der, daß ich schon seit einiger Zeit einen Film über diese sogenannte ‚Neue Völkerwanderung‘ machen wollte, an deren Beginn wir ja erst stehen, und ich denke, das wird auch das Thema dieses Jahrhunderts werden. Als mich die Juliette Binoche gefragt hat, ob wir was zusammen machen könnten, und ich mir überlegt habe, was ich als Nicht-Franzose in Frankreich für einen Film machen könnte, in einem Land, in dessen Hauptstadt die Multikulturalität am Straßenbild abzulesen ist, aufgrund der kolonialistischen Vergangenheit dieses Landes, da habe ich mir dann gedacht, es wäre eine gute Gelegenheit, diese beiden Dinge miteinander zu verbinden. So ist es dazu gekommen und dann habe ich mich drei Monate nach Frankreich gesetzt und recherchiert zu diesem Thema.“ (Haneke/Metelmann 2003: 264)

Als mit Code inconnu ein ungewöhnlich poetischer Film in die Kinos kommt, ist die Stimmung Haneke gegenüber weitläufig reserviert. Die mittels Funny Games (1997) angestrebte „Ohrfeige“ für den Zuseher war derart schmerzhaft ausgefallen, dass selbst „reflektiertere“ Teile des Publikums zu Haneke auf Distanz gegangen waren. Man hatte Haneke eine Faszination für Gewalt und eine programmatische Annäherung an das Faschistoide vorgeworfen; ein wütender Zuseher hatte ihn bereits bei der

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Projektion in Cannes als „Nazi“ bezeichnet. Das Publikum hatte gewissermaßen zurückgeschlagen; eine Ohrfeige, die dem Elan des Regisseurs zu einem nächsten Film nicht förderlich war, wie er im Nachhinein zugibt. Code inconnu ist nicht direkt das Folgeprojekt; zunächst vergehen einige Monate mit der Konzeption von Wolfzeit, geplant zunächst als „dreistündiger futuristischer Film“, derart kostenintensiv, dass der deutsche Produzent abgesprungen war. Im Taxi zum Flughafen – Haneke auf dem Weg zum Filmfestival von Valladolid – läutet das Handy: es ist Juliette Binoche, die Der Siebente Kontinent (1989) gesehen hatte und einen Film mit ihm drehen möchte.7 Es ist der Beginn einer Geschichte von Haneke als Exilösterreicher – als den ihn die französische Presse entlang seines neuen Wurfs mit Nachdruck konstruieren wird. Als seinen Vorgängerfilmen gegenüber „offeneren“ Film betrachtet man das „Mosaik“ Code inconnu; als Werk eines Österreichers, der sein Land verlassen hat, um sich der Betrachtung von Menschen zu verschreiben, die, wie er, auf der Suche nach ihrem Platz seien. Man sieht darin die Zirkulation von Menschen in einem vermeintlich grenzenlosen Europa, das über die filmische Form sein kritisches Statement erhalte: „on ressent comme jamais la coupure, le moment où chacun des planséquences s’arrête.“8 Der „chassé-croisé des solitudes“9 findet in der Presse der Gastgebernation verhältnismäßig, d.h. im Vergleich zur internationalen Presse, wenig Anklang: Skeptisch im Hinblick auf die neue „Offenheit“ des Regisseurs zeigt sich, schon während des Festivals von Cannes, etwa Le Monde: „Haneke sans mode d’emploi, c’était quand même plus intéressant.“10 Die Conclusio verweist auf die flächendeckende Wahrnehmung eines didaktisch-moralistischen Impetus, den auch Libération ortet: „Spectateur, au tableau!“, betitelt hier eine vergleichbare Einschätzung: „Haneke pose des questions pertinentes, mais ‚Code Inconnu‘ finit par se résumer à un oral de philo.“11 Wo man auch hinhört, sie scheint allgegenwärtig, die „fâcheuse tendance à faire la leçon“12 als Kritikpunkt. Vernichtend ist schließlich das herbstliche Urteil von Le Monde zum Kinostart: „[…] une accumulation de platitudes sur les malheurs de la société“; „La contemplation d’un catalogue des contrariétés de la vie urbaine (violences dans le métro, bavure policière, incidents de la circulation …) ne suscite que la lassitude ou l’exaspération. Ni sympathie pour les personnages, ni révolte, ni beauté, rien ne naît de cette ville blafarde. Michael Haneke pousserait plutôt à la fuite, provoquant une pressante envie de comédie musicale. […] Traduits de

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Vgl. Gorin, François. „Haneke contre Haider: Le cinéaste autrichien s’engage face à l’extrême droite“. In: Télérama, 17.05.2000. 8 Strauss, Frédéric. „Code inconnu: Les frontières entre les êtres par l’Autrichien Michael Haneke“. In: Télérama, 15.11.2000. 9 Tinazzi, Noël. „Le malaise très urbain de ‚Code inconnu‘“. In: La Tribune, 15.11.2000. 10 Rauger, Jean-François. „Mécompte de la barbarie ordinaire – Code inconnu: La lourde démonstration d’une humanité morcelée par un cinéaste de l’absurde“. In: Le Monde, 2122.05.2000. 11 Péron, Didier. „Spectateur, au tableau!“. In: Libération, 20-21.05.2000. 12 Bonnaud, Frédéric. „Code inconnu“. In: Les Inrockuptibles, 23.05.2000.

238 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE l’allemand, les dialogues sonnent à la fois plat et faux, défaisant les meilleures intentions des acteurs.“13

„Déroutant, fragmenté, mystérieux“14 – der Film erfährt in den Reihen der französischen Kritik erstaunlich kompakte Zusammenfassungen und (vor)schnelle Bewertungen, während Juliette Binoche in ausführlichen Beiträgen zur heldenhaften und akklamierten Fahnenträgerin des französischen Gegenwartskinos hochgefeiert wird. Mittels Exklusionsprinzip etwa arbeitet Libération an der nationalen Positionierung der (seit ihrer folgenreichen Nebenrolle in Anthony Minghellas The English Patient [1996] als Oscarpreisträgerin gewürdigten) Darstellerin: „Désir moyen pour un personnage trop plaisant, une personne trop parfaite. Actrice d’envergure mais ni renversante minaudeuse (Emmanuelle B.), ni femme brisée (Romy), ni poupée perdue (Marilyn). Star oscarisée mais dézinguant tout pathos glamour, vamp cultivant son potager, torchant ses mouflets, et ne craignant effectivement pas le vieillissement. Rien de donné, du travail pour y arriver, une sorte de copine rêvée pour les femmes d’aujourd’hui. Pas une rivale, pas une vouleuse d’hommes, pas une fracassée. Un genre de cousine sympa du ciné français idéal, aux côtés de l’indétrônable reine mère (Catherine D.), de l’héritière en progrès (Chiara M.) et de l’incontrôlable amie de la famille, tout juste échappée de son asile intérieur (Isabelle A.).“15

Was die einen für „reichhaltig“ an Code inconnu befinden, ist den anderen eine Überforderung: Von einem „bulldozer esthétique et politique“16 ist folglich die Rede, der durch inszenatorische und inhaltliche Überladenheit eher eine Einschränkung des Reflexionspotentials der Zuseher bewirke und der daher zu seinem Regisseur nicht passe. Fakt ist, dass Code inconnu das Produkt ausgedehnter Recherchearbeiten des Regisseurs ist, wie es die Entstehungsgeschichte nahe legt. Haneke begibt sich für sein „französisches Remake der 71 Fragmente“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 193) nach Paris, wo er drei Monate zu den nach Frankreich immigrierten afrikanischen und rumänischen Gemeinschaften recherchiert. Der Mann seiner französischen Pressesprecherin Matilde Incerti, Universitätsprofessor und selbst Rumäne, vermittelt ihn zu seinen ortsansässigen Landsmännern, verschafft ihm Kontakte zu afrikanischen Studenten. Pierre Bourdieus La Misère du monde (1993) inspiriert ihn ebenso wie Raymond Depardons Text zu einem – nie realisierten – Film, den er in Zusammenarbeit mit einem Journalisten von Libération über einen heimkehrenden Kriegsberichterstatter verfasst hatte und den er ihm zur freien Verfügung stellt. Selbst die Trommelperformance ist das Resultat einer „wahren Begebenheit“; die Begegnung in einem Pariser Park mit einer trommelnden 13 Sotinel, Thomas. „Juliette Binoche, figée dans un catalogue des contrariétés de la vie urbaine“. In: Le Monde, 16.11.2000. 14 Campion, Alexis. „Une mystérieuse Binoche pour un Code inconnu“. In: Le Journal du Dimanche, 12.11.2000. 15 Le Vaillant, Luc. „La petite pomme – Juliette Binoche, 36 ans, cousine sympa du cinéma français, revient dans ‚Code inconnu‘ et joue du Pinter à New York“. In: Libération, 16.11.2000. 16 Kaganski, Serge. „Code inconnu“. In: Les Inrockuptibles, 14.11.2000.

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Gruppe von Menschen, geleitet von einem jungen Schwarzen (demjenigen, der an Amadous Seite am Ende des Films zu sehen ist), ein Geschenk des Zufalls. Der Anspruch, mehrere matrizenhafte Geschichten des französischen Alltags ineinander zu verweben ist Hanekes Selbsteinschätzung zufolge in seiner Konkretion geglückt; umso mehr verwundert ihn – im Gegenzug zu einer internationalen Kritik, die die bis dato feierlichste für „einen Haneke“ ist – die mediale Skepsis der Grande Nation, die tendenziell eher negativ ausfällt: „Je pense que, dans son ensemble, c’est un film juste, qui n’est pas le pur produit de l’imagination d’un étranger, comme on a pu le lire en France à sa sortie. J’étais très surpris et peiné de ces critiques négatives, alors que, pour mes précédents titres, la presse française m’était plutôt favorable.“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 194)

Dass die französische Presse zum Film weniger begünstigend in Erinnerung bleibt, dürfte sich jedoch mehr auf ihre qualitative Ausprägung beziehen und weniger auf die quantitative – schließlich stößt man punktuell an mehreren Stellen auf Begeisterung. Insbesondere die Redaktion der rechtskonservativen Zeitung Le Figaro sticht in diesem Zusammenhang in einstimmigen Lobreden hervor. Als „besten Film des dreiundfünfzigsten Festivals von Cannes“, als „große Kunst“ hält man hier hoch, was die als humanistischer sich wähnenden Blätter verkennen: „Une dénonciation poignante de cette violence ordinaire que les temps modernes banalisent. Un cri puissant de protestation lancé par la civilisation humaniste.“17 Der Film sei „une œuvre remarquablement achevée, qui tient subtilement la balance entre l’élégance intellectuelle et la richesse confuse de l’expérience vécue, qui nourrit également la réflexion et la sensibilité“18. – „Voici une fantaisie à la fois légère et grave : une vraie réussite.“19 Auch L’Evénement verhält sich fasziniert zu diesem „film qui n’arrête pas de décoder“ und macht seinen Ratschlag zum Titel der Kritik: „Allezy!“20 In Les Echos applaudiert man Haneke für die mise-en-scène und auch den Darstellern, allen voran Binoche, für ihre Leistung. Fazit: „Un film plus exigeant que séduisant. Mais intriguant et, par là même, intéressant.“21. Und – eine Ironie des Schicksals? – eines ist für den Fall Code inconnu augenfällig (und gemessen an der Entwicklung des Regisseurs in der Rezeption eine Ausnahmesituation): je konservativer das Blatt, umso positiver die Kritiken: Die Stärke des Films, so etwa La Croix zu entnehmen, liege darin, dass er dem Diskurs um die political correctness entkommt22. So sehr ihn das christlich-katholische Blatt im Rückblick auf die Provokation seiner Vorgängerfilme zum Gewinn an „Reife“ gratuliert und für ihn „hofft“, er

17 Baignères, Claude. „Le crime sous la routine des jours“. In: Le Figaro, 15.11.2000. 18 Tranchant, Marie-Noëlle. „Code inconnu: Fragments de la vie citadine“. In: Le Figaro, 15.11.2000. 19 Maupin, Françoise. „‚Ça ira mieux demain‘ – C’est déjà pas mal aujourd’hui“. In: Le Figaro, 15.11.2000. 20 Gouslan, Elizabeth. „Allez-y! – Le film qui n’arrête par de décoder“. In: L’Evénement, 10.11.2000. 21 Coppermann, Annie. „Drôle de monde“. In: Les Echos, 15.11.2000. 22 Bouthors, Jean-François. „La vérité si proche et si insaisissable“. In: La Croix, 22.05.2000.

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werde ein „breiteres Publikum“ erreichen23, so komplizenhaft ihn etwa auch Télérama – wie einige andere Blätter auch – via Interviews als Kämpfer gegen die rechtsextremen Tendenzen Österreichs positioniert24 und auch Le Point seine Geste für „notwendig“ befinden mag (angesichts der neueren, technischen Kommunikationsbedingungen gleichermaßen wie der „politischen Turbulenzen“ Österreichs)25 – nicht zuletzt schickt auch Le Nouvel Observateur einen Sonderkorrespondenten nach Wien, um die national-politischen Stellungnahmen der FPÖ angesichts des Films („l’un des événements majeurs du Festival de Cannes“!) zu diskutieren26 – : Haneke gibt sich nachhaltig geprägt von den „negativen Kritiken“. Eine der wohl härtesten Kritiken – hart insofern, als sie der Programmatik des Regisseurs (Fragen stellen, nicht Antworten geben) diametral entgegengesetzt arbeitet – liefert mit L’Humanité diejenige Zeitung, die den thematischen Ansatz des Films zum Namen hat: „Haneke semble s’être fixé comme job de dire à chaque film : ‚Voyez comme le roi cinéma est nu.‘ Mais, avec Code inconnu, il semble se trouver dans la situation de l’ermite qui, selon la métaphore fameuse, hurle dans le désert: ‚J’ai une réponse! J’ai une réponse! ... Qui a une question ?‘ Haneke fournit ainsi toute une théorie de réponses à des questions que personne ne lui pose, ni ne se pose plus.“27

Haneke, der sich im Vorfeld der Preisverleihung von Cannes über die Preisvergabe des Vorjahres freut – insbesondere über die Mehrfachauszeichnung von Bruno Dumonts L’Humanité (Grand Prix, Beste Darstellerin [Séverine Caneele], Bester Darsteller [Emmanuel Schotte]) – und humorvoll-gelassen auf den Jury-Vorsitz von 2000 verweist, der sich mit Luc Besson antiprogrammatisch zum eigenen Filmverständnis verhält28, bleibt die Anerkennung der „großen“ Blätter verwehrt. Nichtsdestotrotz erhält der Film mitunter hohes Lob, Marianne etwa spricht von Zärtlichkeit und einem großen Talent, „Haneke, le cinéaste du puzzle existentiel, devient presque tendre. Mais reste lucide.“29 France-Soir kommt dem in seiner Eloge auf die „geniale Klugheit“ bereits im Anschluss an die Premiere zuvor: „Code inconnu nous a chaviré. Rarement on a vu, depuis le début de cette compétition autant d’intelligence, autant de nouveauté, et autant d’émotion aussi. Car Michael Haneke n’est pas un

23 Royer, Philippe. „Code inconnu, une mécanique humaine“. In: La Croix, 15.11.2000. 24 Vgl. Gorin, François. „Haneke contre Haider: Le cinéaste autrichien s’engage face à l’extrême droite“. In: Télérama, 17.05.2000. 25 Vgl. De Bruyn, Olivier. „Ils flânaient sur le boulevard …“. In: Le Point, 10.11.2000. 26 Vgl. Mérigeau, Pascal. „De notre envoyé spécial à Vienne : Le choc Haneke“. In: Le Nouvel Observateur, 18.05.2000. 27 Séguret, Olivier. „Le ‚Code‘ barbe: Haneke se lance dans un décryptage du cinéma, sans générosité“. In: L’Humanité, 15.11.2000. 28 Vgl. Gorin, François. „Haneke contre Haider: Le cinéaste autrichien s’engage face à l’extrême droite“. In: Télérama, 17.05.2000. 29 Heymann, Danièle. „Tribulations d’un pessimiste“. In: Marianne, 20.11.2000.

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froid théoricien du cinoche, replié dans son laboratoire. Au contraire. Rien que son sujet est bouleversant d’humanité.“30

„Es ist nicht alles rational und es ist auch nicht alles machbar“, beteuert Produzent Veit Heiduschka hinsichtlich der Produktionstechnik in Gedanken an Code inconnu, den einzigen Film, an dem seine Wega Film (und damit letztlich Österreich als Produktionsland) nicht beteiligt war. Die unter Beteiligung von Bavaria Film, Canal+, Filmex, des rumänischen Kulturministeriums, des ZDF und arte France Cinéma von MK2 und Alain Sarde realisierte französisch-deutsch-rumänische Koproduktion ist ihm in ihren Entstehungsprozessen dennoch in guter Erinnerung: „Code inconnu besteht glaube ich aus zwölf Szenen. Die Schwierigkeit war, die Szenen untereinander anzugleichen, ob die dritte Einstellung zur vierten, also welche da am besten passt. Das war das Große, das war die Zeit, wo Haneke länger – ich glaube ein paar Wochen – gebraucht hat, um diese zwölf Szenen auszusuchen, wie sie verwendet werden. Der Schnitt selbst bei ihm, das geht ruckzuck, weil er es im Kopf hat. Er kommt ja auch mit dem Storyboard, ist nervös, wenn er ans Set kommt und es nicht so ist, wie er es sich vorgestellt bzw. wie er es gesehen hat. […] Das heißt, er bereitet sich ungeheuer intensiv vor und seine Schwierigkeit besteht immer darin, wenn sich etwas ändert. Das ist ein bisschen schwierig zu erklären – er hat ein Buch und von dem Buch ist alles ganz genau überlegt. Und da kann er als Regisseur nicht mehr den Buchautor korrigieren. Das ist eine ganz seltsame Situation. – ‚Das hat doch der Buchautor geschrieben, das kann ich ja jetzt nicht ändern!‘ Und ich sage dann: ‚Aber Michael, das bist du doch …‘ Dann sagt er: ‚Ja, aber ich hab mir doch damals das aus dem Bauch heraus … aus dem Kopf heraus, hab ich bestimmte Feinheiten gesehen, weshalb ich die so verschränkt habe. Das kann ich nicht mehr nachempfinden, deshalb weiß ich nicht mehr … deswegen kann ich davon nicht weggehen.‘“31

Mit der im Namen Michael Haneke sich ergänzenden „Dualität“ von Drehbuchautor und Filmemacher verhält es sich hinsichtlich ihrer Trennbarkeit wie mit der Dualität vom Realen und dem Fiktionalen bei der Filmsichtung. Denn – die Qualität des Humanistischen bezieht daraus einen erheblichen Teil ihrer Kräfte – die Fiktionalität des Abgebildeten erfährt ihre Vollwertigkeit erst durch das Reale, etwa vermittels des zum Einsatz kommenden Foto-Footage-Materials in seiner veristischen Repräsentation der letalen Wirkungen eines Krieges, der uns in seinen Artikulationen – ortsunabhängig – nicht allzu fern ist.

30 Unbekannt (Kürzel: A.D.). „Code inconnu: code bouleversant“. In: France-Soir, 22.05.2000. 31 Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller.

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39. P ARIS : D IE M ATRIZENHAFTIGKEIT DES O RTLOSEN , BESPIELT IN EINER W ELTSTADT Paris, das ist – neben London – einer jener prominenten Orte, wo sich Multikulturalität über das Stadtbild artikuliert. Eine Schnittstelle, an der Dynamiken der Völkerwanderung aufbrechen, in einer nicht selten schmerzvollen Sichtbarkeit. Paris, das ist auch die Stadt, in der sich das Grundproblem der Kommunikation in einer maßgeblichen materiellen Vorrichtung äußert, in der Haneke im Zuge seiner Recherchen die titelgebende Materialisierung gefunden hat: Die Sicherheitsvorrichtungen an den Hauseingängen, die einen Zutritt nur mit jeweiligem Code ermöglichen. – Die Funktionslogik der babelschen Kommunikationsproblematik kommt hier als Dispositiv zum Tragen, das Georges schließlich daran hindern wird, in Annes Wohnung zu gelangen. Die der Stadt so eigentümliche Sicherheitsvorrichtung ist quasi Emblem für die vielfältigen Individuationsprozessualitäten, die eine „wahre“ Kommunikation zwischen Menschen nur als Illusion konzeptualisieren lassen, deren schwächstes Baumaterial die Sprache ist: „C’est le mythe de Babel, qui conduit à la séparation des êtres. On ne communique jamais vraiment, parce que d’une personne à l’autre, les gestes et les mots n’ont pas la même valeur. On peut avoir l’illusion de communiquer lorsqu’on tombe amoureux et qu’on pense que l’autre éprouve les mêmes sentiments que nous. Mais, au bout d’un certain temps, on revient à la réalité. Il n’y a guère qu’à travers le sexe et la musique qu’on puisse être en phase avec l’autre. Certes, dans ces domaines aussi, on peut tricher, mais l’intensité de la relation dépasse tout ce qu’on peut échanger dans la communication verbale, où chaque mot est source de malentendus.“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 203)

Paris ist aber auch ein Ort, der ein Stadtbild zur Disposition stellt, das – damit der Film funktioniert – in seinen Schauplätzen zum Teil verändert werden muss. Die geeignete Straße für die Eingangsplansequenz um die Bettlerin, die letztlich einen kompositorisch beeindruckenden Menschenauflauf birgt (der Dreh einer derartigen Szene bedarf der Organisation von rund 200 Statisten; die letzte von 28 Aufnahmen ist die, die der Film zeigt) nach langen zunächst erfolglosen Recherchen einmal gefunden, verlangt der Ort nichtsdestotrotz nach einer Reihe von (nicht zuletzt kostspieligen) Transformationen: Ein Teppichgeschäft wird zur Bäckerei umfunktioniert, der Platz, an dem ein junger Mann Musik macht, führt zunächst in einen leeren Hof, an dessen Ende der Regisseur die Rückseite eines Supermarkts konstruieren lässt – „lieu très recherché par les mendiants, parce qu’il y a beaucoup de passage“. (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 198) Die Modifizierung der Geschäftslokale, die Entschädigung ihrer Eigentümer, die Installation der Laufschienen für die Kamerafahrt u.a. sind jene Elemente, die der Regisseur anführt, um zu verdeutlichen, dass die Einstellung letztlich als teuerste des gesamten Films in Betracht zu ziehen ist. Relativ teuer zumindest, insofern als ein Dreh im Studio – das dem veristischen Bestreben Hanekes entsprechend nur Hollywood sein kann – mit vergleichbarem Resultat des Gesamtbudgets von Code inconnu bedurft hätte. (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 199) Die vermeintliche Banalität des Alltags hinter den Kulissen, was für den Film die Nicht-Wahrnehmbarkeit der Kulisse als Kulisse voraussetzt, fordert eine Choreogra-

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phie von Mensch und Ding, die in ihrer chronometrischen Genauigkeit unbestreitbar einzigartig ist und entsprechend vieler Aufnahmen bedarf, um ein in möglichst allen Details funktionierendes Resultat zu liefern. Die Kaffehausszene etwa, in der sich die Wege von Anne und Amadou wieder kreuzen, verzeichnet retrospektiv über 30 Aufnahmen. Ähnlich komplex gestaltet sich der aus fixer Kameraposition erfolgte Dreh der vielkommentierten Demütigungs-Sequenz im Waggon der Métro, die Alexander Horwath 2001 für die Zeitschrift profil als „eine bewegende, schmerzhafte, moralisch und politisch kaum ‚lösbare‘ Szene“ nachhaltig virtuos beschreibt: „Diese Szene befasst sich mit einem Beziehungsgeflecht, das in den modernen Geisteswissenschaften gerne unter dem logo-artigen Titel ‚Geschlecht, Klasse, Ethnizität‘ subsumiert wird. Aber statt der Phrase erleben wir ein plastisches, fast grausam komplexes Bild. Komplex ist dieses Bild unter anderem deshalb, weil es Fragen nach Schuld und Humanität aufwirft, die unter den Bedingungen einer modernen multikulturellen Gesellschaft nicht eindeutig zu beantworten sind. ‚Grausam‘ ist es, weil wir kaum mehr gewohnt sind, antwortlos zu erzittern; und weil dieses Erzittern Schmerz bereitet. Plastisch ist es, weil der insistierende, ungeschnittene Kamerablick in die Tiefe des U-Bahn-Waggons sämtliche Energieströme zwischen den Figuren räumlich wie zeitlich spürbar macht, ohne unsere Aufmerksamkeit zu lenken und uns genau vorzuschreiben, wann wir, wie wir, auf wen oder was wir zu blicken haben.“ (Horwath 2001 [2008]: 398)

Die Konstitutionsprozesse der Spürbarkeit der besagten Energieströme umfassen – nebst allem erdenklichen Funktionieren des Zusammenspiels der beteiligten Akteure – zunächst einmal die logistische Abhängigkeit des Filmteams von der Verwaltung des Pariser U-Bahnnetzes. Von der RATP (Régie autonome des transports Parisiens) erhält das Team eine Dreherlaubnis nur im Zeitraum von zwei bis fünf Uhr morgens. Haneke erinnert sich an die in einem zeitmäßig relativ bescheiden dimensionierten Spielraum zu realisierenden Abläufe innerhalb der Einstellung: „La perspective de tourner ce plan en seulement trois heures me rendait nerveux. Bien sûr, j’avais auparavant longuement répété la scène avec les deux garçons, car elle était difficile, surtout pour celui qui doit rire de manière provocante aux blagues de l’autre. C’est toujours plus facile de pleurer que de rire de manière répétée. Un professionnel sait pleurer en faisant semblant autant de fois qu’on le lui demande. Les rires, ça s’entend immédiatement si c’est faux. On a donc fait un gigantesque casting de non-professionnels pour en dénicher un qui arrive à rire correctement.“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 201)

Mit dem „Film im Film“ bedient Haneke schließlich langvertrautes Terrain: Juliette Binoche als Schauspielerin Anne, verabredet zum Dreh eines Films, der – wie es die Figur in der späteren Kaffeehaus-Sequenz ihren Freunden mitteilen wird – von einem Immobilienmakler (Paulus Manker) handelt, der wiederum Leute in seine Villa lockt, um sie dort einzusperren und ihnen beim Sterben zuzusehen. Als Anne jedoch zu einem früheren Zeitpunkt des Films zum Dreh erscheint und unter Eintreten von Gas den Instruktionen der Stimme aus dem Off folgt („Montrez-moi votre vrai visage!“), ist den Zusehern von Code inconnu keineswegs eindeutig bestimmbar, ob es sich dabei um Schauspiel im Film handelt oder ob die Figur der Anne tatsächlich sterben müssen wird. Hier kündigt sich – in direkter Folge zu Funny Games – die Verhand-

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lung von Bildstatus in einer Ambivalenz an, die Haneke mit Caché noch weit insistenter in Richtung Perfektion treiben wird. Ähnlich die – aufgrund der geschwächten Vertrauensbasis zwischen Anne und Georges (Thierry Neuvic) – nicht sofort eindeutig im professionellen Leben Annes zu verortende – Szene mit Pierre (Bruno Todeschini), die in ihrer Dramaturgie unverkennbar „amerikanisch“ anmutet und als ein Augenzwinkern hin zur Mainstream-Produktion des „Konkurrenzkontinents“ gelesen werden kann. Code inconnu wird als der „europäischste“ Film des Regisseurs in die Annalen eingehen, er markiert gleichsam die fortan inflationäre Etikettierung Hanekes als „europäischer Filmemacher“.

38. V OM „E XILÖSTERREICHER “ ZUM „E URO - AUTEUR “: Z UR MARKENTAUGLICHEN „E UROPEANNESS “ Es ist schwierig, „Haneke“ (den Regisseur, das Filmwerk) einer „nationalen“ Filmtradition zuzurechnen. – Schon von den Filmen aus gedacht, weil diese weniger den lokalen Ort, als einen Raum in seiner vermeintlichen Beliebigkeit exponieren. Mit Code inconnu avanciert Haneke unter den Kritikern – mit Ausnahme der französischen, die den Regisseur eher als Exilösterreicher konzipieren – zu einem „Euroauteur“. Als auteur wird er konstruiert, weil er eine der etablierten Grundbedingungen des art cinema erfüllt: er vertritt jenen „wahrhaftigen“, selbstreflexiven Realismus, der sich dezidiert anti-realistischer Darstellungsformen bedient, um dem Zuschauer seine Rolle in der Rezeption bewusst zu machen und mit ihm im Verbund die Strukturen des klassischen, narrativen Kinos aufzubrechen. (Haneke zieht Kino dabei, wie noch zu thematisieren sein wird, spezifisch vor dem fatalen Hintergrund der Wirkungen des Zweiten Weltkriegs in Betracht.) Filmkünstlerische Autorschaft als solche hat nun schließlich ihre historisch nachweislichen Relationen mit einer dezidiert europäischen Kultur (in vor allem finanziell notwendiger Abgrenzung zum überbetuchten amerikanischen Kinogiganten), allein sie limitiert sich in ihrem Sein und Werden nicht auf einen europäischen Raum und hat das auch nie getan. Nichtsdestotrotz: Von einem Vertreter des „europäischen Kinos“ zu sprechen, bedingt notgedrungen den diskursiven Eintritt in den Assoziationsraum jener Serie von Binarismen, die das sogenannte Europäische Kino spätestens seit 1945 – wie es Thomas Elsaesser in seinem vielzitierten Band European Cinema: Face to Face with Hollywood (Elsaesser 2005) ausführlich nachzeichnet – diskursiv strukturieren: Europa versus Amerika, Autorschaft versus Genre, Bedeutung versus Profit, Wahrheit versus Lüge, Ernsthaftigkeit versus Oberflächlichkeit, Kunst versus Popularität. Nun befindet sich dieses sogenannte Europäische Kino jedoch – technologie- und fortschrittsbedingt – im Wandel, seine (ohnehin seit jeher labilen) Antagonismen scheinen zunehmend in Auflösung begriffen. Dies betrifft jedoch eher die inneren Antagonismen, schließlich sind die geopolitischen Grenzen klar abgesteckt: Die Europäische Union räumt Film einen ähnlichen Status ein wie diversen anderen High-TechIndustrien, in denen europäische Kooperationen notwendig sind, um im globalen Wettbewerb zu bestehen. Nicht ohne Grund fördert die EU aktiv und mit institutionellem Nachdruck insbesondere solche Filme, die Förderungen verschiedener ihrer Länder einholen und interkontinentale Austauschbeziehungen forcieren (ohne dass

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diese Filme zwangsläufig inhaltlich multikulturell oder transnational ausgerichtet sein müssen). Essentiell sind sie aus dieser Perspektive schließlich zunächst als Stabilisatoren der Europäischen Union. Haneke ist unweigerlich Teil dieser PromotionMaschinerie, seit Code inconnu werden seine Filme vom Europäischen Filmfonds Eurimages unterstützt. 1989 als Teilabkommen des Europarats errichtet, unterstützt der Fonds in erster Linie Filme, die für eine Auswertung im Kino bestimmt und als Koproduktion zwischen mindestens zwei Mitgliedsländern konzipiert sind. Bedingung: der Regisseur muss Europäer sein bzw. einen dauerhaften Wohnsitz in einem der Mitgliedstaaten vorweisen können.32 Die Begebenheit der Abgrenzungsbinarismen, die sich in ihren Veränderungen nach außen hin europaweit insbesondere in der Filmfestivalpraxis widerspiegeln, nimmt Rosalind Galt in ihrem Beitrag „The Functionary of Mankind: Haneke and Europe“ (Galt 2010) in den Blick und bezieht sich dabei auf Hanekes in einem Interview mit der amerikanischen Independent-Film-Website IndieWire angeführtes Statement, wonach man dem Regisseur zufolge als europäischer Filmemacher (als der sich Haneke selbstdeklariert auch begreift) nicht ernsthaft einen Genre-Film, sondern allein Parodien eines solchen drehen könne, da der Genre-Film per definitionem eine Lüge sei. Ein Film, der Kunst zu sein sucht, solle Realität verhandeln, was sich über den Weg der Lüge nicht arrangieren ließe, so Haneke. Die Lüge sei dann eine Möglichkeit – und nach Maßgabe der Angaben des Regisseurs eine ohne schlechtes Gewissen verkäufliche –, wenn der Film Geschäft sein, d.h. nach den Regeln des Business funktionieren soll. Der Regisseur, der sich gewissermaßen einer Wahrheitssuche verschrieben hat, wird in seinem Bestreben schließlich als Vertreter einer eurozentristischen Wahrheit überführt: „[…] Haneke’s words sound like an echo from an older European film culture, a determined invocation of an aestheticopolitical formation that is no longer dominant. And yet, Haneke is one of Europe’s most contemporary directors, engaging questions of immigration, EU enlargement, terror, and environmental catastrophe. […] The position of the European auteur requires a discourse of modernist European art cinema, and Haneke’s articulation thus claims a truth and a continuing relevance for this version of European cinema.“ (Galt 2010: 222)

Haneke beziehe seine selbstinszenatorischen Autoren-Kräfte über einen Status, der sich aus einer diskursiv nach wie vor mächtigen, faktisch jedoch überholten Auffassung von Filmkultur ergebe, deren Wandel unübersehbar ist: „Haneke’s ‚European films‘ exemplify the development of the coproduction into an emerging form of Europeanness.“ (Galt 2010: 235) – Eine „Europeanness“, die, EU-gestützt, selbstverständlich eine institutionalisierte ist. Und das obwohl sich, wie Galt scharf betont, Autorschaft vom Europäischen als bedingende Form immer schon und inzwischen längst offensichtlicher denn je gelöst habe. – Eine Sachlage, die sich mit Verweis auf die so rege Praxis eines – auf europäischen Festivals stets und vielfach vertretenen – ostasiatischen Filmschaffens (von Hou Hsaio-hsien über Wong Kar-wai bis Jia Zhangke) freilich bestätigen lässt. (Galt 2010: 231) Fortschreiben lässt sich diese Bemerkung schließlich bis hinauf in die Aktualität; etwa mit Apitchatpong Weerasethakul, der mit seiner im Nordosten Thailands angesiedelten, enigmatischen Rein32 Vgl. http://www.bmukk.gv.at/europa/eukultur/eurimages.xml [10.11.2012]

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karnationsgeschichte Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives (2010) eindrucksvoll andere Dimensionen der visuellen Erfahrung und des Existenziellen eröffnet und dafür 2010 den Hauptpreis in Cannes gewinnt. Mit einer an Laotse angelehnten, dem Drama abseitigen Lebensstudie des Sterbens, in der – gewohnt installationshaft – der Raum die Zeit ist. Mit dem südkoreanischen Filmemacher Kim Kiduk ließe sich die Geschichte der ostasiatischen Erfolge im Bereich Arthouse mühelos weiterschreiben: nach zahlreichen Preisen auf den „großen“ Europäischen Filmfestivals (vom Silbernen Bären in Berlin 2004 für Samaria, über den Grand Prix de la FIPRESCI 2005 für Bin-jip hin zum Prix Un Certain Regard in Cannes) gewinnt er schließlich mit seinem kapitalismuskritischen Film Pietà über die „Läuterung“ eines brutalen Schuldeneintreibers in Seoul 2012 den Goldenen Löwen in Venedig. Haneke ist der kritischen Stimme Galts zufolge gewissermaßen direkt an der Aufrechterhaltung entsprechender metatextueller, also kontextueller Bedingungen beteiligt: „By speaking so unquestioningly in the language of European superiority, the superiority of the European cultural heritage, the superiority of the serious European who understands universal matters, he nonetheless demands to retain Eurocentric distinction.“ (Galt 2010: 237) Der – im Weiteren noch näher beleuchtete – hanekesche Universalismus verzeichnet folglich seine kritischen und konstitutionsbedingenden Gegenkräfte. Die kritische – und vor allem aus kulturwissenschaftlichen Kontexten heraus selbsterklärende – Argumentationslinie, die vorzugsweise Hanekes „Partikularismus“ hervorstreicht, wird, wohlgemerkt nicht selten, argumentativ schon als Essenz aus den Filmen herausgelöst: Die Gegebenheit von Szenarien des Scheiterns zwischenmenschlicher Begegnungen, vorzugsweise in einem „bourgeoisen“ Milieu verhandelt, dem sich der Regisseur offenkundig zurechnet, sei der Grundmotor des hanekeschen Narrativs. Dennoch hat die Sache einen beträchtlichen Haken, denn die mitunter so „aufdeckerisch“ sich wähnende Kritik an Haneke in seiner Partikularität ist umso erstaunlicher als der Regisseur seine Positionierung keineswegs „verleugnet“. In zahlreichen Interviews betont er, dass er plausiblermaßen nicht anders könne als aus seinem Erfahrungsrahmen heraus ein „europäisches“ Problem zu inszenieren. Die Existenz einer dritten Welt sei ihm durchaus bewusst, allein es erschiene ihm prätentiös, sie aus seiner Positionierung heraus authentisch zu vertreten. Mit dem Übertreten des „heimischen“ (österreichisch-deutschen) Produktionszirkels in einen „europäischeren“ Kontext, verändert sich schließlich auch innerdiegetisch die Einflussrichtung der Bedrohungskräfte, die die bürgerliche Keimzelle nunmehr „von außen“ angehen: „While always representing bourgeois existence as fragile and under assault, Haneke’s cinema has increasingly externalized the catalysts for breakdown of bourgeois social order. In earlier films such as The Seventh Continent (1989) and Funny Games (1997), the danger posed to bourgeois protagonists emerges claustrophobically from within their own familial and class ranks, with no external force able to either threaten them or rescue them from self-destruction. In his French-language films, by contrast, Haneke situates the threat to bourgeois existence in the real or imagined agency of immigrant or minority characters.“ (Lykidis 2010: 455)

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Was bleibt, ist die sinnfällige und sich erübrigende Bemerkung hinsichtlich der thematisierten Filme, dass Nation und Staat darin insbesondere in ihrer Unfähigkeit erfahrbar würden, die konfliktbelasteten Beziehungen innerhalb der zunehmend sich mulitikulturalisierenden Zivilgesellschaft zu neutralisieren. (Lykidis 2010: 468)

10. Am Beginn von Arthouse steht: Haneke. Und: Die Geburt einer Tragödie als Trilogie

Am Beginn von Arthouse steht Haneke. – Ein Faktum. Ort der Fabrikation dieser Tatsache ist Russland. Im Zuge des 32. Internationalen Filmfestivals von Moskau wird Veit Heiduschka als Jury-Mitglied vor Ort in einem Interview aufgefordert, die Anfänge Hanekes und die Etablierung seiner Filme zu kommentieren. Heiduschka schildert seine Begegnung mit den Journalisten: „Die Journalisten fragen mich, wie das denn mit Haneke war und ich sage: ‚Als erstes: das Drehbuch hat eine Qualität, aber wie verkauft man das denn? Weil den Begriff ‚ArthouseFilm‘, in der Form wie er heute gebraucht wird, gab es noch gar nicht.‘ Daraufhin haben die gelacht und gesagt: ‚Aber das haben Sie doch mit Haneke überhaupt erst kreiert, den ArthouseFilm!‘ Ich war ganz erstaunt, dass die Russen das so gesehen haben und sage: ‚Sie sehen das so?‘ und sie sagen: ‚Ja, wir sehen das so.‘“1

In der Beschreibung der Konstitutionsprozesse von Arthouse-Kino, diesem Label, das gewissermaßen als Resultat einer vom Markt zur Marke orientierten Kinokultur betrachtet werden kann, steht – wie es schon die „Vorform“ dieses Kinos, das „Autorenkino“ traditionell bedingt – ein Regisseur. – Der Haneke heißt, wie es etablierte Sichtweisen vorschlagen. Konzentriert man sich davon ausgehend auf die Konstitutions- und Stabilisierungsprozesse dieses Arthouse-Kinos, so werden schließlich wieder die Kräfte des Europa-Amerika-„Binarismus“ virulent: „Ich habe den Vorteil gehabt, Anfang der 80er Jahre öfters in Hollywood gewesen zu sein. Ich kannte einen alten amerikanischen Verleiher und Produzenten, der die ganzen Blake-EdwardsFilme finanziert hat, den rosaroten Panther z.B., und der hat mir damals gesagt: ‚Pass auf, wenn du Actionfilme machst, kriegst du Schläge von mir, weil: du hast nicht das Geld, die kosten ungeheuer viel Geld, und du hast nicht die Spezialisten. Aber: nicht umsonst war Freud ein Wiener. Die psychologisierenden Filme, DAS ist dein Feld. Das könnt ihr Europäer besser als wir Amerikaner.‘ Und ich kam zurück und kurze Zeit darauf kam Haneke. Genau in dieses Feld hab ich dann hineingestochen. […] Das war genau dieses Feld, das war genau dieses Europä-

1

Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller.

250 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE ische, was uns eben unterscheidet. Ich wollte eine Nische finden und ich habe diese Nische gefunden. – Dank Haneke, weil er hat sie gefunden, er kam. Ich habe sie nur aufgegriffen.“2

Haneke kam. Und mit ihm ein bereits etablierter Theater- und Fernsehregisseur. Haneke kam aber auch, weil er zuvor, wie Heiduschka erinnert, mit seiner Geschichte – zunächst eine von Radio Bremen angeregte, für das Fernsehen geplante, schließlich jedoch an der Finanzierung gescheiterte Auftragsarbeit – von mehreren österreichischen Produzenten abgelehnt worden war. „Ein Film“, so Produzent Heiduschka, „entsteht drei Mal – über das Buch, die Regie und den Schnitt“. Am Beginn steht also ein Buch und dann ein gebannter, schließlich überzeugter Produzent. Heiduschka berichtet im Zusammenhang mit seiner ersten „Haneke“-Produktion von Zeiten, in denen er über 300 Drehbücher im Jahr erhalten hatte und appelliert, bei allen kalkulatorischen Bedingungen, an die Notwendigkeit, auf das „Bauchgefühl“ zu achten. Am Beginn einer Produktion, die für Heiduschka üblicherweise zunächst einmal die Lektüre eines Buches bedeutet, stehe schließlich nicht allein das Rationale. Im Gegenteil, wie er im Rekurs auf ein prominentes bipolares Begriffspaar ausführt: „Da ist sehr viel Intuitives, wobei die Entscheidung des Geschmacks letztendlich dann das korrigierende Teil ist und ich zitiere da immer Nietzsche, Die Geburt der Tragödie: Als erstes kommt das Dionysische, das Wilde, Ungebändigte und dann erst das Apollinische, das Ordnende, Logische – so ungefähr ist das auch beim Film. […] Haneke kam also eines Tages zu mir, ich musste ja das Buch lesen, um überhaupt festzustellen, ob das geht oder nicht. Er war natürlich schon bekannt über Fernsehen, muss man auch dazu sagen. Ich hab dann das Buch gelesen und fand, dass das Buch eine ungeheure Qualität hatte. Qualität ist immanent im Drehbuch oder sie ist nicht vorhanden – man muss Sensor haben, um das zu erkennen. Drehbuch lesen ist nicht Literatur lesen, Literatur ist etwas ganz anderes. Man muss das in Bildern sehen, als Produzent sieht man gleich auch, ob das finanzierbar ist. Ich hab das jedenfalls gelesen und hab mir gedacht, das ist einfach eine tolle Geschichte, das muss einfach einmal gemacht werden. In der Form hatte ich noch kein Drehbuch. […] Das heißt, man geht zunächst auf die Bücher zurück und dann erst lernt man die Leute dazu kennen.“3

Haneke kam nicht zuletzt auch mit einem Filmprojekt, das – dem Rat des Hollywoodproduzenten entsprechend – finanzierbar war. Im Rahmen dessen, was damals an Mitteln, wenn auch mühevoll, locker gemacht werden konnte. Der Siebente Kontinent (1989) ist mit einem Budget von zwölfeinhalb Millionen Schilling bemessen, zwei Millionen davon sind Eigenanteil der Wega Film, fünf Millionen jeweils steuern das Österreichische Filminstitut (ÖFI) und der ORF bei, der Rest sind Referenzmittel.4 Auf die dreiteilige Entstehungsetappe des Films folgt schließlich die Sichtung und damit die Frage, wie sich das Werk verkaufen lässt. Die Antwort ist bald gefunden: Auch dreiteilig. Heiduschka fragt Haneke nach weiteren Stoffen seines Repertoires, dieser wiederum hat einiges parat. Der Produzent erkennt einen roten Faden in Hanekes Schaffen und beschließt, auf einen nächtlichen Einfall hin, eine Trilogie daraus zu machen – die inzwischen und mit großer zeitlicher Verzögerung als solche 2 3 4

Ebd. Ebd. Zahlen gerundet; Auskunft von Veit Heiduschka. Ebd.

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auch in den Verkaufsregalen steht. Heiduschka wendet sich mit dem Siebenten Kontinent an die Österreichische Filmförderung, die den Vorschlag, einem Erstlingsfilm gleich zwei weitere beizustellen zunächst „milde belächelt“, schließlich aber zustimmt. Gleichzeitig findet sich mit Christa Saredi auch ein Schweizer Weltvertrieb, der den Film den Verkaufsschätzen zweier namhafter internationaler Autorenfilmer additional beistellt: „Wir hatten das Glück, dass beim ersten Film ein Schweizer Weltvertrieb, die Christa Saredi, uns genommen hat. Und die hatte zur gleichen Zeit zwei große internationale Autorenfilmer, das waren Aki Kaurismäki und Jim Jarmusch. Die hat beim ersten Film unseren Film auch international vermarktet, indem sie gesagt hat: ‚Wenn du den Jim Jarmusch und Aki Kaurismäki haben willst, musst du mir den Haneke mitnehmen.‘ Das heißt, die hat ihre Verleiher in Frankreich und in Griechenland und in Holland quasi ‚erpresst‘ und dadurch sind wir sofort auch international aufgestellt gewesen. D.h. der erste Film ist gleich in einigen Ländern, unter anderem eben auch in Frankreich im Kino gewesen. Nicht, dass wir da große Gelder bekommen hätten, aber damit war der Weg aufbereitet: Haneke ist ja nicht über Österreich groß geworden, sondern über Frankreich. Er ist auch nicht über Deutschland groß geworden – der erste Film hatte zwar einen deutschen Verleih, die haben dann aber kein Geld mehr gehabt, die nächsten Filme haben sie nicht mehr genommen. Wir haben selbst bei Die Klavierspielerin in Deutschland keinen Verleih gefunden, obwohl wir drei Preise in Cannes hatten, sondern wir haben dann mit einem deutschen Verleih (wir haben einen quasi ‚gemietet‘ und bezahlt, dass sie den Film herausbringen) kooperiert. Und selbst bei Caché war es nicht möglich, einen deutschen Sender zu finden, der den Film kauft. Ich hab dann erst zwei Redakteure von zwei verschiedenen Fernsehstationen, die mir in Cannes gesagt hatten, wie toll sie den Film finden, dazu bewegen können, dass die dann im Mutterhaus Reklame gemacht haben. Für ein sehr geringes Entgelt wurde der Film dann gekauft.“5

Erfolgreiches Arthouse generiert sich folglich nicht nur über die interaktiven Pole eines Europa-Amerika-Binarismus, der ganz offensichtlich keiner ist („In Hollywood habe ich die Nische für den Österreichischen Film gefunden“6, so Heiduschka), sondern auch über eine multidirektional angelegte Verkaufsstrategie; in diesem Fall über einen Weltvertrieb. Heiduschka schließlich: „Das heißt also kaufmännisch gesehen war das eine richtige Entscheidung, obwohl wir heute noch nicht die Eigenmittel eingespielt haben, bei den drei Filmen, muss ich auch dazu sagen.“7

5 6 7

Ebd. Gespräch mit Veit Heiduschka vom 16.01.2013 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller. Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller.

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37. S UBVENTIONIERT WIDER DIE G EMÜTLICHKEIT : Z EIGEN STATT ERKLÄREN In einem Gespräch 1996 äußert sich der Schriftsteller und Drehbuchautor Gustav Ernst, Herausgeber der mit Stand und Geschichte des österreichischen Films beschäftigten Buchreihe „Wespennest-Film“ (später: kolik – Zeitschrift für Literatur, mit einem Spin-off kolik.film) und Vorstandsmitglied des Wiener Drehbuchforums, zu seinen Erwartungen an die Kunst der Gegenwart. Es werde von Nöten sein, „einerseits Inhalte aufzustöbern, die nicht so leicht, so einfach, so deutlich in der Öffentlichkeit oder im Bewußtsein sind, andererseits Formen dafür zu finden, die besonders deutlich, prägnant und eingehend sind“ (Ernst/Büttner; Dewald 1997: 222). Es werde ferner darum gehen, eine „möglichst radikale Form“ zu finden, „eher schockwirkend, weniger im Sinne eines verbindlichen und freundlichen Einredens auf den Rezipienten, sondern durchaus mit dem Stellwagen ins G’sicht fahren, wie es so schön bei uns heißt. Durchaus eine direkte und möglichst entlegene Form für den Zuschauer [zu] wählen.“ (Ernst/Büttner; Dewald 1997: 223) Für im Kino geglückt befindet Ernst eine solche Annäherung vor allem bei Franz Novotny, Michael Haneke und auch im Hinblick auf Christian Bergers Erstlingswerk Raffl (1984). Berger wird von der Regie bald zur Kamera übergehen, die er in einer Reihe von Haneke-Filmen führt: In Benny’s Video, 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls, Die Klavierspielerin, nicht zuletzt in Caché und Das Weiße Band, für die er eine Reihe von internationalen Preisen und Nominierungen (bis hin zur famosen Oscar-Nominierung 2010 für die Beste Kamera) verzeichnen wird. Zu lesen ist Gustav Ernsts Stellungnahme freilich vor dem Hintergrund der kulturpolitischen Praxis der österreichischen Sozialdemokratie, d.h. ihrer Vergabe von Subventionen. Angesichts der Transformationen des sozialen Netzes („Mama Sozialdemokratie und Papa Staat helfen […] nicht mehr“) führt Ernst ein prognostisches Element für den Erfolg eines Künstlers an, das sich im Fall Hanekes in der Tat als entscheidend erweisen wird: der Kunstschaffende müsse „versuchen, zumindest ein Bein auf dem freien Markt zu haben […], nicht nur von Subventionen abhängig zu sein, denn die sind tödlich. Auf Dauer isolieren sie ihn und verformen ihn innerlich.“ (Ernst/Büttner; Dewald 1997: 225) Man steht folglich vor einer Sozialdemokratie als potentiellem Generator von Abhängigkeitsverhältnissen: nicht nur künstlerisch, im Sinne einer möglichen Zensur der Idee, einer Bürokratisierung oder Institutionalisierung von oppositionellen Potentialen; sondern ferner auch im Sinne einer als Verfehlung des internationalen Marktes auslegbaren „Domestizierung“: „Durch die Subventionen wird man zu bequem, seinen Beitrag dafür zu leisten, daß ein Markt zustande kommt. Du brauchst nicht zu kämpfen, gegen den ORF, gegen Verlage, gegen Institutionen, du hast deine Subventionen, hast dein Geld, bleibst zu Hause, gibst Ruhe und schreibst. Oder ‚da hast du einen Posten, setz dich ins Literaturhaus und verwalte das Haus‘. Wenn das Auskommen einmal gesichert ist, wird man ruhiger […], bleiben die Verhältnisse, wie sie sind, und ich richte mich in diesen Verhältnissen ein. Ich werde freundlicher. Diese Art von Domestizierung habe ich auch immer gesehen. Das ist wirklich ein Problem.“ (Ernst/Büttner; Dewald 1997: 225)

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Die Subventionierung ist aus dieser Warte durchaus als gewichtiges Element einzuschätzen, positiv im Sinne der Kunst jedoch nur, sofern sie sich dem Anschub in nach außen gerichtete Formen und Bewegungen dienlich erweist. Mit anderen Worten: Kunst, um zu funktionieren, muss relational geschehen; dort, wo sie funktioniert – d.h. (wie auch immer) wahrgenommen wird bzw. auf Öffentlichkeit trifft – tut sie das auch. Die bislang letzte umfassende Geschichte des österreichischen Films erscheint 1997 (Büttner; Dewald 1997), sie inkludiert die Anfänge des im fünften Lebensjahrzehnt sich befindlichen „Kino-Neulings“ Haneke (Horwath 1991: 7), die sich in aller Munde unter dem maßgeblichen Titel der „Vergletscherungstrilogie“ etabliert haben. Jene aus Der Siebente Kontinent (1989), Benny’s Video (1992) und 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls (1994) sich zusammensetzende, in ihren Teilen jedoch autonome Trilogie, in der „das unlebbare Leben“ im Vordergrund steht und in dem „der Tod bzw. der Suizid […] lediglich Folgeerscheinungen“ des Unergründlichen sind. Konzipiert in „Analogie zur gesellschaftlichen Realität der sogenannten ‚Überflussgesellschaft‘, deren Entwicklung eine suizidäre Tendenz ja nicht ganz abzusprechen ist“. Mit dieser Trilogie erzählt Haneke nach eigener Vorgabe Geschichten, die letztlich „eine Lächerlichkeit“ sind, „gegen das Grauen, das uns aus und in der Realität entgegenschlägt. Um das zu sehen, braucht man kein Pessimist zu sein – es genügt schon, wenn man einigermaßen wach ist.“ (Haneke/Grabner; Wessely; Larcher 2008: 11) Alle drei Filme stellen eine Gewalttat zur Disposition, für die es weder eine soziologische noch eine psychologische Erklärung gibt. – Fälle, wie sie Illustrierte und Lokalseiten in Tageszeitungen gerne unter dem heuchlerischen Vorwand von Betroffenheit präsentieren: „Der wahre Schrecken an ihnen“, wie Haneke betont, „ist hingegen der Verdacht, daß das angeblich Irrationale der Tat seine sehr rational zu ergründenden Wurzeln in unserer Art zu leben haben könnte“8. Haneke, der seine drei Kinofilme – einer pragmatischen Zusammenfassung der komplexen Vorgänge wegen – in zahlreichen Interviews als von der „Vergletscherung der Gefühle“ bzw. der „emotionalen Vergletscherung“ handelnd bezeichnet hatte, wehrt sich inzwischen gegen die Vereinfachung seiner Filme mittels solcher Etikettierungen: „Je regrette beaucoup aujourd’hui d’avoir forgé cette expression qui maintenant me poursuit partout.“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 75) Veit Heiduschka, der den ersten Film risikofreundlich und quasi im Alleingang produzierte, hat der Etikettierung gegenüber eine andere Haltung: „Den Namen eines Regisseurs muss man aufbauen und das kostet Geld. Mit Der Siebente Kontinent, seinem ersten Kinofilm, habe ich Haneke ein Jahr lang auf unsere Kosten rund um die Welt geschickt. Dann gleich eine Trilogie zu machen, war mein – übrigens nächtlicher – Einfall, nachdem ich gesehen hatte, dass seine Projekte ein roter Faden verbindet.“9

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Haneke, Michael. „Notizen zum Film“. In: StadtkinoProgramm, Nr. 255, Stadtkino Wien, 1994. Redaktion: Franz Schwarz. Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller.

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Der rote Faden ist, wenn man so will, zu einem beachtlichen Teil aus der Verwendung des Mediums Film als Instrument der Kritik und der (Selbst-)Reflexion gesponnen, die Haneke bis ans Äußerste treibt. Wenn man beachtet, dass der „Welterfolg dieses Mediums“, wie Alexander Horwath anlässlich einer Werkschau des Österreichischen Filmmuseums 2012 festhält, „auf einer Verdrängung [beruht]“ – „Von allen Formen und Funktionen des Films hat sich eine einzige als dominant durchgesetzt – das Kino als Vergnügungsinstrument“10, ist Hanekes Erfolg umso erstaunlicher. Horwath, der Haneke 1991 mit seinem anlässlich des Siebenten Kontinents herausgegebenen Band „Michael Haneke und seine Filme“ nicht als „Bannerträger einer neuen Zeit“, sondern als „genauen“ Filmemacher, „auffällig in [seiner] unzeitgemäßen Ernsthaftigkeit“ (Horwath 1991: 39) würdigt, schreibt mit Haneke ein essentielles Stück Filmgeschichte: Eine Geschichte der Novität und der Überraschung, da die bislang „übliche Einschränkung ‚für den österreichischen Film gelungen‘ nicht notwendig war, man konnte Hanekes Film vielmehr im Vergleichsrahmen des europäischen ‚Kunstfilms‘ gewissermaßen ‚normal‘ diskutieren“11. Die Utopie Film, die die Werkschau 2012 in den Blick nimmt, und die als solche stets auch als Instrument der Herrschaft Benützung erfahren hat, wird in ihren Kräften folgendermaßen definiert: Film habe „von Beginn an verstanden, diese Zurichtung zu unterlaufen – als Instrument der (Selbst-)Reflexion und der Kritik, durch die Artikulation ‚unpassender‘ Wünsche und die Übernahme unvorhergesehener Funktionen.“12 – Diese „funktionelle“ Richtung, der Haneke so zugehörig ist, zeichnet sich in ihrem Einschlag weit vor seinem Kinodebüt ab, wie es noch zu besprechen sein wird. „Wenn es eine Utopie geben sollte, die man ernst nehmen kann“, so die berühmten Worte Hanekes, die der schwarze Umschlag des Buchs zum Film einfasst, „so muß es eine negative Utopie sein. Eine Utopie des Schrecklichen und der Zerstörung, die so weit geht, daß sie Widerstandskräfte mobilisiert.“ (Haneke/Horwath 1991) – Eine Mobilisierung, die zumindest diskursiv funktioniert. In Analogie zur famosen „emotionalen Vergletscherung“ setzt sich sodann auch der – vom Regisseur weniger politisch als vielmehr hinsichtlich des Alltäglichen formulierte – „Bürgerkrieg“ als geflügeltes Wort durch. Die „Kälte bei Haneke“, die bis heute kaum eine mit Haneke sich beschäftigende Instanz zu diskutieren oder zumindest zu identifizieren auslässt, findet über Georg Seeßlen ihre erste, schematisch versierte, strukturelle Analyse: „Strukturen der Vereisung“ lautet der Titel des 1995 erschienenen Aufsatzes, der sich mit „Blick, Perspektive und Gestus in den Filmen Michael Hanekes“ auseinandersetzt und sich damit insbesondere der Klärung einer dezidiert „neuen Filmästhetik“ (Seeßlen 2008: 28) verschreibt: Das Kino habe uns an zwei grundlegende und vor allem „beruhigende“ Darstellungsformen gewöhnt, an eine mythische und damit erlösungsimplizierende zum einen und an jene unter der Bezeichnung des „psychologischen Realismus“ geläufige zum anderen, die uns mit dem Prinzip der Erklärbarkeit der Welt entgegentritt. Die umfassendste Ableitung daraus sei – nicht zuletzt in 10 Horwath, Alexander. „Die Utopie Film: Leben und Kino: 100 Vorschläge“. In: Programmheft Österreichisches Filmmuseum, September/Oktober 2012, S. 3. 11 Horwath im Interview. Hofmann, Kurt. „Bericht über ein Lebenszeichen“. In: Buchkultur Wien, Nr. 19, Mai 1992. 12 Horwath, Alexander. „Die Utopie Film: Leben und Kino: 100 Vorschläge“. In: Programmheft Österreichisches Filmmuseum, September/Oktober 2012, S. 3.

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seiner Konstruktion von Eindeutigkeit und seiner moralisch motivierten Aufrechterhaltung des Binären – unverkennbar das Melodrama, als „Moral ohne Transzendenz und ohne Barmherzigkeit“ (Seeßlen 2008: 26). Die Folgerung ist logisch und lässt Haneke in seinem Schaffen entsprechend erfolgreich hervortreten: „Von einem Kino, das die eigene Ästhetik aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien will, müssten wir also vielleicht drei relativ konsequente Abwehrhaltungen erwarten: – es muss antimythisch sein, – es muss anti-psychologisch sein (jedenfalls im Sinne der eindeutigen Rekonstruktion der Biographie) und – es muss anti-melodramatisch sein. Anti-mythisch, antipsychologisch oder anti-melodramatisch zu sein heißt freilich keineswegs, Mythos, Psychologie und Melodrama ganz einfach zu ignorieren. Es geht vielmehr um das Bewusstsein der Limitierung und die Bewegung der Befreiung, denn Mythos, Psychologie und Melodrama sind nach wie vor die grundlegenden Formen unserer Kommunikation, von jeder Werbeaussage bis zur Kriegsberichterstattung; zusammengenommen ergeben sie wohl jene Sprache, deren Grenzen zugleich die Grenzen unserer Welt sind. Kaum ein Filmemacher hat eine so konsequent anti-mythisch [sic!], anti-psychologische und anti-melodramatische Filmsprache gefunden wie Michael Haneke, der gleichwohl in seinen Arbeiten Mythos, Psyche und Moral stets kritisch untersucht. Nun hat sich diese Welt in den letzten Jahrzehnten dergestalt verändert, wenn auch ohne das recht faßbar machen zu können, dass die Krise dieser Sprache aus Mythos, Psychologie und Melodrama unübersehbar geworden ist; und neben vielem anderen sind Hanekes Kinofilme auch eine direkte Wiedergabe dieser Krise.“ (Seeßlen 2008: 26-27)

Hanekes Filme seien „klinische Fallstudien“, „symbolische Parabeln“, „kulturkritische Sprengsätze“ (Rebhandl 2008 [1994]: 51) – und werden als solche rezitiert schließlich ein Stück österreichischer Filmgeschichte mitschreiben (Büttner; Dewald 1997: 412) und dabei jenes eingespielte Vokabular vorzeichnen, mit dem „Haneke“ bis heute diskutiert wird. Sie leiten, wenn auch indirekt ein, was sich vermittels der Erfolgsgeschichte in mannigfaltiger Hinsicht einstellt: einen Triumph des Gezeigten bzw. des Nichtgezeigten über das Erklärende.

11. Der Siebente Kontinent: Ein kollektiver Selbstmord und ein großer Schritt in die künstlerische Freiheit

„Kunst ist immer Beschreibung von Krise.“ – Mit diesem Satz zitiert am 11. Mai 1989 die Wiener Ausgabe von Die ganze Woche einen Michael Haneke, für den es „keine versöhnliche Kunst“ gibt und prognostiziert damit einen „neuen Frühling“ des österreichischen Films.1 Der Siebente Kontinent als Kunst hat seinen „Ursprung in der Klage“2, es ist die – an einem Stern-Artikel inspirierte – Geschichte einer Linzer Kleinfamilie, die kollektiv in den Tod schreitet. Der zunächst unter dem Arbeitstitel „Australien“ konzipierte Film umfasst drei unterschiedlich lange Teile – die fragmentarische Exposition des Alltags der Familie, die deutlich kürzere „Wiederholung“ desselben mit kleinen Veränderungen und schließlich, der längste Teil, den entschlossenen Weg in den Selbstmord, eingeleitet durch die systematische Zerstörung des Besitzes. Die Schwarzblenden zwischen den einzelnen Sequenzen und Fragmenten sind von unterschiedlicher Dauer, sie geben Raum zum Begreifen des Unbegreiflichen. Vorangestellt ist den drei Teilen des Films ein beinahe vierminütiges Intro, das den Weg des Ehepaars im KFZ durch die Waschanlage verfolgt. Die dabei fokussierten Einzelteile des Automobils, Kennzeichen, Licht, Felgen, Windschutzscheibe, geschäumt und nach und nach dem Wasserstrahl ausgesetzt, sind die Vorboten eines weitgehend objektfokussierten Narrativs, vermittels dessen Haneke „Die Verdinglichung der Welt“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 129) vor Augen führt. Am Ende der Waschstraße schließlich ragt das Plakat einer Reiseagentur von einer Fassade: Strand, weißer Sand und eine verheißungsvolle Inskription: Welcome to Australia. Schwarzblende. 1. Teil: 1987. Nahaufnahme ein Wecker: 05:59. Das Gerät schaltet auf sechs Uhr, es aktiviert sich der Radiowecker mit dem Österreichischen Rundfunk. Die Nachrichten. Georg (Dieter Berner) und Anna (Birgit Doll) wünschen sich formelhaft und in der Situation eines eingespielten Ehepaars, was zu Tagesanbruch sich noch wünschen lässt: – „Morgen.“ – „Morgen.“ Dabei in Nahaufnahme: Nicht das Paar, sondern die roten Schlüpfer vor dem Bett. Beim Verlassen des Schlafzimmers: Die Türschnalle. Die Mutter weckt die Tochter (Leni Tanzer), die sich um die Fische im Aquarium 1 2

Unbekannt (Kürzel: K.K.). „Auf dem Weg nach Cannes: Österreichs Film im Aufwind“. In: Die ganze Woche, Nr. 19, 11.05.1989. Ebd.

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kümmert. Die Mutter bedient die Kaffemaschine, im Hintergrund läuft weiterhin das Radio. Wetterbericht. „Zieh die rote Weste an!“, ruft die Mutter. In Nahaufnahme: Georgs Aktentasche. Dann der Frühstückstisch, in Aufsicht gefilmt. Man sieht nicht die Familie bei Tisch, nur die Hände, wie sie Brote streichen, Kaffee einschenken und das Frühstücksei löffeln. „Hast du deine Schulsachen schon gepackt?“, fragt die Mutter. Das Garagentor öffnet sich, schließt sich. Dann, weiterhin in Fragmenten, führen die Bilder in den Arbeitsalltag des Paares ein: Tochter Evi einmal in die Schule gebracht, erscheint die Mutter in der Optiker-Filiale, die sie gemeinsam mit ihrem Bruder Alexander (Udo Samel) betreibt. Während sich Georg, Überwachungsbeamter in einer Großfabrik, vom Parkplatz vorbei an den Maschinen, durch Schaltzentralen ins Büro begibt, hören wir Annas Stimme aus dem Off den Inhalt eines an ihre Schwiegereltern adressierten Briefs wiedergeben: Sie entschuldigt sich, dass sie so spät erst scheibt, der Tod ihrer Mutter habe den Bruder in eine tiefe Depression gestürzt, er sei inzwischen aber in Behandlung. Georg sei befördert worden, er habe bessere Aufstiegschancen in der neuen Abteilung. Zwar habe er mit dem neuen, unfähigen Chef zu kämpfen, verdiene aber besser und überhaupt gehe es ihnen durch die Erbschaft der Mutter finanziell ausgezeichnet. Sorgenkind Eva habe sich vom Asthma wieder erholt. Anna schließt den Brief mit Umarmungen und übermittelt Entschuldigungen von Georg, dass er selbst nicht dazugekommen war, ihnen zu schreiben. Im kontrastiven Wechsel von den Close-Ups zu den Totalen degradieren diese Menschen zu kleinen Exekutivelementen einer großen Maschinerie. Kamerabewegungen gibt es kaum, es sind statische Bilder, die diese Menschen einfangen. Schwarzblende. Ein Vorfall in der Schule: Evi gibt vor, sie sehe nichts mehr. Die Lehrerin, pädagogisch wenig kompetent, enttarnt die „Lüge“. Schwarzblende. Anna führt bei einer (in ihrer Eloquenz reichlich reißerischen) Kundin (Silvia Fenz) einen Sehtest durch. Georg holt sie ab zum Einkauf. Im Supermarkt liegt der Fokus auf dem geschobenen Einkaufswagen, der sich langsam füllt – ein Streifzug durch die Warenlandschaft. Augenkontakt gibt es keinen, weder mit dem Mann an der Fleischtheke, noch mit der Kassiererin. Schwarzblende. Die Anzeige der Zapfsäule einer Tankstelle. Das Öffnen der Motorhaube. Der Tankwart prüft den Ölstand. Ein anderer kassiert, den Blick gesenkt, die Kamera auf der Tastatur. Georg zurück im Wagen, man sieht ihn nicht. Nur die Hand, die den Zündschlüssel dreht, den Fuß auf der Kupplung, das Einlegen des ersten Gangs, die Bewegung der Reifen. Das Garagentor öffnet sich. Zurück zuhause. Evi sitzt an ihren Hausaufgaben, im Hintergrund tönt der Fernseher, das Telefon läutet. Die Mutter wird per Anruf aus der Schule über Evis Verhalten unterrichtet und stellt sie zur Rede: sie soll zugeben, sich blind gestellt zu haben. Sie brauche keine Angst zu haben, sie tue ihr nichts, sagt die Mutter sanft, sie wolle nur die Wahrheit wissen. Evi bejaht. Und fängt dafür eine Ohrfeige, für die sich die Mutter nicht entschuldigen wird können. Schwarzblende. Am Abend amüsiert man sich zunächst bei Tisch, Annas Bruder Alexander ist zu Gast. Als dieser jählings in Tränen ausbricht, weiß ihm keiner der in Großaufnahme visierten Beteiligten so recht zu helfen. Anna, mehr oder weniger peinlich berührt, tröstet ihn schließlich. Danach wird kollektiv ferngesehen, in einer langen Einstellung das Kind zu Bett gebracht. Die Liebesbekundung der Mutter an die Tochter gestaltet sich holprig und wenig überzeugend, die Umarmung wird sofort der Routine geopfert: „Und jetzt wird gebetet“, ordnet die Mutter an. – „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich

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in den Himmel komm“, sagt die Kleine floskelhaft. Schwarzblende. Eine animierte Variante des Bildes vom Australien-Plakat bemächtigt sich des Bildkaders, ein düsteres Fantasiebild, das Meer bewegt sich. Wellengang. Georg kann nicht schlafen. Auf dem Schreibtisch der kleinen Tochter ein Zeitungsausschnitt: „Blind, aber nie mehr einsam: Nach einem schrecklichen Unfall kann Anita mit der Zuneigung ihrer Eltern rechnen – mehr als je zuvor.“ 2. Teil: 1988. Nach dem morgendlichen Koitus, der Signalton: „Sechs Uhr. Hier ist der Österreichische Rundfunk“. Mit den Nachrichten über ein gekapertes Flugzeug in der Sowjetunion. Es wiederholt sich, in beklemmender Ähnlichkeit, die Routine: die Schlüpfer vor dem Bett. Aufstehen. Die Zahnbürsten im Bad. Die Tochter wird geweckt, Schuhe werden an der Badewannenkante geschnürt. Das Mädchen füttert die Fische. Schwarzblende. Das Garagentor öffnet sich. Georg fährt. Schwarzblende. In einem Warteraum schreibt Anna einen Brief an ihre Schwiegereltern. Über ihn und seinen baldigen Aufstieg zum Abteilungsleiter, mit der freundlichen Anregung, die Eltern mögen doch stolz auf ihren Sohn sein. Auch Alexander habe sich wieder „gefangen“, nachdem er im Sommer eine Schiffsreise nach Skandinavien gemacht hatte, was ihm sehr gut getan habe. Unterdessen in der Firma: der ehemalige Abteilungsleiter möchte seine persönlichen Sachen bei Georg abholen; der wiederum hat sie schon beseitigen lassen. Evi in der Schule: Die um einen Springbock organisierte Plansequenz aus dem Turnunterricht lässt eher auf Drill, denn auf Vergnügen schließen. Schwarzblende. Anna holt Georg von der Arbeit ab. In strömendem Regen, unter Einfluss von „Entspannungsmusik“ aus dem Radio, fahren sie an einer Unfallstelle vorbei. Die Leichen sind bereits zugedeckt. Schwarz. Wieder durchfährt die Familie, trotz strömenden Regens, den Reinigungsparcours der Waschanlage. Während die Bürsten sich auf die Scheiben gedrückt winden, verliert Anna schließlich die Kontenance. Sie weint, haltlos. 3. Teil: 1989. Sie sollen vorsichtig fahren, raten Georgs Eltern zum Abschied nach dem Familienbesuch, das Radio habe eine Menge Verkehr angekündigt. „Ja, Mama“, erwidert Georg. Die Kamera aber richtet sich nicht auf Mutter und Sohn, sondern auf die Koffer und die Schistöcke, die in den Wagen geräumt werden. Die Verabschiedung von Evis Großeltern ist umso schmerzlicher als die Kamera ihren materialgerichteten Fokus fortführt: Sie zeigt die Autotür, das anonyme Einsteigen und nicht die Menschen. Den Schlüssel im Zündschloss. Die Gangschaltung. „Also. Ciao“, sagt Georg und kurz eingeblendet winken die Großeltern. Die Autofahrt, durch die Windschutzscheibe gefilmt. Wieder tönt das Radio aus dem Hintergrund. Nachrichten. Es ist bereits dunkel, als sich das Garagentor öffnet. Bei der Ankunft stellt sich heraus, dass die Haushälterin die Fische nicht gefüttert hat. „Wir werden sie entlassen. Morgen“, so Georg dezidiert. Evi beim Abendessen. Die Kamera zeigt nicht Evi sondern das Essen. Cornflakes. Auch das Zubettgehen der Eltern bleibt in seiner Visualisierung auf den Nachttisch, ein Glas Wasser, die Uhr und die Nachttischlampe reduziert, die abgedreht wird. Die Einstellung verdunkelt sich naturgemäß, bleibt aber dieselbe als Georg schließlich hinzufügt: „Die Zeitung müssen wir auch noch abbestellen.“ Am nächsten Tag richtet sich Georg in einem Brief schließlich selbst an seine Eltern, berichtet über den geplanten „Ausstieg“. In der Firma habe er bereits gekündigt: Wenn man einmal einen Entschluss gefasst habe, dann müsse man sich daran halten. Auch Anna sei aus dem gemeinsamen Unternehmen mit dem Bruder ausgestiegen.

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Während Anna sich Medikamente vom Arzt verschreiben lässt, holt Georg sämtliches Werkzeug aus dem Baumarkt. Die gesamten Ersparnisse werden von der Bank abgehoben. „Wir wandern aus. Nach Australien“, so Anna zum perplexen Bankbediensteten. Anna entschuldigt die Tochter in der Schule, „sie muss sich beim Schifahren verkühlt haben“. Man sieht dabei nur das Telefon und den Block, auf dem Anna kritzelt. In der Dunkelheit, zwischen Autoleichen, Georg mit seiner Tochter. Der Vater verschwindet zum Verkauf des Wagens mit dem Händler, während Evi, begleitet durch ein paar wenige Takte aus Alban Bergs Violinkonzert, durch das Karosseriegelände schlendert. – Der mit der Dauerberieselung aus dem Radio so stark kontrastierende minimalistische Musikeinsatz wird Haneke beim Internationalen Festival von Flandern in Gent den „Prize for the Best Application of Music and Sound in Films“ einbringen. Mit Einsetzen des Bach-Chorals („Es ist genug, Herr, wenn es dir gefällt, so spanne mich doch aus!“) sind die Weichen für den als Auswanderung getarnten Selbstmord schließlich gestellt: Als Georg und Evi mit dem Taxi zurückkehren, hat Anna bereits die im Feinkostladen zuvor selektierte Lieferung des Partydiensts entgegengenommen. Die Haustür wird versperrt, die Jalousien heruntergelassen. Zwischen zwei Schwarzblenden kehrt die seltsame, ein gräuliches Idyll versprechende Bildmontage wieder – eine Montage aus drei Bildern: Im Vordergrund der Strand, dahinter das Meer und hinter dem Meer Gebirge. Während Evi ein buntes Bild malt, setzt sich, vermittels Georgs Off-Stimme, sein Brief an die Eltern fort: „So bleibt also nur unser Evchen, von der wir lange überlegt haben, ob wir sie mitnehmen, oder ob wir sie bei euch zurücklassen sollen. Wie du dir vorstellen kannst, liebe Mama und du sicher auch, lieber Vater, hat uns diese Entscheidung schweres Kopf- und Herzzerbrechen bereitet. Denn wenn wir auch sicher sind, für uns das richtige zu tun, so ist es doch etwas ganz anderes, über das Leben des Menschen zu entscheiden, der einem das Liebste auf der Welt ist. Vielleicht erinnert ihr euch daran, wie wir zu Ostern, bei euch in der Kirche, gemeinsam diese Cantate gehört haben. Da hieß es: ‚Ich freue mich auf meinen Tod.‘ Und wie dann nachher die Evi gesagt hat: ‚Ich auch.‘, seid ihr ganz erschrocken gewesen deswegen. Wir haben noch viel darüber geredet seitdem und ich weiß, dass der Tod für Evi keinen Schrecken hat. Wir haben heute, jetzt, wo wir fest entschlossen sind, sie mit uns zu nehmen, noch einmal mit ihr darüber gesprochen und es war schön und traurig gleichzeitig zu sehen, wie leicht sie zugestimmt hat, mit uns zusammen zu bleiben.“

In Analogie zur langen Schwarzblende endet schließlich der Brief: „Ich glaube, ein Leben wie wir es gelebt haben vor Augen, sagt man leicht zu jeder Vorstellung von Ende: ‚Ja.‘ Bitte seid jetzt nicht traurig oder macht euch Vorwürfe oder fasst es gar als Kritik oder etwas Ähnliches auf. Ich sage das nur als einfache sachliche Feststellung, die nichts mit euch zu tun hat.“ Anna, Georg und Evi speisen; ein Festmahl mit Champagnerbegleitung. Das Telefon läutet, Georg hängt den Hörer aus, auf dem die Kamera lange verweilt. „In Liebe, Euer Sohn Georg.“ Die Mutter legt das Kind schlafen. Schwarzblende. Der Tag bricht an, Kaffee wird gekocht und – parallel montiert – die Werkzeugkiste bereitgestellt, der Frühstückstisch sorgfältig gedeckt; Zangen, Sägen, Hammer nebeneinander gereiht. Objekte im Fokus, permanent. Fortan geht es Schlag auf Schlag: Anna hört einen Krach, der Vater hat eben im Wohnzimmer auf das Bücherregal ein-

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geschlagen, Evi daneben. „Ich glaub es geht nur, wenn wir systematisch vorgehen“, konstatiert Georg nüchtern. Noch wird gefrühstückt. Zu sehen ist nicht die Familie bei Tisch, sondern nur der Tisch, überladen mit Delikatessen. Der Vater zur Tochter: „Du musst dir feste Schuhe anziehen, Prinzessin. Musst überhaupt aufpassen, dass du dir nicht weh tust, gell.“ Das Mädchen, entschieden: „Klar.“ Auf eine Schwarzblende folgt schließlich die absolute Demontage des Heims: Bilder werden, eines nach dem anderen, von der Wand genommen. Darunter eine Familienfoto-Collage. Kleidung von den Kleiderbügeln genommen, jedes Hemd einzeln zerrissen, Kleider zerschnitten. Der Vorhang heruntergerissen. Das Mädchen zerschneidet seine Zeichnungen, zerreißt seine Hefte, die Bücher. Jede Schallplatte wird einzeln auseinandergebrochen; Arbeitsunterlagen und Briefe zerstört. Die Tapezierung des Sofas aufgeschlitzt. Familienalben zerknüllt, zerrissen. Die Boxen der Stereoanlage mit dem Hammer, die Regale mit der Axt zerschlagen, Porzellan zerschellt. Die Kindermöbel zersägt, dann der Badezimmerschrank, der Spiegel. Die Vase auf der Glasplatte am Biedermeiersekretär zerschellt, ehe auch der Sekretär seine Zertrümmerung erfährt. So wie Haneke die Dinge und Objekte einführt und als dominante Größe etabliert, so behandelt er sie auch im Vernichtungsprozess. Jedem Ding seine Einstellung: Die Pendeluhr, ein antiker Schrank, der Glastisch, der Computerbildschirm, der Schreibtisch. Glassplitter überall und schließlich, einem lauten Nein der Mutter zum Trotz, trifft die Hacke das Aquarium. Die Fontäne bemächtigt sich des Wohnzimmers, eine Überschwemmung breitet sich aus. Zwischen aufgeweichten Papierschnipsel schwimmt eine Videokassette, springen die ums Leben ringenden Fische. Das Mädchen wehrt sich, schreit und weint; der Vater reagiert: „Entschuldigung.“ Zwei Postbeamten, die die Störung des ausgehängten Telefons beheben wollen, werden weggeschickt, die auf der Bank abgehobenen Geldscheine und Münzen in mehreren Etappen in minutenlanger Einstellung im Klo hinuntergespült. Puppenspielzeug, Stofftiere, Glasscheiben, Wörterbücher, der Wecker, alles zerstört, vermengt mit den vertrocknenden Gewächsen des Aquariums. Inmitten der Trümmer, sichtlich erschöpft, speist am Boden die Familie. Der Vater nimmt noch ein Bad ehe sich die drei – frontal aufgenommen – vor dem Fernseher einfinden und beklemmend lethargisch einer Varieté-Show beiwohnen. Wir, die Zuseher, nehmen zunächst perspektivisch den Platz des noch unversehrt gebliebenen Geräts ein, vor dessen Unterhaltungsprogramm die Familie langsam verendet. Ein leeres Glas, der leblose Arm der Tochter, eine Spritzenampulle. Schließlich Anna im Bild, wie sie Tabletten im Glas auflöst, das Gemisch wider den Heulkrampf runterschluckt um darauf zu trinken, was an Champagnerresten noch übrig ist. Evi ist bereits tot und Anna noch zurechnungsfähig genug, um entsprechend zu reagieren. Die Akustik ihres eigenen Todeskampfs, ihr qualvolles Ringen nach Luft zwingt Georg wiederum zum Erbrechen, er muss sich erneut ein Glas mischen. An die Wand schreibt er Todesdatum und -uhrzeit von Evi und Anna, was die ohnehin schon beachtliche Dauer retrospektiv noch dehnt – 11.1.89, 22:30 Uhr die Tochter, 12.1.89, 02:00 Uhr die Mutter. Seinem eigenen Namen fügt er ein Fragezeichen hinzu. Auf dem Bett schließlich, gemeinsam mit den beiden Leichen, vor dem Rauschen und im Angesicht des Flimmerns eines toten Fernsehkanals verendet schließlich auch Georg. Kurze Flashbacks – die Bürsten der Waschanlage, die zugedeckten Leichen auf der Fahrbahn, die Werkzeugkiste, die Agonie der Fische, der Blick des ehemaligen Abteilungsleiters, dessen Sachen er hatte beseitigen lassen, die Demontage des Telefons,

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der Heulkrampf seiner Frau in der Waschanlage, ihr Lachen, ihr Blick, der Hammer, die Zahlenanzeige der Kassa in der Tankstelle, die gesenkten Blicke des Personals im Supermarkt, Evis Spielzeug, der Blick der Eltern bei der Verabschiedung nach dem Schiurlaub, die Tabletten – rekapitulieren seine Eindrücke, die auch die des Zuschauers sind, alternieren in immer kürzeren Abständen mit der Ansicht des rauschendflimmernden Fernsehgeräts. Alexanders Nervenzusammenbruch, Sequenzen aus dem Arbeitsalltag, Evis Blick und schließlich wieder die an Australien erinnernde surreale Bildmontage, ehe das schließlich ganz nah aufgenommene Bildrauschen ins Schwarz und den folgenden Abspann übergeht: „Die Familie S. wurde am 17.02.1989 gefunden. Durch Anzeige des in Sorge geratenen Bruders der Ehefrau war die Wohnung aufgebrochen worden. Am 20.02. wurde die Familie begraben. Die Eltern von Georg S. glaubten trotz des hinterlassenen Abschiedsbriefes nicht an Selbstmord und erstatteten Anzeige wegen Mordes gegen Unbekannt. Die Untersuchungen, die die Polizei aufgrund dieses Verdachts anstellte, blieben ergebnislos. Der Fall kam unerledigt zu den Akten.“

Im Gespräch mit Serge Toubiana3 bekundet Haneke seine ursprüngliche Intention, die Geschichte der Familie vom Selbstmord ausgehend in Rückblenden auf ihr Leben zu erzählen. Zu erklärend und entsprechend weniger verstörend sei ihm jedoch diese Variante erschienen, die er zugunsten der definitiven, in etwa vier Wochen verfassten Drehbuchvariante verworfen habe. Im Zeitungsartikel, der ihn zur Geschichte inspirierte, habe der Journalist auf Basis von Recherchen in seinem Erklärungseifer – von unbezahlbaren Schulden des Mannes bis hin zu sexuellen Probleme mit seiner Frau – sämtliche Angebote gemacht. – Dumme Erklärungen, so der Regisseur, die in einen Film transferiert nur die Wirkung der Tat verringert hätten, weshalb er letztlich die protokollarische Variante vorgezogen habe. In seinen Recherchen bezüglich der Fähigkeit junger Menschen, Bilder zu entziffern sei er auf das Ergebnis gestoßen, dass Kinder bei schnelleren Schnitten tendenziell mehr zu erfassen vermögen als die älteren Generationen, ihre Eindrücke dabei jedoch weniger stark seien. Im Protest unter anderem gegen diese Art, schnelle Pseudoinformationen zu geben, resultiert das Bestreben, die Erfahrung des Zuschauers emotional tiefer zu gestalten, sie durch Rhythmus zu determinieren. Denn Kino sei vor allem Rhythmus, der Musik viel näher als der Literatur. Die Figuren im siebenten Kontinent leben nicht, sie exekutieren, dem Diktat der Dinge folgend, Gesten, die sie unablässig wiederholen. Ihr ganzes Leben sei nur die Summe dieser Gesten. Als das für ihn Traurigste am Film führt Haneke die Tatsache an, dass die Destruktion im dritten Teil nicht Befreiungsakt, sondern letztlich nur die – in Intensität und Geschwindigkeit exakt sich reproduzierende – Fortführung dieses Nicht-Lebens ist. Toubianas Frage danach, ob es ihm mehr um die Wirkung als um die Ursache gehe, bejaht Haneke entschieden: Man könne Geschichten auf diese Weise mit besserem Gewissen erzählen (!), als wenn man so tut als würde man die Ursachen kennen. „Erklären“ könne man nur über Struktur und Anordnung, wodurch man immer mehrdeutig bleiben kann. Eine tatsächlich erklärende Annäherung könne immer nur „geschwätzig“ und „banal“ sein. 3

DVD-Bonusmaterial der von Pierrot Le Fou vertriebenen Trilogie-Box „Michael Haneke Trilogie“, 2007.

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36. F EHLERLOS UND AUFREGEND : D IE INTERNATIONALE P RESSE WIRD

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AUFMERKSAM

„Hanekes Film ist neben Sex, Lies and Videotape der einzige Film hier, der aufs Gemüt geht; der all den harmoniesüchtigen, nostalgisch sanften, abgesicherten Bildern einer Kunst ohne Erfahrung und Ziel die Schamröte auf die Leinwand treibt“4, berichtet Alexander Horwath kurz vor Festivalende für den Standard aus Cannes, und befindet den „fehlerlos[en]“ Film für eine der „aufregendsten Entdeckungen im heimischen Kino der letzten Jahre“5. Steven Soderberghs Sex, Lies and Videotape wird den Wettbewerb als Bester Film gewinnen. Aber davor noch, am Folgetag der Eloge Horwaths, gipfelt zur Überraschung aller Beteiligten in Le Monde unter dem bezeichnenden Titel „Le mal du siècle“ ein umfassender Beitrag in den euphorischen Worten: „Le film est magnifique, et extrêmement dur.“6 Als „Auswanderung ins Jenseits“ wird der Film beschrieben, stilsicher und einer „Todessonate“7 gleichend. Variety schließt sich an: „Though the subject of group suicide is piquant, Haneke rejects any kind of scandalistic or voyeuristic approach. Instead he has made a beautifully lensed, stylistically austere work whose very sensitivity and slow pacing will scare off big audiences.“8 Mäßig begeistert und den Wettbewerbsbeiträgen gegenüber sehr skeptisch gibt sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung, wenngleich auch Schlaglichter zu verzeichnen seien. – „Der in seinem strengen Stilwillen bemerkenswerteste Film von Cannes aber“, wie es Hans-Dieter Seidel für die FAZ festhält, „lief außerhalb des Wettbewerbs“: Teilnahmslos, mit jener Kälte, die der seiner Figuren entspricht, beobachtet der österreichische Regisseur Michael Haneke die zur völligen Erstarrung führende Monotonie alltäglicher Gemeinsamkeit.“9 Der Film könne „in seiner Bildkraft, in seiner Verdichtung auf das Wesentliche, in seinen auf ein Minimum reduzierten Dialogen ohne weiteres neben dem Werk Robert Bressons bestehen […], an dem er deutlich orientiert ist“10. Bei aller stilistischer Versiertheit hinterlässt der Film bei den Zusehern aber vor allem Betroffenheit, schließlich könne das hier gezeigte Leben, wie in Télérama zum Kinostart auf den Punkt gebracht, unseres sein, oder das unserer Nachbarn11. „Der siebente Kontinent“, heißt es schließlich im Programmheft des Internationalen Filmwochenendes Würzburg 1990, „ist eine Aufforderung zum Kampf der Verzweiflung gegen Resignation und die gläserne Gleichgültigkeit der inhumanen Alltäglichkeit. Eine einfache Geschichte, aber …“12 Die Geschichte vom siebenten Kontinent, der Haneke zufolge eine mögliche „Pro-

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Horwath, Alexander. „Österreichische Schmuckstücke in Cannes“. In: Der Standard, 22.05.1989. 5 Ebd. 6 Godard, Colette. „Le mal du siècle“. In: Le Monde, 23.05.1989. 7 John, Rudolf. „‚Prix Jeunesse‘ ging an ‚Caracas‘“. In: Kurier, 23.05.1989. 8 Yung. „Der 7. Kontinent (The 7th Continent) (AUSTRIAN)“. In: Variety, 31.05.1989. 9 Seidel, Hans-Dieter. „Die Wahrheit der Lügen: Festivalnotizen über Preise und Gepriesene“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.05.1989. 10 Ebd. 11 Vgl. Trémois, Claude-Marie. „Le Septième Continent“. In: Télérama, 14.04.1993. 12 Programmheft Internationales Filmwochenende Würzburg, 1990, S. 41.

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jektionsfläche menschlicher Wünsche“13 ist, besticht auch für Libération in ihrer Einfachheit: „intrigue archiminimale“14. In steter und ganz offensichtlich äußerst aufwendiger „Konzentration auf Dinge und Körperteile anstelle falscher Ganzheiten“15 erfahren Warenfetischismus und – spätestens wenn die Geldscheine im Klo hinuntergespült werden – die Gesamtheit der geltenden Regeln einer Konsumgesellschaft ihre absolute Umkehrung. Es ist eine der Schlüsselszenen unter den Auslösern für die Proteste des Premierenpublikums, das den Mord des Kindes durch die Eltern und ihren Selbstmord offenbar weniger schockierend empfindet als die Zerstörung des Geldes. Einige der Anwesenden verlassen, die Tür hinter sich zuschlagend, den Saal. Die Geschichte mit dem Geld, wie Haneke mehrfach betont, habe er nicht erfunden. Laut Zeitungsartikel, der ihn zur Arbeit inspiriert hatte, habe die Polizei Geldschnipsel im Abfluss der Toilette gefunden. Und – so eine vielfach geäußerte Anmerkung des Regisseurs zu seinem Film: „Ce n’est pas un portrait de l’Autriche, c’est un portrait des pays riches.“ Er möchte genau sein, aber nicht lokal, im Sinne von auf einen Ort bezogen, betont Haneke immer wieder.

35. M IT EINEM „ KOMPLETTEN “ R EGISSEUR UND M OZARTKUGELN HINAUS AUS DEM „ KINEMATOGRAPHISCHEN E NTWICKLUNGSLAND “ Der Siebente Kontinent (1989) ist Michael Hanekes erste Kinoproduktion. Zusammen mit zwei weiteren Arbeiten aus Österreich (Michael Syneks Die toten Fische und Michael Schottenbergs Caracas) wird sie vom Festival de Cannes 1989 ins Programm aufgenommen. Dort integriert in den Rahmen der Quinzaine des Réalisateurs, gerät Haneke und mit ihm und seinen landsmännischen Mitstreitern das Label österreichischer Filmproduktion gleich im Dreierpack in die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit. – Es ist einer der Initialmomente für die Herausbildung eines fortan werbesloganhaft mit Düsternis, Pessimismus und Morbidität konnotierten, spezifisch „österreichischen“ Kinos, das nunmehr im Begriff ist, Anschluss an die Flut von Neuen Wellen (das neue britische/spanische/sowjetische/etc. Kino) zu finden, die sich im jüngeren historischen Vorfeld eine nach der anderen herausgebildet hatten (Horwath 1991: 11). Haneke ist „der erste österreichische Spielfilmregisseur der Nachkriegszeit, der als bedeutender auteur wahrgenommen wird“; er betritt das Kino 1989, wie Alexander Horwath mit Verweis auf die umfassende Vorgeschichte seiner Regietätigkeit vermerkt, „bereits als ‚kompletter‘ Filmemacher“ (Horwath 2008: 399). Wie Horwath nicht müde wird zu betonen, kommt er gewissermaßen zu spät, schließlich schreibe er sich in eine Autorenfilmtradition ein, die bereits Geschichte ist. Als einen „noblen Anachronismus“ (Horwath 1991) apostrophiert er Hanekes Auftreten und 13 Seidel, Hans-Dieter. „Die Wahrheit der Lügen: Festivalnotizen über Preise und Gepriesene“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.05.1989. 14 Unbekannt (Kürzel: P.V.). „Le septième bout du monde“. In: Libération, 22.05.1989. 15 Horwath, Alexander. „Rituelle Abfolge der Selbstauslöschung“. In: Der Standard, 20.10.1989.

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wird in dieser Wortwahl noch häufig zitiert werden. Zwei Jahre zuvor konstituiert sich die Austrian Film Commission (AFC) als gemeinnütziger Verein ohne Gewinnabsicht16 mit finanzieller Unterstützung des Fachverbands, des Österreichischen Filminstituts (Gerhard Schedl), der Verwertungsgesellschaft Audiovisuelle Medien (VAM) und des Produzentenverbands. Hanekes Einstieg in die Kinobranche ist folglich nicht weit von jenen Anfängen einzuordnen, in denen Österreich die Platzierung von Unterlagen in offiziellen Pressefächern in Cannes noch „mit Charme und Mozartkugeln“17 erreicht hat, wie Katja Dor-Helmer, die erste Person an der Front der AFC memoriert. Der von Regisseur Franz Novotny realisierte Erstentwurf des Logos der AFC zeigt zunächst – aus Verwechslungsgründen mit einer Australian Film Commission – ein durchgestrichenes Känguru. Es ist die Frühphase des Werdens der Marke „österreichischer Film“. Was die New York Times mit ihrem Klassifikationsslogan zum „World Capital of Feel-Bad Cinema“ absegnen wird, ein österreichisches Kinospezifikum, das der Marke „österreichischer Film“ „mehr geholfen als geschadet hat“18, findet in der französischen Rezeption des Siebenten Kontinents seine vagen Ansätze: „De quel mal souffrent les Autrichiens?“19, fragt sich einst Le Monde. – „Hin und wieder“, schreibt Alexander Horwath 2001 in indirekter Antwort, „ist das ‚spezifisch Österreichische‘ an Hanekes Werk – mangels direkter politischer oder soziologischer Kommentare in den Filmen – bezweifelt worden. Aber wie läßt sich sonst jene besondere, heimatliche Mulmigkeit, Bockigkeit und Aggression erklären, die ich verspürt habe, als ich 1989 in Cannes zum ersten Mal einen Haneke-Film sah? Woher kam das schreckartige Wiedererkennen des Eigenen im Siebenten Kontinent?“ (Horwath 2008: 400)

Im Sommer desselben Jahres läuft der Film im Wettbewerb bei den Internationalen Filmfestspielen in Locarno. Die Schweizer Festivalleitung konzentriert sich stark auf außerhalb des europäischen und amerikanischen Kulturraums realisierte Produktionen; unter den prämierten Beiträgen dominieren schließlich asiatische und afrikanische Filme – mit einer Ausnahme: einem Michael Haneke, der „im Gegensatz zu den sinnlichen, emotionalen Bildern dieser Streifen […] mit der instrumentalisierten Welt der europäischen Zivilisation [konfrontiert]“20. Der Siebente Kontinent füge sich dennoch in das Konzept der Preisverleihung, wie Constantin Wulff für den Standard bemerkt, denn „auch Österreich ist nach wie vor ein kinematographisches Entwicklungsland“21: „Wir müssen endlich heraus aus diesem Finanzghetto. Dieser Film mit seinen Kosten von 13 Millionen Schilling ist das Maximum, was man hierzulande auf die Beine stellen kann, und da hat der Produzent schon einiges aus privaten Mitteln 16 Gründungsmitglieder sind Michael Wolkenstein, Veit Heiduschka und Herbert Dörfler. 17 Katja Dor-Helmer im Interview. Ungerböck, Andreas. „Mit Charme und Mozartkugeln“. In: ray – Filmmagazin, Sonderheft 25 Jahre Austrian Film Commission. Hg.: Andreas Ungerböck, Mitko Javritchev in Kooperation mit der AFC, August 2012, S. 19. 18 Gespräch mit Martin Schweighofer vom 04.10.2012 im Büro der Austrian Film Commission. Interview: Katharina Müller. 19 Godard, Colette. „Le mal du siècle“. In: Le Monde, 23.05.1989. 20 Wurm, Renate. „‚Bronzener Leopard‘ für einen Österreicher“. In: Salzburger Nachrichten, 18.08.1989. 21 Wulff, Constantin. „Reise zu unbekannten Kontinenten“. In: Der Standard, 16.08.1989.

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zugeschossen. In der Geldbeschaffung müsste man internationaler werden“22, so Haneke, dem sich allmählich eine weltweite Filmbranche eröffnet: Locarno ist nur eine von über 100 Einladungen, die ihm die Beteiligung in Cannes einbringt, woraufhin ihn Produzent Heiduschka, zum Teil auf eigene Kosten, um die Welt schickt. Von Beginn an wird er – nicht immer positiv bewertet – einem spezifisch „westeuropäischen“ Filmschaffen zugeteilt: Der Siebente Kontinent löst in Locarno durch den situationsbedingt sich aufdrängenden Vergleich mit den Beiträgen aus der Dritten Welt (deren Repräsentanten im Namen von ästhetischer Eigenständigkeit trotz diffiziler ökonomischer Bedingungen auf ausländische Unterstützung verzichten; man wolle kein verwestlichtes, sondern ein nützliches Kino23) eine Debatte darüber aus, „ob denn die Werke der westeuropäischen Filmschaffenden nicht allzu sehr Kopfgeburten seien und weniger aus einer persönlichen Betroffenheit heraus formuliert würden“24. Demgegenüber steht eine Rezeption, die „die Zeit der Kälte im heimischen Spielfilm […] als Schlag gegen jahrelanges Beharren heimischer Regisseure auf Werten wie Betroffenheit und Sozialkitsch“ feiert und „die stilistische Distanzierung von den Sujets“ als „probates Mittel, Souveränität auf dem Gebiet der Bildproduktion zu erlangen“25 betrachtet. Als auf diesem Gebiet etablierter Fahnenträger, der sich seit Jahren für die sogenannten „Verbrechen ohne Motiv“ interessiert, die er für die „wahren Indikatoren unserer gesellschaftlichen Situation“ befindet, weist Haneke jeglichen l’art-pour-l’art-Anspruch von sich. Um, wie er betont, der Bewusstheit über die Dinge und Situationen, im Sinne der Selbstreflexion wie sie seine Figuren ritualisiert durchleben, einen Relativismus entgegenzusetzen, schließlich seien „Wissen“ und „Können“ nicht dasselbe: „Das behaupten nur die naiven Aufklärer – ich sage immer, das ist der sozialdemokratische Sentimentalismus: Zu glauben, wenn man den Leuten sagt, was los ist, dann ist es schon verändert. Das ist ein großer Irrtum. Die meisten Leute wissen ja, was sie falsch machen. Die, die es nicht wissen, sind noch ärmer, aber das wäre ein anderer Film. […] Meine Absicht ist es, dem Zuschauer die Gefühle zu überlassen. Insofern wird er eigentlich zur Selbständigkeit vergewaltigt, um es paradox zu sagen. Ich finde, die Leute werden dann vergewaltigt, wenn man ihnen die Antworten schon vor den Fragen liefert. Speziell im Fernsehen. Bevor eine Frage gestellt wird, ist sie schon dreimal beantwortet, damit nur ja keiner verunsichert wird.“26

Die Situation ist dem Regisseur ein Grund mehr, sich das Fernsehen zunutze zu machen: „wenn man einen Film fürs Fernsehen macht, muß man sich deswegen ja nicht 22 Haneke im Interview. Praschl, Bernhard. „‚Ich möchte auf die Wunden des Lebens hinzeigen‘: Presse-Gespräch mit dem Locarno-Preisträger Michael Haneke“. In: Die Presse, 16.08.1989. 23 Vgl. Wurm, Renate. „‚Bronzener Leopard‘ für einen Österreicher“. In: Salzburger Nachrichten, 18.08.1989. 24 Schertenleib, Christof. „Leoparden gehen in die Dritte Welt: Schlussbericht vom Internationalen Filmfestival von Locarno“. In: Die Presse, 18.08.1989. 25 Grissemann, Stefan. „Druck, Hoffnung, Aufbruch: ‚Der Siebente Kontinent‘ von Michael Haneke“. In: Die Presse, 21./22.10.1989. 26 Haneke im Interview. Horwath, Alexander. „Aufzeichnungen aus dem Totenhaus“. In: Der Standard, 17.10.1989.

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dem Diktat der vorherrschenden Dramaturgie beugen.“27 Der Regisseur bereitet im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks (WDR) einen Tatort vor, die Handlung kreist um das Streitthema Atomenergie. Er sagt sich und mehreren Zeitungen: „Ein Publikum wie hier bekomme ich nie mehr. Das muß man benützen, um eine vernünftige Sache zu vertreten.“ – Der WDR realisieret den Tatort letztlich nicht, der Saarländische Rundfunk kauft ihm schließlich das Drehbuch ab und setzt es, den Vorstellungen Hanekes ganz und gar nicht entsprechend, um. Haneke lässt seinen Namen aus der Credit-Sequenz zum 272. Tatort (Kesseltreiben [1993]) nehmen und besteht darauf, als Drehbuchautor einen gewissen „Richard Binder“ zu nennen – ein Pseudonym. (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 119) Währenddessen kündigt sich in Österreich eine sprichwörtlich „gewaltige“ Umwälzung und schließlich Rehabilitierung der nationalen Kinolandschaft an. Denn auch wenn Der Siebente Kontinent an den österreichischen Kinokassen mit etwa 6000 Zuschauern alles andere als erfolgreich ist, so markiert er nichtsdestoweniger den Beginn des Heraustretens gewisser Filme aus dem „filmischen Entwicklungsland“: „Wir waren damals natürlich nicht ganz glücklich“, bemerkt Heiduschka, „dass wir nur etwa 6000 Zuschauer in Österreich gehabt hatten, aber es hat uns natürlich zunächst befriedigt, weil ich weiß nicht über wie viele Jahre lang kein Film mehr in Cannes in irgendeinem Wettbewerb war. Das war natürlich schon etwas Außerordentliches. Man muss natürlich schon dazu sagen, ich hab ja die österreichische Filmförderung mit durchgeboxt, wir standen 1981, als wir die Filmförderung hatten, vor einem Nichts. Es gab seit den 60er Jahren – außer schlechte Franz-Antel-Filme – nichts Österreichisches, auf das man hätte aufbauen können. Es gab keinen Hans Moser mehr, es gab keine Hörbigers mehr, es gab keine Schauspieler, wir hatten kaum Kameraleute, die eben auch auf 35 Millimeter drehen konnten, es gab keine Regisseure, bis auf ich glaub damals wunderbare Fernsehspiele – aber Fernsehen ist etwas anderes als Kino. D.h. es wurde damals, Anfang der 80er Jahre bei der Filmförderung herumgedoktert – das Einzige, was wir damals gesagt haben: Keine Kulturzensur, jedes Genre von Film muss machbar und auch erlaubt sein (bis auf Gewaltverherrlichung, Porno und diese Geschichten). Wenn Sie sich die ersten Jahre der Filmförderung ansehen, können Sie genau sehen, dass da experimentiert wurde. Weil man einfach gesagt hat, es geht um die Frage ‚Was ist österreichische Identität?‘. Ich weiß es bis heute nicht, aber die Ausländer sagen immer: ‚Das ist ein österreichischer Film.‘ Ich habe einmal gefragt in Deutschland: ‚Was ist das Besondere, inwiefern unterscheiden wir uns?‘, weil ich es selbst ja nicht weiß. Und die haben gesagt: ‚Ihr geht immer einen Schritt weiter als wir Deutschen. Ihr seid radikaler.‘ Und ich sage meinen Autoren und Regisseuren immer, wenn sie fragen, was muss ich denn machen im Kino; und ich sage: ‚Das, was das Fernsehen verbietet; das müsst ihr im Kino machen.‘“28

Nachdem die Presse meteorologisch ein „Österreich-Hoch in Cannes – Schönwetter für heimische Filmemacher beim Filmfestival“29 verzeichnen konnte und „Österreich 27 Haneke im Gespräch mit Michael Omasta. Programminformationsblatt des Grazer KIZ – Kino im Augarten vom Februar 1990; Redaktion: Nikos Grigoriadis, S. 2. 28 Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller. 29 Winkler, Dorothea. „Ein Österreich-Hoch in Cannes: Schönwetter für heimische Filmemacher beim Filmfestival“. In: Die Presse, 20./21.05.1989.

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als einziges mitteleuropäisches Land einen Filmpreis in Locarno“ erhalten hatte, wie ein undatierter Archiv-Artikel30 bemerkt, läuft Der Siebente Kontinent im März 1990 als erster österreichischer Film schließlich auch im Museum of Modern Art in New York in der Reihe „New Directors – New Films“. Und erhält durchaus Beachtung von der US-Presse. Ein Jahr später taucht schließlich wieder die am Welcome-toAustralia-Plakat inspirierte paradiesische Fantasie-Installation auf: Als Hintergrund einer Sonderbeilage der Presse, die Haneke anlässlich der ORF-Premiere des Films am 29. März 1991 als „Österreichs bedeutendsten und meistunterschätzen Spielfilmregisseur“ würdigt: „Unser Bresson – Michael Haneke, Filmregisseur“, ragt über dem großformatierten Artikel, der den Regisseur auf eine Ebene mit seinem französischen Vorbild hievt: „Akteure und Dialoge erfahren eine im österreichischen Film unerhörte Zurückgenommenheit, Montage und Bildgestaltung werden zu den eigentlichen Informationsträgern.“ 31 Hanekes von Heiduschkas Wega produzierter Erstling ist – über die drei Standbeine der Filmförderung, des ORF und des Wiener Filmfonds (FFW) realisiert – noch eine „rein“ österreichische Produktion, der zweite Film ist es schon nicht mehr. Die Bemessung des Budgets für Benny’s Video (1992) verlangt nach einem Koproduzenten, den Heiduschka schließlich in Bernard Lang (Produzent der heutigen Langfilm) findet. Die beiden Produzenten einigen sich nicht nur auf eine schlichte Koproduktion, sondern auf ein weitläufigeres, wechselseitiges Finanzierungsmodell: „Wir hatten eine Co-Finanzierung auf Gegenseitigkeit mit der Schweiz, d.h. wir haben das wie Zwillinge gemacht, ich hab mich bei Schweizer Filmen beteiligt, Lang hat sich bei österreichischen Filmen mitbeteiligt. Aber der Schweizer Film ging in Österreich nicht und der erste Haneke-Film ging in der Schweiz auch nicht. Im Gegenteil, er wurde sogar von der Staatsanwaltschaft verboten, obwohl die Staatsanwältin den Film überhaupt nicht gesehen hat, also er wurde wieder zurückgenommen. Aber er hat keine Chance gehabt.“32

Was sich jedoch mit dem Siebenten Kontinent ankündigt und sich in der – wenn auch zahlenmäßig noch dürftigen – Rezeption von Benny’s Video fortsetzt, ist die Tatsache, dass sich, wie Weggefährte Paulus Manker festhält, „sogar die heimischen Kritiker, die sich gewöhnlich in exemplarische Dummheit hüllen, wenn es um Fortschritt im Österreichischen Film geht, […] dem stillen, unerbittlichen Sog [des Films] nicht entziehen [können]“ und sich entsprechend „zur einen oder anderen intelligenten Bemerkung hinreißen“ lassen. (Manker 1991: 158) „Die ungeheuerliche Kränkung, die das Leben ist“ (Horwath 1991), fordert, so scheint es, beginnend mit dem Siebenten Kontinent ihren Tribut, und wenn Benny’s Video auch nicht mehr „rein“ österreichisch sein wird, so ist er gewiss nicht weniger „radikal“.

30 Quelle: Filmarchiv Austria. 31 Grissemann, Stefan. „Unser Bresson: Michael Haneke, Filmregisseur“. In: Die Presse/Schaufenster, 28.03.1991. 32 Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller.

12. Benny’s Video: „Radikalität“ und ein drohendes Aufführungsverbot

Wo „Radikalität“ schließlich beginnt, sei nun einmal dahingestellt. Doch selbst das objektivierte Prädikat „umstritten“ nimmt im Fall von Benny’s Video (1992) ganz ungewöhnliche Dimensionen an. Denn bevor ihn die Jury des Zürcher Filmpreises als „eindrücklichsten aller dieses Jahr eingereichten Filme“ würdigt und Koproduzenten Bernard Lang – zusätzlich zur lobenden Erwähnung – eine Ehrenurkunde überreicht, droht dem Film im Oktober 1992 ein Aufführungsverbot in der Schweiz. Erst am Vortag der Preisverleihung nimmt die absurde Kontroverse um den Zürcher Bezirksanwalt Lino Esseiva, der sich ohne Begründung zwar, jedoch unter Berufung auf Artikel 135 des Schweizerischen Strafgesetzbuches zur Drohung veranlasst sah, den Film durch die Zürcher Sittenpolizei konfiszieren zu lassen, ein Ende. Die Bernard Lang AG hatte den Film daraufhin zurückgezogen. Der Bezirksanwalt seinerseits hatte sich von der moralischen Empörung eines Zeitungsartikels des Boulevardblatts Blick treiben lassen, der mit der Schlagzeile „Der widerlichste Film des Jahres“ an die Öffentlichkeit gegangen war. Zur Verantwortung zu ziehen ist laut Gesetzeslage in der Schweiz jedenfalls, „wer Ton- oder Bildaufnahmen, Abbildungen, andere Gegenstände oder Vorführungen, die, ohne schutzwürdigen kulturellen oder wissenschaftlichen Wert zu haben, grausame Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Tiere eindringlich darstellen und dabei die elementare Würde des Menschen in schwerer Weise verletzen, herstellt, einführt, lagert, in Verkehr bringt, anpreist, ausstellt, anbietet, zeigt, überlässt oder zugänglich macht […].“1

Die mit bis zu drei Jahren bemessene Freiheitsstrafe gilt insbesondere dann, wenn „der Täter aus Gewinnsucht [handelt]“2. Die Groteske, die die „Lückenfüllerhetze einer Boulevard-Zeitung“3 auslöst, sorgt wiederum für Aufsehen und Scham in den seriöser argumentierenden Blättern, denn „eigentlich müsste den Justizbehörden, die 1 2 3

Auszug aus dem Schweizerischen Strafgesetzbuch: http://www.admin.ch/ch/d/sr/311_0/ a135.html [03.01.2013] Ebd. Sennhauser, Michael. „‚Benny’s Video‘ – freigegeben nach einem Zürcher Intermezzo“. In: Oltner Tagblatt, 12.11.1992.

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den erst seit 1. Januar 1990 in Kraft stehenden Artikel 135 auszulegen haben, ein solcher Film wie ,Benny’s Video‘ mehr als willkommen sein“4. Dass der inkriminierte „Gewaltexzess“ vor allem einen Tötungsakt betrifft, den der Regisseur ins visuelle Off verlagert, ihn mit anderen Worten vor allem in Kopf und Bauch des Betrachters entstehen lässt, vernichtet die Argumentation des Boulevardblatts so sehr wie sie sie bestätigt: Es wäre nicht die erste Instanz, die von sich weist, worin das Eigene sie nicht zu erkennen vermag. Denn bekanntlich ist der Film weniger Darstellung von Gewalt als eine Reflexion auf die Darstellung von Gewalt und konfrontiert den Sehenden durch Nichtgezeigtes mit seiner Vorstellungskraft. Schließlich ist der hysterische Aufschrei des Massenmediums, dem ein werbetaugliches Potential nicht ganz abzusprechen ist, auch Bestätigung und Fortführung dessen, was der „mitunter kulturpessimistisch[e] Anti-Horror“5 vor Augen führt: nämlich das, was der Zürcher Jury-Präsident David Streiff als „den grauenvollen Wirklichkeitsverlust in der (Un-) Kultur der Massenmedien“6 bezeichnet haben soll. Folglich lässt es sich kaum eine Schweizer Zeitung nehmen, über den Boulevard-Skandal und die als noch weit skandalöser eingestuften behördlichen Folgen zu berichten: die Konfiszierung und das (letztlich eine Woche lang aufrechte) Verbot ist den Journalisten umso peinlicher, als der Film bei der Viennale mit dem Wiener Filmpreis ausgezeichnet und als der beste österreichische Film des Jahres bei der US-Academy for Motion Picture Arts and Sciences für die Vergabe des Besten fremdsprachigen Films angemeldet worden war, kurz: ins Rennen um den „Auslands-Oscar“ geschickt wurde.7 Als „ein stilles und deshalb umso aufwühlenderes Meisterwerk über die Wertmassstäbe der westlichen Gesellschaft und die schleichende emotionale Kälte und zunehmende Kommunikationsunfähigkeit“8 empfiehlt die Berner Zeitung Benny’s Video ihrer Leserschaft und steht dabei emblematisch für eine dem Film gegenüber im Großen und Ganzen sehr positiv gestimmte Schweizer Presse. Rar und fragwürdig konservativ sind die wenigen Stimmen, die hinter dem potentiellen Werbe-Effekt der Groteske ein „raffinierte[s] Spiel von provoziertem Verbot und immenser Werbewelle“ seitens des „Linken Medienverbunds“9 orten. Und während Haneke der Mehrheit zufolge mit Benny’s Video „das Kunststück [gelungen ist], keinen warnenden Finger zu erheben“10, sorgt sich ein anderer Schweizer Journalist – dem, was man Elitarismus nennen könnte alle Ehre erweisend – um das Schicksal des „analytischen Zeitdokuments“: Schließlich sei das Filmwerk „so bestürzend, dass man es in der Tat nur einem reifen Publikum zuzutrauen wagt. Doch leider hat die Sensationspresse für die Aufmerksamkeit der

4

Schellenberg, Martin. „Die Geschichte eines Wirklichkeitsverlustes“. In: Der Zürcher Oberländer, 19.11.1992. 5 Philipp, Claus. „Raus aus dem Bild zurück ins Leben“. In: Der Standard, 30.10.1992. 6 Schellenberg, Martin. „Die Geschichte eines Wirklichkeitsverlustes“. In: Der Zürcher Oberländer, 19.11.1992. 7 Unbekannt. „Peinlich: Schweiz droht oscarverdächtigen Film zu konfiszieren“. In: DAZ, 29.10.1992. 8 Unbekannt. „Benny’s Video“. In: Berner Zeitung, 05.11.1992. 9 Widmer, Sigmund. „Filmförderung“. In: Züri Woche, 05.11.1992. 10 Behr, Othmar F. „Die leeren Tage eines verwöhnten Früchtchens: Wenn die Videothek zum Freizeitzentrum wird“. In: Salzburger Nachrichten, 31.10.1992.

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Sensationshungrigen gesorgt. […] Dank der Schlagzeilenpresse zieht der Film jetzt ein Publikum an, das in ,Benny’s Video‘ wohl nur den Nervenkitzel sucht.“ 11

34. „I ST

ALLES NUR K ETCHUP UND P LASTIK , SCHAUT ABER ECHT AUS …“: E INE P ARABEL UND DER B EGINN LANGWÄHRENDER Z USAMMENARBEIT

Mit jenem an das Rauschen eines toten Fernsehkanals erinnernden Geräusch, mit dem der langsame Tod der Familie im siebenten Kontinent unterlegt war, setzt auch der Vorspann zu Benny’s Video ein. Ein Schwein wird geschlachtet, auf Videobild, in Großaufnahme. Zurückgespult wiederholt sich die offensichtlich auf einem Bauernhof gefilmte Amateuraufnahme; das Schwein stirbt ein weiteres Mal vor unseren Augen durch Tötung mit einem Bolzenschussgerät, in Zeitlupe. In seinem Zimmer sieht sich Benny (Arno Frisch), ein Teenager um die 15, den kurzen Film immer und immer wieder an. In einer äußerlichen Gelassenheit, die ihn über die gesamte Dauer des Films hin kaum je verlassen wird. Benny hängt an seinen Video- und Aufnahmegeräten, ein „Vidiot im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit“12, der sich zum Ausgleich seiner affektiven Leere, wie es vielfach heißt, ins Virtuelle flüchtet. Das Zimmer stets abgedunkelt, ersetzt ein Kontrollmonitor den Blick aus dem Fenster – eine Stativkamera versorgt Benny mit Bildern vom Draußen auf der Straße, live übertragen auf das unentbehrliche Fernsehgerät. „Super“, meint in unbewegter Bewunderung ein Mädchen (Ingrid Strassner), das er vor einer Videothek kennengelernt und mit zu sich genommen hat, um ihr – im Rahmen der wenigen Worte, in denen sie sich auszutauschen wissen – über Tricks zu referieren: „Ist alles nur aus Ketchup und Plastik, schaut aber echt aus …“, habe er im Fernsehen gesehen. Dann präsentiert er ihr stolz das Schlachtungsvideo und kurz darauf das Schlachtschussgerät selbst, das er bei Gelegenheit auch gleich mitgehen hat lassen. Keineswegs lustvoll anmutend und beinahe beiläufig führt Benny ihre Hand mitsamt Schlachtschussgerät zu seinem Bauch: „Drück doch ab“, fordert er kühl. Sie tut es nicht, er kontert mit „Feigling“. Sie wiederum mit: „Selber Feigling, drück du ab.“ Und das tut Benny. Der Schuss fällt, man hört ihn. Visuell bleibt der Tötungsakt im Off, umso lauter hört man die Schreie des Mädchens, das erst dem dritten Schuss erliegt: die Bildfläche, auf der die Live-Aufnahme der Stativkamera abläuft, zeigt kaum etwas, außer einen irritierten Benny, der in Reaktion auf ihr qualvolles Stöhnen hektisch nachlädt. Das sterbende Mädchen bleibt nur angerissen im Hintergrund. Stille nach dem dritten Schuss, man hört die Waffe zu Boden fallen. Benny sackt zusammen, richtet sich wieder auf, trinkt ein Glas Wasser und isst erst einmal ein Joghurt, um sich schließlich an die Beseitigungsarbeit zu machen. Er entkleidet sich vor der Kamera und wird vor ebendieser zum Akteur seines eigenen Films. Er zerrt den Leichnam des Mädchens immer nur ein Stück weit in Richtung Kleiderschrank, fast maschinell, und es dauert, bis die Blutspur mit dem Lappen verwischt ist. Fast masturbativ spielt er mit 11 Haller, Hans Rudolf. „Gegen Umweltverschmutzer“. In: Züri Woche, 05.11.1992. 12 Frei nach Walter Benjamin: Philipp, Claus. „Raus aus dem Bild zurück ins Leben“. In: Der Standard, 30.10.1992.

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dem Blut an seinem Körper. Die Eltern sind fortgefahren, den Kühlschrank haben sie aufgefüllt. Es scheint, als sei das die Routine: der Sohn alleine, inmitten eines modern ausgestatteten Wiener Penthouse mit Biedermeierelementen und einer beachtlichen Fülle von Kunstdrucken an den Wänden. Die Schwester – die der Zuschauer nur über Videoaufnahmen bei Hauspartys zu sehen bekommt – ist nicht aufzufinden. Benny quartiert sich schließlich bei einem Freund ein, das (Nicht-)Leben geht weiter. Bei einem Friseur lässt er sich den Kopf rasieren, vielleicht um Aufmerksamkeit seitens seiner Eltern (Ulrich Mühe und Angela Winkler) zu erwirken, jedenfalls erreicht er nicht unbedingt Verständnisvolles: „Glaub bitte nicht in pubertärer Selbstzerfleischung, dass die Welt dich nicht liebt“, reagiert der Vater aggressiv. Benny wird seine Eltern via Video-Aufnahme über seine Tat in Kenntnis setzen, fortan setzt sich der dramaturgische Stillstand durch: Ausführlich lässt sich die Kamera auf den lethargischen Benny und seine emotional und moralisch stummen Eltern ein, die nicht einmal bzw. gerade angesichts dieser unbegreiflichen Tat nicht in Dialog mit ihrem Sohn treten werden. Ihre Sorge betrifft weniger Bennys Innenleben als schlicht dessen Zukunft, die freilich auch die jeweils eigene tangiert. Die Wahrung von „Würde“ und „Ehre“ beschränkt sich in Reaktion auf das belastende Video-Material folglich auf ein logistisches Problem: Wie soll man die Leiche beseitigen ohne Verdacht zu erwecken? „Nun lass uns mal klar überlegen …“, setzt der Vater an, um entgegen dem kurzen, hysterischen, tränennahen Auflachen der Mutter sämtliche Varianten bis hin zur Zerstückelung zu ersinnen. Von einem „Unfall“ könne bei mehreren Einschüssen schließlich nicht die Rede sein. Vor dem ungewöhnlich detaillierten Monolog des Vaters verblasst schließlich die eigentliche Tat. Wenige Einstellungen später: Strand, Palmen und Wüste – Mutter und Sohn im Reisebüro. Die in die Schule zitierte Mutter rechtfertigt das abwegige Verhalten ihres Sohnes (Benny war in der Informatikstunde auf einen Kameraden losgegangen) mit einer Lüge: die Großmutter sei gestorben, sie bittet um Freistellung. Der Vater traut dem Sohn nicht mehr; ob er irgendjemandem davon erzählt habe, möchte er wissen: „Du darfst nicht lügen, ist dir das klar? Du kannst es dir nicht mehr leisten, verstehst du, was ich meine?“ Und dann geht es für Benny mit seiner Mutter auf nach Ägypten. Die vor dem Hintergrund der nicht gezeigten aber imaginierten Beseitigungstätigkeit des Vaters unternommene Tarnreise zeigt, zwischen Strandleben am Roten Meer, Exkursionen zu Kunstdenkmälern und bettelnden Kindern, den Annäherungsversuch einer weitgehend sprachlosen Mutter an ihren Sohn. Und das zum Teil durch Bennys Kamera. Was hier nicht gezeigt wird, ist umso potenter: „Tous les bons thrillers et films d’horreur sont faits de la sorte. C’est toujours mieux de faire travailler l’imagination du spectateur que de lui imposer des images, car l’image est toujours plus banale.“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 142) Einmal, bei der Siesta im Hotelzimmer, entlädt sich das innere Chaos der Mutter. Am Flughafen Wien empfängt der Vater die gebräunten Reisenden, die Zeitungen haben nichts von einem vermissten Mädchen berichtet. Benny bezieht ein aufgeräumtes, umgestelltes und helles Zimmer. Der Schrank ist leer. Abends setzt sich der Vater zu ihm aufs Bett und sagt: „Ich liebe dich.“ Die Mutter nimmt sich am Folgetag frei um mit ihm zu frühstücken. Und noch ehe sich eine neue Routine der Verdrängung einstellen kann, konfrontiert die überraschende Wendung mit der Vermutung, dass Benny eventuell doch zu offenen Schuldgefühlen fähig ist: Die strategischen Leichenbeseitigungs-Reflexionen seiner Eltern hat er aufgezeichnet; Benny trägt Benny’s Video zur Polizei, wo er aus Per-

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spektive einer Überwachungskamera des Kommissariats ein letztes Mal den zum Verhör geladenen Eltern entgegentritt: „Entschuldigung“, sagt er. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass es empirisch nachweislich in der Wirkungspotenz des Films liegt, bei den Zuschauern Projektionen freizusetzen. Derart, dass etwa ein Journalist vom Kurier seinem Lesepublikum reißerisch von Szenen berichtet, die im Film definitiv nicht zu sehen sind, um sich der Zürcher Sittenpolizei solidarisch zu erweisen: „Sowenig man Kunstzensur billigen darf, so verständlich ist sie in diesem Fall. Mit der gleichen Unbewegtheit, mit der Benny das Sauschlachten genießt, wird er wenig später mit dem gestohlenen Schlachtschußapparat auf eine Schulfreundin schießen, die ihn besucht, während seine Eltern übers Wochenende verreist sind. Erst der Schuß in den Bauch. Dann in den Hals. Schließlich der Gnadenschuss in den Kopf. […] Michael Haneke muß als notorischer Verstörenfried gesehen werden, der sein Talent mit verkrampften Hirnschockern vergeudet. Aber die Hoffnung bleibt, daß einmal Besseres nachkommt.“13

Über die dem Tötungsakt zugrundeliegenden Grade von Intentionalität und Willkür des Protagonisten will sich Haneke nicht äußern – eine „Erklärung“ des Motivs hätte, von ihrer Verlogenheit einmal abgesehen, die Wirkung der Tat schließlich nur geschmälert. Mit seiner Kritik an der moralischen und emotionellen Abgestumpftheit, die er beim Menschen im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit ortet, bleibt er jedoch beharrlich: „Je dis souvent que si je n’avais d’information sur le monde qu’à travers la télévision, je me serais déjà suicidé!“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 141) Auch zu einer politischen Lesart des Films regt er an, schließlich sei das egoistische Verhalten der um ihren Ruf besorgten Eltern gegenüber dem Sohn identisch mit jener Haltung, die Österreich angesichts seiner historischen Vergangenheit einnimmt. – Eine Haltung, die Haneke Jahre später in Caché wieder aufgreifen wird und von der er letztlich keine Nation unberührt begreift, „car ce type d’attitude existe partout. Toutes les nations sont responsables d’événements honteux, qui ont été enfouis sous le tapis de l’Histoire!“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 144) Arno Frisch trifft Haneke auf Empfehlung seiner Frau Susanne, deren Sohn mit ihm bekannt ist. Nachdem der Regisseur zuvor ein breit angelegtes Casting durchgeführt hatte, ist beim Treffen alles entschieden: Frisch passt perfekt. Die Rolle der Mutter besetzt Haneke mit der aus Volker Schlöndorffs Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975) bekannten Angela Winkler. Nicht etwa, weil sie ihm in ihren Fernsehrollen besonders gefallen hätte, sondern vor allem aufgrund ihrer Meriten am Theater, unter anderem ihrer herausragenden Leistung in den Inszenierungen Peter Zadeks. Ulrich Mühe kommt erst später – nämlich nach Drehbeginn – ins Spiel; seine Rolle hatte Haneke zunächst mit einem namhaften Theaterschauspieler fehlbesetzt. Benny’s Video markiert auch den Beginn seiner Zusammenarbeit mit Ausstatter Christoph Kanter, mit dem Haneke in acht seiner zehn weiteren Filme kollaborieren wird und der schließlich auch Cutterin Monika Willi ins Spiel bringt. Benny’s Video ist, wie bereits erwähnt, schließlich auch die erste Gemeinschaftsarbeit mit Kameramann Christian Berger, mit dessen Part in Folge dreimal Jürgen Jürges (Funny 13 John, Rudolf. „Verkrampfter Hirnschocker und die Schweizer Zensur“. In: Kurier, 29.10.1992.

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Games; Code inconnu; Wolfzeit) und zweimal Darius Khondji (Funny Games US; Amour) betraut sein werden. Bei der Selektion der Horror- und Actionfilmeinsprengsel, jener Filme, die Benny in der Diegese konsumiert, hilft Michael Katz, Herstellungsleiter und späterer ausführender Produzent der Wega Film, dessen Genialität Haneke immer wieder hervorheben wird: „Sans lui, je n’aurais sans doute pas fait Le Ruban blanc, car c’était très compliqué et il n’y avait qu’avec lui que j’étais sûr que tout fonctionnerait. C’est un fou de cinéma et un grand professionnel, qui comprend toujours exactement ce que je veux. Au début, on s’est beaucoup opposés, parce qu’il a des goûts très différents des miens. Il adore les films d’action, les comédies et pas du tout mon genre de films. Mail il en a vite compris l’intérêt et il s’est défoncé à chaque fois.“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 128)

Aus dramaturgischen, vor allem den Spannungsbogen betreffenden Gründen hatte Haneke eine Vielzahl der in Ägypten gedrehten Szenen anschließend wieder herausgenommen. In einem Interview mit Serge Toubiana14 kommentiert er das ausgesonderte Material: Aufnahmen vom Bazar, die Sichtung einer Sonnenfinsternis, Hieroglyphen u.v.m. waren Fragmente des zu Dechiffrierenden – im Sinne eines möglichst weitläufig ausgelegten Deutungspotentials. Heiduschka, der Haneke eigenen Angaben zufolge dazu geraten hatte, die Szenen herauszunehmen („Michael, das führt zu weit, hier beginnt ein neuer Film ...“15), bekräftigt jedoch, nichts vom überschüssigen Material weggeworfen zu haben und scherzt über seine Hoffnung auf einen posthum zur Veröffentlichung freigegebenen „Producer’s cut“ der Wega-Filme.

33. „P LUS LIVE QUE LIFE “: A US DEM N ICHTS ZUM ZEITGESCHICHTLICHEN D OKUMENT „Naturellement, rien n’est montré, rien n’est clairement dit – et ces gens habitent Vienne, la ville de Freud.“16 – So der bezeichnende Schluss, den Le Monde anlässlich der Premiere in Cannes aus Benny’s Video zieht. In der Tat: Nicht umsonst war der vor allem in Frankreich so populäre Freud ein Wiener. Als der Film am 14. April 1993 in den französischen Kinos startet, löst er weitgehend positive Pressereaktionen aus und irritiert vor allem durch die „Emotionslosigkeit“ und ihren absolut konträren Effekt beim Zuschauer: „Il ne montre rien. Et c’est ce rien qui rend insoutenable le film de Michael Haneke. L’absence terrifiante d’émotion“17, heißt es in Télérama, wo man den Regisseur bereits mit Claude Chabrol vergleicht. Als „wütenden Humanisten“ führt die Zeitung einen Haneke vor, der im Interview ausgehend vom Beispiel Goebbels an die Wirkungsmacht der Massenmedien erinnert und an die Ver-

14 DVD-Bonusmaterial der von Pierrot Le Fou vertriebenen Trilogie-Box „Michael Haneke Trilogie“, 2007. 15 Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller. 16 Godard, Colette. „Dévier le sens de l’image“. In: Le Monde, 14.05.1992. 17 Trémois, Claude-Marie. „Benny’s video“. In: Télérama, 14.04.1993.

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antwortung des Einzelnen appelliert: „Wehret dem Anfang“ – in der Suche nach der Ursache vertilge sich schließlich die Wirkung des Schreckens.18 Als „plus live que life“ betitelt Libération schließlich ihren Bericht über die Filmerfahrung und wundert sich über die Entscheidung der französischen Zensurbeauftragten, den Film für Zuschauer unter 16 Jahren zu verbieten.19 Einen Appell an die Freiheit des Zuschauers erkennt L’Evénement du jeudi20, während Lyon Matin den nämlichen eher als gnadenlos schulmeisterlich, aber ganz und gar nicht verächtlich geschunden konzipiert: „forcé de regarder un destin intolérable filmé comme un cours de mathématiques, hyper-structuré.“21 „Implacable“, bemerkt seinerseits Le Nouvel Observateur22: „Chez Haneke, regarder la télévision semble l’événement cinématographique par excellence. Le Viennois filme magnifiquement les visages face à l’écran, ces figures fades, lointaines, sans contre-champ, comme une proie à une extase négative. Le comble de l’horreur, dans ‚Benny’s Video‘, film ingrat, subtil et glacé pour étudiants en narratologie, c’est que les parents contemplent le petit assassin avec cet œil rond, absent et humilié, dont on regarde la télévision.“23

Einen vom Bild getöteten Protagonisten und seinen noch nicht ganz bekannten Schöpfer – „Hanecke“ [sic!]24 – in seiner wertfreien, minimalistischen Strenge bewundert schließlich Les Echos, während Le Figaro den Streifen als Produkt einer regionalen Besonderheit in den Blick nimmt: „Attention! Ou, plutôt, Achtung! Nous sommes dans un film germanique, et on sait que le cinéma de ces pays teinte volontiers la tragédie de sadisme.“25 Knapp ein Jahr zuvor hatte Le Figaro den Regisseur seiner Leserschaft nicht nur als einen „cinéaste au scalpel“ vorgestellt, sondern vor allem auch als einen eingefleischten Theaterregisseur.26 „Ein zeitgemäßer ‚Dummerjungenstreich‘“, ironisiert die Frankfurter Rundschau, die ihrerseits auch Parallelen zu den chabrolschen Provinzdramen zieht und dem Film dokumentarische Qualitäten attribuiert: „Das Kino war hier Zeuge: für die videotische Entkernung des Subjekts.“27 Es wird einer historisch betrachtet nur relativ kurzen Zeitspanne bedürfen, bis Benny’s Video der „Rang eines zeitgeschichtlichen Dokuments“ zugesprochen werden kann:

18 Haneke im Interview. Remy, Vincent. „L’humaniste en colère“. In: Télérama, 15.04.1993. 19 Lefort, Gérard. „Plus live que life“. In: Libération, 14.04.1993. 20 Unbekannt (Kürzel: J.J.). „Benny’s Video de Michael Haneke“. In: L’Événement du jeudi, 15.04.1993. 21 Tran, David. „Benny’s Video: Solitude d’un maniaque du caméscope. Froid comme la mort“. In: Lyon Matin, 21.04.1993. 22 Unbekannt. „Implacable“. In: Le Nouvel Observateur, 15.04.1993. 23 Pliskin, Fabrice. „Vidéo massacre: Dans l’œil du Caméscope“. In: Le Nouvel Observateur, 15.04.1993. 24 Coppermann, Annie. „L’image qui tue: ‚Benny’s Video‘, de Michael Hanecke [ ]“. In: Les Echos, 15.04.1993. 25 Baignères, Claude. „Sado-vidéo“. In: Le Figaro, 19.04.1993. 26 Baudin, Brigitte. „Michael Haneke, cinéaste au scalpel“. In: Le Figaro, 15.05.1992. 27 Schütte, Wolfram. „Sex, Drugs & Videotapes: Dämonie und Ambiguität in Filmen von David Lynch und anderen“. In: Frankfurter Rundschau, 19.05.1992.

276 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE „Der Film hält die Entwicklung des Audiovisuellen in einer Phase des Übergangs vom analogen zum digitalen Speichermedium fest. Schon das Geräusch und die optischen Effekte des Zurückspulens wären in einem heutigen Camcorder nicht mehr dieselben. Der Benny des frühen einundzwanzigsten Jahrhundert [sic!] hätte einen PC, auf dem er die Aufnahmen von der Schweineschlachtung wie auch von seinem Mord an dem Mädchen digital nachbearbeiten könnte. Sein Bildfetisch wäre auf unendlich raffiniertere Weise verfügbar als die Videobilder in BENNY’S VIDEO. Die zentrale Idee der Geschichte bliebe nach wie vor plausibel, aber sie wäre zahlreichen technischen und psychologischen Nuancierungen ausgesetzt (etwa das Internet als ‚Beichtstuhl‘ für Benny), die den Verlauf wie den Ausgang der Handlung beeinflussen würden.“ (Kilb 2008: 172)

Während die Mehrzahl der Kritiker und Journalisten nicht umhinkommt, das unerklärte Verhalten des Protagonisten psychologisch auszudeuten, lobt ein „informierter“ Bruchteil ehrfürchtig den protokollarischen Stil und die ins Extreme getriebene Stilisierung des Falls, die Haneke so weit treibe, „dass in der äußersten Negativität das positive Andere aufzublitzen scheint, um es mit einer Gedankenfigur des Philosophen und Kunsttheoretikers Theodor W. Adorno zu formulieren“28. Die diversen religiös konnotierten, ihrer Religiosität jedoch weitgehend entleerten Referenzen, die Hanekes Trilogie beinhaltet, werden schließlich die ersten Anhaltspunkte im Rahmen der Mitte der 1990er Jahre einsetzenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Hanekes Schaffen sein; Gregor Thuswaldner hat sich mit seinem Artikel „Mourning for the Gods Who Have Died – The Role of Religion in Michael Haneke’s Glaciation Trilogy“ inzwischen an eine Zusammenfassung gewagt. (Thuswaldner 2010) Eine dieser Referenzen ist ein Segment der Bach-Motette „Jesu meine Freude“, die Benny und seine Kameraden im Schulchor singen werden. Bei den Proben war die Kamera dem Geschehen hinter ihrem Rücken gefolgt und hatte die – ansonsten vorzugsweise Heavy Metal und Hardrock (AC/DC) hörenden Kinder – beim Drogendealen gezeigt. Wo die Technologien das Menschliche schon ersetzt haben, haben sie freilich auch Gott verdrängt, wie Theologe Christian Wessely 2008 im Rückblick beanstandet. Er positioniert Benny’s Video innerhalb des sehr engen Verhandlungsradius einer Theologie, die „den Verlust ihrer selbstverständlichen Autorität“ (Wessely 2008: 212) beweint und aus dem Film präskriptive Formeln für die eigene Fachdisziplin ableitet: „Die Reaktion auf die große Frage, die der Film implizit nach der Anwesenheit und der Abwesenheit Gottes stellt, muss zunächst Reflexion sein. Reflexion, die ermöglicht, die Legitimität theologischen Anspruchs im Angesicht einer durch Kommunikationsferne entfremdeten Welt neu zu entwerfen.“ (Wessely 2008: 212) Über den – inzwischen zeitgemäßer erscheinenden – echauffiert-argumentativen Umweg zum Internet wird Wessely seine These bekräftigen (Wessely 2008).

28 Unbekannt. „Kälte und Ekel – ins Extrem gesteigert: Michael Hanekes negative Utopie in ‚Benny’s Video‘“. In: Neue Zürcher Zeitung, 05.11.1992.

B ENNY ’S V IDEO

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32. „M ORBID “ UND SEHENSWERT . J EDENFALLS : „J E NATIONALER , DESTO UNIVERSELLER …“ In einem mit dem 11. Dezember 1992 datierten Mitteilungsblatt verleiht die Geschäftsstelle der Gemeinsamen Filmbewertungskommission der Länder (GFBK), eine mit der Begutachtung von Filmen auf ihren kulturellen Wert hin betraute Einrichtung der österreichischen Bundesländer, Benny’s Video das Prädikat „sehenswert“. Über ein halbes Jahr zuvor läuft der Film – wie schon sein Vorgänger – in Cannes in der – als Bastion gegen die Dominanz des Kommerzes deklarierten – Reihe Quinzaine des Réalisateurs. Pierre Henri Deleau, der zu dem Zeitpunkt bereits seit zwei Jahrzehnten die Nebenreihe betreut und Haneke drei Jahre zuvor schon eingeladen hatte, lässt mit einer profitablen Prognose aufhorchen: „Je nationaler ein Film und je persönlicher, desto universeller wird er sein.“ – „Und desto erfolgreicher im Ausland“, wie das österreichische Nachrichtenmagazin profil, dessen Aufmerksamkeit Deleaus Prognose erweckt hat, ergänzt.29 AFC-Chef Martin Schweighofer, der sich zum gegebenen Zeitpunkt als Journalist betätigt, blickt hinter die Kulissen der nationalen (Weg-)Schaubühne, wo sich Erfolgreiches anzubahnen scheint: So „spucke das Telefax-Gerät“ im Büro Heiduschkas seit der ersten internen Vorführung des Films in Paris „Festivaleinladungen von München bis Vancouver aus.“30 Auch in Deutschland wundert man sich bereits über „das Kino der Nachbarn“, das die Süddeutsche Zeitung für „im Eis erstarrt“ befindet: „Der österreichische Film mißtraut seinem eigenen Aufbruch“, dabei habe er „das Image eines walzerseligen Schmuddelkindes“ mit der Etablierung der Filmförderung Ende der 1980er, Anfang der 1990er bereits abgelegt.31 Die so vehement praktizierte Ablehnung österreichischer Beiträge durch die landsmännischen Filmkritiker stößt im Nachbarland auf Unverständnis: „Viele österreichische Filme der 90er Jahre sind wesentlich radikaler und spannender als die in Mittelmaß, Werktreue und Traditionsverbundenheit dahintreibenden Aufführungen im Burgoder Akademietheater. Kein Wunder also, daß österreichische Filmemacher immer wieder das Weite suchen.“32

Und während sich mit der ominösen „Radikalität“ in Deutschland tatsächlich ein schlagendes Qualitätskriterium herauskristallisiert, identifizieren andere Länder, in Voraussicht einer sich anbahnenden Kontinuität, ein nationales Spezifikum im Dargestellten: „Haneke nous promet un troisième triptyque de son sinistre portrait d’un pays pas gai. On peut à peine attendre“33, lässt Libération zynisch verlautbaren. Bei

29 Rybarski, Ruth. „Charakteristik: Morbid – Der österreichische Film erfreut sich im Ausland zunehmender Beliebtheit“. In: profil, 18.05.1992. 30 Schweighofer, Martin. „Schock, Lügen und Video: Michael Hanekes Kinoextremität ‚Benny’s Video‘ wird in Cannes uraufgeführt“. In: Wirtschaftswoche, Nr. 19, 07.-13.05.1992. 31 Dermutz, Klaus. „Im Eis erstarrt: Der österreichische Film mißtraut seinem eigenen Aufbruch“. In: Süddeutsche Zeitung, 16.03.1993. 32 Ebd. 33 Garnier, Philippe. „Un cadavre (2) dans la vidéo“. In: Libération, 14.05.1992.

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allen Verweisen auf die dem Regisseur zugedachten Zentralmotive von Kälte und Radikalität ist dennoch festzuhalten, dass sich schon hier, am Beginn der hanekeschen Kinokarriere, im Kleinen und ganz leise, ein weisender Strang in die Rezeption seiner Filme flicht. Weisend insofern, als er 20 Jahre später zur leitgebenden Motivik wird: „Und so knapp und spröde Haneke […] im Dialog wie in Bildführung und Schnitt sich zunächst einmal gibt, nie erliegt er der Gefahr, Unterkühlung einfach durch Unterkühlung darzustellen. Hanekes Blick auf eine Gesellschaft, die dem Tod eben darum geweiht ist, weil sie ihn leugnet, ist nicht nur schonungslos und unbestechlich; er ist zugleich erfüllt von einer leisen, aber intensiven Zärtlichkeit gegenüber den Menschen, die Täter und Opfer sind in einem.“34

„Warum hast du’s getan?“, fragt der Vater Benny gegen Ende des Films. – „Ich wollt halt sehen, wie’s ist, wahrscheinlich.“ – „Wie was ist?“, insistiert der Vater und bekommt, gewiss, keine Antwort. Für jene Dinge, für die es keine rationale Erklärung gibt, bringt auch Haneke keine. Der „psychologische Realismus“ ist das Seine nicht. Und schon damit setzt er sich über die Konventionen nicht nur „des“ Hollywoodkinos, sondern auch über jene „des“ europäischen Films hinweg.

34 Seiler, Alexander J. „Benny’s Video“. In: Zoom, Nr. 11/92, S. 24.

13. 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls: Leitmotivische Motivlosigkeit und faktische Fiktionalität

Im letzten Teil der Trilogie bannt Haneke das Faktische in der Fiktion beinahe noch insistenter, seine Bildsprache wird zugunsten einer gebrochen rhythmischen, jedenfalls kompositionistischen Dramaturgie noch spartanischer: „Der Ton“, so Haneke, „läßt dem Zuschauer die Wahl, sich sein Bild vorzustellen, das Bild ist eine Vorgabe, die die Phantasie eher einschränkt“1. Die vermeintlich „banalen“, ungeschönten Bilder sind es, die er sucht, um sie durch ihre Anordnung zu würdigen und sie in den Zusammenhang jener strukturellen Widersprüchlichkeit zu stellen, die die Realität vorgibt: „Ich kann eine Figur innerhalb einer Geschichte so führen, daß die Summe ihrer Verhaltensweisen keine hinreichende Erklärung für ihre Entscheidungen gibt – der Zuschauer wird sie finden müssen. Wichtig dabei ist, meine ich, eine strikte Vermeidung von literarischer Psychologie, jener Erfindung des bürgerlichen Romans des 19. Jahrhunderts, die ja per definitionem ‚erklärt‘, so die bestehenden Verhältnisse bestärkt und gleichzeitig die Sichtbarmachung von Strukturen im Keim verhindert.“2

„Am 23.12.93 erschoß der 19-jährige Student Maximilian B. in der Zweigstelle einer Wiener Bank drei Menschen und tötete sich kurz darauf selbst mit einem Schuß in den Kopf.“ – Mit dieser Einblende beginnt, am Vortag von Heiligabend, der etwa hundertminütige, ansonsten kommentarlose und im Geiste der Erzähltraditionen der klassischen Moderne stehende Film. 71 Vignetten zeigen eine bzw. viele mögliche Vorgeschichten, deren Genese vor allem im Kopf des Zuschauers stattfindet. Bis sich die im Vorspann angekündigte Gewalt so wenig überraschend wie höchst eruptiv entlädt. Max (Lukas Miko) betritt die Bankfiliale und schießt wahllos um sich. Der Ausgang der Geschichte steht folglich schon am Anfang fest; dazwischen liegt eine alles andere als willkürliche – aus Montagen von TV-Ausschnitten, bruchstückhaften Alltagsszenen und knappen Dialogen sich zusammensetzende – assoziative Chronik von Menschen, die nichts anderes verbindet, als dass sie, zufällig, Opfer dieses Tä1 2

Haneke, Michael. „Notizen zum Film“. In: StadtkinoProgramm, Nr. 255, Stadtkino Wien, 1994. Redaktion: Franz Schwarz. Haneke, Michael. In: moviemento, Nr. 76, März 1995.

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ters werden. Nach zwei auf die Keimzelle der Familie zentrierten Filmen beschließt Haneke, den Fokus zu erweitern und einen Querschnitt durch „die Gesellschaft“ zu machen. Die unter dem Arbeitstitel „Fremde“ realisierten 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls (1994) sind zum gegebenen Zeitpunkt „der allererste Film überhaupt, in dem die meisten Figuren nichts miteinander zu tun haben – und der wohl einzige österreichische Spielfilm über die derzeitige Immigration aus dem Osten“3. Hanekes vielfach deklarierte Ambition war es, den im Mainstream vorgetäuschten falschen Ganzheiten eine fragmentierte Form entgegenzusetzen und dadurch der Realität unserer Wahrnehmung gerecht zu werden, die eine ganzheitliche Wiedergabe von Wirklichkeit nun einmal nicht ermöglicht. Das Ergebnis ist in seiner Dramaturgie und seinen Tönen derart detailreich, dass es sich einer Beschreibung eher verwehrt. Nicht die Bilder sind es, die einer halbwegs adäquaten Wiedergabe im Weg stehen, es ist vielmehr ihre Anordnung, die als narrative Form weder eine Linearität noch eine Ergründung vorgibt. Haneke entfaltet, auf einer Zeitachse, ein Netz. Der im Widerspruch zur Chronologie stehende Zufall als maßgebliche Größe macht die Annäherung nicht leichter, auch wenn er als neutraler Faktor hinter dem Tötungsakt in seinem unerklärlichen Ausmaß rangiert. Was das Unerklärliche mit sich bringe, sei die Tatsache, dass letztlich alles im jeweiligen Glauben begründet liege: „Pour certains, c’est la volonté de Dieu, pour d’autres, c’est le destin. Tout dépend des croyances des uns et des autres. Pour moi, le hasard est le facteur le moins important, parce qu’il est neutre. Mais pour ceux qui y voient la volonté de Dieu ou le destin, cela devient tout de suite plus pathétique et lourd de sens.“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 156-157)

Was zunächst eher willkürlich anmuten mag, erweist sich mit Fortdauer des Films als die aus einem Zeitraum von etwa zweieinhalb Monaten gelöste, stückweise Zusammenführung von Augenzeugen, Opfern und dem Täter. Als Ergebnis des „Versuch[s] einer Beschreibung des Kräftefeldes, in dem Gewalt entsteht“4. Ein kleiner Junge (Gabriel Cosmin Urdes), Flüchtling aus Rumänien, irrt – nachdem er nachts auf der Ladefläche eines Waschmaschinentransporters in die Stadt gefahren war – ziellos durch die Straßen und das U-Bahn-Netz von Wien. Ein junger Soldat (Georg Friedrich) bricht in eine Waffenkammer ein und entwendet Pistolen. Ein Geldtransportfahrer (Branko Samarovski) hat ein ambivalentes Verhältnis zu seiner Frau. „Ich liebe dich“, wird er eines Abends jählings sagen und ihr entsprechendes Misstrauen mit einer Ohrfeige erwidern. In einer Heimwohngemeinschaft wettet ein Student (Alexander Pschill) mit seinem Kollegen Max (Lukas Miko) unter Einsatz von 20 Schilling um das Zusammenfügen eines Puzzles aus Papierschnipsel, das ein Kreuz ergeben soll. Er wird weitere Kollegen damit herausfordern und im Zuge seines Studiums ein Computerspiel daraus entwerfen. Einmal spielen sie Mikado („Geschicklichkeit gegen Zufall“). Ein Ehepaar (Anne Bennent, Udo Samel) adoptiert ein kleines Mädchen, das sich misstrauisch verhält. Sie werden es, nach „Anlaufschwierigkeiten“, später gegen den rumänischen Jungen, den sie im Fernsehen gesehen haben, 3 4

Haneke im Interview. Rybarski, Ruth. „Kino als moralische Anstalt“. In: profil, 29.11.1993. Haneke im Interview. Retzek, Ilse. „Kräftefeld, in dem Gewalt entsteht“. In: Oberösterreichische Nachrichten, 08.08.1995.

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„eintauschen“. Bis sich dieser der Polizei stellt und in die Aufmerksamkeit der Medien und letztlich des Paares gerät, bettelt er erfolglos, durchstöbert Mülltonen, stiehlt einen Anorak und lässt ein Comic-Heft und einen Fotoapparat mitgehen, balanciert auf der Fahrsteigkante im Untergrund, fotografiert, wie ein Tourist, die Passanten. Ein alter Mann (Otto Grünmandl) lebt im Tête-à-Tête mit seinem Fernsehgerät und hat Kommunikationsschwierigkeiten mit seiner Tochter (Patricia Hirschbichler), einer Bankangestellten, die ihn vernachlässigt. Die Fähigkeit miteinander zu reden vermindert sich mit dem Grad ihrer Nähe; eine Begegnung in der Bank, die der Alte zwecks seiner Rentenauszahlung aufsucht, ist deutlich. Telefonieren können sie „besser“ als einander gegenüber stehen. Auch wenn er sie dabei, seine Bedürftigkeit mehr oder weniger leugnend, fernmündlich emotional erpresst. Max trainiert, in einer qualvollen Plansequenz über Minuten, am Tischtennistisch gegen eine Ballmaschine. An einer anderen Stelle im Film, vor einem Fernsehgerät, das die Aufzeichnung eines seiner Matches wiedergibt, maßregelt ihn aggressiv die Stimme seines Trainers. Er solle sich nicht ständig für seine Fehler entschuldigen, sondern sich künftig konzentrieren. Davor sieht man Max im Kaffeehaus, Max in der Mensa und kann daraus schrittweise den Weg, den eine Pistole vom Soldaten zu ihm findet, schließen. In einer beinahe achtminütigen Plansequenz telefoniert der Alte mit seiner Tochter. Max telefoniert mit seiner Mutter. Es gehe ihm gut. Der Mann vom Geldtransportdienst wacht nachts über sein krankes Kind. Dazwischen konfrontiert der Film in dominanten Einstellungen mit Einsprengsel aus den Fernsehnachrichten: Der Krieg via TV wird zu einem Leitmotiv: Reportagen aus Bosnien, Somalia, Irland – Schmerzensschreie, Wut, Ohnmacht und ihre Bilder. Von den ethnischen „Säuberungen“ und Massenvergewaltigungen über Streiks in Frankreich bis zu Attentaten in der Türkei zeigt sich, im vermeintlichen „Kontrast“ zur Fiktion, die fragmentierte Wahrnehmung des zappenden Medienkonsumenten in einer kontemplativen Beharrlichkeit, die dem Zuschauer das üblicherweise Übersehene beinahe unausweichlich macht. Weihnachten breitet sich aus und die Kämpfe in Sarajevo nehmen kein Ende. Michael Jackson bekennt sich im Zuge der Vorwürfe des Kindesmissbrauchs unschuldig. Und dann5 fährt die Adoptivmutter mit ihrem neu „erworbenen“ Sohn, dem kleinen Ankömmling aus Bukarest, in die Stadt um ein paar Einkäufe zu erledigen. Der Geldtransportfahrer geht mit seinem Koffer in eine Bank. Die Adoptivmutter lässt den Kleinen im Auto um auch in die Bank zu gehen. Es ist dieselbe Filiale. Derweil, an der Tankstelle gegenüber: Max, der sich vorhin am Tischtennistisch abgemüht hat, hat Schwierigkeiten bei der Bezahlung seines Tanks. Zu wenig Bargeld in der Tasche. Der Tankwart, dem er eine Scheckkarte anbietet, verweist ihn unfreundlich zum Bankomat. Der Vater der Bankangestellten ist auch in der Bank, um seine Tochter aufzusuchen. Und nachdem er kein Geld abheben kann – das Gerät ist außer Betrieb –, findet sich, empfindlich genervt, schließlich auch Max in der Bank ein. Er geht direkt zum Schalter, die Warteschlange missachtet er. Ein Kunde wirft ihm dies vor, weist ihn – unter Anwendung körperlicher Gewalt – zurück, Max fällt zu Boden. Eine Dame hilft ihm auf, er verlässt die Bank, geht noch einmal auf die Tankstelle zu, betritt die Filiale aber nicht. Er setzt sich ins Auto, stellt in Wut und Verzweiflung das Radio an. Er steigt aus dem Wagen, betritt abermals die Bank und feuert jählings 5

Nicht, dass der Film eine derartige Linearität impliziere – ein „und dann“ dient hier schlicht der Wiedergabe.

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um sich. Man weiß nicht, wen er tötet, die Einstellung auf den außer Kontrolle geratenen jungen Mann hat keinen Gegenschuss. Man hört die Menschen schreien. Und dann, aus der Vogelperspektive, in der auch schon der kleine Rumäne zu Beginn bei seiner Ankunft gefilmt worden war, überquert der Mann die Straße, feuert noch ein paar Schüsse auf die bremsenden Autos, steigt in seinen Wagen, verschwindet – aus derselben Perspektive – unter dessen Dach. Man hört einen letzten Schuss. In einer langen Einstellung in der Bankfiliale: Rücken und Arm eines Opfers, Blut rinnt unter dem Körper hervor. Dann, im Wagen: Der Kopf des toten Studenten auf dem Lenkrad. Im anderen Wagen sitzt der rumänische Adoptivsohn und wird aufmerksam. Eine Schwarzblende noch trennt die Tat von ihrem Fernsehbericht: „Wien am Vorweihnachtstag. Fassungslose Menschen im Angesicht einer Wahnsinnstat.“ – So der Kommentar aus einer eingespielten Nachrichtensendung zum Massaker, für deren Umsetzung Haneke ein Team von RTL zu Hilfe bat, um die NichtUnterscheidbarkeit dieser fiktiven Newsreportage von den ihr vorangegangenen „echten“ zu gewährleisten. Letztere knüpfen nahtlos an: Eine Nachrichtensprecherin mit dem Bericht über das Scheitern des für vor Weihnachten geplanten Friedensabkommens, die Entführung dreier UNO-Soldaten durch bosnische Regierungssoldaten in Zentralbosnien und darüber, dass an kaum einer Front des Landes die Feuerpause eingehalten wird. Der Bericht geht in einen Lokalaugenschein über; während Kinder den Weihnachtsbaum schmücken, schlagen draußen Granaten ein, versuchen Menschen, den Kugeln der Heckenschützen auszuweichen. Der Weihnachtsschwarzmarkt ist bis auf ein paar Gestecke fast leer gekauft, eine junge Passantin sagt, sie sei froh, dass sie wenigstens ein kleines Festessen haben werde. Eine Mutter übergibt ihr durch Granatsplitter verwundetes Baby den Ärzten im Krankenhaus. Der Flow des Fernsehens ist gnadenlos: Ob Michael Jackson nun die Wahrheit sage, so die Nachrichtensprecherin zum Folgebericht, oder ob er Theater spiele, fragen sich die Fans des Superstars, der nach einer Entziehungskur am Vorabend in einer LiveÜbertragung aus dessen Ranch in Kalifornien alle Vorwürfe des Kindesmissbrauchs von sich weist: „Don’t treat me like a criminal“, beteuert er seine Unschuld in die Kamera und der Effekt ist einigermaßen grotesk. Wenn das alles vorbei sei, so sein Anwalt, werde er ein Comeback starten: „Seine Karriere …“ Cut. Mit dem Versprechen der Welttournee bricht der Film ab. Die Zahl im Titel des Films, so Haneke, habe keine bestimmte Symbolik, es sei ein Zufall gewesen, dass er auf 71 Fragmente gekommen war. Auch die gewählten Einsprengsel aus den TV-Nachrichten entsprechen den jeweiligen Daten der Diegese – mit Ausnahme von einem Korrespondenzproblem, das sich aus der Tatsache ergeben habe, dass einer der Nachrichtenblöcke zu reißerisch gewesen war, weshalb er sich schließlich für Ausschnitte aus den Nachrichten vom Vortag oder dem Folgetag entschieden habe. Selbst Michael Jacksons Auftritt sei ihm ein Geschenk des Zufalls gewesen, es war ihm bei den Vorbereitungen vor allem darum gegangen, einen Ausschnitt aus dem Spektakelbereich zu bringen, dem sich Fernsehnachrichten üblicherweise am Ende der Sendung widmen. (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 156-157) Zur Perspektivenwahl des Films, der einer seiner strukturellen Referenzen entgegenkommend zunächst Mikado heißen sollte (als Filmtitel jedoch schon mehrmals vergeben war), verhält sich Haneke reserviert. Gefragt nach der – vielfach als göttlich interpretierten – schauenden Instanz, räumt er ein: „C’est peut-être le Dieu de Racine qui prend la vie terrestre pour un spectacle.“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 162)

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Georg Seeßlen, der in seinem Beitrag zum Film ohne Gottesvergleich auskommt, besteht eher auf die Betrachtungsweise, nicht die Perspektive der Beobachterinstanz: „Wer von den portraitierten Menschen am Ende die manifeste Gewalt ausüben wird, ist in der Tat nichts als Zufall; daß sie sich ereignen wird, ist dagegen sicher. Jede einzelne Figur in Hanekes Film wird in einer Situation beobachtet, in der es nicht weniger wahrscheinlich ist, daß sich die aufgestauten Impulse in einer Gewalttat entladen; genauso oft ist der Tod schon nah, das soziale wie das körperliche Verlöschen; für keinen der portraitierten Menschen wäre es unwahrscheinlich, Auslöser, Täter oder Opfer in dem sich fortzeugenden Bürgerkrieg zu werden, durch Zufall oder durch ein vielleicht fraktales Gesetz, nach dem die Gewalt entstehen muß, wenn die Einsamkeit zu groß wird. Dabei verurteilt Haneke seine Figuren keineswegs; er liebt sie eher, so verzweifelt, wie man unerlösbare Menschen nur lieben kann.“6

Hanekes Fragmente, so Seeßlen, zeigen in ihren quälend langen oder verstörend kurzen Einstellungen – als „musikalische Komposition des Materials“ – „die Zerbrochenheit der Welt in einer ungeheuer präzisen Komposition“7.

31. E INE T ISCHTENNISPARTIE SOZIALDEMOKRATISCHEN

WIDER DIE „D UMMHEIT DER G ESELLSCHAFTSKRITIK “

„Mit der Bitte um Ankündigung und Vormerkung“ kursiert ein Flugblatt mit Programm zu einem „Symposium Michael Haneke“ von 26. bis 28. Jänner 1995, initiiert durch das Institut für Fundamentaltheologie der theologischen Fakultät an der Karl Franzens Universität Graz. Das Symposium, an dem neben Andreas Kilb (Die Zeit), Bert Rebhandl (Der Standard) und Georg Seeßlen (FAZ) auch Michael Haneke teilnehmen wird, findet im Rahmen der internationalen Projektgruppe „Film und Theologie“ (eine Kooperation der Universitäten Amsterdam, Freiburg/Br., Fribourg) statt, deren deklariertes Ziel laut Blatt es ist, „auf verschiedenen Ebenen die Theologie mit dem gegenwärtigen Filmschaffen zu konfrontieren“. Die inzwischen abgeschlossene Trilogie Hanekes ist den Veranstaltern „formal gesehen eine radikale Sehschule, die nicht zufällig an das Schaffen von Robert Bresson erinnert. Wobei, denkt man an Susan Sontags Essay über Bresson, diese Ähnlichkeit nicht als Folge von Imitation, sondern von Verwandtschaft zu sehen ist. Haneke nennt auch noch andere ‚Verwandtschaften‘ wie z.B. die zum US-amerikanischen Regisseur Jon Jost. Er habe eigentlich immer schon darauf gewartet, daß sich Theologen mit seiner Arbeit auseinandersetzen, war die erfreute Reaktion Michael Hanekes auf die Frage, ob er an einer Zusammenarbeit mit der Projektgruppe Interesse hätte. In seinen Filmen geht es um ethische, moralische Fragen der Existenz, die ohne Theologie, wie Haneke meint, gar nicht auskommen. Seine Filme sprechen

6 7

Seeßlen, Georg. „Schrift in Bild und Ton“. In: StadtkinoProgramm, Nr. 255, Stadtkino Wien, 1994. Redaktion: Franz Schwarz. Ebd.

284 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE eine ethische Verantwortung an, die man außerhalb eines religiösen Systems, wie es Haneke ausdrückt, gar nicht begründen kann.“8

Auch wenn die Fragmente und ihre Anordnung per se nichts begründen mögen, so weist der Film, wie schon seine beiden Vorgänger, gleichzeitig explizite Referenzen zum Christentum auf. Die im Kreuz-Puzzlespiel erkennbare Anspielung auf die Pascalsche Wette (Blaise Pascales Argument für den Glauben an Gott) sei, so Haneke Jahre später, durchaus eine Herausforderung zur (konfessionsunabhängigen) Auseinandersetzung mit Religion: „Moi je me bats avec elle [la religion; K.M.] depuis mon adolescence. […] avant de vouloir devenir pianiste, j’ai pensé être pasteur. Heureusement, ma vocation a été courte ! Aujourd’hui, je ne suis pas croyant comme l’entend l’Église. On ne peut pas se limiter à expliquer les problèmes existentiels à partir de la religion. Mais, dans la vie, restera toujours un petit surplus, sur lequel les sciences resteront muettes. Dans le film, le problème religieux est limité au christianisme. Mais on aurait pu prendre une autre religion ; la problématique aurait été la même.“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 160)

Eine „méthode Haneke“9 erkennt das katholische Tagesblatt La Croix im nunmehr dreiteiligen Kinowerk und rahmt in dieser Erkenntnis eine ganze Reihe von Elementen, die die offizielle Rezeption des Films bestimmen: Und diese betreffen zunächst einmal die relationale Wirkkraft der Bilder. Spätestens mit den 71 Fragmenten etabliert sich Haneke weitgehend als derjenige Regisseur, der den inflationären Bildern durch eigenwillige Anordnung ihre längst verlorenen Potentiale zurückgibt. Je namhafter das jeweilige Blatt, das sich zu seinem Film äußert, umso ausgedehnter erfolgt der Verweis auf den innovativen Charakter seines Schaffens. So konstatiert etwa Le Monde: „L’enjeu majeur du film est de rendre aux images la signification que leur banalisation leur a fait perdre. Michael Haneke y parvient en rabâchant cette banalité, qu’il fouille sans relâche, dont il martyrise le déroulement, imposant de nouveaux rythmes, inventant un nouveau regard sur le monde. Il suffit, pour le suivre dans son entreprise, de regarder et d’écouter. Cela en vaut la peine.“10

In offenkundiger Erklärungsnot nimmt Libération in ihrer Annäherung Anleihen an die Physik, um das breite Spektrum der Deutungsmöglichkeiten relativistisch und materialistisch zuzuspitzen: Zwar würden die nach und nach zueinander geführten Figuren im abschließenden Gemetzel ein Ganzes formen, doch könne man die Konvergenz der Parallelen auch als atomares Phänomen betrachten: „comme une pluie d’atomes indifférenciés dont il aura suffit que l’un d’entre eux diverge très légère-

8 Ankündigungsblatt zum besagten Symposium. Quelle: Filmarchiv Austria. 9 Royer, Philippe. „La méthode Haneke“. In: La Croix, 27.04.1995. 10 Mérigeau, Pascal. „Michael Haneke cinéaste obstiné: Avec ‚71 fragments d’une chronologie du hasard‘, le réalisateur autrichien a construit un puzzle d’images obsédantes et cruelles“. In: Le Monde, 27.04.1995.

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ment pour qu’ils se mettent tous à s’entrechoquer dans un affolement de fictions pour certains mortel.“11 Diejenige Szene des Films, die – ganz im Zeichen des Bildpotenzdiskurses – eindeutig für am meisten Aufsehen sorgt, ist die Tischtennis-Plansequenz. Drei Minuten lang und sichtlich am Rande der Erschöpfung retourniert der Student die Bälle, die ihm die Ballmaschine entgegenspuckt. Manche von ihnen „sitzen“, andere wiederum gehen ins Netz, wieder andere verfehlen den Tisch. Die Kamera jedenfalls bleibt statisch, fasst den in seinen Bewegungen sich unablässig wiederholenden Studenten frontal ein. Der monotone Rhythmus des vermeintlich unendlichen Ping-Pong-Spiels hatte merklich am Nervenkostüm des Premierenpublikums gerüttelt, das, zunächst noch seufzend und nervös lachend, mit zunehmender Dauer der Einstellung äußerst aggressiv geworden sein soll. Was vor dem Hintergrund der anderen Erzählstränge doch beachtlich erscheint, wie ein Journalist für Le Monde erhebt: „Dans le film de Michael Haneke, on voit des choses terribles: des enfants qui fouillent dans les poubelles pour manger, un vieillard dans une absolue solitude, des extraits d’actualités, un crime. Mais rien dans le film, ni d’ailleurs dans d’autres films, n’a suscité de réactions aussi violentes que ce pongiste qui s’est entraîné pendant une éternité. Pendant trois minutes.“12

Mit anderen Worten: Das Publikumsverhalten bekräftigt die These über die Abgestumpftheit des Bildkonsumenten, die Reaktion auf die nur gelegentlich gestörte Gleichförmigkeit der Tischtennisszene wird zum pars pro toto des hanekeschen Komplizenhaftigkeitsprogramms – wer sich offenkundig auflehnt, erweist sich umso mehr als Teil jener „emanzipierten Partnerschaft“, die dem Regisseur vorschwebt: „Wenn das Publikum zu Inhalt und Ästhetik Stellung bezieht, es ‚sich wehrt oder wütend ist‘, dann hat er gewonnen. Denn nur ein Film, der derartige Emotionen provoziere, könne mehr transportieren als die ‚sozialdemokratische Gesellschaftskritik‘. Dieser gutgemeinte ‚Schmarrn, dumm und selbstbefriedigend‘, sei ihm schon immer ‚unheimlich auf den Keks‘ gegangen.“13

Die Filmprojektion in Cannes ist ihre dokumentarische Bestätigung und der Film, wenn man so will, besteht sehr eindringlich die (General-)Probe aufs Exempel. „Thesenkino, eiskalt.“14 Mit seinem Beitrag im Rahmen der Quinzaine des Réalisateurs stößt Haneke auf intensives Interesse, während Quentin Tarantino, zwei Jahre nach Reservoir Dogs (1992) mit Pulp Fiction über eine bekanntlich durchaus gegensätzliche Konzeption von Gewalt den Hauptbewerb für sich entscheiden wird. Exzessiv und satirisch überspitzt versammelt sich hier, was bei Haneke visuell ausgespart bleibt. Für den französischen Erfolg im Hauptbewerb sorgt Patrice Chéreaus schon im Vorfeld von der Kritik zum nationalen Ereignis stilisiertes, opulentes Historiendrama La Reine Margot: Über die Bartholomäusnacht 1572 nach dumas’scher Vor11 Lefort, Gérard. „Soixante-et-onze manières de couper-coller“. In: Libération, 26.04.1995. 12 Unbekannt. „Soixante-et-onze fragments d’une chronologie du hasard“. In: Le Monde, 20.05.1994. 13 Haneke zitiert und erklärt durch: Rybarski, Ruth. „Kino als moralische Anstalt“. In: profil, 29.11.1993. 14 Cargnelli, Christian. „Thesenkino, eiskalt“. In: Falter, Nr. 38, 1994.

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lage als historische Prämisse für eine mörderische Familiengeschichte voller Intrigen, sexueller Exzesse und aufopfernder Liebe verzeichnet Chéreau mit seinem gemäldeartigen Religionskriegspanorama den Prix du Jury. Der u.a. mit Jean-Louis Trintignant besetzte, letzte Teil der an den Farben der französischen Nationalflagge orientierten Trois-couleurs-Trilogie (Trois couleurs: Rouge) Krzysztof Kieslowśkis hingegen geht als einer der Favoriten leer aus. Nanni Moretti erhält für Caro diario den Preis für die Beste Regie – ihn wird das Filmfest München gemeinsam mit Haneke in den Mittelpunkt seiner Werkschauen 1994 stellen: „Zum Neuentdecken: Der Italiener Nanni Moretti und der Deutsche Michael Haneke“15, wie Filmecho/Filmwoche das Ereignis anpreist.

15 Unbekannt. „Filmische Lebensjahre: Zum Neuentdecken: Der Italiener Nanni Moretti und der Deutsche Michael Haneke“. In: Filmecho/Filmwoche – Fachzeitschrift der Filmwirtschaft in Deutschland, Nr. 25, 1994, S. 45.

14. Die Meriten einer Filmkritik wider den Mythos des romantischen Autorgenies

Haneke hat, wenn man so will, den Vorteil, dass er mittels seiner frühen Filme in die Wogen einer feuilletonistischen und kritischen Aufmerksamkeit gerät, die sich als solche erst formiert und ihm den gebührenden Respekt zollt. Denn was international längst üblich ist, die Veröffentlichung von Drehbüchern zum Beispiel, ergänzt durch analytisches Material von Experten, ist in Österreich noch ein Novum. Alexander Horwath, dem (unter wenigen anderen) das Verdienst der Etablierung dieser andernorts durchaus üblichen Praxis zukommt, setzt mit seinem Band Der siebente Kontinent – Michael Haneke und seine Filme (Horwath 1991) einen Meilenstein innerhalb der Geschichte des österreichischen Kinos, dem es, wie ein Journalist für den Standard festhält, „an materieller wie emotionaler Zuwendung [fehlt]“1. Mit Horwath spricht ein Kritiker, der den Mythen des romantischen Autorgenies weitgehend abschwört: „Es dürfte heute hinfällig sein, der alten Identifizierung von ‚Schöpfer‘ und ‚Geschaffenem‘ nachzuhängen, dem Glauben, daß biografische Details und persönliche Entwicklungen sich direkt in der künstlerischen Arbeit ablesen ließen. Ebenso verhält es sich mit der Idee eines ‚ganzen Autors‘, der mit Leib und Seele für all das einstünde, was in den Produkten, die unter dem Namen gehandelt werden, enthalten sein mag. Diese Produkte stehen vielmehr an der Kreuzung unterschiedlicher Kanäle, in denen fließt, was kommunikationstechnisch flüssig gemacht werden kann. Sie stehen unter Einfluß der Produktionsbedingungen; der gesellschaftlichen Konstellationen; der Geschmacksmuster einer bestimmten Zeit oder Kultur; der erzählerischen und stilistischen Konventionen innerhalb eines Mediums; sowie des (wie auch immer definierten) ‚Autor‘-Individuums. Vor allem aber existieren sie erst in der Projektion (bzw. Ausstrahlung) als das, was sie schon längst zu sein glaubten: als Filme, als künstlerische Zeichensysteme, nunmehr gebrochen an der letzten produktiven Instanz, der Lektüre durch die Zuschauer. Dennoch wird hier ein verantwortlicher Film-Autor vorausgesetzt, er ist gleichermaßen die Existenzgrundlage dieses Buches. Der Name ‚Michael Haneke‘ muß als Schnittpunkt die unterschiedlichen Perspektiven vereinen, aus denen eine Reihe von Filmen beschrieben wird. Dieses offensichtliche Problem der Kunstsparte Film/Fernsehen (sie ist neben der populären Musik und den Comics die am stärksten ‚entpersonalisierte‘) scheint auch heute, da – in der Theorie – mehr von Texten als von Werken die Rede ist, und die Frage nach der Bedeutungs1

Haas, Hannes. „Emotionale Zuwendung zum österreichischen Film“. (Buchbesprechung zu Alexander Horwaths Band) In: Der Standard, 22.11.1991.

288 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE produktion sich vom Autor auf den Kino-Apparat und den Leser-Seher-Hörer verschiebt, nicht gelöst zu sein: Was den vorliegenden Fall erleichtert: Er ist im Bereich des Kunstfilms angesiedelt, einer Form von Kino, die sich schon per definitionem als Teil autorengeprägter, bürgerlicher Hochkultur versteht. Für sie sind Biografien von Bedeutung – wenn schon nicht als Wahrheitsbrunnen für detektivische Geister und Kunsträtsellöser, dann zumindest als geschmacks- und ideenbildende Abläufe, als Stationendramen mit beschränkter Haftung für die Endprodukte.“ (Horwath 1991: 13-14)

In der Theorie hat sich inzwischen – zwei Jahrzehnte liegen zwischen Horwaths Bericht und dem vorliegenden – ein Wandel vollzogen: Relativ zeitgleich zum Hype der bereits zur Diskussion gestellten Kategorie des „transnationalen Kinos“ ist im theoretischen Bereich – im Anschluss an die langjährig dominante Tradition der Rezeptionsforschung – eine allmähliche Zuwendung zu den Entstehungsbedingungen und -prozessen von Kino zu verzeichnen, die sich inzwischen unter dem Terminus der besagten Production Studies etabliert hat. Ein „transnationales Kino“, so heterogen und diffus seine jeweiligen Konzeptualisierungen letztlich auch sein mögen, ist schließlich – und zumindest darauf scheint man sich geeinigt zu haben – die logische Begleiterscheinung eines durch Globalisierung und Digitalisierung bedingten (und vielfach nicht näher definierten) Vernetzungsprozesses. Oder, wie es Elizabeth Ezra und Terry Rowden als Herausgeber des prominenten Bandes Transnational Cinema, The Film Reader nahelegen: „In its simplest guise, the transnational can be understood as the global forces that link people or institutions across nations.“ (Ezra; Rowden 2006: 1) Welche aber sind diese Kräfte? Lässt man nun die streitbaren Definitionen von „transnationalem Kino“ einmal beiseite und widmet sich stattdessen seinen unbestreitbaren Konkretionen, dann wird vor allem ein maßgebliches Schlagwort fällig: Arthouse. Als Label des Produkts Arthouse Cinema steht Arthouse für eine Entwicklung, die – offensichtlicher als andere – auf veränderte Produktionsbedingungen zurückzuführen ist. So konfrontiert die gegenwärtige Kinolandschaft mit Formen eines europäischen Autorenkinos (European auteur cinema), das mit den etablierten Konzeptionen eines klassischen auteur cinema – wie es die französische Filmkritik des vergangenen Jahrhunderts maßgeblich mitgeprägt hat – nur noch äußerst wenig zu tun hat. Vergleichbar sind diese beiden Formen von art cinema – das eine Produkt einer historischen Moderne, das andere Resultat einer umgewälzten Förder- und Industrielandschaft und eines ausgeklügelten Filmmarketings – nur noch im Hinblick auf ihren internationalen Erfolg. Mit Michael Haneke lässt sich diese drastische Entwicklung im Bereich des art cinema anhand einer ihrer prominentesten Inkarnationen ablesen. Als „Euro-auteur“Persona (Galt 2010: 230) schreibt sich der „festival-proofed director“ von internationalem Renommee nicht nur beispielhaft als Indikator in die besagte Nische eines „popular art cinema“ (Cook 2010) ein, in dem sämtliche konzeptuelle Unterscheidungen von Kunst/Kommerz, Lokal/Global außer Kraft gesetzt sind; er repräsentiert gleichzeitig auch die out-dated Form von art cinema, innerhalb der diese Unterscheidungen noch Legitimationskraft haben. Die Tatsache, dass Michael Haneke trotz veränderter Produktionsbedingungen dezidiert immer noch als auteur reüssiert, dass, mit anderen Worten, die klassische Konzeption eines romantischen Autorgenies in seinem Fall – in einem nicht unerheblichen Maße – noch Gültigkeit beansprucht, charakterisiert ihn freilich als Ausnahmefall. Spätestens seit der Prämierung von Das

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Weiße Band (2009), jener österreichisch-deutsch-französisch-italienischen Koproduktion, die ihm den Titel des euro-national auteur eingebracht hat, ist er Vertreter eines (sehr europäischen) „nationalen Kinos“, das aufgrund der europaweit zunehmend sich verschlechternden Förderbedingungen im Kulturbereich außerhalb eines international angelegten Koproduktionssystems nicht mehr denkbar wäre. Und dieses Arthouse-Kino hat – wie dringend zu ergänzen bleibt – rückwirkende Effekte auf die nationale Kulturproduktion: „Beim Weißen Band zum Beispiel“, bemerkt Veit Heiduschka, „hat mir der Chef der deutschen Filmförderungsanstalt gesagt: ‚Wir sind so froh, dass ihr diesen Film gemacht habt; das ist das Feigenblatt, dass wir diese Art von Filmen wieder in Deutschland fördern können.‘“2 Was sich in den vergangenen 20 Jahren hingegen nicht verändert hat, ist die Verankerung dieses Kinos in einer den Wogen der Popularisierung sich standhaltend wähnenden (bürgerlichen) Hochkultur, die als solche ein historisches Identitätenkompendium vorsieht, auf das zurückgegriffen werden kann und auf das – aus welch unbekannter Motivation heraus auch immer – Michael Haneke explizit zurückgreift. Dies betrifft nicht nur seine Filmprodukte, sondern freilich auch, was an Akteuren sie umgibt. So sehr der Name Haneke schon zu Zeiten von Caché einen regelrechten Pop-Diskurs ausgelöst haben mag, so sehr hat auch die „hochkulturellere“ Gesinnung ihren Einfluss auf die „Autorenmarke“ Haneke et vice versa. Dass sich dabei das „Hochkulturelle“ zunehmend popularisiert sowie sich auch das „Populärkulturelle“ „hochkulturalisiert“, zeigt eine Entwicklung an, die die beiden ehemals noch einwandfreier voneinander trennbaren Qualitäten von Kultur weitgehend verzahnt. Vor diesem Hintergrund (re-)etablieren sich Michael Haneke und sein Team mit einem Verständnis von Kino, das ganz offensichtlich ausreichend pragmatisch ist, um im Filmgeschäft zu bestehen (hier spricht, sehr dinghaft, der Erfolg für sich). Dennoch geht der Regisseur dabei in konzeptuellen Gesten auf, die hochgradig einer Romantisierung gleichkommen. Dies vollzieht sich freilich nicht nur von Haneke ausgehend linear; es ist ein kumulativer Prozess unter Mitwirkung aller üblichen Verdächtigen. Die unermessliche kumulative Konkretion, die die Konstitutionsprozesse von Autorenkino in seinen diversesten Ausprägungen ausmacht, bezieht sich freilich auch auf die Autor- bzw. Urheberschaft selbst, d.h. in seiner diskursiven Realisierung. Autorschaft war und ist stets auch ein diskursives Spiel der Affinitäten, eine Bezugnahme auf auktoriale Größen und Subjekte, die den Rahmen der Filmprojektion (man erinnere sich etwa an das „Zitierspiel“ in … und was kommt danach? (After Liverpool), in dem Godard, aber auch den Beatles u.v.m. eine referenzielle Vorzugsbehandlung zukommt), aber auch jenen der klassischen Filmkritik in vieler Hinsicht sprengt. So hält auch Brian Michael Goss in seiner rezenten Studie zu den Global Auteurs fest, was schon seit jeher Gültigkeit beansprucht: „Auteurism assumes that some directors are noteworthy, at least across some portion of their careers.“ (Goss 2009: 41) Eine Spielart der Stabilisierung der der Existenz von Autorenkino zugrundeliegenden Relationen betrifft zunächst ein Sich-in-Relation-Setzen und -Positionieren, aber auch ein In-Relation-Stehen, das im Fall „Haneke“ – im Fall eines eminent erfolgreichen Beispiels also – quantitativ beachtlich ausfällt. Die folgenden Ausführungen betreffen daher die Positionierung des Regisseurs in einem sehr umfassenden Gefüge von 2

Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller.

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Wissensformationen, denn nicht zuletzt und sehr vordergründig ist „Auteurism […] a wide-open portal into this array of knowledges opened via the author“ (Goss 2009: 41). Und wenn Michael Haneke, angesprochen auf eventuelle religiöse Aspekte seines Siebenten Kontinents unter Ablehnung von Kirchenreligiosität auf das bei Robert Bresson so oft zitierte jansenistische Element verweist und darüber Blaise Pascal als einen seiner „Gurus“ anführt („Gnade kann erst dort stattfinden, wo die Verzweiflung nicht mehr steigerbar ist. Die tiefste Verzweiflung ist eigentlich die Erlösung, das ist das Wesen dieses tragischen Weltbilds.“3), dann ist das nur der Anfang und ein Bruchteil jener konstitutiven Elemente eines künstlerischen Schaffens, das – nach außen hin – zwei Jahrzehnte später mit dem Hauptpreis in Cannes kulminieren wird und in einer üppigen Relationalität steht.

30. A MAN UNDER THE INFLUENCE : K UMULATIVE S ELBSTINSZENIERUNG UND DIE VERSAMMELNDE K RAFT DES I NTERVIEWS „Eigentlich dürfte man sich als Autor gar nicht auf Interviews einlassen. Andererseits räume ich gern ein: Alles, was mit Sprache zu tun hat, drängt auf Deutung. Der Leser oder Zuschauer will ‚Haltegriffe‘. Ich finde jedoch, daß man ihm die grundsätzlich nicht geben sollte. Gibt man ihm diese Haltegriffe, ist das kontraproduktiv für die Rezeption.“ (Haneke/Assheuer 2010: 160161)

Dass sich Michael Haneke als dezidierter Gegner der Interpretation seiner selbst und seiner Werke auf ein relativ umfangreiches Gespräch mit Zeit-Redakteur und Feuilletonist Thomas Assheuer einlässt, ist angesichts der Risiken des Kontraproduktiven freilich ein ambivalentes Unterfangen. Diese dem Regisseur so eigentümliche, vielkritisierte Ambivalenz zeugt einmal mehr vom radikalen Angriff auf das, wogegen Haneke seit jeher und bekanntlich mit einem Höchstmaß an handwerklicher Präzision arbeitet: die Gleichgültigkeit seiner potentiellen Zuseher- bzw. in diesem Fall Leserschaft. Ungeachtet der Unzahl seiner ihm aufgeklebten Etikettierungen (vom „Publikumsverstörer“ über den „rigorosen Moralisten“, den „unerbittlichen Formalisten“ bis zum „schwarzen Pädagogen“) hat er ein Werk vorzuweisen, das so hinlänglich wie facettenreich als „filmische Umsetzung“ der Kulturindustriethese Adornos umschrieben wurde. Und diese Spielart der Auslegung ist nur Bruchteil einer sehr umfassenden Haneke-Deutung, die sich in ihrer inzwischen nahezu unermesslichen Gesamtheit – und das wohl ganz im Sinne des Regisseurs – alles andere als linear abzeichnet. Kurz: der Name „Haneke“ evoziert mindestens so viele Assoziationen wie es Kritiker und Wissenschaftler gibt, die sich mit ihm auseinandersetzen. Im Interviewband Nahaufnahme hat Haneke – den Gepflogenheiten des Formats entsprechend – selbst das Wort und gewährt Auskünfte zu seiner Biografie, seinen filmästhetischen Ansichten, zentralen Werkintentionen und seiner Arbeitsweise. So erscheint 2010 bereits die zweite, aktualisierte Auflage eines mit Juni 2007 datierten 3

Haneke im Interview. Horwath, Alexander. „Aufzeichnungen aus dem Totenhaus“. In: Der Standard, 17.10.1989.

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und 2008 herausgegebenen, außerordentlich feinsinnigen Gesprächs über Ästhetik, Philosophie und Moral; ergänzt inzwischen um ein im November 2009 im Anschluss an den Erfolg des Weißen Bands geführtes Interview mit einem Regisseur, der nicht müde wird, sein Kino unter Verzicht auf Lösungsvorschläge als Reflexionsmedium „über die grundsätzlichen Bedingungen des menschlichen Zusammenseins“ (Haneke/Assheuer 2010: 160; 165) zu verteidigen. Zudem umfasst der Band zwei Essays des Regisseurs, einen Bericht über den Schlüsselmoment der sinnlichen Erfahrung von Robert Bressons Au hazard Balthazar sowie die – im Zuge seiner vehementen Medienkritik – programmatisch bezeichnende Reflexion zum Thema „Gewalt und Medien“ (beide erstmals 1995 erschienen)4. Die so kompakte wie offene Form der Gestaltung – der Band verwehrt sich einer thematischen bzw. numerischen Gliederung – erlaubt allein den Hinweis auf die schriftliche Aufzeichnung zweier Gespräche, die laut Einband den Anspruch erheben, die Karriere des Regisseurs „von seinen Anfängen als jugendlicher Kinobesucher bis hin zum Welterfolg“ nachzuzeichnen. Der zwischen Haneke und Assheuer sich abzeichnende Dialog steht sinnbildlich für jene Form der Begegnung, die Haneke eigenen Angaben zufolge zwischen Kunstprodukt und Rezipienten herzustellen sucht, wenngleich ihm die Kritik vorzugsweise Gegenteiliges vorwirft, ihn als Moralisten (dis-)qualifiziert. Mit dem im Zuge der Lektüre immer offenkundiger sich manifestierenden Vertrauensgestus des Regisseurs in das Mündigkeitspotential des Zusehers ist zugleich das latente Leitmotiv des so konzentrierten wie weitläufigen Gesprächs benannt, das sich nicht als Porträt sondern dezidiert als Nahaufnahme ausgibt: Der konnotative Unterschied liegt bekanntlich in der jeweiligen Dynamik der beiden Abbildungsformen; die Wahl der letzteren als Kadrierung für das Interview erweist ihrer definitorischen Beschaffenheit alle Ehre. So zeigt Assheuers Nahaufnahme einen bewegten Filmemacher, der sich radikal und liebevoll zugleich, jedenfalls nach der selbstauferlegten Maßgabe handwerklicher Ehre agierend, dem Erhalt dessen verpflichtet, was er als des Betrachters „kostbarstes Gut“ erkennt: „seine Phantasie“ (Haneke/Assheuer 2010: 181). Schlichtheit vor Gefälligkeit – auf diese grundlegende Formel ließe sich summarisch sein Filmwerk bringen, das Haneke hier einmal mehr mit Nachdruck als Plädoyer gegen „den Mainstream und seine Dramaturgien“ ausweist: „Die modellhafte Zuspitzung und die Ambivalenz – das sind vielleicht heute die einzigen adäquaten Erzählstrukturen, weil mit ihnen eine offene Dramaturgie möglich ist, welche die Reaktion des Zuschauers als entscheidende Mitarbeit am Werk miteinbezieht.“ (Haneke/Assheuer 2010: 135) Dass die Leute keine Ambivalenzen mehr ertrügen, sei eine der verheerenden Konsequenzen des Fernsehens und seiner Dramaturgien, in ihrer Vermittlung jener „eingespielten Erklärungssysteme“ (Haneke/Assheuer 2010: 169), die der Regisseur fortwährend unterläuft. Angst, Gewalt, Ohnmacht, Wut, Entfremdung, Isolation sowie die freilich feiner ausdifferenzierbaren Spielarten dieser Themenkomplexe haben – der modellhaften Zuspitzung gemäß – ihre Matrix. Die Figuren, die oft und je nach Drehort Anna und Georg, Anne und Georges, Ann und George heißen, bilden (mit Kind) den Prototyp der klassischen Kleinfamilie mittleren Bürgertums – „genau die Leute, die hauptsächlich ins Kino gehen“ (Haneke/Assheuer 2010: 90). Sie sind die Handlungsträger 4

Siehe Bibliografie.

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des hanekeschen Gesellschaftsformats und damit im großen, stets universal angelegten Programm der negativen Utopie unweigerlich Träger von Schuld und ihren (oft unausgesprochenen) Artikulationen. Motorisiert durch jenes „tiefste Gefühl“, das im Haneke-Universum alle zu einen scheint: „Urszene ist die Angst, die Angst vor Verlust, auch vor Selbstverlust.“ (Haneke/Assheuer 2010: 90) Zwar sei die Familie „nicht in einem höheren Maß Katastrophenort als alles andere in der Gesellschaft auch“ (Haneke/Assheuer 2010: 91), allein die thematisierten Krisen ließen sich an ihr schlicht einfacher ablesen. So abstrakt und komplex die in den Filmen entfalteten Themen auch sein mögen, so konkret und klar hingegen sind hier die Ausführungen des Regisseurs. Der im Verlauf des Gesprächs vielfach eher konstatierende als fragende Assheuer unterstützt ihn dabei geschickt; Hanekes Rhetorik ist bestechend bildhaft. Die Bemerkung etwa, das Gewaltsame und Unbarmherzige erhalte im Familiären stets eine Vorzugsbehandlung gegenüber dem Zärtlichen kommentiert Haneke damit, dass er „unlängst einen amüsanten Satz gelesen [habe]: Die Familie ist wie ein Scheißeimer, der dir übergestülpt wird. Und ein Leben lang läuft alles an dir runter.“ (Haneke/Assheuer 2010: 167) Das „menschliche Zusammensein“ in jenen (mediengeprägten) Grundbedingungen, denen Haneke sich verschreibt, ist ohne Gewalt nicht denkbar. In den Projektionen des zum Feind erklärten Mainstreams entweder verherrlicht oder verharmlost, soll ihr zurückgegeben werden, was sie nun wirklich sei: Schmerz, eine Verletzung anderer. Ihre in den Filmen gezeigten Konsequenzen sind bekanntlich weitreichend, beschrieben „bis in die feinsten Herzverästelungen“ (Haneke/Assheuer 2010: 123). Nicht nur ist diese Gewalt im Diegetischen unentrinnbar, sie ist auch die unverkennbare Strategie des Regisseurs: Die Manipulation des Zuschauers „zur Selbständigkeit“ (Haneke/Assheuer 2010: 133), seine wie so oft nach Haneke zitierte „Vergewaltigung“, ist ihm gleichsam Liebes- und Befreiungsakt, legitimiert freilich durch die Prämisse der Undenkbarkeit eines Lebens ohne Fremdbestimmung und sei sie auch dem menschlichen Dasein physisch inhärent: „Selbst wenn wir völlig frei wären, wären wir immer noch von unserem Körper abhängig.“ (Haneke/Assheuer 2010: 123) „Wer ist schon frei von Eitelkeit?“ (Haneke/Assheuer 2010: 126) – was ins Auge sticht, ist die Tatsache, dass der Band Raum für eine kumulative (Autoren-)Selbstinszenierung gibt, die in ihrer Motivik ohne Vergleich ist. Die Nahaufnahme zeigt Haneke als selbstbezogenen bzw. -kritischen wie auch als theoretisch, literarisch und musikalisch versierten Künstler, der seine Autorschaft argumentativ unter Rückgriff auf zahlreiche andere Größen der Kunst stärkt: Ob er sich mit Montaigne gegen die Postmoderne richtet5, mit Bachmann für die Zumutbarkeit von 5

„Die postmoderne Behauptung, all die existentiellen und moralischen Fragen lägen hinter uns, halte ich für gefährlichen Schwachsinn. Mehr noch: Ich halte es für ein Unglück, daß die Infragestellung der ethischen Verbindlichkeiten nach Weltkriegen und Holocaust, daß diese danach so nötige Infragestellung nun zur faulen Ausrede verkommen ist. Natürlich haben sich Religionen und gesellschaftliche Utopien als nicht realisierbar erwiesen – trotzdem weiß jeder in der Tiefe seines Herzens, wo er sich bei seinen Handlungen anständig und wo er sich mies benimmt. Man braucht nicht die ganze Ideologie- und Geistesgeschichte bemühen, um eine Begründung für anständiges Verhalten zu finden. Es liegt immer an dir selbst, dich zu entscheiden, selbst im größten gesellschaftlichen Zwang. Grade für uns, die Nutznießer der westlichen Überflussgesellschaft, die wirkliche Not gar nicht

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Wahrheit plädiert, mit Pasolini zur „adäquaten“ Darstellung von Gewalt hinführt, oder über Tschechow, Bresson, Cassavetes („ein Regisseur für Regisseure“6) und Kiarostami seine Formideale generiert und mit Bach und Mozart auf ihre Musikalität hinweist; hinter Hanekes Beharren darauf, dass die condition humaine keine Ausrede für unsere tägliche Verantwortung sei, steht ein eindrucksvoll „multi-identitär“ ausgerichtetes Autoritätskonzept. Er habe zudem „gar nichts dagegen, die böse Unke zu sein“, es mache ihm „sogar Spaß“ (Haneke/Assheuer 2010: 125), wie Haneke bezugnehmend auf den ihm duzendfach entgegengebrachten Moralisten-Vorwurf entgegnet. Wenngleich ihm angesichts der medialen Aktualität, in der kaum ein Zustand so überbetont wird wie jener der Krise, zuzustimmen wäre, dass „die Frage der Moral ganz und gar nicht ‚out‘“ (Haneke/Assheuer 2010: 125) sei. Mit dem Selbstverständnis eines Handwerkers engagiert er sich schließlich für eine „Moral der Form“: „Die oberste Tugend der Kunst ist die Genauigkeit. […] Intensität entsteht durch Genauigkeit im Detail. Deshalb ist Genauigkeit sowohl eine ästhetische wie auch eine moralische Kategorie. Sie stellt eine Verpflichtung dar. Sozusagen den moralischen Imperativ der Kunst.“ (Haneke/Assheuer 2010: 47) Wenn Haneke mit Bachmann in ihrer Forderung nach einer Poesie, „scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht“ (Haneke/Assheuer 2010: 124), für ein schmerzhaft direktes und ehrliches Kino einsteht, das uns „helfen“ soll, „den Panzer ums Herz ein bißchen zu lockern“ (Haneke/Assheuer 2010: 122), oder an anderer Stelle über Höflichkeit als „umgangserleichternde Maske“ (Haneke/Assheuer 2010: 97) sinniert, so steht dies nur exemplarisch für ein Gesprächsangebot, das den Rahmen der am großen Vorbild Adorno orientierten kultur- und medienpolitischen Stellungnahmen weitgehend überschreitet.7

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kennen, kommt mir die postmoderne Berufung auf den Werteverschleiß immer wie ein Alibi vor. Die Freiheit zum Guten kann sich jeder nehmen; sie ist halt anstrengend und deshalb nicht beliebt. […] Mich verblüffen immer Leute, die behaupten, wir lebten in einer völlig neuen Zeit, die mit der Vergangenheit nichts mehr zu schaffen habe. Tatsächlich hat sich die condition humaine nicht geändert, nur der Habitus der Menschen. Denken Sie an die Essays von Montaigne. Seine Erfahrungen sind durchaus übertragbar. Montaigne spricht im Prinzip von den gleichen Problemen, die wir heute immer noch haben. Gewiß, die Menschheit ist größer und die Konflikte schärfer geworden. Aber das als Ausrede zu benutzen für unsere tägliche Verantwortung – das lehne ich ab. Damit drücken wir uns nur um die entscheidende moralische Frage: Wie verhalte ich mich zu meiner Frau oder zu meinem Kind? Oder zu meinem unmittelbar Nächsten? Das sind unsere Hauptprobleme, wenn wir ehrlich sind. Doch seit der Postmoderne tut man so, als gäbe es das alles nicht und als bräuchten wir uns nicht mehr darum zu kümmern. Jede persönliche Erfahrung spricht doch dagegen.“ (Haneke/Assheuer 2010: 124-125) Haneke im Interview. Horwath, Alexander: „Aufzeichnungen aus dem Totenhaus“. In: Der Standard, 17.10.1989. Vgl. Müller, Katharina. „Rezension: Michael Haneke/Thomas Assheuer: Nahaufnahme Michael Haneke. Gespräche mit Thomas Assheuer“. In: rezens.tfm – e-Journal für wissenschaftliche Rezensionen, Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien, Nr. 1, 2012. http://rezenstfm.univie.ac.at/rezens.php?action=rezension&rez_id =249

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Mit anderen Worten: Autorschaft – so nicht anonym praktiziert – lebt freilich von Namen, Positionierungen und Zuordnungen, vom Sich-Platzieren, aber auch umgekehrt, vom Platziert- und Positioniert-Werden. Auch der umgekehrte Fall ist freilich zu beobachten. So wird man mitunter weit über den engeren cineastischen Kreis hinaus bis in die prominente zeitgenössische Literatur hinein an Reminiszenzen fündig, etwa im 2005 erschienenen Roman des französischen Goncourt-Preisträgers Michel Houellebecq, La Possibilité d’une île: „[…] le sens des films de Michael Haneke, douloureux et moral, était aux antipodes de celui des films de Larry Clark. […] Larry Clark et son abject complice Harmony Korine n’étaient que deux spécimens les plus pénibles – et artistiquement les plus misérables – de cette racaille nietzschéenne qui proliférait dans le champ culturel depuis trop longtemps, et ne pouvaient en aucun cas être mis sur le même plan que des gens comme Michael Haneke, ou comme moimême par exemple – qui m’étais toujours arrangé pour introduire une certaine forme de doute, d’incertitude, de malaise au sein de mes spectacles, même s’ils étaient (j’étais le premier à le reconnaître) globalement répugnants.“ (Houellebecq 2005: 210-211)

Hier spricht der autofiktionale Protagonist eines literarischen Autors, der eigentlich Cineast werden wollte. Ob als „nouveau réactionnaire“ diffamiert oder als Meister des Despektierlichen hochgeschätzt, kaum ein Schriftsteller scheint Frankreich bislang so geteilt zu haben wie Michel Houellebecq und wenn schon eine Vergleichsfigur (posthum) für ihn herhalten muss, dann niemand Geringerer als der über den sehr naheliegenden Umweg seiner faschistischen Orientierung herangezogene LouisFerdinand Céline. Gewalt, Tod, Sex, (Gen-)Technologie und ein omnipräsentes Motiv der Liebe als Unmöglichkeit sind, in groben Zügen, die Themen Houellebecqs, der sich erfolgreich wie kein anderer seiner zeitgenössischen Kollegen die Potentiale des Skandals zu Nutze macht, um sich am literarischen Markt zu behaupten: Etwa, wenn er im Zuge der Promotion-Kampagne seines dritten Romans Plateforme (2001) in einem Interview für das Magazin Lire den Islam scheinbar beiläufig als „dümmste Religion“ (Demonpion 2005: 15) bezeichnet. Der Skandal als effiziente Marketingstrategie in Kombination mit den äußeren (globalen) politischen Umständen hat Houellebecq (zusätzlich zu einer ohnehin schon mystisch überbesetzten Aura) schließlich den Ruf des Visionärs eingebracht, hatte er in demselben Roman ein Attentat „beturbanter“/turbantragender Terroristen („terroristes enturbannés“) in einem thailändischen Feriendorf begehen lassen, noch ehe im September das World Trade Center in Flammen auf- und einging. Sein Marktwert hatte sich mit einem Schlag verzehnfacht8. Es äußert sich hier also über den Weg seines Protagonisten Daniel1 der Inbegriff des mystischen Dandys, ein – je nach kritischem Befund der jeweiligen sich äußernden Presseinstanz – Literat oder Möchtegern-Literat, dem – empirisch betrachtet – ein Titel in jedem Fall gesichert ist: jener des Best-Seller-Autors. Und dieser äußert sich durchaus positiv. Es ist dies nicht weniger als eine der Schlüsselszenen des Romans, in dem der Protagonist ganz beiläufig gegen Larry Clark und für 8

Nicht zu vernachlässigen in diesem Zusammenhang der Wortlaut des selbsternannten Biografen Demonpion, der dezidiert vom „Marktwert des Künstlers“ („La valeur marchande de l’artiste“) spricht und damit einmal mehr die vermeintliche Kluft zwischen Kunst und Kommerz argumentativ stützt. (Demonpion 2005: 13)

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Michael Haneke Partei ergreift. Haneke, in einem Interview auf den Roman angesprochen, zeigt sich loyal gegenüber dem Kollegen, der, wie er, das Spiel mit dem Unbehagen sehr weit treibt: „Je l’ai lu, et je suis très flatté. C’est un écrivain très important pour moi, et dont je me sens proche. Peut-être le seul auteur chez qui je retrouve le monde tel qu’il est aujourd’hui. Houellebecq est accusé de complaisance, mais c’est le grief que l’on réserve à ceux qui traitent de sujets cruciaux, dérangeants.“9

Haneke und Houellebecq haben denselben Agenten. Zudem gibt sich ein Durchschnittsauteur üblicherweise als von Traditionen beeinflusst, die er gelegentlich auch nennt. Oliver Speck, der in seinem Haneke-Band Funny Frames (2010) dem Versuch nachgeht, Haneke mit Deleuze zu lesen, gibt unter dem bezeichnenden Titel „Conceptual Frame of Reference“ einen exemplarischen Hinweis: Das Filmmagazin Sight&Sound beauftragt Haneke 2002 mit der Angabe einer Liste seiner persönlichen Lieblingsfilme, Haneke wiederum stellt ein Top Ten Ranking zur Verfügung, das dem Experten sehr einschlägig ins Auge stechen dürfte: Angeführt wird die Liste von zwei Filmen Robert Bressons, an erster Stelle Au hasard Balthazar (1966), an zweiter Lancelot du Lac (1974); es folgen Tarkowskis Zerkalo (1975), Pasolinis Salò o le 120 giornate di sodoma (1975), Buñuels El àngel exterminador (1962), Chaplins The Gold Rush (1925), Hitchcocks Psycho (1960), Cassavetes’ A Woman Under the Influence (1974), Rosselinis Germania, anno zero (1948) und Antonionis L’eclisse (1962). Es sind dies, wie Speck konstatiert, bezeichnenderweise jene Werke, die schon Deleuze in seiner prominenten Abhandlung zum Kino (Deleuze 1983) vordergründig zur Diskussion stellt. Zur Disposition steht folglich eine – hier nur exemplarisch, im Großen und Ganzen der diversen Interviews jedoch häufiger zum Tragen kommende – indirekte Bezugnahme auf eines der im Rahmen der internationalen Filmtheorie vermutlich meistzitierten Kinobücher, die wiederum direkte Bezugnahme auf zehn im Rahmen der Filmgeschichte äußerst namhafte Elaborate ist. Au hasard Balthazar (1966) ist derjenige Film Bressons, von dem Jean-Luc Godard einmal gesagt haben soll, er sei das Leben in anderthalb Stunden. Der Protagonist, ein Esel, wird von zwei Kindern auf den Namen Balthazar getauft und durchläuft fortan die Stationen seines Schicksals – vom Lastesel zur Zirkusattraktion, über den Status eines misshandelten Erbstücks bis zu seinem Tod durch Erschießung im Kreise einer Schafherde – in naturgemäß stummer Duldsamkeit. – Eine „Ikone der erzwungenen Duldsamkeit“, stellvertretend für das Leben von Millionen Menschen, „ein Leben der kleinen Freuden und großen Mühen, banal, sensationslos, und wegen seiner deprimierenden Alltäglichkeit für die Ausschlachtung auf der Filmleinwand denkbar ungeeignet“ (Haneke 1995 [2010]: 179-180). Ein Film, stellvertretend wiederum für das Werk eines Regisseurs, dessen Filmen Haneke zutiefst verbunden ist. So schreibt er 1995 in seinem Aufsatz zu „Schrecken und Utopie der Form“: „Ihre Identität läßt keinen Raum für Ideologie oder Welterklärung, für Kommentar oder Trost. Alles geht auf in reiner Bezüglichkeit, und es ist am Betrachter, Schlüsse aus der Summe der 9

Haneke im Interview. Guichard, Louis; Strauss, Frédéric. „Entretien: ‚Nous baignons dans la culture de la culpabilité‘“. In: Télérama, 05.10.2005.

296 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE Anordnungen zu ziehen. Reduktion und Auslassung werden die Zauberschlüssel zur Aktivierung des Betrachters. Insofern ist es gerade die Hermetik des Bressonschen Œuvres, die es dem Zuschauer leicht machen will: sie nimmt ihn ernst. Ausgelassen ist der Überredungsgestus emotionaler Identifikationsvorgaben. Ausgelassen ist der (allzu) bündige Sinn des soziologischen und psychologischen Erklärungszusammenhangs – der Zufall und die Widersprüchlichkeit fragmentarischer Handlungssplitter fordern wie in unserer täglichen Erfahrung ihr Recht und unsere Aufmerksamkeit. Ausgelassen wird die Vortäuschung jedweder Ganzheit bis hinein ins Abbild des Menschen – Rumpf und Gliedmaßen fügen sich nur noch für flüchtige Augenblicke zusammen, sind separiert, den Dingen gleichgestellt und ausgeliefert, das Gesicht ist Teil unter vielen geworden, eine unbewegliche, ausdruckslose Ikone der Melancholie über den Verlust der Identität. Ausgelassen ist das Außergewöhnliche, weil es die Not des Alltäglichen um ihre Würde betröge. Ausgelassen ist endlich das Glück, weil durch seine Darstellung das Leid und der Schmerz geschändet würden. Und gerade diese universale Zurücknahme (die jener des Mannschen Faustus so unverwandt nicht ist), dieser zärtliche Respekt vor Wahrnehmungsfähigkeit und Selbstverantwortlichkeit des Menschen bergen in ihrem Verweigerungsgestus mehr Utopie als alle Bastionen der Verdrängung und des billigen Trostes zusammen. Die Identität von Inhalt und Form löst eine Ahnung jenes Sinnzusammenhangs ein, der der beschriebenen Welt abhanden gekommen ist. In der Aussparung des gezeigten Glücks bekommt das Wünschen Flügel, und für die glückhafte Sekunde der Betrachtung ist der Schmerz in seiner Ikone gebannt.“ (Haneke 1995 [2010]: 190-200)

Ein weiteres, im Zusammenhang der Selbstpositionierung maßgebliches, Stabilisierungsinstrumentarium ist die im Zuge von Retrospektiven zur Anwendung kommende – aus der Meisterklasse des kulinarischen Geschäfts bzw. der französischen haute cuisine geläufige – Carte Blanche. Es ist die Freikarte bzw. der Freibrief für werkschaugehuldigte Regisseure, die Wiedergabe ihrer eigenen Werke kuratorisch um Filme anderer, ihnen bedeutsamer Regisseure zu ergänzen. Eine solche kommt Haneke etwa im Oktober 2010 anlässlich einer ihm und seinen Filmen gewidmeten Werkschau des Filmarchiv Austria im Wiener Metro Kino zu, die mit The Gold Rush, Au hasard Balthazar, A Woman Under the Influence, Zerkalo und Salò fünf Filme der 2002 angeführten Top-Ten-Liste umfasst. – Als Ergänzung zu seinen Kinoproduktionen und seiner in Gesamtheit präsentierten Fernsehproduktionen, die bis dahin ein exklusives Dasein in Archiven fristen. Als er im Zuge der Pressekonferenz zu Das Weiße Band in Cannes von einem Journalisten mit Blickrichtung zu Ingmar Bergman gefragt wird, ob sein Film „bergmanien“ sei, lacht Haneke und entgegnet: „C’est un film hanekien et c’est amplement suffisant!“10.

10 Siehe Aufzeichnung der 10038.html [20.11.2012]

Konferenz.

http://www.festival-cannes.fr/fr/mediaPlayer/

15. Kino im Fernsehen

29. D IE A NFÄNGE EINER KRIEGSVERSEHRTEN Ö FFENTLICHKEITSPRAXIS : ... UND WAS KOMMT DANACH ? (A FTER L IVERPOOL ), L EMMINGE I UND II, V ARIATION , W ER WAR E DGAR A LLAN ? Haneke ist, wenn bisweilen auch unfreiwillig, so sehr Objekt von Relationierungen wie er zuweilen auch ihr Subjekt ist. Das Spiel der Referenzen zu einem bestimmten Kino und seinen Größen ist bereits seinem Fernsehdebüt … und was kommt danach? (After Liverpool) (1974) inhärent: Am Beginn stehen die besagten Worte Godards und damit ein Bekenntnis: „Der Philosoph und der Cineast haben eine bestimmte Lebensweise gemeinsam, die einer Generation eigentümliche Sicht auf die Welt.“ Mit seinem Fernsehfilmdebüt, dem eine gewisse Nähe zum Essayfilm schwerlich abzusprechen ist, ist der Weg ins Kino vorgezeichnet. Der hier mittels offenkundiger Zitationspraxis (beim Wort, aber auch über Plakatierung im Dekor) evozierte Godard ist Hanekes erklärtes Vorbild, weil er die Selbstreflexion auf der Leinwand institutionalisiert und somit ein selbstreflexives Kino geschaffen habe. (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 47) Sein Debüt als Regisseur und Autor in Personalunion hat Haneke jedoch mit einem deutsch-österreichisch produzierten Fernsehzweiteiler, dem semiautobiografischen Generationendrama Lemminge (1979). Schon darin exponiert er ein Weltbild, das sein Werk fortan durchziehen wird und verhandelt seine Themen in einer Form, die er in 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls und später in Code inconnu wieder aufgreifen wird: er verflicht die Wege bzw. „Schicksale“ mehrerer Figuren, die er allmählich zusammenführt. Zwei Möglichkeiten, so der Arzt Fritz Naprawnik (Wolfgang Hübsch) im zweiten Teil Lemminge: Verletzungen (1979), biete die conditio humana: „Gleichgültigkeit oder Verletzen … und Verletztwerden“. Die Worte begleiten den Beginn seiner Liebesaffäre mit Eva Beranek (Monica Bleibtreu), der Ehefrau seines Jugendfreundes Christian (Rüdiger Hacker), die er im Spital trifft und aufrichtet. Christian hatte ihr einen Laufpass gegeben, der in einem Nervenzusammenbruch kulminiert war. Wie auf einem Seil, hatte Eva Christian ihr Leben zuvor beschrieben, sie stehe kurz vor dem Zusammenbruch. Eva (Regina Sattler) hatte 20 Jahre zuvor, im ersten Teil des Zweiteilers – Lemminge: Arkadien (1979) – bereits einen Selbstmordversuch unternommen. Sterben wird sie allerdings erst im zweiten Teil und das nicht mehr freiwillig: Christian, der im Rückgewinnungsversuch seiner Frau erpressend vorgibt, krank zu sein, wird mit ihr „fortfahren“ – mit

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hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum. Zusammengeführt werden die dem Zuschauer aus dem ersten Teil bekannten, im zweiten Teil jedoch anders besetzten Figuren von Sigrid Leuwen (Elfriede Irrall), der Schwester des schon im ersten Teil dem Suizid erlegenen Sigurd Leuwen (Paulus Manker), die ein Abendessen organisiert, bei dem die Stimmung eskaliert. Bettina (Vera Borek) lässt ihrer Depression freien Lauf. Es kulminiert hier, wie viele weitere Male, die Chronik einer Generation, die an ihren Formen und Förmlichkeiten scheitert: „Weil ich mir wirklich einrede, dass Formen etwas zusammenhalten, was längst auseinander gefallen ist …“, sagt bezeichnenderweise Christian, der Bundesheeroffizier ist. Als „Lemminge“ hatte Sigrids Vater seine Kinder im ersten Teil verflucht, sie mit Wühlmäusen verglichen, die nur in ihrem eigenen Dreck graben, mit dem „sinnlosen Ziel, wie sie bald zu krepieren“. Das verächtliche Bild der Elterngeneration findet sein Fortleben in den Figuren, auch wenn manch ein Tod fremdbestimmt ist. Evas Tod jedenfalls, den Christian, der den Crash überlebt, zu verantworten hat. Der Zweiteiler endet mit einem Schrei, den er ausstößt, als eine Garde von Soldaten reaktionslos auf sein Gebrüll an ihm vorüberzieht. Der Schrei geht ins Standbild über; mit ihm materialisiert sich, was Fritz zuvor als „die Situation aller“ interpretiert hat. Bevor Fritz mit Eva ins Bett geht, stehen sie vor der Reproduktion eines modernen Gemäldes (Francis Bacons Studie nach einem Porträt von Papst Innozenz X1), die er ihr als „ziemlich genau unsere Situation“ beschreibend erklärt. Die Figur „schreit … aber wie hinter Glas“: „In einem wörtlichen Sinn findet der Schrei in beiden Fällen hinter Glas statt, nämlich hinter der Mattscheibe des Fernsehgeräts.“ (Naqvi 2010: 74) Demgegenüber steht, schon zu Hanekes Zeiten als Fernsehregisseur, das Kino als eine Art „Gegenöffentlichkeit“, als konkrete, versammelnde Öffentlichkeitspraxis. Nicht nur schickt Haneke seine Figuren ins Kino – eine Selbstreflexivität wie sie sich etwa in Caché, Die Klavierspielerin oder Amour vernehmen lässt –, er lässt sie auch für das Kino arbeiten (Code inconnu). Ob er den neuen Film von Ingmar Bergman – Die Jungfrauenquelle (1960) – schon gesehen habe, fragt Christian seinen Freund im ersten Teil von Lemminge. Hanekes 1983 für den Sender Freies Berlin (SFB) gedrehter Folgefilm Variation oder: „Dass es Utopien gibt, weiß ich selber“, den Haneke einmal als seinen „John-Cassavetes-Film“ bezeichnet hat – „weil bei allen Verletzungen, die jeder dem anderen zufügt, die Utopie der Liebe erhalten bleibt“2 –, geht bereits explizitere Wege: „Dem Schwinden eines öffentlichen Raums mit dem Potential die Gesellschaft zu verändern, wird eine neuartige ‚öffentliche‘ Intimsphäre entgegengesetzt.“ (Naqvi 2010: 74) Der Lehrer Georg (Udo Samel) und die Journalistin Anna (Elfriede Irrall) verlieben sich ineinander, allein Georg ist vermeintlich glücklich mit Eva (Monica Bleibtreu) verheiratet und Anna lebt in – wenn auch emotional diffiziler – Beziehung mit der Schauspielerin Kitty (Suzanne Geyer). Georgs Schwester Sigrid (Eva Linder), die mit dem Ehepaar gewissermaßen eine ménage à trois führt und entsprechend involviert ist, schneidet sich schließlich die Pulsadern in der Badewanne auf – und überlebt. „Weder ein selbstmörderisches Finale noch ein Happy End ist den Figuren beschieden. Das glückliche Ende der ersten Fassung des 1 2

Bacon ist Hanekes erklärter „Lieblingsmaler unter den Modernen“. Vgl. Krumpl, Doris. „Bilderliebe“. In: Dorotheum my ART MAGAZINE, April 2013, S. 28. Maurer, Lukas. „Variation“. In: 69. Katalog des Filmarchiv Austria zur Werkschau Michael Haneke, Oktober 2010, S. 37.

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Stückes wird zu Beginn den Zuschauern nur als Utopie einer wiederbelebten Intimsphäre angeboten.“ (Naqvi 2010: 83) – Die Rede ist von Goethes Drama Stella, aus dem Eva ihrem Mann nach dem Besuch einer Theatervorstellung eine Passage über das Liebesglück des Grafen mit seiner „Eroberung“ vorliest. Das gegen Ende des Films – zum Zweck eines „vernünftigen“ Miteinander-Redens – organisierte Treffen aller Beteiligten außer Sigrid, die sich von ihrem Suizidversuch erholt, wird Georg schließlich zu viel. Er verlässt jählings das Café und geht ins Kino: Woody Allens Stadtneurotiker (1977) ist angeschrieben. Doch Handlungs- und Wahrnehmungsachse sind nicht parallel, d.h. wir sehen nicht mit Georg und den Zuschauern den Film; die Frontalität ist bezeichnenderweise anders organisiert: wir finden uns anstelle der Leinwand wieder, als diejenigen, die die Zuschauer beim Zuschauen beobachten. Und: „Es bleibt uns vorbehalten, ob wir die Aufforderung annehmen wollen, dem Kollabieren der privaten und öffentlichen Sphären und der damit einhergehenden Auflösung der Intimsphäre entgegenzuwirken oder nicht. Genauso ist es an uns, ob wir den Blick erwidern, den die Zuseher im Film auf uns werfen.“ (Naqvi 2010: 95) Bereits 1984 setzt sich das Spiel fort, wenn Paulus Manker in Wer war Edgar Allan? im Drogenrausch als melancholisch-blasierter Kunststudent entschieden einsam durch ein nächtliches Venedig irrt, jenem Mann folgend, der sich im Café Florian als Edgar Allan vorgestellt hat und der eventuell am (unaufgeklärten) Mord der Marquise, der die beiden inhaltlich verbindet, beteiligt war. Die blau leuchtende Inskription des Cinemà Rossini, vor dem sich der Protagonist in einer Einstellung wiederfindet, ist ein Vorbote für das Ende des Films, bei dem sich die Kamera von der letzten Einstellung (sie zeigt im Schneetreiben eine Präfektur) distanziert. Die Einstellung am Bildschirm wird immer kleiner – wir sehen letztlich eine Kinoleinwand im Fernsehbild, als wären wir Zuschauer in einem Kinoraum. Aber auch der Film als solcher wird mit Qualitäten eines „großen Kinofilms“ (Ungerböck 2011: 23) bedacht – eine Auffassung, die der Regisseur teilt: Der Film sei von allen seinen Fernseharbeiten am ehesten ein „Kinofilm“, ein „Film über Film“ (Haneke/Omasta; Grissemann 1991: 199). Wer war Edgar Allan? lässt keine Zweifel aufkommen: „[…] wie er [Haneke; K.M.] die Kamera führen läßt, wie er den Ton dramaturgisch schneidet: Hier macht jemand Kino. Genauer, hier bringt jemand den Gegensatz Fernsehen/Kino zum Verschwinden. Das Thema der Vorlage: Was ist Wirklichkeit?“ (Bauermeister 1991: 183) Zudem waren „zahlreiche Männer der Abteilung Spezialeffekte aus Roms Cinecittà aufgeboten worden“ (Manker 1991: 150), um die Verfolgungsjagt durch ein strömend verregnetes Venedig entsprechend zu realisieren. Es ist ironischerweise das leitmotivisch eingesetzte Musikfragment Ennio Morricones, das einen tatsächlichen Kinostart des Streifens verhindert, denn die „Adaption“ von Peter Roseis gleichnamigem Kurz-Roman (das Drehbuch wurde von Haneke und Rosei unter dem Pseudonym Hans Broczyner verfasst) war 1985 zu den Berliner Filmfestspielen in der Sektion Panorama eingeladen. Mehrere Kinos wollten den Film – eine Auftragsarbeit (ORF und ZDF) – in ihr Programm aufnehmen, die Musikrechte galten jedoch nur für die Fernsehausstrahlung. Wolfgang Ainberger, Redakteur für Fernsehspiel beim ORF (er leitet ab 1985 die ORF-Reihe kunst-stücke), erinnert sich an die Reaktionen, die der deutschen Aufmerksamkeit gegenüber dem Film vorangegangen waren:

300 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE „Bei der Fernsehausstrahlung kaum Resonanz, nur der beifällig nickende Kreis einer kleinen Gruppe von Kennern. Eine verheerende Einschaltziffer, eine schlechte Infratest-Bewertung. Fernsehen ist ein Massenmedium, Filmkunst wird meist nur dann akzeptiert, wenn sie bereits durch vorangegangene Festivalbeteiligungen, Preise und Kinoauswertung mit Brief und Siegel als solche bestätigt wurde.“ (Ainberger 1991: 145)

Ainberger, der sich – über die Betreuung (Entwicklung, Produktion, Kofinanzierung und Förderung) von mehr als 600 Kino- und Fernsehprojekten – als Initiator des neuen österreichischen Films hervorgetan hat, hebt als damaliger „Komplize“ (Horwath 1991: 193) Hanekes vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten, die Venedig als einer „der begehrtesten und auch korruptesten Drehorte der Welt“ (die Mafia der örtlichen Aufnahmeleiter und Komparserievermittler habe durch unverschämte Forderungen eingegriffen) mit sich bringt, die „Zielstrebigkeit“ und „Beharrlichkeit“ des Regisseurs hervor, exemplarisch vorgeführt im Rückblick auf den Nachtdreh im schweinwerfer-ausgeleuchteten Café Florian: „Ein riesiger Art-Deco-Kleiderständer aus glänzendem Messing wird für nahezu eine Stunde zum Protagonisten. Dann stimmt der Platz, an dem er stehen darf, stimmen die Reflexionen des Lichtes im Metallgeflecht.“ (Ainberger 1991: 145) Das Kino im hanekeschen Universum ist, so wie auch der Kleiderständer, Protagonist, nur steht es dauerhafter im Zentrum der Achtsamkeit des Regisseurs: Es lässt sich die Inszenierung von Kino – als Raum, der thematisiert und/oder aufgesucht wird – vom TV-Frühwerk bis hinauf zu Amour nachvollziehen; die Wirkung dieses Raums auf den Menschen bleibt stets reflektiert und wir, die Zuschauer, sind Teil dieser Reflexion. Ob Zufluchtsort Arthouse-Kino (Caché) oder Bums-Alibi Autokino (Die Klavierspielerin), ob als Raum, als Dreh- und Reflexionsort oder als Betäubungs- und Distraktionsmaschine; der Regisseur zeigt uns Kino in sämtlichen Spielarten vor dem Hintergrund seiner so vielfältigen wie mächtigen Wirkungspotentiale.

28. K RITISCHES K INO VS . DER ALBERNE A LBERS UND SEIN FARBIGER B ARON VON M ÜNCHHAUSEN : F RAULEIN Haneke lässt uns mit anderen Worten zu einem Teil genau jener kritischen Öffentlichkeit werden, deren Relevanz er in seinem programmatischen Aufsatz „Schrecken und Utopie der Form“ 1995 mit Nachdruck vorführt. Haneke hat den Krieg vor Augen und mit Adorno das Verdikt, dass nach Auschwitz keine Poesie mehr möglich sei. Sein Text ist eine Auseinandersetzung mit der Bedingung und Möglichkeit eines kritischen Rezipienten angesichts einer Kunst, die auf allen Ebenen in einen Prozess der Selbstreflexivität eingetreten war – allein im Kino nicht (mit wenigen Ausnahmen freilich): „Die Illusion, Wirklichkeit wäre im Artefakt abbildbar und nicht immer nur eine Vereinbarung zwischen dem Künstler und seinem Rezipienten, war – seit Nietzsche in Zweifel gestellt – spätestens seit den inkommensurablen Greueln von Naziherrschaft, Holocaust und Weltkrieg für jeden obsolet geworden, der versuchte, sich in diesem Tätigkeitsfeld auch nur einigermaßen mit Bewußtsein zu bewegen. Das Verdikt, nach Auschwitz wäre kein Gedicht mehr möglich,

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steckte den Bewußtseinshorizont der Überlebenden und Nachgeborenen ebenso ab wie die Zurücknahme der Neunten Symphonie samt abendländischer Kultur in Thomas Manns Doktor Faustus. Im deutschen Sprachraum warfen sich die verstörten Erben der Schuld mit vom Schrecken geweiteten Augen auf die Selbstanalyse jener Wörter und Zeichen, die sich als so korrumpierbar erwiesen hatte, aber auch jenseits der Sprachgrenze hatte der Glaube an die Unverbrüchlichkeit des Bündnisses zwischen Kunst und Rezeption einen vernichtenden und gleichzeitig produktiven Stoß bekommen. Einzig das Kino, die teure, geldabhängigste Form artifizieller Kommunikation, verweigerte konsequent und erfolgreich jede reflexive Erneuerung. Die neuen Inhalte, Positionen oder vermeintlichen Erkenntnisse wurden in alten, längst desavouierten Formen präsentiert, und die angebliche Unterscheidung zwischen der sich in dreistem Selbstbewußtsein darstellenden Betäubungsschnulze rechter wie linker Provenienz vom sogenannten ‚progressiven Kunstfilm‘ blieb nichts als eine Selbstrechtfertigungsfarce der von der Filmindustrie lebenden Artisten und Interpretatoren. Für Inhalte und Sinnkrise einer zerborsteten Welt hatten im Dienste der Geldgeber Formen gefunden zu werden, die diese Inhalte verrieten, indem sie sie konsumierbar machten – anders würden sie nicht stattfinden. Natürlich wurden die Formen gefunden. Sie wurden verfeinert und akkumuliert, und über dieser Arbeit vergaß der Großteil der damit Beschäftigten, wozu sie überhaupt unternommen wurde.“ (Haneke 1995 [2010]: 186-187)

Auf Wer war Edgar Allan? folgt mit Fraulein (1985) eine Studie der deutschen Nachkriegszeit, die den Betrieb Kino als Handlungsort bespielt: Der Film setzt mit einem Bild von Hans Albers aus dem Film Münchhausen (1942) ein; Albers zieht darauf den Hut, die Kamera entfernt sich, ein Kino ist zu sehen – das Plakat über dem Eingang wirbt mit dem Schlagwort „Farbfilm“. Fraulein selbst (der Titel spielt mit der amerikanischen Aussprache des deutschen „Fräulein“) ist in Schwarzweiß gedreht. Farbig, nämlich rot, sind zunächst nur die Titelinserts: Fraulein – Ein deutsches Melodram. Von der deutschen Nachkriegsmythologie distanziert, entsteht er als „Gegenfilm“ zu jenen Elaboraten, die die deutsche Nachkriegsmentalität heroisiert hatten – „Mir lagen noch Fassbinders Die Ehe der Maria Braun und Lola als unverdaubare Verlogenheit im Magen“ (Haneke/Grissemann; Omasta 1991: 198). Johanna (Angelica Domröse) heißt die Protagonistin, sie ist die Besitzerin des Kinos, in der „man so etwas wie einen realistischeren Gegenentwurf zu der abenteuerlichen Phantasmagorie Hans Albers sehen [mag]“ (Omasta 1991: 186). Johannas Kleinstadtleben nach den Wirren des Krieges gestaltet sich einigermaßen „angenehm“ – mit ihren beiden Kindern und ihrem Liebhaber André (Lou Castel), einem französischen Besatzungssoldaten und leidenschaftlichen Ringkämpfer, hat sie es sich „bekömmlich“ eingerichtet. Bis ihr – für tot erklärter – Ehemann Hans (Peter Franke) völlig gebrochen aus der russischen Gefangenschaft zurückkehrt. Seine Rückkehr ist das schlagartige Ende ihrer Autonomie, sie markiert den Beginn des äußerlichen Aufbrechens einer dem Druck der gesellschaftlichen Veränderungen nicht standhaltenden Konstellation: die Familie zerbricht. Hans findet seine Frau in den Armen des ehemaligen Fremdarbeiters. Der nunmehr arbeitsunfähige Baumeister wendet sich fortan lethargisch der Konstruktion von Streichholzbauten zu, Sohn Mike wird des Schmuggels von Eigentum der Alliierten überführt und sprengt sich schließlich in die Luft, Tochter Brigitte heiratet nach Amerika. Johanna lebt weiter, zwischen Rendezvous im Stundenhotel mit André und dem Ehebett, das sie mit einem zunehmend verbitterten Hans teilt, dessen Sterben sie dann letztlich auch ein Ende bereiten wird.

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Bis sie die Infusionsschläuche kappt, konfrontiert das distanzierte Narrativ mit Auszügen aus der Adenauer-Ära, Eindrücken aus dem Taumel des Wirtschaftswunders: Für Mobilität sorgt das Cabrio, im Kino läuft die Wochenschau von der Hochzeit Grace Kellys in Monaco, die Tochter schickt eine Postkarte von der Freiheitsstatue. Der Mord am komanahen Ehemann ist ein Schlussbild, ein anderes ist – die Symbolik legt es nahe – nicht weniger tragisch: Haneke zeigt schließlich die Demontage des Kinos und damit das Ende desjenigen Ortes, der Johannas vielleicht einzige projektive Verbindung zum Glück war. Johanna, die nach zähem Erdulden von Psychoterror und Isolation den Spieß umgedreht hat, ist jetzt femme fatale und folgt André, der ohne sich zu verabschieden zurück in sein bretonisches Heimatdorf gezogen war. Mit filmhistorischen Worten: „Eine Postkarte des Geliebten weist Johanna den Weg, jenen der Selbstsucht, den die weiblichen Stars des deutschen Nachkriegsfilms – mit der seltenen und deshalb so skandalösen Ausnahme von Hildegard Knef – nie gehen durften.“ Schließlich reicht die „Reihe der Frauen, die während der letzten vierzig Jahre der Moral im Kino geopfert wurden, […] von Maria Schell bis hin zu Fassbinders Maria Braun“ (Omasta 1991: 189). Ein Happy-End jedoch wird das nicht, denn auch wenn André Johanna in einem Café eröffnen wird, dass er es ihr gleichgetan und seine Ehefrau ermordet habe, gibt Haneke der Freiheitsdeklaration des Franzosen Konter: das Bild schlägt um in Farbe. Auf einem Fernsehbildschirm im Café zeigt sich abermals der Baron Münchhausen. Er durchschießt die Halterung seines Ballons und steigt auf in den nächtlich-blauen Studiosternhimmel. Johanna lacht. Fazit: „Der Krieg ist vorbei, aber das macht wenig Unterschied.“ (Omasta 1991: 189)

27. N ACHKRIEGSGENERATION VIA K ULTURNATION ÜBER „P ROTOFASCHISMUS “ – DIE W IEDERKEHR EINES IKONISCHEN E SELS UND DAS U NERREICHBARE : D IE R EBELLION UND D AS S CHLOSS Als Vertreter der Nachkriegsgeneration ist Haneke notgedrungen Träger des in Lemminge ausgestellten Erlebens – „Wenig Nostalgisches, mehr die dunklen Seiten: Verzweiflung, Einsamkeit, Selbstmord“ (Ainberger 1991: 141). Der Krieg und seine Wirksamkeiten im emotionalen Gefüge des Menschen wüten durch Hanekes Werk bis hinein in die fiktionalen Exponate der jüngsten Gegenwart. Sie sind integraler Bestandteil des hanekeschen Zuschauersensibilisierungsprogramms und gleichzeitig Motoren jener mitunter sehr allgemeinen oder abstrakten Zivilisationskritik, vor der Hanekes Werk als durch strukturelle Ähnlichkeiten bedingte „Zusammenführung von Nazismus, Erster wie Zweiter Republik und Europäischer Union“ (Naqvi 2010: 56) lesbar wird. Der in der Mehrheit seiner Filme sich andeutende, „sehr komplexe und kaum eindeutige Protofaschismus“ (Naqvi 2010: 58) korreliert dabei mit einem in akademischen und feuilletonistischen Debatten ausgetragenen interdisziplinären Diskurs um Erinnerung, Vergessen und Trauma, der sich Mitte der 1990er Jahre einem ersten Höhepunkt nähert. (Naqvi 2010: 55) Seinen vorläufig vorletzten Film fürs Fernsehen, der gerade in diesen Zeitraum fällt, dreht Haneke als er – auch nach außen hin – bereits etablierter Cineast ist. Um Geld zu verdienen, wie er in Zeitungsinterviews mehrfach einräumt. Die Rebellion

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(1993), konzipiert nach der gleichnamigen literarischen Vorlage von Joseph Roth, erzählt, sehr lyrisch, die Geschichte eines ehemaligen Soldaten der K.u.K.- Monarchie. Der Krieg als Vorbote ist dem Film vermittels alter Dokumentaraufzeichnungen einmontiert und bildet quasi den historischen Rahmen. „Unsere Väter“, so Haneke in einem Interview, „waren mit ihren Idealen entweder aus dem Krieg gar nicht mehr zurückgekommen, oder sie hatten danach den Zusammenbruch ihrer Welt sehr schnell wieder verdrängen müssen, um weiterleben zu können. Das heißt, sie mußten, um überhaupt ihr Leben mit aufrechtem Gang weiterführen zu können, mitten im 20. Jahrhundert vor sich und den anderen so tun, als wäre das 19. nie zu Ende gegangen, als wären Gott, Kaiser und Vaterland immer noch am Leben, nur halt eben unter Pseudonym.“ (Haneke/Naqvi 2010: 56)

Der Protagonist der Rebellion ist gewissermaßen die fiktionale Bestätigung der Beobachtung vom Untergang der Monarchie und ihrem Fortleben im Geiste des Menschen. Ins Nachkriegswien entlassen – man hat ihm im Krieg ein Bein amputiert –, „belohnt“ man den gutwilligen, in seiner Staatsgläubigkeit unerschütterten Andreas Pum (Branko Samarovski) mit einer Drehorgellizenz. Im Versuch, sich strukturell einzugliedern, ehelicht er eine zunächst bedürftig anmutende Witwe (Judit Pogány). Mit seiner versehrten Befindlichkeit hält er zurück, die Invalidität ist ihm keine Ausrede. Seine physischen Leiden – die gar als Aufstand und Opposition, als „Heidentum“ begriffen werden könnten – unterdrückt er in einer Stummheit, die jener des Esels, den er sich anschaffen wird, gleichkommt. Äußerlich ist Andreas ein Monarchie-treues Relikt, in seiner dekorativen Uniform erinnert er an den verstobenen Kaiser Franz Joseph. (Mit dem einmontierten Trauerzug zu dessen Ehren vor dem Wiener Stephansdom unter Begleitung der österreichischen Kaiserhymne hatte der Film eingesetzt.) Allen braven Bemühens und aller Selbstbeherrschung zuwider wird Andreas schließlich die menschenverachtende Dummheit und Willkür der Staatsgewalt zum Verhängnis. Noch ehe sich der in ungebrochener Demut und Untertänigkeit agierende Mann tatsächlich im neuen Leben einfinden kann, bringen ihn die selbstherrliche Polizei und Obrigkeit aus einem Missverständnis heraus zunächst in Bedrängnis, schließlich ins Gefängnis. Zur Gerichtsverhandlung, auf die sich Andreas so sorgfältig vorbereitet hatte, um seine Unschuld zu beteuern, konnte er gar nicht erst erscheinen, weil er zur Polizei bestellt war, die sich auf den Hinweis des Termins bei Gericht hin indifferent verhalten hatte. Seine Frau, die sich als selbstsüchtig und unrühmlich herausstellt, verliert er. „Wenn Sie krank im Gehirn sind, müssen Sie sich beim Herrn Doktor melden“, merkt der Gefängniswärter an, als Andreas um eine Leiter bittet, damit er die Vögel an seinem Zellenfenster füttern kann. Er solle vom Fenster zurücktreten und sich nicht lächerlich machen, „der Herrgott sorgt schon für die Vögel – essen Sie lieber das teure Brot allein“. Ob er sich sicher sei, dass Gott für die Vögel sorge, erwidert Andreas so skeptisch wie resigniert. Der Wärter rät ihm schließlich zu einem Gesuch beim Direktor. Andreas verfasst sein Ansuchen um Bewilligung. Es wird abgelehnt. Udo Samels ruhige und sanfte Erzählstimme kommentiert den am Boden sitzenden Andreas, der zum Fenster hinaufblickt und die Schattensilhouetten der Vögel, die durch die Reflexion des Fensters an der Mauer hindurch ziehen, wahrnimmt:

304 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE „Die Spatzen kamen jeden Tag in ganzen Massen vor das Zellenfenster, als wollten sie Andreas an sein Versprechen erinnern. Das tat ihm weh. Er sah hinauf und betrachtete schmerzlich die lärmenden kleinen Wesen. Er hielt stumme Ansprachen und sein Herz redete zu den Tieren ohne dass sich seine Lippen bewegten. ‚Meine kleinen lieben Vögel, lange Jahrzehnte war ich euch fremd. Wohl hört ich euch zwitschern, aber mir war es gleich wie das Summen der Hummeln. Ich wusste nicht, dass ihr Hunger haben könntet. Ich wusste kaum, dass Menschen, also meinesgleichen, Hunger haben. Ich wusste kaum, was der Schmerz ist, obwohl ich im Krieg war und ein Bein verlor. Ich war vielleicht kein Mensch. Oder ich war krank am schlafenden Herzen. Denn so etwas gibt es. Das Herz hält einen langen Schlaf. Es tickt und tackt, aber sonst ist es wie tot. Kleine Vögel, seid nicht böse! Seht, ich wollte euch von meinem Brot geben, aber die Ordnung verbietet es. So nennen die Menschen den ‚Kerker‘. Wisst ihr, was Ordnung ist, kleine Vögel?‘“

Aus der Haft entlassen und entsprechend früh gealterten Antlitzes beschließt Andreas seine Tage als Klo-Mann im Café Halali, wo er letztendlich zusammenbricht und kurz vor seinem Tod die Gerichtsverhandlung halluziniert: „Andreas erinnert sich an die Rede, die er für die Verhandlung präpariert hatte. Ein starker Zorn wuchs in ihm. Sein Angesicht flammte und seine Seele gebar zornige, purpurne Worte. Tief in ihm hatten sie geschlafen, gebändigt von dem armseligen Verstand, verkümmert unter der grausamen Hülle seines Lebens. Jetzt fielen sie von ihm ab, wie Blüten von einem Baum. ‚Wenn ich nicht vor dir stünde, Gott, würde ich dich leugnen. Aber da ich dich mit meinen Augen sehe und mit meinen Ohren höre, muss ich böseres tun, als dich leugnen: Ich muss dich schmähen. Millionen meinesgleichen zeugst du in deiner fruchtbaren Sinnlosigkeit. Sie leiden Schläge in deinem Namen, sie hungern und schweigen, ihre Kinder verdorren, ihre Füße verwickeln sich im Gestrüpp deiner Gebote. Sie fallen und flehen zu dir und du hebst sie nicht auf. Andere, die du liebst und nährst, dürfen uns züchtigen. Ihnen erlässt du Rechtschaffenheit und Demut, damit sie uns betrügen. Du aber bist vorhanden und rührst dich nicht. Gegen dich rebelliere ich, nicht gegen jene. Müssen wir leiden? Weshalb leiden wir nicht alle gleich? Hast du Millionen Welten und weißt dir keinen Rat? Was bist du für ein Gott? Ich bin ein Sünder und wollte Gutes tun. Weshalb ließest du mich die kleinen Vögel nicht füttern? Nährst du sie selbst, dann nährst du sie schlecht. Ich wollte, ich könnte dich leugnen. Aber du bist da. Allmächtig, unerbittlich, ewig. Und es ist keine Hoffnung, dass dich Strafe trifft, dass dich der Tod zu einer Wolke zerbläst, dass dein Herz erwacht. Ich will deine Gnade nicht! Schick mich in die Hölle!‘ Da hob der Richter die Hand und fragte: Willst du ein Diener im Museum sein? Oder Richter im grünen Park? Oder einen kleinen Tabakverschleiß an der Straßenecke haben?“

Die Rebellion des in seiner Ehrfurcht betrogenen Mannes bleibt eine innere, für die Außenwelt unvernehmliche. „In die Hölle!“, ist alles, was der am Boden sich windende Andreas noch hervorbringt. In einer surrealistischen Schlusssequenz, untermalt von der Drehorgelmelodie der Kaiserhymne, erscheint ihm schließlich, vor dem steril-weißen Hintergrund des Toilettenareals, der Esel. Dieser trägt, dem bressonschen Lastentier gleich, aufgeschnallt die Drehorgel. – Ein ikonisches Zitat, zu dem sich Haneke freilich gern bekennt. (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 117)

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Vier Jahre später dreht Haneke abermals im Auftrag des Fernsehens, denn „er musste ja auch von etwas leben – vom Spielfilm allein konnte er nicht leben“3, wie sich Heiduschka erinnert. Nach Drei Wege zum See und Die Rebellion fällt Hanekes Wahl zum dritten Mal auf eine literarische Vorlage, die den Untergang der Monarchie und ihr strukturelles Fortleben im Handeln des Menschen thematisiert. In Franz Kafkas Literatur findet Haneke einen erkenntnistheoretisch adäquaten Ansatz: Kafka, mit dem das Fragmentarische und Bruchstückhafte als „unvermeidbare Grundbedingung von Realitätsaneignung“4 gegeben ist, ist auch in pragmatischer Hinsicht ein Glücksfall, schließlich waren die Verlagsrechte unlängst erst ausgelaufen. Haneke schlägt Heiduschka vor, Das Schloss (1996) zu drehen: „Es laufen die Vertragsrechte für Kafka aus, da könnten wir eigentlich Das Schloss machen, da müssen wir nichts bezahlen.“5 Der mit 25,3 Millionen Schilling bemessene Film wird – mit finanzierungsbedingten Anlaufschwierigkeiten – als Fernsehproduktion realisiert: Der ORF hatte Heiduschka zunächst eine Übernahme von 75 Prozent der Kosten zugesichert, als Heiduschka daraufhin über Redakteur Hubert von Spreti den Bayrischen Rundfunk (BR) ins Boot holt und auf die obligatorischen 100 Prozent kommt, korrigiert der ORF seine Zusage auf 50 Prozent. Heiduschka konsultiert Gerhard Schedl vom Österreichischen Filmförderungsfonds – die Filmförderung konnte zum damaligen Zeitpunkt auch Fernsehspiele fördern –, über Schedl erhält die Wega Film schließlich die Restfinanzierung. Der Film ist schließlich zu den Filmfestspielen von Berlin eingeladen, wo man ihn im Rahmen einer Sondervorführung zeigt. Heiduschka erinnert sich an Hanekes Reaktion vor Ort: „Der Film ist zu lang. Das zieht sich.“6 – Der auf 25 Bildern gedrehte Streifen wird – damals kinoüblich – mit 24 vorgeführt, die Bildwechselfrequenz soll das Empfinden des Regisseurs beträchtlich gestört haben. Nachdem der Film in Berlin gut angekommen war, kommt schließlich der Filmladen mit der Idee, Das Schloss im Vorfeld der Fernsehausstrahlung im Kino zu zeigen. Gesagt, getan: der ORF hat keine Einwände und der Film läuft, „erfolgreich für damalige Verhältnisse“, im Kino.7 Das Schloss ist der bislang einzige im Handel auf DVD erhältliche Fernsehfilm Hanekes. Die Geschichte vom Landvermesser K. (Ulrich Mühe), der nicht in das über seinem entlegenen Aufenthaltsdorf gelegene Schloss gelangt, um dort seine neue Dienststelle anzutreten – sein zunehmend beharrliches Bemühen rückt das Ziel in immer weitere Ferne – scheint als Herausforderung wie für Haneke gemacht: Die Konzeption des maßgeblichen Problems der Bürokratie als eine Größe, die sich per se jeglicher Konzeption verwehrt, wird ihm zum „veritablen Kampf“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 120).

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Gespräch mit Veit Heiduschka vom 16.01.2013 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller. Haneke, Michael. „Notizen zum Film“. In: StadtkinoProgramm, Nr. 255, Stadtkino Wien, 1994. Redaktion: Franz Schwarz. Gespräch mit Veit Heiduschka vom 16.01.2013 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller. Ebd. Informationen von Veit Heiduschka. Interview Katharina Müller, 16.01.2013.

306 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE „We all believe that we know a bureaucracy when we see one, [...] but how can one see a bureaucracy? Isn’t the point of bureaucracy that it can never be seen, that the logic of bureaucracy must never be revealed? How, then, might something that is meant to be suppressed – that cannot function unless its organizing logic is secreted – be rendered in visual terms?“ (Price 2010: 301)

Die Schwierigkeit, folgt man Haneke, lag jedoch vielmehr in der Konzeption des – weitgehend wortgetreu an Kafkas unabgeschlossenes Textfragment angelehnten – Drehbuchs, das vor allem die Problematik der Eingrenzung auf Fernsehspiellänge stellt: „que faut il conserver à tout prix, que peut-on éliminer ? On doit réduire l’histoire à l’essentiel. Mais, chez Kafka, où tout est essentiel, c’est encore plus compliqué.“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 120) Die Besetzung der Hauptrolle durch Ulrich Mühe ist von Anfang an klar, die Rolle der Kellnerin Frieda übernimmt die mit ihm liierte Susanne Lothar – jenes Paar, das wenig später in Funny Games brillieren wird. Auch die Mehrzahl der Nebenrollen ist mit deutschen Schauspielern besetzt – darunter Frank Giering als Artur, Felix Eitner als Jeremias, André Eisermann als Barnabas, Dörte Lyssewski als Olga und Norbert Schwientek als Bürgel –, ein wie immer groß angelegtes Casting im Vorfeld hatte Haneke in Bedrängnis gebracht. Heiduschka erinnert sich: „Er konnte die österreichischen Schauspieler nicht verwenden, weil die die Texte von Kafka gar nicht sprechen können. Sag ich: ‚Michael, heißt das, du brauchst deutsche Schauspieler? Sag, weißt du, was das kostet? – Flüge, Aufenthalt, Gagen …‘ Dann hat er mir die unzähligen Aufnahmen von den Castings gezeigt und ich habe festgestellt, er hatte Recht. Die österreichischen Schauspieler konnten mit ihrer weichen Sprache, mit ihrem ‚Dialekt‘ den Kafka nicht sprechen. Die deutschen Schauspieler konnten das.“8

Es ist nicht die erste Schloss-Adaption. Der vor allem als Theaterregisseur bekannte Rudolf Noelte hatte sich 1968 schon an dem Stoff versucht und die Hauptrolle mit Maximilian Schell besetzt. Noelte jedoch hatte, so Haneke, zu viel gezeigt: „Noelte [...] ne connaissait rien au cinéma. Et, dans cette adaptation, il a multiplié les erreurs, comme montrer le château.“ (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 120) Das Schloss bei Haneke bleibt die Metapher, die es in Kafkas Roman ist; der Film widersetzt sich den gängigen Fernsehgesetzen, stärker als in seinen anderen Literaturverfilmungen arbeitet Haneke über die Dehnung von Zeit, indem er eine Dopplung von Bild und der – wortgetreuen – Erzählung (Stimme: abermals Udo Samel) macht. Der Film endet mit Bildern des mit seinem neuen Arbeitgeber Gerstäcker (Wolfram Berger) durch den Schneesturm stapfenden K. und bricht – wie auch Kafkas Romanfragment – mit dem Bericht des Erzählers aus der Stube von Gerstäckers Mutter ab: „Sie reichte K. die zitternde Hand und ließ ihn neben sich niedersetzen, mühselig sprach sie, man hatte Mühe, sie zu verstehen, aber was sie sagte –“ Vor dem Hintergrund bzw. hinter dem Vordergrund der „einfach“ gehaltenen, häufig spärlich ausgeleuchteten Bilder, gewinnen die vom Erzähler vorgelesenen Worte an Kraft und reichern das Narrativ um eine beträchtliche Bildmultiplikation an. Hinter der „Einfachheit“ der 8

Gespräch mit Veit Heiduschka vom 16.01.2013 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller.

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Bilder, die einen zunehmend ohnmächtigen K. etwa durch den Schneesturm schikken, steckt jedoch einiges an produktionstechnischem Aufwand: „Wir haben hier bei uns im Hof der Wega alles, was es an künstlichem Schnee gibt ausprobiert, weil Sie müssen einen künstlichen Schnee haben, der auch abbaubar ist, d.h. das Beste ist natürlich Eiweiß. Das Problem dabei ist nur, wenn dieser Schnee auf die Haut kommt, schmilzt er nicht, sondern er bleibt stecken. Und die Perfektion von Haneke verlangt natürlich, dass der Schnee auch schmilzt … Wir haben also gezittert und dann das Glück gehabt, dass es etwa drei Tage vor Drehbeginn im Osten Österreichs zu schneien angefangen hat. In Linz gab es keinen Schnee, aber im Waldviertel und im Weinviertel und in Wien und Umgebung. Und wir haben mit der Straßenbaumeisterei damals ein Gentlemen’s-Agreement abgeschlossen: die haben ein Schneelager angelegt, mit dem Schnee von den Autobahnen und Straßen und dann sind jeden Tag zwei LKW-Züge von Neulengbach in das Dorf gefahren und haben Schnee geliefert. Und wir hatten das Glück, dass es über 20 Grad minus hatte und dadurch blieb der Schnee kristallin, ist nicht geschmolzen und wurde auch nicht matschig. Und wir hatten eine Fahrt von ich glaube 250 Metern, wo der Hauptheld mit seinen beiden Gesellen durch den Schneesturm gehen muss und da haben wir – so viele Windmaschinen gab es gar nicht in Österreich – Windmaschinen aus Deutschland kommen lassen. Alle zehn bis 15 Meter stand eine Windmaschine, dann ein kleiner LKW, der oben eine Windmaschine hatte, die angeschlossen war. Und dann haben die während des Fahrens immer Schnee in die Windmaschine geschaufelt, sodass die Schneesturm hatten und diese 250 Meter durch den Schneesturm simulieren und machen konnten. Und ich kann mich noch erinnern, ich kam hin, an einem Abend und da stand auf freiem Feld eine Waschmaschine und ich denke mir: Was machen die auf freiem Feld mit der Waschmaschine, mit dem Elektrokabel angeschlossen? Was waschen die hier bei minus 20 Grad? Die Szene wurde mehrfach gedreht und die Schauspieler haben mir leid getan, weil die kriegten das alles bei minus 20 Grad ins Gesicht. Ulrich Mühe hat keinen Ton gesagt, der war überhaupt fantastisch. Und dann war Drehschluss – ‚Klappe, aus!‘ – und unsere Maskenbildner stürzten zur Waschmaschine und holten Handtücher raus, die dort gewärmt worden sind, und legten jedem Schauspieler ein warmes Handtuch über den Kopf. Das war die Waschmaschine auf freiem Feld im Schnee ... [lacht]“9

Mit Joseph Roth und Franz Kafka bedient sich Haneke zweier Literaten, die nicht nur zu den bedeutendsten kanonischen Schriftstellern einer zentraleuropäischen Region, die das österreichisch-ungarische Reich war, zählen, beide Filme stehen gleichzeitig auch im Zusammenhang der „Kulturnation Österreich“: „Both Roth and Kafka were Jewish, both wrote in German, and both have become emblematic of the Austrian Kulturnation (cultural nation), an entity whose imaginary and political borders were much larger before World War I than they were after.“ (Rebhandl 2010: 202)

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Ebd.

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26. F ERNSEHKRITIK IM F ERNSEHEN : N ACHRUF FÜR EINEN M ÖRDER UND DEM L UMIÈRE -K INEMATOGRAPHEN

EIN I NTERMEZZO MIT

Hanekes Fernseharbeiten, entstanden noch vor der etablierten Existenz eines Privatfernsehens, sind folglich im weiteren Sinne das Produkt eines homogenen Mediensystems, eines konkurrenzlosen öffentlichen Rundfunks nämlich: der ORF hatte bis in die Mitte der 1990er Jahre eine Monopolstellung und auch die deutschen Sendeanstalten, in deren Auftrag Haneke gearbeitet hatte, waren Anstalten des öffentlichen Rechts. Man zählte in diesem Gefilde auf ein Unterhaltungsprogramm so sehr wie auf einen Bildungsauftrag, zu dessen Erfüllung die sogenannte „Literaturverfilmung“ eine bereitwillig bediente Form gewesen war. Zudem gab es zum damaligen Zeitpunkt für Künstler noch Schienen der Etablierung, wie sie angesichts der Fülle von Privatsendern heute nicht mehr denkbar wären. Zu den prominenteren dieser Entdekkungsformate zählen die kunst-stücke. Die zwischen 1981 und 2002 wöchentlich ausgestrahlte, mehrstündige Kultursendung des ORF hatte sich als ein nächtliches Forum für unkonventionellere Film- und Fernsehprojekte einen Namen gemacht – als Initiatorin, Auftraggeberin und Unterstützerin insbesondere. In dieser Sendung wird Haneke 1991 seine TV-Collage Nachruf für einen Mörder (1991) präsentieren und üben, was in dieser Vehemenz kaum je sich wiederholt hat: Fernsehkritik im Fernsehen. In kaum einem anderen Haneke-Film steht die Dialektik von Bild und Ton so explizit infrage wie in diesem Kunststück. Ausgangspunkt war der Amoklauf eines 21-jährigen Wieners, der am 8. September 1990 auf seine schlafenden Eltern geschossen, anschließend auf einer Party benachbarter Freunde vier Personen getötet und mehrere andere verletzt und zwei Polizisten niedergestreckt hatte, um sich schließlich selbst zu töten. Kurz darauf fand im zweiten Programm des ORF eine Club-2-Diskussionssendung mit dem Thema „Töten statt reden – Über den jugendlichen Gewaltrausch“ statt. Ein an den Grenzen seiner Eloquenz balancierender Josef Broukal empfängt als Gastgeber Menschen, die in Relation zu Tat und Thema stehen: Ein Bekannter des Täters, eine Volkschullehrerin, ein junger Waffengeschäftsinhaber, eine Fürsorgerin, ein Kriminalbeamter, ein Psychiater und in Begleitung eine junge Frau, deren Bruder bei der Party ums Leben gekommen war, formen die Gesprächsrunde, die das Unerklärliche zu erklären sucht. Haneke nimmt (nach einem kurzen visuellen Intro) fast ausschließlich die Tonspur der Sendung als Basis für seinen experimentellen Film. Die Bilder, die er zeigt, sind ganz andere: Nachruf für einen Mörder ist eine redundante Collage sämtlicher, in den beiden Programmen des ORF (SF1 und SF2) ausgestrahlten Fernsehsendungen dieses einen Tages – „Länge, Position und Häufigkeit der Sendungsteile in der Collage entsprechen proportional exakt der Länge, Position und Häufigkeit ihres Vorkommens im Tagesprogramm“, wie es der instruktive Vorspann ankündigt. Vor dem akustischen Hintergrund einer um Reflexion bemühten und nach Worten ringenden Gesprächsrunde steht also ein „gewöhnliches“ Tagesprogramm und mit diesem alles, was sich zwischen Drei Damen vom Grill und Cornflakes-Werbung imaginieren lässt: Schlager, Action à la Knight Rider, Nachrichten, sämtliche Werbe- und Musikclips, Sport, Comedy. – Ein nüchterner Kommentar zur medialen Auseinandersetzung mit dem Fall, überformt

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durch den Bilderkreislauf der Unterhaltungskultur. Das österreichische Bundesministerium für Unterricht und Kunst verleiht Haneke dafür eine Sonderauszeichnung. Fünf Jahre später dreht Haneke ein weiteres Fernsehstück Film, ein Kinofernsehstück, um es genauer zu treffen: Das Kinomuseum Lyon (Institut Lumière) lädt anlässlich des hundertjährigen Bestehens von Kino 1996 unter der Regie von Sarah Moon 40 international renommierte Regisseure zu einem transnationalen Filmprojekt ein – Lumière et Compagnie (1996), so der Titel der Hommage an das Kino. Vorgabe ist es, mit dem alten Lumière-Kinematographen zu drehen. Sarah Moon zeigt die Kandidaten beim Umgang mit der Reliquie, die vor drei Spielregeln stellt: Jeder hat nur eine Einstellung von 52 Sekunden – die maximale Länge der ganz frühen Filme –, muss ohne Synchronton auskommen und hat nicht mehr als drei Versuche. Der Film zeigt schließlich Filme von Starregisseuren wie Costa-Gavras, Raymond Depardon, Peter Greenaway, Abbas Kiarostami, Spike Lee, Claude Lelouch, David Lynch, Claude Miller, Jacques Rivette, Nadine Trintignant, Wim Wenders und anderen. Und während Patrice Leconte 100 Jahre später noch einmal die historische lumièresche Arrivée d’un train en gare de La Ciotat (1895) nachstellt – ein moderner Zug rauscht nunmehr am hölzernen Drehkasten vorbei –, zeigt Haneke einen „Ausschnitt aus den TV-Nachrichten vom 19. März 1995, dem Jahrestag, an dem sich die Kurbel zum ersten Mal drehte, am 19. März 1895“. In 52 Sekunden flimmern RTLAktuell, Kriegs- und Atomreportagen, ein Staatsbesuch der Queen, ein Bandauftritt, Schisport, Eishockey und Fußball im ORF und schließlich das Wetter vorüber. Die Montage des Gefilmten hatte er schon zuvor vorgenommen. Ob das Kino vergänglich sei, fragt die Regie den Regisseur, nachdem sie ihn beim Einspannen des Films und an der Kurbel gezeigt hatte. – „Bien sûr, comme tout“, antwortet Haneke nachdenklich. Eine Ausgabe der kunst-stücke bringt den Film im Zuge eines Themenabends zu den Gebrüdern Louis und Auguste Lumière, den Erfindern des Kinos, am 16. April 1996. – Zu einer für die Ausstrahlung von Kunst und Kultur durchaus üblichen Sendezeit, eine knappe Stunde vor Mitternacht. Zu sehen ist dabei jedenfalls ein weiteres Stück medialer Selbstreflexivität und, will man es der historischen Ordnung halber betonen, letztlich nicht weniger als Hanekes allererster Film „d’initiative française“ ...

25. D REHBUCH UND D IALOGE : M ICHAEL H ANEKE , EIN D RAMATURG UND DIE V ERHEISSUNG VON T RANSZENDENZ . D ER K OPF DES M OHREN UND S CHMUTZ Als im buchstäblichsten Sinn „federführend“ steht der Name Haneke schließlich auch in den Inserts zweier Regiearbeiten Paulus Mankers: Zunächst als Dialogschreiber für Schmutz (1987) und schließlich als Drehbuchautor für Der Kopf des Mohren (1995). Es ist Mankers erster, gemeinsam mit Franz Novotny konzipierter Film, für den Haneke Dramaturgie und Dialoge übernimmt. „Es ist mein Eigentum. Mein Eigentum. Sagen Sie sich das immer wieder. Hüten Sie das Ihnen Anvertraute als ob es das Ihre wäre, dann werden Sie ein verlässlicher Hüter sein. Eines muss Ihnen klar sein: Sie sind die Stellvertreter des Eigentümers, Sie haben seine Interessen. Wir

310 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE sind die Stellvertreter des Eigentums. Verantwortung ist unser Beruf. Denken Sie daran: Was immer Ihr Gegenüber tut – sei er Eindringling oder Verirrter, Kind oder Verbrecher: Er ist im Unrecht. Er hat nicht zu sein, wenn Sie ihm gegenüberstehen. Wie nennen die Völker der Welt einen Eindringling in ihr Territorium? – Feind, richtig. Feind. Nehmen Sie sich Ihren Kollegen zum Vorbild: Er hat Erfahrung und weiß, worauf es ankommt. Sehen Sie, er lächelt. Lächeln Sie! Lächeln ist für Sie die einzige Möglichkeit, wie Sie Ihrem Gegner die Zähne zeigen dürfen. Die Grenze Ihres Lächelns ist erst dort erreicht, wo Ihre Höflichkeit keinen Widerhall findet. Dann beginnt der Augenblick der Wahrheit.“

Für den Wach- und Schließbeamten Joseph Schmutz (Fritz Schediwy), dessen Kollegen sein Chef (Hans-Michael Rehberg) hier an seinem Vorbild instruiert, beginnt dieser Augenblick als er das ihm anvertraute Territorium schwinden sieht. Der Kollege (Siggi Schwientek) hat sich über Damenbesuche und Alkoholexzesse am Arbeitsplatz längst disqualifiziert, als Schmutz sich von dem immensen, verlassenen Fabrikgebäudekomplex, mit dessen Beaufsichtigung er vom Chef schließlich allein betraut war, trennen muss. Der Kunde hat den Auftrag zurückgenommen, Mission beendet. Schmutz, seinem sachdienlichen Pflichtbewusstsein stets ergeben, verliert die Fassung. Er verweigert den Gehorsam, bleibt am Gelände und kümmert sich fortan monomanisch um „die Ordnung“. Am Ende kennt er nur mehr Feinde und geht dabei über Leichen: Ein Kind und ein Sprengbeauftragter werden an seine Pflichterfüllungsphantasmen glauben müssen, ehe er sich in einem fulminant expressionistischen Finale selbst opfert. Der Protagonist mit seinem metaphorisch so bezeichnenden Namen verendet in einem Schrei, einem liturgischen Inferno. Die Geschichte vom treuen Beamten mit dem so stilisierten Sauberkeitsfetisch, der schlagartig ins Psychopathische abdriftet, geht in die österreichische Filmgeschichte in den „Angriff auf die Ordnung“-Kanon ein. – Ein Metaangriff des Regisseurs, denn im Film hat sich „der Angriff auf die Ordnung pervertiert, er trägt totalitäre Züge“ (Büttner; Dewald 1997: 169). Der Film ist, wie Gustav Ernst betont, „eine Auseinandersetzung mit Faschismus, aber nicht nur mit dem alten Faschismus, sondern mit aktuellen Tendenzen“ (Ernst/Büttner; Dewald 1997: 218). Das Drehbuch für Der Kopf des Mohren hatte Haneke bereits vor Umsetzung des Siebenten Kontinents für den Sender Freies Berlin verfasst, der ihn letztlich jedoch nicht produziert. Nachdem Haneke den Film mit Klaus Maria Brandauer schließlich als Kinoproduktion durchsetzen wollte, das nötige Geld dazu jedoch nicht aufgestellt werden konnte, schlägt Manker vor, es ihm abzukaufen. Und das geschieht. Manker dreht, im Rekurs auf eine ganze Reihe von Hanekes Mitarbeitern (Produzent Veit Heiduschka, Cutterin Marie Homolková, Kameramann Walter Kindler sowie als Darstellerinnen Angela Winkler und Leni Tanzer), einen Film, zu dessen Niederschrift Haneke von einem Zeitungsartikel inspiriert gewesen war. (Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 164-167) Manker besetzt die Hauptrolle mit Gert Voss. Georg ist Diplomphysiker in Führungsposition in einer erfolgreichen Firma, seine älteste Tochter Eva (Oana Solomonescu) ist bereits aus dem Haus und gemeinsam mit seiner Frau Anna (Angela Winkler) und den beiden kleineren Kindern (Leni Tanzer und Manuel Löffler) erfreut er sich an einem kürzlich erworbenen, großzügigen Grundstück, auf dem ein Haus entstehen soll. Von der Wand des Nachbargebäudes, das zunehmend vom entstehenden Neubau verdeckt wird, ragt ein aufgemalter Mohrenkopf:

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„das Relikt einer alten Reklame, zu der es kein aktuelles Produkt mehr gibt, sodass der Kopf ein bloßes Störsignal geworden ist, eine Irritation, die unbewusst weiterwirkt und auf das Fremde, das ganz Andere verweist, das häufig unerreichbar am Horizont der Filme von Michael Haneke auszunehmen ist.“10

Irritiert zunächst durch einen Giftgasunfall im 23. Wiener Gemeindebezirk, quälen Georg zunehmend Ängste vor der Außenwelt. Er verfällt einem inneren System von Bedrohungsszenarien, seine Vorstellungswelt isoliert ihn allmählich: in einem Spiegel des Büros meint er seinen Kollegen als verätztes Giftgasopfer zu sehen. Das im Bau sich befindliche Grundstück verkauft er auf eigene Faust, um Anna schließlich ein altes, in aller Abgeschiedenheit stehendes Bauernhaus zu präsentieren. Die konsternierte Gattin rät ihm, einen Arzt aufzusuchen. Er schlägt sie daraufhin und entschuldigt sich. Sie lieben einander, während die Kinder im Wald spielen. Und dann schickt er – zunächst mutet es einsichtig an (er sagt, er brauche Ruhe) – seine Frau und die Kinder alleine auf Urlaub. Er beginnt sich im familiären Altbau in der Stadt eine Gegenwelt zu errichten, eine Insel der „Ordnung“ im großen Chaos der Welt, und zwar im großen Stil: säckeweise Erde und eine künstliche Belichtungsanlage transformieren den gutbürgerlichen Salon in einen Getreide- und Gemüsegarten; Telefonate nimmt er über ein immenses Tonaufnahmegerät auf. Die neugierig gewordene alte Nachbarin, die hinter der Wohnungstür lauscht und sich über den Lärm entrüstet, wimmelt er ab: „Ich räume um.“ Das Haus verlässt er nur mehr mit Mundschutz, um weitere Anschaffungen vorzunehmen. Eines der Kinderzimmer wird zu einem Massentierhaltungskäfig – Hühner, Küken und Hasen tummeln sich auf engstem Raum und sollen – wie er dem Widerstand der schließlich zurückkehrenden Familie entgegen eröffnet – der Nahrungsversorgung aus erster Hand dienen. Anna versucht, mit den Kindern zu fliehen, was er unter Anwendung physischer Gewalt zu verhindern weiß. Und dann sieht er sich, am Kulminationspunkt seiner Halluzinationen, seine Kinder im Schlaf ermorden; aus dem Spiegel im Badezimmer blickt ihn sein braun-rot verschmiertes Gesicht an: „ein zweiter Kopf des Mohren“ (Büttner; Dewald 1997: 251). Georg wäscht sich das Blut vom Gesicht und schneidet sich mit dem Messer mitten durch das Gesicht eine klaffende Wunde, ehe seine Familie unter Verstärkung von Rettungspersonal hinter ihm erscheint. Der Mann wird ruhig gestellt und mit verbundenem Gesicht abtransportiert. Aus dem Rettungswagen erspäht er die vorbeiziehenden Fassaden. Es tönt die Arie „Ach mein Sinn“ aus der JohannesPassion von Bach. Die Kamera zeigt in Nahaufnahme die Iris seines irritierten Auges, bevor der Film ins Schwarzbild übergeht. Er schließt mit einem Zitat Gotthold Ephraim Lessings: „Glauben Sie mir: Wer über gewisse Dinge nicht den Verstand verliert, der hat keinen zu verlieren.“ Der Kopf des Mohren – übrigens eine Anspielung auf das Kaffee- und Nahrungsmittelunternehmen Julius Meinl – ist für Haneke letztlich eine „schlechte Mischung“ zweier gänzlich unterschiedlicher Ansätze, der ästhetisch opulente Mankers einerseits und der auf Schlichtheit ausgerichtete eigene andererseits, „verschlimmert“ letztlich durch die übertrieben-theatrale Darstellung der beiden Schauspieler. 10 Rebhandl, Bert. „Pathologisches Umräumen: Paulus Mankers bitterböser Thriller ‚Der Kopf des Mohren‘“. In: DVD-Edition des Films von hoanzl/Edition Der Standard/filmarchiv austria, 2010.

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(Haneke/Cieutat; Rouyer 2012: 166) Der Film läuft 1995 in der Parallelsektion des Festivals von Cannes, ein Jahr nachdem Haneke dort mit 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls den letzten Teil seiner Kinodebüt-Trilogie präsentiert. Mit der letzteren jedenfalls öffnet und etabliert sich – so die Darstellung der österreichischen Filmgeschichte – „über das Einbrechen der Dauer in die Bewegung“ schließlich ein inhaltlich nicht mehr deutbarer, „eigenständiger Raum“: „Die schwarze Leinwand: Ort der Reflexion, Vorbote des Schreckens, Verheißung einer Transzendenz.“ (Büttner; Dewald 1997: 413) Dass diese Verheißung vorerst viele kalt lässt, ist ein anderes, jedoch nicht minder bemerkenswertes Kapitel. „Dass sich Qualität automatisch auch verkauft, also so ist das nicht“, wie Produzent Heiduschka im Rückblick auf die Anfänge mit Der Siebente Kontinent bemerkt, schließlich entscheiden oft kulturelle und gesellschaftspolitische Unterschiede über das Funktionieren und Nicht-Funktionieren eines Films: „Es rief mich ein Kinobesitzer aus New York an und sagte, er will diesen Film. Er hätte ihn gerne für 14 Tage, er zahlt mir fix 1000 Dollar pro Woche, weil zu ihm – er hat ein Programmkino – viele internationale Künstler hinkommen, aber es kommen auch die amerikanischen Verleiher und schauen sich die Filme an. ‚Vielleicht finden wir dann einen Verleih‘, meinte er. Darauf habe ich gesagt: ‚Ja, ok, gerne.‘ Die 14 Tage waren um, drei oder vier Wochen später rief er an und sagt: ‚Wissen Sie, ich habe etwas völlig vergessen: In einem Land, wo der Tod tabu ist, wo man alles macht, vom Joggen bis ich weiß nicht was, um länger leben zu können – die Leute haben den Film nicht verstanden. Eine Familie, die alles hat und sich umbringt verstehen wir nicht.‘ Dasselbe Problem hatten wir in Locarno: wir haben den bronzenen Leoparden und nicht den goldenen oder silbernen erhalten. Daraufhin hab ich ein bisschen nachgefühlt, es waren dort eine Inderin und eine Afrikanerin in der Jury, die sich durchgesetzt und gesagt haben: ‚Wir verstehen das nicht, die haben doch alles, wieso bringen die sich um, bei uns wollen doch die Leute erst einmal was haben!‘“11

Filmproduktion, so ließe sich Heiduschkas Argumentation zusammenfassen, ist eine riskante, dialektische Verhandlung, bei der das Alte mit dem Neuen stets abgestimmt werden muss. Sie folgt, um zu funktionieren, schließlich den Regeln einer Tradition: „Der Lessing hat einmal gesagt: ‚Wir wollen nicht gelobt, sondern gelesen werden.‘ Und wir wollen auch nicht gelobt, sondern wir wollen geschaut werden, gesehen werden. Das ist wichtig und da gibt es bestimmte Kriterien, an die muss man sich halten. Man kann das Rad nicht neu erfinden, auch im Film nicht. Neulich erst habe ich in einer amerikanischen Zeitschrift Folgendes gelesen: Die sagen: ‚Wir gehen auf Aristoteles zurück, da wo die Dramaturgie ist, weil dort wird gesagt, WIE man etwas machen muss.‘ – Das sind archaische Dinge und die können wir nicht neu erfinden, die sind nun einmal vorhanden im Menschenreich. Wir sind nun einmal so geprägt.“12

Bei aller Affinität zur Form, die Haneke stets als oberste Größe hervorhebt, besteht Heiduschka auf die zunächst primäre Bedingung eines Inhalts, der seines Erachtens 11 Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller. 12 Ebd.

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vor allem ein Kriterium erfüllen muss: „Damit man noch Zuschauer bekommt, hab ich früher immer gesagt, muss man ein Tabu brechen. Aber es gibt kaum noch Tabus, das ist das Problem. Es wird immer schwieriger, Tabus zu brechen.“13 – Mit Amour gelingt Haneke, dem man ein „Gespür für Tabuthemen“14 nachsagt, schließlich ein weiterer „Bruch“, der veritable Durchbruch nämlich. Dass er damit „offensichtlich einen Nerv getroffen“ hat, sieht Heiduschka vor allem durch den Zeitpunkt bedingt. Vorgeschlagen habe ihm Haneke diesen Film schon 1997 nach seiner Realisation von Funny Games: „Haneke hat das schon vergessen, aber ich erinnere mich, wir sind mittagessen gegangen und da hat er gesagt: ‚Weißt du, ich möchte gerne einen Film über Alter machen, der Körper zerbricht und der Geist …‘ Und da hat er halt so sinniert und gesagt: ‚Du wirst kein Geld dafür bekommen, keine Zuschauer, den können wir nicht machen.‘ Der wäre damals auch wahrscheinlich vom Zeitgeist her zu früh gewesen. Sie wissen, die Propheten, die werden nicht immer verstanden. Die Kassandrarufe verhallen ... [lacht]“15

An den finanziellen Mitteln wird es über ein Jahrzehnt später nicht mehr fehlen, an Zuschauern noch weniger. Und eine positive Wendung der lessingschen Prämisse ist auch noch zu verzeichnen: Geschaut und vielfach gelobt, in Ausmaßen ohne historischen Vergleich, wird dieser bereits früh ersonnene Film bekanntlich werden.

13 Ebd. 14 Borcholte, Andreas. „Alles stirbt, nur die Liebe nicht“. In: Spiegel Online, 21.05.2012. 15 Gespräch mit Veit Heiduschka vom 09.11.2012 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller.

16. Amour: Ein transatlantischer Reisebericht

„Il y a des Hommes – avec un H majuscule, je précise – qui sont nés pour faire du cinéma. Qui ont le talent contagieux ; qui font des films que l’on n’oublie pas, des films qui traversent des années sans prendre une ride et dont la simple évocation provoque en nous un enthousiasme et une excitation toujours intacts. Ce n’est pas tous les dimanches qu’on a le bonheur d’annoncer une nouvelle inoubliable ; et pareil de faire taire des doutes, la peur de décevoir même parfois qui accompagne les plus grands. Pour l’occasion je ne suis pas venue toute seule, je porte une superbe robe, enfin je trouve, mais surtout, juste en dessous, bien cachées, les plus belles rencontres et les plus belles expériences que j’ai vécues grâce au cinéma. Pour ce 65ème Festival de Cannes je suis émue d’être parmi vous pour remettre la Palme d’Or du film qui aura su nous montrer la meilleure façon de marcher.“

Wir schreiben den 27. Mai 2012, 19:50 Uhr, die Preisverleihung der 65. Filmfestspiele von Cannes ist zum Hauptpreis fortgeschritten. Audrey Tautou, der neben Adrien Brody (Der Pianist aus dem gleichnamigen Film Roman Polanskis [2002]) die Ehre der Palmenvergabe zukommt, lässt sich Zeit, führt rhetorisch behutsam zu demjenigen hin, der die Goldene Palme für den besten Film entgegennehmen wird. Das große H als Majuskel – eine antizipierende Anspielung auf Haneke, dessen Film Amour (2012) seit der Premiere vom 20. Mai von Seiten der Presse nahezu einstimmig als einer der Favoriten gilt? In der Salle Debussy, dem zweitgrößten Kinosaal des Palais des Festivals haben sich an die 1000 Journalisten versammelt, Laptops, Smartphones und Notizbücher griffbereit, um der Live-Übertragung aus dem Grand Théâtre Lumière zu folgen. In einer der vorderen Reihen, links, eine Frau, die Tautous rhetorische Pause nach dem H-Majuskel murmelnd mit einem siegessicheren „Haneke“ füllt. Die Assoziation, die das von der Schauspielerin mit einem Lächeln versehene Stilelement zulässt, ist jedoch alles andere als linear: Das französische Maskulinum „Hommes“ sieht in seinem Konnotationsfeld auch Frauen vor und kann gleichsam als Augenzwinkern zu jenem thematischen Einschlag verstanden werden, der – neben dem schlechten Wetter – den Festivaltratsch und -kommentar maßgeblich mitbestimmte. Ein im Vorfeld der Festspiele in Le Monde erschienenes feministisches Manifest hatte beklagt, dass bei der Auswahl der Wettbewerbsbeiträge in der Regie keine Frauen vertreten sind. Mit Coline Serreau, Virginie Despentes und Fanny Cottençon übten im Vorfeld der Veranstaltung drei der bekanntesten französi-

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schen Regisseurinnen breitenwirksame Kritik an der einschlägigen Geschlechterpolitik des Festivals.1 Die Stimmung ist angespannt, die Luft im Saal dampfig. Man hatte die im oberen Bereich der Eingangshalle versammelten Journalisten – mit Ausnahme der potenten Träger des begehrten weißen Badges – nicht von innen in den Saal gelassen. Selbst das übelste Wetter, so scheint es, kann dem irrwitzig restriktiven Zeremoniell nichts anhaben. Eintritt nur von außen, anstellen und dann über die Treppen. Die Regenschirme der offiziellen Cannes-Kollektion waren schon zu einem frühen Zeitpunkt ausverkauft. Von den diesjährig in den Festivalboutiquen wohl begehrtesten Sammlerstücken waren mangels Vorhersehbarkeit nur unzureichend viele produziert worden. Laurent Cotillon, Herausgeber der Zeitschrift Le Film Français, hatte bereits am Dienstag, den 22. Mai, zur Halbzeit des Festivals die ersten Gewinner gekürt: die unzähligen Regenschirmverkäufer, die sich im Umfeld des Palais als unübersehbare Akteure im Gewimmel der Künstler, Journalisten, Geschäftsleute und Schaulustigen behaupten.2 Es ist quasi das Parallelszenario zu jenem, das sich im Marché-du-FilmAreal abgespielt hatte: Da wie dort war ein Handeln mit Produkten zu verzeichnen, deren Qualität nach Materialsichtung nur bedingt einschätzbar ist, sich letztlich am Verbraucher misst. Die Lebensdauer der Schirme jedenfalls, wie die meisten derer, die sich im besten Fall einen von zehn Euro auf eine geringere Summe heruntergehandelt haben, bestätigen können, war auf ein- bis zweimalige Verwendung beschränkt. Bérénice Béjo, die die Abschlusszeremonie moderiert und den Regen, la pluie, in ihrer Vorrede zur größten Diva des Festivals erklärt – „celle qui aura fait courir les stars au rythme de ses allées et venues“ –, kann die Anspannung der in der Salle Debussy zusammengepferchten, durchnässten Menge nur geringfügig lockern. Zahlreiche Veranstaltungen mussten im Laufe der Festspiele des unwirtlichen Wetters wegen abgesagt werden, das ganz offensichtlich auch die Rezeption der Filmbeiträge modifiziert hatte: „ein eisiger Wind [...] und eine mehrtägige Regenfront, unter der es gar nicht recht hell werden mag, macht traurige Filme noch düsterer.“3 Das kleine meteorologische Inferno zum Zeitpunkt der Abschlusszeremonie ist in seinem Ausmaß legendär. Adrien Brody ergreift schließlich das Wort und zitiert Woody Allen: „I don’t want to achieve immortality through my work. I want to achieve it through not dying.“ Die Fähigkeit des Kinos, intime Momente einzufangen und sie mit abertausenden Menschen zu teilen, verbinde sich eng mit einer Unsterblichkeit, deren Garantieanspruch die Goldene Palme in ihrer Seltenheit bekräftige: „Les films nous survivent.“ Jurypräsident Nanni Moretti, von dem dominanten Gerüchten zufolge bekannt ist, dass er „kein sonderlicher Freund“ von Haneke sei, verliest mit ernster Miene den Gewinner: Aufgrund des fundamentalen Beitrags der beiden Hauptdarsteller, wie er betont, habe sich die Jury für Amour von Michael Haneke entschieden. Jubel und Standing Ovations in der Salle Louis Lumière. Auf dem Abschlussbild der Regisseur und seine beiden Hauptdarsteller, gemeinsam danken sie für die Auszeichnung, die für gewöhnlich der Regisseur allein entgegen nimmt. Hanekes Titelverteidigung nach dem Erfolg des Weißen Bands ist historisch einzigar1 2 3

Cottençon, Fanny; Despentes, Virginie; Serreau, Coline. „À Cannes, les femmes montrent leurs bobines, les hommes leurs films“. In: Le Monde, 12.05.2012. Vgl. Cotillon, Laurent. „Météo transe“. In: Le Film Français, 22.05.2012. Vahabzadeh, Susan. „Alles so trüb hier“. In: Süddeutsche Zeitung, 21.05.2012.

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tig: zum ersten Mal in der Geschichte der Filmfestspiele von Cannes konnte ein Regisseur so kurzfristig hintereinander – mit einem Intervall von drei Jahren – die höchste Auszeichnung erringen. Michael Haneke, der sich gegen 21 Mitstreiter durchsetzt, ist nun schließlich bis auf Weiteres jenem kleinen Kreis von Regisseuren zuzurechnen, die einen derartigen Doppelsieg in Cannes erreichen konnten4: Mit Emanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant in den Hauptrollen – zwei Veteranen der Nouvelle Vague – war Haneke angetreten; „Gegen die Vergänglichkeit von Liebe und Kino“, wie es Der Standard in einer Schlagzeile am Folgetag resümiert – und das zu einem Moment, wie es weiter heißt, in dem mit „der Krise der Institution Kino […] letztlich auch der Anspruch von Cannes betroffen [ist], die wichtigsten Autoren an einem Platz zu versammeln. Zu viele Interessen begegnen hier einander auf zu engem Raum, und die Merkantilisierung bedroht den mythischen Ort der Filmkultur ganz besonders. Zwischen Celebrity-Kult, Marktlogistik und Aufmerksamkeitsökonomie zerrissen, muss auch Cannes neue Wege finden, eine Realität zu verteidigen: den Raum des Kinos.“5

Cannes steht sinnbildlich für die weltweit namhafteste Hommage an ein (inter-)nationales Autorenkino, das mit seinen von Globalisierung und Digitalisierung geprägten Rahmenbedingungen zu kämpfen hat und – wie es die Festivalleitung bereits im Vorfeld der Veranstaltung in einer Pressemitteilung nahe legt – vehementer denn je ganz im Zeichen seiner Verteidigung steht. Der mit einer (nie in Cannes gewesenen!) Marilyn Monroe hochglamourös beworbene halbrunde Geburtstag des Festivals ist als solcher und aus gegebenem Anlass eine Herausforderung zur Geschichtsschreibung und Selbstkonservierung des Festivals und seines Hauptakteurs, namentlich Kino: „retrouver, analyser, répertoirer, protéger, et – le moment venu – proposer à la consultation ce qui peut encore être sauvé“6, lautet die Handlungsanweisung des Festivalpräsidenten Gilles Jacob, die sich aus einem sehr materiellen Problem heraus ergibt: das Schwinden historischer Bilder, bestehender Güter der Filmkultur. Diese Filmkultur sei schließlich an einem Moment der Rückbesinnung angekommen: „Or, le passé prend d’autant plus d’intérêt qu’on y vérifie le futur“, bemerkt der Präsident. Alles soll folglich anders bleiben, so sinngemäß die Forderung der Festivalorganisation, zur nachdrücklich legitimierten Existenzsicherung eines „cinéma de la création qui va de la reconnaissance intrinsèque de sa différence à l’innovation radicale sans laquelle il n’est pas d’avancée“7. Das Wort des Präsidenten ist gleichzeitig Aufruf zum Fortbestand einer Festivalkultur, die sich offenkundiger und intensiver denn je ihrer Selbstinszenierung verschreibt: Hommagen, 4

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Vor Haneke waren dies Alf Sjöberg (1946, 1951), Francis Ford Coppola (1974,1979), Bille August (1988, 1992), Emir Kusturica (1985, 1995), Shohei Imamura (1983, 1997) und die Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne (1992, 2005). Kamalzadeh, Dominik. „Gegen die Vergänglichkeit von Liebe und Kino“. In: Der Standard, 29.05.2012. Gilles Jacob; Zitat entnommen dem Vorwort („Le mot du président“) des anlässlich der Pressekonferenz vom 19.04.2012 zu den 65. Filmfestspielen von Cannes verteilten Pressedossiers. Ebd.

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wie das von Jacob zum offiziellen Geburtstag präsentierte Filmdokument Une journée particulière8 oder sein neu aufgelegtes Buch Le Fantôme du capitaine9 stehen auf der merkantilen Tagesordnung und verzeichnen die vielfältigsten Materialisierungen: die festivalbezogenen Publikationen (von der Cannes-Sonderausgabe der Cahiers du Cinéma bis zum Livre d’Or de Cannes etc.) erfreuen sich gediegener Auflagen. Die auf den Vertrieb von Unterhaltungsprodukten spezialisierte Handelskette fnac wirbt mit DVD-Angeboten vergangener Festivalbeiträge; Presse, Radio, ernannte und selbsternannte Berichterstatter tummeln sich vor Ort. Den „Gegner“, das Fernsehen, hat sich das Festival inzwischen zum Komplizen gemacht: Vom Sender Canal+ konnte die Miteigentümerschaft über die im Zuge des alljährlichen Festivalereignisses gefilmten Bilder erhalten und einige davon konnten schließlich auch präsentiert werden: „Dès lors, il était tentant de montrer quelques-unes de ces images. Et de raconter l’histoire du festival par les deux bouts de la lorgnette : la petite histoire dans ses anecdotes les plus surprenantes, l’Histoire avec un grand H quand il s’agit de dévoiler les rites de Cannes et surtout les grands artistes qui l’ont visité.“10

Entsprechend übernimmt das Fernsehen eine deklariert tragende Rolle im diesjährigen Zeremoniell, als betonter Generator von Öffentlichkeit. Zudem habe im Laufe der Zeit – und in der letzten ganz besonders – nicht nur die cinéphilie beträchtliche Transformationen erfahren, sondern alles am Kino habe sich laut Befund des Präsidenten grundlegend verändert. Das allmähliche Sterben von Pionieren der Branche (darunter etwa Raoul Ruiz sowie der im April 2012 verstorbene Claude Miller, mit dessen Film Thérèse Desqueyroux die 65. Filmfestspiele im Anschluss an die Preisverleihung schließen) wird dabei als ein ebenso wesentlicher Indikator genannt wie etwa die Art zu Filmen, die Kameratechnik, das (Selbst-)Verständnis des Publikums, die Transformation von Kategorien wie Dauer, Rhythmus, Spiel u.v.m. Festgehalten wird demgegenüber an der Tradition des – nach allen geltenden Regeln der Kunst – zelebrierten Versammelns von Filmschaffenden und -begeisterten rund um die Hauptkraft der Handlungsträgerschaft: die „großen“ Autoren und ihr Angebot „künstlerisch ambitionierter“ Filme. „Car ce qui n’a pas changé et ne changera pas, c’est que ce sont les créateurs qui font Cannes et non pas l’éphémère ni l’écume des choses. Dans ce monde qui sacrifie au superficiel, au zapping, à la banalisation, à la fin du débat d’idées par indifférence, ce qui compte, ce qui fait notre force, c’est l’enracinement dans une passion pour le cinéma et pour ceux qui la portent : 8

Jacob dokumentiert in diesem Film die Kulissen der 60. Ausgabe von Cannes; ein Portrait mit Stellungnahmen einer Vielzahl von international renommierten Regisseuren. 9 Jacob fabuliert zu diversen Kinomenschen, die sich an der Croisette tummeln. Am Einband: „Exercices d’admiration, correspondances imaginaires, mémoires impromptus: dans le bateau qu’il s’est construit, le capitaine navigue sous le plus beau des pavillons: l’amour du cinéma.“ (Jacob 2012) 10 Gilles Jacob; Zitat entnommen dem Vorwort („Le mot du président“) des anlässlich der Pressekonferenz vom 19.04.2012 zu den 65. Filmfestspielen von Cannes verteilten Pressedossiers.

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les grands auteurs. La chance de Cannes c'est sa faculté de rassembler dans l’instant privilégié de la découverte d'un film. Un film qui, en un clin d'œil, invente, réveille, bouleverse, consacre. On vient du monde entier pour retrouver l'élan créateur, cette concentration magique irremplaçable. Les nouvelles technologies, Internet, le piratage, les sorties mondiales simultanées, les nouveaux formats, et tout ce qui viendra ensuite, n'y pourront rien car la passion collective réu11 nificatrice est logée là, c'est ainsi.“

Michael Haneke hat in seinen (oftmals für traditionalistisch befundenen) Resistenzen gegenüber den beklagten Phänomenen – des Oberflächlichen, des Zappings, der Banalisierung und des Schwindens der öffentlichen Meinung – sowie auch mit seinen beiden Darstellern (die Doppelinkarnation schlechthin dessen, was sich als eine Nouvelle-Vague-Reminiszenz bezeichnen ließe) hinsichtlich dieses Handlungsprogramms seine nicht zu verleugnenden Kompetenzen mitgebracht. Mit Amour steht so schon vor der Premiere ein verheißungsvoller Beitrag mit den allerbesten Voraussetzungen auf dem Spielplan der Compétition Officielle, der das Publikum – anders als seine Vorgänger – viel eher versammeln als teilen wird. Kurz nach der Premiere des Films, auf dem Deckblatt von Le Monde, den 22. Mai 2012, ist Jean-Louis Trintignant zu sehen, Hand in Hand mit Isabelle Huppert: „Trintignant et ‚Amour‘ boulversent Cannes – Le film de Haneke fait sensation.“ Die Zeitung spricht von einer „délicatesse inédite“ – Haneke, der bislang aufgrund seiner Intelligenz und Strenge brilliert habe, überrasche diesmal mit Anteilnahme und Empathie.12 Der Film hält sich fortan unumstößlich an der Spitze der mit jedem Tag ein Stück weit sich komplettierenden Gewinnerprognosen, auch wenn die Geschichte des Festivals Zweifel an einem potentiellen Sieg generiert: Haneke habe erst unlängst die Palme bekommen, es sei unwahrscheinlich, dass er abermals mit der höchsten Auszeichnung bedacht werde, heißt es da und dort. Wenige Tage später, erstellt Le Parisien eine Idealsiegerliste, die Amour für die Goldene Palme vorsieht. Die Mehrzahl der Blätter schließt sich diesem Wunsch an. „Forget the speculation about who’s going to win the Palme d’Or. This year, the bloggerati, especially the U.S. contingent, already are debating which films in the festival have a shot at an Oscar“13, verkündet The Hollywood Reporter. „Magnificent“, lautet das ÜberseeFazit: „There is never a false step or superfluous scene“14, wie eine Kritikerin betont. Die Chicago Tribune geht nach der Preisverleihung noch einen Schritt weiter: „Why shouldn’t ‚Amour‘ be considered for best picture, period – its language (French, though Haneke’s Austrian) be damned?“15 Seit Jahren habe man im Zuge der höchsten Auszeichnung keine derart anhaltend intensiven Ovationen mehr erlebt. „The

11 Gilles Jacob; Zitat entnommen dem Vorwort („Le mot du président“) des anlässlich der Pressekonferenz vom 19.04.2012 zu den 65. Filmfestspielen von Cannes verteilten Pressedossiers. 12 Sotinel, Thomas. „S’aimer jusqu’à ce que la mort vous sépare“. In: Le Monde, 22.05.2012. 13 Kilday, Gregg. „Cannes 2012: Early Oscar Buzz Centers on Michael Haneke’s ‚Amour‘, Marion Cotillard“. In: The Hollywood Reporter, 21.05.2012. 14 Young, Deborah. „Amour: Cannes Review“. In: The Hollywood Reporter, 20.05.2012. 15 Phillips, Michael. „‚Amour‘ wins Palme d’Or at Cannes Film Festival“. In: Chicago Tribune, 27.05.2012.

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Austrian filmmaker’s ode to love“16 wird den Hollywood Reporter nachhaltig beschäftigen. „Amour is Haneke of the highest order.“17 Mit der Verleihung der Goldenen Palme an Michael Haneke festigt sich – neben der Menschheit (les Hommes …) und der Historie – das dritte große H als maßgeblich für die zu schreibende Legende eines universellen (Autoren-)Kinos in Zeiten globalen Filmmarketings, das Cannes entsprechend würdigt: „the most universally lauded has been Amour – or ‚the Haneke‘, in the auteur-respecting parlance of a typical Cannes-goer.“18

24. Z WISCHENAKKORD : K INOLIEBE

UND

K INOSTERBEN

„[...] le cinéma a toujours à voir avec la mort, même quand il ne le veut pas, même quand il ne le sait pas“19, hält Pascal Mérigeau in seiner Kritik für den Nouvel Observateur komprimiert fest. Amour kommt hinsichtlich seiner Verankerung im aktuellen Filmmarkt ein diskursiver Doppelstatus zu. Mit Amour steht ein Film über die Liebe im Kontext einer um Revitalisierung bemühten cinéphilie, aber auch ein Film über das Sterben im Kontext eines schon seit geraumer Zeit prognostizierten und zunehmend sich abzeichnenden Kinosterbens zur Disposition: Man erinnere sich etwa an Lars Henrik Gass, der in logischer Folge zu Gilles Deleuze auf das bemerkenswerte Schicksal des Films, dass ihm das Kino zusehends abhandenkomme, verweist. Globalisierung und Digitalisierung haben zur Folge, dass das Kino mit immer kürzeren Auswertungsfenstern konfrontiert ist. DVDs sowie inzwischen auch die zunehmende Verfügbarkeit von Filmen on demand seien dabei die materiellen Indikatoren eines Kinosterbens, das nicht zuletzt auch als Indiz für den – bisweilen noch als Politikverdrossenheit verharmlosten – allerorts sich abzeichnenden Zusammenbruch von Öffentlichkeit begriffen werden kann. Der Raum Kino als kollektives Ereignis und damit auch als Ort der gleichzeitigen Wahrnehmung und Herausforderung zum Denken und Verändern scheitert an einer Freizeitindustrie, die eine Privatisierung von Filmkonsum nach sich zieht. Die zusehends sich ausbreitende „Individualisierung“ der Erfahrung von Film(-Kultur) und damit auch von Filmgeschichte, deren Artikulationen sich in einer Unzahl von zum Teil mobilen Endgeräten materialisiert und verflüchtigt, wird der um ein Fortbestehen von Kino bemühten Filmindustrie in den kommenden Jahren zweifelsohne ein hohes Maß an Kreativleistung abnötigen. An ihrem Beginn steht, was letztlich auch dieses Buch zu leisten sucht: ein Denken in Möglichkeiten. Festzuhalten ist jedoch zunächst, dass die Träger der Leidenschaft für Kino sowie auch die Vermittler dieser Leidenschaft weit zahlreicher sind, als es die traditionelle Perspektive vorgibt: es ist die Zeit der mobilen Endgeräte und Cannes hat es nicht verabsäumt, ein Gros seiner administrativen Strukturierung den unzähli16 Leffler, Rebecca. „Cannes 2012: Michael Haneke’s ‚Amour‘ Wins Palme d’Or“. In: The Hollywood Reporter, 27.05.2012. 17 Corliss, Mary. „Michael Haneke’s Poignant Amour: The Flowers and the Stars“. In: Time Entertainment, 21.05.2012. 18 Hillis, Aaron. „Live from Cannes: Critic’s Notebook“. In: MovieMaker Magazine, 22.05.2012. 19 Mérigeau, Pascal. „La lumière et les ténèbres“. In: Le Nouvel Observateur, 25.10.2012.

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gen Laptops und Smartphones zu überlassen. Das Festival wartet mit seiner eigenen i-phone-App auf; letztlich können zu jeder Zeit an jedem beliebigen Ort das Filmprogramm konsultiert, Sitzplätze reserviert und Interviews rückwirkend gesichtet werden. Cannes beugt sich freilich den neuen Formaten und es ist exemplarisch bezeichnend, dass der mit der Selektion für den Wettbewerb betraute künstlerische Leiter, Thierry Frémaux, unablässig seine Impressionen auf Twitter zum Besten gibt. Der Präsident, Gilles Jacob, tut es ihm gleich und publiziert, zum Erstaunen der Printmedien, am 27. Mai auf seinem Twitter-Account Fotos und kryptische Kommentare live aus dem Beratungssaal der Jury in der Villa Domergue. Unter anderem zu sehen: Nanni Moretti, der seinen Kopf in die Hände legt. Libération mokiert sich: „Certes, cela fait moderne et insider, mais c’est aussi violenter cette bonne vieille chose connue sous le nom de déontologie.“20 Und da man in Cannes bereitwillig auf Höhe der Zeit agiert, ist es umso bemerkenswerter, dass mit Amour gerade ein solcher Film gewinnt, der vielfach als jeglicher Zeitlichkeit jenseitig empfunden wird.

23. L IEBESSZENARIEN UND L EINWAND

ZWISCHEN

S TRASSENSTRICH

Cannes ist – neben einem theatralisch angelegten Veranstaltungsort mit all seinen Mythen und Legenden – zu einem Ort hektischer Betriebsamkeit geworden. Cannes ist ein Paradies der Mobiltelefonie, Lokalität der Zerstreuung via wireless-LAN, der Ort, an dem Kinogeschichte ausgehend von Spekulationen und Befindlichkeiten, von Freundschaften und Animositäten, von Ein- und Missverständnissen und schließlich von Erfahrungen kollektiver und individualisierter Wahrnehmung ihren Lauf nimmt. Von einer der Fassaden unweit vom Palais des Festivals grinst ein für Coca Cola Light werbender Jean-Paul Gaultier, der gemeinsam mit Hiam Abbas, Diane Kruger, Ewan McGregor, Andrea Arnold, Alexander Payne, Emmanuelle Devos und Raoul Peck Jurymitglied des diesjährigen Hauptbewerbs ist. Linien- und Taxibusse speien unablässig Touristen, Journalisten und Schaulustige ins übercodierte Stadtbild; schwarze Limousinen mit abgedunkelten Scheiben mühen sich durch dicht gestaute Straßenwege; in den Handtaschen und Rucksäcken der Akkreditierten schichten sich die Visitenkarten. Wer im Einsatz ist, trägt – bereit zum Scan – um den Hals seinen Badge und damit seine „Klassenzugehörigkeit“ mit entsprechender Zutrittsberechtigung. Das schwarze Band mit dem Palmensiegel powered by Orange, dem Mobilfunkbetreiber, für den die 30.000 Akkreditierten über mehrere Tage zur individualisierten, wandelnden Werbefläche werden, ist allen gemein. Mit Ausnahme der Träger eines Badge Cinéphile – jener „lowest cast“ von Schülern, Studierenden, Lehrenden und Filmbegeisterten (des Département Provence-Alpes-Côte d’Azur vorzugsweise), denen der Zutritt zum Palais verwehrt ist. Im Wechselspiel von Anonymität und Exhibitionismus sowie von stechender Gewitterhitze und abendlichen Spätherbsttemperaturen kollidiert das Diktat der zeitlichen Befristung des Ereignisses mit der Diktatur der Gleichzeitigkeit und des angewandten Multitaskings. Durch den Bunker des Palais des Festivals, der einer überproportionalen Markthalle entspricht, zieht sich ein

20 Lefort, Gérard. „Souriez vous êtes tweetés“. In: Libération, 28.05.2012.

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mehrstöckiger Irrgarten von Korridoren mit Informations- und Verkaufsständen. Auf diesem ungewöhnlichen Bazar, zwischen Plakaten, Leuchtreklamen, Flatscreens, Broschüren und Flyern und im Dunst von Schweiß, Café und Sandwiches pulsiert von früh bis spät das Geschäft der Filmindustrie. Als Herzstück einer dem Film verschriebenen, palmengesäumten Croisette, die sich – ausgehend vom Palais – als Village International21, als internationales Dorf der Weltfilmindustrie, in Form eines Zeltmeers erstreckt, um in ein museales Stadtbild überzugehen, das sich bis an die „Peripherie“, die als solche schon fragwürdig ist, mit überdimensionalen Fotografien ehemaliger Stargäste schmückt: Alfred Hitchcock am Rathaus, Alain Delon und Romy Schneider weit hinter dem Bahnhof – breit gestreut amortisiert sich, wer in den vergangenen sechs Jahrzehnten Filmgeschichte mitbestimmt hat. Auf einer der Toiletten im Festival-Bunker hängt ein instruktives Plakat zur Epidemieprävention – es sei von Vorteil, sich im Falle von fieberbegleiteten Symptomen wie Husten eine Maske anzulegen. Von früh bis spät formieren und dehnen sich Schlangen von Akkreditierten, die im Überangebot diverser Sélections der einen oder anderen Projektion beiwohnen möchten. Bettelnd und verhandelnd verhält sich so manch ein potentieller Besucher, der vom Sicherheitspersonal mit dem vor beinahe jeder Projektion vernehmbaren „C’est complet! – It’s full!“ abgefertigt wird. Die Folge einer solchen Abfertigung bedeutet nicht selten ein mit etwa zwei Stunden bemessenes Intervall, das Gelegenheit gibt, im Bunker die kostenlos aufliegenden, tagesaktuellen Filmmagazine zu konsultieren. Gala, Le Film Français, Screen und Variety sind – neben diversen markt- und technikorientierten Guides – die vergriffensten. Sie alle haben die offenkundige Funktion, effiziente Werbeflächen zu sein, ebenso sehr wie sie ein täglich erscheinendes, Orientierung gebendes Sammelwerk aus Ankündigungen, Empfehlungen und – nicht zu vergessen – simplifizierenden, in Skalen und Rankings realisierten Zusammenfassungen des internationalen Presseechos auf die gezeigten Filme sind. Das Überangebot an Filmen im Programm von Cannes, das symptomatisch für die Realität eines überdimensionierten Filmmarkts steht (in Europa werden jährlich an die 1500 Filme produziert), ist von ungeheurer Legitimationskraft für eine in ihrer Wirkkraft immer schwächere Filmkritik, die sich in ihrer Funktionalität und angesichts der seitenzahlmäßig rückläufigen Präsenz in den Printmedien immer wieder neu definieren muss. Dementsprechend setzt die Cannes-Sonderausgabe der Cahiers du Cinéma in ihrem Leitartikel auf die legitimierende und legitimierte Thematik des Kuratierens. Eine Kinozeitschrift zu gestalten, so der seit 2009 amtierende NeoHerausgeber Stephane Delorme, sei nicht weit entfernt von der Arbeit des Kurators. Entgegen der denunzierten Vermessenheit einer (nicht namentlich angeführten) Möchtegernkritik der Tages- und Wochenpresse, die zunehmend den Eindruck erwecke, bis auf wenige Ausnahmen alles zu verteidigen – aus Angst, das breite Publikum zu verlieren bzw. die notwendigerweise zu stärkenden kleinen Produktionen zu „töten“ –, fühlt man sich im Kontext der Cahiers umso stärker verpflichtet, die Mission der Kritik erneut zu definieren. Das Überangebot an mit immer kürzeren Aus-

21 Der seit 2000 existierende Village International bietet sämtlichen Produktionsländern Möglichkeit und Raum, ihre Kinematographien anzupreisen. Im Jahr 2012 sind es 50 Länder, die sich in 58 Pavillons entlang der Croisette präsentieren.

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wertungsfenstern konfrontierten Filmen verlange nach einer in Akzeptanz der Führerposition an den Tag gelegten Strenge: „Défendre cinq ou six films par semaine, comme le font les quotidiens et hebdomadaires, revient à annuler ce travail de programmation. Les films sont tous dans le même tas, tout se vaut. On se demande bien comment un lecteur peut s’y retrouver ! La mission de la critique est au contraire de choisir, de trancher, de conseiller ce qu’il faut voir en premier, ce qu’il ne faut pas rater. […] La situation depuis le début de l’année devient dramatique : on a le sentiment que, sauf navet, tous les films sont défendus. Les Cahiers, par contraste, paraissent bien sévères. […] Les Cahiers ont joué leur rôle. Trop de films sortent, la situation devient absurde. À l’heure où les films restent deux semaines à l’affiche, il faut que la critique assume son rôle de guide. Sinon les films importants ne seront pas vus.“22

Gefolgt ist dieses Vorwort von einer breit angelegten Diskussion der weitgehend auf Altmeister des Autorenkinos eingeschworenen Selektion 2012. Denn neben Haneke bestimmen große Namen mit entsprechendem kinematographischen Assoziationspotential den Hauptbewerb: David Cronenberg, Alain Resnais, Jacques Audiard, Leos Carax, Thomas Vinterberg, Abbas Kiarostami, Wes Anderson, Matteo Garrone, Ken Loach u.a. sind die etablierten Regie-Namen, die einen Wettbewerb bestimmen, in dem neben den Frauen auch die Jugend keinen ausschlaggebenden Platz gefunden hat. Unter den Beiträgen im diesjährigen Hauptbewerb findet sich kein Erstlingswerk, die jüngeren Filmemacher und ihre potentielle Entdeckung sind Affären der Parallelsektionen. Die Cahiers du Cinéma nähern sich – wie üblich – in ihrer Sonderausgabe vom Mai prognostisch der Sélection Officielle; sie bieten eine argumentative Vorschau auf die anstehenden Weltpremieren. Nach dem „Triumph“ des vergangenen Jahres, der als Gipfel der Ära des künstlerischen Leiters (und damit selektionsbeauftragten) Thierry Frémaux konstruiert wird, stellt sich schließlich die Frage nach Einschlägen und Tendenzen der aktuellen Auflage des Festivals. 2011 war mit einer Goldenen Palme für Terrence Malicks ästhetisch und finanziell ausladend angelegtes, Brad-Pitt-besetztes kosmisches Epos The Tree of Life sowie einem Oscar für The Artist und der entsprechenden, auch zahlenmäßig bemerkenswerten Publikumsresonanz aus Perspektive der Cahiers ein Erfolgsjahr. Mit anderen Worten konnte, was 2011 in Cannes präsentiert wurde in seinen künstlerischen Ambitionen von Seiten der Redaktion lobend abgesegnet werden. Was die Selektion 2012 anbetrifft, können Einschätzungen vorerst nur über „intuitive“ Wege der Argumentation angeführt werden, bestimmt von einem Lustfaktor, der sich folgendermaßen konstituiere: „Et maintenant ? Quelle est la couleur de la sélection ? Puisqu’on ne peut encore juger sur pièces, on se contentera de parler de désir et d’intuition. Qu’est-ce qui nous fait envie ? Encore une fois la sélection française, décidément un point fort de l’officielle : Resnais, Carax, Haneke, Audiard. On veut voir. Surprise : ni Laurent Cantet (pourtant Palme d’or il y a quatre ans) ni Olivier Assayas […] ni François Ozon ne sont de la partie. Tous refusés. La règle des quatre films français en compétition fait de vrais dommages collatéraux.“23

22 Delorme, Stéphane. „Programmer“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 678, Mai 2012, S. 5. 23 Delorme, Stéphane. „Après le triomphe“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 678, Mai 2012, S. 6.

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An erster Stelle des Attraktionspotentials der diesjährigen Selektion steht folglich eine französische Selektion, der Haneke – seinem Koproduktionshintergrund entsprechend – zugerechnet wird. Die Vorschau der Cahiers belegt zudem auch, dass es eine „Regel der vier französischen Filme“ gibt – mehr als vier französische Beiträge sind im Wettbewerb von Cannes nicht möglich; eine Prämisse, die den französischen Starregisseuren Olivier Assayas und François Ozon offenbar zum Verhängnis geworden ist. – Zugunsten, wie im Nationalduktus zu ergänzen bleibt, eines österreichischen Beitrags, der in den Kreisen der Cahiers auf großes Unverständnis stößt: Ulrich Seidl tritt mit Liebe, dem ersten Teil seiner Paradies-Trilogie an; der Name Seidl, dessen 2007 im offiziellen Wettbewerb präsentierter Film Import/Export das Wohlwollen der Cahiers verfehlt hatte, kommt mit den Paradieskonzeptionen des Blatts nach wie vor nicht in Einklang. Mehr noch als in Ansätzen der Spekulation ergeht sich die Beitragsaufzählung der Redaktion dann sehr selbstbewusst auch im Modus der Hoffnung. Ihr diesjähriges Desiderat besteht schließlich darin, dass die Filme weniger pompös angelegt sein mögen als es die Mehrzahl der Titel nahe lege: „Espérons en tout cas que les films sélectionnés seront moins pompeux que leurs titres: Reality (Matteo Garrone), Amour (Haneke), Post tenebras lux (Reygadas – après Lumière silencieuse …), De rouille et d’os (Audiard) et, last but not least, le doublon : Paradis : Amour (Seidl). Ça ne rigole pas. À cela s’ajoutent les 2h35 de Au-delà des collines de Mungiu, les 2h07 de Dans la brume de Loznitsa et les 2h15 de Mud de Nichols. L’horizon ne se dégage pas. Le malicieux Vous n’avez encore rien vu de Resnais sauve les meubles. Un grand festival appelle de ‚grands‘ films, mais la question est toujours la même : qu’est-ce qu’un grand film ? Est-ce un film plombé ? On jugera si cette surenchère au ‚gros‘ sujet essore les films ou les renforce. L’an passé, Lars von Trier était sorti grandi d’un Melancholia qui pouvait, de loin, effrayer.“24

Zwei Filme können von den Experten jedoch bereits im Vorfeld als gesichtet angeführt werden: Einmal Wes Andersons prominent besetztes Moonrise Kingdom, eine farbenfrohe Ode an die Kindheit und ihr Fortbestandspotential im Erwachsenenalter. Und dann – als einer der vom Conseil des dix für meisterlich und absolut sehenswert befundenen Favoriten – David Cronenbergs Cosmopolis, der – zahllosen Stimmen zufolge – in seiner Aktualität sowie in der an ihr geübten Kritik unübertrefflich sei.25 Cronenberg schickt Robert Pattinson als milliardenschweren Finanzjongleur in einer Stretchlimousine durch die verstopften Straßen von New York und zeigt mit Cosmopolis einen Streifen, mit dem sich die Geschichte des besagten Krisenkinos zweifelsohne fortschreiben ließe. Als einen „Film für unsere Zeit“26 konstruieren die Cahiers Cronenbergs Adaption von Don DeLillos Roman: „Parce que le capitalisme est en crise, mais pas seulement – il dit surtout que le capitalisme est une crise.“27 In der visuell größtenteils auf das Interieur der Limousine reduzierten Handlung finde die Absurdität des beginnenden 21. Jahrhunderts ihr treffendstes Bild. – Eine Einschät24 Ebd. S. 8. 25 Vgl. ebd. S. 6. 26 Tessé, Jean-Philippe. „Cosmopolis de David Cronenberg: L’Esprit du monde“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 678, Mai 2012, S. 12. 27 Ebd.

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zung, die jener des großen französischen Kritikgegenparts Positif weitgehend ähnelt: in der abstrakten Gleichung des Films, der zufolge die Wahrheit des Kapitalismus der Tod sei, in einem technologischen Zeitalter, in dem die Gegenwart der Zukunft zum Opfer falle und der Mensch zwangsläufig zu sterben trachte, fände der Film seine kritische Kraft.28 Cronenberg liefert jedenfalls einen Beitrag zu einer Tendenz, in der selbst der Starkult sich zu verdinglichen scheint: „La crise, star de Cannes.“29 Ebenfalls in einer Limousine schickt Leos Carax in seinem poetischoriginalitätsheischenden Holy Motors seinen rastlosen Protagonisten Monsieur Oscar (Denis Lavant) von einem Leben ins nächste. Im Fond des von einer gewissen Céline (Edith Scob) chauffierten Wagens manövriert er sich – als sein eigener Maskenbildner – in die diversesten Existenzen: Einen Wirtschaftsboss, eine Bettlerin, einen ermordeten und wieder auferstehenden Mörder, einen sterbenden Greis, oder einen Familienvater mit Affenkind und Affenfrau inkarniert er unter anderem, an einem überlangen Tag, der von Zitaten – literarischen (Rimbaud, Bataille, Borges, Kafka), Star-systemischen (Kylie Minogue, Eva Mendes) und cineastischen (bis hin zu Bewegungsstudien aus frühen Stummfilmzeiten via Koitus zweier Cyberkreaturen) – nur so strotzt. Und während die Grabsteine eines Pariser Friedhofs auf Websites verweisen, ruht, des Nachts, die Limousine in einer Halle von Limousinen, die sich, mit den Rücklichtern zwinkernd, in den Schlaf reden. Schließlich wird auch Jacques Audiards mit Marion Cotillard besetztes Drama De rouille et d’os in den prognostischen Wertungen eine Favoritenrolle zuteil. Während – unter den dominanten Vorzeichen von Liebe, Alter und geschlossenen Räumen – auf der Leinwand Welten untergehen und fiktionale Menschen an der Kälte des Kapitalismus krepieren, bleibt die Rahmen-Stimmung trotz miserablen Wetters festlich; das Festival von Cannes ist nicht die einzige französische Kulturinstitution, die ihren 65. Geburtstag begeht. 1946, das Jahr des ersten Festivals von Cannes, gilt auch als Gründungsjahr des Centre National de la Cinématographie (CNC), das sich inzwischen seit 65 Jahren und mit einem jährlichen Budget von geschätzten 700 Millionen Euro30 als eine der weltweit einflussreichsten staatlichen Förderinstitutionen behauptet. Die wenigsten französischen Produktionen entstehen außerhalb des Unterstützungsradius des CNC, das als Förderer von 23 Lang- und sieben Kurzfilmen des diesjährigen Festivals auftritt, darunter freilich auch die internationale Koproduktion Amour. Gänzlich selbstbewusst begegnet das CNC der Herausforderung, die das digitale Zeitalter mit sich bringt, schließlich konnte auch die Konkurrenz, die einst und nach wie vor das Fernsehen für das Kino darstellt, erfolgreich bewältigt werden. Zudem reiht sich auch die Pariser Produktionsfirma Les Films du Losange, die gemeinsam mit dem deutschen X Filme Creative Pool und der österreichischen Wega Film Amour produziert hat, in die Liste der institutionellen Jubilare: 50 Jahre des Bestehens sind es, die die einst von den Nouvelle-Vague-Regisseuren Barbet Schroeder und Eric Rohmer aus Selbstzweck ebenso wie im Dienste ihrer Kollegen (Roger Planchon, Jacques Rivette und Jacques Doillon) gegründete Firma verzeichnet. Pro28 Ferrari, Jean-Christophe. „Cosmopolis: Capitalisme hémophile“. In: Positif, Nr. 616, Juni 2012, S. 39. 29 Unbekannt (Kürzel: L.R.). „La crise, star de cannes“. In: Télérama, 02-08.06.2012. 30 Zahlen veröffentlicht in der ersten Screen-Ausgabe des Cannes Festivals vom Mittwoch, dem 16. Mai 2012, S. 40.

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duzentin Margaret Ménégoz war Mitte der 1970er Jahre als Leiterin zur Firma gestoßen, in einem Moment als Schroeder gerade seinen Film Maîtresse und Rohmer an der Verfilmung der kleistschen Marquise von O. arbeitete, bei der sie in Berlin assistierte um 1976 für den – selbst festivalscheuen – Rohmer den Jury-Preis in Cannes entgegenzunehmen. Seit damals ist sie eines der sehr bekannten Gesichter in Cannes, wo sie 1991 als Jury-Mitglied und über die Jahre stets als Verantwortliche zahlreicher Losange-Filme (Rivette, Straub, Duras, Eustache u.v.m.) auftritt. Nicht zuletzt ist im Zusammenhang der Jubilare auch auf einen sehr vif anmutenden Alain Resnais zu verweisen, der – mit seinem augenzwinkernden Beitrag Vous n’avez encore rien vu im Hauptbewerb vertreten – in Aussicht auf seinen 90. Geburtstag als weiterer Jubiläumsanwärter Schlagzeilen macht. Über ein halbes Jahrhundert nach seiner ersten Cannes-Nominierung für sein nach dem Drehbuch von Marguerite Duras realisiertes Nachkriegsdrama Hiroshima mon amour (1959) – jener Film, der die inzwischen fünfundachtzigjährige Emmanuelle Riva zum Weltstar hat avancieren lassen – ist er abermals unter den Palmenanwärtern vertreten. Mit einem Theaterfilm, einer mise-en-abyme, die sich an Jean Anouilhs Eurydice abarbeitet, wie so oft unter prominenter Mitwirkung seiner altbekannten Komplizen: Sabine Azéma, Anne Consigny, Pierre Arditi, Lambert Wilson, Mathieu Amalric, Michel Piccoli und Anny Duperey. Soviel nur, um festzustellen, dass sich die 65. Filmfestspiele von Cannes nicht nur quantitativ sondern auch qualitativ betrachtet überproportioniert präsentieren – das Netz der anwesenden Protagonisten ließe sich unermesslich weit spinnen, folgte man jedem einzelnen Akteur in seinen Geschichten, Verstrickungen und Reminiszenzpotentialen. Beschränkt man sich auf die plakativsten Artikulationen der Kombinationen, so lässt sich festhalten, dass Haneke diesmal mit Riva antritt, in indirekter Konkurrenz zu Resnais folglich positionierbar, aber auch ein weiteres Mal mit Isabelle Huppert, die bei diesem Festival einen Doppelantritt verzeichnet: Huppert engagierte sich nicht nur bei Haneke, sondern auch bei Hong Sang-soo, in dessen Komödie In Another Country sie in gleich drei Inkarnationen die Hauptrolle übernommen hatte. Selbst wenn diese Konkurrenz freilich keine direkte ist, sondern vielmehr eine selektionsbedingte, so sind solche Antrittsschemata, wie sie die Medien anlässlich des kompetitiven Ereignisses zuhauf zeichnen, alles andere als irrelevant. Casting ist ein ausschlaggebender Faktor, und das in manchen Fällen über die Maßen: Wie es die 65. Filmfestspiele von Cannes bestätigen, kann – wider allen Bemühens der Leitung des Festivals, die großen Autoren in den Vordergrund zu stellen – auch das Casting letztlich der Pool sein, aus dem die Jury ihre offizielle Begründung für die Wahl des Siegerbeitrags bezieht. Auch der Regisseur selbst beruft sich in seiner Version der Entstehungsgeschichte von Amour auf seinen Protagonisten Trintignant als treibende Kraft. Wie schon in seinen Ausführungen zu Caché, dessen Hauptdarsteller Daniel Auteuil Haneke als maßgeblichen Beweggrund für das Entstehen der Produktion anführt, vermerkt Haneke auch hier, er habe das Drehbuch für Jean-Louis Trintignant geschrieben, weil er mit ihm einen Film machen wollte. Auf Verdacht, wie er später zugibt; gefragt habe er ihn erst nachdem er das Drehbuch fertiggestellt hatte. Mit dem zweiundachtzigjährigen Trintignant bringt Haneke einen der renommiertesten Charakterschauspieler der europäischen Filmgeschichte auf die Leinwand und folgt in dieser Wahl einer Reihe von hochprominenten Regisseuren, darunter Roger Vadim, Costa-Gavras, Claude Lelouch, René Clément, Claude Chabrol, Éric Rohmer,

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François Truffaut, Michel Deville, Bernardo Bertolucci, Jacques Deray, Ettore Scola, André Téchiné, Krzysztof Kieslowśki, Jean-Pierre Jeunet, Jacques Audiard und Patrice Chéreau. Bis sich die Journalisten und die französische Marinegarde zum Zeremoniell des Treppenaufstiegs eingerichtet haben, gleicht das Areal vor der Eingangshalle des Palais einem Straßenstrich. Von früh bis spät „prostituieren“ sich, den Kleidungsvorschriften für die Premieren entsprechend und auf gut Glück kostümiert, Zaungäste, die zu Zuschauern avancieren wollen, mittels einer Eintrittskarte, die hier Einladung heißt: „Wer einfach nur einen Film sehen will, kriegt in Cannes keine Karten. Jeder, der hier im Kino sitzt, gehört irgendwo in der langen Nahrungskette des Geschäfts dazu. Eines gibt es also nicht: den Zuschauer. Er tritt hier nur als Fan und Autogrammjäger in Erscheinung“31, konstatiert die FAZ kritisch. In Abendrobe oder Anzug (die obligatorische Fliege zählt mit einsetzendem Festival zu den vergriffensten Objekten der städtischen Boutiquen), mit einem Zettel in der Hand, der den Titel des Wunschfilms anführt, präsentiert sich diese Erscheinung. Es wird auf Weitergabe spekuliert, schließlich hat eine nicht wahrgenommene Premierenkarte die Sperrung des jeweiligen Akkreditierungsinhabers für weitere Projektionen zur Folge. Während so am Abend des 20. Mai einige bis dato erfolglose Kartenanwärter dem insistenten Regen und der Kälte zum Trotz tapfer mit ihren hochgehaltenen „Amour“-Bitten vor dem Eingang zum Palais auf und ab gehen, trifft sich die équipe Haneke im ein paar hundert Meter vom Palais des Festivals gelegenen Hotel Majestic. – Bereit zum Einzug in das Grand Théâtre Lumière. „Wir sind das Trübe ja gewohnt …“, bemerkt charmant und ermunternd angesichts des bedeckten Himmels Ulrike Lässer, Produktionskoordinatorin der Wega Film an der Seite von Produzent und Herstellungsleiter Michael Katz. Man bestreitet den Weg zu den Treppen, hinauf in den Saal – zuletzt der Regisseur in Begleitung seiner Frau und seiner Darsteller, exponiert beim Aufstieg im Blitzlichtgewitter, von innen über die Leinwand zu bewundern. Bis sie schließlich Platz nehmen und das Licht erlischt.

22. Z EITGEMÄSS JENSEITS VON Z EITLICHKEIT : U N A MOUR DE C ANNES Eine Altbautür wird aufgebrochen, Feuerwehrleute dringen ein, lüften, ein Geruch von Verwesung muss im Raum stehen, ein Fenster wird geöffnet. Hinter verklebten Türflügeln, aufgebahrt am Bett, die bereits leicht verweste Leiche einer alten Dame. Verwelkte Blumenköpfchen zieren ihr Kissen. Eine Schwarzblende affichiert, ein wenig zeitversetzt in weißen Lettern, das verheißungsvolle Wort, das x Werke im Titel tragen, auf das jedoch kaum einer der unzähligen Titel sich beschränkt: Liebe. Liebe. Ohne Artikel, ohne Attribut, ohne Satzzeichen. Der erste Filmtitel der Filmgeschichte, der das Wort aus den Phrasen löst, die äußerste Reduktion auf ein bedeutungsschweres Wort vornimmt. Weiß auf schwarz, in grober Klarheit. Liebe in Schriftzeichen von einer Schlichtheit, die man von Haneke kennt. Der Prolog

31 Lueken, Verena. „Von Strandjungen und Schnabeltassen“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.05.2012.

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schließlich führt das Unausweichliche vor: Wie schon einst in 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls erübrigen sich auch hier alle Zweifel über den Ausgang des Geschehens: Die Frau ist tot, man weiß nicht, wie lange schon, und die Schwarzblende trennt den leblosen Körper von einer Animiertheit, deren Schwinden und Transformationen das Narrativ des Films weitgehend bestimmt, das sich fortan dem Sterben dieser Frau im Beisein ihres Mannes zuwendet und dabei – weder sentimental noch zwingend tendenziös – vergehendes Leben dokumentiert. Im Pariser Théâtre des Champs-Elysées nehmen sie Platz, Anne (Emmanuelle Riva) und Georges (JeanLouis Trintignant), mittig links im Zuschauerraum, weder perspektivisch hervorgehoben noch anderweitig betont, in der menschenvollen Weite der statischen Totalaufnahme einer Kamera, die ihnen noch sehr nahe kommen wird. Anne und Georges sind alt. Anne und Georges waren Musiklehrer und nun sitzen sie in der Besuchermenge eines gefüllten Saals, um dem Konzert ihres ehemaligen Klavierschülers (Alexandre Tharaud) beizuwohnen. Von Angesicht zu Angesicht, einer Spiegelung ähnlich, verhält sich die Positionierung des Publikums der Salle Lumière mit dem fiktiven Publikum im Théâtre des Champs-Elysées. Es wiederholt sich im Film, was eben noch im Kino zu vernehmen war: Menschen, die sich einfinden und Platz nehmen, darunter an diesem Premierenabend Riva und Trintignant persönlich; eine Stimme durchdringt die Lautsprecher, mit der bittenden Aufforderung an die Besucher, ihre Mobiltelefone auszuschalten. Im Film ist es der beiden letzte Soiree auswärts. Als sie in ihre bürgerlich-großzügige Wohnung zurückkehren, ist das Türschloss aufgebrochen. Etwas bricht ein oder auf, in diesem Kammerspiel, das im unermesslichen Jenseits von Sagbarkeit, jedenfalls der schriftlichen Reproduzierbarkeit, eine außergewöhnlich unpathetische Semantik von geteilter Existenz inszeniert. Am nächsten Morgen, beim Frühstückstisch erleidet Anne den ersten Schlaganfall. Die zentrale und offene Frage nach dem Umgang mit dem Leid eines geliebten Menschen angesichts des Verlusts von Selbstbestimmung dekliniert sich in einer Oszillation von Mut und Hilflosigkeit, eröffnet schließlich die Möglichkeit einer in ihrer Tragweite immensen Spanne von Fragen – der Würde, der Schuld, der Scham, des Respekts, der Treue, der Verpflichtung, des ErduldenMüssens, der Transzendenz, letztlich allen denk- und empfindbaren Daseins, wenn man so will. In der Abgeschiedenheit einer Pariser Wohnung organisiert sich das Paar nach Möglichkeit. Er erzählt ihr Geschichten. Er lässt sie in Ruhe. Einmal, nach dem Essen, bittet sie ihn, das Fotoalbum zu holen. Auf dem Papier, sorgfältig eingeklebt, eine junge Riva alias Anne, ein junger Trintignant alias Georges, eine junge Huppert alias Eva. – Festgehaltenes Leben interpunktiert die Erzählung. „C’est beau … La vie … Si longtemps … la longue vie ...“, merkt die alte Dame an. Die Erinnerung an das Schöne kontrastiert mit ihrem Zustand, der sich zusehends verschlechtert. Dem elliptisch dokumentierten Verfall geht stets eine Andeutung voraus. Die dem Erhalt von Leben bestimmten Dinge und Vorrichtungen multiplizieren sich: im Rollstuhl war sie, halbseitig gelähmt, aus dem Spital zurückgekehrt, ein Krankenbett wird nun installiert, ein elektrischer Rollstuhl, den sie spielerisch erprobt, wird den ersten ersetzen, der Nachttisch wird größer, die Anzahl der Hilfsmittel nimmt zu. Anne hat Georges das Versprechen abverlangt, sie nie wieder ins Spital zu bringen. Er verspricht nichts. Er macht Sprachübungen mit ihr. Einmal singen sie. Sur le pont d’Avignon. Gegen die Aphasie. Er wäscht sie, die inkontinent wird. Er versucht sie

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zu überzeugen, etwas zu essen oder zu trinken. Er will ihr helfen und kann nicht. Ihr, die satt ist und sich schämt. Ihr, die eine Last nicht sein will, die am Selbstmordversuch in seiner Abwesenheit gescheitert ist. – „Il n’y a aucune raison de continuer à vivre, voilà. [...] Je n’en veux plus. Pas pour toi, pour moi.“ Er bemüht sich. Manchmal lachen sie, manchmal weint sie. Er tut es nicht. Er versteckt sie vor seiner Tochter, versperrt die Tür zu ihrem Zimmer: „Rien de tout cela ne mérite d’être montré.“ – Nichts von diesem Leben sei es wert, gezeigt zu werden, sagt Georges zu seiner besorgten Tochter Eva (Isabelle Huppert). Vieles davon jedoch sehen wir, durch eine Kamera, die es so schonungslos wie diskret einfängt. Den vermeintlich kleinen Gesten, verhaltenen Berührungen oder Blicken, zärtlich vertraut und von Angst entstellt, kommen selbst in den weiten Einstellungen gewaltige Dimensionen zu – sie sind die Träger von Bewegung im so statischen Gefüge der Isolation. Vieles davon imaginieren wir sodann, aus dem Fundus der Erfahrung. Er tut alles für sie, so sehr wie er vielleicht auch nichts für sie tut, denn er erhält, was zu erhalten ihr zufolge nicht lohnt. Ihr zufolge, die nach einem zweiten Schlaganfall zunehmend ihre Luzidität oder einfach sich verliert, die sich gehen lässt oder „ein Pflegefall“ wird, wie es die gemeine Sprache der Sozialität in aller Brutalität vorsieht. Aus dem kontextuellen Hinterhalt ragen die groben Trümmer einer Gesellschaft, die „Pflegebedürftigkeit“ als Befund pauschal vorsieht und an Willen und Unwillen der für bedürftig Befundenen sich nicht aufhält, oder aufhalten kann, einer Ethik wegen, die konzeptuell vor Schwierigkeiten stellt. Die Art und Weise, wie eine der schließlich betrauten Pflegerinnen seine Frau behandelt, ist Georges unerträglich. Er wirft sie hinaus. Er wechselt ihre Windeln. Sie verweigert die Nahrung, er droht, sie ins Spital zu bringen. Am Höhepunkt seiner Überforderung flößt er ihr das Wasser gewaltsam ein. Sie spuckt es ihm entgegen, er ohrfeigt sie. Er senkt den Kopf, bereut sofort, entschuldigt sich. Die Wucht der Reaktion, in der die ohnmächtige Verzweiflung kulminiert, findet ihren Nachhall in der stillen Montage jener Tableaus, die die Wohnung dekorieren. Weites Land, menschenleer und unbewegt – in der Gemäldesequenz eröffnet sich dem Zuschauer ein Denk- und vielmehr noch ein Fühlraum, den auf sonorer Ebene die stets abbrechende Musik übernimmt: Mit Schuberts Impromptus (opus 90, Nr. 1 und Nr. 3), Beethovens Bagatelle (opus 126, Nr. 2) und Bachs Choralpräludium „Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ“ ist die Geschichte diegetisch bestückt. – Selbstklingend wie die mitunter unablässigen Wehklagen der Frau, die „einem wehrlosen Kind“ gleich (Zitat Georges) ihr Leid vermittelt: „Mal“, ruft Anne ihren Schmerz, immer dringlicher, und Georges wird sie beruhigen, ihre Hand nehmen, um ihr eine letzte Geschichte zu erzählen. Die Geschichte aus dem Ferienlager, in das er als Kind von seinen Eltern wohlmeinend geschickt worden war und die im Spital endete, mit der Erinnerung an seine Mutter hinter der Glasscheibe, berührt. Georges scheint erkannt zu haben und bereitet Anne ein Ende, erstickt sie mit dem Kopfkissen. Er wählt ein Kleid aus dem Schrank für sie, schneidet, eines nach dem anderen, die Blumenköpfchen zurecht, verklebt die Tür zu ihrem Zimmer und richtet sich in einem Nebenzimmer der Küche ein. Um dort zu liegen, zu rauchen, zu vergehen. Und schreibt ihr einen Brief, erzählt von der Taube, die durch den Lichtschacht in den Vorraum geflogen war und die er, wenige Einstellungen zuvor unter großer Anstrengung gefangen und streichelnd in den Arm genommen hatte. Zu einem unbestimmbaren Zeitpunkt davor (Zeit erweist sich als dramaturgisch überwundene Größe), bei Tisch, in einem der zahlreichen feinsinnig-ironischen Mo-

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mente, die das Paar verlebt, um nicht zu sagen, in einem Flirt, erzählt Georges Anne von einem Kinobesuch in seiner Kindheit: „Enfin je ne sais plus l’histoire. En tout cas, je me souviens que j’étais complètement bouleversé en sortant et qu’il m’avait fallu un certain temps pour me calmer. Dans la cour de la maison où habitait grand-mère, il y avait un jeune type à sa fenêtre qui m’a demandé d’où je venais. Il avait quelques années de plus que moi, c’était un crâneur et bien entendu il m’en imposait beaucoup. ‚Du cinéma‘, je lui dis, parce que j’étais très fier que grand-mère m’ait donné l’argent pour aller tout seul au cinéma. ‚Mais qu’est-ce que tu as vu ?‘ J’ai commencé à lui raconter l’histoire et tandis que je racontais, l’émotion revenait. J’allais quand même pas pleurer devant ce type-là, mais c’était impossible. J’étais là, en larmes, dans la cour et je lui ai raconté le drame jusqu’à la fin.“

Die geschilderte Erinnerung ist emblematisch für Amour. Für einen Film, den, artikulatorisch kaum fasslich, sein Eigenleben trägt. Und neben der Tatsache, dass man im 2300 Plätze fassenden Grand Théâtre Louis Lumière über weite Strecken der Projektion eine Stecknadel hätte fallen hören können, genügt es zur Vergegenwärtigung seiner unbestreitbar beträchtlichen Wirkungspotenz, an die unmittelbare Posteriorität der Premiere des Films an diesem verregneten Sonntag im Mai bei den Filmfestspielen zu erinnern. Lenkt man, wie Roland Barthes in seinem Essay En sortant du cinéma (1975), die Aufmerksamkeit auf den Menschen im Moment des Verlassens der Vorstellung, dann ließe sich für diesen transitorischen Moment der Stille – „il se sent quelque peu désarticulé“ – für seine Existenz in Cannes festhalten, dass Amour Bewegung und Betroffenheit ausgelöst hat. Und auch Masken zu Fall gebracht hat: nicht jedes Make-Up jedenfalls konnte ihr standhalten, sie hat Gesichter freigelegt, die Liebe „unter Evakuierung sozialer Erklärungen“32. Haneke und sein Team hatten den Film fast ausschließlich in einem Studio bei Paris gedreht – „auf Schnitt gedreht“, wie Monika Willi im Verweis auf ihre außergewöhnliche Zusammenarbeit mit dem Regisseur betont. Anders als viele Regisseure, deren Erzählwerk am Schneidetisch bisweilen einer ablauftechnischen (Re-) Strukturierung bedarf, leiste Haneke bereits beim Drehbuchschreiben viel Schnittarbeit. Den Schnitt, für den konzeptionell häufig der Vergleich mit dem Schreiben bemüht wird, möchte Willi von letzterem jedoch gelöst sehen; der Kreationsakt unterscheide sich doch grundlegend: „Wir sind komplett abhängig von der Güte des Materials.“ Gemessen an der verhältnismäßig kurzen Dauer des Schneideprozesses dürfte das bei der Postproduktion behandelte Material in diesem Sinne äußerst „gütig“ gewesen sein: „Der Haneke sagt immer, in vier Wochen hat er es geschnitten – das stimmt nicht. In vier Wochen sind wir üblicherweise einmal durch und haben den ersten Rohschnitt, der sich ja nicht wesentlich ändert bzw. unterscheidet vom fertigen Film. Ich bin meistens drei Monate angestellt, so an die zwölf Wochen, aber da ist alles dabei: die Tests und die Screenings und dann noch einmal Nachbearbeitung – ich hab ja immer mindestens eine Woche zu arbeiten, wenn der 32 Haneke betont in einem Interview in der Sendung Kulturwerk (ORF3) Barbara Rett gegenüber, ihm sei bei der Realisierung des Films vor allem die „Evakuierung sozialer Erklärungen“ am Herzen gelegen.

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Film theoretisch steht, die rein technischen Arbeiten, wo der Michael nicht mehr dabei ist. Amour allerdings haben wir wirklich und ehrlich in sechs Wochen fertig gehabt. Das glaubt man nie, aber der war einfach in sechs Wochen fertig. Und dann hab ich aber ein Jahr lang fast täglich an dem Film gearbeitet – sei es via Mail Sachen rausschicken oder Telefonate: das war die allerlängste Postproduktion von allen Filmen, die ich bislang gemacht hab.“33

Angesichts des ungefähren Drehverhältnisses von eins zu 20, d.h. der Selektion der im Film ersichtlichen Sequenzen aus geschätzten 40 Stunden Material – von den Feinheiten der Lichtstimmung oder etwa der Koordination der acht Tonspuren ganz zu schweigen –, erscheint die Dauer der Anfertigung des Rohschnitts noch weit beachtlicher: Bis zu 22 Aufnahmen standen etwa für eine Einstellung zur Disposition, wenngleich Amour, so Willi, den Rekord (44 Takes für eine Einstellung der Klavierspielerin) nicht gebrochen hat. Und was, wenn nicht der Schnitt, macht schließlich aus sechs Wochen ein Jahr? Willi gibt Aufschluss über die Postproduktionsverhältnisse in der handwerklichen Abteilung: „Die Tatsache, dass ich mehr mache als nur den Schnitt – ich betreue Projekte dann immer, weil ich auch ein Kontroll-Freak bin und das auch mache und machen muss und das auch nicht delegiere: also vom Quick-Times-Rausspielen fürs Tonstudio bis hin zu (bei dem Film, der ja im Studio gedreht wurde) den Greenscreens: Alle Fenster im Film sind Greenscreen und bis sozusagen alle Ausblicke (das hab ich zum Teil auch nicht betreut), also bis alle Firmen (das sind immer zwei oder drei Firmen) die verschiedenen Layers machen (die einen drehen’s, die anderen setzen’s ein, die dritten müssen das Originalmaterial zur Verfügung stellen), bis all diese Kommunikation hinhaut und bis das dann gefällt und die Perspektiven stimmen ... Das mach auch nicht ich, aber es läuft dann sehr oft an einem Knoten zusammen, in der Verteilung des Materials und das Material hatte nur ich. Und natürlich die französische Firma, die die Raw files hat, aber das Wissen um ‚Welcher Ausblick wann, wie, wo‘, Listen machen mit dem Michael zusammen, die dann mit Vermerk wieder verschickt werden [Einstellung für Einstellung, etwa: atmosphärisch ‚zu warm‘; K.M.], oder Sichtungen machen, ob die Untertitel stimmen: damit vergehen Monate.“34

Im narrativen Umgang mit Zeit ist Haneke derart realistisch motiviert, dass zur Vermeidung von Zeitsprüngen bei Raumwechsel zwischen den einzelnen Einstellungen bisweilen mit zwei Kameras gleichzeitig gedreht wurde. Wenn Georges seine Frau im Rollstuhl vom Vorzimmer ins Wohnzimmer, von einer Einstellung in die nächste schiebt, vergeht Zeit. Aber trotz Schnitt eben nur die, die in actu vergeht.

33 Gespräch mit Monika Willi, geführt in Wien am 29.11.2012. Interview: Katharina Müller. 34 Ebd.

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21. M EDIALE F LUT TRIFFT AUF KRITISCHEN P FAHL : D IE KAUFMÄNNISCH RELATIVE B EDEUTUNG NATIONALER „K RITIK “ „Ihn den besten Film des Jahres zu nennen, ist eine Untertreibung; er überstrahlt eine Zeit“; „Ja, man könnte diesem Film, der so unvergleichlich viel für das Sehen tut, auch bloß lauschen, wie einem Nocturne, und er wäre auf andere Weise vollständig.“35 Es ist ein Empfang der Superlativen, den die internationale Presse dem Film beschert. „Liebe heißt er einfach, und Liebe zeigt er in einem Ausmaß von Unsentimentalität, das bei Haneke nicht überrascht, und einem Ausmaß an Zärtlichkeit, das einen bei diesem Regisseur trifft wie ein Hammerschlag.“36 Die internationalen Pressebeiträge zum Film türmen sich in unvorstellbare Höhen. Allein der den Zeitraum des Festivals umfassende Pressespiegel zu Amour, den mir Ulrike Lässer mit Bedacht in einem reißfesten Sack aushändigt, ist ein mehrbändiges Konvolut. Von den „großen“ Blättern bis hinein in die unbekanntesten Lokalzeitungen – von Österreich bis China – spannt sich der Bogen einer mehrtägigen Lektüre, die mithin bisweilen den Eindruck erweckt, dass die Mehrheit der Journalisten eher untereinander abschreibt als eigenständige Beiträge zu ersinnen. Ganz zu schweigen von der schlicht inkommensurablen Zahl an Blogs und Stellungnahmen, die das Internet bereithält. Die offizielle Presse jedenfalls ergeht sich in einem Enthusiasmus, der einstimmiger kaum sein könnte. Die Palette der Huldigungen reicht von ein paar wenigen feinsinnigen, offenbar im Bewusstsein über die Grenzen der Sprache redigierten Beobachtungen bis hin zu Zeugnissen von entsprechender Beschreibungsnot, die die brachiale Wertung zum obersten Annäherungsprinzip hat. Gérard Leforts Beitrag für Libération zur Premiere gibt in dieser Hinsicht zu denken: „Qui ne versera pas une larme à la vision d’Amour peut être raisonnablement traité de con.“37 Nachdem schon im Vorfeld des Festivals aus deutschen Gefilden ein Lamentieren darüber zu vernehmen war, dass kein deutscher Film im Wettbewerb stehe, heben deutsche Medieninstanzen umso insistenter die deutschen Anteile von Amour hervor. So wie österreichische schließlich die österreichischen und französische – etwas verhaltener – die französischen. Bei einem Branchentreffen lässt sich eine Riege von deutschen Produzenten als „Masters of Co-Production“38 würdigen, zahlreiche Beiträge der deutschen Presse verweisen pauschal auf die von Stefan Arndt geführte X-Filme-Produktion. Es mischt sich, mit anderen Worten, die Begeisterung über die Filmerzählung mit patriotischem Stolz: So steht am Ende des Festivals etwa niemand Geringerer als der „richtige Gewinner“ fest; die Goldene Palme sei „völlig verdient“39. Dass Nanni Moretti, der sich als Juror einst mit Händen und Füßen gegen Funny Games gewehrt haben soll, dem „zärtlichen Film über ausgehendes Le35 Schulz-Ojala, Jan. „Alle Zeit der Welt“. In: Der Tagesspiegel, 19.09.2012. 36 Lueken, Verena. „Von Strandjungen und Schnabeltassen“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.05.2012. 37 Lefort, Gérard. „L’amour dans l’âme“. In: Libération, 20.05.2012. 38 Unbekannt. „18 deutsche Filme sind in Cannes am Start“. In: Die Welt online, 23.05.2012. 39 Husmann, Wenke. „Wir sollen über Filme zanken!“. In: Die Zeit online, 28.05.2012.

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ben“40 die höchste Auszeichnung zugesprochen hat, sei als „Akt der Versöhnung“41 aufzufassen. Die deutsche Presse streicht – als ergänzende Nebenanmerkung zu den außerordentlich euphorischen Elogen – vor allem eine „Fehlentscheidung“ hervor, nämlich die Verleihung des Grand Prix du Jury für Matteo Garrones Reality. Man müsse annehmen, so die Berliner Zeitung kritisch, „dass sich der Jury-Präsident von nationalen Erwägungen leiten ließ“42. Auch Die Welt etwa schließt sich dem an – es sei schlicht „unverzeihlich“, dass man Garrone zulasten weit einfallsreicherer und formal versierterer Regisseure wie Leos Carax und Ulrich Seidl belohnt habe – und schließt ihren Beitrag dementgegen sehr wohl im Modus nationaler Erwägungen. Fremdpatriotisch, als eine von wenigen: „PS: Wir Deutschen sollten nun nicht wieder wie beim ‚Weißen Band‘ die Diskussion beginnen, ob mit ‚Amour‘ (Liebe) ein deutscher Film gewonnen habe, schließlich sei Haneke in München geboren und die Berliner Firma X-Filme Co-Produzent. Hanekes Film ist auf Französisch in Paris mit französischen Darstellern und französischem Geld gedreht. Das gilt auch für die anstehenden Oscar-Nominierungen: ‚Amour‘ ist kein Kandidat für die Eingemeindung durch Deutsche oder Österreicher.“43

Der Ausbau des europäischen Koproduktionssystems lässt die Journalisten in Positionierungsnöte geraten. Derselbe Journalist hatte im Anschluss an Hanekes Premiere mit einem Sager aufgewartet, den die österreichischen Zeitungen quer durch die Bank – Der Standard, Die Presse, die Kleine Zeitung, die Wiener Zeitung – schlagartig rezitierten: „In Cannes regieren die Österreicher“ – „Die bisherigen Höhepunkte lieferten Ulrich Seidl und Michael Haneke [...] ab.“44 Die Reaktionen der „großen“ französischen Blätter zeugen von einhelliger Begeisterung, für Libération hat die Vergabe der Palme das gesamte, für eher mittelmäßig befundene Festival „gerettet“45: „Cannes sauvé par la Palme“, steht am Deckblatt, das ein Bild des Regisseurs gänzlich füllt. Einzig die Redaktion von Télérama spaltet er46. Ansonsten erfreut sich auch die überwiegende Mehrheit der Lokalblätter der „Ode an die Gefühlswelt“47. Einer der Journalisten nimmt einen Satz zum Titel, der im Zuge des Festivals vermehrt zu vernehmen war: „Haneke m’a tué ...“, heißt es da in Reaktion auf die morgendliche Pressevorführung, die eine Realität des Abends bereits vorwegnimmt:

40 Westphal, Anke. „Liebe bis in den Tod“. In: Berliner Zeitung, 27.05.2012. 41 Rodek, Hanns-Georg. „Signor Morettis verspätete Verbeugung“. In: Die Welt online, 29.05.2012. 42 Westphal, Anke. „Liebe bis in den Tod“. In: Berliner Zeitung, 27.05.2012. 43 Rodek, Hanns-Georg. „Signor Morettis verspätete Verbeugung“. In: Die Welt online, 29.05.2012. 44 Rodek, Hanns-Georg. „Wenn Schwabbelfrau auf feste, schwarze Körper trifft“. In: Die Welt, 20.05.2012. 45 Deckblatt Libération vom 28.05.2012. 46 Guichard, Louis; Murat, Pierre. „Une palme qui divise“. In: Télérama, 30.05.2012. 47 Unbekannt. „Cannes: Alain Resnais fait sa déclaration“. In: Le Républicain Lorrain, 22.05.2012.

334 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE „Le glamour, les fastes, les flashes et les sourires Ultrabrite du tapis rouge auront, sans doute, eu du mal à leur faire oublier les deux heures passées à regarder se consumer, dans les affres de la grande vieillesse, le tendre et bel amour que se portent les deux personnages principaux du film.“48

Maximale Einigkeit international besteht hinsichtlich der Leistung der beiden Hauptdarsteller („deux icônes du 7e art“49), denen innerhalb der Grande Nation freilich besonders intensive Aufmerksamkeit zukommt. Mit Emmanuelle Riva steht „une exégérie“50, „une légende“51 an der Seite eines quantitativ etwas stärker wahrgenommenen Jean-Louis Trintignant, „cet homme paradoxal, indifférent aux honneurs et aux médailles“52. Trintignant, der zuletzt 1998 mit Patrice Chéreaus Ceux qui m’aiment prendront le train in Cannes gewesen war und in seiner eigentlich schon beendeten franko-italienischen Kinokarriere in etwa 130 Filmen gespielt hatte, erhält freilich auch in der italienischen Presse eine Vorzugsbehandlung. Als „mostro sacro del cinema francese“53 allerdings. Und während der Film des „maestro austriaco“54 erstaunlicherweise als „Euthanasiefilm“ – „un film sull’eutanasia“55 – die Runde macht, „contro la dilagante pornografia del dolore“ jedenfalls, ist vor allem eines klar: „Emmanuelle Riva e Jean-Louis Trintignant rappresentano la storia del grande cinema del passato.“56 Es ist Trintignants groß gefeiertes Comeback, die Leinwand hatte er – zugunsten von Theaterengagements und Lesungen – hinter sich gelassen, allein seine Stimme hatte er dem Erzähler der französischen Version von Das Weiße Band verliehen. In zahllosen Interviews betont er, die Lektüre des Drehbuchs von Amour habe ihn zunächst zwar berührt, die Geschichte sei ihm jedoch zu traurig gewesen, zudem habe er schlicht vorgehabt zu sterben. Produzentin Ménégoz habe ihn schließlich mit den famosen Worten „Faites le film, vous vous suiciderez après ...“ doch noch überreden können. Der Tod, so Trintignant, der sich endgültig zurückzuziehen trachtet, sei nach wie vor sein einziges Projekt.57

48 Dupuy, Philippe. „Haneke m’a tué ...“. In: Var Matin, 21.05.2012. 49 Unbekannt (Kürzel: A.C.). „Quand Michael Haneke ravive Emmanuelle Riva et Jean-Louis Trintignant“. In: La Marseillaise, 21.05.2012. 50 Fornerod, Pierre. „Riva-Trintignant un Amour de couple à Cannes“. In: ouest France, 21.05.2012. 51 Unbekannt. „Emmanuelle Riva DL; de retour à Cannes“. In: Le Courrier de l’ouest, 21.05.2012. 52 De Lamberterie, Olivia. „Jean-Louis Trintignant: Au cœur d’un homme“. In: Elle, 18.05.2012. 53 Unbekannt. „Cannes, Palma d’oro al regista Haneke – A Garrone il Grand Prix della giuria“. In: La Stampa, 27.05.2012. 54 Manin, Giuseppina. „Vince l’amore tragico di Haneke: A Garrone il Grand Prix“. In: Corriere della sera, 28.05.2012. 55 Caprara, Fulvia. „Trintignant: ‚L’amore ha un lato oscuro‘“. In: La Stampa, 21.05.2012. 56 Aspesi, Natalia. „Il trionfo dell’amour: Gli ottantenni di Haneke già candidati alla Palma“. In: La Repubblica, 21.05.2012. 57 Vgl. etwa: Trintignant im Interview. Belpêche, Stéphanie. „Je ne ferai plus de cinéma“. In: Le Journal du Dimanche, 21.10.2012.

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„It is hard not to read a certain calculation behind the casting. Both characters […] are played by icons of French cinema: Anne by Emmanuelle Riva, who starred in ‚Hiroshima, Mon Amour‘, and Georges by Jean-Louis Trintignant, who starred in ‚A Man and a Woman‘“58, heißt es in einem Blog der New York Times, der dem Regisseur Klugheit wohl nicht ganz zu unrecht unterstellt. Zudem ist nicht nur das Kino der Vergangenheit sondern auch das der Gegenwart hochprominent repräsentiert, von einer Isabelle Huppert nämlich, die sich stets weigert, über die „Figuren“ aus Amour zu sprechen: „Le cinéma de Michael Haneke procède par soustractions. J’interprète une femme face à ses parents qui meurent. Elle pourrait être moi, elle pourrait être tout le monde, ce n’est pas un personnage particulier avec son cortège de petites stratégies fictionnelles. C’est ce qui rend le film si bouleversant. L’identification qu’il produit est démente. Il y a des phrases, des situations que j’ai vécues. Chacun peut reconnaître ce sentiment d’être si démuni face à quelque chose qui s’arrête avec la mort d’un proche et l’étonnement que la mobilité de la vie se poursuive.“59

Vielfach hervorgehoben werden nicht zuletzt auch die Kinematographie von Darius Khondji sowie die Virtuosität seiner Farbdramaturgie, die die Bilder mit einer beträchtlichen Wärme erfülle. Die zahlenmäßig unermesslichen Stellungnahmen der Presselandschaft gestalten sich derart homogen, dass Gérard Lefort und Didier Péron für Libération im Herbst zum Kinostart schließlich die Frage stellen, ob die so überschwängliche und außerordentliche Mobilisierung dem Film nicht eher schade: „Que s’est-il passé entre le soir où Amour a remporté la palme d’or au Festival de Cannes et ce mercredi où il est de sortie ? De toute évidence un phénomène collectif et collectivisé d’unanimité qui déborde largement le cadre conventionnel de la critique. On a de plus en plus l’impression que pour faire pièce à un marketing assourdissant du gros cinéma américain ou des comédies populaires made in France, il faut ponctuellement qu’un film dit d’auteur se dévoue et sonne la charge avec les mêmes trompettes. A ce titre, Amour serait donc, de son réalisateur à ses acteurs en passant par son histoire, le film de la rentrée. […] On assiste ainsi à la généralisation de la logique consumériste qui veut qu’un produit fasse office d’appel en tête de gondole. Le summum ayant été atteint par l’injonction lue plusieurs fois dans la presse du ‚film que vous n’avez pas envie de voir mais que vous verrez quand même‘. On pourrait finir par prendre Haneke en grippe, se sentir peu concerné par ce commandement, cet ordre d’Amour. Comment faire pour que l’œuvre ne soit pas réduite à un événementiel culturel lesté d’un sujet ‚impliquant‘ ? Comment faire pour qu’elle existe et nous hante, malgré l’avis de mobilisation générale ? C’est pas gagné mais faisons le pari simple que le film peut survivre à trop d’amour.“60

58 Glaser, Sheila. „How Michael Haneke Uses His Actors“. In: Blog der New York Times, 30.05.2012. 59 Isabelle Huppert im Interview. Lalanne, Jean-Marc. „Isabelle Huppert: actrice dans Amour de Michael Haneke et In Another Country de Hong Sangsoo“. In: Les Inrockuptibles, 23.05.2012. 60 Lefort, Gérard; Péron, Didier. „Le couloir de l’‚Amour‘: Injonction“. In: Libération, 24.10.2012.

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Die Kritiken zum Kinostart des Films im Herbst 2012 sind fulminant („un grand film sur l’inéluctable de la condition humaine“61), nicht alle jedoch vorbehaltlos im Hinblick auf seine Wirkung: „drame parfois difficile à supporter. Ames sensibles, s’abstenir“62, warnt Le Figaro. Und selbst dieses Haneke gegenüber sonst so verhaltene Blatt nimmt sich diesmal kein Blatt vor den Mund: „Précis, lucide, douloureux, impitoyable et tendre“, gesteht man zu und würdigt die Entscheidung des Regisseurs über die des fiktiven Paars: „une liberté tragique que le pathos mou de la culture ambiante nous avait fait oublier.“63 Auch die konservative Tageszeitung La Croix stimmt in den Lobgesang ein und huldigt dem „philosophe de formation“ für seine Ehrlichkeit und das unausweichliche Geschenk eines „appel à l’intelligence de chacun face à un thème d’une infinie complexité“64. Das internationale Echo weicht von diesen Bahnen der Begeisterung nicht ab. Was sich in den Beiträgen der Presse zum jeweiligen Kinostart anbahnt, setzt sich in den „elitären“ Filmkritiken kein bisschen weniger herzhaft fort und erweckt den Anschein, dass Haneke den Kritikern schon einiges an Arbeit abgenommen hat: „Alles liegt offen da und muss nur erschaut und erlebt werden“65, konstatiert in diesem Sinn das Filmbulletin. Catherine Wheatley für Sight&Sound räumt dem „arthouse darling“ Haneke eine geglückte Überraschung ein, die bislang größte: „far from the excruciating, excoriating ordeal one might have expected, Amour emerges as a delicate and tender elegy for a lifetime of love.“66 Der Überraschungsfaktor ist derart groß, dass selbst Charles Martig, der einst noch im Dienste der Wissenschaft zu „Lesarten gegen die wohlwollende Deutung von Hanekes Filmwerk“ (Martig 2008: 391) aufgerufen hatte, für film-dienst nachgibt und in Amour ein Meisterwerk erkennt: „durch die Reduktion der gestalterischen Mittel, die Authentizität in der Schauspielführung, den radikal genauen Kamerablick. In dieser Gestalt liegt ein neuer Zugang zu Hanekes filmischem Werk verborgen.“67 Eine Kollegin von epd Film stellt einen „geläuterte[n] Regisseur“ vor, der sich „neu erfunden“ habe und „auf maliziöse Effekte verzichten kann“68. Für Schnitt ist „Hanekes Image des kalt-analysierenden Publikumsverächters dahin“, so sehr wie es „müßig“ sei, „die darstellerische Konzentration und Nuanciertheit Trintignants gegen den Mut und die Körperlichkeit Rivas aufzurechnen“69. Eine österreichische Kritik, die unter anderem die „schmerzhafte Schönheit“ der Umsetzung würdigt, bezieht notgedrungen Stellung zur tendenziösen Einbettung von Regisseur und Film in die nationale Medien- und Filmlandschaft:

61 Kaganski, Serge. „Amour de Michael Haneke“. In: Les Inrockuptibles, 24.10.2012. 62 Unbekannt (Kürzel: L.H.) „Déraison et sentiments“. In: Le Figaro Magazine, 19.10.2012. 63 Tranchant, Marie-Noëlle. „Haneke, l’amour au chevet de la mort“. In: Le Figaro, 24.10.2012. 64 Schwartz, Arnaud. „Sur le seuil“. In: La Croix, 24.10.2012. 65 Ranze, Michael. „Alles liegt offen da“. In: Filmbulletin, Nr. 6/12. 66 Wheatley, Catherine. „Amour“. In: Sight&Sound, Nr. 22, Dezember 2012, S. 87. 67 Martig, Charles. „Die Liebe und der Tod: Michael Haneke und sein Film ‚Liebe‘“. In: filmdienst, Nr. 19, 2012, S. 11. 68 Feldvoß, Marli. „Am Ende des Lebens“. In: epd Film, Nr. 9, 2012, S. 19. 69 Cherkowski, Robert. „Die Liebe in Zeiten des Schlaganfalls“. In: Schnitt – Das Filmmagazin, Nr. 67, Juli 2012, S. 64.

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„Als Michael Haneke in Cannes für Liebe seine zweite Goldene Palme hochverdient in Empfang nehmen durfte, war hierzulande schnell wieder vom so gern zitierten österreichischen Filmwunder die Rede. Inwieweit es berechtigt ist, einen international produzierten, in Frankreich gedrehten Film eines Regisseurs mit universellem Anspruch lokal zu vereinnahmen, könnte man durchaus einmal hinterfragen. Bei der einem Film wie Liebe entgegengebrachten Wertschätzung erscheint ein Aspekt der vor kurzem aufflammenden Diskussion um bestimmte Bestrebungen, den österreichischen Film ‚aus dem Einzugsgebiet des Düster-Depressiven zu befreien‘ und verstärkt in Richtung Komödie zu leiten, doch ein wenig kurios. Ist doch die im Zug dieser Diskussion auch aufgetretene Frage nach der ‚Königsklasse‘ des Kinos längst unwiderlegbar beantwortet: Genau dort spielt nämlich Michael Hanekes Liebe.“70

Positif schließlich, in seiner 620. Ausgabe, bringt Haneke und Trintignant bei der Arbeit am Set auf sein Hochglanzdeckblatt und widmet dem Regisseur, seinem Film und dem Darstellergespann einen Themenschwerpunkt. Man könne, so Chefredakteur Michel Ciment, der wohl auf seine Cahiers-Kollegen anspielt, einen Film nicht einfach missachten, nur weil er sich an hierarchisch oberer Position offizieller Anerkennungen befinde.71 Positif besiegelt damit das kritische Schicksal eines Films, das kaum eine Produktion der jüngeren Vergangenheit für sich reklamiert. – Mit einer namhaften Ausnahme eben: Es sind, bezeichnenderweise, die Cahiers du Cinéma, die sich – zugunsten eines palmenmäßig erfolglosen Leos Carax – für Haneke über mehrere Ausgaben hinweg die denkbar schlechteste Bewertung vorbehalten. „Que retenir de Cannes?“, lautet zunächst die große Frage am Deckblatt der JuniAusgabe: „Il y a eu cette année une vraie perversion de l’idée du ‚grand film‘. Cette perversion n’est pas nouvelle, mais elle n’a jamais été aussi spectaculaire“72, bekundet Chefredakteur Stéphane Delorme angesichts des für ihn enttäuschenden und voller Fehlentscheidungen zu Ende gegangenen Festivals. Schon das Vorwort der Ausgabe ist vernichtend: „La grande affaire du festival aura été le Haneke, Amour. Palme d’or au final. Un film qui s’appelle ‚Amour‘ est déjà un peu suspect. Pourtant Haneke montre pendant une heure quelque chose de l’intimité d’un vieux couple, avec deux acteurs forcément bouleversants. Mail il ne peut s’empêcher de faire revenir ses vieux démons, et la brutalité avec laquelle il met fin à l’amour, comme on exécute un criminel, ne révèle que de la haine. Ce n’est pas un coup de hache dans la mer gelée, mais un coup de massue. La scène de l’oreiller, appelons-la ainsi, était l’envers triste et malhonnête du revivre illuminé de Carax. Un plan qui faisait baisser la tête au spectateur de honte que l’on puisse filmer cela ainsi. Il n’y a que deux types de cinéastes: ceux qui font lever les yeux et ceux qui font baisser la tête. Cannes a été le triomphe des seconds.“73

Die Stellungnahme ist nur der Anfang einer langen Kette von cahierschen Gegenargumenten zu einem auteur, den man zunächst bescheiden des Akademismus und schließlich eher derb der Misanthropie bezichtigt. Am schwarzen Deckblatt der No70 Schiffauer, Jörg. „Schlussakkord“. In: ray – Filmmagazin, Nr. 09/12, S. 75. 71 Ciment, Michel. „Hiérarchies?“. In: Positif, Nr. 620, Oktober 2012, S. 1. 72 Delorme, Stéphane. „Un festival entre deux eaux“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 679, Juni 2012, S. 20. 73 Delorme, Stéphane. „Revivre“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 679, Juni 2012, S. 5.

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vemberausgabe, zwischen den dem Filmplakat entnommenen, jedoch rot und blau eingefärbten Köpfen der beiden Hauptdarsteller behauptet sich das leitgebende Statement: „Haneke: Amour & Misanthropie“74. Angesichts der öffentlichen und kritischen Sturmflut, die der französische Kinostart des Films verspreche, sieht sich Chefredakteur Delorme abermals gezwungen, sein Unverständnis über die „Erniedrigung“ kundzutun, die der „zynische“ Haneke via seine Hauptdarstellerin dem Zuschauer zufüge: „La sortie d’Amour est l’occasion de faire le point sur une question qui préoccupe la revue de manière insistante. L’incompréhension de voir défendus et même qualifiés d’humanistes des films insupportables de misanthropie. La méthode est souvent la même : une fausse objectivité qui cache mal une réelle manipulation. Les films crient qu’ils laissent le spectateur libre de choisir alors qu’ils dirigent ses émotions à son insu. Comme par hasard, ce sont souvent des faits divers ou des faits de société qui servent de couverture à cette démarche empoisonnée.“75

Man müsse zwischen einem Liebesfilm und einem Haneke-Film unterscheiden, so sinngemäß die Forderung von Co-Chefredakteur Jean-Philippe Tessé, der die Kritik zum Film übernimmt: „Amour est un funny game qui ne dit pas son nom.“76 Man habe die Cahiers, da sie den Film in Cannes nicht gemocht hatten, von der Pariser Pressevorführung des Films ausgeschlossen, so Tessé. „Mal mal mal“77, lautet dann der Titel des Beitrags, der auf das schmerzliche Stöhnen der Protagonistin anspielt und sich als Kritik nicht nur an der Inszenierung Hanekes versteht, sondern auch an der Reaktion der Presse. Tessé nimmt das besagte Libération-Diktum Gérard Leforts zum Anknüpfungspunkt, demzufolge Dummheit demjenigen zuzusprechen sei, der im Angesicht des Films keine Träne vergieße. Die Liebe, die Haneke zeige, sei auch stets ihr Gegenteil: „Hass.“ Es sei nicht einzusehen, dass man einen – vorzugsweise seines kritischen Potentials wegen angesehenen – Regisseur nicht kritisieren dürfe, so – ebenfalls sinngemäß – die erbosten Worte des Autors. Was die Redaktion zutiefst irritiert, findet eine ihrer argumentativen Kulminationen in der Bezugnahme auf die – vielfach als Gnaden- bzw. Liebesakt gedeutete – Tötungs- bzw. Erstickungsszene, in ihrer Umsetzung vor allem, der eine bestimmte Absicht unterstellt wird: „Précisons : il n’est pas question ici de discuter de la décision du personnage d’en finir ainsi (pas question de faire un pour/contre l’euthanasie), mais de la manière dont Haneke filme ce geste et ce qu’il lui fait dire. Les bonnes âmes et les fantastiques chasseurs de cons diront que c’est une scène d’amour, un point c’est tout. C’est faire fi, par goût du consensus et de l’enfonçage de portes ouvertes (difficile de dénier à Georges le droit d’abréger tant de souffrance), de l’ambiguïté de la mise-en-scène. Par sa brutalité, sa soudaineté, la scène est terrifiante à dessein : elle intervient dans un des rares moments de quiétude, que le cinéaste ne 74 Deckblatt Cahiers du Cinéma, Nr. 683, November 2012. 75 Delorme, Stéphane. „Les misanthropes“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 683, November 2012, S. 5. 76 Tessé, Jean-Philippe. „Mal mal mal: Amour de Michael Haneke“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 683, November 2012, S. 8. 77 Tessé, Jean-Philippe. „Mal mal mal: Amour de Michael Haneke“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 683, November 2012, S. 6-8.

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laisse pas se terminer, et elle est filmée de manière à ressembler moins à une ultime étreinte qu’à une radicale mise à mort, une suppression de l’autre – la faire taire. L’effet est garanti : d’une seconde à l’autre, on passe de l’attendrissement à la suffocation.“78

In einem weiteren Artikel derselben Ausgabe nimmt Joachim Lepastier eine „kritische“ Lektüre des kürzlich erschienen Interviewbands der beiden Positif-Redakteure Michel Cieutat und Philippe Rouyer, Haneke par Haneke (2012), vor. Und findet dafür einen Titel, der den etablierten anti-papa Traditionen der Cahiers sehr nahe kommt: „Haneke père sévère“79. Einen Monat später, in der Dezemberausgabe, wird Haneke schließlich als repräsentative Leitfigur für die bilanzierte Schieflage eines Autorenkinos herhalten müssen, dessen Abgründe und Makel einen Schwerpunkt bilden: „Le cinéma d’auteur sur une mauvaise pente?“80, so die revuemaßgebliche Frage zum Jahresabschluss. Die Benennung zehn schändlicher Makel des cinéma d’auteur steht – nach der Kür der Top-Ten-Filme des Jahres, aus der Carax’ Holy Motors und Cronenbergs Cosmopolis als Sieger hervorgehen werden – am Programm. Darunter etwa der Kult der Beherrschung („Le culte de la maîtrise“ als Zeichen eines abzulehnenden „cinéma d’[h]auteur“) und der Esprit von Strenge und Seriosität („Le sérieux de pape“), denen Haneke selbstverständlich zugerechnet wird. Noch im Dezember desselben Jahres spreche ich Produzentin Ménégoz auf die so feindliche wie in ihren argumentativen Zügen erstaunliche Kritik an. Ménégoz, aufgrund ihrer Arbeitsbeziehung mit Éric Rohmer gewissermaßen selbst cahierscher Provenienz, relativiert die Stellungnahmen der Revue mit Verweis auf ihr geringes Verbreitungs- und Wirkungspotential: „Écoutez, deux choses : les Cahiers du Cinéma, je suis née avec, ou quasiment. Aujourd’hui c’est un journal qui a à peu près, je ne sais pas, entre 5000 et 10.000 abonnés, donc ça n’a aucune importance parce qu’ils n’ont pas de lecteurs. Mais ils ont su garder cette aura à l’étranger comme la revue cinématographique la plus notoire, la plus célèbre. Et quand je dis, je suis née dedans, c'est-à-dire Rohmer était des Cahiers du Cinéma et l’autre ennemie en face, c’était Positif qui aimait un genre de cinéma tout à fait différent. Ils passaient des nuits à discuter, à ne plus se parler, à s’accuser mutuellement de sectarisme et de tout ça. Et donc moi je ne donne pas grande importance aux Cahiers du Cinéma, bien que je sois de famille rohmerienne qui était vraiment un bastion Cahiers du Cinéma, ça n’a pas grande importance, mais je dois dire qu’une mauvaise critique ou une critique hostile dans les Cahiers du Cinéma, ça touche plus Michael Haneke qu’un article de quatre pages le plus élogieux dans Le Figaro, dans Le Monde, dans Libération etc. Bizarrement c’est comme ça. Pour moi, les grands journaux comme Le Monde, comme Le Figaro, comme Libération, comme La Croix, comme Le Parisien, comme Télérama sont beaucoup plus importants parce qu’ils sont lus par infiniment plus de personnes que les Cahiers.“81

78 Ebd. S. 8. 79 Lepastier, Joachim. „Haneke père sévère“. In: Cahiers du Cinéma, Nr. 683, November 2012, S. 10. 80 Deckblatt Cahiers du Cinéma, Nr. 684, Dezember 2012. 81 Gespräch mit Margaret Ménégoz, geführt in Paris am 12.12.2012 (Les Films du Losange). Interview: Katharina Müller.

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Was die Printmedien bieten, so Ménégoz, sei schlicht albern: Die Mehrheit der Journalisten und Kritiker, so die empirisch nachweisliche Einschätzung der LosangeVorsitzenden, ergehe sich in der relativ detaillierten Darstellung der Geschichte der Filme, so wie sie in den Presseheften stehe. Arbeitsspärlich also. Der additionale Zug bestehe dann darin, Interviews durchzuführen, weil die Arbeit dabei an den Interviewten delegiert wird. Der neueste Informationstrend, nämlich der darin bestehende, die Besucherzahlen zum jeweiligen Film anzuführen, stößt bei Ménégoz schließlich auf völliges Unverständnis: „Les chiffres de fréquentation : maintenant Le Monde, Le Figaro, tout le monde fait ça et c’est incompréhensible pour quelqu’un qui ne connaît pas le coût de production du film, le nombre de séances ou le nombre de copies, le nombre d’indépendants ou de multiplexes dans les salles, c’est incompréhensible, ce n’est pas leur métier et ça devient de plus en plus des papiers d’humeur : ‚Je me suis senti bien, je ne me suis pas senti bien.‘ Mais la vraie grande critique comme on l’a connue dans les années 70, 80 … il n’y a presque plus de grande critique. C’està-dire les magazines comme Le Point, L’Express, Le Nouvel Observateur etc. font des récits, des papiers d’humeur mais il n’y a plus de place pour la critique – sauf dans Le Nouvel Observateur avec Pascal Mérigeau.“82

Dass die ehemals maßgebliche Instanz von Kritik sowohl der Revuen als auch der Presse in den vergangenen Jahrzehnten beträchtliche qualitative Einbußen erlitten hat, geht Hand in Hand mit dem Verweis auf die Tatsache, dass die Bedeutung von Kritik und Presse im Distributions- und Verkaufsprozess zugunsten anderer Selbstverständigungsformen bzw. Verselbständigungsformen deutlich abgenommen habe. Ménégoz beschreibt diese für Frankreich gültige Situation (in den USA etwa habe die Kritik noch großen Einfluss) anhand der Aktivitäten von Losange: „Quand on sort un film en France, puis en Allemagne, puis en Autriche et petit à petit dans les autres pays du monde – parce que nous faisons nous-mêmes la vente et que nous choisissons les distributeurs dans chaque pays –, en fait je ne lis pas vraiment les critiques. Je regarde la place que ça prend dans le journal, quel est le titre et quel est le sous-titre écrit en gras et s’il y a une photo ou pas. Et puis je le mets de côté, je me dis que dans quelques années quand je ne travaillerai plus, j’aurai tout mon temps de lire tout ça tranquillement. […] La critique, la place que – je n’ose même plus dire ‚la critique‘, mais la place que les journaux donnent au film, ça compte un peu dans la possibilité d’avoir un nombre de salles plus grand ou plus petit. Sauf que dans tous les sondages qui ont été faits en France auprès du public (‚Qu’est-ce qui vous décide à aller voir un film ?‘) arrivent en numéro 1 : l’histoire, la bande-annonce. Numéro 2 : un ami, une amie, quelqu’un de ma famille m’a dit que c’était vraiment très bien. Et ainsi de suite. Et la critique se trouve quasiment à la dernière place pour décider quelqu’un à aller voir un film. La critique, même si elle est unanime (enfin la place que les journaux accordent à un film est unanime), pléthorique, vaste etc., ça peut encourager un tout petit peu à aller voir le film dès le deuxième, troisième ou quatrième jour.“83

82 Ebd. 83 Ebd.

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Dem zu ergänzen bleibt die Beobachtung, dass die kreativeren und wortgewandteren, jedenfalls nicht am Presseheft orientierten Stimmen aus anderen Artikulationsräumen tönen: „Quand on Haneke l’AMOUR“84, meldet, frei nach Jacques Brel, ein TwitterBeitrag im Zuge der Preisverleihung in Cannes. Es ist nur einer von unzähligen – zum Teil fragwürdigen – Kommentaren und Diskussionen, die sich in den Weiten des Internets abzeichnen. Schriftlich, sowie auch im Videoformat. Und während etwa die Online-Ausgabe von L’Express via letzteres Kritiker und Komödianten versammelt, um darüber zu diskutieren, ob man den Film nun sehen sollte oder nicht, hält eine Bloggerin im öffentlichen virtuellen Leserbriefteil (Express Yourself) fest: „Amour m’a tellement bouleversée qu’en sortant de la salle, j’ai mangé un kébab.“85 Nach den oben genannten Prämissen ließe sich daraus schließen, dass wenn sie ihre – tatsächlich positive! – Filmerfahrung ihren virtuellen Freunden mitteilt, deren sie potentiell tausende haben kann, dem Film aus kaufmännischer Sicht mehr gedient ist als mit einem Cahiers-Artikel, mag er auch noch so anregend sein. An erster Stelle der besagten französischen Motivationsindikatoren steht jedoch ein Trailer, den wie so oft Cutterin Monika Willi angefertigt hat. Ménégoz zu dessen Entstehungs geschichte: „Il y avait une proposition de Michael Haneke qui ne me convenait pas et donc j’ai bataillé et j’ai dit : essayons autre chose. Avec Mona, il n’y a pas de danger. La difficulté c’était qu’on ne voulait montrer dans la bande-annonce ni le fauteuil roulant, ni le handicap, ni le visage détruit d’Emmanuelle Riva. Donc on avait très peu de choix et on a voulu quand même raconter que le titre n’était pas mensonger, que c’était une histoire d’amour, et on ne voulait surtout pas mettre la fin, c’est-à-dire le meurtre par amour dans la bande-annonce. Et donc, elle a réussi à construire quelque chose en dialoguant avec Michael, avec moi au téléphone. […] Dans une bandeannonce il faut garder un mystère. Il ne faut pas que le spectateur pense quand il a vu la bandeannonce qu’il a vu le film, qu’il a tout vu, qu’il a déjà tout compris.“86

Die Version des Trailers ist in ihrer visuellen Umsetzung – im Unterschied zum Weißen Band – diesmal in allen Ländern dieselbe. Vorschläge der diversen Partner hatte Ménégoz als Verkäuferin des Films abgelehnt: „C’est la même, je l’ai imposée partout. Il a fallu que ça me convienne – comme c’est nous qui vendons le film, ils n’ont pas le droit. Ils voulaient changer des choses … les Japonais voulaient changer des choses, les Mexicains voulaient changer des choses – enfin il y a des modes innombrables : les uns voulaient voir … au Japon, Alexandre Tharaud, le pianiste, est une star, donc ils voulaient le voir jouer du piano ; en Italie, ils voulaient – ça je l’ai permis – rajouter, au début de la bande-annonce, Nanni Moretti et la Palme d’Or, c’est la seule chose que j’aie permise et tous les autres changements, j’ai refusé ; parce que, honnêtement, ils étaient moins bien que ce qu’on avait fait, donc il n’y avait pas de raison.“87 84 https://twitter.com/cinemacanalplus/status/206810304280141825 [28.05.2012] 85 http://www.lexpress.fr/culture/cinema/amour_1178857.html?xtmc=Haneke_amour&xtcr=9 [01.02.2013] 86 Gespräch mit Margaret Ménégoz, geführt in Paris am 12.12.2012 (Les Films du Losange). Interview: Katharina Müller. 87 Ebd.

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Der Trailer, ein ehemals ausschließlich im Kino erfahrbares Lockmittel, ist längst integraler Bestandteil des Produktionskonzepts und damit Teil eines weitläufigeren Marketing-Korpus. Die Bedingung für ein erfolgreiches Marketing, so Ménégoz, sei die Basis des Films selbst: „Je pense que le marketing c’est très important, enfin le marketing, la publicité, la presse et tout ça. Si on met tout ça dans le même sac, c’est très important. Mais si vous n’avez pas la base pour le faire … On ne peut pas mentir sur un film. Si un film qui n’est pas une comédie, vous l’appelez comédie, je ne sais pas pourquoi, le public le sent. Ils n’ont rien vu, personne n’a encore écrit que ce n’était pas une comédie, mais ils le sentent. Vous ne pouvez pas mentir sur ce qui est un film. Donc il faut dans tout ce travail de promotion, de publicité, de recherche de groupes de spectateurs qui peuvent être intéressés (soit parce que c’est des profs d’allemand – c’est le plus basic – c’est la langue allemande, soit parce que ça traite de quelque chose qui intéresse tel groupe, telles associations etc.), il faut toujours dire la vérité. Et je pense que les personnes qui sont les plus aptes à faire le marketing, c’est les gens qui doivent en tout cas superviser toute personne qui est impliquée dans le marketing, c’est les gens qui ont fait le film. Parce que personne mieux qu’eux sait ce qu’il faut mettre en avant et ce qu’il ne faut pas mettre en avant. Et après il faut exécuter le travail. Mais je ne crois pas aux conseillers en stratégie de marketing et des choses comme ça, parce que quand on est lucide soi-même, et Haneke est un homme lucide, y compris sur son propre travail, il est sévère avec lui-même, il sait très bien ce qu’est une bonne bande-annonce. Et après, il faut trouver les gens pour le faire bien.“88

20. D IE W ARE L IEBE : O SCARNOMINIERUNG

ALS

B OX -O FFICE -S PRUNGBRETT

„Was kann Liebe anderes sein als die Akzeptanz der Sterblichkeit, die Fähigkeit zur Trauer? Ebendies ist das Trauerspiel – von der Liebe, die keine Lösung ist, sondern alles, was wir haben“ (Seeßlen 2012: 205), hält Georg Seeßlen in seinem Essay zum Film fest, der im Anhang zum Drehbuch den „Spuren der Liebe in den Filmen von Michael Haneke“ nachgeht. Selbstbewusst und im monologischen Dialog mit dem Regisseur, wie es seine Nachschrift bezeugt: „‚Interpretation‘, hat Susan Sontag gesagt, ‚ist die Rache der Intellektuellen an der Kunst‘. Das mag sein, des Öfteren. Doch oft genug auch ist Interpretation nichts anderes als eine etwas verdrehte Liebeserklärung des Intellektuellen an die Kunst.“ (Seeßlen 2012: 206) Seeßlen bleibt seinem analytischen Zugang also liebevoll treu und klärt klassifizierend wie folgt auf: „Was wir ‚Filmsprache‘ nennen, ist maßgeblich davon abhängig, wie indexikalisch oder ikonisch ein Bildelement bzw. ein Zeichen verwendet wird, nicht zuletzt weil es je nach Zeichenart unterschiedliche Lesarten gibt. Während etwa ein Hollywood-Film nahezu ausschließlich Ikonen der Liebe bietet, bietet uns Haneke fast ausschließlich Indizien. Wir müssen diese Spuren selber verfolgen, hinter alles, was gegen sie spricht.“ (Seeßlen 2012: 178)

88 Gespräch mit Margaret Ménégoz, geführt in Paris am 12.12.2012 (Les Films du Losange). Interview: Katharina Müller.

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Nun gut. „Le cinéma américain en panne“89, lautet eine der Bilanzen zur 65. Ausgabe der Filmfestspiele von Cannes. Denn es gehört zur etablierten Tradition des Festivals, amerikanische Autoren/Regisseure mit Arbeitsbedingungen jenseits der großen Hollywoodfabrik auszuzeichnen. Während Terrence Malick für The Tree of Life (2011) im Vorjahr noch für Amerika den Hauptpreis mitnehmen konnte, haben die diesjährigen „Independent“-Beiträge des Hauptbewerbs für Kritik und Presse weitgehend versagt. Jeff Nichols’ Mud, Lee Daniels’ Paperboy und Andrew Dominiks Killing them softly unter anderem stehen – so das mediale Echo – im Schatten ihrer Vorgängerfilme. „Independent“ ist ein solcher Beitrag, der freilich in Hollywood-Regionen entstehen kann, seinen finanziellen Produktionskapazitäten entsprechend jedoch jenen des europäischen Arthouse-Segments zuzurechnen wäre, so er nicht ohnehin Teil dieses Produktionszirkels ist. In den Staaten füllt man das vor Ort immer weniger produzierte Arthouse-Segment mit Einkäufen: „We don’t look at them as foreign films. We look at them like they’re great independent films“90, bekräftigt Michael Barker von Sony Pictures Classics, Arthouse-Abteilung der Sony Pictures Studios. Schon vor den Filmfestspielen von Cannes erwirbt Sony Pictures Classics alle nordamerikanischen Rechte für Amour. Nach Caché und Das Weiße Band wird bereits zum dritten Mal ein Haneke-Film in den Vereinigten Staaten von Sony Pictures Classics verliehen, die Haneke dem Hollywood Reporter als „One of the world’s finest filmmakers“91 empfehlen. In einer Stellungnahme zum gegenwärtigen Stand des independent cinema wird Regisseur Steven Soderbergh im Frühjahr 2013 vor der San Francisco Film Society einen signifikanten Zustandsbericht zur Lage des Autorenfilms (cinema in Abgrenzung zu movies) vorbringen: Ein ökonomisch rational handelndes Studiosystem (müßig, hier auf die Exportgutqualitäten von movies zu verweisen) sehe sich mit sinkenden Zuschauerzahlen konfrontiert (festzumachen vor allem am Qualitätsfernsehen), von Seiten des Post-9/11-Publikums jedoch manifestiere sich ein dominanter Bedarf an „eskapistischer Unterhaltung“. Als entsprechend bedenklich erweist sich die Statistik zum Marktanteil des independent cinema, schließlich teilen sich doppelt so viele Independent-Filme wie noch vor zehn Jahren einen um etwa 20 Prozent gefallenen Marktanteil in den USA, während 30 Prozent weniger Studiofilme sich den expandierten Marktanteil von heutigen 76 Prozent teilen.92 Am 16. September 2012 feiert Amour seine Österreichpremiere im Wiener Gartenbaukino und es formiert sich, sehr öffentlich, ein Gerücht: Der Film habe nicht nur Chancen auf eine Nominierung für den „Auslands-Oscar“, sondern auch auf eine Nominierung „für den besten Film überhaupt“, so einer der Veranstalter am Podium. Er fliege demnächst für drei Wochen in die USA, so Haneke anlässlich des Diners im

89 Vermelin, Jérôme. „Ce qu’il faut retenir du Festival de Cannes“. In: Metro, 29.05.2012. 90 Fritz, Ben. „Power Players: Team behind ‚Amour‘ now uses nominations as a box-office springboard“. In: Los Angeles Times, 24.01.2013. 91 Kilday, Gregg. „Sony Pictures Classics Acquires Michael Haneke’s New Film, ‚Amour‘“. In: Hollywood Reporter, 17.04.2012. 92 Vgl. Soderbergh, Steven. „The State of Cinema“. In: SF Film Society Blog, 30.04.2013. https://sffilmsociety.squarespace.com/home/2013/4/steven-soderbergh-the-state-of-cinemavideo-transcripthtml [03.05.2013]

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Österreichischen Museum für angewandte Kunst: „Aber nicht auf Urlaub, sondern für die Promotion des Films“, wie er präzisierend einräumt. Die Ware Liebe sorgt, wie zuweilen auch die unergründliche, für Überraschungen: der Film ist wenige Monate später in fünf Kategorien für den Oscar nominiert, darunter – für einen nicht-englischsprachigen Film ungewöhnlich – tatsächlich in der Hauptkategorie für den Besten Film. Der Film ist zum Zeitpunkt der AcademyNominierung auch US-perspektivisch Rekordhalter: mit einer Einspielsumme von nur 368.000 Dollar ist er nämlich der umsatzniedrigste Best-Picture-nominierte Film der jüngeren Geschichte. Barker und sein Kollege Tom Bernard – zwei Antagonisten in einem Geschäft, das zunehmend der Verkaufslogik serieller Formen bzw. Tentpole-Konzepten folgt – rechnen trotz dieser Ergebnisse mit Box-Office-Zahlen, die für einen französischsprachigen Film in den USA bahnbrechend sein würden. Die OscarNominierungen für einen Film, „that virtually no one had seen yet“93, wie die Los Angeles Times beeindruckt anmerkt, sollen dem Streifen, der in den USA seinen französischen Titel behält, zum kommerziellen Erfolg verhelfen: „This is a movie that without the award power would probably not get the attention of the audience, because it needed that spotlight. The fact is that everything we hoped for has happened so far for the movie. And we have noticed the box office jumped by leaps and bounds as soon as it happened“94, so Bernard. Der Einkauf von Amour durch Sony Pictures Classics lässt sich – vor allem in einer Linie – klar begründen, so Heiduschka: „Weil der Name Haneke drüben schon einen gewissen Ruf hat. Der Michael Barker ist ein exzellenter Filmkenner, der Filme beurteilen und auch analysieren kann. Das heißt, mit Michael Barker über Film zu sprechen ist einfach erfrischend – und Haneke schätzt auch die Diskussionen und Gespräche mit ihm. Barker ist angesetzt, europäische Filme nach Amerika zu bringen. Das ist mehr oder weniger seine Aufgabe. Er ist bei den wichtigsten Festivals und schaut sich an, welche Filme dort sind und er schätzt einfach die Arbeiten Hanekes. Jetzt muss man dazu sagen: In Amerika, neben Filmkunst, ist das natürlich in erster Linie ein Geschäft. Und die haben einfach mit seinen Filmen bisher sicherlich nicht schlecht abgeschnitten. Die machen mit uns sehr gute Verträge – in ihrer Sicht; in meinen Augen nicht immer die besten, aber so ist das nun einmal beim Handel. Die Filmhändler verdienen immer mehr als die Produzenten. Wir sind das letzte Glied an der Kette und es gibt viele Beispiele, auch in Amerika, wo man die Abrechnungen nicht mehr kontrollieren kann. Ich erzähle Ihnen einen Fall: Ich saß damals in Los Angeles am Swimming Pool und dann kam ein Engländer freudig und ich kam mit ihm ins Gespräch. Und er sagte: ‚Ja, ich bin hier, um Geld abzuholen.‘ – Er hatte in Variety gelesen, sein Film hätte 150 Millionen Gewinn gemacht. Zwei Tage später saß er wieder am Swimming Pool und ich fragte: ‚Was ist los, warum so geknickt?‘ Darauf sagte er: ‚Stellen Sie sich vor, die weisen mir vor, dass sie noch immer 20 Millionen Verlust haben. Dann habe ich meinen Agenten angesprochen und gefragt: ‚Sagen Sie einmal, wie geht denn das?‘ Sagte er: ‚Ja, das ist ganz einfach: die machen mit einer Werbeagentur einen Vertrag, bis dorthin hast du Bucheinsicht – da wird ein Vertrag gemacht über 70 oder 100 Millionen Werbung für den Film, da siehst du noch: die 100 Millionen fließen von dem Studio, von dem Verleih in die Werbeagen93 Fritz, Ben. „Power Players: Team behind ‚Amour‘ now uses nominations as a box-office springboard“. In: Los Angeles Times, 24.01.2013. 94 Ebd.

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tur, und die gehört ihnen natürlich. Was dann passiert, das kannst du nicht mehr kontrollieren.‘ Und so ist das. Das heißt also: Sony Classics würde diese Filme nicht kaufen, wenn es nicht für sie ein Geschäft wäre. Sony Classics pusht ja momentan auch Amour für den Oscar. Die haben ganz bewusst den Film – sonst wären wir ja nicht nominiert für Besten Film, Beste Regie, Bestes Drehbuch, Beste Darstellerin – weil wir jetzt in der amerikanischen Kategorie sind. Und das geht nur, wenn der Film vorher ganz normal in Amerika im Kino ist. Sony Classics hat das ganz bewusst gemacht, Haneke war ja im Oktober auch drei Wochen auf Tournee in den USA – einmal für den Oscar und einmal für die Promotion des Filmes. Er hat diese physisch sehr anstrengende Tour gemacht, weil die sich mit ihm ein Geschäft erwarten. Und ein Oscar bringt natürlich noch einmal weitere, höhere Einnahmen. Weil wie man mir sagt, ist es dort nicht so, dass das Fernsehen sagt: ‚Wir kaufen diese Filme.‘ Sondern die sagen: ‚Du willst ihn haben – du zahlst so und so viel.‘ Dort sagt der Verleih, wie viel das Fernsehen zahlen muss, sonst kriegen sie ihn nicht. Also ohne dass es ein Geschäft wäre, würden die das nicht tun.“95

Abgesehen davon, dass das Fernsehen in Europa immer weniger Einkäufe verzeichnet und sich im Bereich der kontinentalen Verleihsituation in den letzten Jahren ein erheblicher Wandel vollzogen hat (selbst führende deutsche Sender wie das ZDF kaufen immer weniger Spielfilme), behauptet eine Gesellschaft wie Sony Pictures Classics freilich eine weit größere Marktbeherrschung als jeder europäische Verleih. Heiduschka, zur Veranschaulichung der Drastik, bemüht eine Kriegsmetapher: „Ich sage immer ganz bösartig: Die Amerikaner haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen: überall, wo sie einmarschiert sind, haben sie einen Verleih aufgemacht. Das ist auch der Grund, weshalb ein europäischer Weltvertrieb nie die Potenz haben kann wie ein amerikanischer. Ein großer amerikanischer Weltvertrieb, der verkauft eben weltweit, der verkauft in Japan, auch besser natürlich. Die kriegen andere Preise als ein europäischer. Selbst bei europäischen Verleihern oder Weltvertrieben gibt es Schwankungen. Je nachdem wie man eingeschätzt wird, gibt es da so und so viel. Variety gibt ja jedes Jahr eine Tabelle heraus: aus welchem Land für welche Rechte man so und so viel bekommen kann, je nach Höhe des Budgets, das der Film gekostet hat. Das ist nur Daumen mal Pi, nur: kein europäischer Verleih kriegt das.“96

Mit seinem jüngsten Film ist Michael Haneke verleihtechnisch schließlich ein weiteres Mal „groß aufgestellt“; und auch wenn Amerika – im Stile der Vereinfachung, zu der der Journalismus in kulturbezogenen Dingen bisweilen neigt – nicht Europa ist, so lässt sich dennoch festhalten, dass Amerika Europa gekauft hat. Gewissermaßen, wohlgemerkt.

95 Gespräch mit Veit Heiduschka vom 16.01.2013 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller. 96 Ebd.

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19. D ER S CHENGENHELD ,

DER T ÜRÖFFNER , DAS UND EINE FRAGWÜRDIGE S PORTNATION

R EISEBÜRO

Unterdessen in Europa: In seiner bemerkenswert dichten Anthologie zum französischen Kino von der Nouvelle Vague bis heute, blickt Jean-Michel Frodon, ehemaliger Redaktionschef der Cahiers, im Jahr 2010 auf ein halbes Jahrhundert Kino zurück. (Frodon 2010) Obwohl die Tendenzen der Globalisierung und ihre Wirkungen Resultate langfristiger, weit in die vergangenen Jahrzehnte hineinreichender Entwicklungen sind, bietet sich die Jahrtausendwende in mehrerlei Hinsicht als Wendepunkt im Verlauf einer ganzen (Kunst-)Kinotradition an. Der so vielzitierte (weil dem Grundgedanken eines Autorenkinos so ferne) Liberalismus, die durch und mit ihm schwindenden Kräfte des Öffentlichen und eine am amerikanischen Modell inspirierte Globalisierung des Filmgeschäfts und von Film lassen sich schließlich an konkrete Ereignisse binden: Vivendi, der größte französische Medienkonzern, fusioniert unter der Leitung von Jean-Marie Messier mit der Canal+-Gruppe und der kanadischen Seagram, Besitzerin der Universal Studios, eines der sechs Major Studios in Hollywood. Vivendi, ehemalige Compagnie Générale des Eaux (CGE), gegründet 1853, ab 1854 per Konzession mit der Trinkwasserversorgung von Lyon und später von Paris betraut und 1983 an der Gründung von Canal+, dem ersten französischen Pay-TVSender beteiligt, wird damit zu Vivendi Universal. Die Fusion mit der 1857 als Brennerei ins Leben gerufenen Seagram Company, dem seinerzeit weltweit größten Spirituosenhersteller, der erst gegen Ende seines Bestehens in die AV-Branche expandiert, impliziert damit die Verkettung der französischen AV-Gesellschaft mit einem der emblematischsten Unternehmen Hollywoods: Die Verantwortlichen der für Produktion, Distribution und Verwertung zuständigen Tochterfirma Studio Canal, dem bekannten Co-Financier sämtlicher französischer und internationaler Kinoproduktionen („avec la participation de Canal+“ …), fassen damit in Beverly Hills Fuß und werden zum Angelpunkt entsprechender transatlantischer Synergien. Wenngleich der Traum einer Implantierung aus französischer Sicht eher im Debakel endet und sich Messier an Hollywood die Zähne ausbeißt, so markiert die Fusion dennoch den Beginn einer Epoche von Kapitalströmen, die sich den Einflüssen nationaler Interessen weitgehend entziehen. Gleichzeitig konfrontiert die Jahrtausendwende auch mit einer politischen Niederlage, die Frankreich im Bereich Kino verzeichnet: es ist das Scheitern von nichts Geringerem als dem von Cinémathèque-Präsidenten Jean SaintGeours und Kulturminister Jack Lang unterstützten ambitionierten Projekt einer Maison du cinéma, die die große nationale Kulturinstitution des Kinos hätte werden sollen. Saint-Geours verliert seinen Posten, die Kräfte der politischen Öffentlichkeit sind zu schwach; es ist die Zeit der multinationalen Unternehmen, denen vermehrt die Konstruktion industrieller und finanzieller Initiativen zukommt. Vor dem Hintergrund der technologischen Entwicklungen (insbesondere der Multiplikation der digitalen Medien und dem massiven Aufschwung des Internets) modifizieren sich schließlich auch die wirtschaftlichen Parameter im großen Stil: Symbolisch eruptiert diese angebrochene Tagesordnung, will man sie an das Jahr 2000 binden, schließlich im Geschäft von Time Warner, dem weltweit größten Unternehmen der audiovisuellen Kommunikations- und Unterhaltungsbranche, das sich vom Internetanbieter AOL aufkaufen lässt. Im selben Jahr eröffnet Gaumont schließlich Frankreichs ersten Ki-

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nosaal mit digitaler Projektion. Als mit UGC (Union Générale Cinématographique) der zweitgrößte Kinobetreiber schließlich unter dem Vorwand der Entlohnung seiner „rechtsinhabenden“ Autoren, Produzenten und Verleiher die sogenannten „unlimitierten“ Jahresabonnements („Illimité“) für Kinobesucher einführt und dadurch die Grenzen zwischen Filmwahl und Kaufakt beim Zuschauer beträchtlich verschwimmen lässt, reagiert freilich und ohne Verzögerung die Konkurrenz: Auch die auf Ebene der Auswertung zu EuroPalaces fusionierten Filmkonzerne und Kinobetreiber Gaumont und Pathé bieten mit „Le Pass“ ihrerseits denselben Abonnement-Typus an. Auch Kinobetreiber Marin Karmitz schließt sich mit seiner Kette MK2 an: zunächst an die Gaumont-Pathé-Kette Europalaces, um 2007 schließlich – nach Interessensverschiedenheiten – zur UGC-Gruppe überzutreten. Diese Abo-Bastionslage, die die französischen Kinobesucher in den Kreis der Multiplexe einschleust, treibt ihrerseits die unabhängigen Kinobetreiber inklusive der Branche weiter an den Rand. Luc Besson, der von Michael Haneke so skeptisch erwähnte Filmemacher und Cannes-Jury-Vorsitzende (2000), initiiert im selben Jahr die Produktions- und Distributionsgesellschaft EuropaCorp und bekräftigt damit seine Ambition, eine französische Major Company nach amerikanischem Modell zu etablieren. Es folgen der Bau eines Studios in La Plaine Saint-Denis und schließlich die Errichtung eines Multiplex in Marseille. Es ist gewissermaßen die Fortführung jenes Unternehmens, das auch Messier mit Vivendi vor Augen hatte, nur konsequenter: Es geht nicht mehr darum, das amerikanische Studiosystem zu erobern, sondern darum, auf nationaler Ebene ein Duplikat zu schaffen. Vor diesem Tableau einer expandierenden bzw. zum Teil erkauften Industrie, die zunehmend den Interessen einer Unterhaltungsindustrie folgt, kommt Haneke ein bezeichnender Status zu, nämlich der eines veritablen Schengenhelden. Unter dem leitgebenden Kapitel „Espace Schengen“ würdigt Frodon die Aufnahmebereitschaft Frankreichs gegenüber ausländischen Regisseuren: „Le cinéma français a toujours été accueillant avec les réalisateurs étrangers, et nous avons souvent vu producteurs et acteurs participer à des projets d’auteurs du monde entier. C’est un phénomène un peu différent qui tend à se stabiliser au cours des années deux mille, en même temps que les accords économiques et administratifs facilitent la délocalisation des auteurs au gré de leurs besoins. Ainsi l’Autrichien Michael Haneke réalise-t-il durant la décennie non seulement un film autrichien dont les interprètes, à commencer par Isabelle Huppert, sont français, La Pianiste (2001) d’après l’œuvre romanesque de sa compatriote Elfriede Jelinek, et un film ‚véritablement‘ européen, c’est-à-dire hélas sans feu ni lieu, Le Temps du loup (2003), mais aussi des films français à part entière, Code inconnu (2000) et Caché (2005), tous deux avec Juliette Binoche – et Daniel Auteuil pour le second. Haneke devient ainsi la figure type de l’auteur européen tel que les milieux culturels français sont d’autant plus ravis d’en promouvoir l’image qu’elle semble plus convaincante en n’étant pas incarnée par un ressortissant national. Haneke atteindra la consécration en 2009 avec Le Ruban blanc, production des Films du Losange et Palme d’or à Cannes récompensant une esthétique ultra-soignée au service d’un récit historique (les origines du nazisme dans la campagne allemande) contestable.“ (Frodon 2010: 1007-1008)

Und während für die Globalsierung gilt, dass sie im Großbereich Kino mit Hollywood noch ein (zumindest repräsentatives) Zentrum hat, verschiebt sich die Rolle der Gallionsfigur Haneke im europäischen Raum je nachdem, aus welcher „Filmnation“

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heraus sie perspektivisch visiert wird. In Österreich, das unter den gegebenen Prämissen eher ein Herkunfts- als ein Aufnahmefilmland ist, kommt Haneke eine ganz andere diskursive Funktion zu, die auch ein Verdienst ist: Hier ist die Rede von seiner Rolle eines „Türöffners“ im strukturellen Strategiespiel der Verankerung des österreichischen Films am europäischen und schließlich weltweiten Filmmarkt. Denn Österreich, wie AFC-Chef Martin Schweighofer betont, ist „ein kleines Land. Das heißt, letztlich, anders als die großen, haben wir keine Industrie. Diesen Nachteil sehe ich allerdings als Riesenvorteil. Das bedeutet nämlich, dass wir gezwungen sind, über den Tellerrand hinauszudenken, und dass wir Nischen suchen müssen. Das heißt, wir müssen eine gewisse Internationalität in den Stoffen und Geschichten suchen. Wir brauchen dieses internationale Echo.“97

Insofern hat sich mit dem Erfolg auch der Status des einstigen „Exilösterreichers“ gewandelt, vielmehr ist Haneke inzwischen „Österreichs Exportschlager in Sachen Kultur“, wenngleich er selbst „solche Nationalisierungen von Leistungen schlicht ‚albern‘ [findet]“98. Die große Zahl an Firmenlogos, die nach dem Weißen Band schließlich auch am Abspann seines jüngsten Films Amour aufscheint, verweist auf ein europäisches Koproduktionssystem, das internationale Zusammenarbeit bereitwillig unterstützt: „Das ist unvermeidlich. Kein Land kann es sich noch leisten, einen Film auszufinanzieren. Das ist ja der Vorteil des europäischen Systems: Mit Koproduktionen kann man von überall ein bisschen Geld zusammenkratzen. Ich bin ein exemplarischer Nutznießer dieses Systems, für das ich sehr dankbar bin.“99

Dass die Sicht des Regisseurs auf die Vereinnahmung seines Namens eine völlig konträre ist, verwundert – allein schon vor dem Hintergrund dessen, was seine Filme erzählen – wohl kaum: „Ich bin kein österreichischer Regisseur und auch kein französischer Regisseur. Ich bin Regisseur für mich, und wer mir Geld gibt und mich ernsthaft arbeiten lässt, der darf sich mich an den Hut stecken – mir ist das völlig wurscht. Natürlich bin ich Österreicher, aber diese Nationalisierung von Einzelleistungen – ob das jetzt ein Sportler ist oder ein Künstler – finde ich reichlich albern.“100

Doch so wenig die „Albernheit“ den einzelnen Regisseur in seinem kreativen Schaffen beeinflussen mag, so bedeutsam erweist sie sich im Bereich der relationalen So97

Martin Schweighofer im Interview. Ungerböck, Andreas; Scheiber, Roman. „Erfolg färbt ab“. In: ray – Filmmagazin, Sonderheft 25 Jahre Austrian Film Commission. Hg.: Andreas Ungerböck, Mitko Javritchev in Kooperation mit der AFC, August 2012, S. 8-9. 98 Nüchtern, Klaus; Omasta, Michael. „Michael Haneke ist Österreichs Exportschlager in Sachen Kultur. Der Filmregisseur und Cannes-Seriensieger selbst findet solche Nationalisierung von Leistungen aber schlicht ‚albern‘“. In: Falter, Nr. 37, 12.09.2012, S. 22. 99 Haneke im Interview. In: ebd. 100 Ebd. S. 25.

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zialstruktur des Menschen. Denn ungeachtet der diversen Konzeptionen des sozialen Netzwerks, in das sich Film und Kunst zwangsläufig einschreiben, dominieren hier – auf einer „Metaebene“, wenn man so will – Ideen und Ideologien wie Sport und Nation, die den Verlauf der Dinge nicht unerheblich mitbestimmen. Im Fall „Haneke“ zeigt dies nicht nur der einst um Das Weiße Band herum so stark ausgeprägte, vermeintlich „gemeine“ Länderspiel- und Vereinnahmungsdiskurs der Medien. Auch einer differenzierteren Logik nach lassen sich die Kräfte dieser „Albernheit“ noch weit über die „Mikro-“ und „Makroverteilungen“ von Individuum und einem wie auch immer gearteten Kollektiv hinaus identifizieren. So erinnert etwa der mit seinem Regiedebüt Atmen (2011) international so erfolgreiche Karl Markovics an die Dimension, die Sportmetaphern und -konkretionen im Zuge des Weges eines Films hinaus in die Welt der Festivals, World Sales Agents und internationalen Kinostarts einnehmen: „Im Büro der AFC in der Wiener Stiftgasse, dem ‚Reisebüro des österreichischen Films‘, bekommt ein Filmemacher […] einiges mit auf den bevorstehenden Weg. […] Denn auch ein noch so besonderer Film ist nur einer von tausenden, die jährlich um die besten ‚Schauplätze‘ buhlen. Ohne jemanden, der die Plätze, die Platzverhältnisse und vor allem die Platzwarte kennt, hätten Neulinge wenig Chance. Natürlich kann man seinen Film als Digibeta-Kassette oder Blu-ray-Disc in ein Kuvert stecken, ausreichend frankieren und nach Berlin, Cannes oder Venedig schicken. Aber ohne jemanden, der dieses Kuvert ankündigt und dafür sorgt, dass es auch bei den richtigen Leuten landet, kann man sich schon vor dem Spiel brausen gehen. Und wer jetzt meint, das Ganze habe verdächtig viel mit Sport zu tun, hat völlig Recht. Kunst wird es erst wieder in jenem magischen Moment, wenn es in einem Kinosaal in Buenos Aires, Toronto oder Karlovy Vary dunkel wird und die Welt zum allerersten Mal das Licht dieses Films erblickt.“101

Andreas Ungerböck, der der AFC mit seinem ray-Sonderheft huldigt, schließt sich dieser Sportmetapher an, um angesichts der „postolympischen Depression“, die die österreichische Medienlandschaft nach der Londoner Olympia-Veranstaltung erfasst hat, jene Akteure zu beschwichtigen, die sich um den nationalen Kassenerfolg der Filmbranche sorgen: „Wären Filmfestivals Olympia, würden Österreichs Filmemacherinnen und Filmemacher wohl einen Spitzenplatz in der Medaillenbewertung belegen“102, resümiert der langjährige Katalogredakteur der Viennale schelmisch. Die Gaukelei erreicht einen Höhepunkt als schließlich auch Hollywood mit dem Spiel der Provenienzen kokettiert. Denn als Haneke am 13. Jänner 2013 den Golden Globe für den Besten fremdsprachigen Film entgegennimmt und sich „Österreich“ gegen eine

101

Statement von Karl Marcovics. In: ray – Filmmagazin, Sonderheft 25 Jahre Austrian Film Commission. Hg.: Andreas Ungerböck, Mitko Javritchev in Kooperation mit der AFC, August 2012, S. 60-61. 102 Ungerböck, Andreas. „Dabei sein ist alles: Über Festivals und Publikumsfilme, über Märkte und Chancen und den sogenannten Kassenerfolg. Ein Kommentar“. In: ray – Filmmagazin, Sonderheft 25 Jahre Austrian Film Commission. Hg.: Andreas Ungerböck, Mitko Javritchev in Kooperation mit der AFC, August 2012, S. 26.

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inhaltsästhetisch bunt gefächerte europäische Konkurrenz durchsetzt103, ist er vor allem über den einen der ihm zugeteilten Shaking-Hands-Partner (Arnold Schwarzenegger und Silvester Stallone) überrascht: Er hätte nie gedacht, wie er lachend seine Rede schließt, einen Preis in Hollywood von einem Österreicher überreicht zu bekommen. „Whoever thought the maker of Funny Games would take an award from the auteurs behind Terminator and Rambo?“104, fragt prompt The Guardian in seinem Live-Kommentar. Festzuhalten bleibt in diesem Zusammenhang – neben der Auszeichnung von Landsmann Christoph Waltz als Bester Darsteller in einer Nebenrolle (Django Unchained, Quentin Tarantino) – was sich dem Kreis der lokalen Preisträger entnehmen lässt, nämlich dass das amerikanische Fernsehen vermittels seiner Qualitätsserien (prominent vertreten: HBO) längst auf einer Ebene mit der Filmindustrie rangiert: die Würdigung einer Julianne Moore oder eines Kevin Costner für ihre Mitwirkung an TV-Produktionen sind dabei nur die plakativsten Verweise auf Verschiebungen innerhalb der Branche. Haneke, der wenige Tage zuvor für Amour fünf Oscar-Nominierungen erhält, als Bester Film, Bester fremdsprachiger Film, in den Kategorien Drehbuch und Regie sowie mit Emmanuelle Riva als Beste Hauptdarstellerin – eine Ehrung die normalerweise eher großen Blockbustern mit berühmten Namen zuteilwird –, konzediert gegenüber dem ORF: „Es ist angenehm für einen europäischen Autorenfilm, dass er damit konkurrieren kann.“105 „Belle victoire pour la France“: Die Leitung des Centre national du cinéma et de l’image animée (CNC), präsidiert von Eric Garandeau, gratuliert Haneke in einem Kommunikee und präzisiert: „Cette récompense est un beau symbole de l’amour entre les êtres mais aussi entre les pays, la France et l’Autriche sans oublier l’Allemagne puisque c’est une coproduction européenne impliquant ces trois pays. Cette coproduction réunit un financement français à 70%, avec des aides du CNC – dont l’Avance sur recettes – et une participation de France 3 Cinéma, Canal+, Ciné+ et la Région Ile-de-France. Ses composantes sont très majoritairement françaises : langue française, acteurs français, agents artistiques français, histoire française, producteur français, techniciens français, industries techniques françaises, tournage en France ...“106

„Frankreich“ rühmt sich mit einer Produktionskostenbeteiligung von 70 Prozent; 20 Prozent der Kosten hatte „Deutschland“ übernommen, 10 Prozent „Österreich“. So anfechtbar das eine oder andere Beteiligungsargument („histoire française“) aus den Reihen des CNC auch sein mag, so deutlich wird zugleich, wo „der Autorenfilm“ 103

Hanekes Amour war neben Jacques Audiards De rouille et d’os (Frankreich), Nikolaj Arcels En kongelig affære (Dänemark), Joachim Rønnings und Espen Sandbergs Kon-Tiki (Norwegen/UK/Dänemark) und Olivier Nakaches und Éric Toledanos Intouchables nominiert. 104 http://www.guardian.co.uk/film/2013/jan/13/golden-globes-tina-fey-amy-poehler-live [14.01.2013] 105 Haneke in: APA/AFP. „Oscars: Hanekes ‚angenehme‘ Überraschung“. In: Die Presse, 11.01.2013. 106 Garandeau, Eric. „Golden Globe du film étranger pour Amour de Michael Haneke: belle victoire pour la France“. In: http://www.cnc.fr/web/fr/actualites/-/liste/18/ 3020871

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heute gelandet ist. ÖFI-Direktor Roland Teichmann betrachtet die Situation mit einem Schmunzeln: „Diese ganze Nationalisierungsdiskussion – gerade bei Haneke –, die halte ich wirklich für extrem kleinkariert. Ich kann dem überhaupt nichts abgewinnen, das Ganze auf Finanzierungsbeiträge zu reduzieren und zu sagen: ‚Naja, die haben so viel bezahlt, oder die sind ja französische Schauspieler‘ ... Da greift dann diese Diskussion viel zu kurz und ist viel zu schwarz-weiß und kleinkariert. Letzten Endes geht’s um Filme eines Regisseurs. Also diese Nationalität spielt für mich eigentlich keine Rolle. Es geht um die Personalisierung im Wesentlichen und entsprechend sind das alles Filme von Michael Haneke.“107

„Eine der Kernschichten“ der so „vielschichtigen Diskussion“ ist für Teichmann das Verhältnis „amerikanischer Film – europäischer Film“; entsprechend sei es ein „wichtiges Charakteristikum“ des Österreichischen Films, „im Zentrum des europäischen Films“108 zu stehen. – Eine Begebenheit, die freilich auch das Standing seiner Macher modifiziert.

18. G’ SCHICHTEN AUS DER B OURGEOISIE UND I NTERESSENSLAGEN DES M AINSTREAMS : V ON DER T ENTPOLE -A USSCHLACHTUNG ZURÜCK C INÉMA DE PAPA

ZUM

„Ich glaube, dass der Autor zu Ende geht“109, sagt Alexander Horwath, als ich ihn im Dezember 2012 in seinem Büro des Österreichischen Filmmuseums treffe. Horwath führt damit – unter einem geographisch und historisch ausgedehnten Blickfeld – jene prominente Einschätzung fort, die er 1991 in seinem einleitenden Aufsatz zum siebenten Kontinent verfasst hatte, um den Regisseur und sein Werk mit dem – von Haneke selbst immer wieder ironisch kommentierten – Begriff eines „noblen Anachronismus“ zu belegen. An diesem Begriff hält er nach wie vor fest. Weiter noch: Man könne, so Horwath, „gerade wenn Haneke das Beispiel ist, die Frage nach diesem Anachronismus auf den gesamten Arthouse-Sektor umlegen und sich fragen, inwiefern dieser selbst schon einen Anachronismus repräsentiere“. Denn die Idee von „Kunstfilm“ als Schnittmenge von Arthouse-Kino („das, was die europäischen Länder heute fördern“110) gekoppelt mit einem starken Autorenbegriff sei schon insofern ein Anachronismus, als sich „die Zahl jener Macher und Macherinnen, die über ihren Namen und ihr bisheriges Œuvre und ein bestimmtes bisheriges Standing noch eine stärkere öffentliche Wahrnehmung erreichen, einfach sukzessive reduziert“ und diese Idee folglich „noch ein Rest oder eine (anachronistische oder auch nicht ana107 108 109 110

Gespräch mit Roland Teichmann im Österreichischen Filminstitut, 02.05.2013. Interview: Katharina Müller. Ebd. Gespräch mit Alexander Horwath im Wiener Filmmuseum, 05.12.2012. Interview: Katharina Müller. Ebd.

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chronistische) Fortführung eines gewissen westeuropäischen aber auch zum Teil amerikanischen (Rezeptions-)Milieus ist, wie es sich von den mittleren 50er Jahren bis etwa Tarkowskis Tod Mitte der 80er Jahre relativ stabil“ gehalten und dabei einen Rang beansprucht hat, auf dem der „Kunstfilm“ heute nicht mehr ist: „Nämlich auf dem Rang, dass man sagt, um dazuzugehören, um eine Rolle in bestimmten sozialen Kontexten zu spielen und als ein allgemeingebildeter Mensch wahrgenommen zu werden. Natürlich war das im deutschsprachigen Raum immer weniger stark ausgeprägt als etwa in Frankreich, aber trotzdem stark ausgeprägt und es gab die öffentlichen Instrumente zu einer Verständigung: nämlich eine Filmkritik, ein Feuilleton, das diese Dinge ebenso ernst genommen hat und das diesen Künstlerfiguren einfach auch einen hohen Rang zugesprochen hat.“111

Was sich neben der zahlenmäßigen Reduktion der infrage stehenden Filmemacher bzw. Autorenfilmer schließlich auch verändert habe, seien die Diskurse des filmaffinen, „allgemeingebildeten“, im weitesten Sinne bildungsbürgerlichen Zusehers, die nunmehr offenkundiger aus Genealogien schöpfen, die zunehmend dem Bereich der populären Kultur entstammen und entsprechend wieder andere Autoren- und Werkbegriffe mit sich bringen. Denn dass das Kino bzw. der Film überhaupt Teil dieses bildungsbürgerlichen Gesprächs wurde, geschah bekanntlich unter Absehung seiner industriellen und ökonomischen und damit schon „antihochkulturellen Fundierung“, wie Horwath betont: „Man konnte diesen Teil des Kinos für das bildungsbürgerliche Gespräch retten, indem man so tat als benähmen sich Leute wie Bergman und Fellini und Haneke eh eigentlich wie Romanautoren oder Theaterschreiber oder Dramatiker oder Komponisten. Dagegen gibt es seit den 50er Jahren oder auch durch die Surrealisten schon viel früher natürlich entgegengesetzte Diskursstränge, die genau jene Aspekte von Kino mit wirklicher Sprengkraft ausgestattet sahen, die sich eben nicht auf diesen Werkautorkulturgutbegriff stützten, sondern vaudevillehaft waren, Slapstick waren, oder dann in den 50er Jahren Hollywood waren. Also das darf man nie vergessen. Auch wenn es banal ist, das immer wieder zu betonen, aber der Autorenbegriff kommt nicht von Leuten, die über Bergman oder Marcel Carné geschrieben haben, sondern der kommt von Leuten, die über Hitchcock und Hawks geschrieben haben. D.h. es ging bei der Bildung dieses Begriffs überhaupt einmal darum, Autorenschaft in nicht-kunstaffinen Herstellungskontexten zu beschreiben und zu definieren; die Autorenschaft als eine Art des Widerstands gegen industrielle Herstellung oder als eine Art der Subversion industrieller Herstellungsprozesse zu definieren.“112

Ironischerweise dreht sich diese Definition mit Blick auf den deutschsprachigen Raum und die Protagonisten um Alexander Kluge bereits relativ früh wieder um und gilt indes für die Filme derjenigen, deren Schaffen sich tatsächlich außerhalb des Populären, jedenfalls Industriellen konkretisiert. Vor dem Hintergrund der Vertracktheit, die die Geschichte des Autorenfilms als Diskurs und Praxis charakterisiert, sei schließlich für die Gegenwart zu beobachten, dass ein neuer David-Fincher-Film (etwa The Social Network [2010]) erstaunlicherweise nicht als Autorenfilm beschrie111 112

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ben wird, obwohl darin viel eher ein Konnex zu den Cahiers-Autoren der 1950er Jahre zu finden wäre als in den Filmen von RegisseurInnen wie Barbara Albert oder Michael Haneke. Horwath verweist in diesem Zusammenhang auf den offenkundigen und in dieser Hinsicht maßgeblichen Zusammenhang der Bezeichnung „Autorenfilm(er)“ mit dem Entstehungskontext eines geförderten Milieus: „Es liegt an der kulturellen Begründung oder an den Umständen, die zu einem Film führen. Da in den meisten europäischen Ländern kulturpolitische Argumente zur Einrichtung einer Filmförderung geführt haben, basiert diese Förderung, auch in der Rhetorik gegenüber dem Steuerzahler, auf der behaupteten Notwendigkeit, dass ein Staat in den wesentlichen künstlerischen Disziplinen Kunstwerke ermöglicht, die nicht möglich wären, wenn man dem Markt in seinem autonomen Geschehen ausgeliefert wäre. So wird in allen europäischen Ländern Filmförderung zunächst begründet. Natürlich wird sie dann über Arbeitsplätze, über Umsätze, über den Wirtschaftszweig Audiovision auch begründet, aber fast überall kommen die Mittel nicht aus den wirtschaftsministeriellen Koffern, sondern aus den kulturministeriellen und insofern wird, glaube ich, über die Begrifflichkeit und die Rhetorik aus nahezu jedem Film, der in einer subventionierten Situation entsteht, eine Art Arthouse- oder Kunst- oder Autorenfilm. […] Tendenziell kann z.B. Tom Tykwer machen was er will, er wird ein Autorenfilmer sein, weil er aus diesem Zusammenhang stammt. So viel nur, um zu erwähnen, wie sehr eigentlich der ursprüngliche Begriff des auteur damit schon gegen seine Intention fast ins Gegenteil verkehrt ist. Weil tendenziell sind die Leute, die man jetzt so selbstverständlich als Autorenfilmer oder Arthouse-Autoren beschreibt, mehrheitlich wahrscheinlich eher die Nachfolger der kultivierten, akademischen, französischen 50er-Jahre-Produktion, gegen die sich die politique des auteurs gerichtet hat. Also Leute wie Delannoy oder Carné und so weiter. Das meiste, was wir heute unter Arthouse-Film erleben, ist eigentlich das: cinéma de papa. […] Das Arthouse-Kino von heute ist nicht die Erbin der politique des auteurs von 1955. Das ist einmal der entscheidende Grundsatz. Und der Haneke ist insofern auch ein gutes Beispiel, als er selber die allergrößte Distanz zu einer Lesart des Kinos hat, die diese Leute damals hatten. Es interessiert ihn das populäre Kino, das Genrekino entweder komplett nicht oder in jenen Spurenelementen, dass er dann etwa Hitchcock als einen Meister der Publikumsmanipulation sieht. Aber es hat ihn immer das interessiert, was schon etablierter Kunstfilm eben in dieser Periode, sagen wir von 1955 bis 1985 etablierter Kunstfilmkanon im Sinne eben des Literarischen, der literarischen Welt oder der hochkulturellen Welt war und darin hat er sich dann auch selber platziert. Anachronismus nannte ich ihn damals auch deshalb, weil ich 1991 selber jung war und dem Denken der politique des auteurs à la Cahiers näher stand und da diese Art von Kino eigentlich schon nicht mehr praktiziert wurde oder schon Ende der 80er Jahre aufgehört hat.“113

Mit Ende der 1990er Jahre erfahren Film und Kino eine verstärkte Integration in die europäische Kulturpolitik; entsprechend erfolgt auch die Einrichtung von Fördermodellen, die fortan interkontinentale Kooperationen forcieren werden, es entsteht das erste MEDIA-Programm. Der Zug der offiziellen Aufnahme von Film in das Konzert der sogenannten „höheren Künste“ wird dabei zunächst bekanntermaßen über den Erhalt einer Infrastruktur argumentiert, die die europäischen Länder angesichts der Hollywood-Maschinerie bedroht sehen. Diese Marktanteilsparanoia hat sich inzwischen wieder einigermaßen gelegt; jedenfalls konnten Länder wie Benelux, Skandi113

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navien, Deutschland oder Spanien ihren Marktanteil über solche EU-Maßnahmen wieder ausbauen. – Durch eine Orientierung auf populärere Formen von Kino vorwiegend, die – neben den sich stetig reduzierenden, Label-tauglichen AutorenFiguren – ebenso unter „Arthouse“ laufen, wie Horwath kritisiert: „Wenn Sie sich den Susanne-Bier-Dreck [Love Is All You Need (2012), Premiere bei den 69. Internationalen Filmfestspielen von Venedig; K.M.], der da jetzt im Kino rennt, anschauen, dann wissen Sie, wo der Kunstfilm, der Kunstautorenfilm-Arthouse gelandet ist. Dasselbe in Frankreich: was im Votivkino oder im Filmcasino [beides MEDIA-geförderte Spielstätten (European Cinemas); K.M.] so an französischen Filmen, so gutbürgerlichen Komödchen rauskommt, das ist ungefähr das Ergebnis dieser europäischen Anstrengung, eine eigenständige, von Hollywood abgegrenzte, kulturell verwurzelte [Filmkultur zu etablieren; K.M.]. Weil dann der Jean Reno einen französischen Koch spielt, der … usw. Also das ist die kulturelle Verwurzelung, von der man im Grunde dann redete. Und das hab ich schon, wenn ich das sagen darf, damals gespürt, dass man nicht darauf aus war, dass Leute wie Bresson oder Straub oder wer auch immer kontinuierlich ein Werk entwickeln können; das war diesen Politiken immer wurscht. Sondern in Wirklichkeit haben sie auf die Jean-Reno-Komödien, wo er einen Koch spielt, abgezielt, oder Sophie Marceau: als La Boum (1980) lief, wussten die Leute von der EU schon damals, dass die einmal 47 sein wird und dann eine Mutter spielen wird können, die Schwierigkeiten mit ihrer Teenager-Tochter hat. Das ist heute der Arthouse-Film. Und auf dem kleben noch, in jedem Land, ein bis drei auteur-Stempel. Wenn man ehrlich ist: selbst ein großes Land wie Spanien hat eigentlich auch nur einen; Italien, gut, also den Moretti haben sie und dann der Garrone vielleicht und der Sorrentino … also ein bis drei; in Dänemark ein bis zwei, in Schweden, wenn man Susanne Bier akzeptieren will, was ich nicht würde … ist ja auch egal, ich will jetzt nicht kindisch sein, aber man merkt, wie wenige Figuren das eigentlich sind, die nochmal als Individualautoren/Schöpferkünstler eine Rolle in diesem Markt spielen. Und das ist sehr wenig insgesamt. Und dann, sagen wir, der Petzold hat’s vielleicht geschafft, das in Deutschland zu sein und dann würde man wahrscheinlich noch den Tykwer dazu zählen, ansonsten: Hans-Christian Schmid wird außerhalb Deutschlands nicht verliehen oder hat kaum eine Präsenz in den Filmzeitschriften. Das sind also vielleicht 15 bis 20 Leute und das habe ich gemeint; dass es weniger sind als 1965. Wenn Sie dieselbe Vogelschau über das europäische – bleiben wir einmal nur bei Europa – Kino 1965 machen, dann kommen Sie auf eine unendlich größere Zahl von solchen Figuren, die als so eine Art Label oder Marke fungiert haben und diese Figuren sind noch dazu viel lebendiger mit ihren jeweiligen Filmindustrien verbunden.“114

Grob und exemplarisch beobachten lässt sich diese Verbundenheit vor allem an der Filmachse England-Frankreich-Italien, die im Rahmen der Definition der wesentlichen Filme der Gegenwart damals in den USA eine erhebliche Rolle gespielt hatte. Die Verschränkung von „großen“ Autorenfiguren, Starsystem und einem gewissen breiten Publikumsinteresse war hier Standard; allein die rege Austauschbeziehung, die Frankreich und Italien über lange Zeit unterhielten, ist in diesem Zusammenhang bezeichnend. Der augenfälligen Präsenz französischer Stars im italienischen Kino, getragen durch Namen von Alain Delon bis Simone Signoret, gehört Jean-Louis Trintignant so sehr an wie auch Emmanuelle Riva. Insofern ist Hanekes Amour schlagendes Beispiel für den Rückgriff auf eine altbewährte Methode: altbewährt 114

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einmal im Kontext der europäischen und vor allem französisch-italienischen Filmgeschichte, altbewährt aber auch im Hinblick auf die Tradition des Regisseurs selbst, stets mit den in seinen Augen besten unter den prominenten Namen zu arbeiten. Und während der Autor „zu Ende geht“ oder – wie im Fall Haneke – zuweilen noch als anachronistisches Phänomen auftritt, stabilisiert sich – mit quantitativ wachsender Tendenz – der Bereich Arthouse, während wiederum eine bestimmte Art von Kinostätten und ein bestimmter Modus des Besuchs dieser Kinostätten zurückgehen („Kinosterben“). Es erscheint mittlerweile beinahe genauso wenig haltbar, den sogenannten auteur vom Arthouse-Sektor zu trennen wie es schlicht unmöglich ist, den Arthouse-Sektor isoliert von Hollywood und „dem Mainstream“ zu betrachten. Und das nicht nur, weil die sogenannten Arthouse-Filme mehr und mehr in Multiplexen laufen, sondern auch, weil sich auf dem Sektor der teuersten und plangemäß einträglichsten Filme beträchtliche Veränderungen vollzogen haben. Zu den beobachtbaren qualitativen Differenzierungen eines in vielen Fällen technisch immer aufwendigeren Kinos kommen auch quantitative Modifikationen: So stützt man sich in Hollywood inzwischen auf eine sehr viel geringere Zahl von Produktionen, die man für ökonomisch relativ sicher hält – zulasten einer Gruppe von ehemals sehr erfolgreichen Filmen, d.h. zulasten einer im weitesten Sinne realistischen, an Genre orientierten, als populäres Allgemeinkino konzipierbaren Produktion („mittleren Budgets“ eventuell), die sich an „große“ Namen bindet. Eine solche gibt es in Hollywood, das auch seinerseits sich reformiert hat, kaum mehr: „Die Studios fokussieren extremer und jedes Jahr extremer auf Tentpoles, das sind eben die fünf, sechs groß als Franchise gestaltbaren Modelle, die dann auch in den anderen Wirtschaftsebenen (also Theme-Parks und Merchandising und McDonalds usw.) genutzt werden können und die vor allem zwei oder vier oder sechs Teile nach sich ziehen können, die also schon für eine halbe oder ganze Dekade [konzipiert sind; K.M.]. Wenn sie funktionieren, dann hat man bereits eine Struktur, wo man diesen Tentpole ausschlachten wird, die nächsten zehn Jahre lang. Diese Sachen werden gesucht und produziert. Dann haben die meisten oder viele – Focus Features [Tochter von Universal Pictures; K.M.], Fox Searchlight [Arthouse-Sparte der Fox Entertainment Group neben der größeren 20th Century Fox; K.M.], Sony Pictures Classics [Arthouse-Sparte von Sony Pictures Entertainment; K.M.] sind solche Beispiele – der großen Studios ein dezidiertes Segment, in dem sie den kultivierten, guten, Arthouse-, was-auchimmer-Film produzieren (Moonrise Kingdom aktuell, oder der Woody-Allen-Film, oder Silver Linings Playbook von David Russel, der jetzt rauskommt usw.). Da wissen sie, dass sie maximale Einspielerwartungen von zehn bis 40 Millionen Dollar haben und alles was drüber hinausgeht ist dann sozusagen schon ein Überraschungserfolg. Die sind dann auch von den Budgets her so strukturiert, dass sie wissen, es geht sich aus. Und da kommen dann auch dazu … wenn Sonny Classics produziert (die verleihen ja nicht nur amerikanische Filme sondern kaufen auch ein, mehrheitlich sogar), und da sind dann halt die neuen Audiard- und Haneke- undso-Filme dabei.“115

Jener Platz also, der in Hollywood aus Gründen der ökonomischen Rentabilität frei wird, wird – vereinfacht beschrieben – mit eingekauften Arthouse-Segmenten besetzt, wovon nur ein Bruchteil wiederum im Sinne der enger gefassten bzw. klassi115

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schen Autorentradition ein „namhafter“ ist. Von den 15 bis 20 labelhaften Autoren des europäischen Films müssen so noch etwa zwei Drittel abgezogen werden, um auf jene Anzahl von Filmemachern zu kommen, die letztlich das Potential zum „global cinematic auteur“ haben, die mit anderen Worten als kommerziell stabile Kräfte in den USA eingeschätzt werden. Lars von Trier etwa ist mit Melancholia (2011) und den eingespielten zwei Millionen zu einer dieser Kräfte avanciert (Antichrist [2009] hatte sich noch unter der Ein-Millionen-Grenze abgespielt). Auch Pedro Almodòvar ist bekanntlich ein dauerhaft funktionierendes Label. Und Haneke ist es seit geraumer Zeit auch. Aber er ist es vor dem Hintergrund eines veränderten Bewusstseins der Gesellschaft gegenüber einer alltäglichen Kultur, in der der Raum und die Institution Kino – abseits von Festivals und online-Konsum – einen immer geringeren Stellenwert haben. Das Kino als alltäglicher Ort der Auseinandersetzung oder als Rekurs-Institution des öffentlichen Ausstreitens von gesellschaftlichen Interessen (etwa über eine Filmkritik) weicht zusehends anderen, verstreuteren Formen der Laufbildwahrnehmung, die zunehmend über online-Wege erfolgt. Die besagten Filmemacher drehen sodann auch vor dem Hintergrund einer Zeit, in der im Bereich Arthouse deutlich mehr Filme produziert werden als dies noch vor einem Jahrzehnt der Fall war. In einer Zeit, in der die Quantität der gestalteten Filme ansteigt, während die Zahl derjenigen, die diese Filme anschauen – wohl auch aus Fokussierungsschwierigkeiten – sukzessive sinkt. Wenn sich die Gesamtbesucherzahlen – aufgrund von Ausnahmen – in den diversen Ländern auch einigermaßen stabil halten und die jeweiligen Kulturminister, der Wirtschaftskrise zum Trotz, ihre Budgets an die nationalen Filminstitutionen auch gerne verteilen mögen, so ist sich Horwath relativ sicher, dass die Palette von Regisseuren, die von einem bestimmten Publikum nachhaltig verfolgt werden, immer kleiner wird und „dass ein Film wie Tabu (2012) von Miguel Gomes heute etwa ein Fünftel bis ein Zehntel der Besucher hat als der äquivalente Film X vor zwanzig Jahren“. Faktoren wie die klassische mediale Präsenz der Streifen und ihrer Macher erweisen sich dabei als immer nebensächlicher: „Einfach zu glauben, Haneke ist heute quasi wie … – das wäre jetzt die Frage, das müsste man ihn fragen, als was er sich eigentlich sieht – … es wäre ein Missverständnis zu sagen, Haneke ist heute dasselbe wie Antonioni 1959. Das glaube ich, obwohl ich Amour sogar mehr schätze als alle seine bisherigen Filme. Die Kraft, eine lebendige Erzählkultur zu verändern ist wirklich bei L’avventura und nicht bei Amour, so großartig Amour ist. Diese Kraft gibt es nicht mehr im narrativen Kino, gefühlsmäßig. Das ist das Problem, oder das ist der Kulturpessimismus vielleicht oder das ist die – weil ich gesagt hab, es gab in dieser Zeit Mitte 50er bis Mitte 80er auch eine Selbstverständigungskultur darum herum, da es die jetzt auch nicht mehr gibt – auch wenn der Assheuer jedes Mal aufs Neue … also es gibt natürlich noch Feuilletons in europäischen Zeitungen und es gibt noch Kritiker, die von sich meinen, dass sie die wesentlichen Filme für das gebildete Publikum herausgreifen und ausführlich beschreiben. Die Wirkkraft dieser Feuilletons dieser Medien ist total schwächer geworden. Man redet, wie gesagt, ich meine: Worüber redet man in den Büros, bei den Empfängen, in den Salons oder bei den Abendessen? Ich merke es ja an mir selber und an anderen, man redet eher über Mad Men als über Amour. Und

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Amour ist aber sicher einer der Filme aus diesem Jahr aus diesem Gebiet, die am präsentesten waren.116

Der Raum Kino und die zugehörige Selbstverständigungskultur als gesellschaftspolitischer Echoraum, der zulasten oder zugunsten anderer Räume und Kanäle (Virtuelles zwischen Facebook und Twitter) immer kleiner wird, schreibt sich nicht zuletzt auch in den Kontext einer veränderten und sich verändernden gesellschaftlichen Zusammensetzung ein, in der „Klassen nicht mehr so funktionieren wie sie im alten Klassenmodell der Gesellschaft funktioniert haben“. Denn neben einer working class, die statistisch gesehen kaum mehr ins Kino geht, habe sich in den Metropolen der westeuropäischen Länder der Klassentypus des „globalen Kleinbürgers“ formiert („die Leute, die sich gebildet vorkommen, weil sie ins Kabarett gehen und Kurier lesen und einen Susanne-Bier-Film sehen“), der den kulturellen Formationen den entsprechenden Beitrag leiste. So wenig die ansteigende kulturpolitische Anerkennung des Kinos seinem Kraftpotential zur gesellschaftlichen Kontroversenbildung einst förderlich gewesen sei, so wenig stehe sie mit diesem heute in relevanter (geschweige denn produktiver) Relation. Zudem habe auch ein längst für hochkulturell befundenes und damit außer Streit gestelltes Medium wie das Theater in den 1970er und 1980er Jahren eine noch weit größere gesellschaftspolitische Kraft gehabt als heute; letzte Einsprengsel der Sorte findet Horwath noch etwas später: „Das letzte Mal, dass ich mich erinnere, dass eine Theaterproduktion, ein Akt der theatralen Kunst wirklich ans Eingemachtere ging in der öffentlichen Debatte, war vor zwölf Jahren der ‚Ausländer-raus!-Container‘ von Schlingensief. Und der fand schon bezeichnenderweise außerhalb eines Theaterraumes statt. Und wenn ich an das letzte Mal denke, wo ein kinematographischer Akt sowas ausgelöst hat, und ich meine jetzt nicht nur diese Skandalthematik sondern wirklich als starke Unsicherheit und als starkes Erst-Suchen-Müssen nach den Begriffen, die man dafür verwendet, das war Antonionis L’avventura 1959. Das waren immer wieder ästhetische Ereignisse mit einem enormen Echoraum.“117

Nicht zuletzt stehe dieses Hochkulturelle und mit ihm der „globale Kleinbürger“ im Kontext eines Mainstreams, der sich – über den Wechsel der Träger- und Verbreitungsmedien, die „Kultur“ im weitesten Sinne befördern – so sehr wie der Kunstfilm transformiert habe und nunmehr voller Interessenslagen sei, die man früher dem Kunstfilmsektor zugeordnet hätte. Um den Raum Kino an sich macht sich der Filmmuseumsdirektor indes keine Sorgen: dieser werde gewiss nicht verloren gehen, er sei nur auf dem Weg zu jenem hochkulturellen Raum, in dem sich Theater und Konzertsaal längst verorten lassen. Der Bildungskanon werde erhalten bleiben, aber „das Kino als diese Art von Vermischung von trivialsten, alltäglichsten Gelüsten und höchst avancierten Beiträgen zur Moderne, diese wilde Mischung, die wird stark auf das 20. Jahrhundert beschränkt bleiben und diese Aufgaben und diese Mischungen werden in anderen medialen Konstellationen, die man nicht mehr Kino nennen wird, weitergeführt werden.“118 116 117 118

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Wenn es im Sinne einer „veränderungsaffinen Kunstpraxis“ darum gehe, den Menschen aus seiner selbst- oder fremdverschuldeten Unmündigkeit zu entführen, so könne dies nur über den Ansatzpunkt der jeweiligen (Kommunikations-)Technologien geschehen, deren Konstruiertheit als regierende Verständigungsformen infrage zu stellen wäre. Jedes Medium komme schließlich an einen Punkt, wo es darum gehe, es gegen die dominanten Interessen zu benützen, so Horwath. Die Funktion, die Godard und viele andere mit Film oder etwa Brecht mit seinem Theater übernommen hatten – nämlich die, im weitesten Sinne autoreflexive Elemente der Geschichte der Medien zu sein – sieht Horwath heute eher bei den Piraten und ihrem „Aufmischen“ der Informationsnetzwerke als bei Haneke. Und das liege mehr am gegebenen Zeitpunkt denn am reflexiven Potential des Regisseurs: „Ich glaube, dass seine Werke sich sehr produktiv lesen lassen auf das hin, was sie über gesellschaftliche Umstände und Veränderungen artikulieren. Der Haneke wäre tendenziell wie der Antonioni, nur kam er 30 Jahre später und damit hat er nicht mehr diese Kraft gehabt. Und er ist vom Sozialisierungstypus gesellschaftlicher Eingebundenheit her alles andere als der Schlingensief, weil er sozusagen nicht seine Person, seinen Körper, sein ganzes Dasein auch nur annähernd so einsetzt, im Gegenteil sogar: Haneke gehört – und auch darin sieht man, dass er irgendwie ein Später ist – einer kulturellen Tradition an, die zu einer anderen Zeit stark war. Ich meine es komischerweise wirklich noch wie damals in dem Buch: es macht seine Werke nicht weniger interessant und stark für mich, aber es macht den Raum, den sie nicht nur zum Atmen sondern auch zum Infizieren von etwas anderem haben – die Möglichkeiten, die sie haben, etwas außer ihrer selbst zu infizieren, anzuregen, anzustecken, in Debatte, in Bewegung zu setzen, andere Werke in Bewegung zu setzen – dieses Potential ist ihnen schlichtweg um ein großes Stück weniger um sie herum als das bei äquivalenten filmischen Werken in früherer Zeit war. Auf den Knackpunkt gebracht glaube ich, dass man Haneke gesellschaftlich nicht braucht, sondern man braucht den Schlingensief. Wenn man will, dass sich irgendwas verändert – das hat nur damit zu tun, wenn man das eh nicht mehr will, dann ist das auch ein irrelevanter Wunsch von mir, aber wenn man so wie ich in Denkstrukturen gelernt hat zu existieren und bestimmte Hoffnungen an die Welt hat … dann glaube ich, braucht es solche Figuren. Haneke wäre potentiell die Figur dafür gewesen, wenn er in den 50er Jahren angefangen hätte, Filme zu machen. Das kann man ihm nicht vorwerfen, er hat sich in eine Tradition eingeschrieben, die es schon lang vor ihm gab, weil die hat ihn am Kino am meisten interessiert. […] Und es ist wahrscheinlich auch falsch, den Typus Antonioni oder Schlingensief überhaupt wiederholen zu wollen, denn der würde anders ausschauen. Der Schlingensief ist wahrscheinlich irgendein Wikileaks-Kollektiv, das gerade irgendwie den CIA-Server aushebelt oder so.“119

Im Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte kommt Horwath schließlich zur fragenden Annahme, ob sich der literarische Markt nicht sehr ähnlich dem Kunstfilmbzw. Arthouse-Filmmarkt verhalte, letztlich sei ja auch der modernistische Dichtertypus à la Peter Handke oder Elfriede Jelinek zugunsten eines Daniel Kehlmann zurückgetreten: „Das gut gemachte Buch für die besseren Angestellten, das jetzt halt der Kehlmann und diese Leute produzieren, ist ungefähr wie der gut gemachte Sophie-Marceau- oder Susanne-Bier-Film, als ein Film oder ein Roman, der kaum mehr eine ästhetische Reibung weder will noch hat.“ Die Noch-Existenz der wenigen 119

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Namen bzw. Autor-bezogenen Werke führt Horwath auf die (generationenbedingten) Noch-Vertreter einer traditionellen bildungsbürgerlichen Kultur zurück, die etwa „noch auf den neuen Houellebecq warten“. Die Entwicklung am Arthouse-Sektor relationiert Horwath konsequent mit Hollywood, in dem bestimmte Erzählformen des Kinos, die mit dem weggebrochenen Hollywood-Segment der ehemals sehr erfolgreichen, an „große“ Namen sich bindenden „mittleren“ Produktionen zur Deckung kamen, mehr und mehr von Fernseh-Fiction-Formaten übernommen werden. Die kulturelle Aufwertung dieser Formate, ihre „Verbürgerlichung“, wie man es spitz nennen könnte, macht das Segment für Kino hinfällig: „Der wahrscheinlich meist debattierte kulturelle Diskurs, den man im Bezug auf Laufbild heute [beobachten kann; K.M.], ist sicher die neue Fernsehserie. Die neue amerikanische Fernsehserie – der dann auch andere Länder nachzukommen versuchen – hat ein gewisses romanhaftes, identifikationsheischendes, realistisches Erzählen in den verschiedenen Genres noch dazu so aufgefangen, zuletzt wieder kulturell so aufgewertet, dass auch BildungsbürgerInnen sich damit beschäftigen, sodass für diese Art des Erzählens immer weniger Grund besteht, sie zu produzieren; umso mehr als die produzierenden Studios oder Produzenten auch gemerkt haben, dass das ein diminuishing returns bringt.“120

Umwälzungspotentiale, wie man sie im 20. Jahrhundert beobachten konnte, habe das Kino keine mehr. Die Aufgabe, den Menschen aus seiner selbst- oder fremdverschuldeten Unmündigkeit zu entführen, wird Horwath zufolge in anderen medialen Konstellationen ihre Fortführung finden. Es ist dabei jedoch nicht die Sorge um das Medium Film, noch weniger die um den Verlust des Raums Kino, die seine Argumentation antreibt, im Gegenteil: der Raum werde erhalten bleiben, aber er werde „das werden, was das Theater ist und der Konzertsaal“, er sei „eindeutig am Weg zum hochkulturellen Raum“. Schließlich gehe es darum, an der jeweiligen dominanten Technologie anzusetzen und nicht an den Inhalten – insofern ist ihm „Haneke“ ein Anachronismus, nicht weil der Ansatz des Regisseurs keine Sprengkraft hätte, sondern schlicht dadurch, dass er ein Medium bedient, dessen Sprengkraft im 20. Jahrhundert verblieben ist. Um die Parameter einer technokulturellen Konstellation auf die Probe zu stellen, eigne sich Kino schlicht nicht mehr in maßgeblicher Weise. Und wenn Haneke für Howath diesen „Anachronismus“, der für ihn durch die empirische Beobachtung eines gealterten Publikums „noch haltbarer“ geworden ist, nachhaltig repräsentiert, dann nach wie vor in einer dezidiert „noblen“ Form. In Andeutung seines nächsten Filmprojekts, in dessen Rahmen Haneke eigenen Angaben zufolge eine Auseinandersetzung mit dem Internet anstrebt, betont Horwath: „Er ist nicht jemand, der sich von gesellschaftlichen Prozessen abkoppeln will. Was er natürlich auch nicht kann, wie niemand, das Eigene einfach so zu transzendieren – das was man ist, was man geboren ist. Aber diesen Willen … Also für die biedermeierlichen Seiten unserer Kultur sind schon einmal ganz andere zuständig, ist eher die Susanne Bier zuständig als der Haneke. Und deswegen … das ‚Noble‘ kommt vielleicht von dort, weil ich das … ich will jetzt mich nicht selber als 26- oder 27-Jährigen imaginieren, aber ich glaube, die Entscheidung für 120

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360 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE Haneke habe ich wirklich schon sehr früh getroffen, obwohl mir schon auch von Anfang an die Verspätetheit seines Ansatzes klar war, aber das ‚Noble‘ kommt daher, dass ich bei ihm authentisch das Bedürfnis gespürt habe und bis heute spüre, das, was ihn umgibt, wirklich zu kommentieren und uns Setzungen zu geben, uns Publikum, die man nicht alle Tage kriegt. Seine Filme sind diese Setzungen. Und das könnte der nächste auch wieder sein, auch wenn er nichts sprengen wird.“121

Die Frage nach den Sprengkraftpotentialen „Hanekes“ infolge einer erfolgreichen Oscar-Bilanz beantwortet Horwath schließlich zögerlich, jedenfalls ideenreich: „Das kommt drauf an, was er draus macht. Aus seiner ersten Möglichkeit in Amerika einen Film zu machen, hat er die Entscheidung getroffen, Funny Games eins zu eins nachzumachen – eine sehr diskutable und nicht besonders produktive Entscheidung meinem Gefühl nach. Wenn er den Oscar gewinnt und wenn er jetzt nach mehreren Filmen diesen Status, den er da jetzt gewonnen hat … die Frage ist im Grunde nur so beantwortbar, dass ich persönlich glauben würde, was man tun sollte, mit dieser kleinen Macht oder mit dieser Rolle, die man da hat, wenn man auch noch den Oscar kriegt: Dann würde ich an seiner Stelle nicht versuchen, einen … naja das würde auch gar nicht so zu ihm passen, einen groß budgetierten Hollywoodfilm zu machen, sondern ich glaube, es wäre sinnvoll, oder es würde mich am meisten interessieren, es wäre am spannendsten zu beobachten, wenn er, der doch sehr stark aus dem Fernsehen kommt, als vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen des deutschsprachigen Raums ursprünglich geprägter Künstler von diesem Status, von diesen Möglichkeiten, die sich ihm vielleicht bieten, eine Fernsehserie zu machen. Ich glaube, dass das mehr bewirken würde oder mehr – ob er das könnte ist eine andere Frage, ob ihn das interessiert auch – aber der ist 70, i find, der soll … also wenn’s drum geht, etwas anderes zu machen, als er eh macht – weil er braucht den Oscar jetzt nicht um noch fünf Filme dieser Art zu machen, mit den großartigsten Schauspielern der Welt … Also das kann man erwarten, aber es ändert ja nichts an der relativen gesellschaftlichen Unwirksamkeit dieser Art von Film.“122

17. Z UM BLINDEN V OLKSSPORT DES O SCAR -W ERDENS : „K INOGROSSMACHT “, KLEINKARIERT Februar 2013. Michael Hanekes Amour ist „für Österreich“ bei der 85. Vergabe der Academy Awards vertreten. Nur drei Filme waren bis dato in der Geschichte der Oscars sowohl in der Auslandskategorie als auch für den Besten Film nominiert worden. Amour ist nach Costa-Gavras’ Z (1969), Roberto Benignis La vita è bella (1998) und Ang Lees Crouching Tiger, Hidden Dragon (2000) der vierte potentielle Anwärter auf die begehrte Trophäe. Mit Margaret Ménégoz, Stefan Arndt, Veit Heiduschka und Michael Katz sind vier Produzenten für die Höchstauszeichnung nominiert. – Angesichts der acht Konkurrenten in der Hauptkategorie entspreche die Siegeschance einer mathematischen Wahrscheinlichkeit von 11,11 Prozent periodisch, wie es Heiduschka im Scherz mehrfach festhält. Dass der Film überhaupt im Rahmen der ame-

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rikanischen Kategorien kandidiert, verweist auf die geschäftliche Wirksamkeit, die ihm in den USA zukommt. Amour schreibt sich mit anderen Worten in das Programm: „The movies we are honoring this year are strong and thrilling. They are artistically fulfilling as well as commercially successful, and have attracted masses of dedicated, vocal fans. All this makes for films that are unpredictably competitive for the Oscars, with a fantastic level of audience interest.“123

5856 Academy-Mitglieder sind mit der Vergabe der Auszeichnungen betraut, viele davon anonym – vom sogenannten Board of Governors zum ehrenamtlichen Dienst bestellt, mit dem Ziel, den Fortschritt im Bereich der Filmwirtschaft zu fördern und – vermittels Preisvergabe – zu würdigen. Die Nominierung für Amour ist für viele eine Sensation; reale Chancen auf den Hauptgewinn räumt dem Film jedoch kaum einer ein: Das zur Förderung der eigenen Industrie berufene Hollywood träfe sich wohlgemerkt am Knie des Standbeins, schösse es sich tatsächlich auf Fremdware ein. Was jedoch die vier weiteren Nominierungen anbelangt, verhält es sich mit der Konstruktion medialer Sicherheiten ganz anders. So lässt sich für den Zeitraum zwischen der Vergabe der als Oscar-Vorboten geltenden Golden Globes und der anstehenden Oscar-Verleihung Erstaunliches beobachten: In der unermesslichen Flut von Spekulationen und Prognosen, die mit der Veranstaltung einhergehen, erweist sich der Ausgang des Wettbewerbs in einigen Kategorien mit näher rückender Entscheidung als offener denn ursprünglich angenommen. Als Amour in Fünffachnominierung auf den Spielplan der Debatten tritt, regen sich die Medien: Das Online-Magazin Indiewire attestiert Haneke Chancen auf das beste Drehbuch, zudem stehe Emmanuelle Riva hoch im Kurs124, überhaupt besteht Einigkeit darüber, dass die Schauspielerin – die am Tag der Verleihung ihren 86. Geburtstag feiert – eher die „verdiente“ als die „sentimentale“ Wahl wäre. Experten schalten sich ein, Wettbüros laufen auf Hochtouren – auch ein möglicher Sieg in der Kategorie Beste Regie sei nicht ausgeschlossen, laut Hollywood Reporter. Der britische Guardian etwa räsoniert über die Academy-Positionierung zum Thema Gewalt und sieht Haneke im direkten Duell mit Tarantino um das Verdienst des besten Drehbuchs.125 Am 22. Februar werden in Paris schließlich fünf Césars für Amour verliehen, darunter der Hauptpreis für den Besten Film. Am selben Abend, andere Ortszeit, Wilshire Boulevard, Beverly Hills: In der Grand Lobby der Academy nimmt ein merklich erschöpfter Michael Haneke am Podium seine Nominierungsurkunde in Empfang, bedankt sich, auf das Rednerpult gestützt, leise und herzlich. Er war direkt von Kostümproben aus Madrid gekommen, wo er am Teatro Real Mozarts Così fan tutte inszeniert hatte. Nach einer Inszenie123

Zadan, Craig; Meron, Neil. „A Warm Welcome“. Vorwort zur offiziellen Ausgabe des Oscar-Programmhefts 2013. The Academy of Motion Picture Arts and Sciences, 2013, S. 5. 124 Thompson, Anne. „Final Oscar Predictions 2013“. In: Indiewire, 24.02.2013. http://blogs.indiewire.com/thompsononhollywood/final-oscar-predictions-2013 [24.02.2013] 125 Ebner, Daniel. „85. Oscars: Enges Rennen, kaum Favoriten und viel Liebe für ‚Amour‘“. Meldung der APA, 21.02.2013.

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rung des Don Giovanni 2006 an der Pariser Opéra Garnier bespielt er bereits zum zweiten Mal „den anderen hochkulturellen Raum“, verpasst jedoch wegen zeitlicher Überschneidung die Premiere, über deren – sehr positiven Verlauf – er erst nach Abflug erfährt. Im österreichischen Konsulat von Los Angeles empfangen Generalkonsulin Karin Proidl und Wirtschaftsdelegierter Rudolf Thaler zur „Oscar Viewing Party“ etwa 300 Gäste aus Politik, Branche und Society, darunter Bundesministerin Claudia Schmied und ihr deutscher Amtskollege Bernd Neumann, ORF Generaldirektor Alexander Wrabetz und Medienvertreter aus Österreich, Deutschland, den USA sowie freilich das Team von Amour. Haneke nimmt im Dolby Theatre den Oscar für den besten fremdsprachigen Film entgegen und versetzt seine Anhänger in Euphorie. „Wir sind Oscar!“, kreischt die von ATV entsandte High-Society-Reporterin professionsgemäß ins Mikrofon und nötigt Martin Schweighofer in ihrer stimmlichen Überlagerung der Liveübertragung ein lächelnd-konsterniertes Kopfschütteln ab. Es ist ein Abend der Begegnungen, der Anspannung und letztlich der Erleichterung; kulinarisch unterstützt unterhält sich die Menge in Erwartung des Siegers und seiner Equipe, der bei Ankunft in der Residenz kurz nach Mitternacht die Mikrofone und Aufnahmegeräte entgegenwachsen. Es ist eine der Keimzellen für die Kulmination jenes spätestens seit dem Erfolg des Weißen Bands brodelnden Nationalhypes, wie er im Fußball und Schisport schon lange etabliert ist. Dass sich ein Kollektiv des Weltmeistertitels erfreut, ist jedoch längst nicht mehr nur eine sportliche Angelegenheit, hat sich der kompetitive Gestus in vergleichbarer medialer Aufbereitung sehr prominent auch im Zuge der Papstwahl 2005 durchgesetzt: Weit ist er jedenfalls nicht, der assoziative Sprung zum geflügelten „Wir sind Papst“, das mit Josef Ratzingers Amtsantritt zum Pontifex Maximus die Weiten der deutschsprachigen Medienwelt erfasst hatte und ein Pontifikat zur deutschen Nationalaffäre hatte avancieren lassen. Gewiss früher schon, doch spätestens mit „Haneke“ hat die reichlich antikritische und tendenziell eher apolitische Bezugnahme auf gesellschaftliche Ereignisse mit entsprechender Breitenwirksamkeit unfehlbar den Bereich der Kulturrezeption erreicht. Mit dem fundamentalen Unterschied, dass das Kollektiv in letzterem Fall ein fragliches geworden ist: „Warum“, fragt Kolumnist Otto Grubauer in seiner Stellungnahme zu Phänomenen des kulturellen Alltags für das Magazin der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien, „sind Fußballstadien mit tausenden Fans ausverkauft? Weil sie gemeinsam das Gefühl des Sieges oder auch der Niederlage erleben möchten. Machen wir Konzertsäle, Theater- und Opernhäuser oder auch Kinos wieder zu Begegnungsstätten des gemeinsamen Erlebens.“126 Die „Boulevardisierung“, die die Oscar-Verleihung an Michael Haneke nach sich zieht, ist nicht nur ein – medial gestütztes – Phänomen der Metaebene mit Zugehörigkeitsattraktion im Sinne der Selbstvalorisierung, sondern – wie es sich schon am Beispiel Papst Benedikts XVI. nachvollziehen lässt – auch ein wirtschaftliches Phänomen von marktökonomischer Tauglichkeit. Mit Haneke hat erstaunlicherweise nicht nur ein Regisseur den Oscar gewonnen: eine ganze Nation ist offenbar Oscar geworden. Dasjenige Blatt, das sich die „Oscar-Gewordenheit“ als Schlagzeile erlaubt, ist bezeichnenderweise das Wirt-

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Grubauer, Otto. „Der magische Moment“. In: Kunsträume – Magazin der Universität für Musik und Darstellende Kunst, Nr. 1, März 2013, S. 5.

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schaftsblatt127. „Wir sind Oscar“, heißt es auch hier im Wortlaut, mit dem lakonischen Vermerk wohlgemerkt, dass die rund 8,5 Millionen Euro, auf die sich die Produktionskosten des Films belaufen hatten, in etwa dem Finanzaufwand entsprechen, den allein die Kampagne für den Siegerfilm Argo ausgemacht hatte. Bis zu zehn Millionen Dollar haben etwa sechs der Konkurrenten in ihre Kampagnen gelegt, wie das Wall Street Journal vorrechnet. – Kampagnen im großen (politischen) Stil: Von Special-Screenings und Partys über weinerliche Interviews, starbesetzte Überzeugungsarbeit, erkaufte Bestsendezeiten im Fernsehen bis hin zu Parteispenden – die Macher von Argo, Silver Linings, Lincoln, Zero Dark Thirty oder Les Misérables hatten reichlich Aufwand betrieben, um die potentiellen Juroren zu umgarnen und ein letztlich vorteilhaftes Votum zu erwirken. Ausgeartet sind die Debatten bezeichnenderweise in eine Schlammschlacht um den Wahrheitsgehalt derjenigen (zahlenmäßig beschaulichen) Wettbewerbsbeiträge, die (zum Teil fälschlicherweise) den Anspruch erheben, auf historischen Fakten zu basieren. Sieben der neun Nominierten hatten in den Kinos über 100 Millionen Dollar umgesetzt – entsprechend hoch das Investitionspotential. Hanekes Amour, so die evidente Konklusion des Wall Street Journals, sei – neben Benh Zeitlins Beasts of the Southern Wild – weit davon entfernt.128 Meilenweit entfernt: Nicht nur ist am etwaigen Wahrheitsgehalt der hochgradig veristischen Fiktion schwer zu rütteln, auch die filmwirtschaftlichen Prämissen sind gänzlich andere. „Wir sind Oscar“ – laut Statistik des Österreichischen Filminstituts (ÖFI) verzeichnet Amour von seiner Premiere bis zum Wochenende der OscarVerleihung eine Gesamtbesucherzahl von gerundeten 90.000 Kinobesuchern in Österreich129, was in etwa einem Prozent der österreichischen Bevölkerung entspricht. Festzuhalten bleibt damit, dass die Relevanz der kollektiv gewordenen Errungenschaft – entgegen eines verbreiteten Missverständnisses – aus interner Sicht nicht unbedingt einen filmwirtschaftlichen Nutzen nach sich zieht. „In erster Linie“, so Veit Heiduschka hinsichtlich der amerikanischen Marktbeherrschung, bedeute der Oscar – neben einem neuerlichen Kinostart in Österreich – „Ehren. Und wenn man Glück hat, bringt er etwas mehr Geld aus dem amerikanischen Markt. Und das war’s eigentlich. Wenn Sie davon ausgehen, dass für jeden Kinobesuch dann ein Euro an uns geht, wir haben nun aber 900.000 in dem Film stecken, also brauchen wir – können Sie sich vorstellen, wir bräuchten 900.000 Zuschauer in Österreich, d.h. in dem kleinen Markt kann ich mich nie refinanzieren. Und dann bei den Großen bin ich mit zehn Prozent beteiligt – was kommt dann noch? Also das Budget ist nicht einspielbar. Aber das ist auch das, was ich immer sage: Ohne europäische Filmförderung, da könnten alle nationalen, europäischen ... gäbe es jedenfalls keinen europäischen Film. Und die Amerikaner haben auch indirekt einen Vorteil bei 127 128

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APA. „Wir sind Oscar“. In: Wirtschaftsblatt, 25.02.2013. http://wirtschaftsblatt.at/ home/nachrichten/international/1348656/Wir-sind-Oscar [15.04.2013] Marr, Merissa. „Das kostspielige Rennen um die Oscars“. In: The Wall Street Journal, 24.02.2013. http://www.wallstreetjournal.de/article/SB10001424127887323549204578 320472070462806.html [15.04.2013] Bis zum 1. März 2013 sind es 89.125 Besucher; in der Woche vom 1. bis zum 8. März kommen 4886 Besucher hinzu. Auskunft: Angelika Teuschl, Statistik Österreichisches Filminstitut.

364 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE den Steuern. Ich habe einmal mit einem Steuerberater von Warner gesprochen, der hat gesagt: ‚Schauen Sie, bei uns kann es sein, Sie riskieren einen Dollar in den Film und Sie kriegen von der Steuer fünf zurück.‘ Also die haben eine indirekte Filmförderung und die Regionalfonds. Die kriegen ja in bestimmten Regionen 40 Prozent, wenn Sie dort drehen. Allerdings sind die Produktionskosten so hoch. Der Haneke hat ja auch gesagt bei Funny Games U.S. – zum berühmten Bergfest oder Abschlussfest, ich weiß nicht mehr, welches es war – da sagte er: ‚Da waren plötzlich 250 Leute dort, die ich noch nie gesehen hab, die angeblich alle bei meinem Film mitgearbeitet haben.‘ Ich habe denen immer gesagt: ‚Gebt mir meine 34 Österreicher, ich mache euch den Film mit 34 Leuten.‘ Der Film hat damals, glaube ich, 24 Millionen Schilling gekostet und in Amerika hat er 15 Millionen Dollar gekostet, Funny Games U.S. Auch weil die Schauspieler ein bisschen mehr gekostet haben, aber es ist auch ein anderer Aufwand. ManPower nennt man das.“130

Dass sich die Erfolgswelle finanziell nicht unbedingt beträchtlich zu Buche schlägt – eine Einspielsumme von etwas mehr als dem investierten Eigenkapital lässt sich letztlich verzeichnen –, sei insgesamt emblematisch für die Situation der österreichischen Filmproduktion. Nicht nur schwinden ehemals effektivere Standbeine wie die Produktion von Werbung und sind auch die Auftragsproduktionen des ORF nahezu belanglos klein geworden; Heiduschka verweist auch auf eine Studie des Bundesministeriums über einen Beobachtungszeitraum von fünf Jahren, der zufolge „alle vom ÖFI in diesem Zeitraum geförderten Filme insgesamt nicht das von den Produzenten zu erbringende Eigenkapital einspielt haben. Dann muss man sich fragen: Wovon leben wir, wenn nicht von der Selbstausbeutung? Der Vorteil ist, dass wir nach sieben Jahren die Rechte haben und ÖFI, FFW und ORF nicht mehr beteiligt sind, abgesehen von den Filmen, die vor 2006 produziert worden sind. Die sogenannte Sekundärverwertung ist ja inzwischen zur Primärverwertung geworden.“131

Was die nunmehrige Primärverwertung via DVD anbelangt, so sind die Einspielsummen praktisch nicht errechenbar – schon deshalb nicht, weil nicht alles, was gepresst auch verkauft wird und zurückgesandtes Material folglich im Minus abzurechnen wäre. Auch variieren die Preise von Kauf-DVDs bekanntlich nach Zeitpunkt des Verkaufs, sind in den ersten Wochen teurer als danach. Entsprechend dürftig in ihrer Aussagekraft sind die diversen Statistiken, zu denen Heiduschka klar Stellung bezieht: „Glaube keiner Statistik, es sei denn, du hast sie selber gefälscht“132, so der Produzent schelmisch. Dass die Filmförderung in Österreich laut Statuten voraussetzt, dass das jeweilige, zur Einreichung gebrachte Vorhaben „unter Berücksichtigung des Drehbuches sowie der Stab- und Besetzungsliste geeignet erscheint, zur Verbesserung der Quali130 131

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Gespräch mit Veit Heiduschka vom 16.01.2013 in der Wiener Wega Film. Interview: Katharina Müller. „Oscars 2013: Ein Gespräch mit Veit Heiduschka“. Veit Heiduschka im Gespräch mit Karin Schiefer (AFC), 28.02.2013. http://www.afc.at/jart/prj3/afc/main.jart?rel=de& reserve-mode=active&content-id=1164272180506&tid=1361890875163&artikel_id= 1361890875117 [12.03.2013] Gespräch mit Veit Heiduschka vom 02.05.2013. Telefonat: Katharina Müller.

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tät des österreichischen Films und zur Hebung der technischen und wirtschaftlichen Lage des österreichischen Filmwesens beizutragen“133, ist Roland Teichmann zufolge eine „gedrechselte Worthülse“, die sich vor allem daraus ergibt, dass eine Konzeption dessen, was „Kultur“ ist, gesetzestextlich schwer fasslich erscheint. Denn wenn Erfolge wie derjenige Hanekes einen „Nutzen“ haben, so vor allem einen kulturellen, wie der Filminstitutsdirektor betont: „In 99,9 Prozent der Fälle ist Film nicht wirtschaftlich in Europa. Es ist einfach so. Das ist kein Versagen der Filmschaffenden, kein Versagen einer gewissen Marktfähigkeit, sondern es ist eine Realität: Wir können tun, was wir wollen, egal welche und wie viele Filme wir produzieren oder fördern würden – es wird immer so sein, dass in etwa plus/minus 75 Prozent des Marktanteils von amerikanischen Filmen dominiert werden und nur ein gewisser Restmarkt überhaupt für nicht-amerikanische Filme europaweit besteht, der viel zu klein ist, um ein vielfältiges nationales Filmschaffen aus dem Markt heraus zu finanzieren. Das ist eine Realität, und so simpel es klingt, so simpel ist es auch: deswegen gibt es die Filmförderung schlicht und einfach. Der Grund, warum wir überhaupt Filmförderung in Österreich und in allen anderen europäischen Ländern machen können und dürfen, in der Form, in der wir es tun, ist schlicht und einfach der, dass die Europäische Kommission zwar sagt: ‚Jeder Eingriff in den Wettbewerb mit staatlichen Mitteln, mit Subventionen, mit Förderungen ist grundsätzlich unzulässig‘, es aber Ausnahmen gibt. Und die wesentlichste und klassischste Form der Zulässigkeit von Subventionen und Eingriffen in den Wettbewerb ist Kultur. Also auch die rechtliche Basis für das, was wir tun, ist – wie es so schön heißt – exception culturelle. Das legitimiert auf rechtlicher Ebene die Filmförderung in ganz Europa. Wären wir in einer reinen Industrie, hätten wir zum einen diesen Benefit nicht, und zum anderen wäre diese Industrie in Europa aufgrund der Zersplittertheit dieses Marktes problematisch (es gibt ja nicht ‚den‘ europäischen Markt, es gibt ja viele Einzelmärkte, ganz unterschiedlich – selbst die Skandinavier, die nach außen hin so einen geschlossenen Eindruck machen, auch da gibt es ganz unterschiedliche, eigene Märkte, die sich sehr stark voneinander abgrenzen) und deswegen ist diese Marktfähigkeit immer eine sehr bedingte. Und in Wahrheit ist es auch aus der Sicht der Förderung um einiges interessanter, Filmschaffen zu unterstützen, das zumindest potentiell die Möglichkeit hat, europaweit oder idealerweise sogar weltweit zu reüssieren und nicht einfach ‚nur‘ den nationalen Markt zu bedienen. Weil die Filme, die in Österreich hohe Besucherzahlen erreichen, sind halt zu 99 Prozent Komödien und die interessieren in Freilassing schon niemanden mehr. Nicht nur aufgrund der Sprachbarriere. Gerade am Beispiel von Michael Haneke lässt sich zeigen, dass es wirklich nur dann gelingt, ein Filmschaffen oder ein Werk in einer echten internationalen Dimension wirksam werden zu lassen, wenn auch von vornherein schon ein bisschen breiter und größer gedacht wird. Und in seinem Fall hängt es natürlich sehr stark – insbesondere bei den letzten beiden Filmen, die ja kommerziell auch besonders erfolgreich waren – mit den Themen zusammen. Das sind natürlich auch – ganz wichtig – Themen, die eine internationale Rezeption überhaupt erst ermöglichen.“134

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Vgl. Förderungsrichtlinien des Österreichischen Filminstituts. http://www.filminstitut.at/de/richtlinien/ [01.05.2013] Gespräch mit Roland Teichmann vom 02.05.2013 im Österreichischen Filminstitut. Interview: Katharina Müller.

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Haneke, der Regisseur in persona, grenzt sich in seinem künstlerischen und handwerklichen Anspruch bekanntlich von Hollywood ab; zuletzt dezidiert bewiesen durch die öffentliche Bekundung in einer Boulevardsendung des österreichischen Radios, das Regieangebot zu einem Drehbuch von Brad Pitt abgelehnt zu haben.135 – Ein sofort vielfach kommentiertes Statement; zahllos die Reaktionen der internationalen Presse auf den Regisseur, der in einer Zusammenarbeit mit dem Movie-Star kein Privileg sieht.136 Die ideologische Abgrenzung sowie die aus Sicht der Produktion relative Unwirksamkeit des Oscar-Erfolgs ändern freilich nichts an der wirtschaftlichen Relevanz, die eine gewonnene Oscar-Statuette und seine boulevardhafte Nationaldiskussion mit sich bringen. Sie beginnt gewissermaßen beim Regisseur, der sich über „arbeitserleichternde“ Bedingungen freut – und zwar infolge der Sichtbarkeit, die die Preisträgerschaft nach sich zieht: Die Palme in Cannes kennen schließlich verhältnismäßig nur wenige, den Oscar hingegen kenne „jeder Bauer in Afghanistan“, so Haneke, als er kurz nach seiner Rückkehr im Wiener Rathaus den Wiener Preis für humanistische Altersforschung, verliehen von der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie, entgegennimmt. Seiner strategischen Prämisse, sich auf thematische Gegebenheiten nicht allzu erklärend einzulassen, bleibt er treu und spricht stattdessen – wenn man es gefühlvoll rationalisieren möchte – der österreichischen Filmbranche aus der Seele. Der (mit 5000 Euro dotierte) Preis freue ihn besonders und sei vor allem insofern „ein angenehmer“, als er „mit Geld verbunden ist, was die meisten Preise nicht sind“, wie er lachend konstatiert. Weitreichend in Folge sind europaweit die Felder, aus denen heraus mit dem markengewordenen Namen „Haneke“ geworben, Aufmerksamkeit erregt und nicht zuletzt (auch finanziell) profitiert wird: „Michael Haneke meint, dass er niemals aus Kalkül im Sinne einer Geldanlage kaufe, sondern sich auf sein Bauchgefühl verlässt und sich durchaus in Möbel oder Bilder verlieben kann.“137 Vom Dorotheum, dem europaweit größten Auktionshaus für Kunst und angewandte Kunst, das seiner Klientel Hanekes Vorlieben beim Kunstkauf erläutert138, über die Kreditkartengesellschaft card complete, die ihn den Visa- oder Mastercard-Besitzern am Titelblatt ihres Firmenmagazins als „Meister der Seele“ und mit ihm sich selbst empfiehlt139, bis hin zur Stipendiatin, die vermittels eines „Haneke“-Projekts in die Gunst eines Fördergebers gerät – die Spanne der Profiteure ist geraum. Und sie inkludiert mithin Projekte, in die zu investieren ist – Geld so sehr wie Zeit –, Unternehmen, die einen materiellen Aufwand so sehr erfordern wie mitunter einen geistigen. Paradoxon, und darin liegt sehr blank die Ironie der Geschichte um die kleine „Kinogroßmacht“, ist bitteren Stimmen zufolge der Staat selbst: 20 Millionen Euro stellt Österreich der heimischen Branche im Jahr 2013 zur Disposition – für die Ge135

Haneke gegenüber Claudia Stöckl in der Ö3-Sendung „Frühstück bei mir“ vom 21.04.2013. 136 Vgl. etwa: APA. „Haneke gibt Brad Pitt einen Korb“. In: APA, 21.04.2013. 137 Böhm, Martin. „Editorial“. In: Dorotheum my ART MAGAZINE, April 2013, S. 1. 138 Vgl. Krumpl, Doris. „Bilderliebe“. In: Dorotheum my ART MAGAZINE, April 2013, S. 24-29. 139 Vgl. Deckblatt des Complete-Magazins, März 2013. Hg.: card complete Service Bank AG.

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samtheit der Spiel- und Dokumentarfilme, für Festivals sowie für wissenschaftliche bzw. publizistische Leistungen im Bereich Film und Kino. Eine erst unlängst erfolgte Aufstockung um drei Millionen, die die erste große Welle österreichischer Erfolge international nach sich gezogen hatte, bereits inkludiert. „Wir sind Oscar, aber kosten darf es nichts“, wie Der Standard zur „neuen Kinogroßmacht“ kritisch nachstößt – ohne dabei freilich den Rekurs auf die Welt des Sports zu scheuen: „Jetzt wird gratuliert und gefeiert. Nicht so enthusiastisch wie bei Marcel Hirscher [Gesamtweltcupsieger Schirennlauf; K.M.], Filme zu machen ist schließlich kein Volkssport, aber – wir sind Oscar. [...] ‚Wir‘ – das ist eine Gemeinschaft innerhalb politischer Grenzen, die auch ganz anders verlaufen könnten. Auch Michael Haneke ist einer von uns. Er ist zwar außerhalb der Grenzen auf die Welt gekommen, seine Filme sind häufig mit französischen Stars besetzt, und zum größten Teil wurden sie aus Geldern anderer Länder finanziert. Aber egal, wir sind ja auch Europa. Marcel Hirscher hat neben der österreichischen auch die niederländische Staatsbürgerschaft und wäre beinahe für die Niederlande gefahren. Er hat aber in Österreich die besseren Bedingungen vorgefunden. Womit wir beim Thema wären. In ganz Europa gäbe es nämlich ohne öffentliche Gelder keine Kinofilme. So wie es keine Opernhäuser und keine nennenswerten Theater gäbe. Die darstellende Kunst rechnet sich wirtschaftlich bestenfalls fürs Musical.“140

Die budgetäre Verteilungspolitik im Bereich Kultur werfe mit anderen Worten gewisse Fragen auf, so Kulturwissenschaftler und Grünen-Kultursprecher Wolfgang Zinggl. – Und die Kernfrage ist ihm, bezeichnenderweise, eine Frage der Relationen: „Es geht um eine vernünftige Verteilung. Ein einziger Vergleich macht uns unsicher, ob Proportionen des 19. Jahrhunderts noch gerechtfertigt sind: Die Volksoper erhält für ihr Jahresprogramm doppelt so viel wie der gesamte österreichische Film. Zurzeit wird dort ‚Die verkaufte Braut‘ gegeben. Inhaltlich geht es um eine böhmische Jungbäuerin, die von ihrem Vater verheiratet wird, wiewohl ihr Herz für einen anderen Hans schlägt oder so ähnlich. Ob das eine präzise Analyse des Gegebenen ist, eine emotionale Verdichtung, ein subtiler Beitrag zu unseren Sorgen und Nöten? Im Sinne der Vielfalt muss auch die Braut gespielt und finanziert werden. Es geht nicht um ein Entweder-oder. Und auch das Gießkannenprinzip ist in der Kunst nicht angebracht. Keine Frage, eine Opernproduktion braucht mehr Geld als die Produktion eines Buches. Aber gerade deshalb müsste der Film als kostenintensives Medium stärker gefördert werden. Es geht um Verhältnisse.“141

Nun ist Kino – ironischerweise aufgrund rückläufiger Besucherzahlen – auf seinem Weg zum hochkulturellen Raum bereits sehr fortgeschritten und „kriegt trotzdem kein Geld“, so die im Diskussionsforum der Online-Ausgabe vielfach affirmierte Logik der jüngeren Entwicklungen im Bereich Laufbildproduktion und -förderung. Roland Teichmann seinerseits, als derjenige Mann, der die 20 Millionen Euro gewissermaßen verwaltet und (unter kommissioneller Absegnung freilich) verteilt, findet diese Diskussion „unspannend“ bzw. erscheint ihm „diese Neiddebatte äußerst un140 141

Zinggl, Wolfgang. „Wir sind Oscar, aber kosten darf es nichts“. In: Der Standard, 26.02.2013. Ebd.

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produktiv: Das Beste, was man tun kann, ist erfolgreich zu sein – weil das auch Konsequenzen nach sich zieht. Aus dem Misserfolg heraus zu argumentieren, das finde ich schwach, insbesondere dann, wenn die Argumente auf Kosten anderer gehen.“142 Die politische Abhängigkeit einer aus Steuergeldern ermöglichten Filmförderung schmälert Teichmann dabei freilich nicht, gerade im besagten nationalen Erfolgsdiskurs und den beachtlichen Größenordnungen von gesellschaftlicher Wahrnehmung, die dieser nach sich zieht, sieht er Vorteile: Je breiter die gesellschaftliche Wahrnehmung, umso wirksamer auch die politische. Im „Verteilungskampf“ der Mittel angesichts der an allen Ecken zu treffenden Sparmaßnahmen, komme das so positive „Image des Films“ der Filmförderung entgegen und rücke „den Film“ so in eine komfortablere Situation. Entsprechend „locker“ erscheint Teichmann die nationale Vereinnahmung, so hanebüchen (bzw. nicht wirklich in Relation zur Kunst und ihren Reflexionspotentialen stehend) sie letztlich auch sein mag – schließlich (be-)fördere sie „die Themen, um die es in erster Linie geht“: „Diese Kulturgüter werden schnell vereinnahmt, weil natürlich jeder stolz ist – Stolz allein ist natürlich zu billig –, aber – und der Reflex an sich ist ja ok – das hat auch mit Geld zutun, weil einfach sehr viel Geld drinnen steckt und dieses Geld will legitimiert werden. Man hat immer auch – gerade in der Förderung – einen permanenten Legitimationsdruck, wenn es heißt: ‚Was habt ihr denn da wieder gefördert? Wer schaut sich denn das an? Wie relevant ist denn das, was da entsteht?‘ Und wir fördern ja mit viel Geld, wir haben jetzt ein Budget von 20 Millionen und auch die sind politisch zu rechtfertigen. Immer wieder. Das ist kein Selbstläufer und da ist natürlich jede Form von Erfolg willkommen, um diesen Erhalt der Steuermittel zu legitimieren. Es ist relativ as simple as that. Und wenn es dann sozusagen ‚Zugpferde‘ gibt, die diesen internationalen Erfolg besonders prominent vertreten – mit Filmen, die auch aus Österreich heraus entstanden sind, oder dann vielleicht auch woanders gedreht oder mit nicht-österreichischen Schauspielern gedreht wurden – egal, es stecken ja auch immer eine gewisse Geschichte und Themen dahinter – und bei Michael Haneke liegt ja eine besonders interessante Geschichte dahinter: Dass er eine sehr explizite filmische Handschrift für sich gefunden und für sich ja stetig weiterentwickelt hat – man hat bei jedem seiner Filme das Gefühl, es geht wieder eine Stufe weiter, es ist nicht more of the same, sondern es ist eine Weiterentwicklung in eine nächste Stufe.“143

Während Michael Haneke im Juni 2013 seine Opernregietätigkeit im Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie fortführt, nachdem er im Mai als Mitunterzeichner einer Petition der Europäischen Filmakademie (EFA) zum Schutz der europäischen Kultur im EU/US-Freihandelsabkommen aufscheint144, kursieren – nach einer er-

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Gespräch mit Roland Teichmann vom 02.05.2013 im Österreichischen Filminstitut. Interview: Katharina Müller. Ebd. Die kulturelle Ausnahme – infrage gestellt durch die Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP), die sie nicht berücksichtig – sei „nicht verhandelbar“, so das unter EFA-Präsident Wim Wenders versammelte Regiekollektiv, das „das unabhängige Kino und die Freiheit des Ausdrucks seiner Autoren“ gefährdet sieht und letztlich einen „irreparablen Schaden an der europäischen Kultur“ befürchtet. Vgl.: Petition „The cultural

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folgsbedingten Unterbrechung von zwei Jahren – wieder vermehrt Gerüchte zum neuen Haneke-Film: Bereits im Frühjahr 2011 hatte Haneke vom ÖFI eine Förderzusage für die Stoffentwicklung eines mit dem Titel Flashmob eingereichten Spielfilms erhalten. Der bei Drehbuch- und Konzepterstellung unterstützte Streifen soll, laut Mitteilungsblatt zur Förderentscheidung, von „diverse[n] Personen“ handeln, die „mittels Internet miteinander in Kontakt [kommen]: Verschiedene Geschichten entstehen. Ein Flashmob führt am Ende des Films die meisten zusammen. Wieder geht es, wie in früheren Filmen von Michael Haneke, um die brüchige Relation zwischen Medium und Realität.“145 Haneke dementiert, was zu dementieren seiner Diplomatie entspricht, die Presse hingegen schon zwei Jahre zuvor als „ambitioniert“ verbucht: „Michael Haneke setzt auf Flashmobs und Internet.“146 Roland Teichmann, der dem „herumgeisternden Internetfilmprojekt“ schon mit Spannung entgegensieht, setzt prospektiv vor allem auf das – noch nicht in Angriff genommene – Drehbuch, von dem er sich erfahrungsgemäß Einzigartigkeit verspricht. Im so vielschichtigen Prozess der Entwicklung erfolgreichen Filmschaffens sei, so Teichmann, nicht zuletzt dem Gefühl zu vertrauen: „Es gibt wahnsinnig viele Wahrheiten. Wichtigster Faktor ist die Erfahrung. Mit einem Gefühl für Momente und Stimmungen hat man keine schlechten Voraussetzungen für Erfolg. Das ist nicht erlernbar, das ist ein achterbahnförmiger Prozess, weil jeder Film ein Prototyp ist – es ist eben keine Schraubenerzeugung oder kein Waschmittel oder sonst irgendetwas. Nur weil es bei einem Film so funktioniert hat, heißt das noch lange nicht, dass es beim anderen Film auch so funktioniert. Da gibt es kein Patentrezept, kein Erfolgsmuster. Dennoch glaube ich: Qualität ist erkennbar. Wenn ich pro Einreichtermin – um es jetzt auf die profane Tätigkeit der Filmförderung zu reduzieren – 40 oder 50 Drehbücher lese, dann ist es einfach so, dass von diesen 50 Drehbüchern 40 bestenfalls mittelmäßig sind, die man relativ schnell wieder weglegt. Von diesen zehn restlichen ist eines vielleicht sehr interessant, zwei sind vielleicht ganz interessant und der Rest ist dann ein bisschen über Mittelmaß. Das ist einfach immer so und Qualität ist erkennbar – nicht nur handwerkliche Qualität sondern Bücher sind ja immer auch Röntgenbilder vom Regisseur, da steckt sehr viel drinnen. Und je stärker dieser Autor, diese Autorin bei sich ist und überzeugt ist von dem, was da entstehen soll und auch weiß, warum und wie es entstehen soll – das schreit quasi auch zwischen den Zeilen durch. Und wenn man genau hinhört, dann kann man das hören. Und eines dieser möglichen Vielleicht-Erfolgsrezepte ist es eben, nach Ansätzen von filmischem Schaffen zu schauen, das wirklich originär ist, das wirklich konsequent ist, das erkennbar ist, das kompromisslos ist, das möglichst weit weg von der Mitte ist, egal in welche Richtung. Das zu identifizieren und das zu ermöglichen – und zwar auch dauerhaft zu ermöglichen, im Sinn von entwickeln lassen –, darum geht es. Und auch das ist jetzt sehr vereinfacht: Nach dem ersten Film von Michael Haneke, wenn man da gesagt hätte: ‚Ok, 100 Zuschauer, danke, brauchen wir nicht‘, hätten wir jetzt nicht den Oscar-Regen, sehr

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exception is non-negotiable!“. In: https://www.lapetition.be/en-ligne/The-culturalexception-is-non-negotiable-12826.html [13.05.2013] Siehe Förderentscheidungen 2011: http://www.filminstitut.at/de/foerderungszusagen/ [13.05.2013] Unbekannt. „Michael Haneke setzt auf Flashmobs und Internet“. In: Kleine Zeitung online, 07.03.2011. http://www.kleinezeitung.at/freizeit/kino/2693578/heimischer-filmflashmob-ein-pferd-balkon.story [13.05.2013]

370 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE einfach gesagt. Also es kann nicht jeder ein genialer Filmemacher oder eine geniale Filmemacherin sein – es gibt sehr viele Ansätze, die auch gut sind, die ok sind, aber die irgendwie trotzdem sehr mittig sind. Wo man sagt, da geht die Welt nicht unter, wenn man den nicht zeigt. Naja, wo geht die Welt schon unter? [– ‚In Wolfzeit!‘, Anm. K.M.] – Ja, wär vielleicht ein guter Zeitpunkt für ein Remake. Aber der Film wurde viel zu sehr beschädigt.“147

Der „Oscar-Regen“ ist ein Regen der Erlösmeldungen, von Südkorea über Neuseeland, über Hongkong, über Australien, über Norwegen bis hin zu Brasilien – Amour „wird weltweit in den Kinos gezeigt, macht weltweit gute Zahlen und wird weltweit verstanden“, so Teichmann beeindruckt. Dennoch stehe man mit dem permanent sich verlagernden und verschiebenden, jedenfalls im totalen Umbruch sich befindlichen Rezeptionsverhalten der Zuschauer – gerade durch die rasend schnellen Veränderungen der Technologien – verwertungsstrategisch vor Ungewissheiten. Instabilität und langfristige Unabsehbarkeit der Effizienz der Verwertungskaskade stellen vor Herausforderungen, sodass man sich den Erfordernissen einer „strukturellen Gesamtvernetzung“ wird beugen müssen. Denn wenn es auch „kein staatliches Filmstudio“ ist und auch „weit davon entfernt, eine bürokratische Einheit zu sein, die hinter verschlossenen Polstertüren auf schriftliche Anträge hin Förderungen vergibt“, so positioniere sich das Filminstitut Teichmann zufolge doch irgendwo dazwischen. Die ÖFI-Direktion wähnt sich selbstkritisch „in der Steinzeit mit dem Filmförderungsgesetz“, das gewisser Differenzierungen hinsichtlich der Platzierungs- und Verwertungsstrategien für Film so sehr bedarf wie es von Nationalvereinnahmungstendenzen letztlich profitiert. Schließlich helfe diese „Banalisierung“ von künstlerisch ambitionierten Filmgütern „der gesamten Filmbranche. Jedem, der in Österreich Filme macht hilft es, wenn auf Titelseiten von Boulevardzeitungen Österreichischer Film in einem positiven Konnex genannt wird. Es ist auch erstaunlich: Jetzt mit diesem Oscar gibt’s ja auch eine gewisse Banalisierung des Films und seiner komplexen Geschichten. In ‚Frühstück bei mir‘ [die besagte Radiosendung; K.M.] ist dann einmal Michael Haneke. Finde ich total interessant, dass es da so ein Überschwappen gibt vom reinen Kulturbetrieb, vom Feuilleton und von Qualitätsberichterstattung hin zum Boulevard. Und das hilft uns einfach massiv – auch relativ profane Dinge – wenn ich jetzt das nächste Budget verhandeln muss, mit wem auch immer dann Minister ist, da tue ich mir ein bisschen leichter, wenn ich auf diese Erfolge verweisen kann als wenn dem nicht so wäre – dann wären die die ersten, die sagen: ‚Ja wozu brauchen wir das überhaupt?‘ Oder: ‚Wie viel brauchen wir da überhaupt?‘ – Das ist dann sehr schnell sehr kühl gerechnet. Michael Haneke war wahrscheinlich die beste Investition der Filmförderung ever, weil der return, den er gebracht hat, mit dem Erfolg seiner Filme auf internationaler Ebene höher nicht sein könnte und konstanter nicht sein könnte. So gesehen kann man nur dankbar sein, dass das in dieser Form passiert ist. Was aber nicht bedeutet, dass wir uns jetzt irgendwie bequem zurücklehnen und sagen: ‚Wunderbar, hat gut funktioniert.‘ Der entscheidende Punkt ist – Haneke ist ja inzwischen ein Selbstläufer, der braucht die Förderung quasi wirklich nur mehr um Geld zu bekommen, ist ja ok, was soll man denn anderes tun –, dass man auch in zehn Jahren neue Filmemacherinnen und Filmemacher unterstützt hat, vielleicht einen ähnlichen Weg zu gehen. Wobei es 147

Gespräch mit Roland Teichmann vom 02.05.2013 im Österreichischen Filminstitut. Interview: Katharina Müller.

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jetzt nicht um Epigonen geht, das wäre das Langweiligste überhaupt. Das ist ja auch immer so ein bisschen die Gefahr am Erfolg, dass es dann zu einem viel zu epigonalen Filmschaffen führt: alle wollen es irgendwie kopieren, interpretieren. Das ist auch nicht das, was wir suchen. Sondern: wo gibt es wirklich eigenständige Stoffe? Das kann sich wirklich 100 Prozent unterscheiden, je mehr es sich unterscheidet, umso besser. Aber es muss halt wirklich authentisch sein, eigenständig sein, präzise, konzentriert, kompromisslos. Dann ist es interessant. Und da versuchen wir jetzt schon seit einiger Zeit, nicht mehr so in Richtung Haneke zu schielen, sondern danach, was im Nachwuchsbereich passiert. Wo sind die Leute, die Potential haben, in diese Richtung zu gehen. Und das ist das Spannende und Erfreuliche in Österreich, dass ich das Gefühl habe, da gibt es einiges an interessantem Talent – wohin es dann führt, wird man sehen. Aber es ist nicht so, dass man irgendwie bange und ängstlich in die Zukunft blicken und sagen müsste: ‚Oje, jetzt haben wir den Haneke und dann kommt der Absturz.‘ Glaube ich nicht. Aber er hat natürlich große Pionierarbeit geleistet und da war die Förderung wirklich die bestmögliche Investition.“148

Es gibt ihn, den Nachwuchs, und er hat freilich Namen: Das Internationale Festival der Wiener Filmakademie liefert Zeugnis, 2007 etwa in geballter Form mittels einer Regiecollage: Henning Backhaus, Karl Bretschneider, Peter Brunner, Stefan Brunner, Albert Meisl, Andrea Mracnikar, Alex Trejo, Henri Steinmetz und Tobias Dörr – medial als „Michael Hanekes Regiestudenten“ angepriesen – inszenieren Ferdinand Bruckners Krankheit der Jugend (1926) als filmisches Kammerspiel – mit u.a. Ursula Strauss und Birgit Minichmayr in den Hauptrollen prominent besetzt. Das Kunsträume-Magazin der Wiener Universität für Musik und Darstellende Kunst nimmt Hanekes Oscar-Erfolg zum Anlass, zwei seiner Regiestudenten zu porträtieren: Hüseyin Tabak und Catalina Molina stellen sich in der Märzausgabe vor – angeführt am Titelblatt als „die jungen Talente des Michael Haneke“149. Wien, am 6. April 2013: 3:15 Uhr am Morgen. Eine Nachricht via Skype aus dem Sekretariat der Wega Film legt sich in einem Fenster über das vorliegende Dokument: Claudia Pollak verkündet erfreut den Drehschluss des Tages – Produktionsleiterin Ulrike Lässer sei soeben vom Set zurückgekehrt – und macht sich an die Tagesdisposition. Hier ist man nicht Oscar, sondern präpariert sorgfältig Oscar-Potential: Umut Dağ, seinerzeit ebenfalls „ein Schüler Hanekes“ an der Filmakademie, dreht – nach seinem bei den Berliner Filmfestspielen gefeierten Debüt Kuma (2012) – einen zweiten Film. Risse im Beton. Wo nicht mehr spekuliert wird, wird gearbeitet, gedreht und mitunter dem Optimismus gefrönt – schließlich ist in der Branche vor allem eines klar, um ÖFI-Direktor Teichmann zu bemühen: „Film ist immer auch so ein nobody-knows-anything-Business, unter Anführungszeichen natürlich – es ist alles möglich, wobei, sagt mir meine Erfahrung seit einigen Jahren: Misserfolge sind leichter zu prognostizieren als Erfolge. [...] Film lehrt ja so oft, es gibt ja unzählige Beispiele und Gegenbeispiele und manchmal habe ich wirklich das Gefühl, je mehr man sich an die Regeln hält, umso weniger Erfolg hat man. Weil diese berechnenden, diese kühlen, gewollten, konstruierten Dinge, die funktionieren ja nie – das Publikum ist ja nicht blöd, das merkt 148 149

Ebd. Titelblatt Kunsträume – Magazin der Universität für Musik und Darstellende Kunst, Nr. 1, März 2013.

372 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE einfach: ‚Da haben sie auf den Knopf gedrückt ... und das ist zum Melken ...‘ – Das geht kaum auf.“150

Wo die internationale Branche nicht weiter weiß, weil sie noch nicht wissen kann, dort „helfen“ die nationalen Medien, weil sie um die Regeln der Heimspiele wissen können. So kündigt der ORF in einer Ausgabe der Zeit im Bild nach Hauptabendprogramm an, dass „der österreichische Regisseur Umut Dağ“151 einen neuen Film dreht. Die Schleife geht weiter, im Heimspiel, das kein Spiel ist, sondern Arbeit. Und diese will gesehen werden. Postskriptum I: Ein bahnbrechend haarsträubender Artikel der Zeit übernimmt stellvertretend den für wissenschaftliche Arbeiten so üblichen „Ausblick“ auf künftige Beiträge zur Forschungslage und hält fest: „Eines Tages werden Filmgeschichtler den Einfluss von Susie Haneke auf Michael Hanekes cineastisches Werk untersuchen.“ 152 Postskriptum II: Auf Initiative des Instituts für Fundamentaltheologie der Universität Graz wird Michael Haneke im September 2013 das Ehrendoktorat der Theologie verliehen. Haneke habe vermittels seiner Filme „Fragestellungen aufgegriffen, die einerseits soziologisch, andererseits auch zutiefst theologisch relevant sind“, so die Begründung des Fakultätsgremiums.153 Haneke nimmt die Doktorwürde an.

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Gespräch mit Roland Teichmann vom 02.05.2013 im Österreichischen Filminstitut. Interview: Katharina Müller. Berichterstattung der ZIB 2 vom 28.03.2013 zu den Dreharbeiten von Risse im Beton. Mark, Margarethe. „Die wahre Liebe“. In: ZEITmagazin, Nr. 23, 29.05.2013. Meldung der APA. „Michael Haneke wird Theologe honoris causa“. In: Der Standard, 08.08.2013.

An der Sackgasse des Essentialismus vorbei: Auszug aus einem Gespräch mit Michael Haneke

KM: Herr Haneke, weil Sie mir jetzt bereits zum dritten Mal diesen Ausdruck der Bestürzung entgegenbringen – schon die letzten beiden Male als Sie mich gefragt haben, was ich da mache und ich Ihnen gesagt habe, eine Arbeit zu ‚Haneke‘, haben Sie gesagt: ‚Oje ...‘. Entsprechend möchte ich Sie bittend fragen, ob Sie mir diese Artikulation vielleicht ein bisserl präzisieren könnten ... MH [lacht]: Na ich hab gemeint Oje für Sie, weil das ist ja ein Haufen Arbeit und da muss man sich dauernd mit den Filmen auseinandersetzen. Ich hatte unlängst – das ist, glaube ich, morgen im Fernsehen, in ORF3 – ein Gespräch mit dem Herrn Kerbler, das ist ein ORF-Journalist, der macht immer so Interviewsendungen. Und das fand im Parlament statt. Und der hat auch gesagt – er wiederum wurde nämlich vom ORF interviewt, wie er sich vorbereitet hat und ob er sich alle meine Filme angeschaut hat: ‚Ja, innerhalb der letzten drei Wochen.‘ Hab ich auch gesagt: ‚Sie Armer!‘ [lacht], weil er das so gebündelt muss [lacht]. Also, egal welcher Filmemacher, es ist ja so: Wenn man sich das Werk – wenn der viel gemacht hat – kompakt anschaut, dann ist es irgendwie immer eine Zumutung, weil da kriegt man so Scheuklappen und insofern: Darauf bezog sich das Oje ... [lacht] KM: Naja, die Filme waren ein Teil des ganzen Unternehmens und ich habe tatsächlich jeden ungefähr zehn Mal gesehen, im Ganzen. In Teilen dann freilich öfter. MH: Alle Filme? Die Fernsehfilme auch? KM: Selbstverständlich. MH: Na gute Nacht. Ich schau mir ja meine Filme nicht an, wenn ich nicht muss. Aber nicht, weil ich sie nicht gut fände, sondern weil es für mich eine erledigte Sache ist, wenn ich einen Film einmal gemacht hab. Da interessiert mich mehr, was ich als nächstes mache als das, was ich gemacht hab. KM: Ich werd meine Dissertation auch nicht lesen. MH [lacht]

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KM: Ich möchte Sie fragen: Zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ‚Haneke‘ haben Sie mir in Los Angeles gesagt: ‚A masturbatorischer Schaß!‘ MH: In Bezug worauf? KM: Auf die letzte wissenschaftliche Bezugnahme, die Sie zu Ihrem Werk gelesen haben. Weshalb ich Sie fragen wollte ... MH [lacht]: Hab ich das so deutlich gesagt? KM: Ja. Und da ist womöglich auch was dran. Daher wollte ich Sie fragen, worin für Sie die Merkmale des intellektuell Masturbatorischen liegen ...? MH: Naja also das Problem ist ja immer, wie bei Kritiken ja auch – das ist ja eine Banalität wenn man das sagt –, aber ich zitiere ja immer gern die Susan Sontag und ihren Essay Against Interpretation, wo sie sagt, ‚die Interpretation ist die Rache der Intellektuellen an der Kunst‘ [lacht]. KM: Georg Seeßlen hat Ihnen diese Rache zuletzt als ‚Liebeserklärung‘ zurückgeworfen. MH: Jaja ... Im Allgemeinen – man kann das aber auch nicht generalisieren: Den Großteil der filmwissenschaftlichen Sachen, die ich über mich gelesen habe, hab ich nach kürzester Zeit aufgehört zu lesen, weil ich nicht weiß, wovon die reden. Jedenfalls nicht von meinen Filmen. KM: Ja. Da beginnt die Qual und nicht bei Ihren Filmen. MH [lacht]: Ja, es interessiert mich dann auch nicht, wenn ich da etwas lese, das ich nicht verstehe. Weil wenn ich’s überhaupt nicht mit dem zusammenbringe, was ich da fabriziert habe, dann langweilt mich das. Und dann frag ich mich: Warum tun die Leute das? Und dadurch komm ich auf das Masturbatorische. Weil’s ja immer ... es ist ja immer schwierig: Also Kritiken, sehe ich noch ein, die macht man, um Filmpolitik zu machen, letztendlich. Also entweder macht man’s, weil man Macht haben will oder man ist Teil einer Gruppe, die eine bestimmte Interessensform im Kino durchsetzen will. Das gibt es ja auf der ganzen Welt, das gibt es ja nicht nur im Kino. Das gibt’s auch in der Literaturkritik. Da kämpfen Gruppen gegen Gruppen und da werden bestimmte Konzepte verteidigt usw. – Wo ich mich immer frage: Wer hat daran ein Interesse? – Ich nicht. [lacht] Und die meisten, die es machen ... das hat immer so etwas von ... also masturbatorisch ist vielleicht ein bisserl hart gesagt, aber es hat für mich auch immer so etwas Sinnloses. Wozu? Wer liest das auch?, frag ich mich immer. Wer liest filmwissenschaftliche Werke? – Filmwissenschaftler. Aber sonst kein Mensch. Weil das auch niemand ... Weil in einer Wissenschaft ... Es ist ja Literaturwissenschaft auch ein eigenes Kapitel. Wissenschaft und Kunst ist ein eigenes Kapitel. Jede Naturwissenschaft hat einen Erkenntniswert: Ich mach irgendwelche Forschungsarbeiten und dann bin ich klüger nachher. Aber in den Literaturwissenschaften, da schreibt einer,

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also einer interpretiert das so und der nächste interpretiert das dann so und weist nach, dass der das dann falsch interpretiert hat und so weiter. Und das ist halt einfach eine Wichserei. KM: Ja, eine Hirnwichserei, ganz genau. MH [lacht] KM [zur Dissertation]: Dann darf ich Ihnen jetzt sagen, was das hier ist. MH [lacht]: Ja. KM: Und zwar ist das eine Chronik. Keine hermeneutische Arbeit. Das heißt, ich habe weder Werkinterpretationen vorgenommen, noch hab ich Ihnen irgendwelche Intentionen angedichtet, die ich natürlich nicht kennen kann. Ich kann vermuten und ahnen, aber das hat alles nichts mit meiner Arbeit zu tun. Was ich gemacht habe, ist eine Art Versammlung. Diese Arbeit gehorcht einer kompositionistischen Logik und hatte eine Grundregel als Prämisse: Es ging darum, zu beschreiben und nicht zu erklären. MH: Ja was jetzt? Die Filme phänomenologisch zu beschreiben, oder ...? KM: Nein, nein ... Eine unter dem weitestgehenden Verzicht auf Bewertung realisierte Versammlung von Stimmen und Material zu ‚Haneke‘, was immer sich damit assoziieren lässt. Ich hab alles Mögliche durchforstet: Wissenschaft, Presse, Internetforen usw., bin herumgefahren, hab mit Leuten aus Kunst, Kultur und Politik geredet – Produzenten, Verleiher ... Es ist eine Stimmenversammlung und mein Kommentar ergibt sich aus der Form, der Anordnung dieser Stimmen. MH: Und die Summe dieser Stimmen ist eine Kakophonie? KM: Ja, allerdings! Ich bin ausgegangen von der Beobachtung, dass künstlerisches Schaffen, vor allem Film, in den letzten zehn Jahren in seinem Kulturgutwerden vermehrt nationalisiert wurde. Mit dem Weißen Band hat das bekanntlich einen Kulminationspunkt erreicht, mit den Streitereien darüber, ob das nun ein österreichischer oder ein deutscher oder usw. Film ist. Sie kennen die Diskurse ja. Obwohl das freilich nicht mit den Produktionsverhältnissen übereinstimmt und von werkimmanent brauchen wir ja nicht zu reden. Jedenfalls: eine sehr vielschichtige Geschichte – Nationalismen, kanonische Fragen ... Im Größeren ging es also um das Verhältnis von Kino und Nation. Pierre Henri Deleau hat 1992 in Cannes gesagt: ‚Je nationaler ein Film und je persönlicher, desto universeller wird er sein.‘ ... MH: Ja, da ist auch was dran. KM: Ich sage auch nicht, dass da nichts dran wäre.

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MH: Ja, das kann man ausführen: Je persönlicher – grundsätzlich, das muss jetzt gar nicht mit national zu tun haben, sondern – ich glaube grundsätzlich: Je persönlicher ein Film ist, desto allgemeiner ist er, desto leichter können der Herr X und die Frau Y sich damit irgendetwas anfangen. Sobald er nämlich nur irgendwelche Thesen vertritt, werden nur die Leute, die die gleichen Thesen vertreten ... die anderen können sich aufregen, aber es wird nicht sehr viel bringen [lacht]. KM: Die Frage war dann auch: wie beschreibt man so etwas wie ‚nationales Kino‘ und wie schreibt man das als eine Erfolgsgeschichte zu ‚Haneke‘, ohne dass man sich dabei zum Trottel macht. Und ich hab dann eben ein alternatives Geschichtsmodell, wenn Sie so wollen, ersonnen und einen Antrag gestellt auf Förderung. Kurz vor Ihrer Palme für Das Weiße Band war das. Sehr verkürzt: Ich hab gesagt, der Haneke wird die Palme holen und dann wird das so und so laufen. Die anderen haben gesagt: nein, so wird das nicht laufen. Dann kam die Palme und ein neuer Antrag und dann mein Stipendium. Eine herrliche ... MH [lacht]: Ja, so ist der Kulturbetrieb. KM: Der Wissenschaftsbetrieb. MH: Naja, das ist dasselbe. KM: Die Frage war, formal: Wie beschreibt man möglichst unsentimental Kino, Nation und den Autor/den auteur als Komplexe, von denen anzunehmen ist ... MH: Und das Fazit ist, dass ich kein nationaler Autor bin oder das ich schon ein nationaler Autor bin? KM: Das Fazit ist ein anderes, aber das verrate ich Ihnen nicht. Das versuch ich Ihnen zu entlocken. MH [lacht] KM: ... also als Komplexe, von denen anzunehmen ist, dass es ‚Produkte‘ einer historischen Moderne sind, wobei sich inzwischen aber die Paradigmen verschoben haben. Das klingt jetzt zwar sehr hirnwichserisch, aber das ist eben der wissenschaftliche Duktus. Ein Erkenntnisinteresse, weil Sie schon davon gesprochen haben, gab es natürlich auch. Es lag in der Frage nach dem Potential von Kunst und Film als sozialem Handlungsfeld innerhalb der veränderten Formen von Gesellschaft, mit denen wir es heute im 21. Jahrhundert zu tun haben. Und nun bin ich in der Situation, dass ich mich drei Jahre lang mit ‚Haneke‘ beschäftigt habe ... MH: [erneut bestürzt, lacht] Um Gottes Willen ... und noch keine Albträume haben? KM: Inzwischen nicht mehr. ... und jedenfalls eine Vielzahl von Fragen und Metafragen, die Ihnen bereits gestellt worden sind, schon kenne. Die Mehrzahl davon sind Fragen, die sich mir nicht stellen. Also dieses ‚Warum haben Sie das so oder so ge-

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macht?‘. Diese Warum-Fragen, das interessiert mich nicht. Und nachdem Sie ja auch vermehrt dazu genötigt wurden, einzuräumen, dass Sie sich nicht gern selbst interpretieren, was sehr verständlich ist, wäre die einzig mir sinnvoll erscheinende Gesprächsvariante, wenn Sie damit einverstanden sind, dass ich Sie mit ein paar wenigen Stichworten oder Konzepten konfrontiere, die diese Arbeit sehr prominent durchzogen haben. Was nicht heißt, dass ich von diesen Dingen spreche. Und wir reden jetzt freilich nicht über ‚die Kälte bei Haneke‘ ... MH [deutet auf mein iPhone um sich des Funktionierens der Aufnahme zu versichern]: Das ist so schwarz ... das ist richtig so ... das soll so sein ...? KM: Ja, das rennt noch. MH: [blickt auf das sicherheitshalber in Betrieb genommene zweite Aufnahmegerät]: Das leuchtet rot, das muss stimmen ... [lacht] ... Ok. KM: Kontextuell geht es um den Hintergrund des Eintritts in eine Ära von Film und Kunst NACH dem Kino. MH: Was heißt ‚nach dem Kino‘? KM: Das heißt, dass sich Kino als Öffentlichkeitspraxis neu verteilt, durch die Vermehrung der technischen Dispositive. Ich komm Ihnen gleich sehr konkret. – Das ist die Schande: wenn man sich mit Hirnwichserei beschäftigt, dann neigt man dazu, dieser Tendenz bisweilen selbst zu verfallen. Also: Der erste Punkt betrifft die Relation von Mensch und Technik. Unsere technikbedingt verkomplizierte Zusammenkunft* war ja bezeichnend ... Die Interaktion von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen bzw. Dingen ... Was fällt Ihnen dazu ein? MH: Ah nein, also solche Fragen beantworte ich ungern. KM: Zu offen? MH: Nein, weil das sind so Meinungen; und Meinungen teile ich nicht gerne mit. Das kann ich am Biertisch machen, aber nicht öffentlich. Das ist so wie ... Heute hat mich der Frido Hütter von der Kleinen Zeitung gefragt: ‚Was soll in Österreich in der Kultur verändert werden und was soll bleiben?‘ Sag ich: ‚Dazu hab ich keine öffentliche Meinung.‘ [lacht] Ich gebe überhaupt zu öffentlichen Themata keine Stelltung ab, grundsätzlich, weil ich ... Wer bin ich, dass ich ... Das, was ich zu sagen hab, für die Öffentlichkeit, sag ich in meinen Filmen und mehr hab ich nicht zu sagen. [lacht] KM: Gut, dann stelle ich die Frage anders: Weil Ihr Werk auf Basis Ihrer Stellungnahme doch in den diversen Arbeiten als die ‚filmische‘ Variante der Kulturindus*

Haneke musste unser zunächst am Land vorgesehenes Gespräch kurzfristig in die Stadt verlegen, da sowohl sein Mobiltelefon als auch sein Computer nicht funktionierten und folglich einer Reparatur bedurften.

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triethese Adornos umschrieben wurde – Sie haben sich zur Kulturindustrie doch immer wieder geäußert –, stellt sich die Frage, ob diese These – hinsichtlich der Relation von Mensch und Technik, oder sagen wir Mensch und Medien/Massenmedien ... Anders gewendet: Man könnte ideengeschichtlich sehr verkürzt in drei Phasen teilen: Erstens: Das Modell Adorno, wo auf der einen Seite ein verblendetes Subjekt steht und auf der anderen Seite die Massenmedien. Als Dualität. Zweitens: Die 70erund 80er-Jahre-Auseinandersetzung mit Medien, wo sich die Gegenüberstellung hält: Wieder auf der einen Seite das Subjekt und auf der anderen Seite die bösen Massenmedien, die uns nun nicht mehr verblenden, weil der Mensch ja jetzt die Möglichkeit hat, Lesarten zu entwickeln, zu deuten, Dinge hermeneutisch auszulegen. Roland Barthes proklamierte ja den Tod des Autors ... Also der Mensch ist doch fähig und mündig und kann sich, sehr verkürzt gesagt, doch zur Wehr setzen. Und nun kommt die dritte Möglichkeit der Betrachtung, nämlich, dass man – wäre zumindest infrage zu stellen – drittens: Mensch und Ding bzw. Subjekt und Objekt nicht getrennt betrachtet, sondern als Hybrid. Das war der Versuch der Arbeit, unter der Annahme, dass Mensch und Technik fast nicht mehr getrennt voneinander betrachtet werden können. MH: Mir wird das zu kompliziert, was Sie da sagen. Ich finde schon, wenn Sie auf der einen Seite den Adorno und auf der anderen Seite den Roland Barthes, und da ist das Individuum und dort ist das bedrohliche Massenmedium und bei Barthes hat sich das Individuum emanzipiert, das ist ja ein Blödsinn, weil der Herr Adorno hat sich genauso emanzipiert. Es ist immer eine Frage der Leute. Denen, die sich emanzipieren können und denen, die es nicht können. Und natürlich konnten sich die Intellektuellen auch schon vor Herrn Barthes als emanzipiert betrachten. Das ist ja kein Widerspruch, das ist ja nur von einem anderen Gesichtspunkt aus beschrieben. Aber das ändert ja kein Jod an dem, was der Adorno gesagt hat. Es ist nur ein anderer Gesichtspunkt. KM: Ganz recht. Ich spreche auch nicht von der Tatsache, dass sich die Situation verändert hätte, sondern von der Betrachtungsweise, die sich verändert hat. MH: Na ich sag nur, weil es wird ja Adorno in der modernen Kritik immer so quasi als ‚überholt‘ betrachtet. Ich finde das überhaupt nicht überholt, ich finde diesen Pessimismus wesentlich konkreter als diese postmoderne – meiner Meinung nach – Verharmlosung der Situation. KM: Worin liegt die Verharmlosung? MH: Eben, wie Sie es zunächst beschrieben haben, darin, dass man sagt: Also der Mensch ist ja sozusagen ‚auf Augenhöhe‘ mit der Technik. – Wir sind überhaupt nicht auf Augenhöhe mit irgendwas. KM: Nein, wir sind in Interaktion. MH: Ja, aber wir sind nur reagierend. Weil ... natürlich benutzen wir das. Wenn ich ein E-Mail schreibe, benutze ich das Medium. Aber wir sind durch die Tatsache, dass

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wir ... Das Internet zum Beispiel: Also es gibt ein paar – es sind ja Banalitäten – große Erfindungen, die die Menschheit verändert haben. Das Rad, die Elektrizität, die Dampfmaschine [lacht] – gibt’s ja alles Mögliche – und das Fernsehen war sicher ein Punkt, der die Welt enorm verändert hat, so wie der Buchdruck. Und jetzt verändert das Internet die Welt noch einmal phänomenal. Und es verändert sich immer krasser und immer schneller. Und das Gleichhalten des Individuums mit dem wird immer schwieriger. Wir sind ja völlig überfordert! Wir wissen ... wir bilden uns alle heute ein, wir hätten ein Bild von der Welt durch die Medien. Und wir haben aber überhaupt kein Bild von der Welt. Ich gebe immer dieses Beispiel – hab ich ja schon hundertmal zitiert – vom Bauern im Bergdorf ... also ich brauch’s jetzt nicht noch einmal zu sagen, weil Sie kennen es wahrscheinlich eh, oder? KM: Der Bauer in Afghanistan? MH: Ja, oder in Afghanistan, ist ja völlig Blunzen. KM: Ich frage nur, ob’s derselbe ist ... MH: Er kann auch in Österreich ... in Afghanistan hat er vielleicht noch kein Internet, aber [lacht] sagen wir in irgendeinem hinterwäldlerischen Dorf in den Alpen. Da war der, vor 50 Jahren, der seine Berge kennt und rundherum und etwas anderes hat er gar nicht geglaubt zu kennen. Und heute sitzt er vor der Glotze und hat den Eindruck, er weiß was. Er weiß aber genauso wenig wie vorher, weil man immer nur das weiß, was man selber erfahren hat. Und das ist die große Gefahr. Weil sich die Leute für informiert halten und es überhaupt nicht sind. Wenn ich mir anschaue: Was weiß ich von Afghanistan? – Das, was sie mir in dem Medium zeigen, was irgendwelche Reporter gefilmt haben. Die müssen nicht einmal böswillig sein und mich manipulieren wollen, absichtlich, sondern das findet automatisch statt: Ich kriege einen Teil der Welt, einen winzigen Ausschnitt als die Essenz eines Landes zum Beispiel vorgesetzt und natürlich muss ich es glauben, weil ich habe ja gar nicht die Möglichkeit, das zu verifizieren. Weil die Information, die von überall kommt, so dicht ist, dass ich weder die Zeit noch sonst etwas hab. Das ist die Situation. Wir sind total in Abhängigkeit. Und wenn man das jetzt auf ästhetische Formen hochrechnet, muss ich halt sagen, dass – das ist das Problem – eine mediale Erziehung überhaupt nicht stattfindet. Die findet vielleicht bei ein paar Filmwissenschaftlern unter sich statt [lacht], aber sonst schon nirgends. Sonst schon nirgends! Weil wenn Sie sich heute anschauen – ich sehe es ja an der Uni, wenn wir unsere Aufnahmsprüfungsleute haben, die sich da bewerben, wie deren ästhetische Schulung ist. Und die ist natürlich Fernsehen und Mainstream. Da haben sie ihre Bildvorstellungen her. Und die machen’s halt nach. Weil was soll man anderes machen als nachmachen? Man macht zuerst immer einmal nach. Aber man wird heute in einer Form zugebuttert, in einer Simplifizierungsästhetik (ich meine jetzt nur ästhetische Bildfragen), dass es eine Art Verflachung der Bildmöglichkeiten gibt. Und weil es so viel gibt, ist es in den Schulen gar nicht zu leisten! Die Medienerziehung, die darin besteht, dass irgendein Deutschlehrer mit denen dann einmal in der Woche sich einen Film anschaut und dann darüber redet, das kann’s ja nicht sein.

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KM: Die Situation ist mir bekannt. MH: Aber so ist es ja. Wie soll man das auch ... das ist gar nicht zu leisten! Weil die Entwicklungen so gigantisch sind, dass alle völlig hilflos wie kleine Kinder hinterher tappeln und glauben und sich einreden, damit sie sich nicht blöd vorkommen, dass sie informiert sind. Aber sie sind komplett uninformiert! Ich bin komplett uninformiert von der Welt, ich weiß nicht, was passiert auf der Welt. KM: Und Sie würden sagen, Sie reagieren eher als Sie agieren, mit den technischen Dispositiven? MH: Ich kann ja gar nicht anders. Natürlich. Ich kann ja nur reagieren. Es wird mir irgendetwas angeboten und ich muss dazu eine Stellung beziehen, ob ich will oder nicht. Weil wenn ich hier leben will, in einem beruflichen Umfeld, bin ich ja gezwungen, diese ganzen Dinger zu haben. Deswegen bin ich heute runtergefahren von da oben [am Land; KM], weil ich gesagt hab: Wenn ich kein Internet und kein Handy hab, das kann ja beruflich schädlich sein. Ist es ja! Vor 20 Jahren hat keiner ein Handy gehabt, die Welt hat auch funktioniert. Ich will nicht zurück, dass man kein Handy hat – dass Sie mich nicht missverstehen –, ich glaube nur, dass uns die technische Entwicklung in einer Weise überrollt, der wir alle geistig nicht gewachsen sind. KM: Das meinte ich auch mit der Hybridfunktion. Ganz knapp gesagt nämlich ... MH: Aber hybrid würde ja bedeuten, dass beides zusammen funktioniert. Aber es funktioniert ja nicht. Es funktioniert ja nur auf einer ganz primitiven Ebene, nämlich so, dass ich weiß, ich kann heute schneller telefonieren und meine E-Mails verschikken und muss nicht die Briefe auf die Post bringen. Früher hat man halt getrommelt, die Botschaft, jetzt gibt’s halt schnellere Wege und man muss die mitmachen, weil alle anderen sie ja auch mitmachen. Aber das heißt nicht, dass das ein hybrides, ein wirklich hybrides System ist, also dass das eine das andere befruchtet. Das ist nicht der Fall. KM: So weit geht’s in meiner Geschichte gar nicht. Da geht’s gar nicht um Befruchtung sondern um die Grundannahme, dass, ganz knapp gesagt, der Haneke mit seinem funktionierenden Handy einer anderen Funktionslogik gehorcht als der Haneke ohne Handy. MH: Klar, der Haneke mit dem Auto hat eine andere Funktionslogik als ohne Auto. Weil wenn ich mit der Kutsch’n fahr, brauch ich drei Wochen bis ich in Paris bin. Heute steig ich in den Flieger und bin in drei Stunden dort. Das ist ... KM: ... banal, ja. Und genau darum geht es: Dass man sagt, man lässt die Hermeneutik beiseite und geht zurück zu den Dingen und schaut sich einfach an, was da ist und zusammenkommt. Als Chronik des Zufalls, wenn Sie so wollen. Im Sinne des Versuchs, das gemeine filmwissenschaftliche Verständnis von Film einmal komplett zu erschüttern, indem man sagt: Film ist auch eine Frage von: Kommt das Bandel rechtzeitig in Cannes an oder geht’s auf dem Postweg verloren ...

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MH: Sicher, ja. KM: Das weitet zwar den Fokus unermesslich, aber man springt runter von der Warum-Frage oder von der Behauptung, der Haneke macht dies oder das so, weil er z.B. seine Kindheit aufarbeitet. – Das ist vollkommen irrelevant für meinen Zugang, daher die Frage. Das heißt, mit einem Begriff wie z.B. – medienwissenschaftlich gerade aktuell – der sogenannten ‚Prosumentenkultur‘ können Sie nichts anfangen? MH: Ich weiß gar nicht, was das heißt. KM: Erhard Schüttpelz, ein Medientheoretiker, hat das aufgestellt, als Mischung von Produzent und Konsument. Ich weiß nicht, ob das optimistisch ist, ich weiß auch gar nicht, was optimistisch ist ... MH: Also eine Mischung von Produzenten und Konsumenten? KM: Ja. Es meint, der kleine Hirsch vorm Internet ist vielleicht doch selbstmächtig, weil er ja potentiell und eventuell das Bankensystem XY aushebeln könnte. MH: Ja, wer’s glaubt. Ich glaub’s nicht. [lacht] KM: Ich auch nicht. MH: Was rauskommt, immer bei dieser Art von Annahme, also: es könnte im Sinne von Twitter usw. ... was rauskommt ist immer der kleinste gemeinsame Nenner. So wie in Jurys – kommt auch immer der kleinste gemeinsame Nenner heraus. Und das ist immer das Schlimmste. [lacht] KM: Allerdings das Schlimmste, man ist dann wieder Teil vom ... jaja ... MH [lacht] [...] KM: Ein weiterer dominanter Diskurs bezieht sich auf das, was in sentimentalen Kreisen mitunter als ‚Kinosterben‘ bezeichnet wird ... MH: Das kann ich gar nicht beurteilen, da müssen Sie einen Statistiker fragen, was das Kinosterben anlangt. Wenn man Kino als Ort meint, wo die Leute hingehen, zahlen und dann dort sitzen und sich das gemeinsam anschauen: Da gibt’s ein Sterben. Das ist ein Faktum. Welche Ausmaße das hat ... bin ich nicht der Mann, um das beurteilen zu können. Der Film stirbt sicher nicht. Die Frage ist mehr eine Frage der Rezeptionsformen. Also Kino als Ort oder Kino wird natürlich abgelöst – ist ja schon abgelöst. Heute unlängst war ich bei Apple weil ich mir dort etwas reparieren hab lassen und da war der neueste Super-Apple-Computer. Und ich hab gesagt: Wo ist denn da der Schlitz für die DVDs? Sagt der: Das gibt’s nimmer, das haben wir nimmer, das verwendet ja keiner mehr. Das wird nur noch heruntergeladen im Internet ...

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KM: ... oder via iCloud ... MH: Jaja, genau. Das heißt, es geht natürlich dorthin, zu dem, was wir in Fahrenheit gesehen haben ... Die Wände ... Ich hab ja auch meine ... ich hab hier [deutet hin] eine Projektionswand, oben am Land hab ich eine Projektionswand. Das ist klar – das wird immer mehr, weil das wird immer billiger, und es wird sich immer mehr ... Wobei: Bestimmte Dinge natürlich, das Blockbuster-Kino, die wollen ja das Gemeinschaftserlebnis – da geht’s ja drum, dass man gemeinsam aufjault und so. Das wird auch nicht sterben, aber es wird sich eben beschränken auf diese Sachen. Aber das normale Kino, also Autorenfilme und so, werden hauptsächlich zu Haus geschaut. Aber da müssen Sie einen Statistiker fragen, der kann Ihnen das besser ... KM: Das hab ich selbstverständlich schon getan. MH [lacht]: Na weil da bin ich nicht informiert genug. KM: Es geht ja nun gar nicht um die Statistik, sondern mehr darum, was Sie dazu denken. Weil Sie gerade sagen ... MH: Also ich finde, weil das so sentimental gehandhabt wird: Ich bin überhaupt nicht ... Also ich bin auch keiner, der jammert, dass wir jetzt nicht mehr auf Film drehen sondern auf Video. Ist mir völlig wurscht. Ich will eine Geschichte erzählen. Wie ich sie möglichst optimal erzähle. Da ist mir wurscht ob der Apparat so ausschaut oder so ausschaut. Wenn’s so ausschaut, wie’s ausschauen soll, ist es eh ... Das wird sich auch ändern: Schauen Sie sich heute Filme an, die 40 Jahre alt sind, die haben ... jeder Film hat einen Zeitstempel. Durch die technischen Gegebenheiten natürlich. Ich sehe genau, da gab es dieses Filmmaterial, dann gab’s dieses Filmmaterial und diese Kamera und jene Kamera. Bestimmte Filme seh ich eine Minute und kann sagen: der ist aus den 50er Jahren oder der ist aus den 60er Jahren. Also das ist normal. Ist ja in der Kunstgeschichte genauso. Im Mittelalter, Übergang zur Renaissance, die Erfindung des Bildes mit der Zentralperspektive – das sind alles Dinge, die sich halt entwickeln. Ist ja nichts Schlechtes. Das ist nichts Schlechtes. [lacht] KM: Ich sage das auch nicht wertend. MH: Nein, aber Sie sind davon ausgegangen, dass manche Leute sentimental vom Kinosterben sprechen. KM: Genau. Ich würde es Neuverteilung nennen. MH: Das ist einfach anders. Was wirklich einer der wenigen positiven Aspekte dieser rapiden technischen Entwicklung ist, ist natürlich die Quasi-Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Weil du kannst heute mit deinem Handy und deinem HomeComputer einen Film machen, das heißt: jeder kann den machen. Es muss nicht irgendjemand auf die Filmakademie gehen, um einen Film zu machen, sondern wenn er Fantasie und Engagement hat, kann er einen Film machen. Das heißt, das Potential, das da entstehen kann, ist natürlich ein großer positiver Effekt.

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KM: Sicher, wenn er auf YouTube 400.000 Mal geliked wird, hat er vielleicht sogar mehr Chancen. MH: Ja und es gibt einfach viel mehr Leute, die dann was ausprobieren dürfen, was ja andere nicht dürfen. Weil wenn – gut ich war auch auf keiner Filmschule, aber heute, normalerweise – wenn du auf eine Filmschule gehst, dann müssen deine Eltern ein Geld haben, weil die müssen dir das Studium zahlen und und und. Das ist alles nicht mehr notwendig. Wie ich angefangen hab, mich für Film zu interessieren, da musst ich mir, um irgendwie dahinter zu kommen, wie man was schneidet, musst ich mir das 20 Mal anschauen und dann bin ich immer noch nicht ... Heute schau ich mir einzelbildmäßig jeden Schnitt an und kann das daheim lernen, ohne dass ... – Wenn ich will. Und das ist ein großer Vorteil. KM: Ich geh nochmal zurück zu dem, was Sie vorhin gesagt haben, nämlich: Das Autorenkino schaut man heut zu Haus ... MH: Ja, wird heute hauptsächlich, glaub ich, eher auf DVD und Dings geschaut als im Kino. Ist aber auch wieder nur eine Vermutung von mir, ich kann’s Ihnen gar nicht belegen. Aber was ich so weiß ... auch was ich von mir selber weiß – ich geh ja nie ins Kino. Fast nie. Weil ich krieg eh alles von diesen ganzen Akademien zugeschickt und schau mir das lieber in Ruhe an, da hab ich keine Popcorn-fressenden, raschelnden, telefonierenden Leute um mich herum [lacht] ... KM: ... die Sie alle auch noch fotografieren, die ganze Zeit ... MH [lacht]: Aber ich bin ja auch nicht repräsentativ. KM: Ich hab die Frage aufgegriffen wegen der im Zusammenhang sehr potenten Idee eines vermehrt georteten ‚Zusammenbruchs von Öffentlichkeit‘, in dem Sinne, dass durch das Sterben, durch das Schwinden und das Teilwerden einer größeren Verteilung ... MH: Einer größeren Verteilung wovon? KM: Von Film auf die mobilen Endgeräte ... MH: Also es wird immer mehr verteilt ... KM: ... ja, und diese Verteilung wurde bisweilen als Zusammenbruch von Öffentlichkeit apostrophiert. MH: Ja, da ist sicher was dran. Ich mein, früher ... was soll ich Ihnen sagen [lacht]: Ich bin ja noch – deswegen handeln vielleicht auch einige Filme von mir von diesen Fragen – ohne Fernsehen aufgewachsen. Ich bin ja gerade noch diese Generation. Also als ich Schüler war, gab’s die ersten Fernseher. Aber noch nicht zu Hause, sondern in den Wirtshäusern. Da ist man halt hingegangen und hat sich irgendwas angeschaut. Aber normalerweise hab ich bis Ende meines Studiums eigentlich nie fernge-

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schaut. Also das gab’s gar nicht. Ich meine, zu Hause hatten wir dann einen Fernseher, aber ich hab kaum geschaut. Und das ist schon – man sieht die Dinge dann anders als wenn man damit aufgewachsen ist, von frühester Kindheit an. Weil man sich an alles gewöhnt. Jeder Mensch gewöhnt sich. Ein gutes Beispiel, das ich immer gebe: Wenn Sie’s schon kennen, weil Sie ja alles gelesen haben, dann bremsen Sie mich ein ... KM: Mach ich. MH: Als ich nach längerem Auslandsaufenthalt nach Österreich zurückkam, vor etlichen Jahren, hab ich den Fernseher aufgedreht und da waren die Nachrichten. Und dann kamen die Schlagzeilen ... Sie kennen die Geschichte? KM: Das weiß ich noch nicht, es gibt mehrere Geschichten, wo Sie heimkommen ... MH: ... kamen die Schlagzeilen der Nachrichten, also, was weiß ich: Erdbeben in Ding und dort ... Und das war unterlegt mit Musik! Und ich hab geglaubt, mich tritt ein Pferd! Ich hab gesagt, das kann ja nicht wahr sein, da sind lauter Katastrophennachrichten und drunter geht’s flott dahin, die Musik. Ich war empört, ich hab mir gedacht, ich muss im Fernsehen anrufen, das muss ein Irrtum sein, das gibt’s ja nicht! Heute: hör ich das gar nimmer. Weil ... Es ist ja grotesk! Also der Konsumcharakter dessen, was da an Elendsmeldungen kommt, ist ja durch dieses Beispiel eklatant. – Fällt einem aber nur auf, wenn’s neu ist. Wenn man damit aufgewachsen ist, fällt’s einem gar nimmer auf! Man ist schon komplettes Opfer davon, weil man gar nicht mehr die Möglichkeit hat, das zu objektivieren. Weil das hat man mit der Muttermilch eingesogen. Das ist das Problem. Und das ist ja auch ... Ich kann meistens bei Filmkritiken ungefähr sagen, wie alt der Kritiker ist. Und das hat mit den Medien zu tun. KM: Ich bin aus der Generation, die nicht primär mit Fernsehen sondern auch mit den Computerspielen aufgewachsen ist, wo’s darum ging, um zu überleben, irgendwelche drachenartigen Monster vermittels Totschlag zu beseitigen. Da haben diese Geschichten vom Fernsehen schon wieder ein bisschen was Skurriles. Gerade weil das Fernsehen gar nicht mehr so dominant war. Entsprechend hat es sehr wohl etwas unglaublich Groteskes, solche Bilder zu sehen. Viele aus meiner Generation sind schon mehr mit Computer und Co., d.h. letztlich schon mit weit mehr Möglichkeiten als dem Fernsehen aufgewachsen ... MH: Ja, aber ich meine, auch wenn Sie im Internet nachschauen, wenn Sie irgendwelche Informationen wollen, sind das ja auch meistens Fernsehsendungen, die Sie da letztendlich einholen ... Also die sogenannten Nachrichten. Wenn Sie wissen wollen, was los ist und Sie gehen ins Internet, dann können Sie sich halt die unterschiedlichsten Sachen anschauen, aber das ist alles die Information aus fünf Tagen ... KM: Schauen Sie die Nachrichten überhaupt?

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MH: Bisweilen. Das Einzige, was ich regelmäßig schau, ist ein Wetterbericht. Weil den kann ich verifizieren. Das ist das Einzige, was man verifizieren kann. Deswegen trau ich dem ... [lacht] Das ist eine der wenigen Sachen, die sich verbessert haben, weil sich offenbar die meteorologischen Instrumentarien verbessert haben. Wenn ich denk, wie der Wetterbericht im Radio meiner Jugend war ... war das ein russisches Roulette! [lacht] Heute kann man sich einigermaßen darauf verlassen. Auch nur einigermaßen. KM: Wobei: Wenn Sie an die Icons denken, die Ihnen Ihr iPhone anbietet ... MH: Ja, schau ich eh immer nach ... KM: Ich auch. Aber das stimmt eigentlich nie, finde ich ... MH: Naja, da muss man eben mehrere haben, dann kommt der kleinste gemeinsame Nenner ... KM: Aber der ist ja das Schlimmste! MH: Das weiß ich vom Film, weil beim Film muss man ja jeden Tag wissen, wie am nächsten Tag das Wetter sein wird. Und da wird die Flugwetterwarte angerufen, die internationale, die Dings – die werden alle angerufen und daraus rechnet man sich dann aus ... Und es ist schon viel besser als es früher war. Also das können Sie mir glauben. KM: Das glaub ich Ihnen gern. MH [lacht]: Aber das ist das Einzige, dem ich einigermaßen traue und deswegen schau ich mir das auch immer an, weil es mich interessiert, ob morgen die Sonne scheint oder nicht. KM: Hat sich auch ästhetisch ganz bewegend verändert ... MH [lacht]: Na, eigentlich nicht. Es schaut ein bisserl illustrierter aus und fetziger, aber es ist im Prinzip genauso simpel wie damals. KM: Ich kann mit Ihnen nicht wirklich über die Nachrichten sprechen, die ich nicht anschaue, weil ich sie nicht ertrage und spring jetzt zu Alexander Horwath, der in einem Gespräch mit mir an einer Stelle sagt: ‚Ich glaube, dass der Autor zu Ende geht.‘ Er hat diesen Glauben sehr pragmatisch artikuliert, indem er sagt, dass sich die Zahl der Macher und Macherinnen von Autorenkino, also eines Autorenkinos, das dieses Namens seines Erachtens würdig ist, sukzessive reduziert. Derweil – französische Tradition – hat Gilles Jacob im Vorfeld von Cannes den Autor natürlich notgedrungen gegen die großen Veränderungen verteidigt und von der Immunität des Autors gesprochen. Wie steht’s mit Ihrer Immunität?

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MH: Ich verstehe es nicht ganz, da müssen Sie mir genauer erzählen, was der Alex gesagt hat. Weil das kann ich so nicht glauben, dass er das so gesagt hat, weil das keinen Sinn gibt. Weil – egal wer: Wenn einer eine Geschichte erzählt, gibt’s einen Geschichtenerzähler. Natürlich kann das ein Team sein, wie im amerikanischen Kino – da gibt’s einen Autor, da gibt’s einen Dramaturgen und einen Dings und einen Regisseur und der Produzent redet auch noch mit –, aber trotzdem gibt’s einen Autor, der die Geschichte erfindet und der wird dann verbessert durch all die anderen. Drum kommen ja auch die Filme heraus, die man dann sieht. Die sind alle handwerklich ok und interessieren nicht sehr oder betreffen nicht sehr. Ich glaube, der Autor stirbt nicht, weil den Autor gibt’s immer. Es ist nur das Autorenkino ... Also das, was man unter Autorenkino versteht, war immer ein Kino der Cinephilen. Es war nur so, dass das Autorenkino in den 50er und 60er Jahren mangels anderer Filme natürlich einen größeren Stellenwert hatte und auch von mehr Leuten gesehen wurde. KM: Ja, genau davon spricht Alexander Horwath. MH: Heute ist die amerikanische Unterhaltungsindustrie so dominant und macht natürlich über Verleih und Dings die Nischen für das andere Kino – was auch immer das sein mag – immer enger, immer kleiner, um die wirtschaftliche Macht einfach auszunützen. Natürlich wird das immer mehr zurückgedrängt. Und was noch viel schlimmer ist: Durch die mangelnde mediale Erziehung durch Qualität gibt’s natürlich immer weniger Leute, die in der Lage sind, komplexer gestaltete Dinge zu rezipieren. Das ist ja der Hund. Das hab ich zuerst gemeint mit der Medienerziehung. Für die meisten, die sich bei uns [an der Filmakademie] bewerben um Regisseure zu werden, fängt die Filmgeschichte bei Tarantino an. Und alles, was vorher ist, das wissen sie gar nicht. Das ist ein Faktum, das kann man ihnen gar nicht vorwerfen, sondern das ist ein Produkt dieses medialen Umfelds. Und das – in dem Sinn – schrumpft natürlich. Weil wenn’s kein Publikum für diese Filme gibt, werden natürlich auch weniger produziert und die müssen ja irgendein Geld einspielen, weil sonst geht’s ja nicht. Und ich meine, ohne das europäische Förderungssystem oder die Förderung gäbe es das sowieso nimmer. Das ist ein Faktum. Weil wenn Film ein reines Wirtschaftsprodukt ist, dann gibt’s zwar auch einen Autor, aber der will ja nicht seine Autorenschaft wahrnehmen, um irgendein künstlerisches Produkt zu machen, sondern der will ein Geschäft machen. Der sagt: Ich nehme bestimmte Ingredienzien, dieses und jenes Thema, mit der und der Ästhetik – und das wird dann von lauter Profis handwerklich erstklassig abgehandelt und funktioniert auch. Da weiß man schon vorher: Wie hoch ist der Werbeetat, wie hoch ist das ... usw. – Kann man sich auch vertun, ist ja auch manchmal passiert, dass so ein 300-Millionen-Projekt dann plötzlich ein Flop ist, aber im Allgemeinen funktionieren die Dinger. Aber das heißt nicht, dass der Autor stirbt. Das ist so wie: Dadurch, dass heute weniger Leute lesen, sterben nicht die Schriftsteller. Es lesen halt weniger Leute. Obwohl, man wundert sich: Wenn ich mir die Buchmesse anschaue [lacht], frag ich mich, wer das alles lesen soll, was da jedes Jahr rauskommt. KM: Weil Sie den Namen genannt haben: Der Tarantino. Ist einer, der ... MH: Ist ein Autorenfilmer.

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KM: Ja. Und einer, der verdächtig häufig als Vergleichsmoment bzw. Vergleichsautor zu ‚Haneke’ herhalten muss ... MH: Na ich meine das ist ein Mann, der sein Handwerk hervorragend beherrscht. Der ist wirklich ein erstklassiger Autor. Also wenn ich mir Pulp Fiction anschaue: das ist ein Meisterwerk. Ein brillanter Autor und ein glänzender Regisseur, das ist überhaupt gar keine Frage. Mir ist nur das, was er erzählt unsympathisch. Also ich würde auf den nie in irgendeiner Form schulterklopfend herabschauen, ich find, das ist ein ganz toller Könner. Mir ist nur die Haltung zutiefst unangenehm. Ich mag die Filme einfach nicht. Wegen ihres Zynismus. Aber dazu muss man wahrscheinlich ein Amerikaner sein, um solche Filme zu machen. Der kennt alle Tricks, auch der europäischen Kultur – also weiß ich nicht, ob er sie kennt, aber er kann sie. Aber was er damit erzählen will, mag ich halt nicht, weil es genau das nicht ist, was ich meine, nämlich den Anderen als ein potentielles Du ernstnehmen. Das heißt nicht, dass man nicht komisch sein kann, also dass wir uns nicht missverstehen mit ernst meinen: Heißt jetzt nicht, man darf nicht lachen oder so ... Aber das ist eine Form von ... Der macht ganz gezielt sein Kino, von dem er genau weiß, dass der Verkaufswert das oberste Ziel ist. Nimmt sich immer ein anspruchsvolles Thema – vorher die Nazis, jetzt die Schwarzen –, macht’s unglaublich fetzig und kulinarisch die Gewalt so als Konsumprodukt par excellence, weil er genau weiß, dass das wunderbar funktioniert. Weil er’s wahrscheinlich auch selber geil findet – der ist ja aufgewachsen mit dem Video und dem Ganzen. Das kann man ihm auch gar nicht vorwerfen ... Ich find auch zum Beispiel Oliver Stone furchtbar, der einen Film macht – also Natural Born Killers –, der angeblich gegen Gewaltkonsum ist und das mit einer Ästhetik, die genau das feiert. Das ist mir natürlich unsympathisch. Das ist aber auch ... Ich glaube sogar, dass das ein ehrenhafter Mann ist. Ich kenne die ja alle beide nicht persönlich. Ich glaube, dass die das auch ernst meinen. Weil als Amerikaner denkt man wahrscheinlich anders. Die denken anders, die haben einen anderen Umgang mit der täglichen Gewalt als wir haben. Auch in den Medien. Es ist ja dort, man kann ja dort wirklich – man kann das jetzt auch wieder nicht generalisieren für ganz Amerika – aber wir wissen, wenn wir in New York sind: In bestimmte Gegenden gehen wir nicht und um eine bestimmte Uhrzeit steigen wir auch nicht in die U-Bahn und und und. Es ist ein anderer Umgang als hier und möglicherweise funktionieren die Filme dort auch anders für das Publikum als für uns hier. Ich glaube nur: Dass sie hier so Kultcharakter bekommen haben, das ist ein Zeichen für ... also da sollte man sich einmal Fragen, wofür das ein Zeichen ist. Weil das Kino, das am besten geht, ist natürlich das Kino, das sich mit Gewalt im weitesten Sinne auseinandersetzt. Also der Action-Film, der Thriller, ist sicher mit Abstand der größte Ballon was Geldeinnahmen betrifft. KM: Das wäre eine Frage – ganz weit weg von meinen Fragen. Tarantino in seiner Verwendung ist, glaube ich, einfach auch eine Kompensationsgeschichte. Dass die Leute nicht bei der Tür rausgehen und den nächsten erschlagen, sondern dass hier möglicherweise virtuell ein Ausgleich ... MH: Also das glaub ich ja alles nicht. Es heißt ja immer, man geht rein und man kann seine Aggressionen dort ablassen, weil dann braucht man sie woanders nicht usw. ... Das halte ich ja für eine absolut heuchlerische Haltung. Ich glaube nicht, dass

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irgendjemand nach so einem Film – obwohl’s ja angeblich, es gab ja bei Natural Born Killers diesen Prozess mit Leuten, die irgendwie ähnlich ... Ich halte das ja für einen Unsinn. Man geht nicht aus einem Film und bringt jemand anderen um, das halte ich für absoluten Unsinn. KM: Ich sage ja, man tut es eben nicht ... MH: Nein, aber das glaube ich eben auch nicht, sondern ich glaube, dass durch die Summe des permanenten Vorhandenseins der Gewalt in den Medien – in allen Medien –, das ja Gott sei Dank ungleich höher ist als im normalen Leben, weil meine persönliche Erfahrung von physischer Gewalt ist Gott sei Dank äußerst gering und von den meisten Menschen in Europa ist äußerst gering ... Ich glaube aber, dass durch die Medien, wenn ununterbrochen Gewalt gezeigt wird, und zwar lustvoll gezeigt wird ... KM: Darf ich Sie hier bremsen? Weil da höre ich jetzt einen Haneke, den ich schon ... MH: Ja gut, dann wissen Sie’s eh. KM: Ja, die Kälte und die Gewalt. MH: Ich weiß auch nicht mehr, wie wir darauf gekommen sind ... doch ... Tarantino! Das hat halt ursächlich damit zu tun. Weil er der intelligenteste Repräsentant dieser Richtung, oder wie auch immer man das nennen will, ist. Deswegen redet man über ihn. Man könnte ja über hunderttausende andere auch reden, nur die sind halt nicht so gut wie er. [lacht] KM: Ich mache einen Sprung auf die nicht nur „rein“ konsumierende Seite. Ich muss es tun, nämlich auch Sie mit etwas Schrecklichem konfrontieren: Ich hab es mitgebracht, sie haben’s wahrscheinlich auch gelesen ... [Die Ausgabe der Cahiers du Cinéma, in der Haneke der Misanthropie bezichtigt wird] Haben Sie’s gelesen? MH: Na, glaub ich nicht ... KM: Das war ... MH: Die hassen mich. Cahiers du Cinéma hasst mich. KM: Das ist offensichtlich, ja. Es ist auch derart verfehlt und schlecht argumentiert ... MH: Naja, der Chef ist ein persönlicher Feind von mir ... KM: Mangels Sensorium für Ambivalenzen köstlich zu lesen ... MH: Nein, ich will mich gar nicht ärgern, ich bin ja kein Masochist. [lacht]

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KM: Ich hab mich in meiner Arbeit bemüht, dass sich positive und negative Bezugnahmen einigermaßen die Waage halten. Und nicht nur „die Größen“ unter den Kritikern einbezogen, sondern etwa auch, was die Bloggerin XY zu Ihrem Werk zu sagen hat. Kennen Sie Bruno Latour? MH: Nein. KM: Könnt vielleicht ganz interessant sein – weil mir vor längerer Zeit das Projekt, das mit dem Arbeitstitel Flashmob beim ÖFI eingereicht wurde – und zu dem ich Ihnen jetzt keine Frage stellen werde – untergekommen ist ... Ein französischer en vogue-Theoretiker, Technikphilosoph, Soziologe, Handwerker, Ingenieur ... MH: Gibt’s den auf Deutsch? KM: Ja. Der ist sehr streitbar ... hier, können Sie behalten (das Buch [Latour, Wir sind nie modern gewesen]) ... MH [nimmt das Buch]: Wir sind nie modern gewesen ... Aha, danke. KM: Er hat sich mit der Relation von Mensch und Technik, Subjekt und Objekt, sehr hirnwi... also wissenschaftlich auseinandergesetzt, aber dann auch wieder auf eine sehr lustige Art und Weise, jedenfalls sehr streitbar. Nicht, dass ich unbedingt d’accord wäre, mit all dem, was er sagt ... Er hat jedenfalls in einem Aufsatz vom „Elend der Kritik“ gesprochen. Nur als Stichwort. Und zur Kritik, nicht nur in Frankreich, lässt sich feststellen, dass sie qualitativ doch eher abnimmt ... Ich wollte Sie fragen, anekdotisch ... Können Sie sich gerade an eine besonders haarsträubende Bezugnahme auf Ihr Werk erinnern? MH: Nein, eigentlich nicht. Schauen Sie: Ich lese ja inzwischen ... Am Anfang ist es ja wichtig, weil da ist man ja abhängig von der Kritik, als Anfänger. Weil wenn die Kritiken schlecht sind und der Film ist schon nicht sehr lustig, dann ist die Chance, dass man einen zweiten macht, relativ gering. Also da klebt man mehr an dem, was da geschrieben wird. Inzwischen ist mir das relativ wurscht. Aber natürlich: Wenn der Film in Cannes rauskommt, kauf ich mir am nächsten Morgen auch die wichtigsten Zeitungen, um zu sehen, ob der Film angekommen ist oder nicht. Genauso wie ich in der Premiere neugierig bin, wie die Leute reagieren. Aber auch da sieht man sehr schnell, aus welcher Ecke die Kritik kommt. Und gerade Frankreich ist ja ein Musterbeispiel. Also zum Beispiel Cahiers, die mich immer gehasst haben oder Positif, die mich in den Himmel heben: Da kämpfen Kritikercliquen gegen Kritikercliquen und das muss man auch so sehen. Den zieh ich mir gar nicht an, diesen Stiefel, sondern ich lese es und sage: Aha ... Ich weiß ja, wenn ich einen Film gemacht habe, was mir gelungen ist und was mir misslungen ist. Die Frage ist: Wenn die dann das, was mir misslungen ist, aufblatteln, dann bin ich nicht böse, sondern sage: Der ist ja intelligent – schade, dass er’s gemerkt hat! [lacht] Aber wenn ich merke – und das merkt man auch nach zehn Zeilen –, dass da einer dem Apfel vorwirft, dass er keine Birne ist, lese ich gar nicht weiter, weil das interessiert mich nicht. Weil das kann ich immer: Bei jedem Kunst-

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werk, bei jedem Werk kann ich dem aus einem anderen Gesichtspunkt heraus vorwerfen, warum das verwerflich oder doof oder was auch immer ist. Und werde immer, wenn ich clever bin, genügend Argumente finden, dass ich den niedermache. Das interessiert mich nicht. Mich interessieren Kritiken, die genau sind und da gibt’s halt nicht viele Leute, die genau schreiben können. Also der Alexander Horwath ist zum Beispiel so ein Kritiker, der kann genau schreiben. Der Grissemann kann’s auch noch und Dings und dann sind wir schon ziemlich am Ende in Österreich. In Deutschland für mich der beste Kritiker, den ich dort kenne, ist der Assheuer, weil er kein Filmkritiker ist, weil er kein Fachidiot ist, sondern der kommt aus einer anderen Ecke und da hab ich das Gefühl, der hat verstanden, worum’s geht. Und das interessiert mich. Und wenn einer intelligent mich verreißt, weil er die Fehler entdeckt, oder den Grundgedanken, der falsch ist, dann tut das zwar nicht wohl, aber es freut mich eher, weil ich vielleicht etwas lerne. Aber die sind nur sehr rar, diese Kritiken. Aber im Großen und Ganzen, also gerade bei so Kritiken, die dann so wirklich draufhauen, da hör ich nach fünf Zeilen auf, da lese ich gar nicht weiter, weil warum soll ich mich ärgern? Also das ist mir wurscht. [lacht] Man macht ja einen Film nicht für die Kritiker, man macht einen Film für sich und für die paar Leute, deren Urteil einem wichtig ist. Ob da der Herr XY in Ding das gut oder schlecht findet, ist mir wurscht. Gut ist, wenn’s viele Leute gut finden, weil dann verdien ich mehr. [lacht] [...] KM: Das war auch der Grundansatz der Dissertation, dass man einfach zeigt – ohne zu bewerten oder zu erklären – was ‚Haneke’ alles sein kann. Und das kann viel sein. Unglaublich viel. MH: Ja aber das ist bei jedem so. Sie können nehmen, was weiß ich, irgendeinen, der da halt jetzt in der Reihe steht. Da können’s von jedem so und so finden. Also die reinen Heiligen, die alle gut finden, gibt’s net – nehmen Sie einen der größten: Bresson; wenn Sie sich vorstellen, was da für Blödsinn geschrieben worden ist und wie die den gehasst haben und versucht haben zu verhindern und und und hinein ... And so what? KM: Genau. Und es geht nicht nur um diejenigen, die auf Ihre Kunst Bezug genommen haben, sondern auch um anders Beteiligte. Etwas, das noch immer wieder diskutiert wird ... MH: Übrigens, wenn Sie das alles hier zitieren, was ich da sag, dann bitte auf Hochdeutsch, weil sonst müsst ich mich jetzt bemühen, Hochdeutsch zu reden. Ich red so g’schert, weil es ist lustiger, aber tun Sie’s dann nicht g’schert abdrucken. [lacht] KM: Ich hätte Sie selbstverständlich noch gefragt ... All diejenigen, die ich interviewt habe, haben gerne die Möglichkeit zur Nachbearbeitung ... MH: Ja, wenn’s nicht zu lange ist, lese ich es. Aber wenn’s 50 Seiten sind, dann lese ich’s nicht.

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KM: Nein, ich werde nicht alles reinnehmen. Es geht hier nicht um ... es schaut zwar so aus, aber es geht hier nun wirklich nicht um Quantität. MH [lacht] KM: Etwas, das die deutsche Filmkritik bzw. -wissenschaft – bei den Deutschen geht das ja bisweilen ineinander über – also wo die deutsche Filmwissenschaft ihrer inneren Zerfleischung entgegengetreten ist, das war beim Weißen Band. Jedenfalls kam die alte Debatte wieder auf: die einen sagen, dass ist l’art pour l’art und die anderen sagen, nein das ist doch ein ganz politisches Kino ... Das ist natürlich jetzt blöd, weil’s wieder so eine binäre Frage ist, ich muss nur halt ... MH: Ja umso besser. Wenn es das eine wie das andere abdeckt, ist es ja gut. Aber das erzählt nur was über die, die da schreiben, nicht über mich. KM: Ja. MH: Ja. Es ist mir ja alles recht ... KM: Ihnen ist alles recht? MH: Mir ist alles recht. [lacht und scherzt:] Je mehr Papier gefüllt wird über mich, umso mehr trägt’s zum Ruhm bei ... Nein, das ist albern. Also: Ich finde das völlig idiotisch, zu sagen, das ist reines l’art pour l’art, aber ja natürlich, ich kann es so interpretieren, weil die Filme formal sehr anspruchsvoll gemacht sind. Da kann ich mich natürlich daran festhalten, weil mir das andere nicht passt. Und ein anderer, der sagt, es ist ein politischer Film ... Ja: kommt darauf an, wofür man eingemeindet werden soll. Also ich hab mich ja immer dagegen verwehrt, tagespolitische Filme zu machen oder auch mich zu tagespolitischen Sachen zu äußern. Aber ich hoffe, dass die Haltung meiner Filme eine politische ist. Nämlich letztendlich hat das mit Adorno natürlich zu tun. Aber das ist eine andere Form von ... Ich werde nie vergessen, da gibt’s ein sehr schönes Probenprotokoll von den Proben von Klaus Michael Grüber zu Hölderlins Empedokles. Ein wunderbares Probenprotokoll vom Peter Iden und da waren gerade die 68er ganz massiv da und sind gekommen mit: „Wo bleibt die politische Aktualität?“ – Wo der Grüber dann einmal auszuckt und sagt: „Hört’s mit diesen dämlichen Dings auf! Das, was wir da machen, ist das eigentlich Politische, weil das betrifft einen jeden und hat nichts mit irgendwelchen kurzzeitigen Aktualitäten zu tun.“ Und das ist es. Man kann fragen: Ist Tarkowskis Spiegel ein politischer Film? – Ist ein hochpolitischer Film. Aber ich kann genauso gut sagen, es ist reines l’art pour l’art, wenn ich will, ja. – Gott sei Dank ist er beides. [lacht] KM: Eine letzte Frage, weil Sie gesagt haben, dass Sie sich tagespolitisch nicht äußern wollen ... Vielleicht hab ich diesbezüglich zu wenig recherchiert, aber was ich nicht herausgefunden habe: 2000, als die schwarz-blaue Koalition angelobt wurde, war ein Episodenfilmprojekt anvisiert. Es hätte ein Episondenfilmprojekt mit dem Arbeitstitel Österreich heute: Work in progress geben sollen, das aber nie zustande gekommen ist. Das war eine Zeit, wo Sie unglaublich stark ...

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MH: Kann ich mich dunkel erinnern, ja. KM: Weiß man da noch, woran das letztlich gescheitert ist? MH: Keine Ahnung. Jetzt, wo Sie es sagen, kann ich mich so dunkel erinnern. Also wenn man mich da gefragt hat, hab ich sicher nein gesagt, aber aus dem simplen Grund, da ich Episodenfilme ... – Ist ein eigenes Genre, das fast nie gelingt. Ich kenne eigentlich keinen guten Episodenfilm. Selbst große Leute wie Godard ... das waren meistens schlechte Filme. Und aus dem Grund hätte ich wahrscheinlich schon nicht mitgemacht. Und Filme, die anlässlich einer tagespolitischen Aktualität, sprich ein Haider oder so ...: Da geht man lieber wählen, oder unterschreibt und macht irgendein Ding ... aber keinen Film. Also ich nicht. Das ist mir zu simpel. KM: Dann danke ich ... MH: Ich danke für das Buch ... KM: ... denn das Wort „simpel“ als Schlusswort gefällt mir. MH [wiederholt leise]: Das ist mir zu simpel, ja ... Vielen Dank erst einmal, vielleicht geht mir da eine Glühbirne auf, wenn ich das lese ... KM: Vielleicht ist es auch vollkommener Blödsinn ... [...] MH: Warum braucht eine deutsche Arbeit einen englischen Titel? KM: Antragsprosa. Damit’s ein Geld dafür gibt.

Bibliografie

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Unbekannt (Kürzel: L.H.) „Déraison et sentiments“. In: Le Figaro Magazine, 19.10.2012. Unbekannt (Kürzel: L.R.). „La crise, star de cannes“. In: Télérama, 02-08.06.2012. Unbekannt (Kürzel: P.V.). „Le septième bout du monde“. In: Libération, 22.05.1989. Unbekannt (Kürzel: Ph.P.). „Michael Haneke: ‚Je ne veux pas choquer‘“. In: Le Monde, 05.09.2001. Unbekannt (Kürzel: S. Bo). „Faux-semblants et réalité crue“. In: France-Soir, 21.10.2009. Unbekannt. „Benny’s Video“. In: Berner Zeitung, 05.11.1992. Unbekannt. „Cannes: Alain Resnais fait sa déclaration“. In: Le Républicain Lorrain, 22.05.2012. Unbekannt. „Cannes, Palma d’oro al regista Haneke – A Garrone il Grand Prix della giuria“. In: La Stampa, 27.05.2012. Unbekannt. „Emmanuelle Riva DL; de retour à Cannes“. In: Le Courrier de l’ouest, 21.05.2012. Unbekannt. „Filmische Lebensjahre: Zum Neuentdecken: Der Italiener Nanni Moretti und der Deutsche Michael Haneke“. In: Filmecho/Filmwoche – Fachzeitschrift der Filmwirtschaft in Deutschland, Nr. 25, 1994, S. 45. Unbekannt. „Haneke nun alleiniger Rekordhalter“. In: news.orf.at, 02.12.2012. http://news.orf.at/stories/2153862/2153864/ [03.12.2012] Unbekannt. „Implacable“. In: Le Nouvel Observateur, 15.04.1993. Unbekannt. „Kälte und Ekel – ins Extrem gesteigert: Michael Hanekes negative Utopie in ‚Benny’s Video‘“. In: Neue Zürcher Zeitung, 05.11.1992. Unbekannt. „Michael Haneke setzt auf Flashmobs und Internet“. In: Kleine Zeitung online, 07.03.2011. http://www.kleinezeitung.at/freizeit/kino/2693578/ heimischer-film-flashmob-ein-pferd-balkon.story [13.05.2013] Unbekannt. „Oscar adieu? – Michael Hanekes neuer Film ‚Caché‘ wurde vom OscarKomitee als österreichischer Wettbewerbsbeitrag abgelehnt“. In: epd Film, November 2005. http://www.epd-film.de/33178_37939.php [10.12.2011] Unbekannt. „Peinlich: Schweiz droht oscarverdächtigen Film zu konfiszieren“. In: DAZ, 29.10.1992. Unbekannt. „Soixante-et-onze fragments d’une chronologie du hasard“. In: Le Monde, 20.05.1994. Unbekannt. „Wider das Prinzip der Verächtlichkeit“. In: Der Standard, 05.09.2001. Unbekannt. „Mehr Glamour ‚Cannes‘ es nicht geben“. In: Gala online, http://www.gala.de/lifestyle/kultur/59519/Cannes-2009-Mehr-Glamour-Canneses-nicht-geben.html Unbekannt. „18 deutsche Filme sind in Cannes am Start“. In: Die Welt online, 23.05.2012. Michael Haneke im Interview mit der AFC. http://www.afc.at/jart/prj3/afc/main. jart?rel=de&reserve-mode=active&content-id=1164272180506& tid=1155914584056&artikel_id=3759 [12.07.2011]

416 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE

S ITES /B LOGS /V IDEOS /T WITTER Aufzeichnung der Montée des Marches, Cannes 2009. In: http://www.festivalcannes.fr/fr/mediaPlayer/10054.html [26.08.2011] Aufzeichnung der Pressekonferenz zu Das weiße Band in Cannes. In: http://www.festival-cannes.fr/fr/mediaPlayer/10038.html [20.11.2012] Auszug aus dem Schweizerischen Strafgesetzbuch. In: http://www.admin.ch/ch/d/sr/ 311_0/a135.html [03.01.2013] Beitrag des Kurier zur Österreich-Premiere von Das weiße Band im Parlament. http://www.youtube.com/watch?v=Md0cuL08S0g [21.05.2011] Beitrag einer Bloggerin zu Amour. In: http://www.lexpress.fr/culture/cinema/ amour_1178857.html?xtmc=Haneke_amour&xtcr=9 [01.02.2013] Beitrag eines Bloggers „Longyearbyen“ zu Michael Haneke. In: http://derstandard.at/ 1332323559741/Film-Der-kalte-Blick-auf-die-Welt [01.04.2012] Bericht des Rechnungshofs zur Filmförderung, Reihe Bund 2011/2, Vorlage vom 10. Februar 2011. http://www.rechnungshof.gv.at/fileadmin/downloads/2011/ berichte/berichte_bund/Bund_2011_02.pdf [09.08.2011] BFI Film Classics – Präzisierung der Verleger: http://www.palgrave.com/resources/ catalogues/palgrave_bfi_catalogue.pdf [24.11.2012] BGBl. III – ausgegeben am 17. Juni 2011 – Nr. 100. http://www.ris.bka.gv.at/ Dokumente/Bundesnormen/NOR40129509/NOR40129509.html [12.11.2011] Bundesministerium zu Eurimages. In: http://www.bmukk.gv.at/europa/eukultur/ eurimages.xml [10.11.2012] Cannes zur Sektion Tous les cinémas du monde. In: http://www.festivalcannes.fr/fr/mediaPlayer/10054.html [26.08.2011] CineEuropa zum Dreh von Amour. In: http://cineuropa.org/newsdetail.aspx?lang= fr&documentID=154401 [13.01.2011] Enzyklika http://www.vatican.va/holy_father/pius_xi/encyclicals/documents/hf_pxi_enc_29061936_vigilanti-cura_ge.html [ 11.08.2011] Europäisches MEDIA PLUS Programm. In: http://europa.eu/legislation_summaries/ audiovisual_and_media/l24224_de.htm [13.01.2011] Filmbeschreibung der Internetplattform film.at: http://www.film.at/in_wirklichkeit_ ist_alles_ganz_anders_24_wir/ [01.04.2012] Filmwirtschaftsbericht des Österreichischen Filminstituts. In: http://filmwirtschaftsbericht.filminstitut.at/07/facts-07/ [01.09.2011] Haneke-Interview mit der AFC. In: AFC: http://www.afc.at/jart/prj3/afc/main.jart? rel=de&reserve-mode=active&content-id=1164272180506&tid=1155914584056 &artikel_id=3759 [12.07.2011] Kino Zeit-Beitrag zum Dreh von Amour. In: http://www.kino-zeit.de/news/michaelhaneke-dreht-amour [10.01.2011] Kommuniqué des CNC-Präsidenten Eric Garandeau anlässlich des Golden Globe für Amour: „Golden Globe du film étranger pour Amour de Michael Haneke: belle victoire pour la France“. In: http://www.cnc.fr/web/fr/actualites/-/liste/18/3020871 [14.01.2013]

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Live-Kommentar The Guardian zur Golden-Globe-Verleihung. In: http://www.guardian.co.uk/film/2013/jan/13/golden-globes-tina-fey-amypoehler-live [14.01.2013] „Oscars 2013: Ein Gespräch mit Veit Heiduschka“. Veit Heiduschka im Gespräch mit Karin Schiefer (AFC), 28. 02. 2013. http://www.afc.at/jart/prj3/afc/main.jart? rel=de&reserve-mode=active&content-id=1164272180506&tid=1361890875163 &artikel_id=1361890875117 [12.03.2013] Petition „The cultural exception is non-negotiable!“. In: https://www.lapetition.be/ en-ligne/The-cultural-exception-is-non-negotiable-12826.html [13.05.2013] Pressemappe der ARD (04.10.2011): http://www.presseportal.de/pm/6694/2123329/ grosses-kino-zur-besten-sendezeit-4-25-mio-zuschauer-sahen-gestern-das-weisseband-im-ersten [12.11.2011] Presseaussendung des Österreichischen Regieverbands vom 13.03.2000. http://www.mund.at/archiv/maerz/aussendung150300.htm [10.10.2012] Protestresolution. In: http://www.badyminck.com/elektro/mails/filmreso.html [10.10.2012] Soderbergh, Steven. „The State of Cinema“. In: SF Film Society Blog, 30.04.2013. https://sffilmsociety.squarespace.com/home/2013/4/steven-soderbergh-the-stateof-cinema-video-transcripthtml [03.05.2013] Twitter-Beitrag zu Hanekes Erfolg 2012 in Cannes. In: https://twitter.com/cinemacanalplus/status/206810304280141825 [28.05.2012] Website hoanzl. http://www.hoanzl.at/ueber-hoanzl [21.11.2012] Website X Verleih zu einem Schulprojekt: http://www.x-verleih.de/de/schule [11.08.2012]

S ONSTIGE Q UELLEN Zur Quelle der unter Verzicht auf Fußnoten angeführten Zitate: die nämlichen betreffen entweder a) die direkte Rede von Akteuren aus der jeweils geschilderten Situation heraus – oder b) das fiktionale Angebot der besprochenen Filme im Sinne der Figurenrede.

Filmografie

F ILME M ICHAEL H ANEKE 2012 Amour 2009 Das Weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte 2007 Funny Games U.S. 2005 Caché 2003 Wolfzeit 2001 Die Klavierspielerin 2000 Code inconnu 1997 Funny Games 1997 Das Schloss 1995 Ausschnitt aus den TV-Nachrichten vom 19. März 1995, dem Jahrestag, andem sich die Kurbel zum ersten Mal drehte, am 19. März 1895 (Kurzfilmbeitrag: Lumière et compagnie) 1994 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls 1993 Die Rebellion (TV) 1992 Benny’s Video 1991 Nachruf für einen Mörder (TV) 1989 Der Siebente Kontinent 1986 Fraulein – Ein deutsches Melodram (TV) 1984 Wer war Edgar Allan? (TV) 1983 Variation oder „Dass es Utopien gibt, weiß ich selber“ (TV) 1979 Lemminge (Teil 1: Arkadien, Teil 2: Verletzungen) (TV) 1976 Drei Wege zum See (TV) 1976 Sperrmüll (TV) 1976 ... und was kommt danach? (After Liverpool) (TV) Dialoge: 1987 Schmutz (Regie: Paulus Manker) Drehbuch: 1995 Der Kopf des Mohren (Regie: Paulus Manker)

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S ONSTIGE F ILME 24 Wirklichkeiten in der Sekunde (2005) Nina Kusturica, Eva Testor A History of Violence (2005) David Cronenberg A Woman Under the Influence (1974) John Cassavetes Antichrist (2009) Lars von Trier Argo (2012) Ben Affleck Atmen (2011) Karl Marcovics Au hasard Balthazar (1966) Robert Bresson Au-delà des collines (2012) Christian Mungiu Baise-moi (2000) Virginie Despentes Beasts of the Southern Wild (2012) Benh Zeitlin Bienvenue chez les Ch’tis (2008) Dany Boon Bin-jip (2004) Kim Ki-duk Caro diario (1993) Nanni Moretti Ceux qui m’aiment prendront le train (1998) Patrice Chéreau City of God (2002) Fernando Meirelles, Kátia Lund Cosmopolis (2012) David Cronenberg Crouching Tiger, Hidden Dragon (2000) Ang Lee Dans la brume (2012) Sergei Loznitsa Danton (1983) Andrzej Wajda De rouille et d’os (2012) Jacques Audiard Der Herr Karl (1961) (TV) Erich Neuberg Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber (1989) Peter Greenaway Der Pianist (2002) Roman Polanski Der Räuber (2010) Benjamin Heisenberg Der rosarote Panther (1963-1983) Blake Edwards Der Stadtneurotiker (1977) Woody Allen Deux frères (2004) Jean-Jacques Annaud Die Ausgesperrten (1982) Franz Novotny Die Ehe der Maria Braun (1979) Rainer Werner Fassbinder Die Fälscher (2007) Stefan Ruzowitzky Die Jungfrauenquelle (1960) Ingmar Bergman Die Marquise von O. (1976) Eric Rohmer Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975) Volker Schlöndorff Django Unchained (2012) Quentin Tarantino Dogville (2003) Lars von Trier El ángel exterminador (1962) Luis Buñuel Elephant (2003) Gus Van Sant En kongelig affære (2012) Nikolaj Arcelt Fallen (2006) Barbara Albert Germania, anno zero (1948) Roberto Rossellini Hinterholz 8 (1998) Harald Sicheritz Hiroshima mon amour (1959) Alain Resnais Holy Motors (2012) Leos Carax

F ILMOGRAFIE

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Hostel (2005) Eli Roth Ibiza Occident (2011) Günter Schwaiger Im Reich der Sinne (1976) Nagisa Ōshima Import/Export (2007) Ulrich Seidl In Another Country (2012) Hong Sang-soo Indien (1993) Paul Harather Julia, Du bist zauberhaft (1962) Alfred Weidenmann Killing Them Softly (2012) Andrew Dominik Klassenverhältnisse (1984) Danièle Huillet, Jean-Marie Straub Kon-Tiki (2012) Joachim Rønning, Espen Sandberg Krankheit der Jugend (2007) Henning Backhaus, Karl Bretschneider, Peter Brunner, Stefan Brunner, Albert Meisl, Andrea Mracnikar, Tobias Dörr, Henri Steinmetz, Alex Trejo Kuma (2012) Umut Dağ La boum (1980) Claude Pinoteau La grande séduction (2003) Jean-François Pouliot La mala educación (2004) Pedro Almodóvar La pivellina (2009) Tizza Covi, Rainer Frimmel La reine Margot (1994) Patrice Chéreau La vita è bella (1997) Roberto Benigni Lancelot du lac (1974) Robert Bresson L’année dernière à Marienbad (1961) Alain Resnais L’arrivée d’un train en gare de La Ciotat (1895) Auguste & Louis Lumière L’avventura (1960) Michelangelo Antonioni L’eclisse (1962) Michelangelo Antonioni Les choristes (2004) Christophe Barratier Les égarés (2003) André Téchiné Les invasions barbares (2003) Denys Arcand Les Misérables (2012) Tom Hooper Les possédés (1988) Andrzej Wajda Lincoln (2012) Steven Spielberg Lola (1981) Rainer Werner Fassbinder Lost Highway (1997) David Lynch Love Is All You Need (2012) Susanne Bier Lumière et compagnie (1995) Sarah Moon Lumière silencieuse (2007) Carlos Reygadas Ma mère (2004) Christophe Honoré Mad Men (2007) (TV) Matthew Weiner Malina (1991) Werner Schroeter Maîtresse (1975) Barbet Schroeder Mariages! (2004) Valérie Guignabodet Melancholia (2011) Lars von Trier Moonrise Kingdom (2012) Wes Anderson Mud (2012) Jeff Nichols Mulholland Drive (2001) David Lynch Münchhausen (1943) Josef von Báky

422 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE

Natural Born Killers (1994) Oliver Stone Paradies: Glaube (2012) Ulrich Seidl Paradies: Liebe (2012) Ulrich Seidl Pietà (2012) Kim Ki-duk Post tenebras lux (2012) Carlos Reygadas Psycho (1960) Alfred Hitchcock Pulp Fiction (1994) Quentin Tarantino Reality (2012) Matteo Garrone Reservoir Dogs (1992) Quentin Tarantino Revanche (2008) Götz Spielmann Risse im Beton (2013) Umut Dağ Romance (1999) Catherine Breillat Salaam Bombay! (1988) Mira Nair Salò o le 120 giornate di Sodoma (1975) Pier Paolo Pasolini Samaria (2004) Kim Ki-duk Saw (2004-2009) James Wan Sex, Lies, and Videotape (1989) Steven Soderbergh Silver Linings Playbook (2012) David O. Russell Szenen einer Ehe (1973) Ingmar Bergman Tabu (2012) Miguel Gomes The English Patient (1996) Anthony Minghella The Gold Rush (1925) Charles Chaplin The Man Who Wasn’t There (2001) Joel & Ethan Coen The Paperboy (2012) Lee Daniels The Social Network (2010) David Fincher The Tree of Life (2011) Terrence Malick Thérèse Desqueyroux (2012) Claude Miller Trois couleurs: Rouge (1994) Krzysztof Kieślowski Tsotsi (2005) Gavin Hood Un amour de Swann (1984) Volker Schlöndorff Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives (2010) Apichatpong Weerasethakul Une journée particulière (2012) Samuel Faure, Gilles Jacob Valse avec Bachir (2008) Ari Folman Vous n’avez encore rien vu (2012) Alain Resnais Z (1969) Costa-Gavras Zerkalo (1975) Andrei Tarkowski Zero Dark Thirty (2012) Kathryn Bigelow Ziemlich beste Freunde (2011) Olivier Nakache, Eric Toledano

Komplizen und Kooperationspartner

Für päm, ulli, leo, jen rainer, daniel, günther julia, britta, christina, doris, lotte pipi, michi, mirnes, riki, und meine familie Dieses Buch entstand im Zuge eines mit der Dauer von drei Jahren bemessenen Dissertationsstipendiums der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), die die Finanzierung des Projekts übernommen und seine Realisierung sowohl als Fördergeber als auch in personell äußerst kompetent aufgestellter Funktion einer vermittelnden Schnittstelle ermöglicht hat. Die erste namentliche Danksagung geht an Jörg Türschmann, der die Arbeit vom Antrag bis zum Abschluss über die Maßen umsichtig, intellektuell anregend, administrativ versiert und vor allem auf das Optimistischste betreut hat. Ihm verdanke ich – neben den wortgewandtesten Gutachten sowie der konsequenten Erinnerung an die vergnüglichen Dimensionen des Denkens – die so wertvolle wie entstehungsmaßgebliche Möglichkeit einer autonomen Redaktionsphase. Jackpot! Mein ganz besonderer Dank gilt Ulrike Lässer für den so tatkräftigen Einsatz in der Materialbeschaffung gleichermaßen wie in der Vermittlungstätigkeit; schließlich für das Vertrauen, mich der Erfolgsgeschichte sehr lokal – von der unermüdlichen Betriebsamkeit in der Wiener Wega Film über die Teppiche von Cannes bis hinein ins Fabrikgelände Hollywood – beiwohnen zu lassen. Sie hat dieses Projekt – neben dem Vollzeitprojekt, das Filmproduktion ist – entscheidend mitgetragen, in bemerkenswerter Loyalität und Achtsamkeit. Mein Dank in Weiterführung dieser Linie gilt schließlich dem gesamten Team der Wega Film – Veit Heiduschka, Julia Heiduschka, Michael Katz, Claudia Pollak, Christa Preisinger und Peter Thomsen für die so freundlichen Empfänge. Für die Gespräche und sachdienlichen Schilderungen danke ich – neben Veit Heiduschka – Alexander Horwath, Margaret Ménégoz, Martin Schweighofer, Manuela Stehr, Roland Teichmann und Monika Willi. Schier undenkbar schließlich bliebe die Entstehungsgeschichte der Arbeit ohne die Initialunterstützung Thomas Ballhausens im Recherchezentrum des Filmarchiv Austria sowie jene der jeweiligen Besetzungen der Pariser Cinémathèque Française. Doris Bauer und Daniel Ebner danke ich in ebendieser Linie für ihre fachkundigen Hinweise.

424 ǀ H ANEKE : KEINE B IOGRAFIE

Ein schallend lauter und exzessiv heiterer Dank gilt schließlich Pamela Kultscher, für ihre Freundschaft so sehr wie für ihre allerhöchste Professionalität in jenen administrativen, buchhalterischen und vor allem sonstigen (!) Angelegenheiten, die ein Projekt dieses Formats mit sich bringt. Für den so produktiven wie heiteren Austausch über die (Un-)Möglichkeiten der Akteur-Netzwerk-Theorie danke ich Andrea Seier, Sophie Rudolph, Muriel Schindler und Sarah Wüst. Nach Paris geht ein Dank an Bénédicte Hamon, nach Cannes einer an Madame Uta Krenzer und nach Los Angeles einer an Leopold Keber und Jennava Laska für die so liebe Gastgeberschaft. Für das charmant kritische Lektorat gilt mein Dank Doris Bauer, Christina Ernst, Britta Kollmann und abermals Pamela Kultscher. Für den stets ungebrochenen intellektuellen Beistand danke ich Daniel Winkler; für die Unterstützung insbesondere in stilistischen Fragen zu den Finessen des Französischen danke ich Annie-Paule Longatte. Lotte Benedek danke ich für die nachhaltig kreative Einladung zur Konfrontation mit dem Fach, Renaud Lagabrielle für die konsequente Fortführung dieser Tradition. Johanna Borek und Heinrich Stiehler danke ich für die Schlüssel zu Denkräumen von Diderot über Adorno bis Deleuze; für die so feine Zeit am Institut für Romanisik meinen Kollegen und Kolleginnen, darunter Matthias Hausmann, Nina Fanninger, Hanna Hatzmann, Angelika Pumberger und Natascha Ruzicka. Für die so erbauliche und wertvolle Unterstützung auf der Zielgeraden bedanke ich mich vielmals bei Birgit Wagner. Julia Haubenhofer danke ich für die so vielen lieben Erinnerungen und ihre stets herzliche Präsenz. Ich danke schließlich und aus allen Gründen, die eloquent dafür sprechen, Michael Haneke.

Film Bettina Dennerlein, Elke Frietsch (Hg.) Identitäten in Bewegung Migration im Film 2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1472-5

Tobias Ebbrecht Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis Filmische Narrationen des Holocaust 2011, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1671-2

Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Medienreflexion im Film Ein Handbuch Februar 2014, 458 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-1091-8

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Film Daniel Kofahl, Gerrit Fröhlich, Lars Alberth (Hg.) Kulinarisches Kino Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film 2013, 280 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2217-1

Niels Penke (Hg.) Der skandinavische Horrorfilm Kultur- und ästhetikgeschichtliche Perspektiven 2012, 320 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2001-6

Daniela Schulz Wenn die Musik spielt ... Der deutsche Schlagerfilm der 1950er bis 1970er Jahre 2012, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1882-2

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Film Micha Braun In Figuren erzählen Zu Geschichte und Erzählung bei Peter Greenaway 2012, 402 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2123-5

Nicole Colin, Franziska Schößler, Nike Thurn (Hg.) Prekäre Obsession Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder 2012, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1623-1

Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke, Cecilia Valenti (Hg.) Spuren eines Dritten Kinos Zu Ästhetik, Politik und Ökonomie des World Cinema 2013, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2061-0

Henrike Hahn Verfilmte Gefühle Von »Fräulein Else« bis »Eyes Wide Shut«. Arthur Schnitzlers Texte auf der Leinwand April 2014, 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2481-6

Hauke Haselhorst Die ewige Nachtfahrt Mythologische Archetypen und ihre Repräsentationen im Film »Lost Highway« von David Lynch 2013, 352 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2079-5

Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Das Undenkbare filmen Atomkrieg im Kino 2013, 180 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1995-9

Asokan Nirmalarajah Gangster Melodrama »The Sopranos« und die Tradition des amerikanischen Gangsterfilms 2011, 332 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1843-3

Christian Pischel Die Orchestrierung der Empfindungen Affektpoetiken des amerikanischen Großfilms der 1990er Jahre 2013, 266 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2426-7

Keyvan Sarkhosh Kino der Unordnung Filmische Narration und Weltkonstitution bei Nicolas Roeg September 2014, 474 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2667-4

Peter Scheinpflug Formelkino Medienwissenschaftliche Perspektiven auf die Genre-Theorie und den Giallo Februar 2014, 308 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2674-2

Tina Welke Tatort Deutsche Einheit Ostdeutsche Identitätsinszenierung im »Tatort« des MDR 2012, 402 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2018-4

Christiane Hille, Julia Stenzel (Hg.) CREMASTER ANATOMIES Beiträge zu Matthew Barneys Cremaster Cycle aus den Wissenschaften von Kunst, Theater und Literatur September 2014, 256 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2132-7

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)

Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014

Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften ­– die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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